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German Pages 889 Year 2013
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Band 45
Ostpreußen, Litauen und die Sowjetunion in der Zeit der Weimarer Republik Wirtschaft und Politik im deutschen Osten
Von Rikako Shindo
A Duncker & Humblot · Berlin
RIKAKO SHINDO
Ostpreußen, Litauen und die Sowjetunion in der Zeit der Weimarer Republik
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Begründet von Johannes Kunisch Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer und Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll
Band 45
Ostpreußen, Litauen und die Sowjetunion in der Zeit der Weimarer Republik Wirtschaft und Politik im deutschen Osten
Von Rikako Shindo
Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 978-3-428-13823-4 (Print) ISBN 978-3-428-53823-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83823-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte Fassung meiner im Jahr 2008 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin abgeschlossenen Dissertation. An erster Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Jörg Baberowski (Berlin) für die Betreuung der Arbeit und Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Hartmut Kaelble (Berlin) für die Übernahme des Zweitgutachtens danken. Zugleich bin ich Herrn Prof. Dr. Yoshiharu Ozaki (Kyoto) sowie Herrn Prof. Dr. Yuji Nishi muta (Kyoto) sehr verbunden für ihre Unterstützung während meines Magisterstudiums in Japan, mit dem meine Studien zur Geschichte Königsbergs begannen. Wertvolle Anregungen und Hinweise verdanke ich auch Herrn Reinhard Markner M. A. (Berlin), Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfram Fischer (Berlin), Frau Dr. Rita Gudermann (Berlin). Die Arbeit beruht auf der Einsichtnahme zahlreicher Akten und Publikationen. Mein besonderer Dank gilt dem Geheimen Staatsarchiv BerlinDahlem, insbesondere seinem Leiter Prof. Dr. Jürgen Kloosterhuis, der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, dem Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts sowie Herrn Dietrich Siehr (Berlin) für die Ausleihe seiner Privatsammlung. Für die Auszeichnung meiner Dissertation mit dem Gierschke-DornburgPreis von 2011 und damit die Übernahme der Drucklegungskosten möchte ich mich bei Herrn Dr. Herbert Gierschke, Frau Marga Gierschke sowie der Landsmannschaft Ostpreußen e. V. recht herzlich bedanken. Für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe bin ich der Preußischen Historischen Kommission sowie den beiden Herausgebern, Herrn Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll (Chemnitz) und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer (Berlin), zu großem Dank verpflichtet. Berlin, im September 2012
Rikako Shindo
Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Erster Teil Ostpreußen 51 Kapitel I
Das Kriegsende und Oberpräsident Adolf v. Batocki
53
1. Batocki und der Oststaatsplan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Winnigs Haltung in der Ostfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Brockdorff-Rantzaus Kampf gegen die Annahme der Friedensbedingungen. 62 4. Das Scheitern des Oststaatsplans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Kapitel II
Die erste Ostpreußenkonferenz und Oberpräsident August Winnig
81
1. Die Ernennung Winnigs zum Oberpräsidenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. Die Anträge Ostpreußens auf Einräumung weitgehender Selbständigkeit . . 83 3. Winnigs „Denkschrift betreffend die besondere Wirtschaftsgestaltung der Provinz Ostpreußen“ vom 4. März 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4. Die Ostpreußenkonferenz vom 9. bis 11. März 1920 in Berlin . . . . . . . . . . 89 Kapitel III
Oberpräsident Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches
95
1. Die Demokratisierung der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Die Ostpreußische Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium in Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 a) Die Ernennung von Christian Herbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Die Aufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 c) Die Auseinandersetzung mit der DNVP. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
8 Inhaltsverzeichnis d) Die Amtsbezeichnung des Berliner Vertreters des Oberpräsidenten. . . . . 107 e) Die Entwicklung unter Friedrich Wilhelm Frankenbach (1922–30). . . . . 108 aa) Frankenbachs Beteiligung an der Ostpreußischen Vertretung. . . . . . 108 bb) Die Tätigkeit in den äußeren Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Die Bemühungen der DNVP um den Austritt Ostpreußens aus dem Land Preußen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Die Vorbereitung einer Reichsreform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Die Erweiterung der Selbständigkeitsrechte der Provinzen in Preußen . . 117 c) Die Autonomiebestrebungen Ende 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4. Siehrs Dilemma: Der Hindenburgbesuch in Ostpreußen 1922 . . . . . . . . . . . 126 5. Der Kompetenzstreit zwischen Siehr und Borowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Kapitel IV
Das Ostpreußenprogramm vom April 1922
132
1. Die Weichselgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2. Nach dem Mißerfolg der zweiten Ostpreußenkonferenz. . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Die Aufstellung des Ostpreußenprogramms. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Aufgabe und Finanzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Die Stellungnahme der Regionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 aa) Königsberger Handelskammer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 bb) Magistrat Tilsit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 cc) Weitere Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Die Befugnisse des Oberpräsidenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 d) Ostpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4. Die Denkschrift vom 18. April 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Die Mitwirkung des Oberpräsidenten an der Außenpolitik. . . . . . . . . . . . 145 b) Die Leitsätze des Ostpreußenprogramms. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Kapitel V
Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens (1926–1932)
151
1. Der Streit um das zweite Ostpreußenprogramm von 1926 / 27 . . . . . . . . . . . 152 a) Die Besichtigungsreise der Reichsratsmitglieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Der Austritt der Königsberger Handelskammer aus dem Verband der Industrie- und Handelskammern Ostpreußens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Das Sofortprogramm und die Reichsgrenzhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Zur Ostpreußenhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 a) Die Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) DNVP, Hindenburg und die Ostpreußenhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Inhaltsverzeichnis9 c) Die Durchführungskompetenz und die Autoritätsfrage des Oberpräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 d) Preußens Standpunkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Die Krise der Ostpreußischen Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium in Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Die Einrichtung der Ostverwaltungsstelle beim Reichsinnenministerium. 173 b) Die Kontroverse in Preußen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Der Kampf Preußens gegen die DNVP: Die Ernennung Frankenbachs zum Ministerialrat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 4. Die Bildung des Provinzialkreditausschusses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Der Streit um die Durchführungskompetenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Die Bemühungen des Oberpräsidenten um die Leitung des Kreditausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 c) Der Protest der Handelskammern gegen die Agrarier. . . . . . . . . . . . . . . . 185 d) Die Einberufung des Provinzialkreditausschusses unter dem Landeshauptmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 5. Die Frachterstattungsstelle beim Oberpräsidium und die Handelskammern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Die Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 b) Die Kompetenz und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 c) Die Durchführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 d) Der Streit zwischen dem Oberpräsidenten und der Reichsbahn. . . . . . . . 197 6. Die Durchführung der Umschuldungsmaßnahme der ersten Ostpreußenhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Der Streit zwischen dem Provinzialkreditausschuß und der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Die Angriffe Berlins auf den Oberpräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 7. Die zweite Ostpreußenhilfe 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 a) Zur Einsetzung des Staatskommissars. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 b) Der Widerstand des Oberpräsidenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 c) Der Amtsantritt des Staatskommissars in Königsberg. . . . . . . . . . . . . . . . 218 8. Von der Ostpreußenhilfe zur Osthilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Zweiter Teil
Ostpreußen und Litauen
229
Einführung231 1. Die deutsch-litauischen Vertragsverhältnisse in den 20er Jahren: ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
10 Inhaltsverzeichnis Kapitel I
Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922 / 23) 254
1. Ostpreußen und Litauen 1918–1922. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 2. Die Aufnahme der Verhandlungen über den ersten Handelsvertrag . . . . . . 270 3. Meistbegünstigung oder Parität?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4. Der Einmarsch Litauens ins Memelgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 5. Die Handelsvertragsverhandlungen nach dem litauischen Einmarsch. . . . . 280 6. Zur Entstehung eines Verwaltungsabkommens (das Binnenschiffahrtsabkommen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 7. Der Abschluß des deutsch-litauischen Handelsvertrags vom 1. Juni 1923 . 285 Kapitel II
Die deutsch-litauischen Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923 / 24)
291
1. Die Bildung der Kommissionen und die Erteilung der Verhandlungsvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Der Oberpräsident als Vorsitzender der deutschen Delegation . . . . . . . . . . . 293 3. Der Verhandlungseintritt in Tilsit (Binnenschiffahrtsfrage). . . . . . . . . . . . . 295 4. Die Memelkonvention und die Unterbrechung der deutsch-litauischen Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 5. Die Wiederaufnahme der Binnenschiffahrtsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . 306 6. Die Abschlußvollmacht und die Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 7. Die Paraphierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 8. Die Unterzeichnung vom 28. September 1923. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 9. Der Inhalt des Binnenschiffahrtsabkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 10. Zur Ratifikationsform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 11. Die Sowjetunion und Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 12. Die neue Entwicklung in den Verhandlungen der Memelkonvention. . . . . 328 13. Die Ratifizierung des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens im März 1924. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 14. Die Ausführung des Binnenschiffahrtsabkommens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 15. Der deutsche Protest im Oktober 1924. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Inhaltsverzeichnis11 Kapitel III
Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)
352
1. Die Memel- und Wilnafrage im Völkerbund 1926 / 27. . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Der polnisch-litauische Wilnastreit im Völkerbundsrat 1927 / 28. . . . . . . . . . 357 3. Das politische Ziel zur Regelung der deutsch-litauischen Grenzverhältnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 4. Die erste polnisch-litauische Konferenz in Königsberg und die Frage der Transitflößerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Kapitel IV Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28) 377 1. Zum Beginn der neuen Wirtschaftsverhandlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 2. Das deutsch-litauische Grenzabkommen vom Januar 1928. . . . . . . . . . . . . . 383 a) Die Frage des Friedensvertrags von Versailles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 b) Das Berliner Protokoll zwischen Stresemann und Voldemaras im Januar 1928. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 c) Zwei Sonderregelungen zum Grenzabkommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 aa) Zur deutsch-memelländischen Grenze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 bb) Zur Wilnagrenze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 3. Das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 a) Die Aufhebung des Abkommens von 1923. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 b) Die Übertragung der Bestimmungen des Kauener Abkommens auf die neuen Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 4. Die Eisenbahnfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 a) Der Häfenwettbewerb. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 b) Die Reaktionen von Litauen, Polen und Lettland auf die deutschen und sowjetischen Eisenbahnwünsche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 c) Die Eisenbahnfrage und der Abschluß des zweiten Handelsvertrags am 30. Oktober 1928 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Kapitel V
Vom Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg bis zum Moskauer Besuch des Oberpräsidenten
420
1. Die politische Krise im Völkerbund im Sommer 1928. . . . . . . . . . . . . . . . . 420 2. Die zweite polnisch-litauische Konferenz in Königsberg im Herbst 1928. . 434 3. Der Kellogg-Briand-Pakt und das Litvinov-Protokoll. . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
12 Inhaltsverzeichnis Kapitel VI
Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs vom 15. Oktober 1931 über den polnisch-litauischen Streit um den Eisenbahntransitverkehr
442
1. Nach der Königsberger Konferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 2. Die Memel- und Wilnafrage im Völkerbund 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 3. Der Bericht der Verkehrs- und Transitkommission vom September 1930. . 453 4. Die Unterstützung Litauens durch Deutschland. Die Genfer Ratstagung vom Januar 1931. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 5. Die Gerichtsverhandlung in Den Haag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 6. Die Untersuchungsergebnisse des Haager Gerichtshofs. . . . . . . . . . . . . . . . . 466 7. Die deutsche Ostpolitik gegen die Wirtschaftsinteressen Königsbergs. . . . . 470 Dritter Teil
Königsberg und die Sowjetunion
Einführung: Der deutsch-sowjetische Handelsvertrag vom 12. Oktober 1925. Die vertrauliche Note Nr. 9 zum Eisenbahnabkommen
477
479
1. Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 2. Die vertrauliche Note Nr. 9 Ziff. 1: Die Polenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 a) Handelspolitische Analyse zur Entstehung von Nr. 9 Ziff. 1. . . . . . . . . . 482 b) Handelspolitische Analyse zur Folge von Nr. 9 Ziff. 1 . . . . . . . . . . . . . . 492 aa) Der deutsch-polnische Wirtschaftskrieg vom Juni 1925 . . . . . . . . . . 493 bb) Die völkerrechtlichen Sonderverträge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 c) Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 3. Die vertrauliche Note Nr. 9 Ziff. 2: Die Stellung des Königsberger Hafens. 500 Kapitel I
Das Königsberger Rußlandgeschäft vom 19. Jahrhundert bis zum Versailler Vertrag
505
1. Der Aufschwung des Handels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . 505 a) Der Ausbau der Eisenbahnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 b) Das Schlußprotokoll zu Artikel 19 des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 c) Die Aufhebung des Identitätsnachweises und die Einführung des Einfuhrscheinsystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
Inhaltsverzeichnis13 2. Die Folge des Ersten Weltkriegs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 a) Die Friedensverträge von Brest-Litowsk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 b) Der Versailler Vertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 aa) Die fünf Ostseehäfen (Danzig, Königsberg, Memel, Libau und Riga). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 bb) Die Einschränkungen im Eisenbahntarifbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . 528 3. Der deutsch-russische Wirtschaftsverkehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 a) Der Rückgang des deutsch-russischen Wirtschaftsverkehrs nach dem Ersten Weltkrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 b) Die Krise des Königsberger Handels nach dem Krieg. . . . . . . . . . . . . . . 531 c) Die Denkschrift der Königsberger Handelskammer vom 27. Januar 1920 zur Wiederherstellung des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894. 534 Kapitel II
Die Königsberger Bestrebungen zur Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts nach dem Ersten Weltkrieg
537
1. Das Königsberger System und Hans Lohmeyer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 2. Die Königsberger Ostmesse und die Ausgestaltung von Rapallo. . . . . . . . . 542 a) Die Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 b) Die erste Beteiligung der Sowjets als Aussteller 1922. . . . . . . . . . . . . . . 544 c) Die Holzkonferenz und -messe 1922 / 23. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 d) Die Beteiligung Königsbergs an der Allrussischen Landwirtschaftsausstellung in Moskau 1923. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 3. Das Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten e. V. Königsberg . . 562 Kapitel III Die Wünsche Königsbergs und die Eisenbahnfrage (1922–24) 573 1. Die Bildung der sechs Kommissionen zur Ausgestaltung von Rapallo . . . . 573 2. Die Wünsche Deutschlands zur Eisenbahnregelung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 3. Die Verhandlungen mit Litauen und Polen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 a) Litauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 b) Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 4. Der Transitverkehr durch die baltischen Staaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 5. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen im Frühjahr 1924. . . . . . . . . . . . . 592 a) Der Berliner Zwischenfall und Königsberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 b) Die Auswirkung des Zwischenfalls auf die Transitverhandlungen in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594
14 Inhaltsverzeichnis Kapitel IV
Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau im Dezember 1924
598
1. Zur Wiederaufnahme der deutsch-sowjetischen Verhandlungen im Herbst 1924. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 a) Die Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel (Artikel 2). . . . . . . . . . . . 598 b) Die Gleichstellung der Ostseehäfen (Artikel 4). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 c) Die Berliner und Königsberger Besprechungen im Oktober 1924. . . . . 602 d) Der deutsch-sowjetische Druck auf die Pufferstaaten. Die Frage der Binnenschiffahrt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 2. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau im Dezember 1924 . 613 a) Zur Verhandlungseröffnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 b) Die Moskauer Sonderbesprechung mit den Königsberger Vertretern (Artikel 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616 3. Die Königsberger Eisenbahnkonferenz im Januar / Februar 1925. . . . . . . . . 624 4. Im Vertrauen auf Rapallo. Die Königsberger Ostmesse von 1925. . . . . . . 629 Kapitel V
Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen und die Präambelfrage (1924 / 25)
633
1. Die sowjetische Dezember-Initiative. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 2. Nach der Osterpause 1925. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 3. Die deutschen Präambelvorschläge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 4. Die Juni-Krise bei den Handelsvertragsverhandlungen. Die Polenfrage. . . 649 5. Zur Überwindung der Krise. Brockdorff-Rantzau als Verhandlungsvorsitzender. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 6. Die Zugeständnisse Deutschlands bei den Wirtschaftsverhandlungen . . . . 662 7. Die Zurückziehung der Präambelvorschläge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 8. Die Abschlußverhandlungen des Handelsvertrags und die Locarnofrage. . 669 9. Die Unterredung zwischen Stresemann und Čičerin am 1. / 2. Oktober 1925. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 10. Der Abschluß des Eisenbahnabkommens. Ein Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands gegen Polen und die baltischen Staaten. . . . . 685 11. Schlußbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698
Inhaltsverzeichnis15 Kapitel VI Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens (1926–1931) 704 1. Die Stadtbank Königsberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 a) Die Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 b) Das Russenkreditgeschäft und die Bahntariffrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 2. Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen 1928 . . . . . . . . . . . . . . 724 a) Die Berliner Frühlingsverhandlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724 b) Die Moskauer Besprechung vom Dezember 1928. Die Ostpreußenfrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 3. Die Reise des Oberpräsidenten in die Sowjetunion im April 1929 . . . . . . . 739 a) Leningrad. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 b) Moskau: Die Sonderbesprechung zwischen Siehr und Stomonjakov. . . . 743 c) Kaukasus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 d) Charkow. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 4. Die Kritik der Reichsbahn an der Initiative des Oberpräsidenten. . . . . . . . . 757 a) Kompetenzüberschreitung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757 b) Die Haltung der Reichsbahn gegenüber dem deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758 c) Das Urteil Preußens. Die Kompetenzfrage hinsichtlich des Ostpreußenprogramms 1922. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 5. Die Krise des Königsberger Rußlandgeschäfts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 a) Der Streit zwischen der Stadtbank und der sowjetischen Handelsvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 b) Die Kritik an der Rußlandpolitik des Magistrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 c) Der Kampf zwischen dem Königsberger Wirtschaftsinstitut und dem Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 d) Die Krise der Königsberger Stadtbank im Untergang der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 Schluß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812 Anhang (Bilder, Dokumente, Karten, Statistiken). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 853 Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881
Abkürzungen AA Auswärtiges Amt Akten der deutschen auswärtigen Politik ADAP AdRK Akten der Reichskanzlei Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde BA BDFA British Documents on Foreign Affairs Bayerische Volkspartei BVP DDP Deutsche Demokratische Partei DLG Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft Deutschnationale Volkspartei DNVP Deutsche Ostmesse Königsberg DOK Dok. Dokument Drusag Deutsch-Russische Saatgutaktiengesellschaft DVP Deutsche Volkspartei DVP SSSR Dokumenty vnesnej politiki SSSR, Ministerstvo Inostrannych Del SSSR EDO Eil-Dienst-Osteuropa GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem Industrie- und Handelskammer IHK Internationales Übereinkommen über den Frachtverkehr IÜG IÜP Internationales Übereinkommen über den Personen- und Gepäckverkehr Königsberg Kgb. Kommunistische Partei Deutschlands KPD LK Landwirtschaftskammer LT Landtag Ministerpräsident MP MSPD Mehrheits-Sozialdemokratische Partei Deutschlands OEM Der Ost-Europa-Markt Oberste Heeresleitung OHL OP Oberpräsident OPO Oberpräsident der Provinz Ostpreußen OPV Ostpreußische Vertretung / Ostpreußischer Vertreter beim Reichsund Staatsministerium in Berlin Ostpr. Ostpreußen PA Personalakten (im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 1501)
Abkürzungen17 PA AA P. C. I. J. Ser. C, No. 54 Pr. Preuß PreußFM PreußHM PreußLM PreußLT PreußMdI PreußMdöA PreußMP ProvLT RDI Rep. RFM RGBl. RMdI RMfEuL RSFSR RT RVM RWiM Ser. SPD StM StS UdSSR USPD VOKS VV WRV WTB Z
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Cour Permanente de Justice internationale, Série C, Plaidoiries, exposés oraux et documents, XXIIme Session 1931, N° 54, Trafic ferroviaire entre la Lithuanie et la Pologne, Avis consultatif du 15 octobre 1931, Leyden 1932 Preußen Preußische / -er / -es Preußisches Finanzministerium Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe Preußisches Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten Preußischer Landtag Preußisches Ministerium des Innern Preußisches Ministerium der öffentlichen Arbeiten Preußischer Ministerpräsident Provinziallandtag / Verhandlungen des Provinziallandtages der Provinz Ostpreußen Reichsverband der Deutschen Industrie Repositur Reichsfinanzministerium Reichsgesetzblatt Reichsministerium des Innern Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Reichstag Reichsverkehrsministerium Reichswirtschaftsministerium Serie, Série bzw. Series Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatsministerium Staatssekretär Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vereinigung für die kulturelle Verbindung zwischen der UdSSR und dem Auslande Versailler Vertrag Weimarer Reichsverfassung Wolff’s Telegraphisches Büro Zentrums-Partei
Einleitung Am 7. Mai 1919 übergab der Präsident der Friedenskonferenz von Versailles, Georges Clemenceau, der deutschen Delegation die Friedensbedingungen der Alliierten. Ihnen zufolge sollte Deutschland die Verpflichtung auferlegt werden, enorme Reparationszahlungen zu leisten, erhebliche territoriale Abtretungen, ein langjähriges Besatzungsregiment sowie eine umfassende Abrüstung hinzunehmen und den Alliierten handelspolitische Sonderbegünstigungen einzuräumen. Schließlich war ein Beitritt Deutschlands zum Völkerbund, der zur Zusammenarbeit der Nationen und zur Gewährleistung des Friedens durch die Unterzeichneten des Friedensvertrags einzuberufen war, zunächst nicht zugelassen. Folglich wurde der Völkerbund de facto zum Kreis der Siegermächte von Versailles. Von den deutschen Ostgebieten sollte der größte Teil von Posen, Westpreußen sowie Oberschlesien1 dem neuen Staat Polen zufallen. Ebenfalls sollten die Gebiete der Weichsel- und Memelmündung mitsamt den Häfen von Danzig und Memel vom Deutschen Reich abgetreten werden. Im Ergebnis war die Provinz Ostpreußen vom Mutterland abgetrennt, während das Schicksal ihres südlichen Teils noch vom Ausgang einer Volksabstimmung abhing. Die außerordentliche Härte dieser Friedensbedingungen2 kam in der ersten Erwiderung des deutschen Außenministers zum Ausdruck, „daß es sich um einen Gewaltfrieden handelt, wie er in der Weltgeschichte seinesgleichen nicht findet. Der Vertragsentwurf weicht von den Grundsätzen des Präsidenten Wilson in allen Punkten ab, seine Annahme würde eine gänzliche Versklavung und politische Ausschaltung Deutschlands bedeuten.“3 Am 28. Mai überreichte Ulrich Graf v. Brockdorff-Rantzau dem Präsidenten der Friedenskonferenz die deutschen Gegenvorschläge. Darin weigerte sich die deutsche Regierung unter anderem, auf die Abtretung deutscher Territorien im Osten mit Ausnahme der überwiegend von Polen besiedelten Posener Gebiete einzugehen. Hinsichtlich der Souveränitätsfrage stützten sich die deutschen Gegenvorschläge auf 1 Die Aufforderung zur Abtretung Oberschlesiens wurde nach der Einreichung der deutschen Gegenvorschläge von den Alliierten zurückgezogen. Statt dessen wurde die Durchführung einer Volksabstimmung angeordnet. 2 Eine völkerrechtliche Bilanz des Friedensvertrags von Versailles in neutraler Perspektive ziehen Thomas Würtenberger / Gernot Sydow: Versailles und das Völkerrecht, in: Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, hg. v. Gerd Krumeich, Essen 2001, S. 35–52. 3 ADAP, Ser. A, Bd. II, Dok. 2, Außenminister Brockdorff-Rantzau an AA, 7.5.1919, S. 4 f.
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das von Wilson hervorgehobene ethnographische Prinzip und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die drohende Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Reichsgebiet weckte in der deutschen Bevölkerung der Ostprovinzen schwere Befürchtungen. Es war die Rede von einem andauernden Kriegszustand durch den deutschen Widerstandskampf oder von einer Wirtschafts- und Verkehrssperre durch die Nachbarländer. Mit Dringlichkeit wandte sich der Oberpräsident von Ostpreußen, Adolf v. Batocki, an Brockdorff-Rantzau, dem das Schicksal der Provinz besonders am Herzen lag.4 Zur Vermeidung der vorherzusehenden Folgen bot der Außenminister in den Gegenvorschlägen den Alliierten an, ohne eine Souveränitätsänderung von Danzig, Memel sowie Westpreußen Polen jederzeit freien Zugang zum Meer zu gewähren, die preußischen Häfen Memel, Königsberg sowie Danzig in Freihäfen umzuwandeln und in diesen Häfen Polen vertraglich weitgehende Rechte einzuräumen.5 Mit Rücksicht auf die Bedeutung des Handelsverkehrs dieser drei Ostseehäfen mit Rußland wurde hierbei speziell auf eine mögliche Sonderregelung der Eisenbahn- und Flußschiffahrtsfragen Wert gelegt. Zum einen war Deutschland bereit, Polen auf den deutschen Schienen in jeder Hinsicht Verkehrsfreiheit und Gleichheit (die Inländerparität) zu gewähren, insbesondere bezüglich des polnischen Verkehrs nach den Häfen Memel, Königsberg sowie Danzig einerseits und nach dem ehemaligen russischen Reich andererseits. Voraussetzung hierfür war, daß dem deutschen Verkehr im Sinne der Gegenseitigkeit auf den polnischen, litauischen sowie lettischen Bahnstrecken die volle Durchgangsfreiheit, vorzüglich nach dem ehemaligen russischen Reich, auf paritätischer Basis zugesichert werde. Zum anderen erklärte sich Deutschland bereit, Polen auch die 4 Im Januar 1919 unternahm Batocki auf Wunsch der Königsberger Wirtschaftskreise einen Versuch, auf Brockdorff-Rantzau einzuwirken. Die Danziger und Memeler Wirtschaft hatte ihr Interesse daran signalisiert, ohne besondere Begünstigung des Königsberger Hafens, dessen Abtretung nicht in Aussicht stand, Polen den freien Zugang zum Meer über die dortigen Häfen zu gewähren. Kurz vor der Einreichung der deutschen Gegenvorschläge an die Alliierten wandte sich die Königsberger Handelskammer an die deutsche Friedensdelegation und erreichte, daß Königsberg in die Freihäfenprojekte eingebunden wurde. Die von der Abtretung bedrohten preußischen Ostseehäfen erhoben daraufhin Protest gegen die „egoistische Handelspolitik“ Königsbergs. Siehe die Korrespondenz zwischen Batocki und Brockdorff-Rantzau, GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2436, Bl. 14 ff., AA, abschriftlich an StM, 31.1.1919. Zu den Vorschlägen Danzigs siehe GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2438, Bl. 97, Wieler, 7.4.1919. Zum Protest Elbings und Memels gegen die Haltung Königsbergs siehe GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2434, Bl. 462, Der Magistrat Elbing an PreußMP, 16.5.1919. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2435, Bl. 356, Vorsteheramt der Kaufmannschaft Memel an PreußMP Hirsch, 7.6.1919. 5 Dieser Vorschlag war bereits in der Amtsantrittsrede Brockdorff-Rantzaus vor der Nationalversammlung vom 14. Februar 1919 gemacht worden. In: RT 1919 / 20, Bd. 326, S. 66 ff.
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Schiffahrtsfreiheit auf allen Gewässern Ost- und Westpreußens, die von den ehemaligen russischen Gebieten zur Ostsee führten, insbesondere auf der Weichsel und der Memel, zu gewähren. Dieses Angebot setzte freilich gegenseitige Leistungen Polens für den deutschen Verkehr auf dem polnischen Abschnitt dieser Gewässer voraus.6 Dem letzten Vorstoß Brockdorff-Rantzaus, der nicht zuletzt auf die Inte ressen Ostpreußens und insbesondere der Königsberger Wirtschaft zurückging, war kein Erfolg beschieden. Als die Alliierten am 16. Juni in ultimativer Form mit ihren letzten Friedensbedingungen auf die deutschen Gegenvorschläge antworteten, blieb der deutschen Regierung tatsächlich nichts anderes übrig, als sie anzunehmen. Brockdorff-Rantzau und Scheidemann traten daraufhin zurück. Die neue Reichsregierung unter Reichskanzler Gustav Bauer und Außenminister Hermann Müller vollzog am 28. Juni 1919 die Unterzeichnung des Versailler Vertrags. Die von deutscher Seite angebotene gegenseitige Freiheit und Gleichheit im Durchgangsverkehr nach Rußland und den Ostseehäfen ließ sich damit nicht mehr realisieren, was für das Wirtschaftsleben Ostpreußens schwerwiegende Folgen hatte. Mit 6 Die Gegenvorschläge der Deutschen Regierung zu den Friedensbedingungen. Vollständiger amtlicher Text, Berlin 1919, S. 27: „Die deutsche Regierung ist nach diesen Grundsätzen zur Erfüllung der von ihr übernommenen Verpflichtung, Polen einen freien und sichern Zugang zum Meere zu geben, bereit, die Häfen von Memel, Königsberg und Danzig zu Freihäfen auszugestalten und in diesen Häfen Polen weitgehende Rechte einzuräumen. Durch eine entsprechende Vereinbarung könnte dem polnischen Staatswesen jede Möglichkeit zur Errichtung und Benutzung der in Freihäfen erforderlichen Anlagen (Docks, Anlegestellen, Schuppen, Kais usw.) vertraglich gesichert werden. Auch ist die deutsche Regierung bereit, durch ein besonderes Abkommen mit dem polnischen Staat hinsichtlich der Benutzung der Eisenbahnen zwischen Polen und anderen Gebieten des ehemaligen Russischen Reiches einerseits und den Häfen von Memel, Königsberg und Danzig andererseits, jede erforderliche Sicherheit gegen Differenzierung in den Tarifen und der Art der Benutzung zu geben. / Die Voraussetzung wäre jedoch, daß auch auf den polnischen und auf den unter polnischem Einfluß stehenden Eisenbahnen Deutschland in der gleichen Beziehung die Gegenseitigkeit und die gleichen Vergünstigungen für die Durchfuhr durch Polen, Litauen und Lettland zugesagt werden. Die etwa durch die Mitwirkung der Polen zustande gekommenen Tarife müßten insofern eine Ausnahmestellung einnehmen, als sie nicht zur Verallgemeinerung auf das übrige deutsche Eisenbahnnetz seitens der alliierten und assoziierten Regierungen herangezogen werden dürfen. / Ferner würde die deutsche Regierung bereit sein, die von Polen, Litauen und Lettland durch Ost- und Westpreußen zur Ostsee führenden schiffbaren Wasserstraßen unter weitgehenden Sicherungen zur freien Benutzung und zum freien Durchgangsverkehr den Polen zur Verfügung zu stellen. Die Gegenseitigkeit der Leistung von polnischer Seite ist ebenfalls Voraussetzung. / Bezüglich der Weichsel wird auf die Ausführung über die Binnenschiffahrt verwiesen.“ Vgl. AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 111, PreußMdI an die Reichsregierung, 14.6.1919. Vor allem II: Denkschrift des Geheimen Regierungsrats Loehrs vom 10.6.1919, S. 458 ff. (hier S. 462 f.).
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dem Inkrafttreten des Friedensvertrags zum 10. Januar 1920 wurde die Abtrennung Ostpreußens vom Mutterland Wirklichkeit. Die Insellage der Provinz führte zu Verkehrsbehinderungen in beiden Richtungen, sowohl nach Westen mit dem übrigen Reichsgebiet als auch nach Osten mit dem ehemaligen Hinterland Rußland. Unter diesen Umständen fühlten sich die Bewohner Ostpreußens existentiell bedroht, zumal Polen gleichzeitig mit allen Nachbarstaaten in Grenzstreitigkeiten verwickelt war, wodurch die Normalisierung des Durchgangsverkehrs besonders stark behindert wurde. Auch näherte sich die Rote Armee den Grenzen Ostpreußens, was die Verwirrung in der Provinz weiter steigerte. Die Begeisterung für die Republik kühlte sich dadurch hier schnell ab. Zum Kriegsende sah sich Ostpreußen hingegen mit zwei umwälzenden Ereignissen konfrontiert: der neuen Grenzziehung und dem Zerfall der Monarchie. In Anbetracht der Situation, in der sich Ostpreußen nach Beendigung des Weltkriegs befand, werden in der vorliegenden Arbeit die Bestrebungen der Provinz zur Wiederherstellung ihrer Lebensgrundlagen in den zwanziger Jahren beleuchtet. Im Zentrum der Darstellung stehen deshalb die regionalen Initiativen im Rahmen der Gesamtpolitik von Reich und Preußen in dieser Zeit. Das zu einer deutschen Exklave gewordene Ostpreußen sah sich vor die Notwendigkeit gestellt, eine Sonderstellung im Reich und in Preußen sowie eine gewisse wirtschafts- und außenpolitische Selbständigkeit anzustreben. Diese Ambitionen, die nicht ohne weiteres mit den Interessen des Reichs und Preußens übereinstimmten, stellten das Verhältnis zwischen Berlin und Ostpreußen in ein Spannungsfeld. Die Untersuchung wird sich daher gleichermaßen den inneren wie den äußeren Angelegenheiten Ostpreußens widmen. Im Hinblick auf erstere konzentriert sich die Darstellung vornehmlich auf das Handeln des Oberpräsidenten, der an der Spitze der Staatsverwaltung in der Provinz stand. Im November 1918 übernahmen die republikanischen Parteien die Regierungsführung sowohl im Reich als auch in Preußen. Im Gegensatz zu den politischen Verhältnissen in Berlin war die Bevölkerung in den östlichen Provinzen noch weit konservativer eingestellt. Als politischer Beamte mußte der Oberpräsident das republikanische Staatswesen wahren, auch dort, wo die alten Führungseliten unverändert das Vertrauen der Landbevölkerung genossen. Die Amtsführung des Oberpräsidenten in Ostpreußen stieß deshalb auf Schwierigkeiten, was oftmals nicht nur die ordnungsmäßige Verwaltung, sondern auch die Einleitung effektiver Wirtschaftsmaßnahmen behinderte. Mit Rücksicht auf diese aufschlußreiche politische Diskrepanz, die zwischen dem Oberpräsidenten und seinen Landsleuten bestand, werden im ersten Teil dieser Arbeit die Politik und Verwaltung des Oberpräsidenten, insbesondere seine Bestrebungen zur Beseitigung der Notlage sowie der damit verbundene innenpolitische Kampf nachgezeichnet. Dabei gilt die Aufmerk-
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samkeit vor allem dem demokratischen Oberpräsidenten Erst Ludwig Siehr (1920–32). Die Besonderheit seiner Politik lag darin, daß es ihm gelang, die Befugnisse des Oberpräsidenten von Ostpreußen zu erweitern. Der Anstoß dazu ging sowohl von den innenpolitischen als auch von den außenpolitischen Notwendigkeiten aus. Auf der einen Seite hoffte er, sich dadurch im Kampf gegen seine politischen Gegner, vor allem die Deutschnationalen, durchzusetzen; auf der anderen Seite war er bestrebt, aus einer gestärkten Stellung heraus unmittelbaren Einfluß auf die Angelegenheiten der Oststaaten zu nehmen. Sein wichtigstes Anliegen war die Wiederherstellung des unterbrochenen internationalen Verkehrs (Eisenbahn und Binnenschiffahrt) zwischen Ostpreußen, Rußland und den vormals russischen Gebieten. Erinnert man sich an die eingangs erwähnten deutschen Gegenvorschläge zu den Friedensbedingungen der Alliierten, in denen Brockdorff-Rantzau im Interesse Königsbergs größten Wert auf die Sicherstellung des freien Transitverkehrs legte, wird der Stellenwert dieses Problems für die deutsche Außenpolitik verständlich. Während im ersten Teil die innenpolitischen Bestrebungen hinsichtlich der Stärkung der Autorität und der Befugnisse des Oberpräsidenten behandelt werden, wird im zweiten und dritten Teil die Praxis der erweiterten Befugnisse in den auswärtigen Angelegenheiten analysiert. Dabei sind auch die Vertragsverhältnisse zwischen dem Reich und den Oststaaten handelspolitisch und völkerrechtlich zu untersuchen. Die agrarische Kreditunterstützung (Ostpreußenhilfe und Osthilfe), die im Mittelpunkt der staatlichen Hilfsmaßnahmen in den späteren Weimarer Jahren stand, wird hier lediglich aus Sicht des Oberpräsidenten sowie der nichtlandwirtschaftlichen Wirtschaftskreise Ostpreußens behandelt. Die Wahrnehmung der Interessen der ostelbischen Agrarier in der Endphase der Weimarer Republik ist von der Forschung bereits wiederholt thematisiert worden. Mit Rücksicht darauf wird in der vorliegenden Arbeit mehr Nachdruck auf die Frage der regionalen Initiativen zur Wiederherstellung des Handelsverkehrs mit dem Osten gelegt, insbesondere mit Litauen und der UdSSR, als auf die Belange der Landwirtschaft. Die Anstrengungen der ostpreußischen Handelskammern, das Rußlandgeschäft wiederzubeleben, waren mit den Initiativen der beiden Spitzenpolitiker, des Oberpräsidenten Siehr sowie des Königsberger Oberbürgermeisters Hans Lohmeyer (1919–33), eng verbunden. Obwohl die handelspolitischen Strategien der ostpreußischen Wirtschaftskreise nicht geringen Einfluß auf die Entscheidungsprozesse in der Provinz wie auch auf der Reichsebene ausgeübt haben, sind sie von der Geschichtswissenschaft bisher nicht genügend beachtet worden, was die folgenden Bemerkungen zur Forschungslage verdeutlichen sollten. Hinsichtlich der Geschichte Ostpreußens in der Zeit der Weimarer Republik nimmt der Beitrag von Dieter Hertz-Eichenrode (1969) eine besondere
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Stellung ein.7 Obwohl die staatlichen Stützungsmaßnahmen für die Landwirtschaft Ostpreußens im Mittelpunkt seiner Darstellung stehen, ist diese noch heute im ganzen als das Standardwerk für die Politik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostpreußens in den zwanziger Jahren zu betrachten. Seine Untersuchung erstreckt sich auf die Gesamtheit der Probleme (Grenzziehung, Wirtschaft und Politik), die in jener Zeit Bevölkerung und Gesellschaft Ostpreußens betrafen. Daraus erhellt das Strukturproblem der Inte ressenwahrnehmung Ostpreußens, was schließlich zur Einleitung der immensen Agrarkreditmaßnahme führte. Die Erforschung der Ostpreußenhilfe, zu der auch Wolfgang Wessling (1957),8 Bruno Buchta (1959)9 und Gerhard Schulz (1967)10 beitrugen, kam zu dem Ergebnis, daß öffentliche Gelder zugunsten einer bestimmten Interessengruppe, zumal zur Sanierung der Privatschulden der Großagrarier verwendet worden waren. Die Ursache für die einseitig agrarische Interessenpolitik erkannte man dabei vor allem in der Stärke der alten Führungseliten, die die Novemberrevolution in dieser östlichsten Provinz unbeschadet überlebt hatten. Angesichts der schnellen Ausbreitung der Agrarkrise wurde die Ostpreußenhilfe unter Reichskanzler Brüning im Wege einer Notverordnung auf alle Ostprovinzen erweitert (Osthilfe).11 Die Ernennung Brünings zum Reichskanzler, die Entstehung des Präsidialkabinetts und Brünings Sturz sind direkt oder indirekt im Zusammenhang mit dem politischen Druck der ostelbischen Agrarier sowie des Reichspräsidenten Hindenburg behandelt worden. Folglich wurde den ostelbischen Provinzen eine Mitschuld an der „Auflösung“ der Republik zugewiesen. Dieser Befund scheint seit 1945 in der deutschen Geschichtswissenschaft, unabhängig von gegensätzlichen Darstellungen eines Teils der Zeitgenossen,12 fest verankert zu sein. In seiner berühmten Studie über die 7 Dieter Hertz-Eichenrode: Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919–1930, Köln und Opladen 1969. 8 Wolfgang Wessling: Die staatlichen Maßnahmen zur Behebung der wirtschaftlichen Notlage Ostpreußens in den Jahren 1920 bis 1930, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 6 (1957), S. 215–289. 9 Bruno Buchta: Die Junker und die Weimarer Republik. Charakter und Bedeutung der Osthilfe in den Jahren 1928–1933, Berlin 1959. 10 Gerhard Schulz: Staatliche Stützungsmaßnahmen in den deutschen Ostgebieten. Zur Vorgeschichte der „Osthilfe“ der Regierung Brüning, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, hg. v. Ferdinand A. Hermens und Theodor Schieder, Berlin 1967, S. 141–204. 11 Zur Osthilfe siehe besonders Friedrich Martin Fiederlein: Der deutsche Osten und die Regierungen Brüning, Papen, Schleicher, Würzburg 1966. Heinrich Muth: Agrarpolitik und Parteipolitik im Frühjahr 1932, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, hg. v. Ferdinand A. Hermens und Theodor Schieder, Berlin 1967, S. 317–360. 12 So lehnte z. B. Marion Gräfin Dönhoff die verbreitete Auffassung von der Mitschuld der Großgrundbesitzer Ostpreußens am Sturz Brünings unter Hinweis auf
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Endphase der Weimarer Republik wies Karl Dietrich Bracher auf die Schwachstellen der Reichsverfassung hin, die das Zustandekommen der Präsidialkabinette erst ermöglichten.13 Zugleich untersuchte er kritisch die Machtstruktur der improvisierten Demokratie, in der die alten Eliten in Politik und Gesellschaft in vielfältiger Weise ihre Stellung behaupteten, und erkannte in Brünings Kabinetten tatsächlich bereits eine Vorstufe des Faschismus. Den Sturz Brünings hatte als erster Werner Conze dokumentiert.14 Er hob die Mitschuld von Hindenburgs Anhängern, zumal der ostpreußischen Großgrundbesitzer, an der Zerstörung der Demokratie gerade im Kontrast zu den letzten Bemühungen Brünings hervor. Conze zufolge hatte Brüning noch im Rahmen der Verfassung die Demokratie zu retten versucht, eine Interpretation, der später durch dessen eigene Memoiren weitgehend die Grundlage entzogen wurde.15 Die Frage der Kontinuität der Machteliten, vor allem des Grund-, Beamten- und Militäradels sowie der konservativbürgerlichen Kräfte, vom Kaiserreich zur Weimarer Republik und schließlich zum Dritten Reich erlangte bei Fritz Fischer und Hans-Ulrich Wehler besondere Bedeutung. Während Fischer bei seiner Kontinuitätsdeutung zugleich auf die Eroberungsabsichten der Militärs und der kapitalistischen Interessenverbände Gewicht legte,16 suchte Wehler die Haupttriebkraft der Geschichte in der inneren, letztlich negativen Entwicklung der deutschen Gesellschaft.17 Die traditionellen Eliten des Kaiserreichs überlebten die Novemberereignisse 1918, belasteten die Weimarer Republik von Beginn an den Briefwechsel zwischen Brüning und Manfred v. Brünneck ab. Marion Gräfin Dönhoff: Kindheit in Ostpreußen, Berlin 1988, S. 48 ff. Vgl. auch Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten: Erinnerungen eines alten Ostpreußen, Berlin 1989, S. 170. Henning Graf von Borcke-Stargordt: Der Ostdeutsche Landbau zwischen Fortschritt, Krise und Politik, Würzburg 1957, S. 64 ff. 13 Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Dritte, verbesserte und ergänzte Auflage, Villingen 1960 (zuerst 1955). 14 Werner Conze: Zum Sturz Brünings. Dokumentation, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 261–288. Ders.: Die Regierung Brüning, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, hg. v. Ferdinand A. Hermens und Theodor Schieder, Berlin 1967, S. 233–248. 15 In seinen Erinnerungen gestand Brüning seine im Grunde monarchistische Haltung ein. Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970. 16 Fritz Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871–1945, 2. Aufl., Düsseldorf 1985. Ders.: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914 / 18, 3. Aufl., Düsseldorf 1964 (1. Aufl. 1961). 17 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 4. Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003. Ders.: Das deutsche Kaiserreich 1871–1918, 7. Aufl., Göttingen 1994.
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und gaben schließlich dem Nationalsozialismus seine Aufstiegschance. Die Kontinuität der durch das ostelbische Junkertum vertretenen agrarischen Interessenpolitik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik und deren Radikalisierung wurde speziell durch Hans-Jürgen Puhle und Dieter Gessner dargestellt.18 Ein ähnlicher Standpunkt ist auch bei Hans Mommsen19 und Heinrich August Winkler zu finden. Winkler stellte u. a. die Mitschuld der alten Eliten, zumal des ostelbischen Junkertums an der Zerstörung der Weimarer Demokratie fest.20 Diese Deutung der deutschen Geschichte, die ansatzweise schon in den Reflexionen von Friedrich Meinecke über die „deutsche Katastrophe“ 1945 zum Ausdruck kam,21 bildet den Kern der sogenannten Sonderwegstheorie. Ihr zufolge entwickelte sich unter der preußischen Hegemonie in Deutschland keine parlamentarische Demokratie im Sinne des westeuropäischen Vorbilds.22 Das Scheitern der Märzrevolu tion 1848 entschied das politische Schicksal Deutschlands; das Dreiklassenwahlrecht, der Militarismus, der Obrigkeitsstaat, die Privilegierung des Grund- und Beamtenadels und schließlich das ostelbische Junkertum gehörten allesamt zu den charakteristischen Zügen des Preußentums, die letzten Endes die Entstehung des Faschismus ermöglichten.23 18 Hans-Jürgen Puhle: Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893–1914), Hannover 1966. Dieter Gessner: Agrardepression, Agrarideologie und konservative Politik in der Weimarer Republik. Zur Legitimationsproblematik konservativer Politik in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1976. Ders.: Agrarverbände in der Weimarer Republik. Wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen agrarkonservativer Politik vor 1933, Düsseldorf 1976. Schließlich wies Hoppe (1997) auf den letzten Vorstoß der Ostelbier zur Beseitigung Schleichers hin. Bert Hoppe: Von Schleicher zu Hitler. Dokumente zum Konflikt zwischen dem Reichslandbund und der Regierung Schleicher in den letzten Wochen der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1997), S. 629–657. 19 Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Berlin 1989. 20 So schreibt Winkler: „Von den Machteliten hat keine so früh, so aktiv und so erfolgreich an der Zerstörung der Weimarer Demokratie gearbeitet wie das ostelbische Junkertum.“ Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 601. Über den deutschen Sonderweg siehe auch ders.: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte 1806–1933, Bonn 2002; Bd. 2: Deutsche Geschichte 1933–1990, Bonn 2005. 21 Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, in: Friedrich Meinecke Werke, Bd. 8: Autobiographische Schriften, hg. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1969, S. 321–445. 22 Zur Preußenkontroverse siehe Frank-Lothar Kroll: Geschichtswissenschaft in politischer Absicht. Hans-Joachim Schoeps und Preußen, Berlin 2010, S. 12 ff. 23 Diese Ansicht war auch bei dem zeitgenössischen Historiker Arthur Rosenberg zu erkennen. In seiner 1928–1935 entstandenen Untersuchung zur Entstehung der Weimarer Republik wies er bereits auf die Grundprobleme der Republik hin (die
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Diese Interpretation, die heute in der deutschen Geschichtswissenschaft vorherrschend ist, bringt allerdings negative Folgen für die Deutung der Stellung Ostpreußens in der Weimarer Republik mit sich. Zum einen geht die von Sozialhistorikern entwickelte Sonderwegstheorie vom Primat der Innenpolitik aus, während sie den außenpolitischen bzw. weltwirtschaftlichen Ereignissen für die Deutung der Weimarer Republik lediglich sekundäre Bedeutung beimessen. Folglich werden die Lasten des Versailler Vertrags, wie die Grenzziehung sowie die handels- und verkehrsrechtliche Imparität, abgesehen von den Reparationsfragen, nicht genügend berücksichtigt. Schon die geopolitische Lage Ostpreußens, das sich in der neuen Weltordnung vom Ausland umgeben sah, läßt sich natürlich nicht auf der gleichen Ebene mit den anderen Reichsteilen diskutieren. Inwieweit die außenpolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die aus der Grenzziehung von Versailles sowie dem Untergang der drei Kaiserreiche entstanden, auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dieser östlichsten Provinz, nicht zuletzt auch psychologisch Einfluß gehabt haben, sollte zuerst einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen werden. Aus den gleichen Gründen muß auch die Interpretation der negativen Polenpolitik Preußens (Klaus Zernack und Martin Schulze Wessel), trotz ihres zutreffenden Befundes, kritisch betrachtet werden. Die Außenpolitik der Weimarer Republik läßt sich aus dieser Sicht in die preußische Hegemonialtradition stellen, die im Zusammenwirken mit Rußland auf die Zerschlagung Polens abzielte. Zwangsläufig unterscheiden die Vertreter dieser Richtung kaum zwischen den militärischen Revisionsbestrebungen einerseits und den Versuchen, die Grenzrevision auf legalem Wege unter Anerkennung der polnischen Souveränität über das von Polen besiedelte Kerngebiet Posens zu erreichen, andererseits. Daraus entstehen Interpretationsschwierigkeiten in zweierlei Richtungen, indem man zum einen den Kampf Ostpreußens um seine wirtschaftliche Existenz als deutsche Insel im Osten im Sinne eines feindseligen Revisionismus betrachtet und zum anderen alle deutsch-sowjetischen Annährungsversuche in der Weimarer Republik ausschließlich im Kontext der preußischen Hegemonialtradition begreift. So definiert Zernack sowohl die Außenpolitik als auch Geschichtswissenschaft der „Reichsrepublik von Weimar“ als offensiv, die Polens hingegen als „defensiv“,24 eine Polarisierung, die obrigkeitsstaatliche Tradition, die unvollkommene politische und soziale Revolution und schließlich die Fehlkonstruktion der Weimarer Reichsverfassung). Arthur Rosenberg: Entstehung der Deutschen Republik 1871–1918, hg. v. Kurt Kersten, Frankfurt am Main 1962. Ders.: Geschichte der Weimarer Republik, hg. v. Kurt Kersten, Frankfurt am Main 1961. 24 Klaus Zernack: Preußens Ende und die ostdeutsche Geschichte, in: Preußen – Deutschland – Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, hg. v. Wolfram Fischer und Michael G. Müller, Berlin 1991, S. 65–83 (hier S. 71 f.).
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sogar sein eigener Schüler Jörg Hackmann in einer Studie über Ost- und Westpreußen in der deutschen und polnischen Geschichtswissenschaft relativiert hat.25 Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 wird schließlich als Endstation der negativen Polenpolitik Preußens angesehen, der Rapallo-Vertrag als Vorstufe der „vierten Teilung Polens“.26 Dabei versteht sich, daß diese Deutung der auf Polen abzielenden Hegemonialpolitik Preußens von Friedrich II. über Bismarck bis Hitler von den Einzelheiten der jeweiligen außen- und innenpolitischen sowie gesellschaftlichen Verhältnisse absieht und nur eine grundsätzliche Stoßrichtung zu erkennen glaubt. Mit Recht stellen Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand ebenfalls eine durchgehende Expansionstendenz der deutschen Außenpolitik fest. Zugleich erkennen sie aber die unterschiedliche politische Zielsetzung Preußens, des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Dritten Reichs an. Ihr Forschungsaspekt, der auf die Staatspolitik und die militärischen Ereignisse zuviel Gewicht legt, läßt sich allerdings vom regionalen Standpunkt her kaum diskutieren.27 In Anbetracht der Begrenzung der bisherigen Forschung kommt nun zur Revision der Geschichtsschreibung Ostpreußens in der Weimarer Republik Zur negativen Polenpolitik siehe auch Andreas Lawaty: Das Ende Preußens in polnischer Sicht. Zur Kontinuität negativer Wirkungen der preußischen Geschichte auf die deutsch-polnischen Beziehungen, Berlin 1986. Winkler bezeichnet selbst den gegen Deutschland gerichteten polnischen Nationalismus der 1920er Jahre als „defensiv“. Heinrich August Winkler: Im Schatten von Versailles. Das deutsch-polnische Verhältnis während der Weimarer Republik, in: Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik, hg. v. Andreas Lawaty und Hubert Orłowski, München 2003, S. 60– 68 (hier S. 62). 25 Jörg Hackmann: Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem, Wiesbaden 1996, S. 169 ff. sowie S. 210 ff. Vgl. auch Hans Lemberg: Das Deutsche Reich im polnischen Urteil 1871–1945, in: Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte und europäischen Nachbarn (1871–1945), München 1995, S. 70–84. 26 Klaus Zernack: Polen in der Geschichte Preußens, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, hg. v. Otto Büsch, Bd. II: Das 19. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin und New York 1992, S. 377–448 (hier S. 447). Martin Schulze Wessel: Die Epochen der russisch-preußischen Beziehungen, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. III: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, hg. v. Wolfgang Neugebauer, Berlin und New York 2001, S. 714–787 (hier S. 785 f.). Ingeborg Fleischhauer: Der Pakt. Hitler, Stalin und die Initiative der deutschen Diplomatie 1938–1939, Berlin und Frankfurt am Main 1990. Eva Ingeborg Fleischhauer: Rathenau in Rapallo. Eine notwendige Korrektur des Forschungsstandes, in: VfZ 54 (2006), S. 365–415. 27 Andereas Hillgruber: Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986. Ders.: Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reichs 1871–1945, Düsseldorf 1980. Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Berlin 1999.
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nur eine synthetische Forschungsperspektive in Betracht, die sich nicht einseitig auf die Innenpolitik bzw. auf den Agrarkonservativismus konzentriert, sondern in regionaler Hinsicht die innen- und außenpolitischen Folgen einander gegenüberstellt.28 Es erscheint sinnvoll, sich zunächst von den in der Geschichtswissenschaft vorherrschenden Fragestellungen zu befreien und die Untersuchung von einem neutralen Standpunkt aus zu beginnen. Es sollte keine methodische Zielsetzung sein, aus den historischen Ereignissen Kontinuitäten oder Diskontinuitäten herauszulesen. Vielmehr ist es nötig, zunächst einmal die nötigen Detailuntersuchungen vorzunehmen. In diesem Zusammenhang kommt nun die zweite negative Folge der Sonderwegstheorie in den Blick. Diese Geschichtsdeutung setzt offenbar den Begriff der „Ostelbier“ mit antidemokratischer Gesinnung bzw. mit dem Agrarkonservativismus gleich. Geschichte und Gesellschaft der ostelbischen Provinzen, zumal Ostpreußens, sind seit 1945 regelmäßig von diesem Standpunkt aus betrachtet worden.29 Darin kommt eine Stigmatisierung Ostpreußens in der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck: eine Belastung der Demokratie bzw. die Hochburg des Revanchismus zu sein.30 Der Ursprung dieser negativen Gesellschaftsentwicklung ist ausschließlich in der überwiegenden Agrarstruktur, die außerdem vom Großgrundbesitz geprägt war, und deshalb in der industriellen Rückständigkeit zu suchen. Allerdings ging dieser Befund nicht nur auf die Argumentation der Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch auf die Erkenntnisse ihrer Vorgänger seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zurück (insbesondere Max Weber).31 Nicht zuletzt Fritz Fischers Schule konzentrierte sich zunehmend auf die Paramilitarisierung der agrarischen Konservativen im Osten in den ersten 28 Gegen die einseitige Priorisierung entweder der Außen- oder Innenpolitik hob Büsch die Bedeutung der wechselseitigen Beziehungen zwischen beiden Feldern hervor, siehe Otto Büsch: Preußen und das Ausland. Einführung zu einer Vortragsreihe, in: Preußen und das Ausland, hg. v. Hans Herzfeld und Otto Büsch, Berlin 1982, S. 1–21. 29 Hans Rosenberg: Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: Ders.: Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 1969, S. 7–49. Francis L. Carsten: Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt am Main 1988. 30 So wiesen folgende Autoren das negative Ostpreußenbild zurück: Eugen Lemberg: Ostkunde als kulturpolitische Aufgabe und didaktisches Problem, in: Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn. Ein Handbuch, hg. v. Viktor Aschenbrenner, Ernst Birke, Walter Kuhn und Eugen Lemberg, Frankfurt am Main, Berlin, Bonn, München 1967, S. 1–15. Herbert G. Marzian: Ostpreußen. Seine Bedeutung für Deutschland und Europa, Leer (Ostfriesland), 1969, S. 7 f. 31 Max Weber: Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, 1892 (Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 3, hg. v. Martin Riesebrodt, Tübingen 1984). Vgl. auch Hartmut Harnisch: Adel und Großgrundbesitz im ostelbischen Preußen 1800– 1914. Antrittsvorlesung, 16. Juni 1992, Berlin 1993.
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Jahren der Republik.32 Das negative Bild der Ostelbier spielte auch in der marxistisch-leninistischen Historiographie eine wesentliche Rolle. Obwohl hinsichtlich der Interpretation der Entstehung und Auflösung der Weimarer Republik grundlegende Unterschiede zwischen den damaligen Historikern der BRD und DDR bestanden,33 ließen sich die Übereinstimmungen in der Bewertung des ostelbischen Junkertums in der Zwischenkriegszeit nicht verkennen.34 Allerdings bezog sich die Interpretation der letzteren auf die marxistische Entwicklungstheorie des Produktionswesens und der Produk tionsverhältnisse,35 indem der sog. preußische Weg (Lenin),36 also das ostelbische Produktionswesen, als Modell einer langsamen kapitalistischen Entwicklung, das nicht wenige feudalistische Relikte aufwies, gedeutet wurde. In diesem Sinne konzentrierte man sich in der DDR vornehmlich auf 32 Dirk Stegmann: Vom Neokonservatismus zum Proto-Faschismus: Konservative Partei, Vereine und Verbände 1893–1920, in: Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer zum 75. Geburtstag und zum 50. Doktorjubiläum, hg. v. Dirk Stegmann, Bernd-Jürgen Wendt, Peter-Christian Witt, Bonn 1983, S. 199–230. Die Radikalisierung der agrarischen Konservativen Ostpreußens und deren Paramilitarisierung hob Flemming hervor. Jens Flemming: Die Bewaffnung des „Landvolks“. Ländliche Schutzwehren und agrarischer Konservatismus in der Anfangsphase der Weimarer Republik, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 26 (2 / 1979), S. 7–36. Jun Nakata: Der Grenz- und Landesschutz in der Weimarer Republik 1918 bis 1933. Die geheime Aufrüstung und die deutsche Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2002. 33 Die zwischen BRD und DDR bestehende Forschungsdiskrepanz über die Ursache der Auflösung der Weimarer Republik siehe Winkler (1993), S. 615 f. Wolfgang Ruge: Weimar. Republik auf Zeit, 2. Aufl. Berlin 1980, (1. Aufl. 1969), S. 217 ff. sowie 309 ff. 34 Hierzu gibt der Tagungsband der Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte vom Juli 1980 (Nr. 44) den besten Überblick über die Ergebnisse der Konservatismusforschung in der DDR. Für die Rolle des agrarischen Konservatismus im Osten siehe dabei vor allem Edgar Hartwig: Zum Einfluß des Bundes der Landwirte auf die Anpassung des Konservatismus, insbesondere der Deutschkonservativen Partei, an die imperialistische Entwicklung, in: Jenaer Beiträge (Nr. 44), S. 115–123. Roswitha Berndt: Träger und Erscheinungsformen des Konservatismus in Preußen nach 1918 / 19, in: Jenaer Beiträge (Nr. 44), S. 151–164. Vgl. Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus, hg. v. Caspar von Schrenck-Notzing, Berlin 2000 [Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus, Bd. 1], vor allem „Vorwort“. 35 Karl Marx und Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx und Friedrich Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1983 (1. Aufl. 1958). Ders.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: Werke, Bd. 23 ff., 17. Aufl. Berlin 1987 (1. Aufl. 1962). 36 W. I. Lenin: Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten Russischen Revolution 1905–1907, Berlin 1950, S. 28 f. Ders.: Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland (1899, 2. Aufl. 1908), in: W. I. Lenin Werke, Bd. 3, 4. Aufl. Berlin 1968.
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die Erforschung des Transformationsprozesses vom feudalen zum kapitalistischen Produktionswesen, zumal im Hinblick auf die Grundbesitzverteilung und Sozialstruktur der ostelbischen Gesellschaft.37 Dabei konstruierte man eine Affinität des kapitalistischen Junkertums zum „Monopolkapital“ und der „Monopolbourgeoisie“ seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. In der marxistisch-leninistischen Historiographie wurde diesen Gesellschaftsgruppen (der Großindustrie und den Großbanken) im Sinne des als höchstes Stadium des Kapitalismus begriffenen Imperialismus (Lenin)38 die Schuld an der Zerstörung der Weimarer Demokratie und deshalb an der Entstehung des Faschismus stärker zugewiesen als in der Auffassung der westlichen Historiker.39 Im Bereich der Adelsforschung sind inzwischen neue Ergebnisse gegen die einseitige Interpretation der alten Elite vorgelegt worden. Das einheit liche Junkerbild sollte nach Heinz Reif zugunsten einer differenzierteren Wahrnehmung der Vielfalt dieser Gesellschaftsschicht aufgegeben werden.40 37 Zur anhaltenden Kontroverse um die Entwicklung des Kapitalismus, zumal um die Interpretation über den preußischen Weg siehe Hartmut Harnisch: Kapitalistische Agrarreform und Industrielle Revolution. Agrarhistorische Untersuchungen über das ostelbische Preußen zwischen Spätfeudalismus und bürgerlich-demokratischer Revolution von 1848 / 49 unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Brandenburg, Weimar 1984. 38 W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916), in: W. I. Lenin Werke, Bd. 22, Berlin 1977 (5. Aufl.), S. 189–309. 39 Vgl. Joachim Streisand: Deutsche Geschichte in einem Band. Ein Überblick, Berlin 1970, S. 363: „Bereits die hier gegebene Skizze der Vorgänge, die zum Sturz Brünings führten, beweist aber, daß der Vorstoß der Junker nicht mehr als der letzte Anlaß seines Rücktritts war und daß nicht – wie es in der westdeutschen Geschichtsschreibung im allgemein behauptet wird – eine kleine Junkerclique Brüning zu Fall brachte, sondern die entscheidenden Kräfte des deutschen Finanzkapitals ausschlaggebend dafür waren, daß ein weiterer Ruck nach rechts erfolgte.“ Vgl. Hans Mottek / Walter Becker / Alfred Schröter: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. III: Von der Zeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus 1945, 3. Aufl., Berlin 1977. Vgl. Kurt Gossweiler: Die Vereinigten Stahlwerke und die Großbanken, in: Ders.: Aufsätze zum Faschismus, Berlin 1986, S. 79–130. Hingegen hob Kuczynski neben dem angeblichen Druck der Monopolindustrie auch den des Junkertums als Faktoren bei der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hervor. Jürgen Kuczynski: Monopolisten und Junker. Todfeinde des deutschen Volkes, 2. Aufl., Berlin 1947, S. 35 ff. Ders.: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Teil I, Bd. 5: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1917 / 18 bis 1932 / 33, Berlin 1966, S. 133 f. 40 In seiner Kritik am einseitigen Junkerbild der Sonderwegstheorie wies Reif auf die neueren Forschungsergebnisse hin. Siehe Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 55, München 1999, S. 96 ff. Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. I, hg. v. Heinz Reif, Berlin 2000; Bd. II, Berlin 2001.
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Auch Patrick Wagner (2005) sucht die vorherrschende Ansicht von einer Junkerherrschaft in der ostelbischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu korrigieren. Ihm zufolge ist das Junkertum seit den 1870er Jahren nicht mehr als „lokale Macht“ in Ostelbien zu begreifen. Wagner, der sich auf eine Untersuchung der Herkunft der Landräte stützt, hebt dabei auch den bis zum Ende der 1890er Jahre existierenden Adelsliberalismus Ostpreußens hervor.41 Dennoch scheint die negative Deutung der Ostelbier im Hinblick auf den Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus unverändert zu bleiben. So möchte Stephan Malinowski (2003) nicht nur die Mitschuld der adligen Eliten an der Zerstörung der Republik, sondern sogar eine ideologische und politische Affinität der sog. „proletarisierten“ Adelssöhne im Süden und Westen Deutschlands zur NS-Bewegung vor Augen führen. Malinowski bekräftigt außerdem das negative Bild der adligen Ostelbier, die zur Elite des deutschen Adels gehörten, von neuem, indem er die Mitgliedschaft ostelbischer Adliger in der NSDAP gegen die „Erinnerung an die eindrucksvolle Adelspräsenz im Verschwörerkreis des 20. Juli“ ausspielt.42 Versuche, die nicht den alten Eliten bzw. den agrarischen Kreisen angehörenden Gesellschaftsschichten in der Zwischenkriegszeit zu untersuchen, sind mit Bezug auf Ostpreußen bisher nur selten unternommen worden. Die unterschiedliche politische Struktur zwischen Stadt und Land, die hier besonders markant war, erweckte in der Geschichtswissenschaft bisher vor dem Hintergrund des negativen Ostpreußenbilds, das auf die Stärke des agrarischen Konservatismus mehr Wert legte, kein großes Interesse. Klaus von der Groeben würdigte in seiner Heimatgeschichte die Leistungen des höheren Beamtentums in Ostpreußen im 19. und 20. Jahrhundert, indem er im Gegensatz zur verbreiteten negativen Interpretation die liberalen und demokratischen Tendenzen des ostpreußischen Adels herausstrich, die ursprünglich auf den ständischen Liberalismus zurückzuführen seien.43 Diesen 41 Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005. 42 Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, 3. Aufl., Berlin 2003, S. 571. Die Deutung des 20. Juli 1944 durch Malinowski erinnert an die Interpretation des DDR-Historikers Gossweiler in seiner Kritik an der Apologie des preußischen Junkertums durch W. Görlitz. Vgl. Kurt Gossweiler: Junkertum und Faschismus, in: Aufsätze zum Faschismus, Berlin 1986, S. 260–276 (hier S. 260). Walter Görlitz: Die Junker. Adel und Bauer im deutschen Osten. Geschichtliche Bilanz von 7 Jahrhunderten, 3. Aufl., Limburg 1964. 43 Klaus von der Groeben: Die öffentliche Verwaltung im Spannungsfeld der Politik dargestellt am Beispiel Ostpreußen, Berlin 1979. Ders.: Verwaltung und Politik 1918–1933 am Beispiel Ostpreußens, 2. Aufl. Kiel 1988. Ders.: Im Dienst für Staat und Gemeinschaft. Erinnerungen, Kiel 1995.
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Standpunkt vertritt auch Wolfgang Neugebauer (1992) in seiner Detailuntersuchung über die ostpreußischen Stände und den Konstitutionalismus Preußens.44 Daniel Hildebrand (2004) thematisierte das politische Verhalten der Landbevölkerung Ostpreußens und Pommerns in der ersten Hälfte der 20er Jahre im Gegensatz zur Stadtbevölkerung.45 Dabei berücksichtigte er jedoch die Verhältnisse in den Städten nicht und wich insofern auch nicht von der bisherigen einseitigen Forschungstendenz ab. Einen völlig anderen Standpunkt vertraten hingegen die Beiträge von Wilhelm Matull zur Arbeiterbewegung Ostpreußens.46 Seine Darstellung bezog sich hauptsächlich auf die eigenen Erfahrungen und Erinnerungen als junger sozialdemokratischer Zeitungsredakteur in der Zeit der Weimarer Republik. Die neueste Nationalsozialismusforschung von Christian Rohrer (2006) geht prinzipiell von einer besonderen Affinität der ländlichen Gesellschaft Ostpreußens, die unter den Folgen des Ersten Weltkriegs litt, zur Ideologie der NSDAP aus.47 Andreas Kossert (2001) beleuchtet die Nationalitätenfrage in Masuren, wo verschiedene sog. „ethnische Minderheiten“ ansässig waren,48 und widmet sich dem Prozeß der Herausbildung des Nationalitätsbewußtseins dieser GrenzzonenBevölkerung im Kulturkampf zwischen Deutschland und Polen. Die masurische Lebenswelt war allerdings von den Wirtschaftszentren weit entfernt.49 Der jüdischen Minderheit in Königsberg im 19. und 20. Jahrhundert hat sich Stefanie Schüler-Springorum angenommen (1996).50 Friedrich Richter, ein ehemaliger Mitarbeiter des Reichswirtschaftsministeriums, dokumentierte den Prozeß der ostpreußischen Industrialisierung (des Ostpreußenplans) in der NS-Zeit. Aus seinen zahlreichen statistischen Analysen erhellt die Pro44 Wolfgang Neugebauer: Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus, Stuttgart 1992. 45 Daniel Hildebrand: Landbevölkerung und Wahlverhalten. Die DNVP im ländlichen Raum Pommenrns und Ostpreußens 1918–1924, Hamburg 2004. 46 Wilhelm Matull: Ostdeutschlands Arbeiterbewegung. Abriß ihrer Geschichte, Leistung und Opfer, Würzburg 1973. Ders.: Ostpreußens Arbeiterbewegung. Geschichte und Leistungen im Überblick, Würzburg 1970. Ders.: Damals in Königsberg. Ein Buch der Erinnerung an Ostpreußens Hauptstadt 1919–1939, München o. J. [1978]. 47 Christian Rohrer: Nationalsozialistische Macht in Ostpreußen, München 2006. Zu Erich Koch siehe Rolf Meindl: Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch. Eine politische Biographie, Osnabrück 2007. 48 Andreas Kossert: Preußen, Deutsche oder Polen? Die Masuren im Spannungsfeld des ethnischen Nationalismus 1870–1956, Wiesbaden 2001. Ders.: Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, Berlin 2001. 49 Kossert stellt auch fest, daß das Gebiet Masuren von der Landwirtschaft dominiert blieb. Zur Berufsgruppe der Landwirtschaft gehörte ca. 60 % der Bevölkerung in Masuren (Stand von 1925). Siehe Kossert (2001), Preußen, S. 168. 50 Stefanie Schüler-Springorum: Die jüdische Minderheit in Königsberg / Preußen 1871–1945, Göttingen 1996.
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duktionsstruktur der nichtagrarischen Sektoren Ostpreußens im 20. Jahrhundert.51 Unter den Studien über frühere Epochen sind insbesondere zwei Beiträge über die Handelsgeschichte Ostpreußens hervorzuheben, zum einen die Arbeit Gerhard v. Glinskis (1964) über die Kaufmannschaft Königsbergs im 17. und 18. Jahrhundert und zum anderen Rolf Straubel (2003) über den Handel in der friderizianischen Zeit.52 Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland waren die Forschungsbedingungen in der DDR zu diesem Thema, etwa zur Geschichte der Handelsstadt Königsberg, überhaupt nicht günstig. Gemäß der marxistisch-leninistischen Lehre, die dem Handel keinen wesentlichen Produktions- und Arbeitswert beimaß, war die Handelsgeschichte kein beliebtes Forschungsthema. Deshalb wurden den Promovenden im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte vorzugsweise Studien zur Entwicklung der Produktionsverhältnisse (Landwirtschaft / Grundbesitzstruktur, Gewerbe und Industrie, Transportmittel / Infrastruktur, Arbeiterfrage) aufgetragen. Nicht zuletzt war in der DDR die Erforschung der deutschen Geschichte östlich der Oder-Neiße-Linie, insbesondere der nördlichen Hälfte der alten Provinz Ostpreußen, infolge politischer Rücksichten weitgehend unmöglich. Die Frage, inwieweit die Belange der Stadtbevölkerung, vor allem in Königsberg, der einzigen Großstadt der Provinz, mit denen der Landbevölkerung in Einklang zu bringen waren, bleibt für die Zeit der Weimarer Republik noch ungeklärt. Die Wahlergebnisse beweisen deutlich die von den Agrargebieten divergierenden politischen Verhältnisse in der Hauptstadt.53 Dies hatte sich schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgezeichnet, nachdem in Königsberg ein Industriearbeiterproletariat entstanden war.54 So lagen der politischen Divergenz zwischen der Hauptstadt und ihrem Umland Sozial- und Wirtschaftsstrukturen zugrunde, die auf hi51 Friedrich Richter: Industriepolitik im agrarischen Osten. Ein Beitrag zur Geschichte Ostpreußens zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1984. Ders.: Beiträge zur Industrie- und Handwerksgeschichte Ostpreußens 1919–1939, Stuttgart 1988. 52 Gerhard von Glinski: Die Königsberger Kaufmannschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, Marburg 1964. Rolf Straubel: Die Handelsstädte Königsberg und Memel in friderizianischer Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des ost- und gesamtpreußischen „Commerciums“ sowie seiner sozialen Träger (1763–1806 / 15), Berlin 2003. 53 Stefan Hartmann: Institutionen. Verfassung, Verwaltung, Recht, in: Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens, hg. v. Ernst Opgenoorth, Teil IV: Vom Vertrag von Versailles bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1918–1945, Lüneburg 1997, S. 23–46 (hier S. 34 f.). Über die Wahlergebnisse in Königsberg von 1919 bis 1933 siehe Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg, Bd. III, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 106 f. 54 Stefan Hartmann: Politische Geschichte und soziale Bewegungen. Die Provinzen Ost- und Westpreußen 1878–1918, in: Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens, hg. v. Ernst Opgenoorth, Teil III: Von der Reformzeit bis zum Vertrag von
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storisch unterschiedliche Entwicklungen zurückgingen. Die Gründung Königsbergs verdankt sich der Kolonisation des Deutschen Ordens. 1255 baute der Orden am Pregelufer eine Burg und nannte sie dem am Kreuzzug gegen die Prußen beteiligten Böhmenkönig zu Ehren Königsberg. Sie diente als wichtigster militärischer Stützpunkt des Ordens. Zugleich war dieser Ort, unweit der Pregelmündung an der eisfreien südlichen Ostseeküste, für den Umschlaghandel zwischen Ost- und Westeuropa von großer Bedeutung. Diese Vorteile waren den Lübecker Kaufleuten bereits vor der Erbauung der Burg bekannt. Ihr Vorhaben, an diesem Ort eine Tochterstadt zu gründen, wurde aber vom Orden verhindert. Die Lübecker durften sich nicht als Herren der Stadt, sondern lediglich als Mitbegründer beteiligen. 1286 erhielt Königsberg die Handfeste nach Kulmer Recht. Die benachbarten Hafenstädte, wie Elbing, Memel, Danzig55 bekamen hingegen zuerst das lübische Recht. Dadurch wurde die Zukunft Königsbergs bestimmt, das sich zu einem geistigen, politischen und wirtschaftlichen Zentrum entwickelte. Nach dem Verlust Marienburgs 1457 und des größten Teils von Westpreußen infolge des zweiten Thorner Friedens 1466 war deshalb die Verlegung des Hauptsitzes des Hochmeisters nach Königsberg eine Selbstverständlichkeit. Seitdem blieb Königsberg stets die Hauptstadt des Ordensstaats und Herzogtums. Auch wenn Königsberg nach der Bildung des preußisch-brandenburgischen Gesamtstaats zur Provinzialhauptstadt herabgestuft wurde, blieb die einzige deutsche Groß- und Universitätsstadt östlich der Weichsel bis zum Zweiten Weltkrieg die Metropole der deutschen Kultur in Nordosteuropa. Dort konzentrierte sich auch die Verwaltung und Wirtschaft der Provinz. Im Mittelpunkt stand freilich der Hafen, der das westliche und östliche Europa miteinander verband. Aus Sicht der Königsberger bildeten Handel und Verkehr unerläßliche Bestandteile des Stadtlebens. „Das Blut, das den Körper durchströmt und lebendig erhält“,56 war mit den Worten von Stadtarchivdirektor Fritz Gause in Königsberg zweifellos das Hafengeschäft, das die Hauptstadt Ostpreußens zur Handelsstadt machte und schließlich auch zum Aufkommen der Industrie beitrug.57 In der Provinz Ostpreußen gehörten noch 1925 über 55 % der gesamten Erwerbstätigen der Landwirtschaft Versailles 1807–1918, Lüneburg 1998, S. 7–73 (hier S. 61). Friedrich-Wilhelm Henning: Wirtschaft und Gesellschaft, in: ebd., S. 75–127 (hier S. 111 f.). 55 1224 wurde Danzig das lübische Recht, 1295 Magdeburger Recht und 1343 Kulmer Recht verliehen. 56 Fritz Gause: Königsberg als Hafen- und Handelsstadt, in: Studien zur Geschichte des Preußenlandes, in: Festschrift für Erich Keyser zu seinem 70. Geburtstag, hg. v. Ernst Bahr, Marburg 1963, S. 342–352 (hier S. 342). 57 Friedrich-Wilhelm Henning: Mögliche Industrialisierungsansätze in Ostpreußen an der Schwelle zum Industrialisierungszeitalter, in: Ders., Studien zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Dortmund 1985, S. 306–312.
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an. Dieser Prozentsatz war deutlich höher als der Durchschnitt von Reich (33,9 %) und Preußen (29,5 %). In der Stadt Königsberg hingegen machte diese Gruppe lediglich 1,2 % aus.58 Im Gegensatz zur vorherrschenden Stellung der Landwirtschaft in der Erwerbsstruktur ergab sich aber der größte Teil des gesamten Umsatzes Ostpreußens eher aus den nichtlandwirtschaftlichen Sektoren (84,62 %: davon Industrie und Handwerk 30,24 %, Handel und Verkehr 52,10 %, sonstige Gewerbegruppen 2,28 %. Stand von 1929). Dabei ging ein wesentlicher Teil allein auf die Hauptstadt zurück.59 Obwohl in Königsberg lediglich ein Achtel der Bevölkerung der Provinz lebte,60 schulterte die Hauptstadt allein ca. 30 % der gesamten Provinzialabgaben.61 Die Erhaltung der agrarisch geprägten Provinz hing also wesentlich von der Wirtschaftskraft ihrer Hauptstadt ab. Daher war auch die Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. zweifellos die mächtigste Interessenvertretung Ostpreußens. Die ungleichmäßige Entwicklung der Hauptstadt und ihrer Provinz verursachte aber nicht selten Mißhelligkeiten zwischen den nichtlandwirtschaftlichen Wirtschaftskreisen und den Agrariern. Trotz dieses gesellschaftlichen Gegensatzes zwischen der Hauptstadt und ihrem Umland scheint aber in der Geschichtsschreibung die Darstellung, die Anfang des 20. Jahrhunderts aufgekommen ist, noch heute maßgebend zu sein. Die preußischen Handelsstädte an der Ostsee hatten seit dem Mittelalter vornehmlich vom Getreideexport nach Westeuropa profitiert. Sie bildeten insofern eine Interessengemeinschaft mit den ostelbischen Gutsherren. Dieses symbiotische Verhältnis zwischen den Getreidehändlern und den Agrariern blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts intakt.62 Der in der zweiten Hälfte 58 Für Königsberg siehe auch Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, Bd. 3: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Untergang Königsbergs, Zweite ergänzte Auflage, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 103 f. Zur Verteilung der Bevölkerung Ostpreußens auf Stadt und Land siehe auch Rudolf Lawin: Die Bevölkerung von Ostpreußen, Berlin und Königsberg 1930, S. 10 ff. Statistik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 199, Stuttgart 1958, S. 30. Siehe auch Kuczynski (1966), S. 32. 59 Der Umsatzvergleich der ostpreußischen Städte läßt deutlich die Konzentration der Wirtschaftskraft in der Hauptstadt erkennen: Königsberg 793.306, Elbing 138.349, Tilsit 86.209 (Gesamtumsatz in 1000 RM, Stand von 1927). Richter (1988), S. 68 f. 60 279.926 Einwohner in der Stadt Königsberg, 2.233.301 in der Provinz Ostpreußen (Stand von 1925). 61 Die Verwaltung der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Kriege. Festschrift des Magistrats der Stadt Königsberg i. Pr. anläßlich der 200-Jahrfeier der Vereinigung der drei Städte Altstadt, Löbenicht, Kneiphof, Königsberg 1924, S. 71. So klagte der Stadtkämmerer Lehmann: „Das ist überaus drückend empfunden worden, besonders in Zeiten, in denen es der Landbevölkerung wesentlich besser erging als der städtischen.“ 62 Max Sering: Deutsche Agrarpolitik auf geschichtlicher und landeskundlicher Grundlage, Leipzig 1934, S. 62 f.
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des 19. Jahrhunderts eintretende Strukturwandel des Weltagrarmarkts verleitete aber die bis dahin den Freihandel befürwortenden Landwirte dazu, vom Staat höhere Agrarzölle zur Abwehr billigerer Auslandsprodukte zu fordern. Mit der Umkehrung der deutschen Handelspolitik vom freihändlerischen Grundsatz zur Schutzzollpolitik unter Bismarck 1879 zerbrach die Interessengemeinschaft zwischen dem Seehandel und den Landwirten.63 Letztere traten sogar in eine Koalition mit der Eisenindustrie ein. Erst unter Caprivi kam es wieder zu einer Lockerung der Schutzzollpolitik; so machte er 1894 dem langjährigen Zollkrieg zwischen Deutschland und Rußland mit dem Abschluß eines Handelsvertrags ein Ende. Zum Interessenausgleich mit den Agrariern traf man zugleich innerdeutsche Maßnahmen, insbesondere die Aufhebung des Identitätsnachweises und die Einführung des Einfuhrscheinsystems. Das System sollte sich wie eine Exportprämie für per Schiff spediertes ostdeutsches Getreide und wie eine gleichzeitige Importprämie aus Rußland auswirken, so daß beiden Lagern, den Getreideproduzenten einerseits und den Export- und Importhändlern in den Ostseestädten andererseits, gedeihliche Geschäfte zugesichert wurden. Das alte Bündnis zwischen den Ostseehäfen und den ostelbischen Agrariern wurde somit gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiederhergestellt. Die Darstellung der Interessenpolitik der Ostelbier und ihrer Anhänger, wie sie sich in der Kritik Lujo Brentanos an der Sozialpolitik des Kaiserreichs verkörperte,64 wurde seitdem in der Geschichtswissenschaft für die Interessenvertretung der preußischen Ostseehäfen, zumal Danzig und Königsberg, fixiert. Hier stellt sich die Frage, ob Brentanos am Vorabend des Ersten Weltkriegs aufgestellte These auch auf die Nachkriegsverhältnisse anwendbar ist. Konnte die alte Interessengemeinschaft zwischen dem Hafen Königsberg 63 Hartmut Kaelble: Industrielle Interessenpolitik in der wilhelminischen Gesellschaft. Centralverband Deutscher Industrieller 1895–1914, Berlin 1967, S. 178 f. Born erinnert daran, daß sich die Agrarier in Ostpreußen zunächst gegen die Einführung der Industrie- und Getreideschutzzölle 1878 / 79 gewandt hatten, weil man das ostpreußische Getreide, jedenfalls den Weizen, lediglich in der Mischung mit dem klebrigen russischen Korn gut verkaufen konnte. Erst später traten sie für die Agrarzölle ein. Karl Erich Born: Preußen im deutschen Kaiserreich 1871–1918. Führungsmacht des Reiches und Aufgehen im Reich, in: Handbuch der preußischen Geschichte, hg. v. Wolfgang Neugebauer, Bd. III: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin und New York 2001, S. 15–148 (hier S. 92 f.). Ders.: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs (1867 / 71–1914), Stuttgart 1985, S. 119 ff. 64 Lujo Brentano: Die deutschen Getreidezölle. Eine Denkschrift, 3. Aufl., Stuttgart und Berlin 1925, S. 52 ff. (1. Aufl. 1910). Brentano, der stets freihändlerische Grundsätze vertrat, kämpfte jahrzehntelang gegen den Großgrundbesitz und das Getreideschutzzollsystem, in der Überzeugung, daß die Senkung der Zölle und ein Sinken der Brotpreise der deutschen Arbeiterschaft zugute kommen würden. Ders.: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931, S. 173.
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und den Agrariern, die unter den relativ hohen Getreidezollsätzen Bülows lediglich mit Hilfe des Einfuhrscheinsystems aufrechterhalten worden war, überhaupt in der Nachkriegsordnung von Versailles fortbestehen? Das Einfuhrscheinsystem, das eine ausreichende Einfuhr- und Transithandelsmöglichkeit von russischen Agrarprodukten voraussetzte, war in Wirklichkeit nach dem Krieg nicht mehr funktionsfähig, nicht nur weil die Export- und Importprämie im Rahmen des Versailler Vertrags bis 1925 verboten war, sondern auch, weil der Rußlandhandel des Königsberger Hafens zum Erliegen gekommen war.65 Außerdem zielte die deutsche Handelspolitik nach 1925 immer stärker auf den Agrarschutz ab. Unter diesen Umständen ließ sich das alte Interessenbündnis zwischen den Seehändlern und den Agrariern nicht ohne weiteres wiederherstellen. So sieht man sich noch einmal vor die Grundfrage gestellt: Was sind eigentlich die Wünsche der städtischen Wirtschaftskreise in Ostpreußen nach dem Ersten Weltkrieg gewesen, standen sie mit denen der Landwirtschaft im Einklang, und auf welche Weise wurden die Interessen der Industrie- und Handelskammern in der Politik und Verwaltung wahrgenommen? Diese Fragen werden von der bisherigen Historiographie über die Ostprovinzen in der Weimarer Republik keineswegs beantwortet. Selbst in der Ostpreußenhilfe-Forschung herrscht überwiegend die Ansicht vor, daß die nichtlandwirtschaftlichen Kreise, ebenso wie die Großagrarier, unter der verschärften Krise bestrebt gewesen seien, systematisch staatliche Hilfsgelder heranzuziehen. In diesem Sinne sind die Handelskammern tatsächlich als Anhänger agrarischer Hilfsmaßnahmen bezeichnet worden. Der Oberpräsident habe sich schließlich zum Sprachrohr der ostpreußischen Klienten gegenüber der Berliner Zentrale gemacht. Dieser Befund, der hauptsächlich auf das Studium der Kreditfrage zurückgeht, ist aber offenbar zu einseitig. In Wirklichkeit forderten die städtischen Wirtschaftskreise in erster Linie die Wiederherstellung des für den Königsberger Hafen entscheidenden Handelsverkehrs mit Rußland. Tatsächlich setzte sich gerade der demokratische Oberpräsident Siehr, der innenpolitisch stets durch die von den Großagrariern beherrschten Rechtsfraktionen der Provinzialselbstverwaltung bedrängt wurde, kraft seines Amtes für die Erfüllung der Wünsche der städtischen Wirtschaftskreise ein. Die Belange der Handelskammern und die auswärtige Politik der beiden Verwaltungsspitzen, des Oberpräsidenten der Provinz und des Oberbürgermeisters von Königsberg, sind aber von der Forschung bisher völlig außer acht gelassen worden. Dieses Manko scheint erheblich 65 Ende der 20er Jahre wurde das Einfuhrscheinsystem vorübergehend wiedereingeführt. Diese Maßnahme hatte jedoch keine wesentliche Wirkung auf den Königsberger Rußlandhandel, da die Getreidelieferungen aus der UdSSR nach wie vor stark behindert wurden.
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dazu beigetragen zu haben, das einseitig negative Bild Ostpreußens in der Zwischenkriegszeit weiter zu tradieren. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten zwei Handelsartikel, Holz und Hülsenfrüchte, das Rückgrat des ostpreußischen Rußlandhandels gebildet. Die Beförderung von Rundholz nach Ostpreußen war ausschließlich durch die Memel- / Njemenflößerei erfolgt, so daß sich im nördlichen Teil Ostpreußens, vor allem im Stromgebiet von Memel und Pregel, die Holzindustrie gut entwickelt hatte, die als die einzige bodenständige Industrie Ostpreußens anzusehen war. Die dort bearbeiteten Hölzer wurden von Memel und Königsberg nach England sowie nach West- und Mitteldeutschland abtransportiert. Hingegen ging die Entwicklung Königsbergs zum größten Hülsenfrüchteumschlagplatz in Europa auf die Herstellung der Eisenbahnverbindung mit der Ukraine 1873 und insbesondere auf den Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 zurück. Dieser bilaterale Vertrag hatte dem scharfen Häfenwettbewerb zwischen den deutschen und russischen Ostseehäfen um das Hinterland ein Ende gemacht. So war zum ersten Mal eine eisenbahntarifliche Regelung zwischen den russischen Verladestationen und den Häfen eingeführt worden. Königsberg hatte daraufhin einen außerordentlichen Aufstieg als Exporthafen für russische Produkte genommen, auch mit Hilfe des Einfuhrscheinsystems. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam aber sowohl der Umschlaghandel in Königsberg, als auch die Flößerei auf der Memel völlig zum Erliegen. Das Kriegsende 1918 / 19 änderte diesen trostlosen Zustand des ostpreußischen Rußlandhandels nicht wesentlich. Durch den polnisch-litauischen Wilnakonflikt wurde die Memelflößerei seit Oktober 1920 unterbunden, so daß die Sägewerksindustrie in Königsberg und Tilsit in Bedrängnis geriet. Ebenso wie die Flößerei wurde die Einfuhr von russischen Agrarprodukten nach Königsberg zunächst eingestellt. Zum einen war die Transiteisenbahn infolge des sowjetisch-polnischen Kriegs weiterhin nicht funktionsfähig. Zum anderen war Rußland in der Nachkriegszeit überhaupt nicht in der Lage, Getreide nach dem Ausland zu exportieren. Nicht zuletzt behinderte das staatliche Außenhandelsmonopol die Wiederherstellung des einst blühenden Handels zwischen Deutschland und Rußland. Unter diesen Umständen waren die Wirtschaftskreise Ostpreußens von der Notwendigkeit überzeugt, eigene Initiativen zur Wiederherstellung des Handelsverkehrs mit den Oststaaten zu entwickeln. Dies betraf auch die Beziehungen zu Litauen, die im zweiten Teil dieser Arbeit thematisiert werden. Dabei nimmt die Untersuchung des deutsch-litauischen Binnenschif�fahrtsabkommens, das 1923 zunächst als geheimes Verwaltungsabkommen abgeschlossen wurde, eine besondere Stellung ein. Bei seinem Zustandekommen spielte der Oberpräsident, der sich für die Wiederöffnung der Memelflößerei engagierte, eine wesentliche Rolle. Es soll versucht werden,
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die ostpreußisch-litauischen Verhältnisse im Rahmen der internationalen Politik im Völkerbund darzustellen, zumal im Zusammenhang mit den territorialen Auseinandersetzungen um Memel und Wilna. Der dritte Teil dieser Arbeit ist der Geschichte des Königsberger Rußlandgeschäfts gewidmet. Der Rußlandhandel in Königsberg, der im Jahr 1912 / 13 seinen Höhepunkt erreicht hatte, war ausschließlich auf den Eisenbahnverkehr angewiesen. Nach dem Ersten Weltkrieg war man in Königsberg folglich bestrebt, die Transitverbindung mit Rußland bzw. der UdSSR auf Basis des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 wiederherzustellen. Die Untersuchung erstreckt sich deshalb hauptsächlich auf die Entstehung und Folgen des Eisenbahnabkommens, das im Rahmen des deutschsowjetischen Handelsvertrags von 1925 zustande kam. Das Abkommen enthielt außerdem einige geheime Sondervereinbarungen, die sich unmittelbar auf die Belange des Königsberger Hafens bezogen. Der Wahrnehmung der Interessen der Königsberger Handelskammer sowie der Stadtverwaltung Königsberg, die unter ihrem Oberbürgermeister eine eigenständige Rußlandpolitik entwickelte, kommt dabei besondere Aufmerksamkeit zu. Der republikanische Oberpräsident von Ostpreußen Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich jeder Oberpräsident Ostpreußens für die Beseitigung der Notlage seiner Provinz ein. Die Hilfsanträge wurden aber in Berlin nicht immer befürwortet, und häufig prallten die Wünsche Ostpreußens und die Auffassungen der Zentralregierungen aufeinander. Das gespannte Verhältnis zwischen der preußischen Regierung und dem Oberpräsidenten stellte dessen Stellung als politischer Beamter in Frage. Ursprünglich war das Amt des Oberpräsidenten als Kommissar des Ministers in der Zeit der Stein-Hardenbergschen Reformen Anfang des 19. Jahrhunderts eingerichtet worden.66 Im Laufe der Zeit hatte der Oberpräsident eige66 Hartung zufolge hatte bis 1945 die Entwicklung der preußischen Oberpräsidenten, abgesehen von den Dissertationen der NS-Zeit, für welche die Umgestaltung der Provinzialverwaltungen (Oberpräsidenten und Landeshauptleute) den Anlaß gab, keine große Beachtung in der Geschichtswissenschaft gefunden. Fritz Hartung: Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, in: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, Gesammelte Aufsätze, Berlin 1961, S. 178–344 (Dritter Teil: Der Oberpräsident, S. 275–344). Zu den neueren Ergebnissen zählt vor allem der Sammelband: Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1945, hg. v. Klaus Schwabe, Boppard am Rhein 1985. Zur Verwaltungsreformdiskussion, insbesondere zur Frage der Oberpräsidenten siehe Johann Widera: Die Rechtsstellung der preußischen Oberpräsidenten und die geplante Verwaltungsreform, Diss. Breslau 1929. Zur Verwaltungsaufgabe der Oberpräsidenten siehe Kurt Jeserich: Die preußischen Provinzen. Ein Beitrag zur Verwaltungs- und Verfassungsreform, Berlin-Friedenau 1931. Zur nationalsozialistischen Reform siehe Günter Lenz: Die Wandelung der Stellung des Oberpräsidenten
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ne Verwaltungsaufgaben erlangt und sich zu einer Zwischeninstanz zwischen den Regierungsbezirken und den Ministern entwickelt. Bereits seit 1825 wurde er als Stellvertreter der obersten Staatsbehörde in der Provinz bezeichnet, indem er neben seiner eigenen Verwaltung die Aufsicht über die gesamte Administration der Provinz ausüben sollte. Seit 1852 gehörte er zur Kategorie der politischen Beamten, die jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden konnten. Die königliche Staatsregierung hatte darauf abgezielt, die Oberpräsidenten von der liberalen Bewegung, die zur Revolution 1848 geführt hatte, soweit wie möglich fernzuhalten. Die politische Kontrolle des Oberpräsidenten wurde aber im Jahr 1920 paradoxerweise durch die republikanische Staatsregierung Preußens von neuem aufgenommen.67 Mit der Verordnung über den Schutz der Republik 1922, für die die Ermordung Walther Rathenaus den Anlaß gab, wurde der politische Charakter des Oberpräsidenten als Stellvertreter der Zentralregierung und zugleich als politischer Beamter entscheidend gestärkt.68 Bis zum Ersten Weltkrieg hatte zwischen der preußischen Zentralregierung, die den Oberpräsidenten einsetzte, und der Provinzialselbstverwaltung lange Zeit politischer Einklang geherrscht, denn seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hatten die Konservativen den Provinziallandtag dominiert. Erst durch die revolutionären Ereignisse vom November 1918 fand die Harmonie zwischen Berlin und Ostpreußen ein Ende. In der östlichsten Provinz Preußens kühlte die Begeisterung für die Revolution rasch ab, und die politischen Verhältnisse in den ländlichen Kreisen näherten sich bald den alten Zuständen wieder an. Daim preußisch-deutschen Staatsaufbau, Diss. Göttingen 1936. Helmut Rausch: Die Entwicklung der Rechtsstellung des Oberpräsidenten in Preußen, Diss. Leipzig 1936. Zur Entwicklung im 19. Jh. siehe vor allem Horst Kube: Die geschichtliche Entwicklung der Stellung des preußischen Oberpräsidenten, Diss. Berlin 1939. Erwin Dörnte: Der Oberpräsident als Mittelinstanz in der Reichs- und Verwaltungssystem in der Weimarer Zeit, Diss. Marburg 1941. Zum Oberpräsidenten Westpreußens siehe Max Bär: Die Behördenverfassung in Westpreußen seit der Ordenszeit, Danzig 1912, Nachdruck Hamburg 1989. Zum Oberpräsidenten Pommerns siehe Hans Branig: Die Oberpräsidenten der Provinz Pommern, in: Baltische Studien, N. F. Bd. 46, 1959, S. 92–107. Zum Oberpräsidenten Hannovers siehe Günther Bode: Gustav Noske als Oberpräsident der Provinz Hannover 1920–1933, Karlsruhe 1982. Zu den Oberpräsidenten Ostpreußens im 19. Jh. siehe Hans-Jürgen Belke: Die preußische Regierung zu Königsberg 1808–1850, Köln und Berlin 1976. Reinhard Hauf: Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Königsberg 1871–1920, Köln und Berlin 1980. Zu seinen Zuständigkeiten und Verwaltungsaufgaben im 20. Jh. siehe Kurt Kaminski: Die Verwaltung, in: Ostpreußen. Leistung und Schicksal, hg. v. Fritz Gause, Essen 1958, S. 299–342. Zur provinziellen Selbstverwaltung siehe vor allem Helmut Scheibert: Aus der Geschichte der Provinzialverwaltung Ostpreußens: Aufgaben und Leistungen der höheren Beamten 1920 bis 1945, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg / Pr., Bd. 28, 1993, S. 15–51. 67 Kaminski (1958), S. 303. 68 Hartung (1961), S. 340.
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durch geriet der Oberpräsident in ein Dilemma, und die alte Streitfrage, ob der Oberpräsident als Staatskommissar in der Provinz oder als Repräsentant der Bevölkerung seiner Provinz zu betrachten sei,69 stellte sich von neuem. Der letzte Oberpräsident des königlichen Preußen, Adolf von Batocki (1914–1919), der noch nach den Novemberereignissen im Amt blieb, sah sich als erster mit dieser Problematik konfrontiert. Sein Nachfolger August Winnig (1919–1920) stellte sich, obwohl Sozialdemokrat, den alten Führungsschichten zur Seite und wurde nach dem Kapp-Putsch abgelöst. Ernst Ludwig Siehr, der nach der Niederwerfung des Putsches zur Demokratisierung der Verwaltung in das Amt des Oberpräsidenten eingesetzt wurde, war als gebürtiger Ostpreuße mit der Stimmung in seiner Provinz gut vertraut. Der liberale Republikaner stand den Rechtsparteien gegenüber, die im Provinziallandtag die Oberhand hatten.70 Nicht zuletzt bemühte er sich, auf die Belange der nichtlandwirtschaftlichen Wirtschaftskreise mehr als auf die der alten Führungseliten Rücksicht zu nehmen.71 Die Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen Siehr und der DNVP, die federführend an der Provinzialselbstverwaltung beteiligt war, bildet einen wichtigen Teil der vorliegenden Arbeit. Es soll dabei versucht werden, die Bestrebungen Siehrs um die Erhaltung der Republik gebührend zu würdigen. Das republikanische Preußen, wo im Gegensatz zum Reichskabinett die Weimarer Koalition unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun bis zum Staatsstreich vom Juli 1932 ihre Stellung stabil behauptete, ist bereits gründlich von Horst Möller (Verfassungsfrage), Hagen Schulze (Biographie von Otto Braun), Hans-Peter Ehni (Verhältnis zwischen Reich und Preußen) sowie Enno Eimers (die ersten Jahre der Republik) untersucht worden.72 Den Prozeß der Demokratisierung der Verwaltung haben Wolfgang Runge, Hans-Karl Behrend sowie Eberhard Pikart thema69 Klaus Schwabe: Einführung, in: Der preußische Oberpräsident. Entstehung, Stellung und Wandel eines Staatsamtes, in: Die preußischen Oberpräsidenten 1815– 1945, hg. v. Klaus Schwabe, Boppard am Rhein 1985, S. 9–15 (hier S. 12). 70 Hartmann (1997), S. 34 ff. 71 Rikako Shindo: Die Erweiterung der Befugnisse des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen in der Weimarer Republik, in: 750 Jahre Königsberg. Beiträge zur Geschichte einer Residenzstadt auf Zeit, hg. v. Bernhart Jähnig, Marburg 2008, S. 541–585. 72 Horst Möller: Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985. Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1977. Hans-Peter Ehni: Bollwerk Preußen? Preußen-Regierung, Reich-Länder-Problem und Sozialdemokratie 1928–1932, BonnBad Godesberg 1975. Zumal über die ersten Jahren des republikanischen Preußens siehe auch Enno Eimers: Das Verhältnis von Preußen und Reich in den ersten Jahren der Weimarer Republik (1918–1923), Berlin 1969. Siehe auch Karl Dietrich Bracher: Dualismus oder Gleichschaltung. Der Faktor Preußens in der Weimarer Repu-
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tisiert.73 Möller gibt außerdem einen Überblick über die Oberpräsidenten im republikanischen Preußen als Verwaltungselite.74 Joachim Stang (1994) weist im Rahmen seiner Erforschung der Deutschen Demokratischen Partei auch auf den Stellenwert der demokratischen Oberpräsidenten in Preußen hin.75 Obwohl Ernst Ludwig Siehr von 1919 bis zum Aufgehen der DDP in der Deutschen Staatspartei zum Parteivorstand gehörte und regelmäßig an Vorstandssitzungen in Berlin beteiligt war, geht sein Verhalten in der Partei aus der bisher maßgebenden Quellenedition über die Deutsche Demokratische Partei nicht deutlich hervor. Siehrs Äußerungen wurden hier nur selten abgedruckt.76 Im Vergleich dazu wurden die Bestrebungen der ostdeutschen Konservativen in den Jahren 1918 / 19 insbesondere durch Rudolf Klatt (1958), Hagen Schulze (1970) sowie Rainer Schumacher (1985) gründlich untersucht.77 Die erste Ostpreußenkonferenz vom März 1920 behandelte erstmals Gerhard Schulz (1963) als einen Ausschnitt des deutschen Separatismus in der Nachkriegszeit.78 Was speziell die innenpolitischen Spannungen zwischen Siehr und den ostpreußischen Rechtsparteien betrifft, wurden blik, in: Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik–Wirtschaft–Gesellschaft, hg. v. K. D. Bracher, Düsseldorf 1987, S. 535–551. 73 Wolfgang Runge: Politik und Beamtentum im Preußenstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933, Stuttgart 1965. Hans Karl Behrend: Zur Personalpolitik des preußischen Ministeriums des Innern. Die Besetzung der Landratsstellen in den östlichen Provinzen 1919–1933, in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 6 (1957), S. 173–214. Eberhard Pikart: Preußische Beamtenpolitik 1918–1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 119–137. 74 Horst Möller: Die preußischen Oberpräsidenten der Weimarer Republik als Verwaltungselite, in: Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1945, hg. v. Klaus Schwabe, Boppard am Rhein 1985, S. 183–217. 75 Joachim Stang: Die Deutsche Demokratische Partei in Preußen 1918–1933, Düsseldorf 1994. 76 Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Dritte Reihe. Die Weimarer Republik, hg. v. Karl Dietrich Bracher, Erich Matthias und Rudolf Morsey, Bd. 5: Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933, Düsseldorf 1980. Die Äußerungen Siehrs sind dabei z. B. in den Dokumenten Nr. 34, 114, 170, 171 zu finden. 77 Rudolf Klatt: Ostpreußen unter dem Reichskommissariat 1919 / 20, Heidelberg 1958. Hagen Schulze: Der Oststaat-Plan 1919, in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 18 (1970), S. 123–163. Rainer Schumacher: Die Preußischen Ostprovinzen und die Politik des Deutschen Reiches 1918–1919. Die Geschichte der östlichen Gebietsverluste Deutschlands im politischen Spannungsfeld zwischen Nationalstaatsprinzip und Machtanspruch, Köln 1985. 78 Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 1: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919–1930, Berlin 1963 (2. Aufl. Berlin und New York 1987).
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viele Aspekte, die im ersten Teil dieser Arbeit thematisiert werden, zuerst von Wessling sowie Hertz-Eichenrode diskutiert. Groeben hat im Kontrast zu Hertz-Eichenrode versucht, die gleiche Problematik überwiegend aus Sicht der Konservativen im Hinblick auf die positiven Leistungen der ostpreußischen Eliten zu betrachten.79 Die vertiefte Untersuchung der betreffenden Ereignisse gelangt aber zu anderen Ergebnissen als die bisherige Forschung. In der vorliegenden Studie wird vornehmlich das Verhältnis zwischen dem Oberpräsidenten, seiner Vertretung in Berlin (dem Ostpreußischen Vertreter beim Reichs- und Staatsministerium) und den Handelskammern behandelt werden. Dabei spielt die Frage nach der Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten eine wesentliche Rolle. Was die Gesamtdarstellung der Geschichte Ostpreußens anbetrifft, nehmen drei Historiker, Bruno Schumacher,80 Fritz Gause81 und Hartmut Boockmann82 eine besondere Stellung ein. Der Wert von Gauses Werk, das allerdings lediglich die Geschichte Königsbergs thematisiert, besteht jedoch darin, daß die gesamte Geschichte Ostpreußens aus Sicht der Hauptstadt dargestellt wurde. Neben diesen drei maßgebenden Beiträgen stehen heute außerdem mehrere Handbücher und übergreifende Aufsatzsammlungen zur Geschichte Ostpreußens zur Verfügung. Hier sind insbesondere die Arbeiten der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und die zahlreichen Beiträge der heimatvertriebenen Wissenschaftler in den 50er und 60er Jahren, zumal des Göttinger Arbeitskreises, zu nennen.83 Für 79 Groeben
(1988). Schumacher: Geschichte Ost- und Westpreußens, hg. v. Göttinger Arbeitskreis, 3. Aufl., Würzburg 1958. 81 Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, Bd. I: Von der Gründung der Stadt bis zum letzten Kurfürsten, Dritte ergänzte Auflage. Bd. II: Von der Königskrönung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Zweite ergänzte Auflage. Bd. III: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Untergang Königsbergs, Zweite ergänzte Auflage, Köln, Weimar, Wien 1996. 82 Hartmut Boockmann: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Ostpreußen und Westpreußen, Berlin 1992. 83 Zur Geschichte Ostpreußens siehe: Ostpreußen. Leistung und Schicksal, hg. v. Fritz Gause, Essen 1958. Zur geschichtswissenschaftlichen Erforschung vor allem: Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens, im Auftrag der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, hg. v. Ernst Opgenoorth, Teil IV: Vom Vertrag von Versailles bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1918– 1945, Lüneburg 1997. Als Handbuch für die Verwaltungsgeschichte in den preußischen Ostprovinzen siehe: Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945, hg. v. Gerd Heinrich, Friedrich-Wilhelm Henning, Kurt G. A. Jeserich, Stuttgart, Berlin, Köln 1993. Zur Folge der Grenzziehungen beim Versailler Vertrag und 1945 siehe: Das östliche Deutschland. Ein Handbuch, hg. v. Göttinger Arbeitskreis, Würzburg 1959. Zur Königsberg-Kaliningrad-Frage siehe: Das Königsberger Gebiet im Schnittpunkt deutscher Geschichte und in seinen europäischen Bezügen, hg. v. Bernhart 80 Bruno
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die vorliegende Studie wurden sowohl die Arbeiten der zeitgenössischen und vertriebenen Historiker Ostpreußens,84 die bei linken Historikern als revanchistisch gelten, soweit wie möglich ausgewertet, als auch die auf gründliche Archivarbeit gestützten Beiträge der alten DDR-Historiker (hier ist in erster Linie Günter Rosenfeld zu nennen),85 die in der westlichen Welt Jähnig und Silke Spieler, Bonn 1993. Über die Lage Ost- und Westpreußens nach dem Ersten Weltkrieg siehe den Tagungsband der Historischen Kommission, vor allem Ludwig Biewer: Ostpreußische Aspekte im Preußen der Weimarer Republik, in: Zwischen den Weltkriegen. Teil I: Politik im Zeichen von Parteien, Wirtschaft und Verwaltung im Preußenland der Jahre 1918–1939, hg. v. Udo Arnold, Lüneburg 1986, S. 33–63. Besonders hervorzuheben sind die Forschungsergebnisse der folgenden Aufsatzsammlung: Die Deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik, von Erwin Hölzle u. a., Köln 1966. 84 Zu Grundfragen Ostpreußens in der Zwischenkriegszeit siehe insbesondere Kurt Forstreuter: Von Versailles bis Potsdam, in: Ostpreußen. Leistung und Schicksal, hg. v. Fritz Gause, Essen 1958, S. 203–223. Ernst Ludwig Siehr: Ostpreußen nach dem Kriege, in: Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande, hg. v. Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen, Königsberg 1931, S. 656–672. 85 Eine von Alfred Anderle in der Zeit des Kalten Kriegs geäußerte Bemerkung verdeutlicht diese Problematik, die beiden Lagern die neutrale Bewertung der Forschungsergebnisse verstellte: „Wurde die Arbeit von Fritz Klein aus dem Jahre 1952 von westdeutschen Rezensenten noch einigermaßen sachlich beurteilt, sieht sich Georg von Rauch angesichts der fundierten Arbeit Rosenfelds zu der gehässigen Feststellung veranlaßt, zu Rapallo erfahre der Leser wenig Neues. Die Farbigkeit der Arbeit Rosenfelds sei „ein Einheitsanstrich aus ideologisch gefärbten Tinten, der die freie Sicht verdunkelt.“ Solche abgegriffenen Redewendungen wie auch [die] Stempel „ostzonal“, „sowjetzonal“ und ähnliche sollen den reaktionären westdeutschen Historikern offenbar eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Arbeiten marxistischer Historiker der DDR ersparen.“ (Hier meint Anderle das Buch von Günter Rosenfeld: Sowjetrußland und Deutschland 1917–1922, Berlin 1960). Alfred Anderle: Zur Geschichtsschreibung über Rapallo in beiden deutschen Staaten, in: Rapallo und die friedliche Koexistenz, Berlin 1963, S. 232–245 (hier S. 236). Noch 1997 bewertete Linke das Werk von G. Rosenfeld als Ideologiegeschichte. Vgl. Horst G. Linke: Der Weg nach Rapallo. Strategie und Taktik der deutschen und sowjetischen Außenpolitik, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 55–109 (hier S. 55 f.). Hingegen findet der Leser hier, trotz der sowjetpolitisch orientierten Geschichtsschreibung, die Rosenfelds Werk prägt, eine aus den Quellen geschöpfte Darstellung. So wurde beispielsweise der von Ludendorff abweichende Standpunkt von Staatssekretär Kühlmann (AA) in der Endphase der Brest-Litowsker Verhandlungen, vor allem bei der Kronratsitzung in Bad Homburg vom 13. Februar 1918, von Rosenfeld (Diss. 1956, 1. Aufl. Berlin 1960, 2. Aufl. Berlin 1983, S. 58) veröffentlicht, während sich Fritz Fischer damals konkret auf die Zielsetzung des Kaiserreichs zur Eroberungspolitik stützte. Die Interpretation von Kühlmanns Stellung sowie der Kluft zwischen der OHL und dem Auswärtigen Amt wurde zu einem der Streitpunkte der sog. Fischer-Kontroverse. Rosenfelds Beitrag wurde aber von den gegen Fischer auftretenden westlichen Historikern nicht genügend berücksichtigt. Vgl. Fritz T. Epstein: Die deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, N. F. 10 (1962), S. 381–394. Ders.: Neue Literatur zur Geschichte der Ostpolitik im
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als Werke der marxistisch-leninistischen Historiographie gebrandmarkt sind,86 weitgehend berücksichtigt.87 Die Untersuchung der Interessenvertretung der Königsberger Wirtschaftskreise in der Weimarer Republik stößt hinsichtlich der Quellen auf Schwierigkeiten. Vor allem gelten die Archivalien des Königsberger Stadtarchivs und die Sammlung des Stadtgeschichtsmuseums seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs weitgehend als verschollen. Die Durchhaltepolitik der NS-Gauleitung verhinderte die rechtzeitige Evakuierung der Archivalien, zu welchen insbesondere die Akten des Magistrats und der Handelskammer zählen.88 Im Historischen Staatsarchiv Königsberg befinden sich lediglich einige Archivalien städtischer Herkunft vorwiegend aus der frühen Neuzeit.89 Die Archivalien des 20. Jahrhunderts werden hingegen noch heute vermißt. Im Gegensatz zum Schicksal des Stadtarchivs wurden die wichtigsten Bestände des Preußischen Staatsarchivs Königsberg vor der Kapitulation erfolgreich nach dem Westen ausgelagert. Die Überlieferungsgeschichte der Bestände des Preußischen Staatsarchivs Königsberg nach 1945 ist vor allem von Kurt Forstreuter,90 Walther Hubatsch,91 Bernhart Jähnig92 sowie Hartmut Boockmann93 eingehend dokumentiert worden. Die Königsberger Archivalien, die Ersten Weltkrieg, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, N. F. 14 (1966), S. 63– 94. Winfried Baumgart: Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien und München 1966, S. 23 ff. 86 Vgl. Martin Sabrow: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969, München 2001. 87 Allerdings reflektierte Ludmila Thomas kritisch über die Problematik der von der Politik und Ideologie nachhaltig beeinflußten Geschichtsschreibung in der UdSSR und DDR. Ludmila Thomas: Die deutsch-russischen Beziehungen als Gegenstand weltgeschichtlicher Forschungen, in: Deutsch-russische Beziehungen. Ihre welthistorischen Dimensionen vom 18. Jahrhundert bis 1917, hg. v. Ludmila Thomas und Dietmar Wulff, Berlin 1992, S. 11–31. 88 Gause (1996), Bd. I, Vorwort. 89 Dieter Heckmann: Das Staatsarchiv als Ersatz für das verlorene Stadtarchiv Königsberg, in: Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren, hg. v. Bernhart Jähnig und Jürgen Kloosterhuis, Marburg 2006, S. 245–257. 90 Kurt Forstreuter: Das Preußische Staatsarchiv in Königsberg. Ein geschichtlicher Rückblick mit einer Übersicht über seine Bestände, Göttingen 1955, S. 93 ff. 91 Walther Hubatsch: Göttinger Historische Arbeiten. Am Königsberger Staatsarchiv 1947 bis 1952. Ein Forschungsbericht, in: Jahrbuch der Albertina-Universität zu Königsberg / Pr. 4 (1954), S. 227–242. 92 Bernhart Jähnig: Verlagerung der Königsberger Archivbestände von Göttingen nach Berlin, in: Der Archivar 34 (1981), S. 400–402. 93 Boockmann (1992), S. 64 ff. Zu den Königsberger Akten siehe auch Peter Wörster: Archiv im Königsberger Gebiet nach 1945, in: Zeitschrift für Ostforschung 39 (1990), S. 85–92.
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in der britischen Besatzungszone, im Land Niedersachsen angekommen waren, wurden 1953 vom Göttinger Archivlager übernommen und dort wieder der Forschung zugänglich gemacht. Dazu zählten vor allem die älteren Archivalien wie z. B. die Bestände aus dem Archiv des Etatsministeriums, das auf das Archiv bzw. die Schriftverwaltung der Regierung des Ordensstaats und Herzogtums zurückzuführen ist und nach deren Auflösung 1804 zum Kern des Staatsarchivs Königsberg geworden war.94 Die neueren Bestände, zumal die Archivalien des 20. Jahrhunderts, konnten hingegen bis zum Kriegsende nur teilweise evakuiert werden. Am wichtigsten sind die Akten des Oberpräsidiums der Provinz Ostpreußen sowie des Archivs der NS-Gauleitung, die großenteils erfolgreich ausgelagert wurden. Die Bestände des Oberpräsidiums im 19. und 20. Jahrhundert sind jedoch nicht vollständig erhalten.95 Mitte der 1970er Jahre beschloß das Land Niedersachsen, die Verwaltung der Archivalien des Königsberger Staatsarchivs aufzugeben, weil es mit Rücksicht auf die Beziehungen zu den Oststaaten kein großes Interesse mehr an der weiteren Beibehaltung des Archivguts aus dem verlorenen deutschen Ostgebiet hatte. Dies war die Folge der Aussöhnungspolitik der Bundesrepublik Deutschland mit den östlichen Nachbarn, zumal Polen, die zur faktischen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie führte.96 Folglich wurde dem von den vertriebenen ostdeutschen Wissenschaftlern gegründeten Göttinger Arbeitskreis, dem nationalistische Töne nicht fremd waren, zunehmend die staatliche Hilfe entzogen. Hingegen wurde der 1957 gegründeten Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Zuständigkeit für die Verwaltung der Königsberger Archivbestände zuerkannt. 1979 wurden daher die Archivalien des alten Königsberger Staatsarchivs vom Göttinger Archiv lager in das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin-Dah94 Bernhart Jähnig: Vom Etatsministerium zum Geheimen Archiv. Kanzlei, Registratur und Archiv in Königsberg von der ausgehenden Ordenszeit bis zum beginnenden 19. Jahrhundert, in: Preußens erstes Provinzialarchiv zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren, hg. v. Bernhart Jähnig und Jürgen Kloosterhuis, Marburg 2006, S. 53–84. 95 Bernhart Jähnig: Der Bestand „Oberpräsidium Königsberg“ des Staatsarchivs Königsberg im Staatlichen Archivlager Preußischer Kulturbesitz in Göttingen, in: Preußenland 15 (1977), S. 7–19. Ein kleiner Teilbestand ist 1945 in Ostpreußen geblieben und befindet sich seitdem im Archiwum Państwowe w Olsztynie [Staatliches Archiv in Allenstein]. 96 Hierzu bemerkt Gornig: „Obwohl die Ostverträge keineswegs zu einer Statusänderung führten, trugen auch Äußerungen von Politikern dazu bei, dieses falsche Bewußtsein in der Bevölkerung zu vertiefen.“ Das Königsberger Gebiet sei erst mit dem Nachbarschaftsvertrag mit der Sowjetunion 1990 aus der territorialen Souveränität des fortbestehenden deutschen Staates entlassen worden. Gilbert-Hanno Gornig: Der Rechtsstatus des nördlichen Ostpreußen, in: Das Königsberger Gebiet im Schnittpunkt deutscher Geschichte und in seinen europäischen Bezügen, hg. v. Bernhart Jähnig und Silke Spieler, Bonn 1993, S. 137–158 (hier S. 151 ff.).
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lem überführt. Seitdem bildeten sie dort die XX. Hauptabteilung (das Historische Staatsarchiv Königsberg).97 In Anbetracht dieser Überlieferungslage stützt sich die vorliegende Studie hauptsächlich auf die Akten des Oberpräsidiums der Provinz Ostpreußen, der Ostpreußischen Vertretung beim Reichs- und Staatsministeriums in Berlin sowie der preußischen Zentralministerien. Durch die Rückkehr der Bestände des aufgelösten Zentralen Staatsarchivs der DDR in Merseburg ins Geheime Staatsarchiv Berlin-Dahlem und die damit seit Mitte der 90er Jahre erfolgte Wiedervereinigung der preußischen Bestände98 wurde die Arbeit erheblich erleichtert. Hinsichtlich der Akten der Zentralbehörden des Reiches wurden in erster Linie die Bestände des Bundesarchivs BerlinLichterfelde (und somit auch die Bestände des aufgelösten Zentralarchivs der DDR Potsdam) sowie des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts ausgewertet. Außerdem gewährte Herr Dietrich Siehr freundlicherweise die Einsichtnahme in die unveröffentlichten Erinnerungen seines Großvaters, des Oberpräsidenten Ernst Ludwig Siehr. Daneben wurden mehrere Akten editionen sowie Publikationen herangezogen, zumal die Akten der Reichskanzlei (AdRK),99 die Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP),100 British Documents on Foreign Affairs (BDFA),101 Dokumenty vnesnej politiki SSSR (DVP SSSR),102 sowie die Akteneditionen der DDR über die deutsch-sowjetischen Beziehungen.103 Hinsichtlich der Memel- und Wilna 97 Jähnig
(1977), S. 7 ff. Lehmann: Von Staßfurt und Schönebeck nach Merseburg. Nachkriegsschicksale eines deutschen Archivs, in: Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, hg. v. Jürgen Kloosterhuis, Berlin 1996, S. 131–154. Waltraud Elstner: Die Bestände der I. und II. Hauptabteilung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem nach ihrer Rückführung. Ein Überblick, in: ebd., S. 155–199. 99 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, hg. für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von Karl Dietrich Erdmann, für das Bundesarchiv von Wolfgang Mommsen unter Mitwirkung von Walter Vogel, Boppard am Rhein 1971 ff. 100 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945, aus dem Archiv des Auswärtigen Amts, Serie A, hg. v. Walter Bußmann, Göttingen 1982 ff.; Serie B, hg. v. Hans Rothfels und Walter Bußmann, Göttingen 1966 ff. 101 British Documents on Foreign Affairs. Reports and Papers from the Foreign Office Confidential Print, Part II (From the First to the Second World War), Series F (Europe, 1919–1939), hg. v. John Hiden und Patrick Salmon, Frederick, Maryland 1996. 102 Dokumenty vnesnej politiki SSSR, Ministerstvo inostrannych del SSSR, Moskau 1960 ff. 103 Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrags. Dokumentensammlung Bd. I: 1917–1918, Berlin 1967, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und Ministeri98 Joachim
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frage wurden u. a. die Veröffentlichungen des Haager Internationalen Gerichtshofs,104 die Monatsberichte des Völkerbundsrats105 sowie die Editionen der diplomatischen Akten von Litauen und Polen ausgewertet.106 Zur Überwindung der Schwierigkeiten, die sich aus dem Verlust der Königsberger Archivalien ergeben, wurden die Publikationen der städtischen Institutionen durchgesehen. Dazu zählen vor allem die Jahresberichte der Industrie- und Handelskammer Königsberg (1864–1931), die Verwaltungsberichte des Magistrats (1919–32), die Berichte der Stadtverordnetenversammlung (1919–1933) sowie die Zeitschrift der Verlagsabteilung des Königsberger Messeamts sowie des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten: „Der Ost-Europa-Markt“ (1920–44), an deren Gründung und Veröffentlichung der Magistrat und die Handelskammer federführend beteiligt waren. In der vorliegenden Untersuchung wird in erster Linie der Zeitraum vom Waffenstillstandsvertrag 1918 bis zum Anfang der 30er Jahre behandelt. Diese zeitliche Beschränkung geht darauf zurück, daß sowohl der innenpolitische Kampf des demokratischen Oberpräsidenten gegen die Rechtsparteien als auch die Bestrebungen der Königsberger Wirtschaftskreise um die Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten als gescheitert anzusehen waren. Zum einen verlor der demokratische Oberpräsident seit dem Ende der 20er Jahre innenpolitisch mehr und mehr an Macht. Zur Einleitung der Ostpreußenhilfe war er bestrebt, die Verteilung der Hilfsgelder einheitlich seiner Kontrolle zu unterstellen, da er vermeiden wollte, daß staatliche Mittel zugunsten einer bestimmten Interessengruppe ausgenutzt würden. Doch kam sein Einsatz paradoxerweise gerade bei der republikanischen Regierung Preußens in Verruf. Die Mißhelligkeiten zwischen Siehr und den Berliner Zentralinstanzen hatten schließlich zur Folge, die Autorität des Oberpräsidenten durch die Einsetum für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR; Bd. II: 1919–1922, Berlin 1971. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925. Vom Rapallovertrag bis zu den Verträgen vom 12. Oktober 1925, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, 2 Bde., Berlin 1978. 104 Cour Permanente de Justice internationale, Série C, Plaidoiries, exposés oraux et documents, XXIIme Session 1931, N° 54, Trafic ferroviaire entre la Lithuanie et la Pologne, Avis consultatif du 15 octobre 1931, Leyden 1932. World Court Reports. A collection of the judgments, orders and opinions of the Permanent Court of International Justice, hg. v. Manley O. Hudson, vol. II (1927–1932), Washington, D. C. 1935. 105 Die Tätigkeit des Völkerbunds, Genf 1922 ff. 106 Documents Diplomatiques. Question de Memel, Ministère des Affaires Étrangères, 1er / 2me vol., République de Lithuanie, Kaunas 1923 / 1924. Documents Diplomatiques. Relations Polono-Lithuaniennes. Conférence de Koenigsberg, Warschau 1928.
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zung eines Staatskommissars in Königsberg zu untergraben. Im Jahr 1931 trat das Land Preußen sowohl bei der Durchführung als auch bei der Finanzierung endgültig aus der Osthilfe aus. Folglich wurden dem Oberpräsidenten alle Kompetenzen zur Durchführung der Osthilfe in der Provinz, mit Ausnahme der Frachterstattungsmaßnahme, entzogen. Dadurch mußte er die Steuerung des größten Wirtschaftszweiges Ostpreußens, der Landwirtschaft, aus der Hand geben. Zum anderen gerieten die Versuche des Königsberger Magistrats ebenfalls in der Zeit der Weltwirtschaftskrise in eine Sackgasse. Trotz der abgeschlossenen Eisenbahn- und Binnenschiffahrtsverträge mit der UdSSR und Litauen ließ sich der Transitverkehr zwischen Königsberg und der UdSSR nicht normalisieren. Das Kreditabkommen zwischen der Königsberger Stadtbank und der sowjetischen Handelsvertretung führte auch nicht zu den erhofften Ergebnissen, indem der Umschlag der russischen Waren im Hafen Königsberg weit unter dem Vorkriegsniveau blieb. Unter diesen Umständen entschlossen sich Oberpräsident Siehr und Oberbürgermeister Lomeyer, eine Reise nach Moskau anzutreten und dort direkt mit den maßgebenden sowjetischen Staatsmännern über die Hebung der Königsberger Wirtschaft zu verhandeln. Trotz ihres zunächst durchaus erfolgreichen Moskauer Besuchs vom April 1929 scheiterten aber alle diese Bestrebungen schon in den Jahren 1931 / 32 sowohl an der Finanzkrise der Stadt als auch an der handelspolitischen Strategie der UdSSR, und insbesondere an den divergierenden Interessen zwischen den Königsberger Wirtschaftskreisen einerseits und dem Reichsverband der Deutschen Industrie (Rußlandausschuß) andererseits. Zahlreiche Anträge Königsbergs beim Reich auf die Finanzierung des Transithandels für die russischen Waren über den Hafen Königsberg, die bis dahin ausschließlich aus eigenen Mitteln der Stadtbank erfolgt war, wurden abgewiesen. Die Kreditvergabe des Reichs blieb auf den deutschen Industrieexport nach der UdSSR beschränkt. Mit der fortschreitenden Agrarkrise trat außerdem der Schutz der Landwirtschaft an die erste Stelle der Handelspolitik Deutschlands, so daß von einer Erleichterung der Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte aus den Oststaaten nach Königsberg keine Rede mehr war. Der Mißerfolg der Rußlandpolitik des Magistrats gab schließlich den Nationalsozialisten hinreichend Anlaß, das Bürgertum gegen die Leitung der Stadtverwaltung aufzuhetzen. Die Untersuchung des genannten Zeitraums macht deutlich, welche Initiativen in Ostpreußen zur Überwindung der aus dem Versailler Vertrag entstandenen Hindernisse ergriffen wurden und aus welcher Motivation seitens der beteiligten Personenkreise heraus sie erfolgten.
Erster Teil
Ostpreußen
Kapitel I
Das Kriegsende und Oberpräsident Adolf v. Batocki1 1. Batocki und der Oststaatsplan Unmittelbar nach dem ersten Russeneinfall in Ostpreußen wurde Oberpräsident v. Windheim auf Veranlassung des militärischen Befehlshabers Ende September 1914 abgesetzt. Trotz der anfänglichen Niederlage gelang es Generalfeldmarschall Hindenburg mit seiner erfolgreichen Offensive in Tannenberg, die russischen Truppen bis zur Reichsgrenze zurückzudrängen. Dennoch blieb Ostpreußen bedroht, denn die Grenzen der Provinz wurden bis in die Wintermonate 1914 / 15 hinein wiederholt von russischen Kräften überschritten. Erst nach dem deutschen Sieg in der Masurischen Winterschlacht vom Februar 1915 kam das südliche Ostpreußen endgültig wieder unter deutsche Kontrolle.2 Bereits in den ersten Kriegsjahren entstanden in Ostpreußen enorme wirtschaftliche Schäden. Schätzungsweise zwei Drittel der gesamten Fläche der Provinz waren zeitweilig zum Schlachtfeld geworden,3 viele Städte und Dörfer im südlichen und östlichen Ostpreußen wurden stark zerstört. Die Bestellung der Felder wurde schwer behindert, auch dadurch, daß die Russen bei ihrem Rückzug Vieh und landwirtschaftliches Gerät verschleppten oder zerstörten. Vordringlichste Aufgabe des neuen Oberpräsidenten war es deshalb, das Leben der Flüchtlinge baldmöglichst zu normalisieren und die ostpreußische Bevölkerung vor weiteren Übergriffen der ausländischen Streitkräfte zu schützen. 1 Adolf Tortilowicz von Batocki-Friebe (geb. 1868 in Bledau / Ostpreußen, gest. 1944 in Bledau). Vgl. Wilhelm Kutscher: Zum Gedächtnis. Adolf von BatockiBledau, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg / Pr. 2 (1952), S. 5 f. Klaus von der Groeben: Adolf Trotilowicz von Batocki-Friebe, in: Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte, hg. v. Kurt G. A. Jeserich / Helmut Neuhaus, Stuttgart 1991, S. 301–306. 2 Fritz Gause: Die Russen in Ostpreußen 1914 / 15, Königsberg 1931. Siehe auch ders.: Ost- und Westpreußen während des Krieges, in: Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande, hg. v. Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen (Paul Blunk), Königsberg 1931, S. 642–655. 3 Adolf v. Batocki: Ostpreußens Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vortrag des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, Herrn von Batocki-Bledau, gehalten in Berlin am 16. März 1915, in: Kriegsveröffentlichungen des Deutschen Bundes Heimatschutz, Ostpreußen, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Heft 2: Zum Besten der „Ostpreußenhilfe“, München 1915.
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Adolf v. Batocki-Bledau, der als Nachfolger Windheims zum Oberpräsidenten ernannt wurde, stammte aus einer altansässigen Adelsfamilie, die zu den federführenden Großgrundbesitzern in Ostpreußen zählte. Vor seiner Übernahme des Oberpräsidentenamts war er seit 1907 als Präsident der Landwirtschaftskammer Ostpreußens tätig gewesen.4 Zuvor hatte er seit 1900 das Amt des Landrats des Landkreises Königsberg versehen. Im Vergleich mit seinen Vorgängern erschien der Regierungsstil Batockis den Zeitgenossen zunächst unkonventionell,5 was aber dem Notstand der Provinz angemessen war. Er ergriff energisch die Initiative und setzte die Kräfte und Mittel unmittelbar für den Wiederaufbau der zerstörten Dörfer ein, oft unter Umgehung bürokratischer Hindernisse.6 Er organisierte außerdem die Ostpreußenhilfe, durch die die Großstädte im Reich Patenschaften für zerstörte Landkreise Ostpreußens übernahmen.7 Sein Anteil am „Wiederaufbau Ostpreußens“ hinterließ bei der ländlichen Bevölkerung einen bleibenden Eindruck.8 Generalfeldmarschall Hindenburg und Oberpräsident Batocki galten seitdem als Schutzherren der Provinz. Im Mai 1916 übernahm Batocki das Amt des Kriegsernährungskommissars in Berlin.9 Später war er im Kriegsdienst in Oberitalien. Im Februar 1918 kehrte er nach Königsberg zurück und übernahm wieder das Amt des Oberpräsidenten. Somit war Batocki der letzte ostpreußische Oberpräsident des Königreichs Preußen. Nachdem die Reichsregierung unter Prinz Max v. Baden im Oktober 1918 den Alliierten den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandsvertrags angeboten hatte, erklärte der Reichskanzler seinen Rücktritt und übergab der stärksten Fraktion des Reichstags, der Sozialdemokratischen Partei, die Regierungsgeschäfte. Friedrich Ebert übernahm das Amt des Reichskanzlers. Die Meuterei, die von den Kieler Matrosen ausging, dehnte sich schnell auf das ganze Reich aus. Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich und machten vor allem die Großstädte zu ihren Bastionen. Die Kriegsniederlage und revolutionären Ereignisse hatten schließlich die Abdankung des Kaisers und Königs von Preußen zur Folge. Seit Mitte November 1918 amtierte in Preuvor allem Groeben (1988). schlug Batocki vor, den russischen Sprachunterricht an ostpreußischen Schulen zu intensivieren. Adolf von Batocki: Russisch als Pflichtfach an höheren Schulen der Ostprovinzen, Königsberg 1918. 6 Groeben (1979), S. 196 f. 7 B. Schumacher (1958), S. 294. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1068 / 2, Bl. 674, Erster Verwaltungsbericht der Ostpreußenhilfe (Februar 1915 bis 31. März 1918). 8 Wilhelm Kutscher: Der Beginn des ostpreußischen Wiederaufbaus im Weltkrieg 1914 / 18, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg / Pr. 2 (1952), S. 7–18. 9 Am 26. Mai 1916 wurde Batocki zum Präsidenten des Kriegsernährungsamts ernannt. 4 Siehe
5 So
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ßen eine revolutionäre Regierung, deren Ministerposten paritätisch durch SPD und USPD besetzt waren. Diese schaffte das preußische Herrenhaus ab und löste auch das Abgeordnetenhaus auf, wo aufgrund des Dreiklassenwahlrechts die Konservativen die stärkste Fraktion stellten. Die Regierung der Volksbeauftragten, die nun preußische Landesregierung hieß, schaltete somit die parlamentarische Kontrolle vorübergehend aus.10 Ende Januar 1919 fanden die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung sowie zur verfassungsgebenden Landesversammlung Preußens statt. In Preußen wurden die Mitglieder der Landesversammlung zum ersten Mal in allgemeinen, unmittelbaren und geheimen Wahlen durch alle Männer und Frauen, die über 20 Jahre alt waren, bestimmt. Die allein von den Sozialdemokraten geleitete Regierung der Volksbeauftragten wurde im Ergebnis durch eine Koalition der drei Parteien SPD, DDP und Zentrum abgelöst. Die sogenannte Weimarer Koalition blieb im Land Preußen, mit einer kurzen Unterbrechung, bis 1932 bestehen.11 Während die Minister des königlichen Preußens durch die revolutionäre Regierung der SPD ersetzt worden waren, trat im Verwaltungsapparat zunächst keine organisatorische Änderung ein. Die Regierung ordnete im Gegenteil die Weiterführung der Geschäfte aller Behörden und Beamten an. Dies galt ebenfalls für die Provinzen; die Oberpräsidenten, die in der Zeit des königlichen Preußen bestellt worden waren, blieben demzufolge weiterhin im Amt. Daraufhin gerieten viele, die der preußischen Monarchie die Treue hielten, in ein moralisches Dilemma. Auch der ostpreußische Oberpräsident v. Batocki sah sich mit diesem Widerspruch konfrontiert. Er trat innerlich fest für die Monarchie ein und sah in den neuen Machthabern politische Gegner. Sein Verantwortungsbewußtsein hinderte ihn jedoch daran, das Amt in dieser äußerst kritischen Situation aufzugeben. In der Endphase des Kriegs verlangte die Entente die Wiederherstellung des Staats Polen unter Einschluß der größtenteils von Polen besiedelten preußischen Ostgebiete. Formell war die Verselbständigung des Königreichs Polen bereits im Jahr 1916 noch unter deutscher Militärverwaltung erfolgt.12 10 Horst Möller: Preußen von 1918 bis 1947: Weimarer Republik, Preußen und der Nationalsozialismus, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, hg. v. Wolfgang Neugebauer, Bd. III: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin und New York 2001, S. 149–316. 11 Das Staatsministerium unter Ministerpräsident Stegerwald (Zentrum) wurde lediglich aus den Ministern von Zentrum und DDP gebildet und regierte vom April 1921 bis November 1921. 12 Gotthold Rhode: Geschichte Polens. Ein Überblick, Darmstadt 1966, S. 443 f. Werner Conze: Der Weg zur Unabhängigkeit Polens im Ersten Weltkrieg, in: Osteuropa-Handbuch. Polen, hg. v. Werner Markert, Köln 1959, S. 1–11. Heinz Lemke: Die Politik der Mittelmächte in Polen von der Novemberproklamation 1916 bis zum
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Die darauffolgende Kriegslage, die sich im Westen zugunsten der Alliierten entwickelte, ermunterte aber die Unabhängigkeitsbewegung Polens erheblich. Sie strebte nicht nur völlige politische Selbständigkeit an; in Warschau mehrten sich auch die Stimmen für eine Wiederherstellung der Grenzen von 1772. Unter diesen Umständen sah sich man in Ostpreußen Ende 1918 in zweierlei Hinsicht mit existentiellen Krisen konfrontiert: der Machtergreifung der Arbeiter- und Soldatenräte und der drohenden Abtretung deutscher Ostgebiete an Polen. Unmittelbar nach Ausbruch der Novemberrevolution brachte Batocki im Dezember 1918 seine Gedanken unter dem Titel „Hat der preußische Staat noch Daseinsberechtigung?“ an die Öffentlichkeit.13 Er warf dabei die Frage einer Reichsreform auf und trat dafür ein, den Staat Preußen, der bisher den bei weitem größten Bundesstaat des Deutschen Reichs bildete, in kleinere Einheiten aufzuteilen, welche sodann als Reichsländer den gleichen Status wie andere Länder, etwa Bayern, erhalten würden. Das Deutsche Reich sollte nach der Aufteilung Preußens sowie der Beseitigung der kleineren Staaten letztlich aus zehn bis fünfzehn Reichsländern bestehen. Dabei würde Ostpreußen zusammen mit Westpreußen ein Reichsland Altpreußen bilden. Diesem Vorschlag Batockis lag vor allem die Absicht zugrunde, in einem Reichsland Altpreußen unabhängig von den politischen Milieus der westlichen Reichsteile eine eigenständige Landesregierung zu bilden, die sich auf die konservativen Mehrheitsparteien in diesem Ostgebiet stützte. Aus dieser Reichsreformidee, an der Batocki die 1920er Jahre hindurch festhielt, entwickelte er gleich nach dem Abschluß des Waffenstillstandsabkommens mit der Entente ein neues Konzept. Batocki forderte, einen neuen selbständigen deutschen Staat auszurufen, bestehend aus Ostpreußen, Westpreußen und einem Teil des Regierungsbezirks Bromberg. Dessen Gründung hätte die Loslösung dieser Ostprovinzen aus dem Deutschen Reich und aus Preußen vorausgesetzt.14 Zu den Verfechtern der Oststaats-Idee zählten insbesondere Rudolf Nadolny, Georg Cleinow sowie Wilhelm Freiherr v. Gayl, die alle für ihre monarchistische Haltung bekannt waren.15 Ihr Ziel war es, die Abtretung deutscher Gebiete an Polen Zusammentritt des Provisorischen Staatsrats, in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas 6 (1962), S. 69–138. 13 Adolf v. Batocki: „Hat der preußische Staat noch Daseinsberechtigung?“, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 627, 10.12.1918. 14 Über den Oststaatsplan in der Endphase des Ersten Weltkriegs siehe Klatt (1958). H. Schutze (1970), S. 123–163. R. Schumacher (1985). 15 Gayl engagierte sich in der Endphase des Ersten Weltkriegs besonders für den Oststaatsplan und den bewaffneten Kampf gegen den erwarteten Angriff Polens. G. Schulz, Bd. 1 (1963), S. 268. Zu Nadolny siehe Ludwig Biewer: Die Lage Ostpreußens 1918 und 1919. Gedanken des Diplomaten Rudolf Nadolny zur politischen
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zu verhindern. Batocki glaubte, daß man mit den in Posen und Westpreußen ansässigen Polen über die Gründung eines deutschen Oststaats verhandeln könne, weil Deutsche und Polen in diesen Gebieten eine lange gemeinsame Geschichte hatten. Er hielt es für zweckmäßig, zunächst weitere militärische Aktionen Deutschlands gegen die Polen zu unterlassen und die Verteidigung der Provinz Ostpreußen lediglich den Bürgerwehren zu überlassen, um so die Verhandlungen mit den Polen über die mögliche Gründung eines Oststaats nicht zu belasten. Sein Vorschlag fand jedoch bei der Heeresleitung keinen Beifall. In der Endphase des Kriegs war die Reichsregierung vielmehr bereit, die überwiegend polnisch besiedelten Gebiete der Provinz Posen an Polen abzutreten. 2. Winnigs Haltung in der Ostfrage Anfang Januar 1919 kontaktierte Batocki den Gesandten für das Baltikum, August Winnig, und ließ ihn wissen, daß er die Absicht habe, einen Reichskommissar für Ostpreußen zu ernennen und Winnig in dieses Amt zu berufen. Ziel war es, die Herrschaft der Matrosen in Königsberg, unter deren Kontrolle die Arbeiter- und Soldatenräte in Ostpreußen standen, zu brechen.16 Winnig übermittelte Batockis Ansinnen an Ebert und betonte bei dieser Gelegenheit die Notwendigkeit der Schaffung eines Reichskommissars zur Wiederherstellung der Ordnung und zur Sicherung der Grenzen gegen die Bolschewisten. Hierbei faßte Winnig die Einräumung einer weitgehenden Handlungsfreiheit und Selbständigkeit des Reichskommissars ins Auge, weil mit einer Verschlechterung der Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen zwischen dem Ostgebiet und Berlin zu rechnen war. Batockis Vorstoß, eine Zentralstelle gegen den Bolschewismus im Osten zu schaffen und Winnig zu deren Leiter zu ernennen, fand insbesondere bei BrockdorffRantzau Beifall.17 Gliederung des Deutschen Reiches, in: Preußenland 22 (1984), S. 53–60. Cleinow entwickelte seinen eigenen Oststaatsplan. Siehe Georg Cleinow: Die Polenfrage vor der Entscheidung, Berlin 1918. Ders.: Der Verlust der Ostmark. Die Deutschen Volksräte des Bromberger Systems im Kampf um die Erhaltung der Ostmark beim Reich 1918 / 19, Berlin 1934. 16 Klatt (1958), S. 59 ff. Die Dienstanweisung bei Klatt, siehe Dok. 8: Verfügung Eberts über die Einsetzung des Reichskommissars Winnig, Klatt (1958), S. 265. ADAP, Ser. A, Bd. I, Dok. 118, Staatssekretär des Auswärtigen Amts BrockdorffRantzau an das PreußStM, 23.1.1919, S. 209 f. Zur Baltikumpolitik siehe auch Rüdiger von der Goltz: Als politischer General im Osten (Finnland und Baltikum) 1918 und 1919, 2. Aufl., Leipzig 1936. 17 ADAP, Ser. A, Bd. 1, Dok. 118, Brockdorff-Rantzau an PreußStM, 23.1.1919, S. 209 f.
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Ende Januar 1919 wurde Winnig durch das Auswärtige Amt im Namen der Reichsregierung zum Reichskommissar für Ost- und Westpreußen und die besetzten Gebiete ernannt.18 Dies wurde sodann durch Preußen bestätigt; zugleich erlangte Winnig die Amtsbezeichnung „Reichs- und Staatskommissar“. Winnig erhielt weitgehende Vollmachten zur Wiederherstellung der Ordnung und zur Schaffung eines Grenzschutzes; dies setzte ein Zusammenwirken mit den Militärbehörden voraus. Es gelang ihm und General v. Seeckt, zuerst die Matrosendivision in Königsberg zu entwaffnen, wodurch die mit ihr verbundenen Arbeiter- und Soldatenräte in Ostpreußen entmachtet wurden.19 Nach der ursprünglichen Ansicht Batockis konnte der Reichskommissar nur Erfolg haben, wenn man ihm weitgehende, gleichsam diktatorische Vollmachten einräumte. Die Ernennung Winnigs zum Reichskommissar läßt sich deshalb im Kontext der Bestrebungen Batockis zur Verselbständigung des deutschen Ostgebiets bewerten. So beabsichtigte Winnig keineswegs, ein von der Zentralregierung für die Provinz eingesetzter Kommissar zu bleiben. Er versuchte vielmehr, die Interessen der deutschen Ostgebiete gegenüber dem Reich zu vertreten.20 In der Folgezeit strebte er sogar die Stellung eines Gouverneurs in einer autonomen Provinz an, was auf Batockis Vorstellungen zurückging. Die Aufgaben des Reichskommissars, die im Schutz der deutschen Grenze gegen den sowjetischen Vormarsch sowie in der Entmachtung der Arbeiter- und Soldatenräte bestanden, machten eine enge Zusammenarbeit nicht nur mit den Militärbehörden, sondern auch mit den führenden Politikern unerläßlich. Der Sozialdemokrat Winnig näherte sich in der Folge immer mehr den Konservativen Ostpreußens21 und insbesondere den Anhänger des Oststaat-Plans an. Winnig hatte selbst ein eigenes Rettungskonzept für die deutschen Ostgebiete. Er hielt es für erwägenswert, einen Zusammenschluß zwischen dem Baltikum (Livland, Kurland und Litauen) und Altpreußen (Ost- und Westpreußen) ins Leben zu rufen, was zweifellos auf seine vorherige Tätigkeit in Estland und Lettland zurückging, wo er sich als Bevollmächtigter und Gesandter des Deutschen Reichs für die Abwehr des Bolschewismus eingesetzt hatte.22 Diese Erfahrungen prägten auch seine Politik als Reichskommissar in Ostpreußen. Er hielt seine Verbindungen mit dem Baltikum auch 18 August
Winnig: Heimkehr, Hamburg 1955, S. 127. (1931), S. 656–657. 20 Mit Recht weist R. Schumacher darauf hin, daß „Winnig weniger ein Vertreter der Reichsinteressen in Ost- und Westpreußen als vielmehr ein Vertreter der provinziellen Interessen gegenüber dem Reich sein würde“. Siehe R. Schumacher (1985), S. 53. 21 Winnig (1955), S. 223 f. 22 August Winnig: Am Ausgang der deutschen Ostpolitik. Persönliche Erlebnisse und Erinnerungen, Berlin 1921. 19 Siehr
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nach dem Amtsantritt in Königsberg weiter aufrecht. Die Baltikumfrage beeinflußte sowohl seine Ostpolitik als auch sein Verwaltungskonzept für Ostpreußen.23 Zunächst favorisierte Winnig ein Bündnis mit den antirevolutionären Mächten Rußlands zum Schutz des deutschen Ostgebiets, und zwar im Sinne der Wiederherstellung der Grenze von 1914.24 Nachdem sich jedoch die Kriegslage geändert hatte, trat er schon im März 1919 dafür ein, ggf. mit Sowjetrußland zu verhandeln, um so die Abtretung deutschen Territoriums an Polen zu verhindern und Deutschlands Einfluß auf das Baltikum zu wahren.25 Winnigs Vorschläge26 scheiterten allerdings am scharfen Widerstand der Reichsleitung, der SPD-Parteiführung sowie der OHL. Außenminister Brockdorff-Rantzau lehnte es strikt ab, durch eine Kontaktaufnahme mit der von den Alliierten noch nicht anerkannten Sowjetregierung die Stellung Deutschlands in Versailles zu gefährden.27 Er hielt es für nötig, der bolschewistischen Propaganda entgegenzutreten, während er zugleich die baldige Wiederaufnahme des deutsch-russischen Wirtschaftsverkehrs als absolut erwünscht bezeichnete.28 Ein weiterer Anstoß für Winnigs außenpolitische Vorstellungen ging von der Litauenfrage aus. Nach der dritten polnischen Teilung war Litauen dem russischen Kaiserreich zugeschlagen worden. Dieser Zustand änderte sich erst im Sommer 1915, als Deutschland die russische Armee in Litauen zurückdrängte. Die Proklamierung eines selbständigen Königreichs Litauen unter Herzog Wilhelm Karl von Urach (Mindaugas II.) erfolgte zunächst unter der deutschen Militärverwaltung im Februar 1918 in Wilna. Nachdem 23 Klatt
(1958), S. 82 ff. (1985), S. 104. 25 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 4165, Bl. 4, Reichskommissar für den Osten, Winnig an Außenminister Brockdorf-Rantzau, 13.3.1919. 26 Dazu zählte auch die Besiedlung der baltischen Räume und der Ukraine mit Deutschen. Vgl. auch Hartmut Unger: Zwischen Ideologie und Improvisation. Moritz Schlesinger und die Rußlandpolitik der SPD 1918–1922, Frankfurt am Main 1996, S. 77 f. 27 Im Mai 1919 vertrat der Außenminister den Standpunkt: „Unsere Politik muß von dem Grundgedanken ausgehen, daß nur durch gemeinsamen Wiederaufbau ganz Europas Liquidierung Weltkriegs durchgeführt werden kann. Einseitiger Abschluß mit dem Westen zwecks Kampfes gegen Rußland sowohl als auch ein Anschluß an den Osten zur Abwehr westlichen Gewaltfriedens würde Fortsetzung des Weltkrieges bedeuten. Deutschland hat die Wahl zu vermitteln zwischen Westen und Osten oder das Schlachtfeld für ihren Kampf herzugeben.“ Siehe PA AA, NL BrockdorffRantzau, 8 / 1 (Versailles I), Brockdorff-Rantzau an Baron Langwerth, 3.5.1919. 28 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 7 / 8 (Friedensverhandlungen), Ostpolitik (undatiert). Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. 1, Dok. 218, S. 412 f. PA AA, NL BrockdorffRantzau, 7 / 8 (Friedensverhandlungen), Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rußland (undatiert), Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. 1, Dok. 200, Aufzeichnung von Frhr. v. Thermann, 3.4.1919, S. 370 f. 24 R. Schumacher
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die Kriegsniederlage unvermeidlich geworden war, beschloß das Reichskabinett im November 1918 den Übergang von der Militär- zur Zivilverwaltung in Litauen. Die neu konstituierte Republik Litauen suchte zunächst sowohl militärisch als auch wirtschaftlich die Annäherung an Deutschland und bat um den Verbleib der deutschen Truppen, um die Hauptstadt Wilna vor Angriffen Polens und der Bolschewisten zu schützen. Trotz der ausdrücklichen Unterstützung des deutschen Generalbevollmächtigten für Litauen, Zimmerle, lehnte die Reichsregierung im Dezember 1918 diesen Wunsch Litauens ab.29 Gleich nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus Wilna wurde die Stadt Anfang Januar 1919 durch die polnische Armee besetzt. Zwei Tage danach marschierte die Rote Armee in Wilna ein und blieb bis zum April 1919, als die Polen die Stadt wieder einnehmen konnten. Der Rückzug der deutschen Truppen bereitete den Litauern eine bittere Enttäuschung. Angesichts der für Polen und die Bolschewiki günstigeren Entwicklung im Osten mehrten sich im Auswärtigen Amt die Stimmen, Litauens Annäherung an Deutschland zu fördern und eine Erweiterung der polnischen Machtsphäre auf Kosten Litauens zu verhindern.30 Diese außenpolitische Perspektive, die in erster Linie auf Zimmerles Auffassungen zurückging,31 fand Brockdorff-Rantzaus Unterstützung. In seinen Gedanken zur Litauenfrage schrieb er: „Dabei liegt die Bildung eines selbständigen Littauischen Staates mit Rücksicht auf die Existenz von Polen weit mehr in unserem Interesse als die eines utopischen, allen Staaten zugänglichen Baltikums, und es war bei gutem Willen ohne Schwierigkeit möglich, einen uns befreundeten und an uns angelehnten littauischen Staat zu schaffen. […] Man hätte auch vor kurzem den Littauern dabei helfen müssen, Wilna wiederzunehmen.“32 Obwohl die OHL den Einsatz deutscher Kräfte in Wilna für sinnlos hielt, empfahl das Auswärtige Amt bei einer Kabinettssitzung Mitte März 1919, die Stadt zugunsten der Litauer erneut durch deutsche Truppen besetzen zu lassen, um ihre Einnahme durch Polen und eine polnische Umklammerung Ostpreußens zu verhindern. Mit Rücksicht auf die Friedensverhandlungen mit den Alliierten lehnten jedoch Reichskanzler Scheidemann und Reichs29 Marianne Bienhold: Die Entstehung des litauischen Staates in den Jahren 1918–1919 im Spiegel deutscher Akten, Bochum 1976, S. 156. 30 ADAP, Ser. A, Bd. 1, Dok. 191, Denkschrift über Litauen zur Friedenskonferenz, S. 346 f. 31 Denkschrift über die politische Arbeit des Generalbevollmächtigten des Deutschen Reiches für Litauen in der Zeit vom November 1918 bis Juni 1919, Generalbevollmächtigter des Deutschen Reichs für Litauen (Zimmerle). Abdruck in: Bienhold (1976), Anhang, S. 409 ff. 32 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 7 / 8 (Friedensverhandlungen), Ostfrontfrage (undatiert).
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präsident Ebert eine solche abenteuerliche Operation strikt ab.33 Zugleich versuchte aber die deutsche Außenpolitik, auf dem Wege der finanziellen Unterstützung die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit Litauen zu stärken. Auch Reichskommissar Winnig trat ausdrücklich für die Schaffung eines Wirtschaftsbündnisses mit Litauen ein. Da der neue Staat an einem schweren Kreditmangel litt, wurde die Kreditfrage zu einem der wichtigsten Verhandlungsgegenstände zwischen Deutschland und Litauen. Die Kreditgewährung sollte den politischen und wirtschaftlichen Interessen beider Staaten entsprechen, vor allem dadurch, daß die Finanzmittel, dem litauischen Antrag zufolge, zum Aufbau der Staatsverwaltung und des Heeres zu verwenden seien, um den Grenzschutz gegen die Bolschewiki zu stärken. Dabei kamen auch deutsche Waffenlieferungen an Litauen in Betracht. Als Gegenleistung sollten dem Reich wirtschaftliche Konzessionen in Litauen eingeräumt werden.34 Die Wirtschaftsverhandlungen wurden zwischen dem Auswärtigen Amt sowie dem Reichswirtschaftsministerium einerseits und der litauischen Regierung andererseits geführt. Auch Reichskommissar Winnig entsandte einen Vertreter zu Unterhandlungen nach Litauen. Für Ostpreußen stand die Stellung Litauens als Transitland nach Rußland im Vordergrund. In diesem Sinne drängten die ostpreußischen Wirtschaftskreise zum Abschluß eines Wirtschaftsabkommens mit Litauen und legten dabei größten Wert auf die Sicherstellung der Durchgangsfreiheit nach Osten. Die Übergabe der Friedensbedingungen der Alliierten vom 7. Mai änderte die Verhandlungslage zwischen Deutschland und Litauen grundlegend. Ihnen zufolge ließ sich die Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Deutschen Reich nicht mehr vermeiden. Während Winnig auf seinem deutsch-litauischen Annäherungsvorhaben gegen Polen beharrte und deshalb bis Mitte Mai die Besprechungen mit den litauischen Unterhändlern fortführte,35 versuchte Litauen, die Schwäche Deutschlands auszunutzen. Mit diesem Ziel traten die litauischen Vertreter in Versailles, die offiziell nicht zur Friedenskonferenz eingeladen worden waren, in Verhandlungen mit dem polni33 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 20, Kabinettssitzung, 22.3.1919, S. 84 f. (hier S. 91). Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. 1, Dok. 167, Unterstaatssekretär Frhr. v. Langwerth von Stimmern an den Vertreter des Auswärtigen Amts bei der OHL, 15.3.1919, S. 298. 34 ADAP, Ser. A, Bd. 1, Dok. 168, AA an RFM, 15.3.1919, S. 299 f. ADAP, Ser. A, Bd. 1, Dok. 148, Wirklicher Legationsrat von Bergen an PreußKriegsministerium, 19.2.1919, S. 251. 35 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 4171, Bl. 84, Bericht über die Besprechung zwischen dem litauischen Minister für Handel und Industrie und der Vertretung des Reichskommissars für dem Osten von 14.5.1919. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 4171, Bl. 103, Abschrift, Aufzeichnung über die kommissarische Beratung betr. Abschluß eines Wirtschaftsabkommens mit Litauen im AA, 3.5.1919.
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schen Ministerpräsidenten Paderewski ein. Dabei schlugen sie die Bildung eines litauisch-polnischen Bündnisses vor, dessen Spitze sich gegen die Bolschewiki richten sollte, und verlangten im Gegenzug von Polen territoriale Zugeständnisse an den litauischen Staat, der aus den Gouvernements Kowno, Grodno, Wilna, Suwalki, Teilen Kurlands und Ostpreußens bestehen sollte.36 Da Litauen nicht nur auf ein Bündnis mit Polen, sondern offenbar auch auf den Anschluß von Teilen Ostpreußens abzielte, hielt man es in Berlin für angebracht, die Wirtschafts- und Kreditverhandlungen mit Litauen abzubrechen.37 Das Auswärtige Amt stellte nun für die Gewährung einer Anleihe die Bedingung, daß Litauen sowohl auf territoriale Ansprüche als auch auf ein etwaiges Bündnis mit Polen verzichten solle.38 Litauen war allerdings nicht bereit, auf diese Forderungen einzugehen und wandte sich sogar an die Alliierten. Daran scheiterten alle Versuche des Auswärtigen Amts, die in den Friedensbedingungen vorgesehene Abtretung des Memelgebiets durch ein deutsches Finanzangebot an Litauen zu verhindern.39 Die litauische Regierung hielt sich ebenfalls zurück, noch vor Beendigung der Friedensverhandlungen von Versailles die deutsch-litauischen Wirtschaftsverhältnisse vertraglich festzulegen.40 Deshalb wurde der vorgesehene Abschluß des deutsch-litauischen Wirtschaftsabkommens Mitte Juni 1919, also kurz vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles, zunächst aufgehoben.41 3. Brockdorff-Rantzaus Kampf gegen die Annahme der Friedensbedingungen Obwohl man in den preußischen Ostprovinzen bis zur letzten Stunde bestrebt war, die Abtretung deutscher Gebiete an Polen zu vermeiden, ging die Reichsregierung im Februar 1919 auf den Wunsch der Entente ein, das dritte Waffenstillstandsabkommen, das eine Demarkationslinie innerhalb der Reichsgrenzen zog, zu unterzeichnen. Matthias Erzberger, Leiter der deutschen Waffenstillstandskommission und zugleich Reichsminister ohne Geschäftsbereich, setzte dies in Trier am 16. Februar 1919 gegen den Wider36 Vytautas Žalys: Das Memelproblem in der litauischen Außenpolitik, in: Nordost-Archiv, N. F. 2 (1993), S. 235–278 (hier S. 241 f.). 37 ADAP, Ser. A, Bd. II, Dok. 22, Geheimer Legationsrat Frhr. v. Romberg an Reichsminister Erzberger, 14.5.1919, S. 41 f. 38 Bienhold (1976), S. 220. 39 Ebd., S. 222. 40 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 4171, Bl. 222, Der deutsche Bevollmächtigte für Litauen (Zimmerle) an Reichskommissar für den Osten (Winnig), 3.6.1919. 41 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 4171, Bl. 230, Der deutsche Generalbevollmächtigte für Litauen an Reichsminister für auswärtige Angelegenheiten, 6.6.1919.
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stand von Brockdorff-Rantzau, Groener sowie die Vertreter der Ostprovinzen durch.42 In den Ostprovinzen erweckte der Schritt den Eindruck, daß die Reichsleitung bereit sei, das Ostgebiet für die Rettung anderer Teile Deutschlands zu opfern. Nur zwei Tage zuvor, am 14. Februar, hatte BrockdorffRantzau bei seiner ersten Rede seit seinem Amtsantritt als Außenminister vor der Nationalversammlung erklärt, daß ein Eingriff in die deutschen Hoheitsrechte in den preußischen Ostprovinzen vor der endgültigen Entscheidung nicht zu akzeptieren sei.43 Dabei hatte er den Standpunkt vertreten, daß er prinzipiell für die Gründung eines polnischen Staates mit dem Kerngebiet Posen sei. Die von den Alliierten geforderte Grenze zwischen Deutschland und Polen bleibe aber strittig und müsse durch unparteiliche Instanzen entschieden werden. Zudem müßten die polnischen Angriffe gegen die Deutschen im preußischen Ostgebiet sofort eingestellt werden. Der Außenminister war deshalb durch Erzbergers Entscheidung außerordentlich aufgebracht.44 Er legte bei Ebert und Scheidemann umgehend Protest ein, zog sein Abschiedsgesuch aber wieder zurück, in der Annahme, daß seine Friedenspolitik nicht an die Entscheidung Erzbergers gebunden sei. Dennoch verschärften sich die Diskrepanzen zwischen ihm und Erzberger zunehmend.45 Das eigenmächtige Verhalten Erzbergers rief auch bei der preußischen Regierung Gegenwehr hervor. Bereits Mitte Januar 1919 hatte Erzberger strikt den zentralistischen Standpunkt vertreten und verlangt, daß die Friedensverhandlungen ausschließlich der Reichsleitung überlassen werden müßten. Obwohl die zur Abtretung in Frage kommenden deutschen Hoheitsgebiete größtenteils zu Preußen gehörten, lehnte es Erzberger ab, preußische Vertreter, die speziell die Interessen Schleswigs und der Ostprovinzen wahrnehmen sollten, zu den Friedensverhandlungen hinzuziehen.46 Seine Haltung 42 Das Abkommen über die Verlängerung des Waffensillstandes vom 16. Februar 1919, in: Der Waffenstillstand 1918–1919, Bd. I: Der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne und seine Verlängerungen nebst den finanziellen Bestimmungen, Berlin 1928, S. 260 f. PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 7 / 6 (Erneuerung des Waffenstillstandes), Brockdorff-Rantzau, 16.2.1919. Siehe auch Wilhelm Groener: Lebenserinnerungen. Jugend – Generalstab – Weltkrieg, hg. v. Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957, S. 480 f. AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 2, Aufzeichnung des Ministerialdirektors Simons über die Kabinettssitzung vom 16.2.1919, S. 5 f. 43 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 7 / 6 (Erneuerung des Waffenstillstandes), AA (Brockdorff-Rantzau) an Ebert, 16.2.1929. 44 Die Rede Brockdorff-Rantzaus in der 7. Sitzung der verfassungsgebenden Nationalversammlung vom 14. Februar 1919, in: RT 1919 / 20, Bd. 326, S. 66 ff. 45 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 8 / 1 (Versailles I), Geheime Aufzeichnung, 2.7.1919. 46 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2436, Bl. 2, PreußRegierung an AA, 25.1.1919. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2436, Bl. 27, PreußFM (Südekum) an PreußRegierung, 28.1.1919. Die Proteste Preußens waren allerdings nicht erfolglos geblieben.
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erregte bei Finanzminister Südekum, der sich zusammen mit Justizminister Heine47 und Reichskommissar Winnig für die preußischen Ostgebiete engagierte, tiefes Mißtrauen gegen die Reichsleitung. Die Möglichkeit, gegen die Gebietsabtretungen Widerstand zu leisten, wurde durch die Entsendung der sog. Haller-Armee nach Posen Mitte April 1919 völlig untergraben.48 Die Alliierten kündigten schon Anfang März an, eine in Frankreich aufgestellte polnische Armee in Danzig landen zu lassen.49 Es gelang der Reichsregierung lediglich, die Landung in Danzig zu verhindern, indem es die Entsendung nach Polen auf dem Landweg durch das deutsche Hoheitsgebiet gestattete. Das Eintreffen der Truppen erregte bei der deutschen Bevölkerung in Posen das Gefühl, von der eigenen Regierung verraten worden seien.50 Die Verwirklichung eines Oststaatsplans fand weder die Unterstützung der OHL noch der Zentralregierung. Vor allem General v. Seeckt lehnte alle Oststaatspläne strikt ab. Die Bereitschaft zur Weiterführung des Kriegs gegen Polen war in der Bevölkerung anderer Reichsteile außerhalb des Ostgebiets kaum vorhanden. Selbst Brockdorff-Rantzau erklärte in seiner Nationalversammlungsrede allen separatistischen Bestrebungen, die lediglich zur Schwächung des Deutschen Reichs führen würden, eine klare Absage. Er warf insbesondere den Betreibern einer rheinisch-westfälischen Republik vor,51 mit Franzosen und Belgiern zu kollaborieren.52 Reichskommissar Winnig bemühte sich, seine Befugnisse insbesondere auf militärischem Gebiet weiter zu stärken. Anfang April 1919 beantragte er, den Militärbehörden künftig unmittelbare Anweisung geben zu können. Schon bis dahin war Winnig in der Lage gewesen, das Einvernehmen der Militärbehörden zur Beseitigung der Herrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte zu erlangen. Den Umriß seiner militärischen Kompetenzen schriftlich Es gelang, die Zustimmung des Reichs zur Beteiligung der östlichen Sachverständigen an der deutschen Friedensdelegation zu erhalten. Aus Ostpreußen wurde Professor Albert Hesse (Königsberg), aus Danzig Kaufmann Wieler in die deutsche Friedensdelegation entsandt. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2436, Bl. 270, Sitzung der PreußStM, 7.4.1919. AdRK Kabinett Scheidemann, Dok 61, Kabinettsitzung, 6.5.1919, S. 264 f. 47 Wolfgang Heine war bis zum 24. März 1919 preußischer Justizminister, danach Innenminister. 48 Cleinow (1934), S. 214 ff. 49 AdRK, Kabinett Scheidemann, Dok. 24, Kabinettssitzung, 27.3.1919, S. 106 f. 50 H. Schulze (1970), S. 134. 51 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 8 / 2 (Versailles II), Aufzeichnungen zu den Friedensverhandlungen von 1919. 52 Die Rede von Brockdorff-Rantzau in der 7. Sitzung der verfassungsgebenden Nationalversammlung, 14.2.1919.
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festzulegen und dem Reichskommissar die Militärbehörden zu unterstellen, war für Winnig von besonderer Wichtigkeit, weil er auf diesem Wege nicht nur einer möglichen Willkürherrschaft des Militärs vorbeugen, sondern zugleich auch eine selbständige Kommandoführung im Ostgebiet erlangen wollte.53 In Berlin zögerte man auch angesichts der antirevolutionären Bewegung im preußischen Osten, Winnig weitgehende militärische Befugnisse zu übertragen.54 Sein Antrag wurde trotz der Zustimmung der Berliner Sozialdemokraten letztlich aufgrund der ablehnenden Haltung der OHL, vor allem Seeckts, zurückgewiesen.55 Am 7. Mai 1919 übergab der Vorsitzende der Friedenskonferenz, Clemenceau, der deutschen Delegation die Friedensbedingungen der Alliierten. Die Forderungen schienen völlig unannehmbar, da Deutschland sowohl enorme Reparationsleistungen als auch territoriale Abtretungen sowie eine völkerrechtliche Statuseinschränkung auferlegt wurden. Der Eintritt des Reichs in den Völkerbund blieb ausgeschlossen. Deutschland sollte auf seine Kolonien verzichten und die Beschränkung der Streitkräfte sowie die Auslieferung der Kriegsverbrecher hinnehmen. Es sollte auf seine Souveränität in Elsaß-Lothringen, Eupen-Malmedy und Nordschleswig verzichten. Das Rheinland sollte fünfzehn Jahre besetzt, das Saargebiet vom Völkerbund verwaltet werden. Mit besonderer Härte traf zudem die Erledigung der Polenfrage gerade das Kerngebiet der preußischen Ostprovinzen. Die Provinz Ostpreußen sollte ihre territoriale Verbindung mit dem übrigen Reichsgebiet verlieren, Posen, Westpreußen sowie Oberschlesien Polen zugeteilt werden, das Danziger Gebiet zur Sicherung des Zugangs Polens zum Meer aus dem deutschen Staatsverband herausgelöst werden. Im Nordosten sollte das Memelgebiet von Ostpreußen abgetrennt werden. Die Souveränität über den südlichen Teil Ostpreußens war außerdem einer Volksabstimmung zu überlassen. Damit wurde die Unantastbarkeit des südlichen Ostpreußen schon in diesen Friedensbedingungen durchgebrochen. Die deutsche Bevölkerung im Osten reagierte mit äußerster Empörung. Auch Außenminister Brockdorff-Rantzau lehnte die Annahme der Friedensbedingungen strikt ab. Seines Erachtens kam gerade bei der Regelung der Ostgrenze die wirtschaftliche Strategie der Alliierten zum Tragen, die auf eine Schwächung und territoriale Zerstückelung Deutschlands hinauslief. Mit ganzer Energie trat er dafür ein, die Friedensbedingungen abzulehnen: „Die deutsche Friedensdelegation glaubt also, nicht nur im Namen des deutschen Volkes, sondern im Interesse ganz Deutschlands dagegen Ver53 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 42, Besprechung mit sozialdemokratischen Abgeordneten der Ostprovinzen, 16.4.1919, S. 162 f. (hier S. 165 f.). 54 Ebd., (hier S. 172 und 174). 55 R. Schumacher (1985), S. 108 ff.
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wahrung einlegen zu müssen, daß Polen über seine berechtigten Ansprüche hinaus in seinem Expansionsdränge unterstützt wird.“56 Tatsächlich zielten die polnischen Vertreter in den Friedensverhandlungen offenbar auf die Wiederherstellung der Grenzen von 1772 ab,57 so daß Polen mit allen Nachbarländern in Streit geriet. Die Problematik der Forderungen der Alliierten trat vor allem in bezug auf die preußischen Häfen Danzig und Memel zutage, wo die Deutschen seit Jahrhunderten in der Mehrheit waren. In diesem Sinne war Brockdorff-Rantzaus Kritik zutreffend, daß die Friedensbedingungen nicht nur mit den 14 Punkten Wilsons unvereinbar seien, sondern auch allgemeinen völkerrechtlichen Prinzipien widersprächen.58 Damit vertrat er zugleich die öffentliche Meinung in Deutschland.59 Obwohl das Selbstbestimmungsrecht der Völker den Kern des Wilsonschen Friedensprogramms ausmachte, sahen die von den Alliierten gestellten Friedensbedingungen vor, die Abtretung deutscher Gebiete auch ohne Abstimmung (Elsaß-Lothringen, Danzig, Memel, Posen und Westpreußen, Oberschlesien) zu vollziehen.60 Die Friedensbedingungen der Alliierten vom 7. Mai hatten noch die schlimmsten Erwartungen Deutschlands übertroffen. In der Kabinettsitzung vom 8. Mai war man einstimmig der Ansicht, daß „infolge der territorialen und wirtschaftlichen Knebelung die auferlegten wirtschaftlichen Verpflichtungen vollständig unerfüllbar seien“.61 Es wurde beschlossen, die Friedensbedingungen nicht direkt zurückzuweisen, sondern zunächst zu versuchen, die Verhandlungen auf der Basis des Waffenstillstandsabkommens, vor allem der Note Lansings sowie der 14 Punkte von Wilson, weiter fortzuführen. Zu diesem Zweck wurde die deutsche Friedensdelegation damit beauftragt, in einer Note gegen die unerträglichen Bedingungen Stellung zu nehmen. Gegen die Forderungen der Alliierten sollten auch Gegenvorschläge Deutschlands eingereicht werden. In der Debatte um deren Aufstellung prallten die 56 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 77, Der Reichsminister des Auswärtigen an das Reichskabinett, 18.5.1919, S. 338 ff. (hier S. 345). 57 David Lloyd George: The Truth about the Peace Treaties, London 1938, S. 308 ff., 970 ff., sowie 980. 58 Dokumente und Gedanken um Versailles, hg. v. Graf v. Brockdorff-Rantzau, Berlin 1925, Note über die Schuld am Kriege und die Frage der Verantwortlichkeit Deutschlands für die Folgen des Krieges, 24.5.1919, S. 76–80. Siehe auch Rudolf Nadolny: Mein Beitrag, Wiesbaden 1955, S. 73 ff. Vgl. Würtenberger / Sydow (2001), S. 35–52 (vor allem über Danzig und Schlesien, S. 45.) 59 Wilhelm Marx: Die Rechtsgrundlagen der Pariser Friedensverhandlungen und ihre Verletzung durch den Vertrag von Versailles, in: Zehn Jahre Versailles, Bd. 1, hg. v. Heinrich Schnee und Hans Draeger, Berlin 1929, S. 1–14. 60 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 77, Der Reichsminister des Auswärtigen an das Reichskabinett, 18.5.1919, S. 338 ff. 61 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 66, Kabinettssitzung, 8.5.1919, S. 303 ff.
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Meinungen von Brockdorff-Rantzau und Erzberger erneut aufeinander. Die Mißhelligkeiten zwischen diesen beiden Politikern waren schon bei der Bildung der Friedensdelegation deutlich zu erkennen gewesen.62 Erzberger hatte sich seinerzeit der Beauftragung von Brockdorff-Rantzau mit der Leitung der deutschen Friedensdelegation widersetzt. Während der Außenminister den Wunsch äußerte, der Delegation weitgehende Selbständigkeit in den Verhandlungen mit den Alliierten einzuräumen, versuchte Erzberger, ihre Vollmachten zu untergraben.63 Während das Handeln der Delegation in Versailles von Entschließungen des Reichskabinetts abhängig gemacht wurde, übte Erzberger auf diese zunehmenden Einfluß aus.64 Anläßlich der Übergabe der Friedensbedingungen der Alliierten vom 7. Mai spitzte sich der Streit zwischen beiden Politikern zu. Der Konflikt zwischen der Delegation in Versailles und dem Reichskabinett in Berlin war nicht mehr auszugleichen. Während der Außenminister durch den Protest gegen die einseitigen Friedensbedingungen den Alliierten den Widerstand Deutschlands deutlich vor Augen führen wollte, um sie so wieder an den Verhandlungstisch zurückzubringen, trat Erzberger für die baldige Unterzeichnung des Friedensvertrags ein. Mit Rücksicht auf die militärischen Verhältnisse hielt er weitere Durchhalteparolen für unsinnig. Zwar war auch Erzberger nicht bereit, bedingungslos auf die von den Alliierten gestellten Friedensbedingungen einzugehen, aber er fürchtete für den Fall einer weiteren Verzögerung eine Verschärfung der Friedensbedingungen, den Einmarsch der Alliierten, eine Radikalisierung der deutschen Bevölkerung gegen die eigene Regierung und schließlich die Zerstückelung des Deutschen Reichs durch die Unterzeichnung von Friedensverträgen zwischen einzelnen Ländern und den Alliierten. Aufgrund der Uneinigkeit zwischen BrockdorffRantzau und Erzberger ergriff letzterer schließlich die Initiative, an den Delegationsverhandlungen vorbei zu agieren. Mitte Mai 1919 nahm Erzberger in Berlin Kontakt mit dem amerikanischen Oberst Arthur Conger auf und versuchte, einen eigenen Friedensvorschlag an Präsident Wilson zu richten. Dabei trat er prinzipiell für die Unterzeichnung des bisher in Versailles ausgearbeiteten Vertragswerks mit einigen Änderungen ein. Erzberger bot u. a. die Durchführung von Abstimmungen in allen strittigen Gebieten 62 Klaus Epstein: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1976, S. 330 ff. 63 Zur Auseinandersetzung zwischen Brockdorff-Rantzau und Erzberger siehe Udo Wengst: Graf Brockdorff-Rantzau und die außenpolitischen Anfänge der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1973, S. 41 ff. Christiane Scheidemann: Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau (1896–1928). Eine politische Biographie, Frankfurt am Main 1998, S. 455 ff. 64 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 8 / 1 (Versailles I), Paxkonferenz (gez. Brockdorff-Rantzau) an Baron Langwerth, 3.5.1919.
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an. Dies entsprach den Kompromißvorschlägen Congers, die mit Rücksicht auf die deutschen Proteste gegen die von Wilsons Prinzip weit abweichenden Friedensbedingungen gemacht worden waren. Folglich erweckte Erzbergers Vorgehen bei den USA den Eindruck, daß das Reichskabinett nach wie vor bereit sei, den Vertrag zu unterzeichnen.65 Unter diesen Umständen mußten bei der Aufstellung der offiziellen Gegenvorschläge Deutschlands die Meinungen von Brockdorff-Rantzau und Erzberger sowohl in der Kriegsschuldfrage als auch in der Frage der Behandlung der deutschen Ostgebiete auseinandergehen. Der Außenminister lehnte jede Durchführung von Abstimmungen in den deutschen Ostgebieten ab; in diesem Punkt bestand eine deutliche Diskrepanz zwischen Delegation und Regierung.66 Brockdorff-Rantzau akzeptierte lediglich die Abtretung des unbestreitbar überwiegend von Polen besiedelten Hauptteils der Provinz Posen. Im übrigen aber trat er entschieden für die Erhaltung der Einheit des Deutschen Reichs unter Einschluß der mehrheitlich deutsch besiedelten Gebiete der preußischen Ostprovinzen ein.67 Auch Oberpräsident Batocki bemühte sich, den territorialen Ansprüchen der Alliierten mit ganzer Kraft entgegenzutreten. Gegen die Abtretung des Memelgebiets organisierte er eine Deputation aus maßgeblichen Persönlichkeiten Ostpreußens, darunter Oberbürgermeister Altenberg (Memel), Oberbürgermeister Pohl (Tilsit), Abgeordneter Siehr (Insterburg), sowie Borowski (Königsberg), Stadtbaurat Kutschke (Königsberg). Am 14. Mai besuchte Batockis Delegation Reichspräsident Ebert in Berlin. Dabei nahm sie sowohl gegen die Abtretung des Memelgebiets als auch gegen die Durchführung der Abstimmung Stellung und teilte dem Reichspräsidenten mit, daß die Bevölkerung bis zum Äußersten entschlossen sei, am „deutschen Vaterland“ festzuhalten. Ebert erwiderte, die Friedensbedingungen der Alliierten seien in der vorliegenden Fassung unannehmbar. Die Reichsregierung werde alles tun, um den Verlust des Memelgebiets abzuwenden. Er fügte hinzu, daß es hoffentlich gelingen werde, in Versailles auch für die Deutschen das Selbstbestimmungsrecht zu erkämpfen.68 65 K. Epstein (1976), S. 347 f. Vgl. auch Klaus Schwabe: Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918 / 19, Düsseldorf 1971, S. 593. 66 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 8 / 2 (Versailles II), Aufzeichnungen zu den Friedensverhandlungen von 1919. 67 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 83, Vermerk des Regierungsrats KrahmerMöllenberg, 22.5.1919, S. 365 ff. 68 „Empfang einer Deputation des Nordostens beim Reichspräsidenten“, in: Memeler Dampfboot Nr. 113, 16.5.1919. Fred-Hermann Deu: Das Schicksal des deutschen Memelgebietes. Seine wirtschaftliche und politische Entwicklung seit der Revolution, Berlin 1927, S. 4 f.
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Der am folgenden Tag getroffene Beschluß des Reichskabinetts enttäuschte die Vertreter der Ostprovinzen, die jede Durchführung einer Abstimmung als Eingriff in die deutsche Souveränität ansahen. Das Kabinett vertrat nunmehr den Standpunkt, „daß in den Gegenvorschlägen in erster Linie diejenigen Gründe aufzuzählen sind, nach denen die Losreißung Oberschlesiens, Westpreußens und der anderen diesseits der Demarkationslinie beanspruchten Gebiete auch ohne zuvorige Abstimmung unterbleiben muß. Anderseits besteht Übereinstimmung, daß die Abstimmung nicht unter allen Umständen abgelehnt werden kann, weil man sonst den Boden des Wilson’schen Programms verlassen würde. Es sollen aber für den Fall der Abstimmung Kautelen gegen unlautere Beeinflussung gefordert werden.“69 Damit wurde der Ende April 1919 getroffene Beschluß hinfällig, daß einer Abstimmung lediglich für das Posener Gebiet jenseits der Demarkations linie zugestimmt werden könne.70 Angesichts dieser Entwicklung veranstaltete das preußische Staatsministerium am 17. Mai eine Beratung über die Ostfrage. Während sich die Reichsministerien einzig vom Gesandten Nadolny vertreten ließen, waren aus den Ostprovinzen hochrangige Vertreter angereist, darunter Oberpräsidenten (Batocki / Ostpreußen, Philipp / Breslau), Reichs- und Staatskommissare (Winnig / Ostpreußen, Hörsing / Schlesien), Oberbürgermeister (Hasse / Thorn, Sahm / Danzig) und ein Regierungspräsident (Bülow / Posen).71 Nachdem Ministerpräsident Hirsch die Sitzung eröffnet hatte, ergriff der Oberpräsident von Ostpreußen das Wort. Batocki erklärte, daß sich die in Ostpreußen vorhandenen Loslösungsbestrebungen erheblich verstärken müßten, falls die Reichsregierung den Friedensvertrag in der gegenwärtigen Fassung unterzeichne. Seine Forderung, sich gegen die Durchführung von Abstimmungen im Ostgebiet zu stemmen, begründete er vor allem mit der Möglichkeit von Manipulationen zugunsten Polens. Alle Teilnehmer aus den Ostprovinzen schlossen sich in diesem Punkt Batocki an. Auch Innenminister Wolfgang Heine trat ihnen bei und betonte zudem die Notwendigkeit, die in den Friedensbedingungen vorgesehene Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Reich mit allen Kräften zu verhindern. Ministerpräsident Hirsch stimmte zwar Heines Ausführungen vollkommen zu, wies aber zugleich darauf hin, daß es in dieser Frage noch kein Einvernehmen mit dem Reich gebe.72 69 AdRK,
Kabinett Scheidemann, Dok. 74, Kabinettssitzung, 15.5.1919, S. 331 f. Kabinett Scheidemann, Dok. 49, Richtlinie für die deutschen Friedensunterhändler, 21.4.1919, S. 193 ff. 71 Von seiten der preußischen Regierung nahmen teil Ministerpräsident Hirsch, Kriegsminister Reinhardt und Innenminister Heine. 72 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2442, Bl. 2, PreußStM, Protokoll über die Sitzung vom 17. Mai 1919. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2434, Bl. 389, PreußStM 70 AdRK
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Am 20. Mai reiste Heine nach Memel, wo er an einer gegen die Abtretung des Memelgebiets gerichteten Kundgebung teilnahm.73 Zur selben Zeit reichten die Ostsachverständigen der deutschen Friedensdelegation eine Note an das Reichskabinett ein, in der sie sich sowohl gegen Abstimmungen als auch gegen die Abtretung deutscher Ostgebiete mit Ausnahme von Teilen Posens aussprachen. Polen seien Konzessionen im Hinblick auf Häfen, Eisenbahnen und Wasserstraßen zu machen bei Ablehnung aller weiteren territorialen Forderungen.74 Diese Richtlinien bezogen sich grundsätzlich auf den Beschluß der sog. Ostsachverständigen-Konferenz, die unter Leitung des preußischen Staatsministeriums Anfang April 1919 einberufen worden war. Daß die Reichsregierung zunächst Preußen nicht zugelassen hatte, unmittelbar an den Friedensverhandlungen mitzuwirken, hatte die Ostprovinzen veranlaßt, ihrerseits Vorschläge auszuarbeiten.75 Später war es Preußen gelungen, die Zustimmung des Reichs zur Beteiligung der östlichen Sachverständigen zu erlangen.76 Die Eingabe der Ostsachverständigen richtete sich offensichtlich gegen den Beschluß des Reichskabinetts vom 15. Mai. Während die preußische Regierung ebenso wie Brockdorff-Rantzau die Durchführung von Abstimmungen ablehnte, gewann im Reichskabinett schließlich Erzbergers Meinung die Oberhand, daß, „nachdem die Wilson-Punkte von uns als Grundlage angenommen seien, die Volksabstimmung nicht vermieden werden könne“.77 Mit Rücksicht auf die Ostprovinzen wurde allerdings das Abstimmungs angebot Deutschlands in den Gegenvorschlägen, die am 29. Mai an die Alliierten übergeben wurden, auf ein Minimum eingeschränkt, nämlich auf Teile Posens, Westpreußens sowie Oberschlesiens. Auch den Handelsinteressen Königsbergs wurde in diesen Gegenvorschlägen Rechnung getragen. Die drei preußischen Ostseehäfen, Danzig, Königsberg und Memel, sollten ohne Aufgabe der Souveränitätsrechte Deutschlands den Status von Freihäfen erhalten und Polen der Zugang zum Meer durch die Gewährung freier Verkehrsrechte eingeräumt werden.78 an Reichsregierung, 17.5.1919. AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 82, Kabinetts sitzung, 22.5.1919, S. 362 ff. 73 „Minister Heine in Memel“, in: Memeler Dampfboot, Beilage zu Nr. 118, 22.5.1919. 74 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 83, 22.5.1919. Siehe vor allem das dort in Anm. 4 abgedruckte Telegramm, S. 365 ff. 75 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2436, Bl. 334, PreußStM, 24.3.1919. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2438, Bl. 41, Sitzungsprotokoll, 31.3.1919 bis 3.4.1919. 76 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2436, Bl. 270, Sitzung der PreußStM, 7.4.1919. AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 61, Kabinettssitzung, 6.5.1919, S. 264 f. 77 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 83, Vermerk des Regierungsrats KrahmerMöllenberg, 22.5.1919, S. 365 ff. 78 Dokumente und Gedanken um Versailles, hg. v. Graf v. Brockdorff-Rantzau, Berlin 1925, Mantelnote zu den deutschen Gegenvorschlägen, 29.5.1919, S. 82–87.
I. Das Kriegsende und Oberpräsident Adolf v. Batocki71
Damit zielte man nicht nur auf den Erhalt der preußischen Häfen Danzig und Memel im deutschen Staatsverband, sondern zugleich darauf, einer Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des Königsberger Hafens vorzubeugen. Dieser Passus der deutschen Gegenvorschläge stieß allerdings bei den anderen deutschen Ostseehafenstädten, insbesondere Danzig und Memel, auf heftige Kritik. Ursprünglich war in den deutschen Gegenvorschlägen die Aufnahme des Königsberger Hafens in das Freihäfenprojekt nicht vorgesehen gewesen, da die Friedensbedingungen der Alliierten Königsberg nicht unmittelbar betrafen. Danzig und Memel waren daran interessiert, durch die Einrichtung von Freihäfen Güterverkehr aus Polen und den Oststaaten unter Umgehung des Königsberger Hafens auf sich zu ziehen. Unmittelbar vor Übergabe der deutschen Gegenvorschläge gelang es jedoch der Königsberger Handelskammer, ihren Wunsch bei der deutschen Friedensdelegation durchzusetzen. Während man in Danzig und Memel den Königsberger Wirtschaftskreisen eine „egoistische“ Interessenpolitik vorwarf,79 unterstrich der Vertreter Ostpreußens in der deutschen Friedensdelegation, Albert Hesse, daß die Schlechterstellung des Königsberger Hafens mit Rücksicht auf dessen Bedeutung für die gesamte Wirtschaft Ostpreußens auf alle Fälle vermieden werden müsse.80 Brockdorff-Rantzau, der fest von der Einheit des Deutschen Reichs mitsamt seinem Ostgebiet überzeugt war, sah die Abschnürung Ostpreußens durch Polen als völlig inakzeptabel an. So machte er geltend, zum Eingang der deutschen Gegenvorschläge die Entente außerordentlich kritisch zur Rede zu stellen: „Wir sollen zur Wiederherstellung des polnischen Reiches auf unbestritten deutsches Gebiet verzichten, fast auf die ganze überwiegend deutsche Provinz Westpreußen, auf deutsche Teile Pommerns, auf das „Es [scil. Deutschland] ist bereit, den Polen durch Einräumung von Freihäfen in Danzig, Königsberg und Memel, durch eine Weichsel-Schiffahrtsakte und durch besondere Eisenbahnverträge freien und sicheren Zugang zum Meere unter internationaler Garantie zu gewähren […]“. 79 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2434, Bl. 462, Der Magistrat Elbing an PreußMP, 16.5.1919. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2435, Bl. 356, Vorsteheramt der Kaufmannschaft Memel an PreußMP Hirsch, 7.6.1919. 80 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2435, Bl. 358, Institut für ostdeutsche Wirtschaft der Albertus-Universität, Professor Hesse an PreußStM, 13.6.1919. Angesichts der Ernennung Hesses zum Vertreter Ostpreußens bei der Friedensdelegation protestierte die Königsberger Handelskammer, daß Hesse nicht die Interessen der Königsberger Wirtschaft vertreten könne. Die Kammer beantragte, statt seiner Syndikus Fritz Simon, Spezialist für das Königsberger Rußlandgeschäft, nach Versailles zu entsenden. Oberpräsident Batocki lehnte mit der Begründung ab, daß Simons Aufnahme in die Friedensdelegation die Interessengegensätze zwischen Königsberg, Memel und Danzig verschärfen könne. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2436, Bl. 16, Abschrift, OPO (Batocki), 21.1.1919.
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kerndeutsche Danzig, sollen die alte Hansestadt in einen Freistaat polnischer Suzeränität umwandeln lassen. Wir sollen darein willigen, daß Ostpreußen vom Staatskörper amputiert, zum Absterben verurteilt und seines nördlichsten Teiles mit dem rein deutschen Memel beraubt wird […]“.81 Die Antwort hierauf sollte Brockdorff-Rantzau zufolge ein klares Nein Deutschlands sein. 4. Das Scheitern des Oststaatsplans Während sich der deutsche Außenminister in Versailles für die preußischen Ostprovinzen einsetzte, versuchte Batocki, den Widerstand gegen die Abtrennung Ostpreußens zu organisieren. Kurz vor der Übergabe des deutschen Gegenvorschlags an die Alliierten wandte er sich an Ebert. Man dürfe die deutsche Verhandlungsposition in Versailles durch das Abstimmungsangebot keinesfalls schwächen, meinte Batocki; vielmehr solle die deutsche Delegation den Alliierten klarmachen, daß niemand in den preußischen Ostprovinzen bereit sei, unter polnische Souveränität zu gelangen. Falls dies aber doch geschehen sollte, müsse man mit einem Krieg gegen Polen rechnen. Batocki erklärte, daß man eine gewaltsame Angliederung des deutschen Ostgebiets an Polen der Durchführung einer Abstimmung sogar vorziehen müsse, weil dann bei einem künftigen Zerfall Polens eher mit der Möglichkeit der Rückgewinnung gerechnet werden könne.82 Nach dem Bekanntwerden der Friedensbedingungen gewann die Bewegung zur Gründung eines Oststaats neue Kraft. Mitte Mai 1919 tagte erstmals das sogenannte Ostparlament, das auf Vorschlag Batockis zusammengerufen worden war.83 Beteiligt waren die Abgeordneten der Ostprovinzen in der verfassunggebenden Nationalversammlung sowie der Preußischen Landesversammlung mit Ausnahme der Vertreter der USPD. Die Versammlung wurde in zwei Gruppen geteilt, nämlich die Parlamentarischen Aktionsausschüsse Nord (Ost- und Westpreußen) mit Sitz in Danzig einerseits und Süd (Posen und Schlesien) mit Sitz in Breslau andererseits.84 Es trat aber alsbald zutage, daß sich die Absicht Batockis, das Ostparlament zum Kernorgan des Oststaatsplans zu entwickeln, nur schwer verwirklichen ließ. Der Aktionsausschuß Nord, der sich offenbar an den Kabinettsbeschluß an81 Die deutschen Gegenvorschläge zu den Friedensbedingungen der Alliierten und Assoziierten Mächte (Der Notenkampf um den Frieden, Teil III). Im Auftrag des Auswärtigen Amts, Charlottenburg 1919, Dok. 1, Deutsche Mantelnote vom 29.5.1919, gez. Brockdorff-Rantzau, S. 7 ff. 82 Klatt (1958), S. 126 ff. R. Schumacher (1985), S. 139. 83 Ernst Ludwig Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz), S. 14 f. 84 Siehr (1931), S. 656–672.
I. Das Kriegsende und Oberpräsident Adolf v. Batocki73
lehnte, hielt im Gegensatz zu Batocki die Durchführung von Abstimmungen in allen strittigen Gebiete für erforderlich.85 In der Versammlung vom 27. Mai in Marienburg wurde zwar beschlossen, gegen die Abtretung und Zerstückelung des deutschen Ostgebiets zu protestieren. Der Gedanke, aus den preußischen Ostprovinzen einen deutschen Oststaat zu schmieden, wurde aber von den Parlamentariern Ost- und Westpreußens als unrealistisch angesehen. Nadolny, der als Vertreter der Reichsregierung an der Versammlung beteiligt war, rief dazu auf, nicht zusammen mit den Volksräten, die zu den stärksten Aktivisten der Oststaatsidee zählten, gegen die Reichsregierung aufzutreten, sondern vielmehr mit der Regierung zur Erhaltung der Reichseinheit zusammenzuarbeiten. Dieser Appell Nadolnys, der ursprünglich selbst für die Oststaatsidee eingetreten war,86 kam dem Verzicht auf diese gleich.87 Am 28. Mai, dem Tag der Übergabe der deutschen Gegenvorschläge an die Alliierten, tagten die Volksräte von Posen und Westpreußen sowie der ostdeutsche Heimatdienst in Marienburg. Unter Vorsitz von Georg Cleinow faßte man hier den Beschluß, daß die deutschen Ostprovinzen ihr Schicksal selbständig entscheiden sollten. Cleinow forderte, die preußischen Ostprovinzen aus dem Reich und Preußen herauszulösen und einen deutschen Oststaat auszurufen, um so die Abtretung deutscher Gebiete an Polen und die „Zerreißung des Deutschtums“ zu verhindern.88 Die Marienburger Entschließung rief in Berlin Widerstand gegen die Loslösungsversuche der ostdeutschen Konservativen hervor. Unter diesen Umständen wurde ein Burgfrieden zwischen den Parteien im Ostgebiet immer schwieriger. Am 29. Mai 1919 trafen Vertreter aller politischen Lager, mit Ausnahme der USPD, die für eine baldige Unterzeichnung des Friedensvertrags eintrat, in Königsberg zusammen. Auf dieser Konferenz wurde beschlossen, zur Überbindung der Krise sowohl die parteipolitische Polemik gegeneinander als auch die Pressekampagne gegen die Regierung einzustellen und sich zum Grundsatz der nationalen Solidarität zu bekennen. Diese Vorsätze ließen sich aber, wie schon nach kurzer Zeit erkennbar wurde, nicht durchhalten.89 Am 5. / 6. Juni lud der preußische Innenminister, Wolfgang Heine, sämtliche Oberpräsidenten der Ostprovinzen, Reichskommissar Winnig, den Gesandten Nadolny sowie Vertreter von Militär und Verwaltung zu einer 85 Hertz-Eichenrode
(1969), S. 8. (1984), S. 53–60. 87 Cleinow (1934), S. 275 ff. 88 H. Schulze (1970), S. 144 ff. 89 Die USPD lehnte darüber hinaus bewaffneten Widerstand gegen einen eventuellen Angriff Polens auf das Ostgebiet ab. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 4199, Bericht, Reichskommissar Winnig, 2.6.1919. 86 Biewer
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1. Teil: Ostpreußen
Sonderbesprechung in Berlin ein.90 In der Debatte gingen die Meinungen zwischen den Repräsentanten des Ostgebiets und der Zentralregierung stark auseinander. Der Streit konzentrierte sich zunehmend auf die Frage möglicher Kampfhandlungen gegen Polen. Bei diesem Anlaß warfen die Oberpräsidenten der Ostprovinzen, vor allem aber die beiden Vertreter Ostpreußens, Oberpräsident v. Batocki sowie Reichskommissar Winnig,91 die Frage der Schaffung eines deutschen Oststaates auf. Die Berliner Zentralstellen lehnten diese Option strikt ab und betonten im Gegenteil die Notwendigkeit der Beibehaltung der Einheit des Deutschen Reichs. Die Separationsbewegungen, die nicht nur im Osten, sondern überall in den deutschen Grenzgebieten, auch im Süden und Westen, in Erscheinung getreten waren, hätten der Entente einen willkommenen Anlaß zur Auflösung des Deutschen Reiches bieten können. Obwohl die Initiative der Ostprovinzen einen anderen Hintergrund hatte als die der sog. Rheinischen Republik, wurden alle derartigen Bestrebungen in Berlin gleichermaßen kritisch betrachtet. Die Verwirklichung der Oststaatsidee wurde außerdem durch die zwischen ihren weit rechtsorientierten Anhängern und der republikanischen Regierung bestehende politische Diskrepanz belastet. Es stellte sich die Frage, ob und inwieweit der Gedanke eines autonomen Oststaates vom „vaterländischen Standpunkte“ aus berechtigt sei, vor allem im Hinblick auf die deutschen Interessen insgesamt.92 Zwar hatten die Anhänger dieser Idee die Absicht, den Oststaat in näherer Zukunft wieder mit Deutschland zusammenzubringen bzw. enge politische und wirtschaftliche Verbindungen zum Reich, wie z. B. in der Form einer Zollunion, zu unterhalten. Die Reichsregierung stand dem jedoch skeptisch gegenüber und glaubte, daß der Oststaat vielmehr eine Annäherung an Polen suchen werde. Tatsächlich wurde unter den Oststaatsplan-Anhängern auch erwogen, eine autonome deutsche Republik im Rahmen des polnischen Staates auszurufen.93 Batocki wiederum rechtfertigte sein Vorhaben damit, daß die Errichtung eines Oststaats gerade dazu dienen solle, das Reich vor Polen zu schützen. Diese Entlastung soll90 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2608, Bl. 25, PreußMdI, Besprechung vom 5. / 6. Juni 1919. ADAP, Ser. A, Bd. II, Dok. 54, Aufzeichnung über die Besprechung ff. AdRK Kabinett Scheidemann, mit den Oberpräsidenten im PreußMdI, S. 88 Dok. 111, PreußMdI an die Reichsregierung, 14.6.1919, S. 454 ff. 91 Oberpräsident Siehr erinnerte sich später: „Der Vertreter dieser Idee glaubten, daß, wenn Deutschland die Unterzeichnung des Friedensvertrags ablehne, die zeitweilige Loslösung der Ostprovinzen vom Reich das übrige Reich vor einem Einmarsch der Alliierten schützen könne, falls die Bevölkerung der Ostprovinzen sich mit Hilfe der im Osten bestehenden Freikorps mit Waffengewalt gegen eine Zerstückung ihres Landes wehren würde.“ Siehr (1931) S. 658. Vgl. H. Schulze (1970), S. 147 f. 92 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 111, PreußMdI an Reichsregierung, 14.6.1919, S. 454 ff., siehe dessen Denkschrift von Loehrs vom 10.6.1919, S. 458 ff. 93 Ebd.
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te dadurch eintreten, daß etwaige militärische Aktionen im Osten dann von einem Staat, der institutionell der Reichsregierung nicht mehr unterworfen sei, verantwortet würden.94 Die Haltung des preußischen Innenministers, Wolfgang Heine, warf Fragen auf.95 Obwohl er in der am Tag zuvor stattgefundenen Kabinettssitzung im Einklang mit Erzberger ausdrücklich für die Unterzeichnung des Friedensvertrags eingetreten war,96 gab er nun den ostdeutschen Oberpräsidenten die Zusicherung, daß die gegenwärtige Regierung den Friedensvertrag nicht unterzeichnen werde. Zwar lehnten sowohl Reichskanzler Scheidemann als auch Außenminister Brockdorff-Rantzau die Annahme des Friedensvertrags strikt ab. Aber in der genannten Kabinettssitzung hatte Heine dem Argument Erzbergers, „wenn die jetzige Regierung nicht unterschreibe, so sei sicher, daß sie von einer abgelöst werde, die unterschreiben werde“, ausdrücklich zugestimmt.97 Der Widerspruch in der Haltung Heines ging darauf zurück, daß er zwar ein tiefgreifendes Verständnis für das Krisenbewußtsein der Oststaats-Anhänger hatte, andererseits aber die Grundthese Erzbergers, daß die oberste Aufgabe des Reichskabinetts „die Erhaltung der Einheit des Reichs“ sei, prinzipiell für richtig hielt. Aus diesem schwer zu lösenden Widerspruch heraus erklärte Heine gegenüber den ostdeutschen Oberpräsidenten, daß er zwar fest mit der Ablehnung der Unterzeichnung des Vertrags durch die gegenwärtige Regierung rechne. Aber auch im gegenteiligen Falle wolle er „nur das verstehen, was im Osten an Plänen und Ideen zur Zeit vorhanden ist“.98 Obwohl er als preußischer Innenminister die Interessen der Regierung wahrnehmen und den Loslösungsbestrebungen der Ostprovinzen entgegentreten sollte, hegte er unverkennbar Sympathien für die Vertreter der Ostprovinzen, insbesondere aber für seinen Parteikollegen August Winnig. Obwohl Heine den ostdeutschen Vertretern Anfang Juni sein Verständnis für ihre Pläne vermittelt hatte, gewann die gegenteilige Meinung im preußischen Innenministerium schließlich die Oberhand. So urteilte der Geheime Regierungsrat Loehrs: „Vom Standpunkte einer zielbewußten, auf nationalem Verantwortungsgefühl beruhenden Politik kann ein autonomer Oststaat hiernach weder als Mittel zum Zweck, geschweige denn als Selbstzweck 94 ADAP, Ser. A, Bd. II, Dok. 54, Aufzeichnung [über die Besprechung mit den Oberpräsidenten im PreußMdI], 5.6.1919, S. 88 ff. 95 Zur Persönlichkeit Heines urteilte Groener, er sei der klügste Mann in der Regierung und gehöre zum rechten Flügel der MSPD. Er habe seine einst im Verein Deutscher Studenten an den Tag gelegte nationale Haltung nie aufgegeben. Groener (1957), S. 482. 96 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 99, Kabinettssitzung, 3.6.1919, S. 417 ff. 97 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 100, Kabinettssitzung, 4.6.1919, S. 419. 98 Zitiert bei H. Schulze (1970), S. 148.
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gerechtfertigt werden.“ Alle separatistischen Bestrebungen seien als landesverräterisch anzusehen. Loehrs ließ einen Aufruf ergehen, daß es die Pflicht aller führenden politischen Persönlichkeiten des Ostens sein müsse, „vor allem auch der Staatsbeamten in leitenden politischen Stellungen […], diesen Standpunkt bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit aller Entscheidenheit und Unzweideutigkeit nach außen hin zu vertreten.“99 Daß Loehrs hierbei die Oberpräsidenten und insbesondere Batocki ins Auge faßte, versteht sich von selbst. Am 16. Juni 1919 stellten die Alliierten der deutschen Regierung ein Ultimatum von nur fünf Tagen für die Annahme der Friedensbedingungen. Die endgültige Fassung enthielt im Hinblick auf die deutschen Ostgebiete nur die eine Änderung,100 daß aufgrund der deutschen Gegenvorschläge vom Ende Mai für Oberschlesien die Durchführung einer Volksabstimmung eingeräumt wurde. Brockdorff-Rantzau machte einen letzten Versuch, das Kabinett von der Annahme dieses Diktatfriedens abzuhalten, und reichte im Namen der deutschen Friedensdelegation umgehend eine Denkschrift ein. Darin bezeichnete er die Friedensbedingungen als untragbar, weil sie zum Ziel hätten, Deutschland dazu zu zwingen, wahrheitswidrig eine Alleinschuld am Kriege einzuräumen und einen Gewaltfrieden als Rechtsfrieden anzunehmen.101 Zugleich ermahnte er mit Dringlichkeit die Ostprovinzen, sich auf keine polnischen Provokationen einzulassen und keine militärischen Aktionen vorzunehmen, durch die seine letzten Versuche, die Friedensbedingungen auf dem Verhandlungswege zu modifizieren, endgültig vereitelt werden könnten. Brockdorff-Rantzau bat um Verständnis: „Dass die Befolgung meines Rates an die ostdeutschen Bevölkerung und die militärischen Führer Anforderungen stellt, die bis an die äusserste Grenze der Selbstbeherrschung, beinahe Selbstverleugnung gehen, dessen bin ich mir vollkommen bewusst; trotzdem muss ich in diesem entscheidenden Augenblick darauf bestehen.“102 Während Scheidemann die Annahme des Friedensvertrags strikt ablehnte, trat Erzberger aus innenpolitischen Gründen weiterhin 99 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 111, PreußMdI an Reichsregierung, 14.6.1919, S. 454 ff., siehe die Denkschrift von Loehrs vom 10.6.1919, S. 458 ff. 100 In der Note Clemenceaus vom 16. Juni 1919 wurde darauf hingewiesen, daß der Verkehr zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reich schon bisher hauptsächlich auf dem Seewege abgewickelt worden sei. Damit rechtfertigten die Alliierten die Abtretung des Korridorgebiets und lehnten zugleich die deutschen Gegenvorschläge ab. Vgl. auch Johann Fürst: Der Widersinn des polnischen Korridors, Berlin 1926, S. 99 f. 101 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 113, Denkschrift der deutschen Friedensdelegierten zu den Friedensforderungen der Entente, 17.6.1919, S. 469 ff. (hier S. 475). 102 BA, R43 I / 1796, Telegramm aus Versailles, Brockdorff-Rantzau, für Weimar, für Scheidemann, 16.6.1919.
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für die Unterzeichnung ein. Sein Argument, daß die drohende Gefahr der Auflösung des Deutschen Reichs, die aus den Separationsbestrebungen im Westen und Osten erwachse, nur durch die Unterzeichnung des Vertrags abzuwenden sei, erlangte im Reichskabinett die Oberhand.103 BrockdorffRantzau sollte diese Niederlage nie verwinden. Er erinnerte sich 1922 gegenüber Reichskanzler Wirth daran, daß er in Versailles „bekanntlich nicht bei den Verhandlungen mit den Alliierten gescheitert […], sondern durch die Heimat unter Führung Erzbergers zu Fall gebracht“ worden sei.104 Am 18. Juni früh morgens kamen Brockdorff-Rantzau und die deutsche Delegation mit dem Zug von Versailles in Weimar an, um dort an der Kabinettssitzung teilzunehmen.105 Auf Initiative des preußischen Kriegsministers, Walther Reinhardt, trafen an diesem Tag auch die Generäle in Weimar zusammen. Der Auffassung Erzbergers schloß sich nunmehr auch die OHL an, da sie eine Weiterführung des Krieges für aussichtslos hielt. In der Besprechung mußte jedoch Groener, der sich jedem Separatismus widersetzte, feststellen, daß Reinhardt offenbar vorhatte, die Zustimmung des Militärs für die Bildung des Oststaats und damit auch die Reichsregierung für dieses Projekt zu gewinnen.106 So berichtete Groener: „Der Kriegsminister ließ keinen Zweifel darüber, daß er den einzigen Ausweg in einer von uns selbst vorzunehmenden Zerstückelung des deutschen Reiches sähe, da es doch nicht möglich sei, bei Annahme der Friedensbedingungen die Einheit des Deutschen Reiches zu erhalten. Er spekulierte bei solcher Selbstzerstückelung auf die nach seiner Ansicht dem deutschen Volke innewohnende Kraft zur Wiedervereinigung, wenn nur im Osten der Kern des alten Preußischen Staates erhalten bliebe.“107 Dieser Versuch Reinhardts blieb aber erfolglos. Groener, Seeckt sowie Noske traten einstimmig sowohl gegen den Oststaatsplan als auch gegen die Einleitung militärischer Maßnahmen gegen Polen ein. Am nächsten Tag, dem 19. Juni, fand im Beisein der Vertreter der Militärbehörden eine Abendsitzung der Vertreter der preußischen Ostprovinzen, die ebenfalls in Weimar zusammengekommen waren, unter Vorsitz von Innenminister Heine statt. Der Reichs- und Staatskommissar für Schlesien, Hörsing, führte dabei den entscheidenden Schlag gegen die Anhänger des Oststaatsplans. Hörsing, der sich hinter Groener und das Kabi103 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 8 / 1 (Versailles I), Geheime Aufzeichnung, 2.7.1919. 104 ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 191, Graf von Brockdorff-Rantzau, 7.9.1922, S. 395 ff. (hier S. 397). 105 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 8 / 1 (Versailles I), Geheime Aufzeichnung, 2.7.1919. 106 Groener (1957), S. 502 ff. 107 AdRK Kabinett Scheidemann, Dok. 114, Aufzeichnung des ersten Generalquartiermeisters über die Tage in Weimar vom 18. bis zum 20. Juni 1919, S. 476 ff.
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nett stellte, beklagte in provozierendem Ton, daß es Gerüchte gebe, wonach sich Ostpreußen zur selbständigen Republik erklären wolle. Er stellte fest, daß ein solches Vorhaben als Verbrechen angesehen werden müsse. Zweifellos richtete sich dieser Vorwurf speziell an die anwesenden ostpreußischen Repräsentanten, Oberpräsident Batocki und Reichskommissar Winnig. Letzterer war fest davon überzeugt, daß ein Krieg gegen Polen um deutschen Boden unvermeidlich sei. Er versuchte deshalb, die Bildung eines Oststaats zu rechtfertigen; es gelang ihm aber lediglich, die feste Entschlossenheit von Ost- und Westpreußen zu einem bewaffneten Abwehrkampf im Falle eines Angriffs durch Polen zum Ausdruck zu bringen.108 Obwohl Winnig und Batocki sich auf diese Weise dafür engagierten, die Bestrebungen des Außenministers zur Nichtannahme der Friedensbedingungen zu unterstützen, war Brockdorff-Rantzau sich schon bewußt, welches Ende die Friedensverhandlungen nehmen würden. An demselben Tage nahm er in Weimar gegenüber den Vertretern der Bundesstaaten zu den Friedensbedingungen Stellung und bemühte sich, diese für die Ablehnung der Vertragsannahme zu gewinnen. Die Mehrheit der Bundesstaaten trat jedoch für die Unterzeichnung ein und wandte sich ausdrücklich gegen eine Weiterführung des Krieges; lediglich die preußische Regierung blieb bei ihrer Ablehnung. Noch am selben Abend reichte Scheidemann im Einvernehmen mit seinem Außenminister beim Reichspräsidenten sein Demissionsgesuch ein, das Ebert annahm. Die Unterzeichnung des Friedensvertrags war nun nicht mehr zu vermeiden. Die Entscheidung mußte in Weimar getroffen werden, und zwar im Sinne der Vorschläge Erzbergers. In den Tagen von Weimar teilte Batocki Winnig den Entschluß mit, sein Amt niederzulegen. Er äußerte dem Reichskommissar gegenüber den Wunsch, daß dieser als sein Nachfolger auch das Amt des ostpreußischen Oberpräsidenten übernehmen möge. Während Batocki in Weimar der preußischen Regierung sein Abschiedsgesuch mitteilte, ging Winnig zum Außenminister, um sich über die Stimmung in Versailles und die letzten Chancen eines Widerstands zu erkundigen.109 Brockdorff-Rantzau berichtete ihm, daß die Entente ein Ultimatum gestellt hatte, in dem auch von der Auslieferung des Kaisers und der Heerführer die Rede war. In Wirklichkeit kannte er schon die Entscheidung Eberts zugunsten der Unterzeichnung des Friedensvertrags. Seinen Erinnerungen zufolge äußerte Winnig, daß die Regierung zu ihrem Worte stehen und die Unterzeichnung verweigern müsse. Der Außenminister fragte: „Meinen Sie wirklich?“ Brockdorff-Rantzau führte Winnig die Entscheidung Eberts vor Augen. Dieser war tief erschüttert. Der Außenminister sagte zu Winnig: „Ich nehme jetzt meinen Abschied, werden 108 Ebd.
Vgl. auch H. Schulze (1970), S. 152 ff. (1955), S. 204 f.
109 Winnig
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Sie mein Nachfolger! Es muß ein Mann hier stehen, der dem Volke sagt, was mit ihm geschieht! Werden Sie der Rächer der deutschen Ehre!“110 Am 19. Juni richtete Brockdorff-Rantzau sein Abschiedsgesuch an den Reichspräsidenten und führte in der Kabinettsitzung zur Begründung aus, daß er die Friedensbedingungen für unannehmbar halte. Er sei „persönlich und sachlich entschlossen, vor der Geschichte meinen Namen nicht unter dieses Schanddokument zu setzen und mit meinem Namen einen Vertrag zu sanktionieren, von dem ich überzeugt sei, daß er nicht gehalten werden könne und entschlossen sei, ihn nicht durchzuführen.“111 Alle Pläne, gegen Polen Krieg zu führen und einen Oststaat zu schaffen, wurden schließlich fallengelassen. Georg Cleinow erklärte zwar am 17. Juni im Namen der Volksräte der „Ostmark“ als Antwort auf das Ultimatum der Entente die Bildung zweier selbständigen deutschen Oststaaten. Der nördliche Oststaat sollte Ostpreußen, Westpreußen und den Netzedistrikt umfassen. An seiner Spitze sollte ein Direktorium aus Winnig, Batocki, Schnackenburg (Oberpräsident der Provinz Westpreußen) sowie Cleinow selbst stehen. Dagegen sollte der südliche Oststaat aus Schlesien und Südposen unter der Regierung Hörsings bestehen. Ziel war es, die Ostprovinzen deutsch zu erhalten und einen etwaigen Aufstand der Polen in der Provinz Posen mit Waffengewalt niederzuwerfen. Die Vereinigung beider Oststaaten zu einem Staatswesen sollte in näher Zukunft herbeigeführt und eine Verständigung mit den dort lebenden Polen angestrebt werden.112 Der Aufruf Cleinows verfehlte aber seine Wirkung völlig, wie die folgende Entwicklung in Weimar erwies. Am 20. Juni richtete Hindenburg eine offene Erklärung an Noske, worin er anordnete, alle militärischen Unternehmungen, die Grenze im Osten zu halten und das Posener Gebiet zurückzuerobern, einzustellen, weil man andernfalls mit einem Angriff der Entente gegen die Westgrenze Deutschlands zu rechnen habe.113 Am 21. Juni bildete der neue Reichskanzler, der Sozialdemokrat Gustav Adolf Bauer, sein Kabinett. Noch am gleichen Tage faßte es den Beschluß, die Regierungsnote über die Bereitschaft zur Unterzeichnung des Friedens unter Vorbehalt in der Frage der Schuld- und Auslieferungsfragen abzusenden.114 Am Tag darauf verbreiteten 110 Ebd.,
S. 206. Kabinett Scheidemann, Dok. 118, Geheime Aufzeichnung des Reichsministers des Auswärtigen über die Kabinettssitzungen in Weimar am 18. und 19. Juni 1919, S. 500 ff. (S. 503). 112 ADAP, Ser. A, Bd. II, Dok. 59, Legationssekretär Meyer, 7.6.1919, S. 95 f., siehe dessen Anm. 5, die Abdruck des Telegramms von Bülow vom 17.6.1919, S. 95 f. Cleinow (1934), S. 295 ff. 113 Klatt (1958), S. 131. 114 AdRK Kabinett Bauer, Dok. 3, Vortrag des Ersten Generalquartiermeisters über die Entwicklung der Lage vom 21. bis zum 23. Juni 1919, 23.6.1919, S. 3 ff. 111 AdRK
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der preußische Ministerpräsident Hirsch sowie Reichswehrminister Noske telegraphisch den Erlaß, daß jede auf Gründung eines selbständigen Oststaats gerichtete Bestrebung als Hochverrat aufs schärfste zu bekämpfen sei.115 Am 25. Juni versuchte Cleinow, noch einmal die Entschlossenheit der deutschen Ostprovinzen zur Gründung der Oststaaten zu bekräftigen. Die federführenden Anhänger der Oststaatspläne gingen aber nicht mehr auf diesen hoffnungslosen Aufruf ein. Einen Tag darauf erklärte Batocki vielmehr, der Entschließung der Nationalversammlung zur Annahme des Friedensvertrags nachzugeben. Er mahnte die Bevölkerung zur Bewahrung der Ruhe und Ordnung: „Ein heute vorgenommener Versuch, unter staatlicher Selbständigkeitserklärung der Ostmark den Kampf zu beginnen, müßte, wie die Dinge liegen, schnell und ruhmlos zusammenbrechen und könnte nur neue Schmach und neues Unglück über unser engeres und weiteres Vaterland bringen.“116 Die Unmöglichkeit des Widerstandskampfes im Osten lastete Batocki in erster Linie den Sozialdemokraten an.117 Er legte sein Amt als Oberpräsident der Provinz Ostpreußen umgehend nieder, da er entschlossen war, einer Regierung, die das Friedensdiktat unterzeichnete, nicht weiter zu dienen.118 Der Oststaatsplan scheiterte somit an der Unterzeichnung des Vertrags von Versailles. Am 10. Januar 1920, dem Tag des Inkrafttretens des Vertrags, wurde die Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Reichsgebiet vollzogen. Batocki und Winnig setzten sich nun dafür ein, den Gedanken von neuem aufzugreifen, Ostpreußen ein Sonderstatut einzuräumen, um auf diesem Wege die absehbaren katastrophalen Folgen für die Wirtschaft zu bekämpfen.
115 H. Schulze
(1970), S. 156. Erklärung Batockis abgedruckt bei Klatt (1958), S. 267. Anhang 11: Rücktrittsbegründung des Oberpräsidenten von Batocki. Auszug aus der Hartung schen Zeitung vom 26.6.1919. 117 Ebenso wie Batocki war Winnig der Auffassung, daß das Scheitern der deutschen Ostpolitik in erster Linie auf die Schwäche der Reichsregierung, vor allem durch Erzbergers Agieren, sowie auf die Radikalisierung der linken Parteien zurückzuführen sei. Siehe hierzu Winnig (1921). 118 Die Erklärung Batockis abgedruckt bei Klatt (1958), S. 267. Anhang 11: Rücktrittsbegründung des Oberpräsidenten von Batocki. Auszug aus der Hartung schen Zeitung vom 26.6.1919. 116 Die
Kapitel II
Die erste Ostpreußenkonferenz und Oberpräsident August Winnig 1. Die Ernennung Winnigs zum Oberpräsidenten Am 28. Juni 1919 unterzeichnete Außenminister Hermann Müller für die deutsche Delegation den Friedensvertrag von Versailles. Die darin festgeschriebene Abtrennung Ostpreußens sollte mit dem Inkrafttreten des Vertrags am 10. Januar 1920 erfolgen. Die Zugehörigkeit des südlichen Teils Ostpreußens zum Reich wurde bis zu einer im Sommer 1920 durchzuführenden Volksabstimmung offengelassen. Ferner mußte Ostpreußen die Abtretung des Memelgebiets hinnehmen. Angesichts dieser Situation herrschte in Ostpreußen eine große Unruhe, die eigentlich eine Vakanz im Amt des Oberpräsidenten nicht ratsam erscheinen ließ. Dennoch erfolgte die förmliche Ernennung Winnigs zum Oberpräsidenten erst Mitte August 1919, zwei Monate nach dem Abschiedsgesuch Batockis.1 Zuvor waren noch einige Hindernisse zu überwinden. Die Empfehlung Batockis, Winnig zu seinem Nachfolger zu bestellen, stieß bei führenden Sozialdemokraten auf Widerstand. Vor allem Bauer, Müller sowie Otto Braun wandten sich gegen die Ernennung eines Mannes, der offen für die Positionen der ostpreußischen Konservativen eintrat. Die SPD-Abgeordneten in der Preußischen Landesversammlung versuchten die Ernennung Winnigs zu verhindern, und zwar unter Hinweis auf Winnigs Mitwirkung am hochverräterischen Oststaatsplan Batockis.2 Der preußische Innenminister Wolfgang Heine nahm Winnig hingegen in Schutz. Er vertrat den Standpunkt, daß den Oststaatsplänen, anders als den Separationsbestrebungen im Westen, ausschließlich patriotische Absichten zugrunde gelegen hätten. Daher sei eine Gleichsetzung der Oststaatsplan-Anhänger mit Landesverrätern nicht gerechtfertigt. Darüber hinaus betonte Heine, daß Reichs- und Staatskommissar Winnig die Bestrebungen, einen Oststaat zu bilden, nicht nur nicht gefördert, sondern sogar nachdrücklich zurückgewiesen habe.3 Obwohl diese These fragwürdig war, 1 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 1, Bd. 2, Auszug aus Staatsministe rialprotokoll von 12.9.1919. 2 Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung 1919. Drucksache, Nr. 522, Kleine Anfrage Nr. 99 des Abgeordneten Dr. Rosenfeld, 30.6.1919.
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1. Teil: Ostpreußen
gelang es Heine mit Hilfe des preußischen Finanzministers, Albert Südekum, den Widerstand in der Partei zu überwinden und die Ernennung Winnigs zum Oberpräsidenten durchzusetzen.4 3
Abgesehen von den Mißhelligkeiten innerhalb der Sozialdemokratie bereitete Winnigs Amtsantritt auch der Verwaltung Ostpreußens Schwierigkeiten. Die Bestellung Winnigs zum Oberpräsidenten war ohne Aufhebung seines bisherigen Amts als Reichskommissar erfolgt. Daraus ergaben sich schwerwiegende Zuständigkeitsprobleme. Die Dienstanweisung des Reichskommissars für Ost- und Westpreußen, die Winnig im Januar 1919 erteilt worden war, ließ den Umfang seiner Kompetenzen nur ungefähr erkennen. Es wurde ihm gestattet, nach eigenem Ermessen die erforderlichen Anordnungen zur Abwehr von Angriffen gegen die deutschen Grenzen zu treffen, sofern die rechtzeitige Einholung von Weisungen der Reichs- und Staatsregierung nicht möglich war. Damit der Reichskommissar stets in der Lage war, alle Kräfte der beiden Provinzen zur Verteidigung zusammenzufassen, wurde seine Zusammenarbeit mit den Militärbehörden sowie allen Zivilbehörden sichergestellt, wobei letztere ihm unterstellt werden sollten. Außenpolitisch wurde dem Reichskommissar außerdem eine Sonderstellung eingeräumt, da er auf die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen zu den Nachbarstaaten durch Verhandlungen im Namen des Reichs hinwirken sollte.5 Die Ausübung dieser außerordentlichen Befugnisse war allerdings auf die Endphase des Krieges beschränkt. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags sah sich Winnig der Aufgabe gegenüber, die Bevölkerung Ostpreußens vor einem möglichen Angriff Polens zu schützen. Zu diesem Zweck wurden die Polizeikräfte sowohl bei der Grenzpolizei als auch bei der Schutzpolizei erheblich verstärkt.6 Während sich Winnig in seiner Doppelfunktion als Oberpräsident und zugleich Reichskommissar um den Schutz der Bevölkerung und die Aufrechterhaltung der Ordnung verdient machte, geriet er infolge seiner eigenständigen Politik nicht selten in Streit mit der Zentralregierung. Zum Beispiel wurde einer Weisung des preußischen Staatskommissars für Volksernährung, Wilhelm Peters, die im Rahmen der 3 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 1, Bd. 2, PreußMdI an StM, (Entwurf), ohne Datum von Juli 1919, sowie PreußMdI Heine, 6.7.1919. 4 Winnig (1955), S. 211. 5 August Winnig: 400 Tage Ostpreußen, Dresden 1928, S. 13. Seinen Erinnerungen zufolge sollte der Reichs- und Staatskommissar zugleich weiter Gesandter in besonderer Mission bei den Regierungen Estlands und Lettlands bleiben. Die Verfügung Eberts über die Einsetzung des Reichskommissars Winnig vom Januar 1919 abgedruckt bei Klatt (1958), S. 265 f. Eine aus sozialdemokratischer Sicht formulierte Biographie Winnigs verfaßte Wilhelm Ribhegge: August Winnig. Eine historische Persönlichkeitsanalyse, Bonn-Bad Godesberg 1973. 6 Klatt (1958), S. 169 ff.
II. Die erste Ostpreußenkonferenz und Oberpräsident August Winnig83
Zwangswirtschaft erlassen worden war, auf Anordnung Winnigs in der Provinz Ostpreußen nicht Folge geleistet. Während Peters dies scharf verurteilte, hielt sich Winnig für befugt, die Weisung zum Schutz der ostpreußischen Bevölkerung nicht zu befolgen, gerade weil er nicht als Oberpräsident, sondern in seiner Eigenschaft als Reichskommissar gehandelt habe.7 Die Erfahrungen, die Winnig in seiner Doppelfunktion als Reichskommissar und Oberpräsident sammelte, wirkten entscheidend auf sein neues Verwaltungskonzept für die abgetrennte Provinz ein. Dieses entwickelte er im März 1920 in einer Denkschrift an die Zentralregierung hinsichtlich der besonderen Wirtschaftsgestaltung Ostpreußens. 2. Die Anträge Ostpreußens auf Einräumung weitgehender Selbständigkeit Nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags kam man in der Provinz bald zu der Überzeugung, daß die Insellage eine weitgehende politische und wirtschaftliche Selbständigkeit Ostpreußens gegenüber dem übrigen Reichsgebiet notwendig mache. Kurz vor dem Inkrafttreten des Vertrags nahm Winnig mit Hilfe von Fachleuten die Ausarbeitung eines Wirtschaftsplans für Ostpreußen in Angriff. Zur Erlangung einer Sonderstellung im Reich dachte man zuerst an die Batockischen Reichsreformpläne, Ostpreußen aus dem Staat Preußen herauszulösen und der Provinz den Status eines Reichslandes einzuräumen. Die Loslösung Ostpreußens aus dem Land Preußen setzte wiederum sein Ausscheiden aus der preußischen Landesverwaltung voraus, was den ostpreußischen Konservativen gewisse politische Vorteile verhieß. Winnig war sich bewußt, daß ein solches Vorhaben bei der Zentralregierung als separatistische Bestrebung gewertet werden und demzufolge entschiedene Gegenwehr hervorrufen würde. Er trat deshalb dafür ein, daß Ostpreußen innerhalb des Landes Preußen eine Sonderstellung erhalten und an seiner Spitze ein Statthalter anstelle des Oberpräsidenten stehen solle. Im Dezember 1919 unterbreitete Winnig erstmalig diese Pläne in Berlin, die jedoch von der preußischen Regierung zurückgewiesen wurden. Selbst Heine, der sonst Winnig stets zur Seite stand, hielt dessen Vorstellungen für nicht durchsetzbar und war bemüht, ihn davon abzubringen.8 7 Die strittige Weisung betraf Geldüberweisungen der Viehhändler an die Reichskasse sowie die Freigabe der Fischausfuhr aus Ostpreußen nach dem übrigen Deutschen Reich. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 1, Bd. 2, PreußLM an PreußMdI, 27.9.1919. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 1, Bd. 2, OPO an PreußMdI, 18.10.1919. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 1, Bd. 2, PreußStaatskommissar für Volksernährung an PreußMdI, 6.12.1919. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 1, Bd. 2, OPO an PreußMdI, 30.12.1919.
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1. Teil: Ostpreußen
Die Besorgnisse der ostpreußischen Bevölkerung wurden mit der Vollziehung der Abtrennung der Provinz am 10. Januar 1920 auf die Spitze getrieben. Obwohl der Versailler Vertrag die Durchgangsfreiheit zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reichsgebiet durch Polen zusicherte, traten im Eisenbahn- und Binnenschiffahrtsverkehr Schwierigkeiten ein, die aus Maßnahmen Polens resultierten. Am 13. Januar 1920 wandte sich Winnig an die Zentralregierung und führte noch einmal aus: „Der Provinzialinstanz, d. h. dem Oberpräsidenten oder dem Reichskommissar für den Osten, müssen erweiterte Befugnisse zu selbständigem Handeln in wirtschaftlichen Angelegenheiten übertragen werden.“9 In Berlin aber widersetzten sich mit Blick auf die Einheitlichkeit der Wirtschaftspolitik sowohl der Staatskommissar für Volksernährung als auch das Reichswirtschaftsministerium einer Ausnahmebehandlung Ostpreußens. Die Versuche der ostpreußischen Landwirte, den angeordneten Getreideabtransport aus Ostpreußen nach den Großstädten in Westdeutschland zu verhindern, verstärkten bei den Berliner Wirtschaftsinstanzen noch die ablehnende Haltung gegenüber den ostpreußischen Autonomiebestrebungen.10 8
Winnig, der fest davon überzeugt war, daß eine gewisse Autonomie die einzige Rettungsmöglichkeit für Ostpreußen darstelle, drängte Heine wiederholt, eine Besprechung zwischen den Berliner Ministerien und ostpreußischen Repräsentanten über seinen Antrag auf „schleunige Übertragung erweiterter Befugnisse in wirtschaftlicher Hinsicht auf die Provinzialinstanz“ herbeizuführen.11 Tatsächlich beschloß die preußische Regierung unter Ministerpräsident Paul Hirsch am 11. Februar, den Antrag Winnigs auf Abhaltung einer Konferenz über die Ostpreußenfrage anzunehmen. Zugleich wurde bereits ein Programm für dreitägige Verhandlungen skizziert. Der erste Tag war für die Anhörung der ostpreußischen Vertreter vorgesehen, am zweiten Tag sollte die Beschlußfassung der Reichs- und preußischen Ressorts herbeigeführt werden, und am dritten Tag in die Schlußverhandlungen mit den ostpreußischen Vertretern eingetreten werden.12 Der Termin der ersten Sitzung wurde zunächst auf den 14. Februar festgesetzt. Nachdem Winnig um eine Verschiebung gebeten hatte, terminierte man die Eröffnung der ersten Ostpreußenkonferenz schließlich auf den 9. März 1920.13 8 Winnig
(1955), S. 235 sowie 265. I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 521, Bl. 51 ff., OPO Winnig, 13.1.1920. 10 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, PreußStaatskommissar für Volksernährung an PreußStM, 30.1.1920. 11 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 521, Bl. 44, OPO Winnig an PreußMdI, 2.2.1920. 12 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Bl. 70, Auszug, Sitzung der Preußischen Staatsregierung, 11.2.1920. 9 GStA PK,
II. Die erste Ostpreußenkonferenz und Oberpräsident August Winnig85
In der Zwischenzeit bemühte sich Winnig mit Hilfe von Vertretern der Wirtschaft, Landwirtschaft sowie der Verwaltung Ostpreußens um die Abfassung einer Denkschrift, die der Zentralregierung die anzustrebenden Rechte Ostpreußens aufzeigen sollte. Zu diesem Zwecke fanden im Oberpräsidium unter Hinzuziehung von Sachverständigen aus verschiedenen Wirtschafts- und politischen Kreisen Ostpreußens mehrere Besprechungen statt. In einer außerordentlichen Sitzung der Königsberger Stadtverordnetenversammlung am 25. Februar berichtete Oberbürgermeister Hans Lohmeyer (DDP)14 über die Ergebnisse der dazu im Oberpräsidium abgehaltenen Beratungen. Ihm zufolge sollten zur Erlangung der Sonderstellung Ostpreußens der Zentralregierung in Berlin folgende drei Hauptanliegen vorgetragen werden: 1. die Errichtung einer Vertretung Ostpreußens bei den Reichs- und Staatsbehörden, die zur Aufgabe hätte, alle Interessen Ostpreußens in Berlin wahrzunehmen15; 2. die Erweiterung der Befugnisse des Oberpräsidenten und Reichskommissars, der über seine bisherigen Kompetenzen hinaus die Vollmacht erhalten sollte, nötigenfalls Abweichungen von bestehenden Regelungen in Reich und Preußen zuzulassen; 3. die Bildung eines Provinzialwirtschaftsrats, der auf die Wirtschaftspolitik der Provinz entscheidenden Einfluß ausüben sollte. Das von Lohmeyer skizzierte Programm fand die Zustimmung der Stadtverordneten. Der Antrag der DDP-Fraktion (Orlopp), von der Zentralregierung eine Ausnahmebehandlung Ostpreußens in allen wirtschaftlichen Bereichen zu verlangen, wurde dabei von den Stadtverordneten einstimmig angenommen.16 13
Die Entsendung eines ostpreußischen Gesandten nach Berlin wurde von verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Kreisen Ostpreußens gewünscht, unter anderem von den ostpreußischen Sozialdemokraten sowie der Landwirtschaftskammer. Nach dem ursprünglichen Vorschlag Winnigs vom Dezember 1919 sollte diese Stelle durch einen weisungsgebundenen Abgesandten des Oberpräsidenten übernommen werden.17 Er schlug zu13 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Bl. 67 f., Telegramm, PreußMP an OPO. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Bl. 73, Telegramm, OPO an PreußMP, 12.2.1920. 14 Hans Lohmeyer wurde 1919 als DDP-Mitglied zum Oberbürgermeister von Königsberg gewählt. Seit 1925 regierte er jedoch als Parteiloser. 15 Dieser Vertreter sei als Kommissar Ostpreußens bei den Zentralstellen anzu sehen, der ständig in Fühlung mit den Reichs- und preußischen Behörden bleiben und dort die Wünsche Ostpreußens vertreten sollte. 16 „Bericht der Stadtverordnetenversammlung“, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 95, 26.2.1920. Siehe auch Dringender Antrag der Demokratischen Partei, Orlopp und Genossen. Beschluß am 25.2.1920, in: Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung in Königsberg Pr. 17 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1580, Bl. 29 f. OPO Winnig an PreußMdI, 30.12.1919.
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1. Teil: Ostpreußen
nächst vor, das Amt mit einem „im Reichsministerium des Innern tätigen vortragenden Rat“ zu besetzen. Dieser Vorschlag traf aber auf Einwände, insbesondere gegen die daraus möglicherweise resultierende Einmischung der Reichsgewalt in preußische Kompetenzen. Das preußische Innenministerium hielt es für geboten, mit den Geschäftsaufgaben der künftigen Vertretung Ostpreußens, wenn sie denn eine Vertretung des Oberpräsidenten sein sollte, unbedingt „eine im preußischen Verwaltungsdienst stehende Persönlichkeit zu betrauen.“ Daraufhin empfahl Winnig den Oberpräsidialrat v. Hassell im Oberpräsidium zu Königsberg.18 Hassell war Winnig, der keine ausreichenden Kenntnisse vom Verwaltungssystem besaß, während seiner Königsberger Amtszeit eine wichtige Hilfe gewesen. Er wurde später, nach dem Scheitern des Kapp-Putsches, von seinem Amt suspendiert. Anfang März 1920 präzisierte Winnig sein Programm für eine Erweiterung der Selbständigkeit der Provinz sowie seiner eigenen Befugnisse in Form einer Denkschrift an die Regierungen von Reich und Preußen. Eine erweiterte Selbständigkeit der Provinz war nicht nur das Ziel Winnigs, sondern wurde in Ostpreußen auch in breiten Kreisen für notwendig erachtet. So beantragte die Königsberger Handelskammer eine Ausnahmebehandlung der ostpreußischen Wirtschaft hinsichtlich der bestehenden wirtschaftspolitischen Regelungen sowie der Zoll- und Steuergesetze von Reich und Preußen.19 Ihrer Denkschrift, die am 27. Januar in Berlin eingereicht wurde, schlossen sich in der Folge weitere Wirtschaftsverbände Ostpreußens mit eigenen Eingaben an.20 Die Handelskammer begründete ihren Wunsch nach einer Ausnahmebehandlung damit, daß das Hafengeschäft Königsbergs, vor allem das Rußlandgeschäft, welches das Rückgrat der ostpreußischen Wirtschaft bildete, seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber den beiden von Preußen abgetrennten Nachbarhäfen Danzig und Memel, die weder den deutschen Gesetzen noch den handelspolitischen Einschränkungen des Versailler Vertrags unterstanden, wiedererlangen müsse.
18 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, OPO Winnig an PreußMdI (Loehrs), 21.2.1920. 19 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Denkschrift, IHK Königsberg betr.: Ausnahmen für Ostpreußen von wirtschaftlichen, sowie von Zoll- und Steuergesetzen, 27.1.1920. 20 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Vereinigung Königsberger Eisen- und Eisenwaren Großhändler e. V. an PreußMP, 11.2.1920. Verband deutscher Großhändler der Nahrungsmittel an PreußMP, 17.2.1920. Landwirtschaftlicher Zentralverein an PreußMP, 1.3.1920. Ostpreußischer Arbeiterverband für Handel, Industrie und Gewerbe e. V. an PreußMP, 12.2.1920. Königsberger Bankenverein an PreußMP, 16.2.1920.
II. Die erste Ostpreußenkonferenz und Oberpräsident August Winnig87
3. Winnigs „Denkschrift betreffend die besondere Wirtschaftsgestaltung der Provinz Ostpreußen“ vom 4. März 192021 Die Forderungen, die in der Denkschrift Winnigs aufgestellt wurden, stimmten prinzipiell mit Lohmeyers Bericht über die Ergebnisse der Beratungen im Oberpräsidium überein. Ausgehend von der Abtrennung Ostpreußens durch den polnischen Korridor, sah Winnig die Notwendigkeit einer Sonderstellung der Provinz im Reich vor allem in wirtschaftlicher sowie verwaltungsorganisatorischer Hinsicht. Diese sollte zunächst durch die Schaffung eines mit stärkeren Vollmachten ausgestatteten Reichskommissars für den Osten erlangt werden, dem sämtliche Behörden von Reich und Preußen in der Provinz einheitlich zu unterstellen seien. Außerdem sollte dieser mit dem Oberpräsidenten eine Personalunion bilden. Die Anträge Winnigs gingen deshalb in zwei Richtungen. Zum einen sollte eine verwaltungsorganisatorische Änderung in Ostpreußen durch geführt werden: „Sämtliche wirtschaftliche und polizeiliche Staats- und Reichsstellen in Ostpreußen werden dem Reichskommissar für den Osten (s. unten bei Ziff. 5) unterstellt.“22 Dazu gehörten auch sämtliche Organe der Sicherheitspolizei und der Landesgrenzüberwachung einschließlich der Ein- und Ausfuhrüberwachung. Zur Bildung der Personalunion hieß es: „Der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen ist gleichzeitig Reichsbeamter und führt als solcher die Amtsbezeichnung: ‚Reichskommissar für den Osten‘. Sein Vertreter in dieser Amtseigenschaft ist der Oberpräsidialrat.“ Zum anderen beantragte Winnig die Übertragung besonderer Vollmachten auf sich, wofür ein Reichsgesetz „betreffend besondere Vollmachten für die Verwaltung der Provinz Ostpreußen“ zu erlassen sei. Dessen § 1 sollte lauten: „Die Reichsregierung wird ermächtigt, auf Antrag des Oberpräsidenten von Ostpreußen in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für den Osten unter Zustimmung des ostpreußischen Wirtschaftsrats (§ 2) im Falle dringenden Bedürfnisses für die preußische Provinz Ostpreußen Ausnahmen, Abweichungen und Befreiungen von Reichsgesetzen und Verordnungen zu gewähren.“23 Dieses Reichsgesetz sollte bezüglich preußischer Landesgesetze und Verordnungen entsprechende Anwendung finden. Was die Entsendung eines Vertreters des Oberpräsidenten nach Berlin betraf, forderte Winnig: „Um engste Fühlungnahme mit den Zentralstellen 21 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Denkschrift des OPO, 4.3.1920. Ziff. 5 ist die Bildung der Personalunion. § 2 ist die Berufung des ostpreußischen Wirtschaftsrats. 22 Ziff. 5 betrifft die Bildung der Personalunion. 23 § 2 enthielt die Berufung eines ostpreußischen Wirtschaftsrats.
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1. Teil: Ostpreußen
zu haben und die ostpreußischen Interessen wirksam zu vertreten, wird in Berlin ein ‚Ostpreußisches Bureau‘ eingerichtet. Es wird von einem höheren Verwaltungsbeamten, der mit den ostpreußischen Verhältnissen vertraut ist, geleitet und untersteht dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen.“24 Der Denkschrift war schließlich zu entnehmen, daß Winnig keine unmittelbare Erweiterung der Befugnisse des Oberpräsidenten forderte, sondern auf die Erlangung besonderer Vollmachten für den Reichskommissar für den Osten abzielte. Die Stellung des Oberpräsidenten sollte lediglich mittelbar, durch die Personalunion mit dem Reichskommissar, gestärkt werden. Dieser Vorschlag Winnigs stieß insbesondere im konservativen Lager auf Beifall. Daran sollte er später, nach der Niederschlagung des Kapp-Putsches, von seinen politischen Gegnern (Borowski, Siehr und Herbst) wiederholt kritisch erinnert werden. Innenpolitisch war Winnig seit Ende 1918 in eine äußerst schwierige Lage geraten. Seine Ernennung zum Oberpräsidenten war zwar von Heine gegen den Widerstand anderer Sozialdemokraten durchgesetzt worden. Von Tag zu Tag verstärkte sich jedoch das Mißtrauen der Parteiführung gegen Winnig. Je stärker sich Winnig für Ostpreußens Selbständigkeit einsetzte, desto mehr wich er von der Linie seiner Partei ab. Mit seinem Aufruf zur Nichtauslieferung der Heeresführer an die Alliierten trat er der Partei offen entgegen. Auch sein Vorschlag, Freiherrn v. Gayl zum Abstimmungskommissar für Allenstein zu bestellen,25 hatte zur Folge, in Berlin Argwohn gegen die Kollaboration Winnigs mit den ostpreußischen Reaktionären zu erregen.26 Während des Ersten Weltkriegs war Gayl als Abteilungschef für Politik und innere Verwaltung beim Oberkommando Ost und sodann als Landeshauptmann und Chef der Militärverwaltung von Litauen-Nord in Kowno tätig gewesen. Seit 1919 leitete er den neugestalteten Heimatschutz beim Oberpräsidium. An dieser Stelle war Gayl gegen Kriegsende damit befaßt gewesen, den bewaffneten Widerstand der deutschen Einwohner gegen einen drohenden Einmarsch Polens zu organisieren und die Gründung eines deutschen Ostmarkstaats vorzubereiten.27 Winnig hatte sich bereits im Dezember 1919 scharfer Kritik Scheidemanns ausgesetzt gesehen. Daraufhin war er von der Parteileitung seines Wahlbezirks in Pommern aufgefordert worden, sein Mandat in der Nationalversammlung niederzulegen. Winnig war fest entschlossen, aus der Partei 24 GStA PK,
I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Denkschrift des OPO, 4.3.1920. Freiherr von Gayl: Ostpreußen unter fremden Flaggen. Ein Erinnerungsbuch an die ostpreußische Volksabstimmung vom 11. Juli 1920, Königsberg 1940, S. 43 ff. 26 Winnig (1955), S. 235 ff. Vgl. auch B. Schumacher (1958), S. 299. 27 Gayl (1940), S. 95 ff. G. Schulz, Bd. 1 (1963), S. 268. 25 Wilhelm
II. Die erste Ostpreußenkonferenz und Oberpräsident August Winnig89
auszutreten.28 Heine, der ihn davon abzubringen versuchte, war der Meinung, daß Winnig, Südekum und er selbst bis zur bevorstehenden Abstimmung in Masuren im Amt bleiben müßten, um deren erfolgreichen Ausgang herbeizuführen. Erst danach könne man zusammen abtreten.29 Tatsächlich aber konnten weder Winnig noch Heine ihre Ämter bis zur Volksabstimmung vom Juli 1920 behalten. Vor diesem Hintergrund versteht es sich von selbst, daß die Zentralregierung Winnigs Wunsch nach der Erlangung einer erweiterten Selbständigkeit Ostpreußens mit den gescheiterten separatistischen Bewegungen der ostpreußischen Monarchisten gleichsetzte. 4. Die Ostpreußenkonferenz vom 9. bis 11. März 1920 in Berlin Am 9. März 1920 wurde in Berlin die erste Sitzung der Ostpreußenkonferenz unter Teilnahme von Reichskanzler Bauer, Ministerpräsident Hirsch sowie zahlreicher Minister einerseits und der von Winnig geleiteten ostpreußischen Delegation andererseits eröffnet. Winnig hatte einen wahren „Massenaufmarsch“ aus Ostpreußen organisiert, um so Eindruck in Berlin zu machen.30 Seine Delegation bestand aus ca. 30 Personen, die leitende Stellungen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung Ostpreußens bekleideten, unter ihnen Landeshauptmann v. Brünneck, Oberbürgermeister Lohmeyer, Abstimmungskommissar v. Gayl sowie Generallandschaftsdirektor Kapp.31 Zu Beginn der Verhandlungen im Haus des preußischen Innenministeriums erklärte der Hausherr, Innenminister Heine, seine Zustimmung zur Einrichtung der von Ostpreußen beantragten Ostpreußenstelle in Berlin, sofern diese unmittelbar dem preußischen Staatsministerium angegliedert werde. Auf 28 Winnig
(1955), S. 240. S. 248. 30 Ebd., S. 269. 31 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Anwesenheitsliste vom 9.3.1920. Der ostpreußischen Delegation gehörten an: Winnig, dazu noch drei Beamte aus dem Oberpräsidium (v. Hassell, Agricola, Frhr. v. Nordenflycht), Generallandschaftsdirektor Kapp, die preuß. Landtagsabgeordneten Andersch und Rödder, Landeshauptmann v. Brünneck, Landwirtschaftskammerpräsident Brandes, die Vertreter der Handelskammer Königsberg Simon und Litten, der Handelskammer Allenstein Dr. Schauen, der Handwerkskammer Königsberg Korn, Regierungspräsident von Gumbinnen Frhr. v. Braun, für die Regierung Allenstein Daukwerts, für die Sicherheitspolizei Major Arntzen, für die Feuersozietät Schickert, für den Magistrat Königsberg Oberbürgermeister Lohmeyer und Stadtrat Borowski, für den Magistrat Allenstein Stadtrat Lion, für das Polizeipräsidium Königsberg Lübbring, die Abgeordneten Siehr (Insterburg), Seemann (Königsberg), Graf zu Dohna (Königsberg), Schulz (Elbing), für die Reichszentrale für Heimatschutz Noack, Graf Eulenburg Prassen. Siehe auch G. Schulz, Bd. 1 (1963), S. 273. 29 Ebd.,
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1. Teil: Ostpreußen
diesem Wege versuchte Heine, eine positive Grundstimmung zu schaffen. Im Gegensatz zur Errichtung der Ostpreußenstelle war der Plan einer Erweiterung der Selbständigkeit der Provinz von vornherein zum Scheitern verurteilt. Winnig bemühte sich, den Argwohn Berlins gegen separatistische Bestrebungen zu zerstreuen, und erklärte daher, daß niemand in Ostpreußen an eine Loslösung aus dem Reich denke. Ostpreußen bleibe eine preußische Provinz, deren Insellage aber eine erweiterte Selbständigkeit in Politik, Verwaltung und Wirtschaft erfordere. Die Anträge der Delegation, die im wesentlichen bereits in der Denkschrift Winnigs ausgeführt waren, betrafen insbesondere folgende Punkte: 1. die Gründung der Ostpreußenstelle in Berlin; 2. die Unterstellung sämtlicher Behörden in Ostpreußen dem in Personalunion amtierenden Reichskommissar und Oberpräsidenten; 3. die Einräumung der gesetzlichen Ausnahmebehandlung Ostpreußens; 4. die Gründung eines Provinzialwirtschaftsrats; 5. die Beteiligung eines Vertreters der Provinz an der Verhandlung ostpreußischer Angelegenheiten im Auswärtigen Amt; 6. die Sicherstellung des Land- und Seeverkehrs zwischen Ostpreußen und dem Reich sowie die Subventionierung der Frachtkosten; 7. die Stärkung des militärischen Grenzschutzes.32 Hinsichtlich der Gründung der Ostpreußenstelle (Punkt Nr. 8 in Winnigs Denkschrift)33 änderten Winnig und die Mehrheit der ostpreußischen Delegation, die laut Siehr und Borowski aus rechtsstehenden Vertretern bestand, im Laufe der Verhandlungen ihre Haltung. Sie neigten dazu, die Ostpreußenstelle in Berlin mit einem künftigen Vertreter im Reichsrat zu besetzen.34 Dieser Vorschlag der ostpreußischen Delegation ergab sich aus der neuen Reichsverfassung.35 Danach stand der Provinzialselbstverwaltung das Recht 32 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Niederschrift über die Verhandlung der Ostpreußenkonferenz vom 9. März 1920 (Niederschrift des Innenministeriums). GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577, Bl. 15 ff., Niederschrift über die Verhandlung der Ostpreußenkonferenz vom 9.3.1920 (Niederschrift der ostpreußischen Delega tion, gez. Borowski). 33 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Denkschrift des Oberpräsidenten Winnig, 4.3.1920. Antrag Nr. 8 der Denkschrift lautet: „Um engste Fühlungnahme mit den Zentralstellen zu haben und die ostpreußischen Interessen wirksam zu vertreten, wird in Berlin ein ,Ostpreußisches Bureau‘ eingerichtet. Es wird von einem höheren Verwaltungsbeamten, der mit den Ostpreußischen Verhältnissen vertraut ist, geleitet und untersteht dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen. Zur Unterstützung können dem Bureau je 1 Vertreter der ostpreußischen Landwirtschaft und des Handels beigegeben werden.“ 34 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577, Bl. 15 ff., Niederschrift Borowskis über die Verhandlungen der Ostpreußenkonferenz vom 9.3.1920. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Niederschrift des PreußMdI über die Verhandlung der Ostpreußenkonferenz vom 9.3.1920.
II. Die erste Ostpreußenkonferenz und Oberpräsident August Winnig91
zu, durch Wahl des Provinzialausschusses einen Vertreter in den Reichsrat zu entsenden, der dort die Interessen seiner Provinz wahrnehmen sollte. Koch-Weser beabsichtigte, auf diese Weise die Dezentralisation Preußens zu befördern.36 Da die Konservativen die Mehrheit im Provinziallandtag besaßen, lief der Vorschlag der Delegation darauf hinaus, die Ostpreußenstelle durch einen ihrer Vertreter zu besetzen. Dadurch hätten DNVP und DVP, die in der Provinzialselbstverwaltung eine dominierende Stellung einnahmen, ihre eigenen Interessen bei den Berliner Zentralbehörden durchsetzen können. 35
Die Frage der Personalunion von Reichskommissar und Oberpräsident sowie die Gründung einer Vertretung Ostpreußens in Berlin wurde in der Folge zum Gegenstand eines Kompetenzstreits zwischen Reich und Preußen. Während die erste Verhandlung am 9. März der Erörterung der ostpreußischen Wünsche gegenüber den Zentralstellen diente, fand die zweite am folgenden Tag unter Ausschluß der ostpreußischen Delegation als Verhandlung der preußischen Ministerien mit dem Reichskabinett statt. Dabei wurden seitens der Reichsressorts gegenüber der Erklärung des preußischen Innenministers einige Änderungsvorschläge gemacht. Während die Bildung einer Personalunion von Oberpräsident und Reichskommissar sowie die erweiterte Selbständigkeit Ostpreußens am heftigen Widerstand der beiden aus Ostpreußen stammenden Sozialdemokraten, Reichskanzler Bauer sowie Landwirtschaftsminister Otto Braun, scheiterten, wurden gegen die Gründung einer Vertretung Ostpreußens in Berlin keine Einwände erhoben. Allerdings waren die Meinungen zwischen den Reichsressorts und den preußischen Ministerien in der Frage der Zugehörigkeit einer künftigen Ostpreußenstelle in Berlin geteilt. Es blieb strittig, ob die Stelle dem preußischen Staatsministerium oder einem Reichsministerium zugeordnet werden sollte.37 Reichskanzler Bauer wandte sich in dieser Sitzung vor allem gegen die Bestellung des Oberpräsidenten zum Reichskommissar. Er vermutete, dieses Vorhaben sei in Agrarkreisen entstanden, und stellte kategorisch fest: „Winnig könne man keine außerordentliche Vollmacht geben.“ Otto Braun wies darauf hin, daß der als Gouverneur anzusehende starke Reichskommissar ein Relikt der gescheiterten Batockischen Autonomiebestrebungen sei. Auch er lehnte daher die Bildung einer Personalunion strikt ab. Der preußische 35 Artikel 60–63 der Weimarer Reichsverfassung (WRV), in: RGBl 1919, S. 1383 ff. Zum Reichsrat siehe vor allem Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart 1981, S. 376 ff. 36 Fritz Hartung: Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 7. Aufl., Stuttgart 1959, S. 321. Siehe auch G. Schulz, Bd. 1 (1963), S. 257. 37 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 521, Bl. 162, PreußMdI, handschriftliche Niederschrift über die Verhandlung mit dem Reichskabinett, 10.3.1920.
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1. Teil: Ostpreußen
Staatskommissar für Volksernährung, Peters, verwies auf die absehbaren verwaltungstechnischen Schwierigkeiten und bemerkte: „Winnig ist noch heute Reichskommissar.“ Peters machte auf die sich daraus ergebenden Kompetenzprobleme aufmerksam und hielt es für unerläßlich, den Gedanken an eine Personalunion fallen zu lassen. Im Gegensatz zur ablehnenden Haltung der Mehrheit stellte der Reichsminister des Innern a. D., David, die Möglichkeit einer Verwaltungsreform zwischen Reich und Preußen vor. Zur Lösung der Kompetenzprobleme, die nach der Bildung einer Personalunion zwischen dem preußischen Oberpräsidenten und dem Reichskommissar entstehen könnten, schlug David vor, daß „der Reichsminister des Innern zugleich preußischer Staatsminister sein müsse (nicht aber umgekehrt).“ Dadurch würde sich der Reichsinnenminister in seiner Eigenschaft als preußischer Innenminister dem Reichskommissar für den Osten und zugleich dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen unterstellen.38 Davids Vorschlag ließ seine unitaristische Haltung zur Reichsreform erkennen.39 Diese Tendenz der Reichsressorts trat bei der Frage einer Ostpreußenstelle in Berlin sogar noch stärker in Erscheinung. Die Reichsministerien hielten es für angebracht, die Reichsgewalt auszudehnen. So wünschte der Reichsminister des Innern, Koch-Weser, daß die einzurichtende Vertretung Ostpreußens seinem Ministerium unterstellt werden solle. Auch Reichskanzler Bauer glaubte, daß die Vertretung in Berlin unter Mitwirkung Preußens als Reichsstelle gegründet werden müsse. In der Verhandlung wurde über diese Frage jedoch keine endgültige Einigung zwischen den Reichs- und preußischen Ressorts erzielt.40 Am 11. März fand die Schlußverhandlung der ersten Ostpreußenkonferenz unter Teilnahme der ostpreußischen Delegation statt. Reichsinnenminister Koch-Weser teilte zunächst als Ergebnis der Sitzung am Vortag mit, daß der Wunsch Ostpreußens nach der Einrichtung einer Vertretung in Berlin gebilligt werde. Abweichend von seinem preußischen Amtskollegen Heine hob er jedoch die Notwendigkeit einer starken Beteiligung der Reichsregierung an den Angelegenheiten der Ostpreußenstelle hervor. Nach langen Verhandlungen, in deren Verlauf viele Änderungsanträge gestellt wurden, stellte Ministerpräsident Hirsch schließlich folgendes Ergebnis der Schlußverhandlung fest: „Es wird in Berlin in Verbindung mit dem Preußischen 38 Ebd.
39 Koch-Weser schlug Ende Januar 1920 mit Zustimmung Davids dem preußischen Staatsministerium vor, durch die Personalunion zwischen dem Reichskanzler und dem preußischen Ministerpräsidenten, sowie zwischen dem Reichs- und dem preußischen Innenminister Reich und Preußen zu vereinigen. G. Schulz, Bd. 1 (1963), S. 262 ff. Siehe auch Eimers (1969), S. 273 f. 40 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 521, Bl. 162 ff. PreußMdI, handschriftliche Niederschrift über die Verhandlung mit dem Reichskabinett, 10.3.1920.
II. Die erste Ostpreußenkonferenz und Oberpräsident August Winnig93
Staatsministerium und dem Reichsministerium des Innern eine Ostpreußenstelle errichtet. Ein Vertreter des Oberpräsidenten wird in Berlin seinen Sitz nehmen, der seine Weisungen von diesem erhält und den Beratungen ostpreußischer Fragen im Reichskabinett und im Preußischen Staatsministerium beiwohnen wird.“41 Wie sollte man diese Erklärung Hirschs verstehen? Dazu gibt ein am 11. März aus Berlin an das Oberpräsidium in Königsberg abgesandtes Telegramm weitere Aufschlüsse: „Es wird eingerichtet, 1.) eine ostpreußische Stelle beim Reichsministerium des Innern (punkt) daneben 2.) Stelle des Oberpräsidenten in Berlin.“42 In der Tat hinterließ, einer späteren Erklärung Siehrs zufolge, die Beschlußfassung bei der ostpreußischen Delegation den Eindruck, als ob über die Gründung von zwei verschiedenen Stellen (eine Ministerialdirektorstelle im Reichsinnenministerium und eine Stelle für einen Kommissar des ostpreußischen Oberpräsidenten) entschieden worden wäre.43 So wurde auf der ersten Ostpreußenkonferenz keine befriedigende Einigung zwischen Reich, Preußen und Ostpreußen über die Frage einer Ostpreußenstelle in Berlin erzielt. Die endgültige Lösung dieser Streitfrage erfolgte erst nach der Niederschlagung des Kapp-Putsches. Obwohl die Zentralregierung ausdrücklich ihre Unterstützung für Ostpreußen bekundete, waren deshalb die Ergebnisse der ersten Ostpreußenkonferenz äußerst bescheiden. Eine Ausnahmebehandlung Ostpreußens, deren Kern in einer Erweiterung der wirtschaftspolitischen Selbständigkeit bestanden hätte, wurde mit Blick auf die Aufrechterhaltung der Einheitlichkeit der Wirtschaftspolitik des Deutschen Reiches ausdrücklich abgelehnt. Ebenso wurde der Wunsch nach einem starken Reichskommissar zurückgewiesen. Immerhin aber erklärten sich Reich und Preußen dazu bereit, über die Frage der Verwaltungsleitung der Provinz weiter zu verhandeln. Dabei 41 GStA
PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, PreußMdI, Niederschrift vom 11.3.1920. XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1580, Bl. 75 ff., Telegramm aus Berlin an OPO Königsberg, 11.3.1920. 43 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, OPO Siehr an PreußMdI Severing, 25.5.1920. Die Verwirrung um die Errichtung einer Ostpreußenstelle wurde vor allem durch folgende Tatsache vermehrt: Nachdem die wirtschaftspolitische Selbständigkeit Ostpreußens durch die Berliner Ministerien zurückgewiesen worden war, schlug die ostpreußische Delegation ersatzweise vor, ein Reichsministerium für die östlichen Grenzprovinzen zu gründen. Auch dieser Vorschlag stieß auf Ablehnung (vgl. Winnig [1955], S. 270). Die Zentralregierung machte hingegen einen Kompromißvorschlag, nicht ein neues Ministerium, sondern einen Ministerialdirektor beim Reichsinnenministerium mit den Angelegenheiten des Ostens zu beauftragen. Der eigentliche Wunsch Ostpreußens nach einer Vertretung in Berlin, die nicht von oben her einzurichten sei, sollte durch diesen Kompromißvorschlag nicht beeinträchtigt werden. 42 GStA PK,
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1. Teil: Ostpreußen
solle jedoch in erster Linie die Möglichkeit in Betracht kommen, eine enge Fühlungnahme zwischen dem Oberpräsidenten und den übrigen Reichs- und staatlichen Provinzialbehörden herbeizuführen.44 Das Scheitern des Kapp-Putsches unmittelbar nach Abschluß der ersten Ostpreußenkonferenz entschied das politische Schicksal Winnigs und somit den politischen Machtwechsel in der obersten Behörde der Provinz.
44 AdRK Kabinett Bauer, Dok. 185, Niederschrift über die Ostpreußenkonferenz vom 11. März 1920 im preußischen Innenministerium, S. 661 ff.
Kapitel III
Oberpräsident Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches 1. Die Demokratisierung der Verwaltung Am 13. März 1920 erklärten sich Wolfgang Kapp und General Freiherr v. Lüttwitz in Berlin zu Inhabern der Regierungsgewalt. Sie forderten die Auflösung der Nationalversammlung und deren Neuwahl. Das Reichskabinett begab sich nach Dresden, sodann nach Stuttgart, um von dort dem Staatsstreich zu begegnen. Entgegen den Erwartungen der Putschisten machte das deutsche Volk keine Anstalten, ihnen zu folgen. Weder die Reichswehr noch die meisten Zentralbeamten schlugen sich auf die Seite der Putschisten. Statt dessen leisteten sie dem Aufruf der Reichsregierung zum Schutz der Verfassung sowie der Gewerkschaften zum Generalstreik Folge.1 Kapps Regierung scheiterte daher schon vier Tage nach seiner Machtergreifung. Daß Kapp als Mitglied der ostpreußischen Delegation am ersten Tag der Ostpreußenkonferenz in Berlin beteiligt gewesen war, verstärkte den Argwohn Berlins gegen die ostpreußische Reaktion. Winnig war zwar nicht unmittelbar an der Aktion beteiligt, hatte aber die Kapp-Regierung anerkannt, wobei er sich auf Informationen von Generalleutnant v. Estorff bezog, die ihn von Kapps Erfolg in Berlin überzeugten. Die Anerkennungserklärung des Oberpräsidenten hatte zur Folge, daß sich ihr weitere Beamte in Ostpreußen, die eigentlich mit Kapp nichts zu tun gehabt hatten, anschlossen.2 Das brachte sie letztlich um die Fortsetzung ihrer Laufbahn. Nach der Niederschlagung des Putsches kam es Ende März 1920 in der preußischen Regierung zu einem Revirement. Ministerpräsident Paul Hirsch wurde durch Otto Braun abgelöst, und anstelle von Wolfgang Heine übernahm Carl Severing das Amt des Innenministers. Die neue Regierung legte verstärkten Wert darauf, den Aufbau der Republik durch die Demokratisierung der Verwaltung zu vervollständigen.3 Otto Braun, der die Stimmung in 1 Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. VII: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart 1984, S. 44 ff. 2 Groeben (1988), S. 129. 3 Hierzu Pikart (1958), S. 119–137 sowie Behrend (1957), S. 173–214. Zur Demokratisierung der Verwaltung besonders Runge (1965) sowie Möller (1985).
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1. Teil: Ostpreußen
seiner Heimat gut kannte, lag die Frage der Demokratisierung des Beamtenkörpers im ostelbischen Preußen besonders am Herzen, da dort offenbar die Verschwörung gegen die Republik geplant wurde.4 Die neue Regierung leitete Säuberungsmaßnahmen im Verwaltungsapparat ein, für die der Königsberger Sozialdemokrat Albert Borowski als Reichs- und Staatskommissar in Ostpreußen eingesetzt wurde. Sein Auftrag lautete, auf die Herstellung geordneter verfassungsmäßiger Verhältnisse hinzuwirken. Das Scheitern des Kapp-Putsches führte somit zu einem gründlichen Machtwechsel in der obersten Staatsbehörde der Provinz, wo bis dahin die vorrevolutionären Kräfte unter einem zwar sozialdemokratischen, aber doch den Konservativen nahestehenden Oberpräsidenten ihre Stellung noch behauptet hatten. Winnig wurde ebenso suspendiert wie der Oberpräsidialrat v. Hassell, der ihm stets zur Seite gestanden hatte.5 Auch der Regierungspräsident von Gumbinnen, Magnus Freiherr v. Braun, der spätere Reichsernährungsminister im Kabinett Papen, zählte zu den Beamten, die im Zusammenhang mit der Verschwörung verurteilt wurden.6 Mehrere Landräte sowie höhere Beamten in Ostpreußen wurden auf diese Weise aus dem Amt entlassen. Die politische Einstellung wurde unter der Regierung Braun-Severing zum wichtigsten Faktor bei der Bestellung der Beamten. Das Ziel der Demokratisierung der Verwaltung machte es nötig, die monarchistisch gesinnten Beamten durch zuverlässige Republikaner abzulösen. Zwangsläufig mußte die neue Personalpolitik heftigen Widerstand unter den Konservativen hervorrufen. Vor allem dort, wo die Rechtsparteien in den Provinziallandtagen die Mehrheit besaßen, traf die Durchführung der Regierungspolitik auf Provinzialebene auf Schwierigkeiten. Unter diesen Umstän4 H. Schulze
(1977), S. 299 ff. der Niederwerfung des Putsches teilte Oberbürgermeister Lohmeyer seinen Standpunkt dem preußischen Innenministerium mit: „Der Oberpräsident Herr Winnig und der Führer des Wehrkreiskommandos I Exzellenz von Estorff haben sich nach Bekanntwerden der Kappschen Unternehmung auf dessen Seite geschlagen, so daß deren Verbleiben im Amte nach meiner Auffassung unmöglich erscheint. […] Es erscheint mir dringend erforderlich im Interesse der Beruhigung der Bevölkerung, daß beide Herren alsbald ihres Amtes enthoben werden.“ Dagegen machte Lohmeyer hinsichtlich der Beteiligung des Oberpräsidialrats v. Hassell auf seine Neutralität während des Putsches aufmerksam. Trotz der Rettungsversuche Lohmeyers wurde v. Hassell suspendiert. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 1, Bd. 2, Oberbürgermeister Königsberg Pr. an PreußMdI, 22.4.1920. Lohmeyer schrieb jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg im Gegenteil über die Mitwirkung des Oberpräsidialrats v. Hassell am Kapp-Putsch. Hans Lohmeyer: Meine Königsberger Jahre, in: Ein Blick zurück, hg. v. Martin A. Borrmann, München 1961, S. 159–174 (hier S. 167). Vgl. Gause, Bd. III (1996), S. 35 f. 6 Magnus Freiherr von Braun: Von Ostpreußen bis Texas. Erlebnisse und zeitgeschichtliche Betrachtungen eines Ostdeutschen, Stollhamm (Oldbg.) 1955, S. 181 ff. Siehe auch Ders.: Weg durch vier Zeitepochen, Limburg an der Lahn 1964. 5 Nach
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches97
den wurden für das Oberpräsidentenamt, vor allem in den preußischen Ostprovinzen, nicht selten Demokraten als Kompromißkandidaten zwischen den Sozialdemokraten und den Deutschnationalen eingesetzt.7 Im April 1920 wurde der Demokrat Ernst Ludwig Siehr zum kommissarischen Oberpräsidenten ernannt.8 Der promovierte Justizrat Siehr stammte aus einer alten, hochangesehenen Familie in Ostpreußen, aus der mehrere Juristen und Verwaltungsmänner hervorgegangen waren. Nach Abschluß seines Universitätsstudiums trat er 1889 als Referendar in den preußischen Justizdienst ein. 1895 wurde er als Rechtsanwalt beim Landgericht zu Insterburg zugelassen, 1906 zum Notar im Bezirk des Oberlandesgerichts Königsberg ernannt. Bis 1912 war Siehr außerdem nebenamtlich als Syndikus der Handelskammer Insterburg tätig. Während des Ersten Weltkriegs diente er als Soldat9 und gehörte als Mitglied der Freisinnigen Partei dem Reichstag an.10 Nach Kriegsende trat er folgerichtig in die Deutsche Demokratische Partei ein, für die er in die verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt wurde. Anläßlich seines Amtsantritts am 12. April 1920 sprach Siehr von den Aufgaben eines neu zu bildenden Oberpräsidiums und betonte vor allem die Demokratisierung der Verwaltung: „Früher ist bei der Besetzung der Verwaltungsstellen einseitig zugunsten einer Partei verfahren worden. Dadurch wurde ein Mißtrauen hervorgerufen, das bei dem Kapp-Putsch besonders hervortrat und nach demselben schärfsten Ausdruck fand. Es soll nun mit der einseitigen politischen Orientierung bei der Besetzung der Verwaltungsstellen gebrochen und eine gesündere Mischung angestrebt werden. Die Verfassungstreue wird allerdings dabei eine wesentliche Rolle spielen und die Voraussetzung für die Verwendung der Beamten sein müssen.“11 Obwohl Siehr in allen Kreisen Ostpreußens große Achtung genoß, hatte seine Berufung zum Oberpräsidenten zur Folge, den politischen Gegensatz zwischen seinem Amt, das die Politik der Berliner Zentralregierung in der Provinz vertreten sollte, und den Mehrheitsparteien im ostpreußischen Provinziallandtag zu verschärfen. So trat er dafür ein, die Landräte, die sich auf die Seite der Kapp-Regierung geschlagen hatten, durch Mehrheitssozialdemokraten abzulösen.12 Auch in das Oberpräsidium selbst berief er Beamte, 7 Stang
(1994), S. 342 f. Ludwig Siehr (geb. 1869 in Insterburg / Ostpreußen, gest. 1945 auf Rügen). 9 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 4045, Nr. 1, Bd. 2, Der kommissarische Oberpräsident Siehr, 28.7.1920. 10 Groeben (1993), S. 246 f. 11 „Oberpräsident Siehr über die Demokratisierung der Verwaltung“, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, 13.4.1920. 12 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 567, OPO Siehr an PreußMdI, 25.5.1920. Darin hob Siehr hervor: „Ich bin mir klar darüber, daß es notwendig ist, 8 Ernst
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1. Teil: Ostpreußen
die aus voller Überzeugung auf dem Boden der Weimarer Verfassung standen.13 Seine republiktreue Haltung kam auch darin zum Vorschein, daß er zuerst dafür eintrat, die Landräte, die sich auf die Seite der Kapp-Regierung geschlagen hatten, durch Mehrheitssozialdemokraten abzulösen.14 Der politische Aspekt, die Demokraten als Kompromißkandidaten zwischen rechts und links für die Stellenbesetzung der preußischen Staatsverwaltung heranzuziehen, gewann ebenfalls unter Siehr an Boden. Zu nennen ist hier vor allem die Berufung des 32jährigen Demokraten und Rechtsanwalts in Rastenburg / Ostpreußen, Günther Grzimek, zum Oberpräsidialrat des Oberpräsidiums. Seine Bestellung ging ausschließlich auf Siehrs Wunsch zurück.15 Grzimek, der vom Amtsantritt Siehrs bis Ende 1921, also nur anderthalb Jahre als Vizepräsident im Oberpräsidium blieb, war als überzeugter Republikaner bekannt. Auch nachdem er wegen der sehr eingeschränkten Besoldung seinen Abschied genommen und seine Anwaltstätigkeit wiederaufgenommen hatte, übte er als preußischer Landtagsabgeordneter weiterhin eine politische Tätigkeit aus. Zudem widmete er sich der Gründung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold für Ostpreußen. Neben Grzimek überließ Siehr noch zwei weiteren Parteifreunden wichtige Verwaltungsstellen. Zum einen wurde Otto Rosencrantz als Nachfolger Brauns, der infolge des KappPutschs suspendiert worden war, zum Regierungspräsidenten von Gumbinnen ernannt. Zum anderen wurde Ferdinand Friedensburg ins Landratsamt im Kreis Rosenberg / Westpreußen berufen, wo die Großgrundbesitzer sowie der Adel eine beherrschende gesellschaftliche Stellung einnahmen.16 Von Friedensburg wurde erwartet, die mächtigen Junker, wie z. B. OldenburgJanuschau, kritisch zu beobachten. Die Demokratisierung des Oberpräsidiums war zweifellos als das Hauptverdienst Siehrs anzusehen. Ein Zeitgenosse urteilte, „daß er die Fenster des Oberpräsidiums weit aufgerissen, neues Licht hat hineinfluten und die bei den Neubesetzungen der Landratsämter nur Männer auszuwählen, die unbedingt sicher auf dem Boden der Verfassung stehen, und nach Möglichkeit durch Mitglieder der Mehrheitssozialdemokratischen Partei bei der Auswahl der Kandidaten zu berücksichtigen.“ 13 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1158, Nr. 1, Bd. 1, Bei der Ernennung von Dr. Grzimek zum Oberpräsidialrat. OPO Siehr an PreußMdI, 29.4.1920. 14 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 567, OPO Siehr an PreußMdI, 25.5.1920. Darin hob Siehr hervor: „Ich bin mir klar darüber, daß es notwendig ist, bei den Neubesetzungen der Landratsämter nur Männer auszuwählen, die unbedingt sicher auf dem Boden der Verfassung stehen, und nach Möglichkeit Mitglieder der Mehrheitssozialdemokratischen [Partei] bei der Auswahl der Kandidaten zu berücksichtigen.“ 15 Über Günther Grzimek (1887–1980) siehe vor allem Groeben (1988), S. 391 ff. 16 Ferdinand Friedensburg: Lebenserinnerungen, Frankfurt am Main und Bonn 1969, S. 109 ff.
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches99
alte dumpfe Moderluft entweichen lassen.“17 Allerdings ging die Reform der Personalpolitik Ostpreußens nicht allein auf die politische Überzeugungen Siehrs zurück, sondern stand im Kontext der Demokratisierungsbemühungen der preußischen Staatsregierung. Siehr gehörte zur politischen Minderheit im Provinziallandtag, wo die Konservativen (DNVP und DVP) stets die Mehrheit besaßen. Die Auseinandersetzung mit den Mehrheitsparteien der Provinzialselbstverwaltung hinderte den Oberpräsidenten nicht selten daran, die Politik der republikanischen Zentralregierung in der Provinz umzusetzen. 2. Die Ostpreußische Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium in Berlin a) Die Ernennung von Christian Herbst Infolge der veränderten politischen Verhältnisse nach dem Kapp-Putsch ging die Initiative zur Errichtung der Berliner Ostpreußenstelle von den rechtsstehenden Kreisen in die Hand des neu berufenen demokratischen Oberpräsidenten über. Der auf der Ostpreußenkonferenz gemachte Vorschlag zur Besetzung der Stelle durch einen künftigen Vertreter Ostpreußens im Reichsrat wurde von Siehr wieder zurückgezogen. Der Beschluß der Staatsregierung vom 28. April 1920 brachte daraufhin im Streit zwischen Reich und Preußen um die Einrichtung der Ostpreußenstelle in Berlin eine vorläufige Lösung. Danach sollte ein Beamter durch das preußische Staatsministerium im Einvernehmen mit der Reichsregierung in dieses Amt berufen werden.18 Trotzdem stieß die Gründung der Ostpreußenstelle abermals auf Hindernisse. Das Reichsministerium des Innern beabsichtigte, die Ostpreußenstelle als ein gemeinsames Ostdezernat bei den Innenministerien von Reich und Preußen aufzubauen und durch einen Ministerialdirektor zu besetzen. Eine so geschaffene Stelle wäre als ein Organ der Zentralbehörden zu betrachten gewesen, dem die Aufgabe zugewiesen war, Ostpreußen von Berlin aus zu kontrollieren. Daher wies Siehr dieses Vorhaben entschieden zurück. Ebenso wie sein Vorgänger war er der Ansicht, daß die abgetrennte Provinz nicht von den Berliner Zentralstellen zu verwalten sei. Ihre besonderen Bedürfnisse sollten im Gegenteil durch einen Beauftragten des Ober17 Karl
Fischer: Das ostpreußische Problem, Berlin 1921, S. 14 f. I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, Auszug, Sitzung der preußischen Staatsregierung vom 28.4.1920. Der Sitzungsbeschluß lautete, „daß zur Wahrnehmung der besonderen ostpreußischen Interessen gegenüber den preußischen und den Reichsministerien ein mit den Verhältnissen Ostpreußens vertrauter besonderer Beamter vom Staatsministerium einberufen wird. Wegen Besetzung der Stelle soll alsbald mit dem Reich eine Vereinbarung herbeigeführt werden.“ 18 GStA PK,
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1. Teil: Ostpreußen
präsidenten bei den Zentralbehörden vertreten werden, um Berlin laufend über die Maßnahmen zur Beseitigung der Notlage Ostpreußens zu orientieren. Zu diesem Zweck sollte eine ständige Vertretung des Oberpräsidenten in Berlin eingerichtet werden. Siehr beantragte also, „unabhängig von der Frage der Schaffung des Ostreferats die Stelle eines dem Oberpräsidenten dienstlich unterstellten Ostpreußischen Kommissar in Berlin zu schaffen“.19 Durch diesen Vorstoß gelang es ihm, eine Kompromißlösung zwischen Berlin und Ostpreußen zu erzielen. Die Ostpreußenstelle sollte unter Führung des preußischen Staatsministeriums als gemeinsame Institution zwischen den Zentralbehörden von Reich und Preußen einerseits und einem Beauftragten des Oberpräsidenten andererseits aufgebaut werden. Demzufolge waren Ernennung und Abberufung dieses Kommissars in erster Linie dem Oberpräsidenten zu überlassen.20 Im Juni 1920 erfolgte schließlich die Ernennung des Oberbürgermeisters von Osterode / Ostpreußen, Christian Herbst, zum „kommissarischen Vertreter des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen bei dem Reichs- und Staatsministerium (ostpreußischer Vertrauensmann)“.21 Seine Wahl wurde auf Wunsch Siehrs durchgesetzt, der auf Herbsts Kenntnisse und Fähigkeiten vertraute. Als überzeugter Republikaner hob Siehr die gefestigte politische Haltung des Beamten hervor,22 durch die dieser bereits in der Vorkriegszeit als Spitzenkommunalbeamter der Stadt Osterode in schwere Auseinandersetzungen mit den Allensteiner Konservativen geraten war. Siehrs Vorschlag fand Unterstützung durch Borowski sowie das Preußische Innenministerium,23 traf jedoch zunächst auf den Widerstand des Reichsinnenministers. Koch-Weser favorisierte den früheren Thorner Oberbürgermeister Arnold Hasse (DDP).24 Hasse hatte während der Übergangszeit von Winnig zu Siehr drei Wochen lang kommissarisch das Amt des Oberpräsidenten in Ostpreußen innegehabt. Koch-Weser hob die ostpreußische Her19 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, OPO Siehr an PreußMdI, 25.5.1920. 20 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, Handschriftliche Aufzeichnung von Loehrs (PreußMdI), 28.5.1920. 21 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, Auszug, Sitzung der preußischen Staatsregierung, 14.6.1920. 22 Herbst trat Mitte der 1920er Jahre in die Sozialdemokratische Partei ein. Im Sommer 1928 wurde er zum Regierungspräsident von Lüneburg ernannt. Er wurde unmittelbar nach dem von Papen und Gayl unternommenen Staatsstreich in Preußen im Juli 1932 suspendiert. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten, Nr. 1118, PreußMdI (Grzesinski) an OP Noske in Hannover, 16.8.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten, Nr. 1118, Abschrift, Staatstelegramm, Reichskanzler als Reichskommissar für das Land Preußen (gez. Papen), 21.7.1932. 23 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, PreußMdI an RMdI, 12.5.1920. 24 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, RMdI an PreußMdI, 22.5.1920.
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches101
kunft Hasses hervor. Siehr, der auf vertrauensvolle Beziehungen zwischen ihm und seinem Vertreter in Berlin größten Wert legte, lobte hingegen die Initiativen Herbsts zur Hebung der Wirtschaft Ostpreußens (Elektrifizierung, Wasserstraßenbau, Siedlungswesen usw.), wobei er sich auf dessen bisherige Leistungen als Bürgermeister in Osterode und seinen guten Ruf beim ostpreußischen Bürgermeisterverband und Städtetags bezog.25 Im Unterschied zu Hasse war Herbst kein gebürtiger Ostpreuße. Als Sohn eines evangelischen Pastors war er 1879 in Oettingen / Kreis Nördlingen in Bayern geboren. Er studierte in München und kurzzeitig auch in Königsberg. Nach seinem Eintritt in den bayerischen Forstverwaltungsdienst kehrte er wieder an die Universität München zurück, wo er 1906 mit einer staatswissenschaftlichen Arbeit über den Forstfrevel promoviert wurde.26 Sein Interesse an der Forstwirtschaft bewegte ihn später dazu, sich als Vizepräsident des Oberpräsidiums in Ostpreußen mit allen Kräften dafür einzusetzen, den unterbrochenen Flößereiverkehr auf der Memel wieder freizubekommen. Nach der Promotion trat Herbst in den Kommunalverwaltungsdienst in Ostpreußen, dessen Landschaft er als junger Student an der Albertina kennengelernt hatte. 1907 zum zweiten Bürgermeister der Stadt Osterode / Allenstein gewählt, übernahm er 1912 als Bürgermeister die Leitung der dortigen Stadtverwaltung bis zu seiner Berufung 1920 zum Bevollmächtigten des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen.27 b) Die Aufgabe Die wichtigste Aufgabe der Ostpreußischen Vertretung in Berlin bestand darin, die durch den Kriegsausgang beeinträchtigten wirtschaftlichen und politischen Beziehungen Ostpreußens zum übrigen Reichsgebiet wiederherzustellen und die ostpreußische Wirtschaft zu beleben.28 In dieser Hinsicht war die Wiederherstellung der durch den Korridor und die Entstehung der Oststaaten unterbrochenen Verkehrsverbindungen mit dem übrigen Reichsgebiet und Rußland von herausragender Bedeutung. Zu den Arbeitsbereichen gehörten also einerseits die Sicherstellung des Personen- und Güterverkehrs durch den Korridor, die Stabilisierung der Preise von Lebensmitteln, Brennstoffen usw., die Kreditversorgung, die Kulturfürsorge, andererseits im 25 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, 6.5.1920. 26 Christian Herbst: Die Bewegung der Forstfrevel chen Ursachen, Erlangen 1906. 27 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten Nr. 1118 28 Zur Ostpreußischen Vertretung siehe vor allem Hertz-Eichenrode (1969), S. 42 f.
OPO Siehr an PreußMdI, und ihre volkswirtschaftli(Christian Herbst). Wessling (1957), S. 217 ff.
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1. Teil: Ostpreußen
Hinblick auf die Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen Ostpreußens zu den östlichen Nachbarstaaten insbesondere die Hebung der Wettbewerbsfähigkeit des Königsberger Hafens sowie die Wiederherstellung des Handels- und Grenzübergangsverkehrs (Eisenbahn, Binnen- und Seeschif�fahrt, Luftverkehr). Daher stellte sich alsbald die Frage, ob die Ostpreußische Vertretung zu den Handelsvertragsverhandlungen mit den östlichen Nachbarstaaten – der UdSSR, Polen sowie den baltischen Staaten – hinzugezogen werden sollte.29 Die Erledigung dieser nach mehreren Richtungen ausgedehnten Aufgaben, deren Behandlung z. T. die Befugnisse preußischer Provinzialbehörden überschritt, bedurfte einer engen Verbindung mit den zuständigen Zentralbehörden. Nicht zuletzt wurde der Ostpreußische Vertreter, wenn die Ministerien Auskünfte von ihm wünschten, auch zu den Sitzungen der Reichs- und preußischen Ministerien hinzugezogen. Gleichwohl wurde ihm eine ständige Befugnis zu selbständigen Entscheidungen weder vom Oberpräsidenten noch vom preußischen Staatsministerium erteilt.30 Abgesehen von Fällen, in denen die Ministerien ihn mit ihrer Vertretung, z. B. bei den Verkehrsverhandlungen mit dem Ausland, beauftragten, beschränkte sich seine Stellung auf die eines Vermittlers zwischen den Berliner Ministerien und dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen. Im Grunde ist nicht zu erkennen, daß es von Anfang an konkrete Vorstellungen über den Tätigkeitsbereich des Ostpreußischen Vertreters gegeben hätte. Vielmehr entsteht der Eindruck, daß sich sein Arbeitsgebiet allmählich unter dem Schlagwort „Wahrnehmung der Belange der abgetrennten Provinz“ erweiterte. So begann die Tätigkeit des Ostpreußischen Vertreters in auswärtigen Angelegenheiten mit seiner Beteiligung an den Pariser Korridorverkehrsverhandlungen Ende 1920. Nachträglich erhob jedoch das Preußische Staatsministerium Protest gegen die ohne seine Kenntnis und allein durch das Einvernehmen zwischen dem Oberpräsidenten und dem Auswärtigen Amt erfolgte Entsendung Herbsts nach Paris.31 Insgesamt gehörten die relevanten Arbeitsbereiche großenteils zu den Reichsangelegenheiten. Dies brachte es mit sich, daß der Ostpreußische Vertreter, obwohl er als preußischer Staatsbeamter dem Staatsministerium unterstand und vom Oberpräsidenten Weisungen erhielt, wesentlich mehr mit den Reichszentralbehörden als mit preußischen Ministerien zusammenarbeitete.32 Die preußische Staatsregierung hielt es jedoch für geboten, daß ohne Vermittlung der zu29 GStA PK,
I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, Herbst, 7.10.1920. XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577, PreußMP an OPO, 30.3.1921. 31 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1098, OPO an AA, 12.11.1920. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577, PreußMP an OPO, 13.12.1920. 32 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 2, Bevollmächtigter der Provinz Ostpreußen beim Reichs- und Staatsministerium an OPO, 2.2.1921. 30 GStA PK,
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches103
ständigen Zentralbehörden Preußens kein Geschäftsverkehr zwischen den preußischen Provinzialbehörden und den Reichszentralbehörden stattfinden dürfe.33 Daher sollte der Ostpreußische Vertreter prinzipiell nur im Einvernehmen mit dem preußischen Staatsministerium bzw. mit dem preußischen Ministerium des Innern in unmittelbare Fühlung mit den Reichszentralbehörden treten.34 Da jedoch die Kompetenzen für die auswärtigen und verkehrspolitischen Angelegenheiten nach der Weimarer Reichsverfassung im wesentlichen nicht mehr bei den Länderregierungen lagen,35 stand der Ostpreußischen Vertreter zwangsläufig, z. T. ohne vorherige Kenntnis des preußischen Staatsministeriums, oft in unmittelbarer Verbindung mit dem Auswärtigen Amt, dem Reichswirtschaftsministerium sowie dem Reichsverkehrsministerium.36 c) Die Auseinandersetzung mit der DNVP Schon die Besetzung der neuen Dienststelle hatte die Rivalität zwischen dem Oberpräsidenten und den ostpreußischen Konservativen heraufbeschworen, was sich mit der Einstufung des Ostpreußischen Vertreters in die höhere preußische Beamtenklasse wiederholen sollte. Die auf Wunsch Siehrs erfolgte Berufung Herbsts fand nicht den Beifall der Konservativen. Sie hielten es vielmehr für angebracht, diese Dienststelle einer von den Mehrheitsparteien im Provinziallandtag unterstützten Persönlichkeit anzuvertrauen. Die preußische Regierung wiederum sah in der Berliner Vertretung des Oberpräsidenten lediglich eine vorübergehende Einrichtung, weshalb sie es ablehnte, diese Stelle als eine etatmäßige Behörde aufzubauen. Bis zu seiner Ernennung zum Oberregierungsrat im Dezember 1920 hatte Herbst noch sein bisheriges Amt als Oberbürgermeister in Osterode inne, war aber seit dem Beginn seiner Tätigkeit als Bevollmächtigter Ostpreußens beurlaubt. Mit dem Eintritt in den preußischen Staatsdienst gab er sein Amt 33 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, PreußMdI an sämtliche Ober- und Regierungspräsidenten, 14.11.1920. 34 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, PreußMP, am sämtliche Staatsminister, 23.4.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 2, PreußMP an OPO, 30.3.1921. 35 Vgl. Art. 6 Ziff. 1 sowie Art. 78 WRV für die auswärtigen Angelegenheiten. Art. 7 Ziff. 19, Art. 89 ff. sowie Art. 97 ff. WRV für das Verkehrswesen. RGBl. 1919, S. 1983 ff. 36 In seinen Erinnerungen schrieb Siehr aber, daß der Ostpreußische Vertreter das Recht erhalten habe, auch in den Reichsministerien direkten Vortrag zu halten. Der Oberpräsident „konnte nun durch diesen von ihm instruierten ostpreußischen Gesandten direkt mit den Reichsstellen verhandeln und Unstimmigkeiten zwischen diesen und den entsprechenden preußischen Stellen schon im Entstehen an Ort und Stelle ausgleichen.“ Siehe Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz), S. 17 ff.
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1. Teil: Ostpreußen
in Osterode endgültig auf. Bis dahin wurde seine Arbeit von verwaltungsorganisatorischen und parteipolitischen Hindernisse beeinträchtigt. Während seiner kommissarischen Dienstzeit erhielt Herbst sein Gehalt aus Osterode und bekam für seinen Berliner Dienst lediglich Tagegelder aus Preußen. Angesichts der schwierigen Finanzlage mehrten sich selbst in der preußischen Regierung die Stimmen, dem durch die Provinzialselbstverwaltung zu wählenden Vertreter beim Reichsrat die Wahrnehmung der ostpreußischen Interessen zu überlassen und die Stelle des Ostpreußischen Vertreters wieder aufzulösen.37 Paradoxerweise hätte dies aber gerade mit den politischen Absichten der ostpreußischen Konservativen übereingestimmt, die ohnehin der Meinung waren, daß die ostpreußischen Interessen ausschließlich durch den Provinzialvertreter zum Reichsrat, der die Mehrheitsparteien der Provinzialselbstverwaltung vertrat, wahrgenommen werden sollten. Der Vorstoß der preußischen Finanzinstanzen zur Streichung der Vertretungsstelle konfrontierte den Oberpräsidenten von neuem mit der alten Streitfrage. Es fragte sich, ob der Beschluß der preußischen Regierung auf der ersten Ostpreußenkonferenz vom März 1920, dem Oberpräsidenten die Entsendung seines Vertreters in Berlin einzuräumen, noch aufrechtzuerhalten sei. Siehr protestierte gegen den Kurswechsel in der Frage der Ostpreußenstelle und drängte auf die Etatisierung seiner Vertretung in Berlin. In Osterode wiederum bereitete die lange Abwesenheit des Bürgermeisters der Stadtverwaltung große Schwierigkeiten. Als Herbst sich Ende 1920 vor die Entscheidung gestellt sah, nach Osterode zurückzugehen oder das Bürgermeisteramt endgültig aufzugeben, trat Siehr nachhaltig dafür ein, Herbst bei sich zu halten. Er beantragte die sofortige Übernahme Herbsts in den preußischen Staatsdienst, um auf diese Weise einen Personalwechsel in der Ostpreußischen Vertretung zu vermeiden und die Stelle zu stabilisieren.38 Die Etatisierung wurde zwar nicht bewilligt, Herbst selbst aber dank der Fürsprache Siehrs im Dezember 1920 in den preußischen Staatsverwaltungsdienst übernommen und zugleich zum preußischen Oberregierungsrat ernannt.39 Schritt für Schritt bemühten sich Siehr und Herbst um die Stabilisierung der Ostpreußenstelle. Schon bald ergaben sich jedoch neue Probleme. Im Juni 1921 wählte der Provinzialausschuß (die Provinzialselbstverwaltung) gemäß Artikel 61 sowie 63 der Weimarer Reichsverfassung den DNVP37 GStA PK,
I. HA, Rep. 77, Tit. 856 Nr. 567, PreußMP an OPO, 5.9.1920. I. HA, Rep. 77, Tit. 856 Nr. 567, OPO Siehr an PreußMP Braun, 13.9.1920. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856 Nr. 567, OPO Siehr an PreußMdI, 23.10.1920. 39 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1158, Nr. 1, Bd. 1, Abschrift, PreußMdI an die PreußStM, 19.12.1920. 38 GStA PK,
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches105
Politiker Wilhelm Freiherr v. Gayl zum Provinzialvertreter im Reichsrat.40 Gayl, der als Reichskommissar für die Volksabstimmung den Verbleib des südlichen Ostpreußen beim Reich gekämpft hatte,41 genoß zwar das Vertrauen der ostpreußischen Bevölkerung, vor allem unter den Konservativen, er war aber auch für seine äußerst republikfeindliche Haltung bekannt. Seine Bestellung mußte unweigerlich zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen dem republikanischen Oberpräsidenten sowie dessen Berliner Vertreter einerseits und dem von den Mehrheitsparteien unterstützen Provinzialvertreter im Reichsrat andererseits führen. Für Siehr war es besonders nachteilig, daß Gayl nun das Recht zustand, ohne Vermittlung seines Vertreters in Berlin im Sinne der Interessen der konservativen Mehrheitsparteien tätig zu werden. Die Konkurrenz zwischen beiden Stellen, die oft als Dualismus in der Wahrnehmung der ostpreußischen Interessen in Berlin beschrieben worden ist,42 ergab sich wesentlich aus dem Machtkampf zwischen dem republikanischen Oberpräsidenten und dem rechtsorientierten Provinzialausschuß um die Führung der Verwaltung der Provinz. Als Landeshauptmann Manfred v. Brünneck, der an der Spitze der Provinzialselbstverwaltung stand, die Auswechslung des Vertreters des Oberpräsidenten in Berlin beantragte, um die Wahrnehmung der ostpreußischen Interessen in der Hand des Reichsratsmitglieds Gayl zu vereinigen,43 reagierte Siehr ablehnend: „Die Folge ist ein verhängnisvoller Dualismus. In allen Fällen, in denen die Auffassung des Oberpräsidenten und der Mehrheit des Provinzialausschusses auseinandergehen, kommt lediglich die letztere zur Vertretung bei den Berliner maßgebenden Stellen und die Folge ist, daß die ganze Politik innerhalb der Provinz, für die der Oberpräsident verantwortlich zeichnet, durch die nichtverantwortliche Stelle des Reichsratsmitgliedes behindert und vereitelt werden kann.“44 Angesichts dieser innenpolitischen Probleme versuchte Siehr, die Stellung der obersten preußischen Staatsbehörde in der Provinz gegen den rechtsorientierten Provinzialausschuß zu stärken. Gleich nach Gayls Ernennung zum Bevollmächtigten beim Reichsrat entband Siehr Herbst von dem Amt der Berliner Vertretung und berief ihn als Nachfolger Grzimeks zum kommissarischen Oberpräsidialrat, also als Vizepräsidenten in das Oberpräsidium. Selbstverständlich rief diese Entscheidung Gegenwehr von seiten der ostpreußischen Konservativen hervor. Der deutschnationale Landtagsabgeord40 ProvLT Ostpreußen, Bd. 47 (1921), 27.7.1921, S. 127. Bestätigung des Provinziallandtages für die Wahl von Gayl am 28. Juni 1921. 41 Vgl. Gayl (1940). 42 Forstreuter (1955), S. 84 ff. 43 Wessling (1957), S. 222 ff. 44 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, OPO Siehr an PreußMdI Dominicus, 17.8.1921.
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nete v. Plehwe wandte sich im Juli 1921, kurz vor der Bestellung Herbsts, an das preußische Ministerium des Innern und äußerte die Auffassung seiner Fraktion, daß Herbst keinesfalls die Aufgabe des Oberpräsidialrats ausfüllen könne. Als ihren Kandidaten benannte die DNVP den Landrat in Neidenburg, Freiherrn v. Mirbach.45 Der Widerstand der rechtsstehenden Kreise verstärkte sich weiter, nachdem die Übertragung des kommissarischen Amtes an Herbst auf Wunsch Siehrs durchgesetzt wurde. DNVP, DVP und Zentrumspolitiker in Ostpreußen entsandten Anfang August 1921 eine Beschwerdedelegation gegen die Berufung Herbsts zum kommissarischen Oberpräsidialrat. Gegen die Persönlichkeit Herbsts lief besonders der preußische Landtagsabgeordnete Graf zu Stolberg-Wernigerode (DVP) Sturm. Der aus Bayern stammende Herbst besaß nach Ansicht des Grafen weder genügend Kenntnis von den ostpreußischen Verhältnissen noch von der preußischen Staatsverwaltung. Auch der Provinziallandtagsabgeordnete Graf zu Eulenburg (DNVP) brachte die Unzufriedenheit mit dem Vertreter des Oberpräsidenten zum Ausdruck. Seiner Darstellung zufolge hatten die ostpreußischen Landwirte wegen der den Interessen der Landwirtschaft entgegenstehenden Arbeit des Ostpreußischen Vertreters diesen für die Vermittlung ihrer Anliegen in Berlin überhaupt nicht in Anspruch genommen. Die Kritik der Rechtsparteien konzentrierte sich zwar auf die Persönlichkeit Herbsts,46 tatsächlich ging es aber um einen parteipolitischen Machtkampf mit dem republikanischen Oberpräsidium.47 Dennoch wurde die Ernennung von Herbst zum Vizepräsidenten infolge der entschlossenen Haltung Siehrs durchgesetzt. Die Stelle der Berliner Vertretung wurde Regierungsrat Friedrich Wilhelm Frankenbach überlassen, der seit Herbst 1920 als Mitarbeiter für die Ostpreußische Vertretung tätig gewesen war. Dadurch, daß die Angelegenheiten der Berliner Vertretung nicht dem Oberpräsidenten selbst, sondern seinem neuen Vizepräsidenten Herbst zugeordnet wurden, blieb dessen unmittelbarer Einfluß auf die Ostpreußische Vertretung bestehen.48 Der Interessengegensatz zwischen der Landwirtschaft und den nichtagrarischen Wirtschaftskreisen, wie er in der Beschwerde Eulenburgs zum Ausdruck kam, bildete den unübersehbaren wirtschaftlichen Hintergrund für den politischen Konflikt zwischen dem rechtsorientierten Provinzialausschuß 45 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten, Nr. 1118, Notiz, PreußMdI, 11.7.1921. 46 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten, Nr. 1118, Abschrift, PreußMdI an OPO, Niederschrift über die Besprechung mit dem Abgeordneten Grafen Stolberg, 13.9.1921. 47 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten, Nr. 1118, OPO Siehr an PreußMdI, 23.10.1921. 48 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1158, Nr. 1, Bd. 1, Geschäftsgliederung des Oberpräsidiums.
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches107
und dem Oberpräsidenten. So akzeptierte die Industrie- und Handelskammer Königsberg – unter dem Präsidenten Felix Heumann und seinem Stellvertreter Hans Litten49 – frühzeitig Tätigkeit und Bedeutung des Vertreters des Oberpräsidenten in Berlin und versuchte, mit ihm engen Kontakt zu halten.50 Hingegen genoß der Provinzialvertreter im Reichsrat, Freiherr v. Gayl, das Vertrauen der ostpreußischen Landwirte. Während der Provinzialausschuß stets primär auf die Erhaltung der Landwirtschaft abzielte, versuchten Oberpräsident Siehr und insbesondere seine Vertreter, Herbst sowie Frankenbach, Handel und Industrie Ostpreußens zu fördern. Als der Preußische Handelsminister auf Grund der Verordnung vom 1. April 192451 die ostpreußischen Handelskammern gegen deren ausdrücklichen Wunsch zur Bildung eines einheitlichen Zweckverbandes aufforderte, äußerte Frankenbach: „Das Vorgehen des Herrn Ministers für Handel und Gewerbe ist mir persönlich umso unangenehmer, als ich mich bisher gewissermaßen als Vertrauensmann der Industrie- und Handelskammern betrachtet habe, der unter Ausgleichung der verschiedenen Interessen die für Ostpreußen erforderlichen Anträge bei den Zentralressorts stellt und auch Gelegenheit nimmt, im Bedarfsfalle dieser oder jener Kammer die Notwendigkeit der Änderung ihrer Auffassung nahezulegen.“52 d) Die Amtsbezeichnung des Berliner Vertreters des Oberpräsidenten Im Juni 1920 war Herbst, Bürgermeister in Osterode, als kommissarischer Vertreter des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen beim Reichs- und Staatsministerium (ostpreußischer Vertrauensmann) berufen worden. Seine Amtsbezeichnung wurde sodann in „Bevollmächtigter für die Provinz Ostpreußen“ geändert. Das preußische Innenministerium wandte dagegen ein, daß Herbst keine Vollmacht zu selbständigen Entscheidungen übertragen worden sei, obwohl die Bezeichnung „Bevollmächtigter“ dies vermittelte. Im Grunde genommen war die Tätigkeit des Berliner Vertreters auf die Ausführung von Aufträgen des Oberpräsidenten beschränkt.53 Eine erneute Abänderung der Bezeichnung war deshalb notwendig, und im Februar 1921 erhielt Herbst die neue Amtsbezeichnung „Vertreter des Oberpräsidenten 49 Kommerzienrat Heumann (Inhaber der Waggonfabrik L. Steinfurt) gehörte zur DVP, Litten war in Königsberg im Getreideexport tätig. 50 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten, Nr. 1118, Herbst, 12.8.1921. 51 PreußGS, 1924, Nr. 12812, Verordnung zur Änderung des Gesetzes über die Handelskammern, 1.4.1924, S. 194. 52 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2055, Bl. 87 ff., OPV an OPO, 2.12.1924. 53 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, PreußMdI an PreußMP, 30.12.1920.
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von Ostpreußen“.54 Obwohl die Umbenennung den amtlichen Charakter des Berliner Vertreters hervorheben und seine Aufgaben und Zuständigkeiten klar zum Ausdruck bringen sollte, führte die neue Bezeichnung dazu, die Entfremdung der Konservativen sowie ihre Anlehnung an den Bevollmächtigten beim Reichsrat, Freiherr v. Gayl, zu befördern. Anläßlich der Aufstellung des Ostpreußenprogramms 1922 schlug Herbst deshalb vor, die Vertretung in „Ostpreußische Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium“ umzubenennen, um auf diesem Wege ihre Unparteilichkeit zum Ausdruck zu bringen.55 Die Preußische Regierung nahm diesen Antrag an, und die Stelle erhielt Ende März 1922 offiziell die von Herbst vorgeschlagene Bezeichnung.56 e) Die Entwicklung unter Friedrich Wilhelm Frankenbach (1922–30) aa) Frankenbachs Beteiligung an der Ostpreußischen Vertretung Friedrich Wilhelm Frankenbach war 1884 als Sohn eines Oberrealschuldirektors in Liegnitz / Schlesien geboren und evangelisch getauft. Von 1902 bis 1905 studierte er in München und Breslau Rechts- und Staatswissenschaft. Nach der ersten juristischen Prüfung am Oberlandesgericht Breslau wurde er Anfang 1906 zum Gerichtsreferendar ernannt und trat damit in den preußischen Justizdienst. Neben seinem Dienst in Liegnitz und Breslau studierte er weiter Finanzwissenschaft. Die Übernahme Frankenbachs in die allgemeine preußische Staatsverwaltung erfolgte im März 1907 mit seiner Ernennung zum Regierungsreferendar in Schleswig. Nach der großen Staatsprüfung wurde er im November 1910 zum Regierungsassessor beim Landratsamt in Wolmirstedt / Magdeburg ernannt. Der Gerichtsverwaltung galt jedoch nicht sein vornehmliches Interesse. Um eine Bankfachausbildung zu absolvieren, nahm er eine Beschäftigung in der Buchhalterei der Deutsch-Südamerikanischen Bank in Berlin an. Anschließend hielt er sich 1913 / 14 für ein Jahr zu Studien des Bankwesens in Paris und London auf. Nach der Heimkehr nach Deutschland wurde er im April 1914 als Vertretung an das Landratsamt in Lennep überwiesen. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs fungierte er als Regierungsassessor beim Landratsamt in 54 BA, R 3101 / 2513, PreußMP an Reichs- und Staatsminister, 15.2.1921. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 2, OPO an PreußMP, 25.2.1921. 55 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 54 f. (hier Bl. 57) sowie Bl. 67, Herbst, 19.2.1922. 56 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577, PreußMP, 17.3.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 1, PreußMP an OPV, 17.3.1922.
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches109
Schwetz (Regierungsbezirk Marienwerder). Während des Krieges wurde er nicht eingezogen, da er bereits 1904 ausgemustert worden war. Im Dezember 1915 überließ man Frankenbach die Vertretung des Landrats in Schwetz. Seine allgemein erwartete Bestellung zum Landrat wurde durch die bevorstehende Abtretung dieses Gebiets an Polen verhindert. Ende Februar 1919 wurde Frankenbach zum Regierungsrat ernannt und sollte in den Regierungsbezirk Stettin versetzt werden. Der Oberpräsident der Provinz Westpreußen urteilte über ihn: „Regierungsassessor Frankenbach ist ein ungewöhnlich tüchtiger Beamter, der es verstanden hat, sich eine in jeder Beziehung günstige Stellung und einen Einfluß im Kreise zu verschaffen, der bei den schwierigen nationalpolitischen Verhältnissen von besonderem Wert ist.“57 Diese Eigenschaft sollte er später in der Arbeit als Ostpreußischer Vertreter voll entfalten. Zwei Monate nach seiner Ernennung zum Regierungsrat beantragte er jedoch eine einjährige unbesoldete Beurlaubung zum Zwecke der Fortsetzung seiner kaufmännischen Ausbildung. Vom November 1919 bis Oktober 1920, also bis zu seinem Wechsel an die Ostpreußische Vertretung, war er bei drei verschiedenen privaten Firmen in Hamburg und Berlin tätig. Während dieser Zeit versuchte er gleichzeitig, an der Gründung eines privaten Handelsgeschäfts mitzuwirken, das durch den Verkauf von Restbeständen der Armee und aus öffentlichem Eigentum in Osterode / Ostpreußen hohen Gewinn abzuwerfen versprach, allerdings infolge der schwachen Konjunktur alsbald in Konkurs ging.58 Kurz vor der Beendigung seiner Beurlaubung traf Frankenbach im August 1920 in Berlin den damaligen Bevollmächtigten des Oberpräsidenten, Christian Herbst. Nachdem Herbst im Juni 1920 seine Arbeit in Berlin aufgenommen hatte, war offensichtlich geworden, daß die Aufgaben der Ostpreußenstelle auf Grund des enormen Arbeitsanfalls auf mehrere Schultern verteilt werden mußten. Im Oberpräsidium diskutierte man die Option, eine selbständige Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten gesondert von der Herbstschen Stelle zu schaffen. Die Persönlichkeit Frankenbachs und seine guten Finanzfachkenntnisse überzeugten Herbst davon, daß Frankenbach für diese neu einzurichtende Abteilung am besten geeignet sei. Anfang September 1920 stellte Herbst Frankenbach in Königsberg Oberpräsident Siehr vor. Die erste Begegnung hinterließ einen sehr positiven Eindruck. Siehr nahm Frankenbach zur gerade stattfindenden Wirtschaftsbesprechung im Oberpräsidium mit. Nach dem Abschluß der Sitzung teilte ihm der Oberpräsident im Vertrauen mit, daß er Frankenbach die Leitung der geplanten 57 BA, R 1501 PA (F. W. Frankenbach), Nr. 6372, Oberpräsident der Provinz Westpreußen, 26.4.1918. 58 BA, R 1501 PA (F. W. Frankenbach), Nr. 6372, Frankenbach an PreußMdI, 19.1.1922.
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Wirtschaftsstelle zu überlassen gedenke.59 Am 15. November nahm Frankenbach seine Tätigkeit in der Ostpreußischen Vertretung unter der Leitung von Herbst auf. Allerdings scheiterte die Gründung einer gesonderten Wirtschaftsabteilung an der Ablehnung der Zentralregierung. Die Arbeitsbereiche Herbsts dehnten sich schnell aus, weshalb noch im November der Verbleib des zunächst nur probeweise angestellten Frankenbach beschlossen wurde. Die lange Abwesenheit Herbsts während der Pariser Korridorverhandlungen rechtfertigte die Anstellung Frankenbachs als dessen Stellvertreter.60 Damit endete die seit dem November 1919 andauernde einjährige Beurlaubung des Regierungsrats Frankenbach. Seine Besoldung, die während des ersten Monats seiner Tätigkeit in der Ostpreußischen Vertretung noch eingestellt war, wurde somit ab 15. Dezember 1920 wiederhergestellt.61 Als Siehr Ende 1921 Herbst zum Vizepräsidenten (Oberpräsidialrat) im Oberpräsidium Königsberg berief, wurde die Berliner Vertretungsstelle Anfang 1922 Regierungsrat Frankenbach überlassen. Trotz Siehrs Stabilisierungsbestrebungen blieb die Ostpreußische Vertretung in Berlin stets von der Aufhebung bedroht. Nicht nur die DNVP, sondern auch das preußische Finanzministerium stand der Vertretung skeptisch gegenüber. Angesichts des sehr eingeschränkten Haushalts Preußens in den Jahren 1920 / 21 sah sich Finanzminister Friedrich Saemisch dazu genötigt, die Etatisierungsanträge abzulehnen. Er vertrat die radikale Lösung, die Vertretung aufzulösen und ihre Aufgaben dem Bevollmächtigten Ostpreußens beim Reichsrat, deutschnationalen Abgeordneten Freiherrn v. Gayl, zu übertragen.62 Als Saemischs Nachfolger Ernst v. Richter (DVP) Ende 1923 aus Kostengründen abermals die Auflösung der Vertretung beantragte,63 boten die ostpreußischen Handelskammern an, die Gehaltskosten der Sekretärin sowie eines Teils der Bürokosten zu übernehmen. Gleichzeitig forderten sie, daß Frankenbach in eine höhere Beamtenklasse eingestuft werden solle, um so seine Stellung gegenüber Gayl zu stärken.64 Tatsächlich erfolgte Frankenbachs Ernennung zum Oberregierungsrat Anfang 1924. Die Bü59 BA, R 1501 PA (F. W. Frankenbach), Nr. 6372, Frankenbach an PreußMdI, 4.10.1920. 60 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1098, OPO Siehr an AA, 12.11.1920. 61 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, OPO Siehr an PreußMdI, 21.12.1920. BA, R 1501 PA, Nr. 6372, Frankenbach an PreußMdI, 19.1.1922. 62 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577, Bl. 165, PreußFM an PreußMP, 19.7.1921. 63 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 4, OPV an OPO, 3.12.1923. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577, OPV an OPO, 7.12.1923. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577, PreußFM an OPO, 12.2.1924. 64 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 4, Niederschrift, Frankenbach, 19.12.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 4, Frankenbach an OPO, 7.12.1923.
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rokosten der Vertretung wurden erst ab dem 1. April 1929 vom preußischen Staatsministerium übernommen.65 Als der Oberpräsident den Wunsch äußerte, anläßlich des Ostpreußenprogramms vom April 1922 seine Vertretung in Berlin um einen Wirtschaftsreferenten zu ergänzen, widersprachen dem das preußische Handelsministerium sowie das Volkswohlfahrtsministerium. Beide Ministerien argwöhnten, daß die Erweiterung der Vertretung die Autonomiestellung Ostpreußens fördern könne.66 Dieser Verdacht war allerdings völlig unbegründet. Letzten Endes wurde die Stelle des Ostpreußischen Vertreters aus politischen Gründen beibehalten. Ministerpräsident Braun stellte sich den Bestrebungen der DNVP entgegen: „Ferner würde eine solche Ostpreußenvertretung [d. h. durch den deutschnationalen Bevollmächtigten beim Reichsrat] vom Standpunkt der Aufrechterhaltung des preußischen Einheitsstaates viel bedenklicher sein als die jetzt vorhandene unter dem Einfluß der Regierung und des Oberpräsidenten stehende Ostpreußenstelle.“67 Die Ostpreußische Vertretung erhielt im Hinblick auf ihren vorläufigen Charakter (sie sollte nach der Beseitigung der durch den Versailler Vertrag entstandenen Notlage wieder aufgelöst werden) bis zu ihrer Aufhebung 1933 keine eigene Etatposition im preußischen Haushalt.68 Während des 13jährigen Bestehens der Vertretung (von Juni 1920 bis Juni 1933)69 amtierte Frankenbach von Ende 1921 bis August 1930, also über acht Jahre lang als ihr Leiter.
65 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 1, OPV an IHK Elbing, Tilsit, Königsberg, 13.5.1929. 66 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 19384, PreußHM an sämtliche übrige preußische Ressorts, 1.4.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CIX 2, Nr. 45, Bd. 3, Bl. 229, PreußMfV an PreußMP, 8.4.1922. 67 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, PreußMP an PreußMdI, 2.5.1922. 68 Frankenbach wurde zunächst eine Stelle im Finanzministerium, später im Innenministerium zugewiesen. Die Bürokosten wurden, abgesehen von den oben genannten Zuschüssen durch die Handelskammern in der Zeit von 1924 bis 1929, aus dem Etat des Staatsministeriums bestritten. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, PreußMdI an Frankenbach, 12.4.1926. Hertz-Eichenrode (1969), S. 45. 69 Aus an die Vertretung adressierten Schriftstücken läßt sich schließen, daß die Ostpreußische Vertretung in Berlin bis Ende Juni 1933 bestehen blieb und erst unter dem nationalsozialistischen Oberpräsidenten Erich Koch endgültig aufgelöst wurde. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1123, RMdI an Vertretung Ostpreußens beim preußischen Staatsministerium, 24.6.1933.
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bb) Die Tätigkeit in den äußeren Angelegenheiten Die Tätigkeit der Ostpreußischen Vertretung unter Frankenbach wurde dadurch gekennzeichnet, daß er sich bis zum Beginn der Kreditstützungsmaßnahmen (Ostpreußenhilfe) von 1928 vorzüglich um die Beziehungen zu den Oststaaten (Polen, Litauen, die UdSSR, Lettland) bemühte.70 Dies geschah in enger Fühlung mit Siehr und Herbst. Auf Wunsch des Oberpräsidenten wurde Frankenbach wiederholt zu den Vertragsverhandlungen Deutschlands mit Litauen bzw. Polen beigezogen. Er gewann hier schnell das Vertrauen des Auswärtigen Amts, das seine ständige Beteiligung an der deutschen Delegation als unerläßlich erachtete. Frankenbach vermittelte zwischen den ostpreußischen Handelskammern, dem Oberpräsidenten und dem Auswärtigen Amt. Ihm wurde der Zugang zum Auswärtigen Amt und die Kontaktaufnahme mit den Zuständigen zugesichert.71 Unmittelbar nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom Oktober 1925 trat Frankenbach außerdem auf Wunsch der Königsberger Wirtschaftskreise dem Präsidium des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten e. V. Königsberg Pr. bei.72 Das Institut war im Jahr 1921 vom Magistrat und der Handelskammer ergänzend zur Königsberger Ostmesse zum Zwecke der Förderung des Osthandels gegründet worden. Frankenbach gelang der Aufbau enger Beziehungen zu den Regierungen der Oststaaten, insbesondere zu den wirtschaftlichen und politischen Organen der UdSSR. Das Präsidium des Wirtschaftsinstituts wurde seit 1925 durch Vertreter der maßgebenden Wirtschaftskreise des Reichs erweitert. Allerdings erhob Ministerpräsident Braun zunächst Einwände gegen Frankenbachs Beitritt. Er stimmte nur unter der Voraussetzung zu, daß dessen Mitwirkung lediglich privaten Charakter haben solle.73 Diese letztlich unwesentliche Einschränkung wurde später wieder aufgehoben.74 70 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, Abschrift, Frankenbach an PreußMP, 8.4.1925. Frankenbach erklärte: „Diese Tätigkeit bedingt die dauernde Vornahme von Besuchen in den Reichs- und Staatsministerien, sowie die Teilnahme an einer ganzen Reihe von Sitzungen und an den Vertragsverhandlungen mit den Oststaaten, bisher mit Rußland, Polen, Litauen und Lettland. Besonders die Angelegenheiten Danzigs und des Memelgebiets haben einen großen Teil meiner Arbeit in den letzten Jahren in Anspruch genommen.“ 71 Durch den Kabinettsbeschluß über die Leitsätze des Ostpreußenprogramms von 1922 wurde die Mitwirkung des ostpreußischen Oberpräsidenten an den Verhandlungen mit den Oststaaten, vor allem die Beteiligung des Ostpreußischen Vertreters, durch das Auswärtige Amt angenommen. PA AA, R 81487, handschriftlicher Entwurf vom AA an RMdI, 31.12.1922. 72 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, OPV an PreußMP, 26.8.1925. 73 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, PreußMP Braun an Frankenbach, 23.10.1925.
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Anläßlich der Einleitung der Ostpreußenhilfe beschloß Reichsinnenminister Walter v. Keudell (DNVP) Ende 1927, eine neu einzurichtende Ostverwaltungsstelle mit der Durchführung der Hilfsmaßnahmen zu beauftragen. Da sich diese Stelle auch der Wahrnehmung der Interessen Ostpreußens in Berlin annehmen sollte, war die Daseinsberechtigung der Ostpreußischen Vertretung erneut in Frage gestellt. Zudem verlangte die DNVP-Fraktion energisch, die Berliner Vertretung des Oberpräsidenten durch die neue Ostverwaltungsstelle des Reichsinnenministeriums abzulösen. Unter diesen Umständen forderten Siehr, Herbst und Frankenbach, die neue Stelle beim Reichsinnenministerium lediglich mit der Durchführung der Ostpreußenhilfe zu beauftragen, den Berliner Vertreter hingegen zum Sonderkommissar Ostpreußens zu ernennen, dessen Aufgabe sich vorzüglich auf die auswärtigen Angelegenheiten der Provinz richten sollte.75 Die preußische Regierung wies dieses Ansinnen zwar zurück, zeigte jedoch Verständnis für den Wunsch des Oberpräsidenten, die Ostpreußische Vertretung trotz der Gründung der Ostverwaltungsstelle des Reichsinnenministeriums weiter zu behalten und Frankenbach in eine höhere Beamtenklasse einzustufen. Durch die Ernennung Frankenbachs zum Ministerialrat im Frühling 192876 wurde er gegenüber der von der DNVP übernommenen Ostverwaltungsstelle gestärkt. 74
Im August 1930 wurde Frankenbach aus der Ostpreußischen Vertretung abberufen und zum Leiter der Reichslandstelle der Osthilfe ernannt. Oberregierungsrat Herbert Weichmann, der von Ministerpräsident Braun mit der Nachfolge betraut wurde, übte die Tätigkeit als Ostpreußischer Vertreter in Berlin lediglich nebenamtlich aus und widmete sich nur noch eingeschränkt den auswärtigen Angelegenheiten. In den Jahren 1929 / 30, also gegen Ende der Amtszeit Frankenbachs, waren insbesondere die Verhandlungen mit Litauen auf Schwierigkeiten gestoßen, die sich aus der irreführenden Handhabung der Ausführungsbestimmung zum Grenzverkehrsabkommen durch die örtlichen Behörden Ostpreußens ergaben.77 Dies veranlaßte die preußische Regierung dazu, die Tätigkeit des Ostpreußischen Vertreters in auswärtigen 74 In der Liste der Präsidiumsmitglieder wurde Frankenbach offiziell mit dem Amtstitel „Ministerialrat Friedrich Wilhelm Frankenbach, Ostpreußische Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium Berlin“ geführt. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2078, Bl. 28 f. Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten e. V. Königsberg Pr. Präsidium. 75 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 169, Heft 2, OPO an PreußMP, 19.10.1927, sowie Anlage. Dieser Antrag wurde ursprünglich von Frankenbach und Herbst ausgearbeitet. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 169, Heft 2, Frankenbach an Herbst, 15.10.1927. 76 BA, R 1501 PA (F. W. Frankenbach), Nr. 6372, PreußMP an sämtliche Staatsminister, 31.3.1928. 77 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7, PreußMdI an AA, 28.5.1930.
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1. Teil: Ostpreußen
Angelegenheiten einzuschränken. Die engen Beziehungen zwischen dem Ostpreußischen Vertreter und den Handelskammern, die insbesondere unter Herbst und Frankenbach aufgebaut worden waren, wurden zwangsläufig vernachlässigt.78 Braun hatte der Tätigkeit Frankenbachs, der kein Diplomat, sondern preußischer Beamter war, von vornherein skeptisch gegenübergestanden. Schon unmittelbar nach dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags von 1925 hatte Braun Bedenken geäußert, daß die Teilnahme Frankenbachs an den Verhandlungen mit den Oststaaten dort den falschen Eindruck erwecken könne, als ob die Provinz Ostpreußen neben dem Auswärtigen Amt die Reichsgewalt in den Beziehungen zu den auswärtigen Staaten vertreten dürfe. Daher hielt es das Staatsministerium für angebracht, daß Frankenbach von seiner Teilnahme an der bevorstehenden Wiederaufnahme der deutsch-litauischen Verhandlungen vom November 1925 Abstand nehmen solle.79 Das Auswärtige Amt betrachtete allerdings die Mitwirkung Frankenbachs als unentbehrlich. 1927 wurde er offiziell zum Mitglied der vom Auswärtigen Amt geleiteten deutschen Delegation zur deutsch-litaui schen Verhandlungen über den zweiten Handelsvertrag berufen.80 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger sah es Weichmann nicht als seine Aufgabe an, die Kontakte Ostpreußens zu den Oststaaten und der UdSSR weiter zu pflegen. Die gut entwickelten Beziehungen des ostpreußischen Oberpräsidenten zu den sowjetischen Behörden kühlten sich daraufhin Anfang der 30er Jahre schnell ab. Dies ging nicht allein auf die Außenpolitik unter Brüning zurück, der auf die endgültige Erledigung der Reparationsfrage größten Wert legte und die Pflege der Beziehungen zur Sowjetregierung vernachlässigte. Auf die sowjetisch-ostpreußischen Beziehungen hatte somit der Personalwechsel in der Ostpreußischen Vertretung starke Auswirkungen. Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme im Oktober 1930 trat Weichmann eine Rußlandreise an, die in ihm lediglich Abscheu angesichts der Rückständigkeit Rußlands und Haß auf das Sowjetsystem erweckte. Sein Reisebericht stand im schärfsten Kontrast zu dem des Oberpräsidenten aus dem 78 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 123, IHK Tilsit, 2.10.1930. Anläßlich des Personalwechsels versuchte der Präsident der IHK Tilsit einen Besprechungstermin mit dem neuen Ostpreußischen Vertreter zu bekommen und schrieb diesem: „Wir hoffen, daß die angenehmen Beziehungen, die uns mit der Ostpreußischen Vertretung während der Amtstätigkeit Ihres Vorgängers Herrn Ministerialrat Frankenbach verbunden haben, auch während Ihrer Amtsdauer bestehen bleiben werden.“ Dies führte aber im Gegenteil dazu, daß das Staatsministerium den Oberpräsidenten darauf aufmerksam machte, daß die IHK nicht mehr wie bisher unmittelbar die Ostpreußische Vertretung aufsuchen dürfe, sondern daß ihre Anliegen durch den Oberpräsidenten an die Berliner Vertretung weitergeleitet werden müßten. 79 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, PreußStM, Vermerk, 7.11.1925. 80 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, AA, Aktennotiz über die Ergebnisse der Ressortbesprechung im Auswärtigen Amt, 24.3.1927.
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches115
voraufgegangenen Jahr, in dem Siehr die Schönheit Rußlands mit Begeisterung geschildert und seine Dankbarkeit für den warmherzigen Empfang seitens der Sowjetregierung zum Ausdruck gebracht hatte.81 3. Die Bemühungen der DNVP um den Austritt Ostpreußens aus dem Land Preußen a) Die Vorbereitung einer Reichsreform Die Weimarer Reichsverfassung sah in vielfältiger Weise die Zentralisierung der Staatsgewalt beim Reich vor. Obwohl die Autoren der Verfassung, insbesondere Reichsinnenminister Hugo Preuß (DDP), unitarisch orientiert waren, kam es aber nicht zum Aufgehen Preußens im Reich.82 Die Möglichkeit, den Hegemonialstaat Preußen im Reich künftig aufzuteilen und auf Basis etwa gleich großer Bundesländer einen starken deutschen Einheitsstaat zu schaffen, wurde in Artikel 18 der Weimarer Reichsverfassung dadurch zum Ausdruck gebracht, daß den Ländern das Recht zustand, sich mit Zustimmung ihrer Bevölkerung zusammenzuschließen oder aufzuteilen.83 Hinsichtlich der künftigen Revision des Reich-Länder-Verhältnisses wurde außerdem in der verfassungsgebenden Nationalversammlung beschlossen, eine Zentralstelle für die Gliederung des Deutschen Reichs beim Reichsministerium des Innern einzurichten.84 Die Zentralstelle wurde 1920 zunächst als ein Ausschuß einberufen, dem sieben Vertreter des Reichstags, ebenso 81 BA, R 43 I / 139, Bl. 104 ff., Weichmanns Reisebericht. Seine Reise dauerte ca. 6 Wochen. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 135 ff. Bericht über die Reise nach Rußland, OPO, 12.5.1929. 82 Zur Frage der Reich-Länderreform in der Weimarer Republik siehe vor allem G. Schulz, Bd. I (1963), Eimers (1969), Ehni (1975), Ludwig Biewer: Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik. Fragen zur Funktionalreform und zur Neugliederung im Südwestern des Deutschen Reiches, Frankfurt am Main 1980. Siehe auch Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, hg. v. Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl, Georg-Christoph von Unruh, Stuttgart 1985. Über die vom Dualismus von Reich und Preußen ausgehenden Gesellschaftsprobleme in den ersten Jahren der Weimarer Republik siehe Friedrich Meinecke: Das preußisch-deutsche Problem im Jahre 1921, in: Friedrich Meinecke Werke, Bd. 5: Weltbürgertum und Nationalstaat, hg. v. Hans Herzfeld, München 1962, S. 455–465. 83 Hugo Preuß: Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches. Aus dem Nachlaß des Verfassers, hg. v. Gerhard Anschütz, Berlin 1928, S. 154 f. 84 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 253a, Nr. 45, Bd. 1, RMdI an die Mitglieder des 8. Ausschusses des Reichsrats, 22.1.1920. Vgl. Biewer (1980), S. 53 f., sowie Günther Gillessen: Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik, Berlin 2000, S. 160 f.
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1. Teil: Ostpreußen
viele Vertreter des Reichsrats sowie ca. 19 weitere vom Reichsinnenminister bestellte Mitglieder aus Verwaltung, Wirtschaft und Politik angehörten. Den Vorsitz hatte Staatssekretär a. D. Siegfried Graf v. Roedern inne, den stellvertretenden Vorsitz Bill Drews, der 1917 zum preußischen Staatskommissar für die Vorbereitung der Verwaltungsreform ernannt worden war. Die Gründung der Zentralstelle erfolgte unter dem damaligen Reichsinnenminister Koch-Weser (DDP). Dieser gehörte zwar wie Preuß zu den Unitariern, seine Vorstellung von einem deutschen Einheitsstaat85 unterschied sich aber deutlich von Preuß’ Standpunkt,86 vor allem dadurch, daß Koch-Weser zunächst eine Zerschlagung Preußens ablehnte.87 Die Zentralstelle beim Reichsinnenministerium wurde damit beauftragt, ein Gutachten über die mögliche Neugliederung des Reichs abzugeben. Die Klärung der preußischen Frage, also die mögliche Aufteilung Preußens sowie die Angliederung kleinerer Staaten an Preußen, stand im Mittelpunkt. Die Bestellung regionaler Vertreter zur Zentralstelle stieß deshalb auf Schwierigkeiten, denn die Aufteilung Preußens durch die Schaffung kleinerer Reichsländer wurde gerade in Ostpreußen von seiten der Konservativen gewünscht. Das Reichsinnenministerium schlug im August 1920 vor, Oberpräsident a. D. Batocki zum Mitglied der Zentralstelle zu ernennen.88 Ba tocki war weiterhin der Auffassung, daß ein Ost-Land gegründet werden müsse, das vom politischen Milieu Berlins unabhängig sein solle. Sein „Konsolidierungsplan“ sah vor, Preußen in kleinere Reichsländer aufzuteilen, wobei das altpreußische Gebiet (Ost- und Westpreußen) eines dieser Länder mit eigener Regierung sein würde. Insofern stimmte sein Vorschlag mit dem von Preuß überein. Batocki erkannte in dieser Lösung politische Vorteile für die Mehrheitsparteien in seiner Heimatprovinz, denn in einem künftigen Reichsland Altpreußen würden die Konservativen dominieren. Zugleich sollte das Reichsland von der bisherigen preußischen Staatsverwaltung in der Provinz, an deren Spitze der von der Berliner Zentrale eingesetzte Oberpräsident stand, endgültig unabhängig werden. Batockis Plan erregte bei den Republikanern Argwohn gegen die Reaktion der ostpreußischen Konservativen. Umgehend machte Siehr Koch-Weser den 85 Erich Koch-Weser: Einheitsstaat und Selbstverwaltung, Berlin-Zehlendorf [1928]. 86 Über die Problematik der preußischen Großmacht siehe Hugo Preuß: Der deutsche Nationalstaat, Frankfurt am Main 1924. 87 Abdruck der Denkschrift Kochs über den Übergang zum Einheitsstaat vom 12.1.1920 in: Eimers (1969), S. 437 ff. Vgl. auch Kommunalpolitik im Ersten Weltkrieg. Die Tagebücher Erich Koch-Wesers 1914 bis 1918, hg. v. Walter Mühlhausen und Gerhard Papke, München 1999 (hier Einleitung, S. 15 f.). 88 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1580, Bl. 112, Telegramm, Herbst an OPO Siehr, 6.8.1920.
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Gegenvorschlag, anstelle von Batocki seinen Berliner Bevollmächtigten Herbst als Vertreter der Ostprovinzen zur Zentralstelle zu entsenden. Aus innenpolitischen Gründen traten Siehr und Herbst dafür ein, daß Ostpreußen unter der Kontrolle der preußischen Regierung bleiben solle. Daher widersprach Siehr allen Versuchen, die Provinz aus dem Verwaltungssystem Preußens loszulösen, und versuchte eine Entscheidung im Sinne des BatockiPlans zu verhindern. Dennoch wurde auf Wunsch des Reichsinnenministeriums die Ernennung Batockis zum Mitglied der Zentralstelle durchgesetzt.89 Im Gegensatz zu den anfänglichen Erwartungen, die in der Zeit der Nationalversammlung gehegt worden waren, blieb die Arbeit der Zentralstelle schließlich ohne nennenswertes Ergebnis. Die Diskussion um eine Neugliederung der Länder kühlte sich Anfang 1923 schnell ab, als das Ruhrgebiet durch Frankreich besetzt wurde. Auch ließen sich die innerhalb der unitarischen Fraktion bestehenden Diskrepanzen nicht überwinden. Auf der einen Seite zielten Theoretiker wie Preuß auf die Zerschlagung Preußens ab, auf der anderen Seite verfolgten Realisten wie Koch-Weser das Vorhaben, eine Realunion zwischen Reich und Preußen zustande zu bringen. Unter diesen Umständen entschloß sich der Reichsminister des Innern 1923 dazu, die Tätigkeit der Zentralstelle zunächst ruhen zu lassen. Ihre Arbeit wurde nicht wieder aufgenommen. Erst Ende 1927 kam die Frage der Konsolidierung des Reich-Länder-Verhältnisses auf der Länderkonferenz von neuem auf die Tagesordnung. Daraufhin entschloß sich Reichskanzler Marx Anfang 1928, einen Verfassungsausschuß der Länderkonferenz zur Prüfung der Neugestaltung der Länder und zur Ausarbeitung eines Gutachtens einzuberufen. Die alte Zentralstelle, die nie offiziell aufgehoben worden war, wurde hiermit überflüssig und daher aufgelöst.90 b) Die Erweiterung der Selbständigkeitsrechte der Provinzen in Preußen Nach dem Waffenstillstand vom November 1918 entstanden in mehreren Teilen Deutschlands separatistische Bewegungen, die auf die territoriale und politische Loslösung aus dem Reich abzielten. Nachdem diese erfolgreich abgewehrt waren, sah sich die Zentralregierung veranlaßt, die Forderungen der betreffenden Regionen nicht einfach zurückzuweisen, sondern ihnen mit Kompromißvorschlägen zur Erweiterung der Selbständigkeitsrechte entge89 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 235a, Nr. 45, Bd. 1, OPO Siehr an PreußMdI, 9.8.1920. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1580, Bl. 112, Telegramm Herbst an OPO Siehr, 6.8.1920. 90 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 253a, Nr. 45, Bd. 1, RMdI an Mitglieder der Zentralstelle für die Gliederung des Deutschen Reiches, 4.1.1929.
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1. Teil: Ostpreußen
genzutreten. Damit sollte die Zerreißung des Deutschen Reichs bzw. Preußens verhindert werden.91 Unter den Reformvorschlägen für das künftige Verhältnis zwischen der preußischen Zentralverwaltung und den Provinzen nahm jener des vormaligen Innenministers des königlichen Preußen, Bill Drews, eine besondere Stellung ein. Drews hielt es für zweckmäßig, Zuständigkeiten auf die nachgeordneten Staatsbehörden sowie auf die Selbstverwaltung zu verlagern. Ebenso wie Koch-Weser war er gegen eine Zerschlagung Preußens, da er in einer möglichen Aufteilung Preußens den Auftakt zur Zerstörung der Einheit des Deutschen Reichs sah. Die Beibehaltung dieser Einheit und zugleich eine möglichst weitgehende Dezentralisierung, also die Erweiterung der Selbstverwaltungsrechte, war der Kern von Drews’ Verwaltungsreformvorhaben. Dieses ging deshalb prinzipiell mit Koch-Wesers Reformvorschlägen konform.92 Drews sah zwei Maßnahmen vor: 1. die Dezentralisation, also die Stärkung der Zuständigkeiten der Selbstverwaltungskörper, und 2. die Dekonzentration, also die Entlastung der Zentral- und Mittelinstanzen zugunsten der nachgeordneten Stellen. Diese Reformgedanken hatte Drews bereits 1917 / 19 entwickelt,93 zu einem Zeitpunkt, als sie sich noch auf die Grundlagen des alten Staatswesens stützten. Nun brachte er sie in Einklang mit der neuen Verfassung. Drews forderte die Erweiterung der Selbständigkeit der Provinzen durch die Übertragung der Exekutivgewalt von den Staatsbehörden in den Provinzen auf die Selbstverwaltungskörper (exekutive Autonomie) sowie die Übertragung gesetzgeberischer Kompetenzen in den Angelegenheiten von rein regionalem Interesse auf die Provinziallandtage (legislatorische Autonomie). Diese Vorschläge, die Drews 1920 in zwei Denkschriften öffentlich machte,94 bezogen sich im wesentlichen auf die neue preußische Landesverfassung. Ihr Artikel 72 eröffnete den Weg für eine autonome Stellung der preußischen Provinzen. Artikel 72 Absatz 2 sah den Erlaß eines Gesetzes vor, das den Kreis der den Provinzen übertragenen Selbstverwaltungsangelegenheiten erweitern und ihnen die Erledigung weiterer Aufträge zugestehen sollte.95 Erklärtes Ziel von Drews’ Nachkriegsdenkschriften war es, 91 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 253a, Nr. 44, Bd. 1, Staatskommissar für die Vorbereitung der Verwaltungsreform, Drews an das PreußStM, 7.5.1920. 92 G. Schulz, Bd. I (1963), S. 258 ff.; Biewer (1980), S. 49 ff. 93 Bill Drews: Grundzüge einer Verwaltungsreform, Berlin 1919. Hinsichtlich der Mittelinstanz vertrat Drews in dieser Schrift ausdrücklich den Standpunkt, die Regierungspräsidenten abzuschaffen und die Stellung der Oberpräsidenten zu stärken. 94 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1564, Bd. 8, Denkschrift des Staatskommissars für Vorbereitung der Verwaltungsreform Bill Drews vom 27. Januar 1920, sowie Denkschrift vom 6. September 1920. 95 Groeben (1993), S. 236 ff. Bitter: Handwörterbücher der preußischen Verwaltung, hg. v. Bill Drews u. Franz Hoffmann, 3. Aufl., Berlin und Leipzig 1928, S. 213 ff.
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unter Aufrechterhaltung der Einheit Preußens einen deutschen, und zwar demokratisierten Einheitsstaat zu schaffen. Drews sprach ausdrücklich von einem „klare[n] Übergang vom zentralisierten und konzentrierten Obrigkeitsstaat zum dezentralisierten und dekonzentrierten Selbstverwaltungs staat“.96 In diesem Sinne sollte den separatistischen Bestrebungen durch die Übertragung weitgehender Selbständigkeit auf die Selbstverwaltungskörper vorgebeugt werden. Drews warnte: „Lehnt die Staatsregierung es bei dieser Gelegenheit ab, die Provinzen rechtzeitig durch Gewährung weitgehender Autonomie als Glieder des Preußischen Staates zu erhalten […], so ist eine auf völlige Lostrennung von Preußen zielende Bewegung, die sich im August 1921 in die Tat umsetzen würde, nicht mehr aufzuhalten.“97 Da Drews jedoch die Übertragung von Kompetenzen der Oberpräsidenten auf die Selbstverwaltungskörper sowie die Übertragung bestimmter gesetzgeberischer Kompetenzen auf die Provinziallandtage vorsah, stießen seine Denkschriften im Kreise der preußischen Oberpräsidenten auf kein positives Echo. Die Oberpräsidenten vertraten einstimmig den Standpunkt, daß den Separationsbestrebungen nicht durch die Übertragung von Befugnissen der Staatsverwaltung auf die Provinzialverbände begegnet werden könne. Eine weitgehende Kommunalisierung könne im Gegenteil den regionalen Separatismus fördern.98 Obwohl die Erweiterung der Selbständigkeitsrechte der Kommunen nach Ansicht von Drews mit der Demokratisierung im Einklang stand, stieß auch dieser Vorschlag auf die Ablehnung der preußischen Oberpräsidenten, insbesondere des republikanischen Oberpräsidenten von Ostpreußen. Siehr war der Auffassung, daß die besondere Lage seiner Provinz, die durch den polnischen Korridor vom übrigen Reichsgebiet abgetrennt war, die Stärkung und Zentralisierung aller Staatsgewalt in der Provinz nötig mache. Hierfür kam nur die oberste Staatsbehörde der Provinz, also der Oberpräsident, in Betracht. Drews’ Reformvorschläge hätten durch die Übertragung der Befugnisse der Staatsverwaltung auf die Selbstverwaltung gerade das Gegenteil bewirkt.99 Neben der außenpolitisch bedingten Sonderlage führte Siehr zur Unterstützung seiner Position auch die innenpolitischen Verhältnisse in der Provinz an. Eine weitgehende Kommunalisierung könne in Ostpreußen, wo die Konservativen 96 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1564, Bd. 8, Staatskommissar für Vorbereitung der Verwaltungsreform an PreußStM, 6.9.1920. 97 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 253a, Nr. 44, Bd. 1, Staatskommissar für die Vorbereitung der Verwaltungsreform, Drews an das PreußStM, 7.5.1920. 98 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1564, Bd. 8, Denkschrift der Oberpräsidenten und der Landeshauptleute gegen die beabsichtigte Erweiterung der Provinzialautonomie, 15.11.1920. 99 GStA PK, XX. HA. Rep. 2II, Nr. 1564, Bd. 8, OPO Siehr an Staatskommissar für die Vorbereitung der Verwaltungsreform, Handschrift, 28.10.1920.
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besonders stark waren, nicht zur gewünschten Demokratisierung führen. Die Stärkung der Provinzialselbstverwaltung Ostpreußens, an der die DNVP federführend beteiligt war, würde im Gegenteil zur Folge haben, die Durchführung der Politik der republikanischen Staatsregierung auf Provinzialebene unmöglich zu machen.100 Siehr lehnte daher die Vorschläge von Drews ab und verlangte vielmehr, „daß die Befugnisse des Ersten Staatsbeamten der Provinz nicht ohne zwingende Notwendigkeit eingeschränkt, sondern eher noch erweitert werden.“101 Anfang 1921 legte das preußische Ministerium des Innern gemäß der neuen Landesverfassung einen Gesetzentwurf betreffend die Erweiterung der Selbständigkeitsrechte der Provinzen vor, der sich in vielen Punkten auf die Gedanken Drews’ bezog.102 Das Ministerium forderte die Provinziallandtage zur Begutachtung des Entwurfs auf. Dem Provinziallandtag von Ostpreußen wurden daraufhin im Juli 1920 zwei Gutachten vorgelegt, die der Regierungspräsident von Allenstein, v. Oppen (DVP), und der Bürgermeister von Tilsit, Krell (SPD), verfaßt hatten.103 Bemerkenswerterweise lehnten beide Gutachter trotz ihrer gegensätzlichen politischen Einstellung den Gesetzentwurf ab. Sie vertraten einstimmig die Auffassung, daß die Erweiterung der Selbständigkeitsrechte im Sinne Drews’ lediglich die zentrifugalen Tendenzen in Preußen stärken und dessen Zerschlagung in kleinere Reichsprovinzen zur Folge haben müsse. Krell setzte Drews’ Reformvorschlag mit dem von Batocki gleich. Hingegen war Oppen, der selbst am Oststaatsplan beteiligt gewesen war, offenbar bemüht, jeden Verdacht der Zentralregierung gegen den ostpreußischen Separatismus durch seine ablehnende Haltung dem Gesetzentwurf gegenüber abzuweisen. Trotz seiner prinzipiellen Ablehnung befürwortete Oppen dennoch folgende Punkte: 1. Die Beibehaltung der Mitwirkung der Selbstverwaltung an der Bestellung der höheren Staatsbeamten in den Provinzen, vor allem der Ober- und Regierungspräsidenten. Dies war zum ersten Mal in der neuen preußischen Verfassung gesichert. 2. Die Entpolitisierung und Kommunalisierung der preußischen Landratsämter, wo nach dem Kapp-Putsch in mehreren Kreisen Ostpreußens im Sinne der Demokratisierung der Verwaltung Umbesetzungen erfolgt waren. Hier traten die divergierenden politischen Interessen zwischen den Konservativen und dem republikanischen Oberpräsidenten deutlich zutage. Die Mehrheitsparteien der Provinzialselbstverwaltung, also 100 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1564, OPO Siehr, 3.8.1921. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1564, Bd. 8, Konzept, OPO an PreußMdI, 14.8.1922. 101 GStA PK, XX. HA. Rep. 2II, Nr. 1564, Bd. 8, OPO Siehr an Staatskommissar für die Vorbereitung der Verwaltungsreform, Handschrift, 28.10.1920. 102 ProvLT Ostpreußen, Bd. 47 (1921), Drucksache 105. PreußMdI, Entwurf eines Gesetzes über die Erweiterung der Selbständigkeitsrechte der Provinzen. 103 Ebd. dessen Vorlage.
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die DNVP und DVP, hielten es für zweckmäßig, sowohl die Bestellung des Oberpräsidenten als auch der Landräte von ihrer Entschließung abhängig zu machen und soweit wie möglich den Einfluß der Zentralregierung auszuschalten. Natürlich stießen gerade diese Punkte der Reformvorschläge von Drews bei den Oberpräsidenten auf Gegenwehr.104 In der 47. Sitzung des Provinziallandtags vom Juli 1920 faßte man den Beschluß, im Sinne der beiden Gutachten den Gesetzentwurf des Innenministeriums abzulehnen. Die Erweiterung der Selbstverwaltungsrechte kam unter diesen Umständen lediglich in beschränktem Maße zustande.105 c) Die Autonomiebestrebungen Ende 1922 Der Wunsch der Konservativen, Ostpreußen aus dem Verwaltungssystem des Landes Preußen und damit aus dessen politischer Kontrolle zu lösen, ließ sich durch die kleinen Zugeständnisse hinsichtlich der Erweiterung der Selbstverwaltungsrechte nicht erfüllen. Daß sie das Aufgehen Preußens im Reich guthießen, war ein klares Mißtrauensvotum der ostpreußischen Konservativen gegen die republikanische Regierung in Berlin. Als sich die Republik mit gewalttätigen Aktionen der Rechtsextremisten konfrontiert sah – im Juni 1922 wurde Außenminister Walther Rathenau durch rechtsradikale Attentäter ermordet –, erließ die Reichsregierung die Verordnung über den Schutz der Republik, die sich gegen die republikfeindlichen Aktivitäten der Rechts- und Linksextremisten richtete. Sie wurde später durch das Republikschutzgesetz abgelöst.106 Die Säuberungsmaßnahmen im Verwaltungsapparat, die nach dem Kapp-Pusch durchgeführt worden waren, sollten wiederaufgenommen und republikfeindliche Funktionäre endgültig aus der preußischen Verwaltung entfernt werden. Obwohl die Sozialdemokraten bei den Wahlen zur Nationalversammlung vom Januar 1919 auch in Ostpreußen einen großen Sieg erzielt hatten, fielen die politischen Verhältnisse in den ländlichen Gebieten schnell in den alten Zustand zurück. Die revolutionäre Begeisterung kühlte sich in Ostpreußen schnell ab, und bei den ersten Provinziallandtagswahlen nach der Niederwerfung des Kapp-Putsches erhielten die Rechtsparteien die Mehrheit. Die Abkehr der Landbevölkerung von den republikanischen Parteien wurde auch dadurch veranlaßt, daß die Berliner Regierung gegen den heftigen Widerstand der ostpreußischen Agrarier die 104 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1564, Bd. 8, Bericht von Oppen betr. Abgabe eines Gutachtens über das sogenannte Autonomiegesetz. Gutachten von Krell betr. Gesetzentwurf über die Erweiterung der Selbständigkeitsrechte der Provinzen. 105 Groeben (1993), S. 238. 106 Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922–1930, Tübingen 1963. Siehe auch Huber, Bd. VII (1984), S. 250 ff.
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Beibehaltung der Zwangswirtschaft durchsetzte. Die Agrarier forderten die sofortige Aufhebung der staatlichen Getreidelieferungspflicht, da der staatliche Ankaufspreis sehr niedrig fixiert war. Unter diesen Umständen hatte die Amtsenthebung des als reaktionär verurteilten Regierungspräsidenten von Gumbinnen sowie mehrerer Landräte in Ostpreußen zur Folge, die Abneigung der Landbevölkerung gegen die Berliner Zentrale zu verstärken.107 Die DVP, die seit November 1921 zu den Koalitionsparteien der preußischen Landesregierung zählte, protestierte gegen die geplante Amtsenthebung der konservativen Landräte, so daß schließlich nur zwei Landräte abberufen wurden. Da diese Entscheidung zwei der DNVP angehörende Beamten betraf – Landrat v. Auwers in Stuhm / Regierungsbezirk Westpreußen und Landrat Freiherr v. Braun in Gerdauen / Regierungsbezirk Königsberg –, leisteten die ostpreußischen Deutschnationalen heftige Gegenwehr. Auch der mit der DNVP eng verbundene Agrarverein (Landbund Ost), an dem Auwers federführend beteiligt war, machte Einwände geltend.108 Nach dem Versailler Vertrag wurde die Provinz Westpreußen aufgelöst. Der Restteil der Provinz Westpreußen mitsamt dem Kreis Stuhm, wo Auwers amtierte, wurde als neu gegründeter Regierungsbezirk Westpreußen der Provinz Ostpreußen angegliedert. Während der Volksabstimmung 1920 hatte sich Auwers das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in seinem Grenzkreis gegen Polen erworben. Er war überzeugter Patriot.109 In Stuhm selbst war seine Abberufung daher äußerst unpopulär. Anfang Dezember leitete die ostpreußische DNVP eine Beschwerdedeputation beim preußischen Innenministerium in Berlin, um gegen die Amtsenthebung Auwers zu protestieren. Es gelang ihr allerdings nicht, die Beschwerde unmittelbar an die Regierung zu richten, da der Innenminister und der Ministerpräsident den Empfang der Deputation verweigerten. Der Landesverband Ostpreußen der DNVP faßte daraufhin am 8. Dezember 1922 folgende Entschließung: „Die Parteivertretung erwartet von der Parteileitung wie von der Landtagsund Reichstagsfraktion, daß sie gegen diese Maßregelung bewährter, vom Vertrauen ihrer Kreise getragener Verwaltungsbeamter und gegen die durch diese gewaltsame Veränderung immer wieder in die Provinz hereingetragene Beunruhigung und Zersplitterung energische Schritte unternimmt.“110 107 Hertz-Eichenrode
(1969), S. 34 ff. I. HA, Rep. 203, Nr. 43, Heft 1, OPO an PreußMdI, 23.12.1922. Über den Landbund Ost siehe Groeben (1988), S. 542. 109 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1032, Bl. 127, Landrat in Stuhm, v. Auwers an PreußMP, 24.10.1922. 110 „Gegen die Amtsenthebung des Landrats v. Auwers“ in: Der Parteifreund, hg. / Nr. 42, v. der Deutschnationalen Volkspartei, Landesverband Ostpreußen, 3. Jg. 14.12.1922. 108 GStA PK,
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Unmittelbar danach erschien im Oberländer Volksblatt ein ungezeichneter Artikel über „die Autonomie Ostpreußens“.111 In dem Text, der offenbar von der DNVP an die Presse lanciert worden war, wurde ausgeführt, daß Politik und Verwaltung Ostpreußens tatsächlich in der Hand der obersten Staatsbehörde in der Provinz lagen, deren Spitze durch die Berliner Regierungsparteien eingesetzt worden war. Der Oberpräsident genieße aber nicht die Unterstützung der Mehrheit in Ostpreußen. Es sei daher im Sinne der Demokratie, gemäß den Vorstellungen der ostpreußischen Mehrheitsparteien Ostpreußen aus dem Präfektensystem Preußens herauszulösen und ihm den Statuts eines Territoriums mit selbständiger Verwaltung nach dem Muster der englischen Kronkolonien oder eines autonomen Bundesstaats einzuräumen. Sodann solle eine Regierung gebildet werden, die das Vertrauen der einheimischen Bevölkerung besitze. Der Autor führte dazu aus: „Nach parlamentarischem Brauch muß die Regierung das Vertrauen der Mehrheit besitzen. Wir fragen, ist dies bei den obersten Verwaltungsstellen Ostpreußens der Fall? – Das Vertrauen der Berliner der preußischen oder deutschen Mehrheit kommt für das exterritoriale Ostpreußen gar nicht in Frage [sic]. […] Deswegen ist es eine gebieterische Forderung der Zeit geworden, Ostpreußen entweder als Kolonie oder als Bundesstaat selbständig zu gestalten und eine Volksabstimmung für oder wider entscheiden zu lassen.“112 Die Forderungen des Artikels stimmten mit den Reichsreformplänen Batockis überein. Anders als bei der Reichsreformdebatte, die sich auf Artikel 18 WRV bezog, spielten aber in diese Diskussion die Bestrebungen der Agrarier um die Befreiung aus der Zwangswirtschaft hinein. Zur selben Zeit drohte der Landbund Ost mit einem Getreidelieferstreik, um auf diesem Wege gegen die Amtsenthebung der deutschnationalen Landräte zu protestieren.113 Dem Aufruf schlossen sich mehrere Agrarverbände an.114 Oberpräsident Siehr vermutete, daß die Proteste von DNVP-Politikern wie Ba111 Die Wiedergabe dieses Artikels in der Hartungschen Zeitung diente der Kritik an diesem Autonomievorschlag. „Ostpreußische Frevler“ in: Königsberger Hartung sche Zeitung, Nr. 586, 14.12.1922. 112 Der Artikel wurde von der Hartungschen Zeitung übernommen, um ihn desto schärfer kritisieren zu können. „Ostpreußische Frevler“ in: Königsberger Hartung sche Zeitung, Nr. 586, 14.12.1922. 113 „Die Autonomisten“ in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 589, 16.12. 1922. 114 Die Delegierten-Versammlung des landwirtschaftlichen Zentralvereins Königsberg faßte den Beschluß, zusammen mit den übrigen Zentralvereinen den Oberpräsidenten zu warnen, daß, „falls die beabsichtigte Amtsenthebung der seit langen Jahren mit größerem Erfolge in ihren Kreisen tätigen Landräte, die sich das vollste Vertrauen der Kreiseingesessenen erworben haben, durchgeführt werden sollte, die Getreide-Umlage von der Ostpreußischen Landwirtschaft bestimmt nicht erfüllt werden würde.“ Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 591, 18.12.1922.
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tocki, Graf v. Eulenburg, Freiherr v. Minnigerode sowie Landwirtschaftskammerpräsident Brandes ausgingen.115 Tatsächlich aber bestand unter den Konservativen in bezug auf die Loslösung Ostpreußens aus Preußen keine Einigkeit. So lehnten z. B. Generallandschaftsdirektor Hippel sowie der führende Junker Oldenburg-Januschau den Gedanken einer Zerschlagung Preußens ab. Letzterer hatte schon den Batockischen Oststaatsplan ausdrücklich zurückgewiesen. Es ist anzunehmen, daß die sog. Autonomisten nicht die Mehrheit der Bevölkerung Ostpreußens hinter sich hatten.116 Nachdem West-Oberschlesien, wo die Autonomiebestrebungen besonders stark waren, sich am 3. September 1922 in einer Volksabstimmung für den Verbleib beim Land Preußen entschieden hatte,117 schwand auch bei den Separatisten in Ostpreußen die Hoffnung. Die Illusionen der ostpreußischen Autonomisten ließen sich darin erkennen, daß sie mehr Wert auf mögliche politischen Vorteile als auf die realen wirtschaftlichen Verhältnissen zwischen der Provinz und dem Land Preußen legten. Am 20. Dezember stellte die DDP-Fraktion, vertreten durch den Stadtverordneten Eichelbaum, in der Stadtverordnetenversammlung Königsberg folgenden Antrag: „Aus verschiedenen Zeitungsauslassungen geht mit erschreckender Deutlichkeit hervor, daß in Ostpreußen von gewisser Seite Bestrebungen gefördert werden, die auf eine Absplitterung der Provinz Ostpreußen vom Preußischen Staate hinzielen. Die Stadtverordnetenversammlung verwirft mit Entrüstung diese Bestrebungen vom wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Standpunkt aus, betrachtet sie als im höchsten Grade staatsgefährlich und erwartet ihre entschlossene Ablehnung durch Staats- und Reichsregierung und durch den gesunden Sinn der ostpreußischen Stadt- und Landbevölkerung. Die Stadtverordnetenversammlung ersucht den Magistrat, ihrem Beschlusse beizutreten.“118 Eichelbaum wies zusätzlich auf die Gefahr hin, daß die Autonomiebestrebungen in Ostpreußen den Nachbarstaaten, vor allem Polen, Anlaß dazu geben könnten, den deutschen Einheitsstaat zu zerstören und die Gebietsverhältnisse zuungunsten Deutschlands zu konsolidieren. Daher dürfe die Loslösung Ostpreußens aus Preußen niemals zur Debatte gestellt werden. Oberbürgermeister Loh115 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 43, Heft 1, OPO (Herbst) an Frankenbach, 10.1.1923. 116 K. Fischer (1921), S. 11. 117 Bei der Volksabstimmung vom 3. September 1922 wurde die Abtrennung des an Polen abgetretenen Restteils der Provinz Oberschlesien aus dem Land Preußen zurückgewiesen. Daran scheiterte die Bildung eines Landes Oberschlesien im Reich. 118 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung Königsberg Pr. von 1922, in der Sitzung vom 25.12.1922, Nr. 631, Dringlicher Antrag der demokratischen Stadtverordnetenfraktion. Zum Sitzungsprotokoll siehe „Stadtverordnetenversammlung“ in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 597, 21.12.1922.
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches125
meyer, der damals noch zur DDP gehörte, führte ergänzend aus, daß auch in finanzieller Hinsicht eine Loslösung der Provinz unmöglich sei. Tatsächlich war Ostpreußen ein Zuschußgebiet in Preußen. Lohmeyer erklärte: „Deshalb ist es unsere gemeinschaftliche Aufgabe, diesem Gedanken der Loslösung Ostpreußens vom Mutterlande Preußen mit aller Schärfe ent gegenzutreten.“119 Obwohl sich sämtliche Parteien, auch DNVP und DVP, in der Sitzung prinzipiell gegen die Absplitterungsbestrebungen aussprachen, stimmten mehrere konservative Stadtabgeordneten dem Antrag der DDPFraktion nicht zu. Er wurde dennoch mit großer Mehrheit (61 gegen 18) angenommen. Dem von der DDP in Königsberg herbeigeführten Beschluß120 folgte eine ähnliche Entschließung im Kreistag Rosenberg / Regierungsbezirk Westpreußen. Obwohl die Konservativen im Kreis Rosenberg besonders stark waren, gelang es dem DDP-Landrat Friedensburg, die Zustimmung des Kreistags zu seinem gegen die Loslösungsbestrebungen gerichteten Antrag, der an die Vaterlandsliebe und die „Polengefahr“ in diesem Grenzkreis erinnerte, zu gewinnen.121 Die Loslösungsbestrebungen in Ostpreußen, die bei breiten Schichten der Bevölkerung ohnehin keine Unterstützung fanden, verloren nach dem Ruhreinfall Anfang 1923 schnell an Kraft. An dem Gedanken, Ostpreußen zu einem Bundesstaat im Reich umzugestalten, wurde lediglich im Rahmen der Reichsreformdebatten von Batocki sowie seinen Anhängern festgehalten.122 Als Ostpreußen in der zweiten Hälfte der 20er Jahre in die Agrarkrise geriet, tauchte die Devise „Los aus Preußen“ noch einmal in der ostpreußischen Öffentlichkeit auf. Anfang 1927 wurde das IV. Kabinett von Wilhelm Marx (Zentrum) unter Teilnahme von vier deutschnationalen Reichsministern gebildet. Dadurch entstand eine politische Diskrepanz zwischen dem Reich und Preußen, denn hier regierte stabil die Weimarer Koalition, an deren Spitze der sozialdemokratische Ministerpräsident stand. Die konservativen Agrarier Ostpreußens nutzten die Gelegenheit, sich unter Umgehung Preußens unmittelbar an die Reichsregierung zu wenden und dort die Einleitung einer Hilfsaktion für die Landwirtschaft Ostpreußens 119 Ebd.
120 GStA PK,
I. HA, Rep. 203, Nr. 43, Heft 1, OPO an PreußMdI, 23.12.1922. Ostpreußens Absplitterung vom Reich. Kundgebung des Kreises Rosenberg“ in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 601, 23.12.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 43, Heft 1, Bericht über den Beschluß des Kreistags Rosenberg vom 22.12.1922. 122 Königsberger Allgemeiner Zeitung, Artikel von Paul Stettiner, 15.12.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 43, OPO, 10.1.1923. Ein Zitat aus dem Artikel von Batocki, der Anfang Mai 1925 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung erschien, befindet sich in „Ein ostpreußischer Junker. Einst und Jetzt“ in: Berliner VolksZeitung, Nr. 210, 5.5.1925. 121 „Gegen
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1. Teil: Ostpreußen
nachzusuchen. Reichskanzler Marx setzte sich zugleich für die Konsolidierung der Reich-Länder-Verhältnisse ein und veranlaßte Anfang 1928 die Einberufung des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz, dessen Arbeit sich vornehmlich mit dem Dualismus zwischen dem Reich und Preußen befassen sollte. 4. Siehrs Dilemma: Der Hindenburgbesuch in Ostpreußen 1922 Die schwierige politische Situation, in der sich der Demokrat Siehr zwischen den ostpreußischen Konservativen und den Berliner Republikanern befand, wird an einem anderen Beispiel deutlich. Der Heimatbund Ostpreußens wurde im Jahr 1919 durch Wolfgang Kapp gegründet.123 Ursprünglich war es Kapps Absicht, den Bund auf den Umsturz der Republik hinarbeiten zu lassen. Dies stieß aber selbst im konservativen Lager auf den Widerstand der Realisten. Daraufhin stellte sich der Heimatbund die Aufgabe, den Bolschewismus abzuwehren und den Grenzschutz zu festigen. Nach der Niederwerfung des Kapp-Putsches übernahm v. Hassell, der aus dem Oberpräsidium suspendiert worden war, die Leitung des Heimatbundes.124 Zu den Mitgliedern zählten mehrere Exponenten aus dem Kreis der alten Verwaltung und des Militärs, unter denen Freiherr v. Gayl eine besondere Stellung einnahm, der als Abstimmungskommissar für Allenstein den Verbleib des Abstimmungsgebiets bei Ostpreußen erkämpft hatte.125 Der Patriotismus Gayls hatte nicht selten aggressive Züge. Die von ihm gegründete Staatsbürgerliche Arbeitsgemeinschaft stand in engen Beziehungen zum Heimatbund und konnte geradezu als dessen Tochtergesellschaft angesehen werden.126 Zur Hebung des „Deutschtumsbewußtseins“ organisierte Gayl mit Hilfe des Heimatbunds Veranstaltungen in Ostpreußen, zu denen vor allem die Tannenbergfeier gehörte, die dem Andenken der von Generalfeldmarschall Hindenburg gewonnenen Schlacht gegen die Russen Ende August 1914 galt. Im August 1921 inszenierte Gayl die Feier zum 7. Jahrestag von Tannenberg, an der Reichswehrtruppen sowie die Torpedoboothalbflottille teilnahmen. In Hindenburgs Vertretung hielt Ludendorff eine Festrede; außerdem wurde Ludendorff ein Ehrendoktortitel von der 123 AdRK, Kabinett Bauer, Dok. 180, Bericht der Reichszentrale für Heimatdienst über die Lage in Ostpreußen vom 3. März 1920, S. 639 ff., vor allem Anm. 9. 124 Hertz-Eichenrode (1969), S. 72 ff. Zum Heimatbund und dessen Ableger, der Staatsbürgerlichen Arbeitsgemeinschaft, siehe vor allem Gerd Schwerin: Wilhelm Frhr. v. Gayl, der Innenminister im Kabinett Papen 1932, Diss. Erlangen-Nürnberg 1972. 125 Vgl. Gayl (1940). 126 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 393, Abschrift, Staatsbürgerliche Arbeitsgemeinschaft an PreußMdI, 18.5.1921.
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches127
medizinischen Fakultät der Albertus-Universität zu Königsberg verliehen. Die Parade der Offiziere, der Flottillenmannschaften sowie der Regimentskapellen und nicht zuletzt der von Ludendorff geleitete Fackelzug der Studentenschaft fanden am 14. August auf dem Walter-Simon-Platz in Königsberg statt. Am gleichen Tage stand jedoch auch die Eröffnung der vierten Ostmesse in Königsberg an, zu der zahlreiche Besucher aus den Nachbarstaaten erwartet wurden. Der Magistrat befürchtete, daß die Militärparade bei den ausländischen Gästen einen verhängnisvollen Eindruck hinterlassen könne, und bat Gayl um eine Terminverschiebung. Dieser lehnte jedoch ab und setzte die Tannenbergfeier am Eröffnungstag der Ostmesse durch. Die Linksparteien sahen sich ihrerseits veranlaßt, zu Demonstrationen aufzurufen und sich Gayls Veranstaltung unter der Devise „Nie wieder Krieg“ entgegenzustellen. Ein Zusammenstoß zwischen den Friedensdemonstranten und der Militärparade konnte immerhin knapp vermieden werden.127 Die Agitation von Gayls Anhängern verstärkte sich weiter. Als Gayl im Frühsommer 1922 eine Ostpreußenreise des Generalfeldmarschalls v. Hindenburg plante, die nach zweiwöchigem Aufenthalt in Neudeck und Januschau mit einer Massenveranstaltung in Königsberg abgeschlossen werden sollte, stellte sich die Frage, ob sich die Staatsbehörden an den geplanten Veranstaltungen beteiligen sollten. Oberpräsident Siehr befürchtete, daß der Heimatbund beabsichtigen könne, mit der Kundgebung in Königsberg die ostpreußische Bevölkerung für das republikfeindliche Lager zu gewinnen. Seine Bedenken wurden durch Lageberichte von Landrat Friedensburg verstärkt, in denen dieser meldete, daß der Heimatbund anstrebe, die Stellung Hindenburgs zum eigenen Vorteil auszunutzen.128 Das autoritäre Verhalten Gayls sei sowohl bei der republikanischen als auch bei der konservativen Bevölkerung auf Unzufriedenheit gestoßen. Friedensburg resümierte: „Unter allen Umständen muß jedoch vermieden werden, daß auch die Behördenvertreter und die freiheitlichen Teile der Bevölkerung sich zu Statisten in einem Schauspiel abgeben, das von der Richtung von Oldenburg / v. Gayl in Szene gesetzt wird, um ihre Bestrebungen zu fördern.“129 Am 5. Mai 1922 beantragte Oberpräsident Siehr mit Rücksicht auf die bedenkliche politische Tätigkeit des Heimatbunds beim preußischen Minister des Innern die Erteilung einer Anweisung hinsichtlich des Verhaltens der Staatsbehörden beim Besuch Hindenburgs. Die preußische Staatsregie127 „Tannenbergfeier in Königsberg“, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 378, 15.8.1921. „Ludendorff in Königsberg. Eine Preußenrede“, in: Vossische Zeitung, Nr. 381, 15.8.1921. Vgl. auch K. Fischer (1921), S. 22 f. 128 Friedensburg (1969), S. 126 ff. 129 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 43, Heft 1, Abschrift, Landrat in Rosenberg an OPO, 27.4.1922.
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1. Teil: Ostpreußen
rung beschloß daraufhin am 12. Mai, die Beteiligung aller öffentlichen Stellen an den Propagandaveranstaltungen zu untersagen.130 Ungeklärt blieb zunächst noch die mögliche Beteiligung der Reichswehr an den Veranstaltungen und die Frage, ob ehemaligen Offizieren das Tragen der Uniform erlaubt werden könne. Bei einer Besprechung in der Reichskanzlei am 24. Mai 1922, zu der neben den Zentralministern von Reich und Preußen ausnahmsweise auch Oberpräsident Siehr hingezogen wurde, kritisierte Ministerpräsident Braun, daß das Reich bisher gezögert hätte, den Reichsbehörden ebenfalls die Teilnahme zu untersagen. Reichswehrminister Geßler äußerte, daß er gemäß Reichswehrgesetz die Teilnahme der Reichswehr nur verbieten könne, wenn seitens des preußischen Ministerpräsidenten oder des Reichsinnenministers eine Erklärung abgegeben werde, daß die Veranstaltungen als politisch anzusehen seien. Dementsprechend untersagte Reichspräsident Ebert der Reichswehr die Teilnahme an allen Veranstaltungen, die beim Hindenburgbesuch in Ostpreußen vorgesehen waren, auf Grund der Erklärung Preußens, daß die geplanten Veranstaltungen parteipolitischer Natur seien.131 Dennoch betonten Reichswehr und Kriegervereine auch weiterhin den privaten Charakter ihrer Teilnahme. Die Vorbereitung der Massenveranstaltung in Königsberg wurde fortgesetzt, wobei unter Teilnahme der Uniformtragenden ein Feldgottesdienst, ein Fackelzug und eine Schulkinderparade mit einer Besucherzahl von 200.000 Personen aus der ganzen Provinz vorgesehen waren.132 Kurz vor der Ankunft Hindenburgs in Königsberg vertrat Major v. Schleicher den Standpunkt, daß die offizielle Teilnahme der Reichswehr zwar untersagt sei, eine private Beteiligung der Soldaten und Veteranen aber nur verboten werden könne, falls es sich tatsächlich um eine politische Veranstaltung handele.133 Der preußische Minister des Innern fragte sogleich telegraphisch in Ostpreußen nach, ob die Veranstalter, die Staatsbürgerliche Arbeitsgemeinschaft und der Provinzial-Kriegerverein, als politische Organisationen aufzufassen seien. Als Oberpräsident Siehr diese Anfrage am 7. Juni erhielt, stand die für den 10. / 11. Juni geplante Hindenburgfeier in Königsberg bereits unmittelbar bevor. Siehr sah sich vor eine schwierige politische Entscheidung gestellt, denn der Erlaß eines strikten Teilnahmeverbots für Uniformtragende und Reichswehr unmittelbar vor Beginn der Veranstaltungen mußte mit Sicherheit große Verbitterung bei allen Beteiligten und Besuchern aus der 130 Acta Borussica, N. F., Bd. 11 / I, Dok. 247, Sitzung des Staatsministeriums vom 12.5.1922. 131 AdRK Kabinette Wirth I und II, Bd. 2, Dok. 281, Chefbesprechung vom 24.5.1922. 132 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 43, Heft 1, OPO an PreußMdI, 5.5.1922. 133 AdRK Kabinett Wirth I und II, Bd. 2, Dok. 289, Chefbesprechung vom 7.6.1922.
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches129
ganzen Provinz hervorrufen, was von den Rechtsparteien als willkommener Agitationsstoff gegen die Republik und den Oberpräsidenten ausgenutzt werden konnte.134 Wegen der bekannt ablehnenden Haltung Siehrs gegenüber dem Heimatbund hatten die Veranstalter weder dem Oberpräsidenten noch dem Polizeipräsidenten eine Einladung zugeschickt.135 Obwohl Siehr davon überzeugt war, daß die Staatsbürgerliche Arbeitsgemeinschaft sowie der Provinzial-Kriegerverein zu den rechtsgerichteten politischen Vereinigungen zählten, sah er sich gezwungen, die Veranstaltung als nicht parteipolitisch zuzulassen. Seine Entscheidung begründete er Berlin gegenüber damit, daß eine Gefährdung der Autorität der republikanischen Regierung vermieden werden müsse: „Ich muß hier in Ostpreußen in besonders verstärkten Maße eine Politik der mittleren Linie betreiben und kann daher jetzt in letzter Stunde einer Maßnahme nicht das Wort reden, die ich vor 2 oder 3 Wochen durchaus hätte befürworten können.“136 Obwohl der Reichspräsident am 24. Mai ein Teilnahmeverbot erlassen hatte,137 wurde dieser Anordnung seitens des Wehrkreiskommandos im Sinne des oben genannten Schleicherschen Auswegs nicht Folge geleistet. Bei der Veranstaltung kam es zu einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen linksgesinnten Zivilisten und den teilnehmenden Truppen, wobei neben mehreren Verletzten die Tötung eines Zivilisten durch bewaffnete Reichswehrsoldaten zu beklagen war. Diese Ereignisse, die in den linken und demokratischen Kreisen Ostpreußens stürmische Proteste gegen den Heimatbund und scharfe Kritik am schwächlichen Auftreten der Zentralregierung zur Folge hatten,138 machten deutlich, wie schwierig die Aufgabe Siehrs war, die Politik der Republik in der östlichsten Grenzprovinz zu vertreten. Die nach dem Attentat auf Außenminister Rathenau im Juni 1922 erlassene Verordnung zum Schutz der Republik ermöglichte es, die halbmilitärischen bzw. rechtsextremen Vereine und ihre Veranstaltungen zu verbieten.139 Trotz seiner bedenklichen Aktivitäten stand der Heimatbund jedoch nicht auf der Liste der zu verbietenden Vereine,140 weil der Bund, dem Staatsmi134 GStA PK,
XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3006, Bd. 1, OPO an PreußMdI, 7.6.1922. I. HA, Rep. 203, Nr. 43, Heft 1, OPO an PreußMdI, 5.5.1922. 136 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3006, Bd. 1, OPO an PreußMdI, 7.6.1922. 137 Zur Verbotserklärung des Reichspräsidenten siehe AdRK Kabinette Wirth I und II, Bd. 2, Dok. 281, Anm. 3, S. 823 f., sowie Dok. 289, Anm. 3, S. 850 f. Danach wurden eigentlich sowohl die offizielle Teilnahme der Reichswehr als auch jedwede Teilnahme privaten Charakters untersagt. 138 PreußLT, I. Wahlperiode, 148. Sitzung vom 16.6.1922. 139 Huber, Bd. VII (1984), S. 250 ff. 140 Im September 1924 entschied der Oberpräsident, die Wochenzeitung Tannenberg, die von einem dem Stahlhelm nahestehenden Verlag in Königsberg veröffent135 GStA PK,
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1. Teil: Ostpreußen
nisterium zufolge, im Einvernehmen mit der Regierung überparteilich gegen Polen arbeite.141 Siehr und Severing waren demgegenüber der Ansicht, daß der Heimatbund im Gegensatz zu seinem angeblich unparteilichen Charakter als eine gegen die Republik gerichtete Organisation zu betrachten sei. Sie verlangten deshalb, die politischen Aktivitäten des Heimatbundes einzuschränken.142 5. Der Kompetenzstreit zwischen Siehr und Borowski Zu Siehrs Sorgen zählte auch der Wunsch des sog. Säuberungskommissars, Reichs- und Staatskommissar Albert Borowski (SPD), nach Erweiterung seiner Befugnisse auf wirtschaftliche und militärische Angelegenheiten. Gleich nach Niederwerfung des Kapp-Putsches war der Königsberger Stadtrat Borowski Ende März 1920 zum Reichs- und Staatskommissar für Ostpreußen ernannt worden. Reich und Preußen erteilten ihm Vollmachten zur Wiederherstellung geordneter verfassungsmäßiger Verhältnisse. Da mit der Aufhebung des Ausnahmezustandes in Ostpreußen Ende Mai 1920 der Auftrag Borowskis eigentlich als erledigt anzusehen war, einigten sich Reich und Preußen Anfang Juni darauf, die ihm erteilten Vollmachten alsbald zurückzuziehen. Borowski sollte jedoch zunächst im Amt eines allgemeinen Reichs- und Staatskommissars in Ostpreußen bleiben. Den Hintergrund dieses Beschlusses bildeten die erste Ostpreußenkonferenz und der KappPutsch. Gleich nach der Niederwerfung des Putsches hatte man sich zwischen SPD, USPD, DDP sowie den Gewerkschaften darauf verständigt, das Amt des Oberpräsidenten einem Demokraten und das bis dahin von Winnig versehene Amt des Staatskommissars einem anderen Sozialdemokraten zu übertragen.143 Nach Aufhebung seiner Vollmachten als „Säuberungskommissar“ stellte sich deshalb die Frage, auf welche Weise Borowskis Stellung als Reichs- und Staatskommissar im Sinne der Ende März erzielten Vereinbarung zur Machtverteilung in Ostpreußen beibehalten werden könnte.144 Fraglich waren die Grenzen seiner Befugnisse und Aufgaben.145 Borowski licht wurde, nach Republikschutzgesetz auf die Dauer von 6 Wochen zu verbieten. Siehe hierzu: Tannenberg, 1. Jg., 15.9.1924. 141 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 43, OPV, Geheim, 3.7.1922. 142 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3006, Bd. 2, Bl. 43, OPO, 5.9.1922. Bl. 280, PreußMdI, 2.12.1922. 143 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 521, Bl. 215, Reichs- und Staatskommissar für Ostpreußen, 3.7.1920. 144 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 521, Bl. 219, PreußMdI, Niederschrift, 14.8.1920. 145 AdRK Kabinett Müller I, Dok. 131, Kabinettssitzung vom 8.6.1920, sowie Dok. 125, Chefbesprechung vom 2.6.1920.
III. Ernst Ludwig Siehr und die Niederschlagung des Kapp-Putsches131
übergab dem Oberpräsidenten seine Vorschläge, in denen er die Übertragung der Befugnisse in wirtschaftlichen und militärischen Angelegenheiten Ostpreußens, vor allem in den Bereichen Außenhandel, Sozialpolitik (Schlichtung von Konflikten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern usw.), Fürsorge für Memel- und Soldaugebiet sowie Militärpolitik (Auskunftspflicht der Reichswehr, vor allem seitens des Wehrkreiskommandos gegenüber dem Reichskommissar) vorsah. Nicht zuletzt forderte Borowski, daß die Ostpreußische Vertretung in Berlin ihre Instruktionen nicht nur, wie bisher, durch den Oberpräsidenten, sondern auch durch den Reichs- und Staatskommissar erhalten solle.146 Borowskis Vorhaben stieß bei Siehr natürlich auf Ablehnung. In seiner Stellungnahme verwies Siehr Ende Juli gegenüber dem preußischen Minister des Innern auf die Ergebnisse der ersten Ostpreußenkonferenz. Die Notwendigkeit, die Führung der Verwaltung in der abgetrennten Provinz in einer Hand zusammenzufassen, war auf der Konferenz von allen ostpreußischen Teilnehmern anerkannt worden. Während ein Teil der ostpreußischen Delegation den Standpunkt vertrat, daß dem Oberpräsidenten sämtliche Behörden von Reich und Preußen in der Provinz zu unterstellen seien, hielt es die Mehrheit für zweckmäßig, die Leitung der Behörden einem mit besonderen Vollmachten ausgestatteten Reichskommissar zu überlassen. Im Hinblick darauf kritisierte Siehr, daß die Übertragung neuer Aufgaben auf Borowski keineswegs zur Vereinheitlichung der Verwaltungsleitung führen, sondern sogar einen neuen Kompetenzstreit zwischen Reichskommissar und Oberpräsidenten zur Folge haben werde. Daher unterbreitete Siehr seinerseits den Vorschlag, sämtliche Reichs- und preußischen Behörden in der Provinz einheitlich dem Oberpräsidenten zu unterstellen.147 Darin wurde er durch seinen Berliner Vertreter Herbst und den Oberpräsidialrat in Königsberg, den Demokraten Günther Grzimek, unterstützt.148 Auch die Zentralressorts in Berlin vertraten die Auffassung, daß man Borowski nach der am 30. Juli 1920 erfolgten Aufhebung seiner Vollmachten keine besonderen Befugnisse geben solle. Daher gelang es Siehr und Herbst, nicht nur die Übertragung neuer Kompetenzen an Borowski zu verhindern, sondern auch die Aufmerksamkeit der Zentralregierung auf eine mögliche Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten zu lenken.149
146 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 521, Bl. 215, Reichs- und Staatskommissar für Ostpreußen, 3.7.1920. Vgl. Klatt (1958), S. 216 f. 147 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 521, OPO an PreußMdI, 27.7.1920. 148 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 50, Grzimek an Herbst, 28.7.1920. 149 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 50, Herbst an OPO, 31.8.1920.
Kapitel IV
Das Ostpreußenprogramm vom April 19221 1. Die Weichselgrenze 1921 erregte eine weitere Gebietsabtretung an Polen in der Bevölkerung der östlichen Grenzprovinzen tiefes Mißtrauen gegen die Regierungsführung in Berlin. Bei der Volksabstimmung in Oberschlesien am 21. März 1921 votierten 59,6 % der Abstimmungsberechtigten für das Deutsche Reich. Die Alliierten plädierten dennoch für die Abtretung des Gebiets. Am 20. Oktober 1921 wurde die Teilung Ost-Oberschlesiens vollzogen, wo 55,8 % der Abstimmungsberechtigten für Polen votiert hatten. Dies hatte die Abtretung des größeren Teils des oberschlesischen Industriereviers zur Folge.2 Verglichen mit der Situation in Oberschlesien erschienen die Abstimmungsergebnisse in Ost- und Westpreußen zunächst nicht prekär. Am 11. Juli 1920 stimmte eine große Mehrheit der Bevölkerung im ost- und westpreußischen Abstimmungsgebiet für ein Verbleiben beim Deutschen Reich (Abstimmungsgebiet Allenstein 97 %, Marienwerder 92 %). Demgemäß sollte das Abstimmungsgebiet östlich der Weichsel gänzlich dem Deutschen Reich zugesprochen werden. Die Botschafterkonferenz konnte also die Weichsel, wie im Versailler Vertrag vorgesehen, zur ostpreußisch-polnischen Grenze erklären. Damit wurde allerdings dem polnischen Standpunkt Rechnung getragen. Sie kündigte am 12. August 1920 als vorläufige Regelung an, die ostpreußisch-polnische Grenze nicht in der Mitte der Fahrrinne der Weichsel, sondern auf dem östlichen Ufer zu ziehen. Fünf Weichseldörfer mitsamt dem Flußhafen Kurzebrack sollten durch diese Grenzziehung vom Regierungsbezirk Marienwerder in polnische Verwaltung übergehen.3 Nur 1 Zum Ostpreußenprogramm 1922 vgl. Wessling (1957), S. 215–289. Hertz-Eichenrode (1969). F. Richter (1984). 2 Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe A: Preußen, hg. v. Walther Hubatsch, Bd. 1: Ost-und Westpreußen, bearbeitet von Dieter Stüttgen, Marburg (Lahn) 1975, S. 9. Siehe auch Konrad Fuchs: „Politische Geschichte“, in: Geschichte Schlesiens, Bd. 3, hg. v. Josef Joachim Menzel, Stuttgart 1999, S. 81 ff. 3 Zur Weichselgrenzfrage siehe: Ostpreußens Abschnürung von der Weichsel abgefaßt auf Grund amtlicher Quellen, Berlin 1922. Fritz Jaeger: Die DeutschPolnische Grenze. Erörterungen über Probleme der Grenzziehung, Langensalza 1928. Gerhard Lawin: Die Volksabstimmung in Westpreußen, Königsberg 1926,
IV. Das Ostpreußenprogramm vom April 1922133
zwei dieser Ortschaften, Außendeich und Neuliebenau, hatten mehrheitlich für Polen votiert. In den anderen drei Dörfern (Johannisdorf, Kleinfelde, Kramersdorf) stimmten knapp über 50 % der Bevölkerung für den Verbleib beim Deutschen Reich.4 Der Beschluß der Botschafterkonferenz wurde von deutscher Seite als Verletzung des Versailler Vertrags betrachtet, der die Grenzziehung in diesem Gebiet von der Volksabstimmung abhängig gemacht hatte. Am 14. August 1920 reichte die Reichsregierung bei den Alliierten ihre Protestnote ein.5 Dennoch faßte die Botschafterkonferenz den Beschluß, die am 12. August angeordnete Grenze als vorläufige Demarkationslinie festzulegen. Das Deichgebiet war demnach am folgenden Tag durch Polen zu besetzen. Die endgültige Regelung der Grenzverhältnisse wurde sodann der interalliierten Grenzfestsetzungskommission überlassen. Diese beschloß ein Jahr später, am 27. August 1921, die Demarkationslinie vom 12. August 1920 als deutsch-polnische Grenze festzulegen. Mit Rücksicht auf den Einspruch des deutschen Kommissars trat der Beschluß jedoch nicht sofort in Kraft. Nach mehrmaligen Anhörungen gelangte die interalliierte Kommission bei der am 13. März 1922 in Kattowitz abgehaltenen Sitzung zu dem Schluß, die Entschließung über die Weichselgrenze (12. August 1920 / 27. August 1921) ohne wesentliche inhaltliche Änderung sofort zu ratifizieren und zwei Wochen darauf, am 31. März, zu vollziehen.6 Die Entscheidung der Alliierten zur Weichselgrenze erzürnte die ostpreußische Bevölkerung. Zwei Tage danach, bei der Eröffnungssitzung des 48. Provinziallandtags am 15. März 1922, griff Oberpräsident Siehr Polens „nationalpolitischen Ausdehnungsdrang“ an. Er betonte die Notwendigkeit, die Verbindung zwischen dem Reich und der abgetrennten Provinz zu stärken, „wenn es sich darum handelt, unsere deutsche Kultur, die wir durch den Abstimmungssieg einstweilen gerettet haben, gegenüber der neuerdings wieder sehr lebhaften großpolnischen Propaganda für alle Zeit zu behaupten.“7 In S. 71 f. Lieselotte Kunigk-Helbing: Stuhm – ein westpreußischer Kreis im Spiegel der Plebiszits, in: Die Volksabstimmung 1920. Voraussetzung, Verlauf und Folgen, hg. v. Bernhart Jähnig, Marburg 2002, S. 93–111 (hier S. 109 f.). 4 Die Abstimmungsergebnisse der fünf Dörfer waren folgende: Johannisdorf 120 deutsch / 111 polnisch, Außendeich 26 deutsch / 99 polnisch, Neuliebenau 16 deutsch / 22 polnisch, Kramershof 8 deutsch / 8 polnisch, Kleinfelde 15 deutsch / 12 polnisch. Siehe hierzu: Ostpreußens Abschnürung von der Weichsel, abgefaßt auf Grund amtlicher Quellen, Marienwerder 1929, S. 21. 5 Siehe „Eine deutsche Protestnote“, in: Vossische Zeitung, Nr. 404, 16.8.1920. 6 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 87, Heft 1, Abschrift, Grenzkommission Oberschlesien / Deutsche Delegation an AA, 15.3.1922. Abschrift, Regierungspräsident Marienwerder, 17.3.1922. 7 ProvLT Ostpreußen, Bd. 48 (1922), Eröffnungssitzung vom 15.3.1922, S. 1 ff. Gegen Siehrs Rede legte die polnische Gesandtschaft in Berlin beim Auswärtigen
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1. Teil: Ostpreußen
der Sitzung am 18. März faßte man auf Antrag des westpreußischen Deichverbandes einstimmig den Beschluß, gegen die von der interalliierten Kommission vorgenommene Grenzfestsetzung zu protestieren. Zugleich forderte der Provinziallandtag die Reichsregierung auf, die Anerkennung der Entschließung abzulehnen.8 Auf Vorschlag des Regierungspräsidenten von Marienwerder, Graf Baudissin, wurde durch den Provinzialausschuß beschlossen, eine aus Sachverständigen sowie Verwaltungsmännern der Provinz zusammengestellten Deputation nach Paris und Genf zu entsenden, damit Ostpreußen seine Position zur Grenzfrage bei der Botschafterkonferenz sowie dem Völkerbund behaupten könne.9 Die Leitung der Deputation übernahm der Vorsitzende des Provinziallandtags, Friedrich v. Berg (DNVP), zu ihren dreizehn Mitgliedern zählten auch Oberpräsidialrat Herbst als Vertreter des Oberpräsidenten sowie Regierungspräsident Baudissin. Die Entsendung der Deputation nach dem Ausland erforderte allerdings die Zustimmung des Reiches. Am 23. März besuchte die Deputation zunächst Berlin, wo sie durch Reichskanzler Wirth, Außenminister Rathenau, Ministerpräsident Braun und seinen Innenminister Severing empfangen wurde. Bei der Besprechung in der Reichskanzlei betonte Herbst die Verletzung des Versailler Vertrags und die bedenklichen politischen und wirtschaftlichen Folgen einer endgültigen Abschnürung Ostpreußens von der Weichsel. Wirth stimmte der Entsendung der ostpreußischen Vertreter nach Paris zu und versprach ihnen, „namens der Reichsregierung alles zu tun, was in seinen Kräften stehe.“10 Rathenau erklärte sich bereit, sich an die Signaturmächte des Friedensvertrags zu wenden, um die dem Vertrag zuwiderlaufende Entschließung der interalliierten Grenzfestsetzungskommission umzustoßen.11 Anschließend besuchte die Deputation das preußische Staatsministerium. Bei dieser Besprechung, an der auch Freiherr v. Gayl teilnahm, erklärte sich Ministerialdirektor Loehrs (PreußMdI) bereit, Ostpreußen einen Zuschuß von 70.000 Mark zur Finanzierung von Propaganda gegen die Weichselgrenzziehung zu gewähren.12 Gayl wies auf seine Anträge beim preußischen Staatsrat sowie beim Reichsrat hin, die Reichsregierung zu ersuchen, „den Fehlspruch der interalliierten Grenzfestsetzungskommission nie und nimmer“ anzuerkennen.13 Amt Beschwerde ein. Siehe hierzu „Die Gefahren der Weichselgrenze“, in: Vossische Zeitung, Nr. 207, 3.5.1922. 8 ProvLT Ostpreußen, Bd. 48 (1922), S. 32. 9 GStA PK, I. HA. Rep. 203, Nr. 87, Heft 1, Abschrift, OPO an AA, 20.3.1922. Abschrift, Regierungspräsident Marienwerder an OPO, 19.3.1922. 10 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 87, Heft 1, Herbst, 23.3.1922. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 PreußStaatsrat 1922, Drucksache Nr. 92, Antrag von Frhr. v. Gayl und Genossen (DNVP), 21.3.1922.
IV. Das Ostpreußenprogramm vom April 1922135
Als geborener Ostpreuße versprach Braun, sich energisch dafür einzusetzen, daß das Reich die dem Friedensvertrag zuwiderlaufende Grenzziehung an der Weichsel nicht akzeptiere.14 Die Initiative der ostpreußischen Deputa tion in Berlin, die auch bei Reichspräsident Ebert Unterstützung fand, blieb nicht ohne Erfolg.15 Nachdem die Reichsregierung bei der Pariser Botschafterkonferenz dringende Beschwerde eingelegt hatte, faßte diese den Beschluß, den für den 31. März vorgesehenen Vollzug des Beschlusses der Grenzfestsetzungskommission vorläufig auszusetzen.16 Die Versuche der ostpreußischen Deputation, die beim Reich und Preußen volle Unterstützung gefunden hatten, wurden somit zunächst befriedigend abgeschlossen.17 Nach deutscher Auffassung sollte die Weichselgrenze im Sinne des Versailler Vertrags festgesetzt werden, wenn gleichzeitig die Zugangsbedingungen der ostpreußischen Bevölkerung zur Weichsel geregelt würden.18 Die deutsch-polnischen Verhandlungen zu dieser Frage mußten nach ihrer Aufnahme im Sommer 1922 infolge der zwischen beiden Parteien bestehenden Meinungsunterschiede wiederholt unterbrochen werden. Das Deichgebiet auf dem rechten Ufer der Weichsel wurde aber schon vor dem Abschluß der Verhandlungen der polnischen Verwaltung unterstellt. Für die ostpreußische Bevölkerung war dadurch der Zugang zur Weichsel und die Nutzung dieses Flusses einzuschränken. In der Provinz fürchtete man nun „Ostpreußens Abschnürung von der Weichsel“. Die Zurückziehung der Schutzpolizeikräfte aus den östlichen Grenzgebieten, die das Reich gerade in diesem kritischen Moment unter dem Druck der Alliierten vornahm,19 stieß in Ostpreußen auf heftige Kritik. Die Autorität des Oberpräsidenten als Träger der Staatspolitik in der Provinz litt darunter, daß die Rechtsparteien ihm Schwächlichkeit gegenüber Polen 14 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 87, Heft 1, Abschrift, PreußStM an OPO, 25.3.1922 (Niederschrift über den Empfang einer Deputation durch Ministerpräsidenten vom 23.3.1922). 15 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 87, Heft 1, Abschrift, Deputation der Westund Ostpreußen an Reichspräsidenten, 27.3.1922. 16 Abschnürung Ostpreußens von der Weichsel, Berlin 1922, S. 27. 17 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 87, Heft 1, Reichspräsident Ebert an OPO, 31.3.1922. 18 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 88, Anlage zum Schreiben von OPO an OPV, 6.7.1922, Denkschrift des Regierungspräsidenten in Marienwerder über die Verhandlungen über den Zugang Ostpreußens zur Weichsel und über die Sicherstellung des einheitlichen Deichschutzes. 19 ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 109, Reichswehrminister Geßler an AA, 26.5. 1922. Über die Entscheidung des Reichs und Preußens siehe vor allem Dok. 109 Anm. 5 (hier S. 229). Vgl. auch AdRK Kabinette Wirth I. und II, Bd. 2, Dok. 268, Chefbesprechung, 10.5.1922, S. 771 f.
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vorwarfen und versuchten, die Bevölkerung gegen die Regierung zu verhetzen.20 Siehr selbst hielt die Verminderung des Grenzschutzes für außerordentlich bedenklich und protestierte gegen die Entscheidung des Reichs. Er wandte sich an die Reichswehr und fragte nach Möglichkeiten, den Grenzschutz durch das Militär zu gewährleisten. Der Befehlshaber des Wehrkreiskommandos I (Division I, Königsberg), Generalleutnant v. Dassel, äußerte Verständnis für die Lage der durch Polen und durch die Bolschewisten gefährdeten Grenzprovinz, lehnte aber eine Ersetzung der Schutzpolizeikräfte durch die Reichswehr ab, insbesondere wegen der vom Friedensvertrag auferlegten Einschränkungen hinsichtlich der Wehrmacht.21 Siehr hoffte, bei den für Mai 1922 in Berlin angesetzten Verhandlungen über das „Ostpreußenprogramm“ auf das Reich und Preußen einwirken zu können, um die Zurückziehung der Schutzpolizeikräfte von der ostpreußisch-polnischen Grenze noch zu verhindern.22 Zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags war sich der Oberpräsident vollauf bewußt, daß seine Provinz durch den polnischen Korridor nicht nur wirtschaftlich, sondern auch psychisch in eine Krise geraten war. Nachdem Siehr in den Jahren 1920 / 21 wiederholt damit gescheitert war, Berlin zur Einleitung durchgreifender Hilfsmaßnahme zu bewegen, sah er sich nun genötigt, die Rettung der Grenzprovinz zu einer staatspolitischen Aufgabe Deutschlands zu erklären. Ostpreußen mußte, so Siehr, Polen gegenüber gestärkt werden, vor allem durch Subvention des Korridorverkehrs mit staatlichen Mitteln sowie durch intensive Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Sowjetrußland. Seine Vorschläge, die nicht nur von wirtschaftspolitischer, sondern auch von außenpolitischer Bedeutung waren, faßte der Oberpräsident in einer Denkschrift zusammen, dem sogenannten Ostpreußenprogramm, welches er zwei Tage nach dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Rapallo-Vertrags, am 18. April 1922, in Berlin einreichte.23
20 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 2238, OPO an PreußMP, 20.5.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 56, Heft 1, OPO (Herbst), Aide-mémoire, 22.5.1922. 21 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 1, Bl. 289, Abschrift, Wehrkreiskommando I. an Reichswehrministerium, 1.5.1922. 22 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 1, Bl. 295, Abschrift, OPO an Wehrkreiskommando I. Königsberg, 25.4.1922. 23 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Bl. 221 ff., Denkschrift, OPO, 18.4.1922. Siehe auch PA AA, R 81486.
IV. Das Ostpreußenprogramm vom April 1922137
2. Nach dem Mißerfolg der zweiten Ostpreußenkonferenz Auch nach der ersten Ostpreußenkonferenz vom März 1920 wurden von den Berliner Zentralregierungen keine durchgreifenden Maßnahmen zugunsten der notleidenden Provinz getroffen. Auf der zweiten Ostpreußenkonferenz Ende Oktober 1920 erklärte zwar Reichskanzler Fehrenbach, „daß die durch die geographische Trennung vom Reich geschaffene besondere Lage Ostpreußens vielfach eine besondere Behandlung und Unterstützung in wirtschaftlichen Fragen erfordere. Der Notwendigkeit dieser Sonderlage würden sich die Regierungen des Reichs und von Preußen nicht verschließen.“24 Das Ergebnis der Konferenz beschränkte sich aber im wesentlichen auf die Anerkennung der besonderen Lage der Provinz. Obwohl Siehr ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer Ausnahmebehandlung hinwies,25 vermied die Reichsregierung feste Zusagen in dieser Angelegenheit. Schon in der Vorbesprechung in der Reichskanzlei wurde die zögerliche Haltung der Berliner Ministerien deutlich. Reichswirtschaftsminister Scholz trat dafür ein, „daß […] alles vermieden werden müsse, wodurch Ostpreußen nach außen hin als ein selbständiges Gebilde erscheinen könne“, womit er sowohl beim Reichskabinett, als auch bei der preußischen Regierung Beifall fand.26 Auf der Konferenz wurden die meisten Anträge Ostpreußens bezüglich einer Ausnahmebehandlung von den bestehenden Wirtschafts-, Steuer- und Zollregelungen, vor allem ein zu diesem Zweck zu erlassendes Ermächtigungsgesetz, abgelehnt. Während die Zentralministerien den Verlauf der zweiten Ostpreußenkonferenz dennoch positiv bewerteten, vermittelt die Niederschrift des Oberpräsidenten einen Eindruck von der Enttäuschung auf ostpreußischer Seite. Hier heißt es etwa, ein Vertreter aus Königsberg „verlangt Taten, nicht nur Worte“, und „Oberbürgermeister Lohmeyer stellt in temperamentvollen Ausführungen den niederdrückenden Eindruck der bisherigen Verhandlungen fest“.27 Unter diesen Umständen war die Erklärung des Reichswirtschaftsministers über eine baldige Aufnahme von Handels24 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Protokoll der Besprechung über wirtschaftliche Fragen Ostpreußens vom 26.10.1920 im Reichskanzlerhaus. 25 Siehr schrieb: „Um die Zuversicht sämtlicher Bevölkerungskreise Ostpreußens erneut zu beleben, wird von seiten der Reichs- und Staatsregierung die grundsätzliche Erklärung erbeten, daß die durch die Abschnürung vom Reiche und die politisch nicht gefestigten Verhältnisse der Nachbarstaaten geschaffene Wirtschaftslage Ostpreußens besonderer Behandlung und Unterstützung, nötigenfalls auch unter Abweichung von der allgemeinen Regelung im Reiche bedarf.“ GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, OPO an Reichspräsidenten, PreußMP u. a. m., 14.10.1920. 26 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Vorbesprechung über Ostpreußen am 25. Oktober 1920. 27 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 165, Heft 1, Niederschrift von Vizepräsident Herbst vom 26.10.1920.
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vertragsverhandlungen mit Litauen sowie die Hinzuziehung von ostpreußischen Sachverständigen zu den Verhandlungsvorbereitungen, welche auf den Vorschlag Herbsts zurückging, eines der wenigen positiven Ergebnisse der zweiten Ostpreußenkonferenz.28 Nach den Mißerfolgen der beiden Ostpreußenkonferenzen leitete der ostpreußische deutschnationale Abgeordnete Graf von Kanitz im Januar 1922 eine Interpellation im Reichstag ein.29 Sein Versuch, die Reichsregierung zu sofortigen Hilfsmaßnahmen zu veranlassen, blieb jedoch vergeblich.30 Angesichts der umfangreichen finanziellen Forderungen Ostpreußens entwickelte sich in Berlin eine gewisse „Ostpreußen-Müdigkeit“.31 Der Fehlschlag der DNVP im Reichstag, bei dem auch die Parteizugehörigkeit der Interpellanten eine Rolle spielte, gab dem Oberpräsidenten Anlaß dazu, sich erneut in die Angelegenheiten einzuschalten. Mitte Februar 1922 besuchte Oberpräsidialrat Herbst das Preußische Innenministerium in Berlin.32 Hier gab ihm Ministerialdirektor Loehrs die Anregung, die Hilfsanträge, die bisher unkoordiniert von verschiedenen Interessenvertretern Ostpreußens gestellt worden waren, durch ein einheitliches, vom Oberpräsidenten zu erarbeitendes Programm zu ersetzen. Auf diese Weise könnten sowohl parteipolitische Schwierigkeiten, als auch ein Kompetenzstreit zwischen den Reichs- und preußischen Behörden vermieden werden.33 Anschließend verhandelte Herbst mit Geheimrat Bansi beim Preußischen Landwirtschaftsministerium über die Finanzierungsfrage. Die Durchführung des Ostpreußenprogramms, das erhebliche Mittel benötigte, mußte zweifellos auf den Widerstand der anderen Länder sowie die Haushaltskontrolle der Alliierten stoßen. Herbst schlug vor, durch den Erlaß eines Ermächtigungsgesetzes einen Sonderfonds zum Zwecke der Durchführung der gesamten Maßnahmen einzurichten. Dieser sollte beim Reichsernährungsministerium unter dem Titel „Wiederherstellung der Produktionsverhältnisse in Ostpreußen“ etatisiert werden.34 Herbsts Finanzkonzept schien jedoch völlig unrealistisch und fand selbst in Ostpreußen Ablehnung. 28 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 1, OPVan OPO, 20.10.1920. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Protokoll der Besprechung über wirtschaftliche Fragen Ostpreußens vom 26. Oktober 1920 im Reichskanzlerhaus. 29 RT (1922), 156. Sitzung vom 21.1.1922, S. 5437 f. 30 „Ostpreußen und Regierung“, in: Der Parteifreund, hg. v. Deutschnationale Volkspartei, Landesverband Ostpreußen, Nr. 4, 28.1.1922. 31 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 54, OPO, Ostpreußen-Interpellation im Reichstag, 19.2.1922. 32 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 165, Heft 1, Aktennotiz Frankenbach, 18.2.1922. 33 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 240, Stellungnahme des Oberregierungsrats Agricola zum Ostpreußenprogramm. 34 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 47, Herbst, 18.2.1922.
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3. Die Aufstellung des Ostpreußenprogramms a) Aufgabe und Finanzierung Anfang März 1922 lud Siehr Spitzenvertreter von Politik, Wirtschaft sowie Verwaltung Ostpreußens zu einer vertraulichen Besprechung im Oberpräsidium ein, um sie über die von Herbst in Angriff genommene Erarbeitung des Ostpreußenprogramms zu informieren.35 Unter Hinweis auf die bisherigen Mißerfolge Ostpreußens in Berlin wies Siehr auf die Notwendigkeit hin, die Unterstützung der Provinz als staatspolitische Aufgabe hinzustellen. Als Leitgedanken hob er den Schutz Ostpreußens und seiner Wirtschaft vor der „franco-polnischen Politik“ hervor. Siehr hielt es für geboten, zunächst den Korridorverkehr sowie die Hauptstadt als Wirtschaftszentrum der Provinz zu fördern. Zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit des Königsberger Hafens gegenüber den Häfen Danzig und Memel müsse die Verkehrsinfrastruktur (Seehafen, Flughafen, Bahnhöfe, Eisenbahnen, Binnenwasserstraßen, Kanäle etc.) intensiv gefördert werden.36 Siehr bat die Teilnehmer um Verständnis für die Bevorzugung der Hauptstadt im Förderungsprogramm. Die von Herbst formulierten Forderungen waren offenbar bewußt übertrieben, damit die Provinz überhaupt Zuschüsse aus Berlin erlangen konnte. So hatte Oberbürgermeister Lohmeyer die Aufnahme des Königsberger Hafens in das Ostpreußenprogramm zunächst abgelehnt, weil die Finanzierung des Hafenausbaus schon unmittelbar nach Kriegsende vom Reich und Preußen anerkannt worden war. Der Programmpunkt hätte deshalb zu Mißverständnissen führen können.37 Die Aufnahme des Hafens in das Ostpreußenprogramm erfolgte dennoch, weil Herbst der Meinung war, daß die Wiederherstellung der Wirtschaft Königsbergs, vor allem aber des 35 Zu den Sitzungsteilnehmern gehörten unter anderen die Regierungspräsidenten (Gumbinnen, Allenstein, Königsberg), Landeshauptmann v. Brünneck, der Bevollmächtigte im Reichsrat v. Gayl, Landesfinanzamtspräsident Tiesler, Landwirtschaftskammerpräsident Brandes, Handelskammerpräsident Königsberg Heumann, Bürgermeister Goerdeler, Eisenbahndirektionspräsident Platho, Handwerkskammervorsitzender, Delegierte des Reichskommissars für Ein- und Ausfuhrbewilligung, Vertreter aus dem Landeskulturamt sowie dem Wehrkreiskommando. Aus dem Oberpräsidium nahmen teil Vizepräsident Herbst, Oberregierungsrat Calinich, Oberregierungsrat Agricola sowie der Berliner Vertreter des Oberpräsidenten, Frankenbach. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 1, Bericht über die vertrauliche Besprechung am 8. März 1922 betreffend die Durchführung des Ostpreußenprogramms. 36 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 1, Bericht über die vertrauliche Besprechung am 8. März 1922 betreffend die Durchführung des Ostpreußenprogramms. 37 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 1, Bl. 84, Magistrat der Stadt Königsberg (Lohmeyer) an OPO, 8.4.1922.
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Rußlandgeschäfts im Hafen Königsberg, das zentrale Anliegen des Programms bilden müsse. Herbst schätzte die Höhe des einzurichtenden Fonds auf 10 Millionen RM. Dieser Betrag sollte außerdem auf dem Wege eines Ermächtigungsgesetzes erlangt werden. Die Hindernisse, namentlich der Widerstand der anderen Grenzprovinzen gegen die Bevorzugung Ostpreußens sowie die Finanzaufsicht der Alliierten, seien dadurch zu überwinden, daß man die Finanzmittel zum Zweck der „Wiederherstellung der innerdeutschen Relativität der Produktionsbedingungen“ einwerbe, mit der Begründung, daß die Notlage der Kornkammer Deutschlands eine Gefährdung für die Ernährungslage im Reich darstelle.38 Gegen dieses vage Finanzierungskonzept protestierte die Mehrheit der Sitzungsteilnehmer, unter ihnen der Regierungspräsident von Allenstein, v. Oppen (DVP), der Provinzialvertreter im Reichsrat, Freiherr v. Gayl (DNVP), sowie der Bürgermeister von Königsberg, Carl Friedrich Goerdeler (DNVP).39 Oppen wies darauf hin, daß die Einrichtung des Fonds per Ermächtigungsgesetz unmöglich sei, weil trotz der geplanten Tarnung die Alliierten den eigentlichen Zweck des Programms, der in der wirtschaftlichen Stärkung Ostpreußens gegen Polen bestand, erkennen würden. Alle Teilnehmer stimmten dem zu und beurteilten das Finanzkonzept Herbsts, obwohl Siehr es verteidigte, als aussichtslos, zumal mit einer schnellen Entwertung durch die Inflation gerechnet werden mußte.40 „Ein einmaliger Fonds könnte uns dauernd nicht helfen“, meinte auch Goerdeler, der anregte, die für das Ostpreußenprogramm in Aussicht genommenen einzelnen Aufwendungen als laufende Ausgaben in die Etats der zuständigen Ministerien einzustellen. Sein Vorschlag war für die Lösung der Finanzfrage richtungweisend, denn der spätere Kabinettsbeschluß wurde tatsächlich in diesem Sinne getroffen. In der Besprechung vom 8. März wurde allerdings keine Einigung erzielt. Der Oberpräsident bat alle Sitzungsteilnehmer um die baldige Zusendung schriftlicher Stellungnahmen zum Konzept des Ostpreußenprogramms, auf deren Grundlage eine endgültige Fassung abgefaßt werden sollte.41
38 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 74, Konzept von Herbst über die Durchführung des Ostpreußenprogramms. 39 Auch Landeshauptmann v. Brünneck sowie Landesfinanzamtspräsident Tiesler lehnten ein Ermächtigungsgesetz strikt ab. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 1, Bl. 76, Landeshauptmann v. Brünneck an OPO, 3.4.1922. 40 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 1, Bl. 14, Frhr. v. Gayl an OPO, 17.3.1922. 41 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 1, Bericht über die vertrauliche Besprechung am 8. März 1922 betr. die Durchführung des Ostpreußenprogramms.
IV. Das Ostpreußenprogramm vom April 1922141
b) Die Stellungnahme der Regionen aa) Königsberger Handelskammer Zu den Ergebnissen der Besprechung vom 8. März nahm zuerst die Königsberger Handelskammer Stellung. Sie äußerte ihr Bedauern, daß die Frage der Förderung der Stadtwirtschaft lediglich mit Blick auf mögliche Investitionen in die Infrastruktur behandelt worden sei. Hingegen legte sie großen Wert darauf, den Wunsch nach einer Wiederaufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen mit den Oststaaten ausdrücklich in die Denkschrift einzubeziehen.42 Die Kammer bezeichnete den Verzicht Moskaus auf Artikel 116 sowie 117 des Versailler Vertrags als Grundlage der neuen deutsch-sowjetischen Beziehungen.43 Sowjetrußland zählte nicht zu den Signatarmächten des Friedensvertrags von Versailles und akzeptierte nicht die von den Alliierten errichtete Nachkriegsordnung, zumal den Völkerbund. Mit Rücksicht darauf hielt man es in Königsberg für notwendig, die Wirtschaftspartnerschaft zwischen Deutschland und Sowjetrußland vertraglich abzusichern. Die Kammer wünschte außerdem eine baldige Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluß neuer Handelsverträge mit den Oststaaten, insbesondere mit dem wichtigsten Transitland, Litauen. Die Königsberger Wirtschaft strebte letztlich die Wiederherstellung des alten deutsch-russischen Handelsvertragssystems von 1894 an, das in jener Zeit dem Königsberger Rußlandgeschäft eine gedeihliche Entwicklung gesichert hatte. bb) Magistrat Tilsit Ebenso wie Königsberg sah die Grenzstadt Tilsit in der Wiederherstellung des Handelsvertragssystems mit Rußland die wichtigste Aufgabe der deutschen Ostpolitik. Unter dem Motto „Ostpreußen ist das Tor nach dem 42 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528. Bd. 1, Bl. 25 f., IHK Königsberg an OPO, 5.4.1922. 43 Laut Artikel 116 des Versailler Vertrags stand Rußland das Recht zu, von Deutschland Wiedergutmachung für Kriegsschäden zu verlangen. Artikel 117 verpflichtete Deutschland dazu, alle Verträge, die zwischen (Sowjet-) Rußland bzw. dessen Nachfolgestaaten und den Alliierten abgeschlossen würden, sowie die Grenzen der russischen Nachfolgestaaten anzuerkennen. Vgl. RGBl. 1919, S. 687–1329. Die Wünsche Königsbergs stimmten mit den Bestrebungen Berlins vollständig überein. Die im Januar 1922 zwischen Berlin und Moskau aufgenommenen Wirtschaftsverhandlungen führten im April 1922 zum Abschluß des deutsch-russischen Vertrags von Rapallo, der den sowjetischen Verzicht auf Artikel 116 festhielt. Herbert Helbig: Die Träger der Rapallo-Politik, Göttingen 1958, S. 57. I. K. Kobljakow: Neue Materialien über den Rapallo-Vertrag, in: Rapallo und die friedliche Koexistenz, Redaktion von Alfred Anderle, Berlin 1963, S. 160–193 (hier S. 164).
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Osten“ äußerte der Magistrat den Wunsch, den Transit durch Litauen nach Polen und Rußland zu sichern. Der Kriegsausgang traf die Stadt besonders schwer, da das Stadtgebiet nördlich der Memel vom Deutschen Reich abgetreten wurde. Hinzu kam seit Oktober 1920 die Unterbindung des Flößereiverkehrs an der Memel, auf den die Wirtschaft Tilsits angewiesen war. Der Zugang oberhalb der Wilnagrenze auf der Memel war wegen des polnischlitauischen Wilnakonflikts seit Oktober 1920 gesperrt. Daher verlangte der Magistrat, die Wiederfreigabe der Memel in der Denkschrift ausdrücklich zu fordern.44 cc) Weitere Stellungnahmen Die Regierungspräsidenten in beiden Abstimmungsgebieten waren einstimmig der Ansicht, den auf Wirtschaftsmaßnahmen konzentrierten Entwurf des Ostpreußenprogramms um national- und sicherheitspolitische Gedanken zu ergänzen.45 So betonte der Regierungspräsident von Marienwerder, Theodor Graf v. Baudissin, die nötige Sicherung der deutschen Grenzbevölkerung gegen einen möglichen Überfall Polens: „Es darf deshalb die Schutzpolizei, ebenso die Reichswehr um keinen Mann geschwächt werden.“46 Er hielt es für unerläßlich, die Landeskriminalpolizei, der die Grenzverkehrskontrolle oblag, in ihrer Arbeit gegen die Spionagetätigkeit „bolschewistischer Elemente“ sowie die Agitation Polens zu unterstützen. Damit reagierte Baudissin auf die Forderung der Alliierten nach Zurückziehung der Schutzpolizeikräfte aus dem Grenzgebiet. Einen anderen Schwerpunkt der Schutzfrage bildete die „Erhaltung des Deutschtums“, das im Rahmen der Kulturförderungsprogramms vorzunehmen war. Als weitere dringende Aufgabe nannte Baudissin die finanzielle Unterstützung der deutschen Organisationen in Danzig, um so den deutschen Charakter der Stadt zu wahren. Auch Oberregierungsrat Reichelt, Leiter der Kirchen- und Schulabteilung des Regierungsbezirks Königsberg, legte großen Wert darauf, das sogenannte vaterländische Bewußtsein zu erhalten und die deutsche Kultur in der Schule Ostpreußens intensiv zu fördern, um so für „die Erhaltung und die Stärkung des Deutschtums in Ostpreußen“ zu sorgen.47 44 GStA PK,
XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 1, Bl. 88, Magistrat Tilsit, 18.4.1922. Regierungspräsident von Allenstein, Oppen, betonte diesen Standpunkt in der Sitzung. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 1, Bericht über die vertrauliche Besprechung am 8.3.1922 betr. die Durchführung des Ostpreußenprogramms. Regierungspräsident Allenstein an OPO, 4.4.1922. 46 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 1, Bl. 50, Regierungspräsident Marienwerder an OPO, 1.4.1922. 47 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 1, Bl. 46, Handschrift, Reichelt, 22.3.1922. 45 Der
IV. Das Ostpreußenprogramm vom April 1922143
c) Die Befugnisse des Oberpräsidenten48 Der Verfasser des Ostpreußenprogramms, Oberpräsidialrat Herbst, vertrat den Standpunkt, der Oberpräsident müsse mit der Umsetzung der gesamten Maßnahmen beauftragt werden. Dies war jedoch nicht ohne weiteres möglich, da umfangreiche Aufgaben, die im Programm beschrieben waren, wie die Außen- und Verkehrspolitik, außerhalb der Kompetenzen des Oberpräsidenten lagen. Schon auf der ersten Ostpreußenkonferenz 1920 hatte Oberpräsident Winnig verlangt, die Kompetenzen des Oberpräsidenten und des mit umfassenden Vollmachten ausgestatteten Reichskommissars zu vereinigen, um damit eine als Statthalter anzusehende starke Spitze zu schaffen. Herbst kam hingegen zu dem Schluß, daß die von Winnig angestrebte Lösung nicht mehr denkbar sei. Realistischer sei es vielmehr, dem Oberpräsidenten sämtliche Reichsbehörden in der Provinz zu unterstellen. Vor allem sollte ihm ein Handlungsspielraum in auswärtigen Angelegenheiten eingeräumt werden. Herbst setzte außerdem darauf, daß die geplante Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten diesem die Auseinandersetzung mit dem rechtsorientierten Provinzialausschuß erleichtern würde. Darin stimmte ihm Siehr völlig zu.49 Die dualistische Wahrnehmung der Interessen Ostpreußens, die im angespannten Streit zwischen dem Berliner Vertreter des Oberpräsidenten und dem Provinzialvertreter im Reichsrat sichtbar wurde, gefährdete das System der preußischen Staatsverwaltung. Die Vertretung des Oberpräsidenten in Berlin wurde von den rechtsstehenden Kreisen Ostpreußens häufig ignoriert. Sie wandten sich statt dessen an den Provinzialvertreter Freiherr v. Gayl.50 Seine bedenkliche Situation stellte Siehr wie folgt dar: „Die 48 Das von Herbst ausgearbeitete erste Konzept des Ostpreußenprogramms gliederte sich in zwei Hauptteile: A) Das Ostpreußenprogramm. B) Die Durchführung des Ostpreußenprogramms. Der Teil A bestand aus weiteren drei Programmen: I) Wirtschaft und Verkehr, II) Kultur, III) Außenpolitik. Dagegen handelte es sich bei Teil B um die Finanzierungs- sowie Kompetenzfragen bei der Durchführung des gesamten Programms. GStA PK, XX. HA. Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 67. Konzept von Herbst über das Ostpreußenprogramm. Während die einzelnen konkreten Finanzanträge, wie die Bauprojekte, Frachtenermäßigungen sowie Kulturförderungen etc. zuerst im I. und II. Programm aufgelistet werden sollten, richtete sich das Ziel des III. Programms (Außenpolitik) ausschließlich auf die Wiederherstellung der Rahmenbedingungen der Wirtschaft Ostpreußens in der Vorkriegszeit. Zudem sollte das III. Programm streng geheimgehalten werden. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 70, Konzept von Herbst über das Ostpreußenprogramm. 49 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 67, Konzept von Herbst über die verwaltungsmäßigen Zuständigkeiten. 50 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577, Bl. 144, Abschrift, OPO an PreußMdI, 17.6.1921. Siehr äußerte: „Nicht nur würde die Bedeutung des Bevollmächtigten des Oberpräsidenten von Ostpreußen durch Schaffung einer anderen Stelle in Berlin mit
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abgeschnürte Lage der Provinz verlangt gebieterisch die schärfste Zusammenfassung der ganzen Staatsgewalt an einer Stelle. Der bei der ersten Ostpreußenkonferenz gerade von den Vertretern der rechtsstehenden Parteien geltend gemachte Gesichtspunkt, daß in Ostpreußen der Oberpräsident auch gewissermaßen die Spitze der Reichsbehörden der Provinz bilden müsse, damit er, wie ein Gouverneur einer Kolonie ein Neben- und Gegeneinanderarbeiten der Reichs- und Preußischen Ressorts in der Provinz verhüten könne, war immerhin erwägenswert. Geradezu verhängnisvoll für die Provinz würde es aber nach meiner Auffassung sein, wenn man die Staatsgewalt dadurch lahmlegt, daß man ihrem Vertreter durch die Umkleidung des Reichsratsmitglieds mit einer quasi amtlichen Autorität einen zweiten Machtfaktor an die Seite setzt und dem Oberpräsidenten dadurch jede ruhige und zielbewußte Arbeit unmöglich macht.“51 Während sich Siehr und das Preußische Innenministerium im Rahmen des Ostpreußenprogramms um die Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten bemühten, erhob Gayl dagegen Einwände. Er schlug vielmehr vor, ein Kollegialsystem einzuführen und diesem die Durchführung des Ostpreußenprogramms zu überlassen. Dem Oberpräsidenten solle ein Ausschuß aus Vertretern verschiedener Interessengruppen aus Wirtschaft und Politik beigesellt werden. Daneben empfahl Gayl die Reform der Vertretung des Oberpräsidenten in Berlin, vor allem durch die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft aus den ostpreußischen Vertretern des Reichstags, Landtags, Reichswirtschaftsrats sowie Staatsrats.52 Seine Vorschläge schienen zwar demokratischer zu sein als der, alle Exekutivgewalt in die Hand des Oberpräsidenten zu legen. Dennoch kam für die republikanische Regierung Preußens ein Kollegialsystem unter Führung der DNVP keinesfalls in Frage. d) Ostpolitik Herbsts Programmentwurf verlangte eine „aktiv östlich orientierte Politik, eine gewisse Beweglichkeit Ostpreußens gegenüber den Nachbarstaaten“.53 Diese erstreckte sich auf zwei Bereiche: 1. die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Rußland, insbesondere die Wiederherstellung des deutsch-russischen Handelsvertragssystems von 1894. Die Förderung für den Aufbau des gleichen oder ähnlichen Aufgaben herabgedrückt werden, sondern die Stellung des Oberpräsidenten selber würde beeinträchtigt werden.“ 51 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, OPO an PreußMdI, 17.8.1921. 52 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 1, Bl. 14, Frhr. v. Gayl an OPO, 17.3.1922. 53 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 67. Konzept von Herbst über das Ostpreußenprogramm.
IV. Das Ostpreußenprogramm vom April 1922145
neuen Königsberger Hafens sei als Ersatz für die verlorenen wirtschaftspolitischen Begünstigungen für Königsberg zu betrachten, die durch den alten Handelsvertrag gewährt worden waren.54 2. Der Schutz der deutschen Grenzbevölkerung. Die Stärkung der schutzpolizeilichen und kriminalpolizeilichen Maßnahmen sowie die Abwehr von Propaganda, Agitation und Spionage sollten gesichert werden. Während der erste Punkt auf die Stellungnahmen der Königsberger und Tilsiter Wirtschaftskreise zurückging, ergab sich der letztere offenbar aus dem Wunsch der Grenzbezirke. Zur „Polenabwehr“ sollten dem Oberpräsidenten ausreichende Mittel eingeräumt werden.55 Der Entwurf des III. Abschnitts (Außenpolitik) wurde von Herbst als streng geheim klassifiziert. 4. Die Denkschrift vom 18. April 1922 a) Die Mitwirkung des Oberpräsidenten an der Außenpolitik Am 18. April 1922 wurde die Denkschrift über das Ostpreußenprogramm durch den Oberpräsidenten bei den zuständigen Stellen des Reichs und Preußens eingereicht. Angesichts der wirtschaftlichen und außenpolitischen Sonderprobleme der Grenzprovinz setzte das Programm große Erwartungen in den deutsch-sowjetischen Vertrag von Rapallo. Mit Begeisterung fügte Herbst einem Tag nach Abschluß des Vertrags in sein Manuskript den folgenden Satz ein: „Ostpreußen kann nur hoffen, daß die mit dem Vertrag von Rapallo inaugurierte Politik fortgesetzt und ihm mit der Wiedereröffnung des Tores nach dem Osten seine Rolle als Vermittler des Handels mit Rußland wiedergegeben wird.“56 Die Denkschrift hob zudem die Frage der Mitwirkung des Oberpräsidenten an der Außenpolitik besonders hervor. Siehr erinnerte sich später daran, daß sich für ihn aus der Insellage Ostpreußens außenpolitische Probleme ergaben, „wie sie in ähnlicher Art keinem der anderen preußischen Oberpräsidenten oblagen und die er selbständig, wenn auch im ständiger Führung mit dem Auswärtigen Amt und den anderen Reichsstellen, zu lösen hatte.“57 Die Sonderlage erforderte deshalb die formelle Änderung seiner gesetzlich festgelegten Befugnisse, damit der Oberpräsident nicht nur Kompetenzstreitigkeiten mit den Reichsbehörden vermeiden, sondern auch einen gewissen Handlungsspielraum im Umgang 54 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 74 f. (hier Bl. 77), Konzept von Herbst über Durchführung des Ostpreußenprogramms. 55 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 70, Konzept von Herbst über das Ostpreußenprogramm. 56 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Denkschrift, OPO, 18.4.1922. 57 Ernst Ludwig Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz), S. 26 f.
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mit den Oststaaten erlangen konnte. Dies sollte in der Weise erfolgen, daß es keiner Behörde in der Provinz, die Reichsbehörden eingeschlossen, erlaubt sein dürfe, ohne vorherige Fühlungnahme mit dem Oberpräsidenten Maßnahmen zu treffen, die auf einen der an die Provinz grenzenden Nachbarstaaten politische Auswirkungen haben könnte. Ein einheitliches Vorgehen gegenüber den Nachbarstaaten sei sicherzustellen: „Jedenfalls aber drängt allein die spezifisch ostpreußische Bedeutung des Polen-, Litauer-, Memel-, Danziger-, Weichsel- und des allgemeinen Ostproblems zu einer baldigen Entwicklung in der Richtung, daß eine Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten von Ostpreußen ihm eine einheitliche Führung der Wirtschafts- und Kulturpolitik und eine spezifische Mitwirkung bei den Problemen der Außenpolitik im Rahmen der deutsch-ostpreußischen Bedürfnisse ermöglicht.“58 b) Die Leitsätze des Ostpreußenprogramms Am Schluß der Denkschrift bat der Oberpräsident das Kabinett um Beschlußfassung über neun Leitsätze, die für die Durchführung des Programms erforderlich waren und sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1. Anerkennung des Ostpreußenprogramms als Staatsaufgabe. Stärkung der Wirtschaft Ostpreußens gegen das Versailler System, vor allem gegen die „francopolnische“ Politik. 2. Anerkennung der berufungslosen Sonderbehandlung Ostpreußens.59 3. Wiederherstellung der „Relativität“ der Produktionsbedingungen Ostpreußens. 4. Annahme der einzelnen Finanzanträge. 5. Erwägung eines Intensitätsgesetzes. 6. Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten. 7. Gewährung der nötigen Finanzmittel. 8. Stärkung des Deutschtums. Die Polenfrage als kulturpolitische Aufgabe. 9. Übertragung der Federführung auf das Preußische Innenministerium. Davon werden hier folgende drei Leitsätze zitiert, welche die Außenpolitik betreffen: 1. Die Provinz Ostpreußen ist infolge der durch den Versailler Vertrag eingetretenen Abschnürung vom Reich und durch die der franco-polnischen Politik innewohnenden Tendenzen als letzter deutscher Außenposten rechts der Weichsel aufs 58 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Denkschrift, OPO, 18.4.1922. BA, R 43 I / 1850, Bl. 251 ff., Denkschrift, OPO, 18.4.1922. 59 Zum Begriff der „berufungslosen Sonderlage“ schrieb Siehr: „Solcher Erschwernisse der ostpreußischen Wirtschaftslage durch den Korridor gab es eine ganze Menge. Diesen Vorausbelastungen der ostpreußischen Wirtschaft suchte ich durch das sogenannte Ostpreußenprogramm entgegenzuwirken, das auf dem Gedanken aufgebaut war, die durch den Korridor geschaffene Sonderlage Ostpreußens müsse durch eine Sonderbehandlung der Provinz ausgeglichen werden, die nicht zu Berufungen anderer Landesteile führen dürfe.“ Ernst Ludwig Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz), S. 27 f.
IV. Das Ostpreußenprogramm vom April 1922147 äußerste gefährdet. Mit dem Verlust Ostpreußens würde die ganze deutsche Ostgrenze zusammenbrechen. Das Ostpreußenproblem wird daher als ein solches von höchster politischer Bedeutung für ganz Preußen und Deutschland anerkannt. 6. Die Stellung des Oberpräsidenten von Ostpreußen soll eine Stärkung im Sinne der Vorschläge seiner Denkschrift erfahren, um ihm eine einheitliche Führung der gesamten ostpreußischen Wirtschafts- und Kulturpolitik und eine spezifische Mitwirkung bei den Problemen der Außenpolitik im Rahmen der preußisch-ostpreußischen Bedürfnisse zu ermöglichen. 8. Zur Durchführung einer auf lange Sicht eingestellten praktischen Kultur- und Wohlfahrtspolitik in Ostpreußen mit dem Ziele, den deutschen Durchschnitt auf diesem Gebiet einzuholen und gleichzeitig als Abwehrmaßnahme gegen die polnische Propaganda, wird für die Provinz Ostpreußen ein Nothilfefonds für Kultur, Wissenschaft und Wohlfahrtspflege zur Verfügung gestellt. Über die Höhe dieses Nothilfefonds Vorschläge zu machen, wird dem preußischen Ministerium des Innern nach Fühlungnahme mit den betreffenden Ressorts überlassen.
Die erste Verhandlung über das Ostpreußenprogramm fand Mitte Mai 1922, drei Wochen nach Einreichung der Denkschrift, im Preußischen Innenministerium statt.60 Während man in Ostpreußen in diese Verhandlung große Hoffnung setzte und sie deshalb die dritte Ostpreußenkonferenz nannte, sah sich in Berlin außer dem preußischen Landwirtschaftsminister Wendorff kein Kabinettsmitglied genötigt, an der Unterredung teilzunehmen. Das Ziel des Oberpräsidenten, die Zustimmung des Reichskanzlers oder des preußischen Ministerpräsidenten zu dem von ihm vorgelegten Programm zu erlangen, wurde völlig verfehlt. Es fragte sich sogar, ob die Denkschrift von der Zentralregierung überhaupt ernst genommen wurde. Die Ministerien betrachteten sie jedenfalls mit Skepsis. Es herrschte in Berlin die Meinung vor, daß man „Ostpreußen wie ein unartiges Kind ein wenig tadeln und ein wenig beruhigen und es dann getröstet nach Hause schicken“ wolle.61 Das preußische Innenministerium selbst, das dem Oberpräsidenten die Aufstellung des Programms empfohlen hatte, hielt es für unerläßlich, die unprofessionellen und übertriebenen, bisweilen sogar verhetzenden Formulierungen der Herbstschen Denkschrift redaktionell abzumildern. Nach der vom Ministerium geführten Nachbesserung wurden die Leitsätze letztlich in fünf Anträgen zusammengefaßt. Als Leitgedanke wurde die Sonderlage Ostpreußens sowie seine Hilfsbedürftigkeit hervorgehoben und die Überwindung der Probleme der Provinz als eine politische Aufgabe von höchster Bedeutung bezeichnet. Im Gegensatz zur Denkschrift Herbsts wurde nicht 60 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 257 ff., Niederschrift der Ressortbesprechung zum Ostpreußenprogramm, 12.5.1922. BA, R 43 I / 1850, Bl. 283, PreußMdI, Niederschrift vom 12.5.1922. 61 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 1, Bl. 218 ff., OPO an Ministe rialrat Loehrs (PreußMdI), 2.5.1922.
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1. Teil: Ostpreußen
mehr unmittelbar von einer Polengefahr bzw. Polenfrage gesprochen. Dieser Aspekt rückte deshalb weit in den Hintergrund. Die Leitsätze des Programms bezogen sich lediglich allgemein auf staatliche Stützungsmaßnahmen für Ostpreußen in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht, ohne einen bestimmten Kontrahenten Deutschlands zu nennen. Der vierte der neuen Leitsätze war als einziger gegenüber der Vorlage präzisiert. Er brachte die Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten in Zusammenhang mit einer zugleich erforderlichen Stärkung der Stellung der preußischen Staatsregierung in den ostpreußischen Angelegenheiten: 4. Die Stellung des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen soll zu dem Ziele gestärkt werden, eine möglichst einheitliche Führung der gesamten ostpreußischen Wirtschafts- und Kulturpolitik zu ermöglichen. Zu diesem Zweck werden alle Provinzialbehörden, auch soweit sie dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen nicht unterstehen, angewiesen werden, in derartigen Fragen enge Fühlung mit ihm zu halten und sich auf seine Einladung hin zu Besprechungen über derartige Fragen zur Verfügung zu stellen.62
In der Verhandlung vom 12. Mai 1922 legte das preußische Innenministerium die neue Fassung der Leitsätze vor. Die beteiligten Reichs- und preußischen Stellen gaben einstimmig ihre Zustimmung.63 Daraufhin beschloß die preußische Regierung am 23. Juni, die Leitsätze des Ostpreußenprogramms anzunehmen.64 Sie wurden sodann durch das Reichsinnenministerium dem Reichskabinett vorgelegt65 und ohne weitere Abänderungen am 12. August 1922 von der Regierung unter Reichskanzler Wirth einstimmig angenommen.66 Dabei machte das Kabinett allerdings hinsichtlich der Finanzfrage den Vorbehalt, daß die programmatische Entschließung keine materielle Bindung für künftige Einzelfragen bedeute.67 Trotz dieses Vorbehalts wurden schließlich die meisten Finanzanträge auf den Ausbau der Infrastruktur durch Reich und Preußen angenommen. Somit wurden die Ziele des Oberpräsidenten letztlich doch erreicht. Sämtliche Behörden in der Provinz, auch die ihm bisher nicht unterstehenden, waren angewiesen, enge Führung mit ihm zu halten und sich auf seine Einladung hin zu Besprechungen über strittige Fragen zur Verfügung zu stellen. (Seinen Erinne62 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Bl. 243 ff., PreußMdI, Niederschrift, 12.5.1922. Abdruck der vom Preußischen Innenministerium formulierten Leitsätze, die sowohl von Preußen, als auch vom Reichskabinett im Sommer 1922 angenommen wurden, in: AdRK Kabinette Wirth I und II, Bd. 2, Dok. 339, Anm. 1, S. 1010 f. 63 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, PreußMdI, Niederschrift, 12.5.1922. 64 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 19384, Abschrift, StM, 23.6.1922. 65 BA, R 43 I / 1378, RMdI an StS der Reichskanzlei, 1.8.1922. 66 BA, R 43 I / 1850, RMdI, 14.9.1922. BA, R 43 I / 1850, PreußMdI an RMdI, 25.8.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 193, OPO an OPV, 22.9.1922. 67 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 2, Abschrift, RMdI, 12.8.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, 19384, Abschrift, RMdI, 12.8.1922.
IV. Das Ostpreußenprogramm vom April 1922149
rungen zufolge war Siehr hierzu allerdings der Auffassung, daß ihm durch das Ostpreußenprogramm 1922 nicht nur ein Auskunftsrecht, sondern auch eine gewisse Anweisungsbefugnis gegenüber den Reichsbehörden eingeräumt worden sei.68) Die Erweiterung der Befugnisse des Oberpräsidenten auf die Außenpolitik wurde zwar durch die Umformulierung des Preußischen Innenministeriums fallen gelassen. Die Rede war nur noch von der einheitlichen Führung „der gesamten ostpreußischen Wirtschafts- und Kulturpolitik“. Immerhin aber stellte das Auswärtige Amt nach dem Kabinettsbeschluß klar, daß dem in der Denkschrift enthaltenen Antrag Ostpreußens auf Wiederaufnahme der Wirtschaftsbeziehungen mit Rußland und den Oststaaten voll Rechnung getragen werde. Die Beteiligung des Oberpräsidenten an der Außenpolitik solle durch ständige Fühlungnahme mit seinem Ostpreußischen Vertreter beim Reichs- und Staatsministerium, der sich später auch an den Vertragsverhandlungen mit den Oststaaten beteiligen sollte, gewährleistet werden.69 Dem Oberpräsidenten eröffnete sich also neuer Handlungsspielraum in der Handelspolitik sowie in den internationalen Verkehrsangelegenheiten, die in die Kompetenz der Reichsbehörden fielen. Auch seine Beteiligung an den Eisenbahnangelegenheiten, insbesondere hinsichtlich der Tarifpolitik im internationalen und Korridorverkehr, wurde seitens des Reichsverkehrsministeriums und der Eisenbahndirektion ausdrücklich zugesagt und in der Folgezeit auch stets eingehalten.70 68 In seinen Erinnerungen schrieb Siehr: „In dem ersten Ostpreußenprogramm (1921 / 22), das ich den Berliner Stellen überreichte, war auch die Forderung enthalten, daß der ostpreußische Oberpräsident nicht nur den preußischen, sondern auch den Reichsstellen der Provinz gegenüber eine maßgebende Stellung einzunehmen habe. Was jetzt im Jahre 1934 im nationalsozialistischen Staate für alle preußischen Oberpräsidenten durchgeführt ist, daß sie auch den Reichsstellen ihrer Provinz gegenüber eine gewisse Anweisungsbefugnis bekamen, wurde damals für Ostpreußen in übereinstimmenden Beschlüssen des Reichskabinetts und des preußischen Kabinetts in dem für die damalige Zeit notwendigen Umfange festgelegt.“ Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz), S. 18 f. 69 PA AA, R 81487, (handschriftlicher Entwurf), AA an RMdI, 31.12.1922. 70 Geheimrat Scholz, der in jener Zeit als Vertreter des Reichsverkehrsministeriums an den Sitzungen der zweiten und dritten Ostpreußenkonferenz beteiligt gewesen war, erinnerte sich Ende der 20er Jahre nach wiederholten Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Reichsbahn und dem Oberpräsidenten daran, daß der Oberpräsident im Ostpreußenprogramm darum gebeten habe, „daß die ihm nicht unterstellten Provinzialverwaltungen, insbesondere die Eisenbahndirektion auch über die allgemein bestehenden Vorschriften hinaus sich mehr wie bis dahin in ständiger Fühlung mit ihm halten sollten.“ GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1094, Aktenvermerk über die Ressortbesprechung am 15.8.1929. Scholz war an der genannten Sitzung vom 12. Mai 1922 als Vertreter des Reichsverkehrsministeriums beteiligt. Er sollte auch in den folgenden Jahren bei den Eisenbahnverkehrsverhandlungen mit den Oststaaten und der UdSSR eine bedeutende Rolle spielen.
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1. Teil: Ostpreußen
Inwieweit konnte der Oberpräsident den ihm eingeräumten Handlungsspielraum in den Bereichen des Außenhandels und des internationalen Verkehrs zur Geltung bringen? Und für welche Ziele setzte sich der Oberpräsident in seiner solcherart gestärkten Stellung ein?71 In den nachstehenden Teilen II und III der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, die Handelsvertragsverhandlungen mit Litauen und der UdSSR, insbesondere die Binnenschiffahrts- und Eisenbahnverhandlungen, aus der Sicht Ostpreußens nachzuzeichnen.
71 Zur Abwicklung der ostpreußischen Wünsche in der Ostpolitik Deutschlands siehe auch GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1068, Heft 2, OPV an PreußMP, 8.2.1924.
Kapitel V
Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens (1926–1932) Im Frühsommer 1928 wurde von Reich und Preußen mit der ersten durchgreifenden Agrarkredithilfsmaßnahme für die notleidende Landwirtschaft Ostpreußens begonnen. Für diese Ostpreußenhilfe wurden von Juni 1928 bis Mai 1929 staatliche Mittel von ca. 105 Millionen RM zur Sanierung der schwer verschuldeten landwirtschaftlichen Betriebe eingesetzt. Am 18. Mai 1929 wurde die Ostpreußenhilfe vom Reichstag auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Auch der Reichspräsident selbst setzte sich in vielfältiger Weise für das Zustandekommen der Hilfsmaßnahmen ein. Zwangsläufig wurde die Verteilung der Hilfsgelder zum Konfliktstoff, und sowohl der Streit zwischen dem Oberpräsidenten und der ostpreußischen DNVP als auch der Interessengegensatz zwischen den nichtlandwirtschaftlichen Wirtschaftskreisen und den Großagrariern verschärfte sich von neuem. Parallel kam es in Berlin zu Auseinandersetzungen zwischen dem weit rechtsorientierten IV. Kabinett von Wilhelm Marx und dem durch den Sozialdemokraten Otto Braun regierten Preußen. Zu Beginn war Oberpräsident Siehr bestrebt, sich in das Verteilungsverfahren einzuschalten, da er verhindern wollte, daß die Hilfsmittel vor allem den konservativen Großagrariern zugute kämen. Sein Einsatz, der auf eine gerechte Verteilung der Hilfsgelder abzielte, kam aber in Verruf, und zwar paradoxerweise auf seiten der preußischen Regierung. Die Mißhelligkeiten zwischen Siehr und der preußischen Regierung hatten zur Folge, daß die Befugnisse des Oberpräsidenten im Kreditentscheidungsverfahren durch die Einsetzung eines preußischen Staatskommissars eingeschränkt wurden. Zwangsläufig litt darunter auch Siehrs persönliche Autorität in der Provinz. Die Ostpreußenhilfe wurde unter Heinrich Brüning 1930 auf dem Wege einer Notverordnung des Reichspräsidenten in die sogenannte Osthilfe umgewandelt, wodurch die Hilfsaktion auf alle Ostprovinzen erweitert wurde. Aus der Agrarkredithilfe wurde letztlich eine Entschuldungsmaßnahme (Vollstreckungsschutz, Herabsetzung aller Forderungen sowie des Zinssatzes), die einschneidende Eingriffe in die Privatgläubigerrechte zur Folge hatte. Die Umwandlung der Ostpreußenhilfe in die Osthilfe machte den politischen Niedergang des Oberpräsidenten, der sich seit der Niederwerfung des Kapp-Putsches 1920 stets für die Demokratisierung der Verwaltung einge-
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1. Teil: Ostpreußen
setzt hatte, deutlich. Der lange Streit zwischen Siehr und den rechtsstehenden Parteien wurde mit dem Austritt Preußens aus der Osthilfe 1931 tatsächlich zugunsten der letzteren entschieden. Im folgenden sollen die Bestrebungen des Oberpräsidenten sowie seines Berliner Vertreters hinsichtlich der Federführung bei der Ostpreußenhilfe erhellt werden.1 1. Der Streit um das zweite Ostpreußenprogramm von 1926 / 27 a) Die Besichtigungsreise der Reichsratsmitglieder Auch nach der Einleitung des Ostpreußenprogramms von 1922, das eine erste systematische Hilfsmaßnahme darstellte, war die Notlage der Provinz nicht überwunden. In der Folgezeit mußten wiederholt neue Hilfsanträge gestellt werden. Mit der Beendigung der Hyperinflation verschlechterte sich die Lage der ostpreußischen Wirtschaft von neuem. Die Verschuldung der landwirtschaftlichen Betriebe wuchs nach der darauffolgenden Währungsreform 1924 schnell an, da die Zinslast ihr zu erzielendes Einkommen weit überstieg. Die Kreditbeschaffung war für Ostpreußen nach dem Ersten Weltkrieg schwierig geworden. Das Kapital konnte nur mit einer höheren Risikoprämie aus dem übrigen Reichsgebiet herangezogen werden. Bereits 1925 geriet auch die ostpreußische Metallindustrie in die Krise.2 Im Dezember 1925 versuchte die Landwirtschaftskammer mit einer Denkschrift die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Notlage der Landwirtschaft zu lenken, insbesondere auf die Lasten des Korridorverkehrs.3 Mitte Dezember 1 Zur Ostpreußenhilfe sowie Osthilfe siehe vor allem die folgenden Beiträge: Wessling (1957), S. 215–289. Hertz-Eichenrode (1969). G. Schulz (1967), S. 141– 204. Astrid von Pufendorf: Otto Klepper (1888–1957). Deutscher Patriot und Weltbürger, München 1997, vor allem S. 72–92. Angelika Roidl: Die „Osthilfe“ unter der Regierung der Reichskanzler Müller und Brüning, Weiden und Regensburg 1994. Friedrich Martin Fiederlein: Der deutsche Osten und die Regierungen Brüning, Papen, Schleicher, Diss. Würzburg 1966. Roland Baier: Der deutsche Osten als soziale Frage. Eine Studie zur preußischen und deutschen Siedlungs- und Polenpolitik in den Ostprovinzen während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Köln und Wien 1980. Rainer Gömmel: Die Osthilfe für die Landwirtschaft unter der Regierung der Reichskanzler Müller und Brüning, in: Von der Landwirtschaft zur Industrie. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Günther Schulz, Paderborn 1996, S. 253–274. Vgl. auch Borcke-Stargordt (1957), S. 35 ff. Dohna-Schlobitten (1989), S. 120 ff. 2 Hans Gerhard: Der ostdeutsche Kapitalmarkt, Königsberg 1932, S. 165 ff. Vgl. R. Friedrich (1988), S. 322 f. 3 BA, R43 I / 1851, Präsident der Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen Dr. Brandes an Reichskanzler Luther, 5.12.1925, Anlage, Denkschrift zur Lage der Provinz Ostpreußen. Brandes zitierte Goethe: „Der Worte sind genug gewechselt, nun laßt uns endlich Taten sehen!“
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens153
beantragte der Oberpräsident beim preußischen Ministerpräsidenten die dringende Verbesserung der Kreditverhältnisse in Ostpreußen. In seiner Denkschrift ging er nicht nur auf die Rentabilitätskrise der Landwirtschaft ein, sondern auch auf die schwierige Lage von Handel und Industrie.4 Der Antrag des Ostausschusses vom Dezember 1925, die Staatsregierung um Berücksichtigung der Notlage Ostpreußens zu ersuchen, fand nunmehr die Zustimmung des Preußischen Landtags.5 In Ostpreußen setzte man große Hoffnungen in die Initiative Preußens zur Einleitung eines neuen Hilfs programms. Obwohl die Leitsätze des Ostpreußenprogramms im August 1922 vom Reichskabinett gebilligt worden waren, sträubten sich die Berliner Zentralstellen weiterhin sowohl gegen die individuelle Behandlung Ostpreußens als auch gegen eine Erweiterung der Befugnisse des Oberpräsidenten. Da die Beratung des Reichskabinetts „versehentlich“ nicht korrekt protokolliert worden war, herrschte zudem Unsicherheit über die Rechtsgültigkeit des Programms von 1922.6 Erinnerte der Oberpräsident in Berlin an die Leitsätze des Ostpreußenprogramms, so hielt man ihm entgegen, „diese Beschlüsse seien nicht bekannt.“7 Obwohl seine Gesuche um weitere Hilfsmaßnahmen nicht selten auf kühle Ablehnung gestoßen waren, legte Siehr im Februar 1926 den Entwurf eines neuen Ostpreußenprogramms vor.8 Daß seine Denkschrift, die auf die Notwendigkeit der Kreditversorgung für Industrie und Landwirtschaft abhob, zunächst keine große Beachtung der Zentralstellen fand, empfand Siehr als „ein Begräbnis 1. Klasse“ der einst beschlossenen Sonderbehandlung Ostpreußens.9 Zur Durchführung eines neuen Hilfsprogramms mußte daher ein neuer Ansatz gefunden werden. Als Vertreter der Staatsregierung war der Oberpräsident stets bemüht, unabhängig von Parteiinteressen Maßnahmen zu treffen, die dem öffentli4 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 166, Heft 2, OPO an PreußMP, 13.12.1925. Dabei wies der Oberpräsident auch auf die Notwendigkeit hin, die von Polen bedrohten Grenzbezirke Ostpreußens finanziell zu unterstützen. 5 PreußLT 111, Sitzung am 17. Dezember 1925, S. 7691 ff. 6 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 2, OPV (Frankenbach) an OPO, 21.4.1925. 7 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, OPO (Herbst) an PreußLM, 1.7.1927. Anläßlich der Verwaltungsabbaudiskussion kritisierte Herbst schon 1924, daß die Regierung die Leitsätze nicht befolge. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1564, Bd. 8, Herbst an OPO, 10.1.1924. 8 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1068 / 2, Bl. 384, OPO, Denkschrift über das neue Ostpreußenprogramm, 16.2.1926. 9 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3528, Bd. 2, Bl. 118, OPO an PreußMdI, / 2, Bl. 460, OPO an PreußMP, 11.5.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1068 PreußMdI, 11.5.1926.
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1. Teil: Ostpreußen
chen Wohl dienen sollten. Der von Siehr intendierte Interessenausgleich war jedoch nur schwer zu erreichen. Obwohl der Oberpräsident sein Programm nach eingehenden Anhörungen ausgearbeitet hatte, konnte er die Wünsche aller Regionen nicht gleichmäßig behandeln. Auch im zweiten Ostpreußenprogramm lag der Schwerpunkt wieder auf der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, die in erster Linie den Städten und zumal Königsberg zugute kam. Kritik am Oberpräsidenten und an der Hauptstadt von seiten der Vertreter der ländlichen Gebiete und insbesondere der südlichen Grenzregion war die Folge. Vor diesem Hintergrund hielt es der von den Deutschnationalen dominierte Provinzialausschuß für geboten, ohne Vermittlung des Oberpräsidenten in Berlin vorstellig zu werden. Um den Berliner Stellen die Notlage Ostpreußens eindringlich vor Augen zu führen, organisierte der Provinzialausschuß unter Führung der Spitzenpolitiker der DNVP, Landeshauptmann v. Brünneck und Provinzialvertreter zum Reichsrat Frhr. v. Gayl, im Sommer 1926 eine Besichtigungsreise der Reichsratsmitglieder durch Ostpreußen.10 Auf Einladung des Landeshauptmanns nahmen die Vertreter der Länder und nicht zuletzt der Reichsminister des Innern, Wilhelm Külz (DDP), an der Reise teil.11 Mit Rücksicht auf die große politische Bedeutung entsandte auch der preußische Ministerpräsident seine Vertreter zur Reichsratsdelegation.12 Braun instruierte den Oberpräsidenten, die Mitglieder des Reichsrats bei ihrem Eintreffen in der Provinz zu begrüßen und sich an der Reise wenigstens teilweise persönlich zu beteiligen, damit die Staatsregierung nicht im Schatten der Initiative der DNVP stehe.13 Als Ausgangspunkt der Ostpreußenreise (vom 12. bis 17. Juli) wurde Marienburg, die alte Ordenshochmeistersresidenz, die gerade ihr 650jähriges Jubiläum feierte,14 ausgewählt. Als Folge des Versailler Vertrags war die Provinz Westpreußen aufgelöst und die im Reich verbliebenen Teile östlich der Weichsel der Provinz Ostpreußen angegliedert worden.15 Mari10 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 415, OPO, 22.5.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Bevollmächtigter zum Reichsrat, Landeshauptmann v. Brünneck an Reichsrat, 2.6.1926 sowie Frhr. v. Gayl an Reichsrat, 5.6.1926. 11 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Teilnehmerliste, OPO an StM, 10.7.1926. 12 Als Vertretung des Ministerpräsidenten waren Staatssekretär Weismann (StM) sowie Ministerialdirektor Nobis (StM) an der Reise beteiligt. 13 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, PreußMP an OPO, 17.6.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, PreußMP an das Büro des Reichsrats, 24.6.1926. 14 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 566, Stadt Marienburg, 29.5.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 411, Heft 3, Magistrat und Stadtverordnete der Ordenshauptstadt, 650-Jahrfeier Marienburg Wpr., 29. und 30. Mai 1926. 15 Aus den westlich der Weichsel gelegenen Teilen der Restprovinz Westpreußen sowie dem Reich belassenen Teilen der Provinz Posen wurde die Provinz Grenz-
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens155
enburg war nun deutsche Grenzstadt an der Weichsel und wurde als Brennpunkt des deutsch-polnischen Nationalitätenkampfes betrachtet.16 Das Reiseprogramm sollte sowohl die positiven Seiten, wie die ostpreußische Kultur sowie den modernisierten Industrie- und Handelshafen Königsberg, als auch die negativen Seiten, wie die notleidende Landwirtschaft sowie die durch Polen gefährdete Weichselgrenze vorführen.17 Der Provinzialausschuß zielte darauf ab, die Besucher davon zu überzeugen, daß Ostpreußen der Hilfe nicht nur bedürfe, sondern sie auch verdiene.18 Obwohl die Staatsregierung dem Vorhaben des Landeshauptmanns zunächst skeptisch gegenübergestanden hatte, mußte sie nach dem erfolgreichen Abschluß der Reise feststellen, daß der Ostpreußenbesuch der Reichsratsmitglieder von großer Bedeutung war. Nach Einschätzung der preußischen Vertreter wurden in der Provinz mit der Reise außerordentlich große Hoffnungen verbunden, wobei die Bevölkerung allerdings die Kompetenzen des Reichsrats überschätzte. Mit Rücksicht darauf vertrat das Staatsministerium nun den Standpunkt, daß das neue Ostpreußenprogramm des Oberpräsidenten baldmöglichst zur Durchführung gebracht werden müsse, um eine den oppositionellen Kräften zugute kommende Enttäuschung der Landbevölkerung zu vermeiden.19 Bei Gelegenheit der Besichtigungsreise reichten die Wirtschaftsvertretungen der Abstimmungsgebiete, darunter Allenstein, Masuren und Marienwerder, eigene Programmvorstellungen nicht nur beim Reichsrat, sondern bei allen Zentralstellen in Berlin ein.20 Dadurch wurde das Prinzip der Ausmark Posen-Westpreußen im Juli 1922 gegründet. Siehe dazu Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe A: Preußen, hg. v. Walther Hubatsch, Bd. 4: Schlesien, bearbeitet von Dieter Stüttgen, Helmut Neubach, Walther Hubatsch, Marburg 1976, S. 104 f. 16 Vgl. Marienburg 1918–23. Ein kommunaler Rückblick auf das erste Jahrfünft der Nachkriegszeit, bearbeitet v. Bürgermeister Pawelcik, hg. v. Magistrat Marienburg, Marienburg 1924, S. 4 f. 17 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Reiseplan für die Ostpreußenreise des Reichsrats (12. Juli–17. Juli 1926). 18 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Staatssekretär Weismann (StM) an Landeshauptmann v. Brünneck, 16.7.1926. 19 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, PreußMP an PreußMdI, 23.7.1926. 20 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Arbeitsausschuß (Landwirtschaft, Handel und Industrie, Handwerk und Hausbesitz Masurens und der übrigen Abstimmungskreise), Wirtschaftsprogramm für Masuren und die übrigen Abstimmungskreise an OPO, 25.5.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 167, Heft 1, Eingabe über das Wirtschaftsprogramm für Masuren und die übrigen Abstimmungskreise an OPO, 13.7.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 167, Heft 1, Kurze Denkschrift über die Lage und Wünsche der südostpreußischen Landwirtschaft, Landwirtschaftlicher Zentralverein Allenstein an die der Ostpreußenreise teilnehmenden Herren Mitglieder des Reichsrats, 16.7.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, IHK Allenstein an
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1. Teil: Ostpreußen
schaltung regionaler und privater Interessen, um die der Oberpräsident mit seinem einheitlichen Ostpreußenprogramm bemüht war, durchbrochen. Die Handelskammer Allenstein rechtfertigte ihren Antrag dadurch, daß die Bedürfnisse der Stadt bei der Aufstellung des Ostpreußenprogramms nicht genügend berücksichtigt worden seien.21 Die preußische Staatsregierung nahm insbesondere das „Notprogramm für Masuren und die übrigen Abstimmungskreise“ freundlich auf, da sie die wirtschaftliche Stärkung der von Polen bedrohten Grenzgebiete selbst für dringlich erachtete.22 Angesichts von Gerüchten, daß Berlin beabsichtige, auf Kosten der rückständigen ostpreußischen Grenzbezirke das Korridorgebiet wiederzuerlangen, hielt Ministerpräsident Braun es für angebracht, den Wünschen der Abstimmungsgebiete entgegenzukommen, um den Verdacht eines Tauschangebots seitens Berlins in Warschau auszuräumen.23 Das selbständige Vorgehen der südlichen und westlichen Grenzbezirke stieß bei den anderen Regionen in Ostpreußen auf Kritik. Scharf ablehnend reagierte die Hauptstadt.24 Die Handelskammer Königsberg organisierte zusammen mit den anderen ostpreußischen Handelskammern (Elbing, Tilsit sowie Insterburg) eine Protestaktion. Anfang November beantragten die Kammern beim Oberpräsidenten, den Sonderwünschen Südostpreußens mit Rücksicht auf die durch das Ostpreußenprogramm zu wahrende Gesamtheit der ostpreußischen Interessen25 nicht nachzukommen.26 Diese Gemeinsamkeit war allerdings nur von kurzer Dauer. Im Dezember 1926 kündigte die Königsberger Handelskammer ihre Mitgliedschaft im Verband der Industrieund Handelskammern Ostpreußens und trat zum 1. April 1927 aus dem Verband aus.27 Im Gegenzug äußerte die Allensteiner Handelskammer öfdie in Ostpreußen weilenden Mitglieder des Reichsrats, 12.7.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Kurze Denkschrift über die Lage des Regierungsbezirks Westpreußen, Regierungspräsident Westpreußen (Budding) an Ministerialdirektor Nobis (PreußStM), 16.7.1926. 21 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, IHK Allenstein an Regierungspräsidenten Allenstein, 16.7.1926. 22 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, StM an PreußLM, 15.7.1926. Zur Frage des Nationalitätenkampfes siehe GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Niederschrift über die Besprechung über die nationalpolitischen und kulturellen Fragen des Regierungsbezirks in Allenstein, 31.5.1926. 23 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 167, Heft 1, PreußMP an PreußLM, 15.7.1926. 24 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, IHK Königsberg an StM, 19.8.1926. 25 Vgl. Rede des Oberpräsidenten, in: ProvLT Ostpreußen, 54. Jg. / 1927, S. 2. 26 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, IHK Elbing, Insterburg, Königsberg, Tilsit an Reichspräsidenten, Reichskanzler, PreußMP, OPO u. a. m., 9.11.1926. 27 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2055, Bl. 158, Verband Ostpreußischer Industrie- und Handelskammern (Grenzkammern) an OPO, 23.3.1927. Vgl. „Ausscheiden Königsbergs aus dem Verbande der ostpreußischen Industrie- und Handelskam-
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens157
fentlich Kritik an Königsberg: „Besonders hervorgehoben wird in dem Bericht ferner die bedauerliche Tatsache, daß nicht nur der Provinz durch die anderen Provinzen im Reiche eine besondere Berücksichtigung durch das von Reich und Staat aufgestellte Ostpreußen-Programm geneidet worden ist, sondern daß auch insbesondere von Königsberg aus Einspruch gegen eine besondere Fürsorge für unsern Bezirk erhoben worden ist. Dieser Einspruch Königsbergs und die ständig wiederholten Versuche, lediglich für Königsberg die Gewährung besonderer Vorteile zu verlangen, werden in dem Bericht als um so unverständlicher bezeichnet, als gerade der Provinzialhauptstadt die Hebung der Wirtschaft der Provinz bzw. ihrer Teile durch besondere Maßnahmen in erster Linie zugute kommen muß.“28 b) Der Austritt der Königsberger Handelskammer aus dem Verband der Industrie- und Handelskammern Ostpreußens Als einziges Wirtschaftszentrum in der agrarisch geprägten Provinz nahm der Königsberger Kammerbezirk eine besondere Stellung ein. In der Endphase des Ersten Weltkriegs wurde 1918 die bisherige Kaufmannschaft zu Königsberg in eine Handelskammer umgewandelt. Die Kaufmannschaft machte dabei von dem Recht Gebrauch, das die Novelle des preußischen Handelskammergesetzes (24. Februar 1870 / 19. August 1897)29 den kaufmännischen Korporationen gewährte. Die alte Königsberger Korporation war eine der ältesten derartigen Körperschaften in Preußen gewesen. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen von 1810 waren alle kaufmännischen Zünfte in der Haupt- und Residenzstadt Königsberg aufgelöst worden. Zugleich hatten sich die Handelstreibenden auf Grund der allerhöchsten Kabinettsordre vom 11. Januar 1810 in eine Korporation mit völlig gleichen Rechten vereinigt. Die offizielle Gründung der Kaufmannschaft war im April 1823 erfolgt, als sie den von Friedrich Wilhelm III. verliehenen Status erhielt.30 Während in den rheinischen Gebieten das Handelskammerwesen nach französischem Vorbild eingeführt worden war, mern“, in: Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer zu Insterburg, 1. Jg. / 1927, Nr. 5, S. 48. 28 „Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer für das Wirtschaftsjahr 1926 / 27“, in: Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer Allenstein, 1. Jg. / 1927, Nr. 5, S. 38. 29 Gesetz über die Handelskammern vom 24. Februar 1870 / 19. August 1897, PreußGS 1897, S. 343. 30 Zum fünfzigjährigen Jubiläum der Korporation der Kaufmannschaft von Königsberg, Königsberg 1873, S. 43. Fritz Simon: Die Korporation der Kaufmannschaft und die Handelskammer zu Königsberg i. Pr. 1823–1923. Festschrift, hg. v. der Handelskammer zu Königsberg, Königsberg 1923, S. 21 f.
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1. Teil: Ostpreußen
hatte man im Kerngebiet Preußens der Zwangsvertretung die freiwillige Korporationsform, die Kaufmannschaft, vorgezogen.31 Alle exekutive Gewalt der Kaufmannschaft lag beim Vorsteheramt, dem Vorstand der Korporation, faktisch also bei Großhändlern und Bankiers. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte das Erstarken der Industrie dazu, daß es schwieriger wurde, die Kaufmannschaftsform zu erhalten.32 Im Vergleich mit anderen preußischen Städten wurde die Umwandlung in eine Handelskammer in Königsberg sehr verzögert, vor allem wegen der stärkeren Stellung des Großhandels.33 Erst nachdem der Rußlandhandel durch den Ersten Weltkrieg zum Erliegen gekommen war, beschloß man im November 1917, zur Entlastung des Großhandels und der Banken sowie zugleich zur stärkeren Beteiligung der Industrie an der Wirtschaftsselbstverwaltung die bisherige Korporation in eine Zwangsvertretung von Handel, Industrie und Gewerbe umzuwandeln.34 An die Spitze der neuen Handelskammer zu Königsberg, die sich im April 1918 konstituierte, trat Felix Heumann, Inhaber der Waggonfabrik L. Steinfurt A. G., als Präsident der Kammer.35 Bis zum Ersten Weltkrieg hatte das Gewerbesteueraufkommen des Königsberger Kammerbezirks mehr als 60 % der Provinz betragen.36 Nach der Eingliederung der Industriestadt Elbing in die Provinz Ostpreußen sank dieser Anteil zwar auf ca. 46 % (im Frühjahr 1923), was aber an der dominanten Stellung der Hauptstadt nichts änderte.37 Die Königsberger Handelskammer als größte Wirtschaftsvertretung der Provinz hielt sich für berechtigt, erhebli31 Wolfram Fischer: Unternehmerschaft, Selbstverwaltung und Staat. Die Handelskammern in der deutschen Wirtschafts- und Staatsverfassung des 19. Jahrhunderts, Berlin 1964, S. 7 f. 32 Über die Umwandlung der Berliner Kaufmannschaft in die Handelskammer siehe: Die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin. Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum am 2. März 1920, Berlin 1920. Siehe auch Christof Biggeleben: Das Bollwerk des Bürgertums. Die Berliner Kaufmannschaft 1870–1920, München 2006. 33 In Ostpreußen wurde die Handelskammer in Insterburg 1855, in Braunsberg 1866 gegründet. Die 1824 gegründete Kaufmannschaft Elbing wurde 1912 in eine Handelskammer umgewandelt. In Berlin wurde die Handelskammer 1902 konstituiert, jedoch blieb die alte Kaufmannschaft bis zur Vereinigung mit der Handelskammer 1920 bestehen. 34 Vorsteheramt der Kaufmannschaft zu Königsberg Pr.: Antrag betr. die Umwandlung der Korporation der Kaufmannschaft in eine Handelskammer an die Hauptversammlung der Korporation der Kaufmannschaft zu Königsberg, 26.11.1917. 35 Vorsteheramt der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr.: Geschäftsordnung der Handelskammer zu Königsberg i. Pr., Königsberg 1918. Ders.: Satzung der Handelskammer zu Königsberg i. Pr., Königsberg 1917. 36 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Denkschrift der Handelskammer Königsberg, 27.1.1920. 37 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2055, Bl. 72, Deutscher Industrie- und Handelstag an IHK Insterburg, 16.7.1924, mit den folgenden Gewerbesteuersummen
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens159
chen Einfluß auf die Wirtschaftspolitik Ostpreußens zu nehmen. Die Interessen der Hauptstadt stimmten allerdings nicht immer mit den Wünschen der anderen Kammern (Allenstein, Braunsberg, Insterburg, Tilsit, Elbing) überein, was einen Interessenkonflikt unvermeidlich machte. Ganz im Sinne des ersten Ostpreußenprogramms von 1922, mit dem der Oberpräsident die Bündelung aller Wirtschaftskräfte Ostpreußens anstrebte, schlug das preußische Handelsministerium im Dezember 1922 vor, sämtliche Kammern in einer Handelskammer für Ost- und Westpreußen zu vereinigen.38 Die intendierte Zusammenlegung war hier in Ostpreußen besonders schwierig, vor allem wegen der von der Hauptstadt weit abweichenden Wirtschaftsstruktur der anderen Kammerbezirke. Die Provinzialkammern sprachen sich jedoch einstimmig gegen diese Idee aus.39 Zudem hielten Allenstein und Elbing es für zweckmäßig, in der Hauptstadt eine gemeinsame Geschäftsstelle der ostpreußischen Handelskammern unter Ausschluß der Königsberger Kammer einzurichten, um auf diesem Wege die Wünsche der Provinzialkammern dem Oberpräsidenten direkt und ohne Beeinflussung durch die Königsberger Vertreter unterbreiten zu können.40 Als Kompromißlösung vereinigten sich schließlich sämtliche Kammern, Königsberg eingeschlossen, Ende Mai 1923 in einem losen Verband der Handelskammern Ostpreußens, wodurch die Selbständigkeit einer jeden Kammer gewahrt blieb.41 Der Oberpräsident hoffte, daß die Kammern im Rahmen ihrer beratenden und gutachterlichen Tätigkeit zu einer einheitlichen Linie kommen würden. Tatsächlich jedoch traten die Interessengegensätze immer wieder zutage. Als das preußische Handelsministerium auf Grund der Verordnung vom 1. April 1924 zur Änderung des preußischen Handelskammergesetzes42 die Bildung eines Zweckverbandes der ostpreußischen Handelskammern anordnete, lehnten dies alle Kammern mit Ausnahme der von Königsberg ab.43 vom Frühjahr 1923: IHK Allenstein, 1.000.000 M, Braunsberg, 30.000 M, Insterburg 1.000.000 M, Elbing 1.096.399 M, Königsberg 2.950.000 M, Tilsit 510.000 M. 38 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2055, Bl. 14, PreußHM an OPO, 19.12.1923. 39 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2055, Bl. 20, OPV an OPO, 2.1.1923. Bl. 26, HK Insterburg an OPO, 7.2.1923. Bl. 29, HK Allenstein an OPO, 7.2.1923. 40 „Die Hauptversammlung der Handelskammer zu Elbing“, in: Ostpreußische Wirtschafts-Zeitung / Amtliche Monatsschrift der Handelskammer für den Regierungsbezirk Allenstein und der Handelskammer zu Elbing, 3. Jg. / 1921, Nr. 3, S. 12 f. 41 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2055, Bl. 43, Verband der Handelskammern Ostpreußens, (Geschäftsführende Kammer, Insterburg) an OPO, 31.5.1923. 42 PreußGS, 1924, Nr. 12812, Verordnung zur Änderung des Gesetzes über die Handelskammern, 1.4.1924, S. 194. 43 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 431, Abschrift, Protokoll über die Sitzung des Verbandes der Handelskammern Ostpreußens am 21.7.1924. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 90, Nr. 1067, Die Denkschrift über das Ostpreußenprogramm von 18.4.1922, Antrag Nr. 24.
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1. Teil: Ostpreußen
Den ministeriellen Richtlinien zufolge war ein periodischer Wechsel des Vorstands des Zweckverbandes auszuschließen. Die Provinzkammern hegten daher die Befürchtung, daß Königsberg eine dominierte Stellung im Zweckverband erlangen werde. Daher versuchten sie, einen Zweckverband ohne Beteiligung der Königsberger Handelskammer zu bilden. Bei der Sitzung des Verbands der ostpreußischen Handelskammern in Insterburg im Juli 1924 erklärte der Präsident der Handelskammer zu Königsberg, Heumann, daß seine Kammer sich einem Zweckverband, der der Größe und Bedeutung des Königsberger Kammerbezirks keine Rechnung trage, nicht anschließen könne. Im Gegenzug warf ihm Syndikus Schauen (Allenstein) die Interessenpolitik Königsbergs vor und äußerte, „daß ein Zusammengehen der Provinz mit Königsberg selbst bei loyalstem Verhalten beider Teile nicht möglich sei“.44 Daher lehnte er einen Zweckverband mit Königsberg strikt ab. Obwohl dies der ministeriellen Anordnung entgegenstand,45 mußte der Oberpräsident als Kompromiß zwischen der Hauptstadt und den Provinzkammern den Fortbestand des losen Verbands der ostpreußischen Handelskammern tolerieren.46 Selbstverständlich ließen sich die Interessengegensätze innerhalb der Provinz dadurch kaum ausgleichen. Die ehemals westpreußische Industrie- und Hafenstadt Elbing betrachtete den Hafen Königsberg traditionell als ihren Konkurrenten. Um dem Einfluß Königsbergs zu entkommen, gründete die Handelskammer Elbing im Sommer 1925 zusammen mit den Kammern von Schneidemühl und Stolp den Zweckverband norddeutscher Industrie- und Handelskammern mit Sitz in Stolp (Provinz Pommern).47 Daraufhin beantragte der Oberpräsident von Ostpreußen umgehend beim Handelsministerium, die Gründung dieses Zweckverbands nicht zu genehmigen.48 In dem Versuch Elbings sah Siehr eine Zersplitterungsgefahr für die ostpreußische Wirtschaft. In seiner Stellungnahme forderte deshalb der Ostpreußische Vertreter Frankenbach, daß „die dauernde Eifersüchtelei der Kammern in Allenstein und Elbing gegen Königsberg […] im Interesse einer gedeihlichen Handelspolitik für die gesamte Provinz endlich aufhören [müsse].“49 44 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 431, Abschrift, Protokoll über die Sitzung des Verbandes der ostpreußischen Handelskammern vom 21.7.1924. 45 GStA PK, XX. HA, Rep. 2055, Bl. 91, PreußHM an OPO, 7.12.1924. Das Handelsministerium wies darauf hin, daß bei seiner Anordnung zur Bildung eines einheitlichen Zweckverbandes die im Ostpreußenprogramm gestellte Forderung berücksichtigt worden sei. 46 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 431, OPV an OPO, 23.1.1925. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 431, OPO an OPV, 19.6.1925. 47 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 431, Abschrift, PreußHM an OPO, 28.8.1925. 48 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 431, Abschrift, OPO an PreußHM, 14.9.1925. 49 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 431, OPV an OPO, 5.5.1926.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens161
Die Wirtschaft Ostpreußens verschlechterte sich seit 1925. Unter diesen Umständen trat die Eisenbahntariffrage neben der Kreditfrage stärker denn je in den Vordergrund der Diskussion. Was die Binnentarife anging, hatte die Handelskammer Königsberg ein Interesse an der Ermäßigung von Nahfrachten, um so die günstige Lieferung von Agrarprodukten aus den ländlichen Kreisen nach dem Hafen Königsberg zu gewährleisten.50 Eine verstärkte Zufuhr von Inlandsprodukten nach dem Königsberger Hafen war umso dringlicher, als der Umschlaghandel aus Rußland und Polen defizitär war und die Konkurrenzhäfen Danzig und Memel im Osthandel mehr und mehr an Bedeutung gewannen.51 Im Gegensatz zur Haltung Königsbergs vertrat die Landwirtschaftskammer von Ostpreußen den Standpunkt, daß die Tarifsätze der Fernfrachten gegenüber denen der Nahfrachten herabgesetzt werden müßten, damit man die Produkte von den ostpreußischen Verladestationen direkt, ohne Verschiffung über Königsberg, nach den Absatzmärkten in Mittel- und Westdeutschland befördern könne. Daher hielt sie es für notwendig, den Korridorverkehr zu subventionieren und zugunsten des Fernverkehrs ein Staffeltarifsystem einzuführen.52 Der alte Streit zwischen dem Königsberger Großhandel und den ostpreußischen Großagrariern um die Einführung der Ostbahn-Staffeltarife, der sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Auseinandersetzung zwischen Fritz Simon (Syndikus des Vorsteheramts der Kaufmannschaft zu Königsberg) und dem konservativen Abgeordneten Graf v. Klinckowström verkörpert hatte,53 flammte von neuem auf. Nachdem in einem Zeitungsartikel vom Mai 1925 der Königsberger Standpunkt zum Ausdruck gebracht worden war, erfaßte die Auseinandersetzung bald alle politischen und wirtschaftlichen Kreise der Provinz. So sprach sich im November desselben Jahres Oberpräsident a. D. v. Batocki für die Beibehaltung der Staffeltarife aus.54 Die Vollversammlung der Landwirtschaftskammer faßte Ende Januar 1927 den Beschluß, die von Königsberg beantragte Änderung des Tarifwe50 Ostpreußen und die Staffeltarife der Deutschen Reichsbahn, hg. v. der Industrie- und Handelskammer Königsberg i. Pr., Königsberg 1927, S. 44 f. 51 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1924, S. 11. 52 Gustav Becker: Die ostpreußische Landwirtschaft und die Frage der Staffeltarife der Reichsbahn, Königsberg 1927. 53 Die Resolution des Abgeordneten Graf von Klinckowstroem [Klinckowström] im Reichstag sowie die Erwiderung der Königsberger Kaufmannschaft siehe Handel, Industrie und Schifffahrt im Bezirke der Corporation der Kaufmannschaft Königsberg i. Pr. im Jahre 1900. Bericht des Vorsteheramtes der Kaufmannschaft, S. 31 ff., sowie ebd., 1901, S. 23 ff. 54 Willer: „Ostpreußen und der Staffeltarif“, in: Königsberger Allgemeine Zeitung, 7.1.1926.
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1. Teil: Ostpreußen
sens vom gegenwärtigen Staffeltarifsystem zu einem Kilometertarifsystem abzulehnen.55 Die Industrie- und Handelskammern außerhalb der Hauptstadt schlossen sich dem an.56 Im Auftrag der Handelskammern von Allenstein, Elbing, Insterburg und Tilsit legte Syndikus Schauen (Allenstein) einen Untersuchungsbericht vor, der den Königsberger Standpunkt zu widerlegen versuchte. Schauen bezeichnete die von der Königsberger Kammer vorgenommene Ermittlung der Tariffrage als Manipulation. Es liege im Interesse Königsbergs, durch eine relative Verteuerung der Tarifsätze der Fernfrachten zu den Nahfrachten den Güterverkehr nach dem eigenen Hafen zu ziehen.57 Der Bahntarifstreit ging einher mit der Auseinandersetzung um die Wirtschaftsanträge des neuen Ostpreußenprogramms. Im Dezember 1926 beantragte die Handelskammer Königsberg beim Verband der ostpreußischen Industrie- und Handelskammern, ihre Mitgliedschaft zum 1. April 1927 zu kündigen. Königsberg war außerdem seit April 1925 die geschäftsführende Kammer des Verbandes. Der Verbandsvorsitz war satzungsgemäß alle zwei Jahre in alphabetischer Reihenfolge unter den Mitgliedskammern zu wechseln. Der Kündigungsantrag Königsbergs, der anläßlich des Ablaufes der Geschäftsführungszeit gestellt wurde, hatte zur Folge, den negativen Eindruck bezüglich der Interessenpolitik der Hauptstadt zu stärken. Dem Verband drohte durch den Austritt der größten Wirtschaftsvertretung die Auflösung. Sämtliche Provinzkammern beschlossen demgegenüber, den Verband beizubehalten und ihn in den „Verband ostpreußischer Industrie- und Handelskammern (Grenzkammern)“ umzuwandeln.58 Der Verbandvorsitz wurde satzungsgemäß von der Tilsiter Kammer übernommen.59 Dadurch waren die langjährigen Versuche des Oberpräsidenten, die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen der abgetrennten Provinz zu vereinheitlichen, endgültig gescheitert.60 Somit spalteten sich die Wirtschaftskreise Ostpreußens in zwei Lager. 55 Becker
(1927), S. 6. S. 6 f. Vgl. „Ostpreußen und die teueren Nahfrachten“, in: Wirtschaftliche Nachrichten der Industrie- und Handelskammer zu Tilsit für das Stromgebiet der Memel, Nr. 5 / 1927, S. 6. 57 Kurt Schauen: Ostpreußen und die Staffeltarife der deutschen Reichbahn, hg. v. den Industrie- und Handelskammern Allenstein, Elbing, Insterburg und Tilsit, Allenstein, Februar 1927, S. 26 f. 58 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2055, Bl. 152, Verband Ostpreußischer Industrie- und Handelskammer (Grenzkammern) an OPO, 11.3.1927. 59 „Ausscheiden Königsbergs aus dem Verbande der ostpreußischen Industrieund Handelskammern“, in: Wirtschaftliche Nachrichten der Industrie- und Handelskammer zu Tilsit für das Stromgebiet der Memel, Nr. 5 / 1927, S. 8 f. 60 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 93, Nr. 131, Bl. 3, IHK Königsberg an Preuß MdI, 7.4.1927. 56 Ebd.,
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens163
In seiner Eröffnungsrede zum 54. Provinziallandtag im Februar 1927 beklagte Siehr den Umstand, daß während der Verhandlungen über das Ostpreußenprogramm „die bisherige Geschlossenheit der ostpreußischen Wirtschaftskreise zu scheitern drohte, da der Südosten der Provinz eine Sonderaktion mit dem Ziele eines besonderen Süd-Ostpreußenprogramms unternahm“.61 Er rief auf der einen Seite die Wirtschaftskreise in Allenstein und Masuren dazu auf, das selbständige Programm zurückzustellen. Andererseits aber sicherte er den Verfechtern von Staffeltarifen, vor allem der Landwirtschaftskammer sowie der Allensteiner Handelskammer, seine Unterstützung zu: „Wenn daher sowohl die gesamte Landwirtschaft Ostpreußens, wie weite Kreise von Handel, Industrie und Gewerbe der Provinz sich mit Nachdruck für die Beibehaltung der Staffeltarife einsetzen, so werden sie mich in diesem für die Provinz lebenswichtigen Kampfe in ihrer Seite finden.“62 Im September 1927 unterbreitete Siehr auf Anregung der Innenministerien von Reich und Preußen seine Vorschläge, welche Hilfsmaßnahmen nötig seien. In der Tariffrage nahm er dabei jedoch mit Rücksicht auf die Königsberger Interessen eine neutrale Position ein: „Es wird eine allgemein gleichmäßige Senkung der Fern- und Nahfrachten, soweit sie für Ostpreußen in Frage kommen, herbeigeführt werden müssen, unter letzteren namentlich die Frachten nach den ostpreußischen Häfen, um dadurch deren Konkurrenzfähigkeit mit den Nachbarhäfen zu heben. Ich bin mir bewußt, daß diese Maßnahme auf einen lebhaften Widerstand anderer Landesteile stoßen wird […].“63 c) Das Sofortprogramm und die Reichsgrenzhilfe Der Finanzbedarf der ostpreußischen Wirtschaft, den der Oberpräsident im zweiten Ostpreußenprogramm von 1926 dargelegt hatte, wurde zunächst im Rahmen eines Sofortprogramms 1926 sowie einer Reichsgrenzhilfe 1927 in stark eingeschränktem Maße berücksichtigt. In Schwierigkeiten befand sich nicht nur Ostpreußen, sondern alle preußischen Ostprovinzen. Die Ende 1925 aufgenommenen Verhandlungen über Kreditmaßnahmen für Ostpreußen führten schließlich zur Einleitung des sog. Sofortprogramms, das auf alle östlichen Grenzgebiete Preußens abgestellt war (Ostpreußen, Oberund Niederschlesien, Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, die brandenburgischen und pommerschen Grenzkreise). Von den bereitgestellten Mitteln (41 Millionen RM) erhielt Ostpreußen 17 Millionen RM als Zuschüsse und Kredite. Die Notlage im Osten überschritt offensichtlich selbst die finanzi61 ProvLT Ostpreußen,
Bd. 54 (1927), S. 2. S. 4. 63 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3536, Vol. 1, OPO an PreußMdI, 20.9.1927. 62 Ebd.,
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1. Teil: Ostpreußen
ellen Möglichkeiten Preußens, weshalb die Regierung Braun auf eine stärkere Beteiligung des Reichs an den Hilfsmaßnahmen drängte. Die Reichsregierung verhielt sich jedoch begreiflicherweise zurückhaltend. In einer gemeinsamen Ressortsitzung vom August 1926 äußerte Ministerialdirektor Bruno Dammann, der Zuständige für Ostangelegenheiten beim Reichsministerium des Innern, „Preußen habe Ostprovinzen; das Reich kenne nur bedrohte Grenzgebiete“.64 Da sich die Fürsorgepflicht des Reichs auf das gesamte Reichsgebiet erstrecke, sei eine Sonderbehandlung des preußischen Ostens nicht statthaft. Bereits im Februar 1927 sah sich Oberpräsident Siehr gezwungen, einen neuen Antrag auf die Nothilfe von 35 Millionen RM zu stellen. Diesem Antrag wurde im Rahmen der Reichsgrenzhilfe 1927, an der Preußen finanziell nicht beteiligt war, teilweise stattgegeben. Der Anteil Ostpreußens belief sich jedoch nur auf 3,25 Millionen RM, da auch die Grenzländer Bayern, Baden und Sachsen durch die Maßnahme unterstützt wurden, obwohl sie keine territorialen Einbußen erfahren hatten. Der Anteil Bayerns an der Grenzhilfe war weitaus größer als der Ostpreußens. Die Wirtschaftsvertreter, landwirtschaftlichen Verbände sowie Kommunen der Provinz protestierten gegen die Nichtberücksichtigung ihrer besonders schwierigen Lage.65 Es fragte sich, ob das Prinzip der „berufungslosen Sonderlage“, das im Oktober 1920 in der Erklärung von Reichskanzler Fehrenbach sowie im August 1922 durch die Zustimmung des Kabinetts Wirth zu den Leitsätzen des Ostpreußenprogramms anerkannt worden war, noch gültig war.66 Die bewilligten Hilfsgelder waren jedenfalls viel zu gering, um die Not Ostpreußens zu lindern. Anfang Mai 1927 wandte sich eine Sonderdelegation aus Ostpreußen unter Führung des Oberpräsidenten in Berlin an den Reichskanzler sowie den preußischen Ministerpräsidenten. An dieser Deputation waren maßgeb64 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 167, Heft 1, Niederschrift über die gemeinsame Ressortbesprechung von Reich und Preußen über die Programme der Ostgebiete vom 13.8.1926 im RMdI. 65 Am 29. April 1927 reichte der Verband der Grenzkammern (Allenstein, Elbing, Insterburg, Tilsit) ihre Protestnote an den Reichspräsidenten, den Reichskanzler sowie den preußischen Ministerpräsidenten. Gedruckt in „Unzulängliche Berücksichtigung Ostpreußens im Sofortprogramm 1927“, in: Mitteilungen der Industrieund Handelskammer zu Insterburg, 1. Jg. / 1927, Nr. 5. „Proteste der Kammer und des Grenzkammerverbandes gegen die unzulängliche Berücksichtigung Ostpreußens im Grenzprogramm“, in: Wirtschaftliche Nachrichten der Industrie- und Handelskammer zu Tilsit für das Stromgebiet der Memel, 2. Jg. / 1927, Nr. 5, S. 1. 66 Ernst Ludwig Siehr: Ostpreußen nach dem Kriege, in: Denkt an Ostpreußen! Vier Vorträge, gehalten vor den Mitgliedern des Ostausschusses am 4. und 5. September 1927 in Königsberg Pr., S. 3–18.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens165
liche Persönlichkeiten beteiligt, unter ihnen Oberbürgermeister Lohmeyer, Landwirtschaftskammerpräsident Brandes, Konsul Porr (Handelskammer Königsberg) und Freiherr v. Gayl (Vertreter des Provinzialselbstverwaltung). Ihre Beschwerde gipfelte in der Feststellung, daß man in Berlin das genannte Prinzip mißachte. Ministerpräsident Braun erklärte sich trotz seiner Bedenken bereit, für eine Sonderbehandlung auf Grundlage des Ostpreußenprogramms einzutreten, und erhob Einspruch gegen die vom Reich vorgenommene Geldverteilung. Die Fehlentscheidung hinsichtlich des Grenzprogramms stellte das Reich vor eine mögliche Regierungskrise. Reichskanzler Marx sprach den Deputierenden beruhigend zu, mehr Mittel für Ostpreußen vorzubereiten.67 Auf diese Weise gelang es, zusätzliche Mittel in Höhe von 5 Millionen RM aus der Reichsgrenzhilfe 1927 zu erhalten.68 Selbst dies war jedoch lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre erreichte die Kreditfähigkeit der ostpreußischen Landwirtschaft einen neuen Tiefststand. Die Zahl der zwangsversteigerten Grundstücke der landwirtschaftlichen Betriebe nahm seit 1924 immer weiter zu,69 und die durchschnittliche Verschuldung der Großbetriebe (über 100 ha) erreichte über 40 % ihres gesamten Vermögens. Diese Ziffer war umso bedenklicher, als ca. 40 % der Güter in Ostpreußen zu dieser Klasse (über 100 ha) gehörten. Anfang Mai 1927 richtete Generallandschaftsdirektor v. Hippel eine Denkschrift über die Einleitung von Kredithilfsmaßnahmen für die ostpreußische Landwirtschaft an die Reichsregierung. Darin forderte er eine drastische Senkung der Steuerlasten sowie staatliche Kredithilfe für die Landwirtschaft, und zwar auf dem Wege eines Reichsermächtigungsgesetzes.70 Dies wurde aber selbst in Ostpreußen, vor allem wegen der reichsgesetzlichen und außenpolitischen Hindernisse, als unrealistisch betrachtet.71 Zudem war der Oberpräsident der Ansicht, daß nicht nur die Sanierung der Landwirtschaft, die Hippels Denkschrift in den Vordergrund stellte, sondern Hilfsmaßnahmen für die gesamte Wirtschaft der Provinz unerläßlich seien.72 Dennoch machte die Landwirtschaftskammer kurz darauf im Einvernehmen 67 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Abschrift, PreußStM, Aufzeichnung über den Empfang der ostpreußischen Delegation am 5. Mai 1927 in Sachen des Grenzprogramms 1927. 68 Wessling (1957), S. 239. 69 Ostpreußenhilfe und Umschuldung. Denkschrift des Landeshauptmanns der Provinz Ostpreußen, Königsberg 1931, S. 89. Siehe auch Wilhelm Freiherr v. Gayl: Die Not Ostpreußen, Berlin 1929, S. 26 ff. 70 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Abschrift, Generallandschaftsdirektor Hippel an die Reichsminister, 3.5.1927. 71 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, OPO an PreußLM, 1.7.1927. 72 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069, Frankenbach, Reisebericht über die Besprechung im Oberpräsidium vom 18. Mai 1927.
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1. Teil: Ostpreußen
mit der Landschaft73 noch konkretere Vorschläge, mit denen Umschuldungsmaßnahmen für die schwer verschuldeten landwirtschaftlichen Betriebe ins Auge gefaßt wurden. Die katastrophalen Zinslasten der landwirtschaftlichen Betriebe sollten dadurch erleichtert werden, daß die hochverzinslichen kurzfristigen Personalschulden durch Vergabe langfristiger Hypothekenkredite umgeschuldet würden. Der gesamte Geldbedarf der ostpreußischen Land wirtschaft sowohl für die Stützung der Pfandbriefe als auch für die Umschuldung betrug mehr als 100 Millionen RM.74 2. Zur Ostpreußenhilfe a) Die Landwirtschaft Die Landwirtschaft beschäftigte ca. 55,7 % der gesamten Erwerbstätigen in Ostpreußen (gegenüber einem Reichsdurchschnitt von 30,5 %; Stand von 1925).75 Das Strukturproblem der ostelbischen Landwirtschaft, das auf den Großgrundbesitz und Roggenanbau zurückging, war bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zutage getreten, als sich die ostelbische Landwirtschaft der Konkurrenz billigeren ausländischen Getreides ausgesetzt sah. Die Produktionsverhältnisse der landwirtschaftlichen Betriebe in Ostpreußen verschoben sich dadurch allmählich auf die Viehzucht sowie Molkerei.76 Nach dem Ersten Weltkrieg belief sich dieser Anteil auf ca. zwei Drittel der Betriebseinnahmen,77 während 46,1 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche der Futtererzeugung dienten (im Reichsdurchschnitt 38,7 %).78 Die Landwirtschaftskammer von Ostpreußen nahm mit ihrer Viehzuchttechnik eine federführende Stellung in Nordosteuropa ein. Hochwertiges Zuchtvieh benötigte allerdings Kraftfuttermittel, die bis zum Ersten 73 Über die Bank der Ostpreußischen Landschaft siehe Felix Werner: Der Handel und die Kreditbanken in Ostpreußen, Jena 1917, S. 129 ff. 74 Hertz-Eichenrode (1969), S. 221 ff. 75 Über die Struktur der ostpreußischen Landwirtschaft siehe Hermann Schmidt: Die Landwirtschaft von Ostpreußen und Pommern, Marburg 1978, S. 7 f. 76 Sering (1934), S. 16. 77 Christian Krull: Die ostpreußische Landwirtschaft, Berlin und Königsberg 1931, S. 99. Hiernach belief sich der Anteil der Viehzucht auf 37,6 %, der Molkerei auf 24,0 %, des Getreide- und Hülsenfrüchteanbaus auf 28,5 %, der Hackfrüchte usw. auf 4,3 %, der Nebenbetriebe (Brennerei usw.) auf 3,8 % der gesamten Wirtschaftseinnahmen der landwirtschaftlichen Betriebsergebnissen (Jahresdurchschnitt 1924 / 29, Sonstiges 1,8 %). 78 Die Lage der Landwirtschaft in Ostpreußen. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Landwirtschaft (II. Unterausschuß), Bd. 8, Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Enquete-Ausschuß), Berlin 1929, S. 97.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens167
Weltkrieg aus Rußland importiert worden waren, in den 1920er Jahren jedoch nur noch stark eingeschränkt von dort bezogen werden konnten.79 Die Klein- und Mittelbetriebe widmeten sich überwiegend der Viehzucht und Molkerei, während der Roggenanbau meist durch Großbetriebe erfolgte. Was die Betriebsgröße anging, nahmen die Großbetriebe sowohl beim Adelsbesitz als auch beim Bauernbesitz die dominierende Stellung ein. Während ca. 40 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche von Großbetrieben (über 100 ha) bestellt wurde, machte diese Betriebsklasse (über 100 ha) nur eine kleine Minderheit (ca. 2 %) der Betriebsanzahl aus. Der größte Teil der landwirtschaftlichen Betriebe (über 50 %) fiel jedoch in die kleinere Betriebsklasse (bis 2 ha).80 Das Problem der landwirtschaftlichen Struktur, die in zwei Schichten zerfiel, kam in der zweiten Hälfte der 20er Jahre deutlich zum Vorschein. Krisenverschärfend wirkte sich natürlich der polnische Korridor aus, hatten doch die Provinzen Posen und Westpreußen zu den wichtigsten Absatzmärkten für ostpreußische Viehprodukte gehört. Ihre Abtretung an Polen zwang die ostpreußische Landwirtschaft dazu, sich neue Absatzgebiete in Mittel- und Westdeutschland zu suchen.81 Angesichts der höheren Frachtkosten war es aber schwierig, hier konkurrenzfähige Produktpreise anzubieten.82
79 Bruno Moeller: Ostpreußen einst und Ostpreußen jetzt, in: Ostpreußen. Wirtschaft und Verkehr, hg. v. Otto Blum, [Sonderausgabe der „Verkehrstechnischen Woche“. Zeitschrift für das gesamte Verkehrswesen], Berlin 1926, S. 4–10. 80 Hierzu gibt H. Schmidt noch andere Daten: Betriebszahl Größeklasse unter 10 ha 77,9 %; über 100 ha 3,3 % (1925). H. Schmidt (1978), S. 59. Bei der Betriebsgröße unter 0,5 ha handelte es sich allerdings hauptsächlich um die vorstädtischen Schrebergärten. Adolf v. Batocki / Gerhard Schack: Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreußen. Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsentwicklung und Erwerbsgelegenheit, Jena 1929, S. 76. 81 Der Eisenbahngüterverkehr zwischen der Provinz Ostpreußen und dem Korridorgebiet ging von 815.000 t (1913) auf 74.000 t (1925) zurück. Durch die Grenzziehung wurde die ostpreußische Landwirtschaft schwer getroffen; ihre Lieferungen in das Korridorgebiet (ehem. Posen und Westpreußen) ging von 397.000 t (1913) auf nur 29.000 t (1925) zurück; vgl. Kurt Fröhlich: Die Tarifpolitik der Deutschen Reichsbahn unter besonderer Berücksichtigung Ostpreußens, Diss. Königsberg 1927, S. 83. Den Viehversand von Ostpreußen nach Posen und Westpreußen traf es dabei besonders schwer. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden jährlich über 90.000 Stück Großvieh sowie 100.000 Stück Kleinvieh abgeliefert. Im Jahr 1925 belief sich der gesamte Viehversand nach diesem Gebiet lediglich auf 1.650 Stück, siehe Becker (1927), S. 8. 82 Auch der Gewichtsverlust während des Transports drückte den Preis der ostpreußischen Tiere erheblich. Die ostpreußischen Mäster mußten mit 8–10 kg Gewichtsverlust je Tier allein auf der Strecke bis Berlin rechnen. H. Schmidt (1978), S. 75.
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1. Teil: Ostpreußen
b) DNVP, Hindenburg und die Ostpreußenhilfe Anfang Juni 1927 bereiste der preußische Innenminister Grzesinski die Ostprovinzen (Schlesien, Pommern sowie Ostpreußen), um die Notlage vor Ort in Augenschein zu nehmen und die Hilfsbereitschaft der preußischen Regierung zu betonen. Durch die Klagen der ostpreußischen Wirtschaft über die besonderen Schwierigkeiten bei der Kreditbeschaffung gewann Grzesinski den Eindruck, daß eine sofortige Kredithilfe für Handel, Industrie und Landwirtschaft in Ostpreußen notwendig sei.83 Anfang September desselben Jahres unternahm auch der Ostausschuß des Preußischen Landtags auf Einladung des Landeshauptmanns v. Brünneck sowie des Oberpräsidenten eine Besichtigungsreise nach Ostpreußen.84 Unmittelbar danach besuchten Reichspräsident v. Hindenburg und Reichskanzler Marx Hohenstein in Ostpreußen, wo man die Einweihung des Tannenberg-Nationaldenkmals feierte. Beide erklärten sich dort bereit, Maßnahmen zu treffen, um die Notlage der Landwirtschaft Ostpreußens zu lindern.85 Anfang Juli 1927 faßte eine außerordentlichen Vollversammlung der ostpreußischen Landwirtschaftskammer den Beschluß, bei der Reichsregierung die sofortige Einleitung eines Agrarhilfsprogramms zu beantragen. Die 1895 gegründete Kammer, Zwangsvertretung der ostpreußischen Landwirte mit Sitz in Königsberg,86 wurde von den Konservativen dominiert.87 Ihr Präsident Brandes (DNVP) appellierte in seinem Vortrag an die Reichsregierung und kritisierte die Haltung des sozialdemokratisch regierten Preußen in der Frage der Agrarhilfe. Nachdem das bürgerliche III. Kabinett Marx (Zentrum, DDP, DVP, BDP) durch die Kritik der SPD-Fraktion an der Zusam83 GStA PK,
I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, PreußMdI an PreußMP, 23.6.1927. Ostpreußenreise des 23. Ausschusses der Preußischen Landtags fand vom 4. September bis 10. September 1927 statt. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen an StM, 13.7.1927. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, WTB, „Informationsreise des Ostausschusses des Preußischen Landtags durch Ostpreußen“, 5.9.1927. 85 AdRK Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 298, Ministerialbesprechung vom 17.9.1927, Anm. 1, S. 922 ff. 86 Gesetz über die Landwirtschaftskammern vom 30. Juni 1894, PreußGS 1894, S. 126 ff. ProvLT Ostpreußen, Bd. 19 (1895), Beschlußfassung zur Errichtung einer Landwirtschaftskammer, 25.2.1895, S. 66 ff. 87 Die Landwirtschaftskammer der Provinz Ostpreußen war ein öffentliches kooperatives Organ der Landwirte. Auf Grund des preußischen Gesetzes von 1894 war sie als Zwangsvertretung der Landwirte mit Sitz in Königsberg 1895 gegründet worden. Dennoch verkörperte sich in ihr unverkennbar ein parteipolitischer Zweck. Von den ostpreußischen Kreistagen, wo die DNVP besonders stark war, wurden je zwei Mitglieder für die Landwirtschaftskammer gewählt. Die Kammer vertrat keine Landarbeiter, sondern lediglich die Unternehmer der landwirtschaftlichen Betriebe. 84 Die
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens169
menarbeit der Reichswehr mit der Roten Armee zum Rücktritt gezwungen worden war,88 konnte Marx lediglich mit Hilfe der DNVP weiter regieren.89 Während die DDP die Koalition verließ, trat die DNVP Ende Januar 1927 mit vier Ministern in das IV. Kabinett Marx ein. Das Vertrauen der Landwirtschaftskammer in die Reichsregierung beruhte darauf, daß die DNVP nun den Reichsernährungsminister (Schiele) und den Reichsinnenminister (v. Keudell) stellte. Brandes propagierte aber sogar die Einrichtung eines neuen Reichsministeriums, welches allein mit den Angelegenheiten Ostpreußens befaßt sein sollte. Hintergrund war die Unzufriedenheit der Agrarier mit der bisherigen Tätigkeit des Berliner Vertreters des Oberpräsidenten.90 Brandes’ Vorschlag wurde von der ostpreußischen DNVP, insbesondere durch Freiherr v. Gayl wohlwollend unterstützt.91 So spitzte sich der alte Streit zwischen dem Oberpräsidenten und dem weit rechtsstehenden Provinzialausschuß um die Wahrnehmung der ostpreußischen Interessen in Berlin von neuem zu. Hinter den Kulissen spielten sich Gayls Provokationen gegen die Berliner Vertretung des Oberpräsidenten und indirekt gegen die preußische Regierung ab.92 Im Sommer 1927 ergriffen die Rechtskreise die Initiative. Der Eindruck, daß sie das Heft der Agrarpolitik nun in der Hand hatten, verstärkte sich, als Reichskanzler Marx Mitte September 1927 in Königsberg die Bereitschaft der Reichsregierung zur Einleitung landwirtschaftlicher Hilfsmaßnahmen sowie zur Einrichtung eines Ostkommissariats beim Reichsinnenministerium erklärte.93 Diesem Kommissariat sollte die Durchführung der Hilfsmaßnahmen anvertraut werden. Im Anschluß an die Einweihungsfeier des Tannenberg-Denkmals94 besuchten Reichskanzler Marx und Reichsinnenminister v. Keudell die ostpreußische Hauptstadt. Die genannte Rede des Reichskanzlers wurde beim Empfang des Magistrats Königsberg gehalten.95 88 Francis L. Carsten: Reichswehr und Politik 1918–1933, Köln und Berlin 1964, S. 286. 89 Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, Teil I, Dok. 72, S. 435 ff. 90 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, Beschluß der Vollversammlung vom 8.7.1927, LK Ostpreußen an PreußMP, 13.7.1927. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, Nachtausgabe, WTB, 8.7.1927. 91 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 169, Heft 2, Königsberger Hartungsche Zeitung, 9.7.1927. 92 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 169, Heft 2, Berliner Volkszeitung, 21.9.1927. 93 AdRK Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 298, Ministerialbesprechung vom 17.9.1927, Anm. 1, S. 922 ff. 94 Neben dem Reichspräsidenten, dem Reichskanzler und dem Reichsinnenminister war auch Reichswehrminister Geßler an der Einweihungsfeier am 18. September 1927 beteiligt. AdRK, Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 289, S. 901. 95 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3536, Vol. 1, Herbst an OPO, 2.12.1927.
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1. Teil: Ostpreußen
Obwohl Oberpräsident Siehr dem Empfang beiwohnte, stand er hier im Schatten von Oberbürgermeister Lohmeyer.96 Die Tannenbergfeier, Hindenburgs Geburtstag sowie Marx’ Königsberger Rede trugen dazu bei, die kommende Hilfsaktion für Ostpreußen zu einer Sache des Reichs zu machen und Preußen weit in den Hintergrund zu rücken. Im Kontrast dazu trat vor allem Reichspräsident v. Hindenburg in den Vordergrund der OstpreußenAngelegenheiten.97 Seit seinem Sieg gegen die Russen bei Tannenberg 1914 galt Hindenburg als Schutzherr Ostpreußens. Der im Jahr 1924 begonnene Bau des Nationaldenkmals in Tannenberg98 wurde aus Anlaß des 80. Geburtstags des Reichspräsidenten fertiggestellt.99 Zusätzlich organisierten das Reichskabinett sowie die Länderregierungen für den alten Generalfeldmarschall die „Hindenburgspende“, die in erster Linie den Kriegsbeschädigten zugute kommen sollte.100 Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstags, Franz v. Mendelssohn, appellierte an die Handelskammern, sich an der Spendenaktion zu beteiligen.101 Die Reichspost legte HindenburgWohlfahrtsbriefmarken auf, zu deren Kauf der ostpreußische Provinzialausschuß der Deutschen Nothilfe, im Namen von Oberpräsident Siehr und Landeshauptmann v. Brünneck, aufrief.102 Während die staatlichen Spendenaktionen wohltätigen Zwecken dienen sollten, organisierte der alte Junker Oldenburg-Januschau ein Geschenk an den Reichspräsidenten.103 Gut Neudeck in Ostpreußen hatte einst der Familie Hindenburgs gehört, bevor es infolge von Mißwirtschaft verkauft werden mußte. Um es Hindenburg 96 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, WTB, „Rede des Reichskanzlers in Königsberg“, Nacht-Ausgabe, 19.9.1927; WTB, „Eine weitere Rede des Reichskanzlers in Königsberg“, 20.9.1927. 97 AdRK Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 298, Ministerbesprechung vom 17.9.1927, S. 922 ff. Marx erklärte, „daß der Reichspräsident an den Ostfragen besonders regen Anteil nehme“ (hier S. 924). 98 Bei der Grundsteinlegung am 31. August 1924 waren u. a. durch v. Hindenburg, v. Seeckt, Ludendorff sowie Siehr die Hammersprüche gehalten worden, siehe hierzu: Tannenberg 1914–1924, hg. v. Heimatbund Ostpreußen, Königsberg 1924. 99 „Aufruf! Tannenberg-Nationaldenkmal“, in: Wirtschaftliche Nachrichten der Industrie- und Handelskammer zu Tilsit für das Stromgebiet der Memel, 2. Jg. / 1927, Nr. 6, S. 1. 100 „Hindenburgspende“, in: Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer Allenstein, 1. Jg. / 1927, Nr. 8, S. 57. 101 „Vergeßt die Hindenburgspende nicht!“, in: Wirtschaftliche Nachrichten der Industrie- und Handelskammer zu Tilsit für das Stromgebiet der Memel, 2. Jg. / 1927, Nr. 8, S. 1. 102 „Hindenburg-Wohlfahrtsbriefmarken“, in: Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer Allenstein, 1. Jg. / 1927, Nr. 10, S. 73. 103 Elard v. Oldenburg-Januschau: Erinnerungen, Leipzig 1936, S. 222 f.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens171
zum Geschenk zu machen, wurden Spenden bei Großagrariern und Industriellen eingeworben.104 c) Die Durchführungskompetenz und die Autoritätsfrage des Oberpräsidenten Unmittelbar nach der Königsberger Erklärung des Reichskanzlers im September 1927 nahm das Reichskabinett die Vorbereitung einer Ostpreußenhilfe in Angriff.105 Als federführende Instanz suchte das Reichsinnenministerium bereits Mitte August zuerst bei Preußen um eine finanzielle und konzeptionelle Beteiligung an der geplanten Hilfsaktion nach.106 Wenig später legte Siehr seine Vorstellungen dar.107 Er lehnte die Einleitung eines Hilfsprogramms ab, das allein der Landwirtschaft zugute kommen würde, und verlangte vielmehr Maßnahmen zur Belebung der gesamten Wirtschaft Ostpreußens.108 Im Zentrum seiner Vorschläge stand die Frage der Durchführungskompetenz. Er forderte, die Hilfsmittel seiner Behörde anzuvertrauen, um so eine gerechte Hilfsmittelverteilung zu gewährleisten.109 Mit besonderem Nachdruck verlangte er deshalb auch eine starke finanzielle Beteiligung Preußens an der Hilfsaktion, da das Oberpräsidium andernfalls kaum die Durchführung der Maßnahme hätte leiten können. In Ostpreußen war die Provinzialselbstverwaltung besonders populär, was Siehr hinsichtlich seiner Autorität verwundbar machte. Nicht selten wurde er in den Schatten des Landeshauptmanns sowie des Königsberger Oberbürgermeisters gedrängt. Daß Reichskanzler Marx im September 1927 und Außenminister Stresemann im Dezember 1927 nach Königsberg kamen und dazu über den Kopf des Oberpräsidenten hinweg von Oberbürgermeister Lohmeyer eingeladen worden waren, hinterließ bei Siehr den Eindruck, daß 104 Reichspräsident Hindenburg, hg. v. der Hindenburgspende, Berlin 1927. Vgl. Wessling (1957), S. 262 ff. Hertz-Eichenrode (1969), S. 229 f. 105 AdRK Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 298, Ministerbesprechung, 17.9.1927, S. 922 ff. 106 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 169, Heft 2, RMdI, 15.8.1927. 107 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3536, Vol. 1, Niederschrift über die am 29.8.1927 abgehaltene Besprechung über eine Ostpreußenhilfe im Oberpräsidium. 108 Der Oberpräsident beantragte Unterstützung für das Verkehrswesen (Frachtsenkungsaktion), das Kreditwesen, das Siedlungswesen sowie die Kommunalverwaltung. Die Kreditmaßnahme sollte sich vor allem auf folgende vier Bereiche erstrecken: 1. Unterstützung für die Unterbringung der ostpreußischen Pfandbriefe, 2. Vergabe vergünstigter Kredite an kleine bäuerliche Betriebe, 3. Gewährung langfristiger Hypothekenkredite für alle landwirtschaftlichen Betriebe, 4. Kreditgewährung für die Industrie. 109 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3536, Bd. 1, Entwurf von Herbst, 20.9.1927. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 169, Heft 2, Abschrift, OPO an PreußMdI, 20.9.1927.
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1. Teil: Ostpreußen
seine Autorität untergraben werden sollte. Das Vorgehen des Magistrats betrachtete er als anmaßend und urteilte, daß die Zuständigkeitsgrenze einer Kommunalverwaltung überschritten sei.110 Bei Gelegenheit des StresemannBesuchs beklagte sich Siehr, daß „die Ausschaltung des preußischen Oberpräsidenten bei der Vorbereitung der Besuche von Reichsministern zum System erhoben werden soll“.111 d) Preußens Standpunkt Der Wunsch des Oberpräsidenten, mit der Mittelverteilung beauftragt zu werden, wurde zwar aus politischen Gründen vom preußischen Innenministerium unterstützt.112 Allerdings stand die preußische Regierung den geplanten Hilfsmaßnahmen skeptisch gegenüber und hielt sich damit zurück, eine eigene finanzielle Beteiligung zuzusagen. Die Zweifel Preußens wurden dadurch verstärkt, daß der deutschnationale Reichsernährungsminister, der fest hinter den ostpreußischen Konservativen stand, sich auf die Umschuldungsaktion für die hochverschuldeten Großbetriebe konzentrierte.113 Voraussetzung für deren Durchführung war aus Sicht des Reichskabinetts jedoch eine aktive Beteilung Preußens an der Aufbringung der nötigen Mittel, denn das Reichskabinett hielt es für unerläßlich, daß Preußen tunlichst das gleiche Opfer bringen solle.114 Ministerpräsident Otto Braun der selbst aus Ostpreußen stammte und als ehemaliger Landwirtschaftsminister die Verhältnisse der ostpreußischen Landwirtschaft gut kannte, lehnte es jedoch entschieden ab, die Privatschulden der Großagrarier durch staatliche Mittel zu sanieren. Als Sozialdemokrat hielt er es vielmehr für erwünscht, die Produktivität der Landwirtschaft zu fördern und die Existenzgrundlage der Klein- und Mittelbetriebe zu sichern.115 Zudem sollte die Hilfsaktion nicht nur der Landwirtschaft in Ostpreußen, sondern allen preußischen Ostprovinzen zugute kommen. Diese Haltung Brauns wurde vom preußischen Finanzministerium sowie vom preußischen Landwirtschaftsministerium geteilt. Während das Landwirtschaftsministerium es für zweckmäßig hielt, die Beteiligung Preußens auf Kredithilfen für Klein- und Mittelbetriebe zu be110 GStA PK,
111 GStA PK,
I. HA, Rep. 203, Nr. 415, Abschrift, OPO an PreußMdI, 23.12.1927. I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 564, Bl. 353, OPO an PreußMdI,
9.12.1927. 112 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 169, Heft 2, Niederschrift über die Besprechung im PreußMdI, 1.9.1927. 113 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, Vermerk, Frankenbach zur Besprechung im RMfEuL, 28.11.1927. 114 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 379, Chefbesprechung, 19.12.1927, Anm. 3, S. 1169 ff. 115 H. Schulze (1977), S. 678 ff. Hertz-Eichenrode (1969), S. 225 f.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens173
schränken, lehnte das Finanzministerium die Mitwirkung Preußens an der Umschuldungsaktion in jeder Weise ab.116 Die Auseinandersetzung zwischen Reich und Preußen um die Einleitung einer Umschuldungsaktion konnte erst durch das persönliche Eingreifen des Reichspräsidenten beendigt werden. Mit Schreiben vom 3. Dezember 1927 bat Hindenburg den Reichskanzler um die sofortige Unterstützung der Reichsregierung für die Ostpreußenhilfe. Er führte dazu aus: „Diese Hilfe muß zunächst bei der Landwirtschaft einsetzen, die so verschuldet ist, daß sie ohne Hilfe nicht gesunden kann, und die finanziell saniert werden muß.“117 Hindenburgs Brief ging bis in die Einzelheiten der Kreditmaßnahme ein. Er favorisierte eine Umschuldungsaktion, welche die Zinslasten der kurzfristigen Schulden der landwirtschaftlichen Betriebe durch die Vergabe von langfristigen Hypothekenkrediten erleichtern sollte, und hielt eine finanzielle Beteiligung Preußens für unerläßlich.118 Diese Ansicht des Reichspräsidenten stimmte mit den Vorstellungen der ostpreußischen Landwirtschaftskammer genau überein. Obwohl sein Brief lediglich Empfehlungen aussprach, trug er dennoch entscheidend dazu bei, die schwebenden Verhandlungen zwischen dem Reich und Preußen zu Ende zu bringen und die lange erwartete Ostpreußenhilfe endlich in die Wege zu leiten. In Hindenburgs Intervention kündigte sich bereits das für die Osthilfe gewählte Verfahren an, welches Ende Juli 1930 ohne parlamentarische Zustimmung auf dem Wege einer Notverordnung zustande kam. 3. Die Krise der Ostpreußischen Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium in Berlin a) Die Einrichtung der Ostverwaltungsstelle beim Reichsinnenministerium Mit dem Kabinettsbeschluß über die Einrichtung einer Ostverwaltungsstelle beim Reichsministerium des Innern Ende Oktober 1927 wurde die Übernahme der Federführung der Ostpreußenhilfe durch das Reich zur vollendeten Tatsache.119 Den unmittelbaren Anlaß dazu gab der im Juli gestellte Antrag der Landwirtschaftskammer auf Gründung eines Reichsmi116 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, Vermerk, Frankenbach zur Besprechung im RMfEuL, 28.11.1927. Hertz-Eichenrode (1969), S. 228. Ehni (1975), S. 68. 117 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 363, Reichspräsident an Reichskanzler, 3.12.1927, S. 1137 ff. (hier S. 1138). 118 Ebd. 119 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 328, Kabinettssitzung, 27.10.1927, S. 1025 ff.
174
1. Teil: Ostpreußen
nisteriums für Ostpreußen.120 Reichskanzler Marx sowie Reichsinnenminister v. Keudell hielten allerdings die Schaffung eines neuen Ministeriums für unrealistisch und wiesen daher den Antrag der Landwirtschaftskammer zurück. Das Kabinett entschied sich schließlich dafür, anstatt eines neuen Ministeriums eine Verwaltungsstelle beim Reichsinnenministerium einzurichten. Die bevorstehende Gründung einer Reichszentralstelle, welche als Verbindungsglied zwischen dem Reich und den Ostprovinzen dienen sollte, veranlaßte Siehr erneut dazu, seine Ostpreußische Vertretung vor Angriffen der Rechtsparteien in Schutz zu nehmen. Bereits Anfang Oktober 1927 erhob er Einspruch gegen die Schaffung der neuen Reichsstelle und beantragte, stattdessen seine Berliner Vertretung in einen Reichs- und Staatskommissar für den Osten umzugestalten, zu dessen Aufgaben nicht nur die staatlichen Stützungsmaßnahmen, sondern insbesondere auch die Außenpolitik Ostpreußens zählen sollte. Dies ging natürlich auf die bisherige Sondertätigkeit des Berliner Vertreters des Oberpräsidenten zurück. Im einzelnen hieß es dazu: „Die dienstlichen Aufgaben des Reichs- und Staatskommissars sind folgende: Mitwirkung bei der auswärtigen Politik – er ist zu allen Vertragsverhandlungen mit den angrenzenden Staaten Polen und Litauen sowie mit Estland und Lettland zuzuziehen –, Mitwirkung bei der Grenzpolitik einschließlich der Minderheitenfragen, Mitwirkung bei der Wirtschaftspolitik einschließlich der Vorbereitung und Ausführung der vom Reich und gegebenenfalls von Preußen bereitgestellten Sonderhilfen für die Ostmark.“121 Während Ministerpräsident Braun in dieser Sache dem Oberpräsidenten zur Seite stand, verhielt sich die Mehrheit der Regierung, vor allem das Finanzministerium, mit Rücksicht auf die eingeschränkten Finanzen zurückhaltend. Braun wehrte sich gegen eine mögliche Auflösung der Ostpreußischen Vertretung und schloß sich Siehrs Standpunkt an, daß man in Preußen neben der vorhandenen Stelle keine andere Ostverwaltungsstelle benötige.122 Dennoch beantragte Reichsinnenminister v. Keudell auf der Kabinettssitzung vom 27. Oktober 1927 die Beauftragung eines Ministerialdirektor seines Ministeriums mit der Wahrung der Belange des deutschen Ostens. Dem Beamten sollte die Federführung der einzuleitenden Finanzsanierungsmaßnahmen für Ostpreußen übertragen werden. Abgesehen von Unstimmig120 Abgedruckt in Brandes: Ostpreußens wirtschaftliche Lage, in: Denkt an Ostpreußen! Vier Vorträge, gehalten vor den Mitgliedern des Ostausschusses am 4. und 5. September 1927 in Königsberg Pr., S. 19–42 (hier S. 32). 121 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 169, Heft 2, OPO an PreußMP, 19.10.1927, sowie Anlage. Der Antrag wurde von Frankenbach und Herbst ausgearbeitet. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 169, Heft 2, Frankenbach an Herbst, 15.10.1927. 122 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 328, Kabinettssitzung, 27.10.1927, Anm. 10, S. 1027.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens175
keiten um die Amtsbezeichnung dieser Stelle stand der Annahme des Antrags nichts entgegen. Der Reichskanzler versuchte lediglich dem Widerstand Preußens vorzubeugen, indem er hinzufügte, daß in dieser Sache die engste Fühlungnahme mit Preußen zu halten sei. Diese Erklärung Marx’ ermöglichte es dem preußischen Innenminister Grzesinski, der an der Kabinettssitzung teilnahm, sich einverstanden zu erklären. Daraufhin wurde die Einrichtung einer Zentralstelle für die Ostfrage beim Reichsinnenministerium einstimmig beschlossen.123 Zum Leiter dieser Ostverwaltungsstelle beim Reichsinnenministerium wurde Ministerialdirektor Bruno Dammann berufen. Ende November 1927 beantragte Keudell außerdem beim Reichskabinett, einen Vertreter aus Ostpreußen in die Reichskanzlei zu berufen. Dem lag die Absicht zugrunde, den ostpreußischen Agrariern unmittelbaren Zugang zum Entscheidungsprozeß des Kabinetts über die Agrarhilfsmaßnahme zu eröffnen. Bezeichnenderweise gab Staatssekretär Meissner im Namen des Reichspräsidenten dem Antrag seine Unterstützung. Gleichwohl widersetzte sich der Reichskanzler Keudells Antrag, ebenso wie der Reichsfinanzminister. Marx wies auf den Standpunkt der preußischen Regierung hin, die schon in der Einrichtung der Ostverwaltungsstelle eine große Bedrohung ihrer Rechte sehe. Der Antrag Keudells fand schließlich nicht die Zustimmung der Kabinettsmehrheit.124 b) Die Kontroverse in Preußen Anfang Dezember 1927 spitzte sich die Lage abermals zu. Ursprünglich sollte dem Leiter der Ostverwaltungsstelle beim Reichsinnenministerium, Dammann, ein Sachbearbeiter aus Ostpreußen unterstellt werden, dem die Vertretung der Interessen der ostpreußischen Wirtschaft oblag. Die DNVP favorisierte für diesen Posten ihr Parteimitglied Georg Gottheiner, Landrat des masurischen Kreises (Johannisburg). Der Vorschlag der DNVP stieß auf den Widerstand der ostpreußischen Handelskammern, die sich den deutschnationalen Großagrariern entgegenstellten.125 Auch der Oberpräsident warnte davor, „daß auf diese Weise die beabsichtigte materielle Hilfe für Ost123 Ebd.,
S. 1025 ff. äußerte Staatssekretär Weismann (PreußStM), „daß der Ministerpräsident als Ostpreuße und Königsberger dafür gesorgt habe, daß alles geschehe, um die schwierige Lage Ostpreußens zu erleichtern. Der Anschein müsse vermieden werden, als wenn das Reich eingreifen müsse, um Ostpreußen die Hilfe zu bringen, die die Provinz vom eigenen Staate nicht erhalten könne.“ AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 357, Kabinettssitzung vom 30.11.1927, S. 1120 ff. 125 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1575, Verband der Ostpreußischen Industrieund Handelskammern an OPO, 22.12.1927. 124 Hierzu
176
1. Teil: Ostpreußen
preußen zu einem parteipolitischen Erfolg der Deutschnationalen gestempelt werden“ würde.126 Siehr bat Ministerpräsident Braun darum, die geplante Bestallung eines DNVP-Mitglieds zu verhindern. Er drängte zudem darauf, die Einstufung seines Berliner Vertreters in eine höhere Beamtenklasse zu veranlassen, um so ein Gegengewicht zum Leiter der Ostverwaltungsstelle zu schaffen. Anfang Januar 1928 kündigte das Reichsinnenministerium an, Gottheiner als Sachbearbeiter für Ostpreußen in der Reichsostverwaltungsstelle zu bestellen.127 Im Gegensatz dazu stieß das dringende Ersuchen Siehrs um Beförderung Frankenbachs auf Widerstand innerhalb der preußischen Regierung. Während Siehr die Stärkung der Ostpreußischen Vertretung durch die Ernennung Frankenbachs zum Ministerialrat sowie die Etatisierung der Vertretung beim Haushalt Preußens als notwendig ansah, wies das preußische Innenministerium diesen Antrag zurück. Mit besonderer Schärfe widersprach Ministerialdirektor Loehrs dem Wunsch des Oberpräsidenten. Loehrs hatte seit der Gründung der Ostpreußischen Vertretung in Berlin 1920 stets Siehr und Herbst zur Seite gestanden und ihre Wünsche auch beim Ostpreußenprogramm von 1922 intensiv gefördert. Loehrs, der offenbar seinen alten Standpunkt aufgab, votierte nun dagegen, „die Zwitterstellung eines Beauftragten des Oberpräsidenten in Königsberg durch seine Ernennung zum Ministerialrat zu stabilisieren“.128 Angesichts der Krise, die sich auf alle Ostprovinzen erstreckte und die Kräfte Preußens überstieg, sah Loehrs das Vorgehen des Reichs als gerechtfertigt an, alle Ostangelegenheiten, welche bisher von verschiedenen Instanzen bearbeitet wurden, einheitlich dem Reich und hier der neuen Reichsostverwaltungsstelle zu unterstellen. Dem dürfe Preußen nicht durch die Stabilisierung der Ostpreußischen Vertretung entgegentreten.129 Durch diese Kontroverse sah sich der Ministerpräsident vor eine schwierige Entscheidung gestellt. Braun war die Ostpreußische Vertretung, die oft selbständig mit den Reichsbehörden in Verbindung trat, „ein Dorn im Auge“.130 Er regelte den Geschäftsverkehr wiederholt in der Weise, daß Frankenbach nicht ohne vorherige Kenntnisnahme des preußischen Staatsbzw. Innenministeriums Fühlung mit den Reichszentralbehörden nehmen durfte. Frankenbachs Teilnahme an den Handels- und Binnenschiffahrtsverhandlungen mit Litauen warf abermals die Frage nach den Kompetenzen der Ostpreußischen Vertretung auf. Man legte in Preußen zwar großen Wert 126 GStA PK,
I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, Abschrift, OPO an PreußMP, 10.12.1927. (1969), S. 236. 128 BA, R 1501 PA (F. W. Frankenbach), Nr. 6372, PreußMdI (Loehrs), 24.1.1928. 129 Ebd. 130 Forstreuter (1955), S. 84. 127 Hertz-Eichenrode
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens177
auf die Beteiligung des Ostpreußischen Vertreters an den auswärtigen Verhandlungen. Gleichzeitig aber stand Braun dieser die Kompetenzen einer Provinzialbehörde überschreitenden Tätigkeit Frankenbachs skeptisch gegenüber. Er äußerte nicht selten Bedenken gegen die Teilnahme Frankenbachs an den Verhandlungen mit den Oststaaten, obwohl diese selbst vom Auswärtigen Amt als unerläßlich erachtet wurde. Die Teilnahme des Vertreters des Oberpräsidenten an den Staatsvertragsverhandlungen, so Braun, vermittele diesen Oststaaten den falschen Eindruck, als ob die Provinz Ostpreußen das Reich in seinen Beziehungen zu auswärtigen Staaten vertreten dürfe. Er betonte, daß Frankenbach lediglich als „örtlicher Delegierter des Oberpräsidenten“ zu betrachten sei.131 Mit Recht weist die Literatur auf die Mißhelligkeiten zwischen den beiden Ostpreußen Siehr und Braun hin, welche vor allem auf die Auseinandersetzung um die Ostpreußische Vertretung in Berlin zurückzuführen sei.132 Man darf jedoch nicht unterschätzen, daß Braun, der die erste Hälfte seines Lebens in Königsberg verbracht hatte, vom Wert der Arbeit der Ostpreußischen Vertretung durchaus überzeugt war und es deshalb nicht versäumte, sich gegen den Widerstand der Finanzinstanzen für die Beibehaltung dieser Stelle einzusetzen.133 Braun, der selbst an der Ostpreußenkonferenz vom März 1920 beteiligt gewesen war, fühlte sich deren Ergebnissen weiterhin 131 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, PreußStM, Vermerk, 7.11.1925. Bei den Verhandlungen mit Litauen. Das Staatsministerium forderte den Ostpreußischen Vertreter auf, von der Teilnahme an einer kurz nach dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags wiederaufzunehmenden Besprechung mit Litauen im Herbst 1925 Abstand zu nehmen. 132 Forstreuter (1955), S. 84 sowie ders. (1966), S. 13–41. 133 So schlug Braun, als das preußische Finanzministerium aus Kostengründen die Auflösung der Stelle verlangte, stattdessen die Einsparung von Büro- und Personalkosten vor. Im Einvernehmen mit dem preußischen Ministerium des Innern versuchte Braun, den Vertreter des Oberpräsidenten so weit wie möglich zu entlasten, damit Frankenbach, dessen Tätigkeit er schätzte, sich ausschließlich auf die Geschäftsaufgaben der Ostpreußischen Vertretung konzentrieren konnte. Die Besoldung des Vertreters des Oberpräsidenten war infolge seines relativ niedrigen Dienstgrads stark eingeschränkt. Mit Rücksicht darauf stimmte Braun dem Antrag des Innenministeriums zu und äußerte, im Rahmen seiner Möglichkeiten dem Wunsch des Vertreters des Oberpräsidenten Rechnung zu tragen. Die Besoldung Frankenbachs wurde im Mai 1926 dadurch etwas aufgebessert, daß er aus der Bauabteilung des Finanzministeriums, die bis dahin für seine Besoldung aufgekommen war, in das preußische Ministerium des Innern versetzt wurde, so daß er die Ministerialzulage erhalten konnte. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, PreußMP an PreußMdI, PreußFM, 24.12.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, PreußMP an PreußMdI, PreußFM, 18.2.1924. PreußMdI an PreußFM, PreußMP, 3.3.1924. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, PreußMP, 16.2.1926. Die Dienstbezüge Frankenbachs wurden fortan nicht mehr aus der Kasse der preußischen Bau- und Finanzdirektion bestritten, sondern aus der Bürokasse des preußischen Innenministeriums.
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1. Teil: Ostpreußen
verpflichtet: „Die Einrichtung ist allgemein als ein Hauptergebnis der großen Ostpreußenkonferenz im März 1920 angesprochen worden. In Ostpreußen wird noch immer vielfach der Standpunkt vertreten, daß die Wünsche der Provinz in Berlin nicht die genügende Berücksichtigung fänden. Unter diesen Umständen eine der hauptsächlichsten seinerzeit gegebenen Zusagen zurückzunehmen, halte ich für in hohem Grade bedenklich.“134 c) Der Kampf Preußens gegen die DNVP: Die Ernennung Frankenbachs zum Ministerialrat Trotz der wiederholten Anträge des Oberpräsidenten, Frankenbach zum Ministerialrat zu ernennen, zögerte Braun. Inzwischen unternahm die DNVP weitere Schritte. Mitte März 1928 beantragte Provinzialvertreter Freiherr v. Gayl bei der Beratung des Ergänzungshaushalts im Reichsrat die Schaffung einer neuen Ministerialratsstelle beim Reichsministerium des Innern, und zwar für die „Ostpreußenstelle“ bei der Reichsostverwaltungsstelle. Diese neue Ministerialratstelle war speziell für den als Sacharbeiter berufenen DNVP-Landrat Gottheiner vorgesehen. Gayls Antrag, der auf Grund einer vorherigen Vereinbarung mit dem Reichskabinett durch den Vertreter der Reichsregierung im Reichsrat unterstützt wurde, wurde vom Reichsratsbevollmächtigten Preußens, Arnold Brecht, scharf zurückgewiesen.135 Dieser war infolge seiner pro-republikanischen Haltung aus dem von Keudell geleiteten Reichsinnenministerium entlassen worden und seither als Ministe rialdirektor im preußischen Staatsministerium tätig.136 Gayl sah sich gezwungen, seinen Antrag zunächst zurückzuziehen. Der deutschnationale Reichsinnenminister hatte seinerseits die Absicht, sich im Reichstag gegen GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 940, Abschrift, PreußMdI an OPO. Oberregierungsrat Frankenbach, 22.4.1926. 134 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, Geheim!, PreußMP Braun an die übrigen Herren Staatsminister, 2.5.1922. Vgl. auch die ähnliche Auffassung: „Daß in der Provinz erheblichen Wert auf den Fortbestand der Stelle gelegt wird, ist durch die Bereitwilligkeit zur Leistung eines Beitrags erneut bewiesen. Gerade diese Tatsache veranlaßt mich, die politischen Nachteile, die die Rückgängigmachung eines der wesentlichsten Ergebnisse der zahlreichen Ostpreußenkonferenzen haben würde, für sehr schwerwiegend, jedenfalls für erheblich höher einzuschätzen, als den finanziellen Nutzen, den die Aufhebung noch haben könnte.“ GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 576, PreußMP an PreußFM, 24.12.1923. 135 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 450, Kabinettssitzung vom 16.3.1928, sowie Anm. 5, S. 1377 ff. 136 Arnold Brecht: Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884–1927, Stuttgart 1966, S. 465 ff. Ders.: Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen. Zweite Hälfte 1927–1967, Stuttgart 1967, S. 15 ff. Siehe auch Otto Braun: Von Weimar zu Hitler, 2. Aufl., Hildesheim 1979, S. 223 f.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens179
Preußen und die Linksparteien zur Wehr zu setzten.137 Obwohl Keudell die Heranziehung des deutschnationalen Landrats, Gottheiner, in die Ostverwaltungsstelle gegen die Kritik der Parlamentarier zu verteidigen versuchte, war die DNVP im Frühling 1928 aber nicht mehr stark genug, um sich gegen die Oppositionskräfte behaupten zu können. Drei Tage danach stellten die Regierungsparteien Preußens (SPD, DDP, Zentrum) im Preußischen Landtag den Änderungsantrag zur dritten Beratung des Haushalts des preußischen Staatsministeriums für das Jahr 1928. Dabei wurde insbesondere die Schaffung einer Ministerialratstelle beim Staatsministerium unter Fortfall einer Oberregierungsratsstelle beim Finanzministerium beantragt, in der Annahme, daß diese Ministerialratstelle Frankenbach zufallen werde.138 Somit gingen die preußischen Republikaner zur Offensive über. Selbstverständlich löste dies Gegenwehr seitens der DNVP aus. Bei der Sitzung des Preußischen Landtags vom 27. März trat der deutschnationale Landtagsabgeordnete Schlange-Schöningen als erster Redner gegen den Antrag auf. Mit besonderer Schärfe kritisierte er die Versuche Preußens, dezidiert republikanische Beamten zu berufen, als parteipolitisches Vorgehen der Sozialdemokraten. Schlange-Schöningen lehnte sich dabei an die Äußerung Keudells im Reichstag an: „Ich pflege meine Beamten nicht nach der Partei zu fragen“.139 Seine Rede machte den Kern der langen Auseinandersetzung zwischen der Ostpreußischen Vertretung und der ostpreußischen DNVP sichtbar. Sie ging auch auf die Frage der Beseitigung des Dualismus von Reich und Preußen ein, indem Schlange-Schöningen auf die gerade von der Zentrumspartei ausgegangene Reichsreforminitiative hinwies. Der Antrag des Zentrums auf die Konsolidierung des Reich-Länder-Verhältnisses, der das Aufgehen Preußens im Reich durch die Bildung einer Realunion vorsah, hatte zur Einberufung der Länderkonferenz geführt, auf der man sich Anfang 1928 darüber einig wurde, die Reichsreform mit dem Ziel der Stärkung der Reichsgewalt durchzuführen.140 Das Vorgehen Preußens, eine Ministerialratsstelle, die für Frankenbach vorgesehen war, neu zu etatisieren, stehe deshalb im Widerspruch zum Ziel der Konsolidierung der Reichsgewalt. Die Zentralisierung der Verwaltung der Ostangelegenheiten, für die sich das Reich gerade engagierte, werde durch die Stabilisierung der Ostpreußischen Vertretung in Berlin konterkariert. So hob Schlange hervor, „daß wir Deutschnationalen der Meinung sind, daß wir 137 RT,
Bd. 395, 408. Sitzung, 23.3.1928, S. 13666 f. Sammlung der Drucksachen, 2. Wahlperiode, Bd. 18, Nr. 9055, Änderungsantrag zur dritten Beratung des Haushalts des Preußischen Staatsministe riums und des Ministerpräsidenten, Porsch (Zentrum), Falk (DDP), Heilmann (SPD), 26.3.1928, S. 10483. 139 RT, Bd. 395, 408. Sitzung, 23.3.1928, S. 13666 f. 140 Ehni (1975), S. 95 ff. 138 PreußLT,
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1. Teil: Ostpreußen
zwar nicht konstruktiv, wie es heute so oft versucht wird, – denn man kann ein Staatswesen nicht konstruieren –, aber in organischer Fortentwicklung allmählich zu einer Überwindung dieses Dualismus kommen müssen“.141 Am folgenden Tag verteidigte der SPD-Landtagsabgeordnete Heilmann den Antrag seiner Fraktion auf Schaffung einer Ministerialratstelle beim Preußischen Staatsministerium und warf dem deutschnationalen Reichsinnenminister vor, daß er nicht nur im parteipolitischen Interesse die Entlassung mehrerer Sozialdemokraten sowie republikanisch gesinnter Beamten, wie Arnold Brecht, vorgenommen, sondern sogar seine Familienmitglieder in der Einstufung bevorzugt behandelt habe, wogegen auch von seiner eigenen Partei protestiert worden sei.142 Die scharfe Auseinandersetzung zwischen Keudell und den Sozialdemokraten um die Personalpolitik hatte ihren Ursprung darin, daß Keudell, der seit 1916 als preußischer Landrat in Königsberg / Neumark amtiert hatte, kurz nach der Niederwerfung des KappPutsches 1920 in den Ruhestand versetzt worden war.143 Die Ausführungen Schlange-Schöningens, der nicht nur an die Landwirtschaft, sondern darüber hinaus an alle reaktionären Kräfte appellierte, wie in seiner offenen Begrüßung für den Stahlhelm zutage trat, wurden auch vom preußischen Minister des Innern, Grzesinski, entschieden zurückgewiesen.144 Bei den angespannten Debatten zwischen DNVP und SPD Ende März im Reichstag und Preußischen Landtag gelang es den Sozialdemokraten, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Interessenpolitik der DNVP zu lenken. Zuletzt stellte die DNVP-Fraktion am 30. März 1928 im Reichstag einen Änderungsantrag zur dritten Beratung des Entwurfs des Reichshaushaltsgesetzes und beantragte die Schaffung der genannten Ministerialratstelle beim Reichsministerium des Innern. Dieser Antrag wurde durch die Mehrheit des Reichstags ausdrücklich zurückgewiesen. Die Niederlage der DNVP im Streit um die Beibehaltung der Ostpreußischen Vertretung in Berlin war damit besiegelt. Dies kündigte offenbar die Ergebnis141 PreußLT, Sitzungsberichte, 2. Wahlperiode, Bd. 17, 367. Sitzung, 27.3.1928, S. 26146 ff. (hier S. 26149 f.). Schlange führte weiter aus, daß „die föderalistische Grundlage, auf der wir heute stehen, und die Grundlage des preußischen Staates, wie sie historisch geworden ist“, nicht verloren gehen dürfe. 142 PreußLT, Sitzungsberichte, 2. Wahlperiode, Bd. 17, 371. Sitzung, 28.3.1928, S. 26299 ff. (hier S. 26303 f.). 143 Brecht, Bd. 1 (1966), S. 467 ff. Siehe auch: Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, Teil I, Dok. 72, S. 438. Bei der Ernennung Keudells zum Reichs innenminister beim IV. Kabinett Marx im Januar 1927 wurden die Mißtrauensanträge der DDP, SPD sowie KPD gegen Keudell durch den Reichskanzlers zurückgewiesen. Über die Persönlichkeit Keudells siehe: Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, Teil IV, Dok. 285, S. 218 ff. 144 PreußLT, Sitzungsberichte, 2. Wahlperiode, Bd. 17, 372. Sitzung, 29.3.1928, S. 26436 ff.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens181
se der bevorstehenden Reichstagswahlen an.145 Am selben Tag beschloß der Preußische Landtag, den bereits gestellten Antrag der preußischen Regierungsparteien auf Schaffung einer neuen Ministerialratsstelle anzunehmen.146 Somit gelang es Preußen, in letzter Stunde die Ernennung Gottheiners zum Ministerialrat zu verhindern und zugleich dem Berliner Vertreter des Oberpräsidenten, Frankenbach, eine preußische Ministerialratstelle zu verschaffen. Am 31. März 1928 ersuchte Ministerpräsident Braun sämtliche Staatsminister Preußens um die sofortige Ernennung Frankenbachs zum Ministerialrat, und zwar mit Wirkung vom 1. April 1928. Als Grund dafür hob er ausdrücklich die Stärkung der Stellung des Vertreters des Oberpräsidenten hervor: „Nach Schaffung eines neuen Ostreferats im Reichsministerium des Innern erscheint es aus politischen Gründen dringend geboten, die Stellung des mit der Wahrnehmung der Ostpreußischen Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium beauftragten Beamten durch seine Ernennung zum Ministerialrat zu heben.“147 Die Ernennung Frankenbachs zum Ministerialrat erfolgte noch vor der Einleitung der Ostpreußenhilfe im April 1928. 4. Die Bildung des Provinzialkreditausschusses a) Der Streit um die Durchführungskompetenz In der gemeinsamen Kabinettssitzung von Reich und Preußen vom 21. Dezember 1927, die im Beisein des Reichspräsidenten stattfand, wurde die Einleitung der Ostpreußenhilfe beschlossen. Sie gliederte sich in drei Hauptprogramme: 1. Kreditmaßnahme (Unterbringung der Pfandbriefe, Umschuldungsaktion usw.), 2. Senkung der öffentlichen Lasten, 3. Senkung der Frachtkosten im Korridorverkehr. Die Hilfsmaßnahme wurde von Reichsernährungsminister Schiele unter zwei Grundsätze gestellt. Zum einen durfte die Lage Ostpreußens eine Berufung anderer Landesteile nicht zulassen, wie schon die Reichskabinette auf Drängen Ostpreußens in den Jahren 1920 / 22 wiederholt erklärt hatten. Zum anderen stellte Schiele klar, „daß diese Hilfe speziell der Landwirtschaft zukommen muß“.148 Daß die 145 RT,
Bd. 395, 414. Sitzung, 30.3.1928, S. 13972. Sitzungsberichte, 2. Wahlperiode, Bd. 17, 373. Sitzung, 30.3.1928,
146 PreußLT,
S. 26520. 147 BA, R 1501 PA (F. W. Frankenbach), Nr. 6372, PreußMP an sämtliche Staatsminister, 31.3.1928. 148 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 383, Ministerbesprechung beim Reichspräsidenten, 21.12.1927, S. 1184 ff. (hier S. 1186).Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070, Niederschrift der Ministerbesprechung am 21.12.1927 betr. Ostpreußenhilfe.
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1. Teil: Ostpreußen
Ostpreußenhilfe tatsächlich eine reine Agrarkredithilfe war, wich deutlich von den ursprünglichen Anträgen des Oberpräsidenten ab. Die Not der nichtlandwirtschaftlichen Wirtschaftssektoren wurde völlig außer acht gelassen. Im Kern der Kreditmaßnahme stand die Umschuldungsaktion, indem der größte Teil der Hilfsgelder auf die Bereitstellung von Kreditmitteln für die Vergabe zweitstelliger Hypothekenkredite verwendet werden sollte, um so hochverzinsliche Personalschulden in langfristige Realkredite umzuwandeln. Die Summe und Geldverteilung für die einzelnen Maßnahmen wurden erst Anfang Februar 1928 festgestellt. Preußen, das die Mitwirkung an der Aufbringung der Kreditmittel, vor allem für die Umschuldungsaktion, bisher stets abgelehnt hatte, gab Ende Dezember 1927 seinen Widerstand auf. Die Reichsregierung war stets der Auffassung gewesen, daß Preußen sich an der Aufbringung der Hilfsgelder, einem Drittel der Gesamtsumme, beteiligen müsse. Auf wiederholtes Ersuchen der Reichsregierung erklärte Preußen Mitte Dezember zunächst seine Bereitschaft zur Mitwirkung an der Unterbringung der Pfandbriefe. Die Reichsregierung zielte darüber hinaus darauf ab, Preußen zur Beteiligung an der Vergabe der Umschuldungskredite sowie an anderen Hilfsmaßnahmen zu bewegen.149 Die preußische Regierung sah die Nichtmitwirkung an der Sanierung von Privatschulden als Voraussetzung für ihre Beteiligung an der Ostpreußenhilfe an. Ihre Zurückhaltung in der Frage der Agrarhilfe forderte Vorwürfe von seiten der DNVP heraus, daß Ostpreußen nun allein auf die Hilfe des Reichs angewiesen sei. Die psychologische Wirkung dieser Agitation auf die ostpreußische Bevölkerung war beträchtlich. Nur durch ihre Beteiligung an der Aufbringung der Hilfsgelder konnte die Regierung Braun eine weitere Entfremdung der ostpreußischen Wählerschaft verhindern. Zudem wäre andernfalls bei der Durchführung der Hilfsmaßnahme die Kompetenz der preußischen Behörden und zumal die Stellung des Oberpräsidenten unterminiert worden. Die Leitsätze des Ostpreußenprogramms von 1922 hatten eine enge Fühlungnahme des Oberpräsidenten mit den Reichsbehörden in der Provinz angeordnet. Nach Siehrs Auffassung war dem Oberpräsidenten nicht nur die Auskunftbefugnis, sondern auch eine gewisse Anweisungsbefugnis den Reichsbehörden gegenüber eingeräumt worden.150 Diese Regelung sollte nun bekräftigt werden, um so eine Einmischung der Reichsbehörden in Angelegenheiten der Provinz zu verhindern. Dies war jedoch nur möglich, wenn Preußen sich aktiv an der Aufbringung der Hilfsgelder beteiligte. Deshalb mahnte der Oberpräsident, insbesondere sein Vizepräsident Herbst, wiederholt die finanzielle Beteiligung Preußens an. Herbst warnte in diesem 149 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 379, Chefbesprechung vom 19.12.1927, Anm. 3, S. 1169 ff. 150 Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz), S. 18 f.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens183
Zusammenhang sogar vor der Gefahr einer Auflösung Preußens in kleinere Reichsprovinzen.151 Ihm zufolge gehörte der Besuch von Hindenburg sowie Reichskanzler Marx in Ostpreußen im Oktober 1927, der unter Umgehung des Oberpräsidenten stattgefunden hatte, zu dieser verhängnisvollen Entwicklung. Ziel der von den Rechtskreisen betriebenen Reichsreform sei es, die Provinz Ostpreußen vom politischen Joch der linksgerichteten Regierung Preußens zu befreien und eine eigenständige Regierung Ostpreußens auf Grund der dortigen Mehrheitsverhältnisse zu bilden. Aus zweierlei Gründen sei deshalb die Auseinandersetzung um die Ostpreußenhilfe äußerst bedenklich. Zum einen drohe das Verhältnis zwischen dem Staatsministerium und dem Oberpräsidenten grundlegenden Schaden zu nehmen. Zum anderen drohe nichts weniger als die Auflösung des republikanischen Staatswesens von Ostpreußen her, wo die reaktionären Kräfte besonders stark waren. Dies könne, so Herbst, „den Versuch bedeuten, auf dem Wege der Verwaltungsübung das zu erreichen, was im Wege der Vereinbarung oder der Gesetzgebung unerreichbar oder nur nach langer Zeit und großen Opfern erzielt werden kann, nämlich die Schaffung von Reichsprovinzen“.152 Herbst verlangte folglich nicht nur die Beteiligung Preußens an der Aufbringung der Kreditmittel, sondern auch die Beteiligung des Oberpräsidenten an der Verwaltung der Hilfsgelder. In der gemeinsamen Kabinettssitzung von Reich und Preußen am 21. Dezember 1927 erklärte Ministerpräsident Braun die Bereitschaft Preußens, sich mit 5 Millionen RM, einem Viertel der Gesamtsumme, an der Aufbringung der Mittel für die Umschuldungsaktion zu beteiligen. Hierdurch wurde die Mitwirkung Preußens an der Ostpreußenhilfe, und zwar an der Unterbringung der Pfandbriefe, der Umschuldung sowie der Senkung der Kommunallasten gesichert. Die Nichtbeteilung Preußens beschränkte sich lediglich auf die Frachtsenkungsaktion für den Korridorverkehr. Im Gegenzug wurde der Antrag des Oberpräsidenten, ihm die Aufsicht über die Unterverteilung der Hilfsgelder einheitlich zu überlassen, von der Reichsregierung akzeptiert.153 Diese vorläufige Anerkennung sollte aber bis zur Einleitung der Hilfsmaßnahmen noch mehrere Änderungen erfahren.
151 GStA PK, 152 Ebd.
XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3536, Vol. 1, Herbst an OPO, 2.12.1927.
153 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 382, Chefbesprechung, 21.12.1927, f.; Dok. 383, Ministerbesprechung beim Reichspräsidenten, 21.12.1927, S. 1182 S. 1184 ff.
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1. Teil: Ostpreußen
b) Die Bemühungen des Oberpräsidenten um die Leitung des Kreditausschusses Mitte Januar 1928 berief der Leiter der Ostverwaltungsstelle, Ministerialdirektor Dammann (RMdI), eine Versammlung im Oberpräsidium Königsberg ein, an der über hundert Spitzenvertreter aus Ostpreußen und Berlin teilnahmen. Der Ausmaß und der genaue Inhalt der Hilfsaktion wurde hier erstmals der Privatwirtschaft Ostpreußens vorgestellt. Im Mittelpunkt der Debatte stand das Verfahren der Umschuldung. Die Ostverwaltungsstelle beabsichtigte, einen Ausschuß zu bilden, der Richtlinien für die Verausgabung der Kredite ausarbeiten sollte. Das Reichsernährungsministerium skizzierte das Grundkonzept des Umschuldungsverfahrens. Ein Hauptausschuß in Königsberg sollte mit örtlichen Ausschüssen (Kreiskreditausschüssen) gebildet werden. Anträge der verschuldeten Betriebe auf Umschuldungskredite sollten zunächst durch den örtlichen Ausschuß geprüft und nach Begutachtung an den Hauptausschuß in Königsberg (Provinzialkreditausschuß) weitergeleitet werden. Diesem Hauptausschuß oblag die Feststellung darüber, ob der Antragsteller kreditwürdig oder nicht mehr sanierungsfähig sei. Die letzte Entscheidung sollte auf Grund dieses Urteils durch die Landesbank getroffen werden, allerdings unter möglichster Respektierung der Entschließungen des Hauptausschusses. Dammann schloß sich den Ausführungen des Ministeriums an, legte aber Wert darauf, daß der Oberpräsident als Vertreter Preußens sowie ein Beauftragter des Reichs, der Landesfinanzamtspräsident, neben Vertretern der Landwirtschaftskammer usw. im Ausschuß vertreten sein sollten: „In dem zu bildenden Ausschuß muß ein Vertreter des Staats und ein Vertreter des Reichs mitwirken, um eine gerechte Verteilung der Mittel zu gewährleisten. Der Ausschuß muß von dem Herrn Oberpräsidenten gebildet werden.“154 Gleich nach dieser Versammlung legte der Oberpräsident seinen ersten Vorschlag zur Besetzung des geplanten Ausschusses vor. Der Hauptausschuß, der mit der Aufstellung von Richtlinien für das Kreditverfahren zu beauftragen war, sollte demnach aus folgenden Vertretern der Landwirtschaft, Genossenschaften sowie Bankinstitute zusammengestellt werden: Präsident der Landwirtschaftskammer, Landesbank, Bank der Landwirtschaft, Girozentrale, Raiffeisengenossenschaft, Schulze-Delitzsche Genossenschaft, Ermländische Zentralgenossenschaft, Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaft Insterburg, Königsberger Bankenvereinigung, Landwirtschaftsverband, Ostpreußische Bauernschaft. In diesem Hauptausschuß 154 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 1, Niederschrift über eine Sitzung der Reichs- und Staatsressorts betr. Ostpreußenhilfe auf dem Oberpräsidium in Königsberg am 16. und 17. Januar 1928.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens185
sollten der Oberpräsident den Vorsitz sowie der Landesfinanzamtspräsident als Vertreter des Reichs einen herausgehobenen Rang einnehmen. Dazu sollte ein mit der Bearbeitung der Anträge zu beauftragender Unterausschuß gebildet werden, dem unter Vorsitz der Landesbank sieben Mitglieder (Landesbank, Oberpräsident, Landesfinanzamtspräsident, Generallandschaftsdirektor, Präsident der Landwirtschaftskammer, Vertreter des Landwirtschaftsverbandes, Vertreter der Ostpreußischen Bauernschaft) angehörten.155 Dieser Vorschlag wurde Anfang Februar 1928 bei der Ressortbesprechung von Reich und Preußen prinzipiell angenommen. Das preußische Finanzministerium stellte aber den Antrag, einen Vertreter der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse (der sog. Preußenkasse) in den geplanten Ausschuß aufzunehmen.156 Mitte März 1928 stieß der Wunsch des Oberpräsidenten, die Federführung beim Kreditverfahren zu behalten, auf Hindernisse. Das Reichsinnenministerium legte seinen Referentenentwurf über die Richtlinien für die Kreditmaßnahmen der Ostpreußenhilfe vor. Darin wurde die Beteiligung der Vertreter der nichtlandwirtschaftlichen Sektoren am Kreditausschuß völlig außer acht gelassen, während sie im Vorschlag des Oberpräsidenten wenigstens durch die Beteiligung der Königsberger Bankinstitute am Hauptausschuß gewahrt war. Das Reichsinnenministerium sah hingegen folgende Besetzung vor: Landesbank als Vorsitz, Oberpräsident, Landes finanzpräsident, Präsident der Landwirtschaftskammer, zwei von der Landwirtschaftskammer zu bestellende Landwirte als Vertreter der Großgrund besitzer und des bäuerlichen Besitzes, Generallandschaftsdirektor, Präsident der Preußenkasse.157 c) Der Protest der Handelskammern gegen die Agrarier Der Entwurf des Reichsinnenministeriums empörte die nichtlandwirtschaftlichen Wirtschaftskreise Ostpreußens. Seitdem die Grundzüge der geplanten Ostpreußenhilfe Mitte Januar 1928 bekannt geworden waren, beschwerten sich die ostpreußischen Handelskammern darüber, daß keine nennenswerten Hilfsmaßnahmen für die nichtagrarische Wirtschaft vorgesehen waren. Die von Dammann veranstaltete Versammlung hatte verdeutlicht, daß die erste Ostpreußenhilfe eine reine Agrarhilfe sein würde. Oberpräsi155 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 1, Abschrift, OPO an Ministerial direktor Dammann, 24.1.1928. Vgl. Hertz-Eichenrode (1969), S. 248. 156 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3536, Bd. 2, Abschrift, Niederschrift über die Sitzung der Reichs- und Staatsressorts im RMdI, 3. / 4.2.1928. 157 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 2, RMdI, 19.3.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1071, RMdI, 19.3.1928. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurden die Richtlinien Ende April 1928 durch das Reichsinnenministerium definitiv festgelegt.
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1. Teil: Ostpreußen
dent Siehr schloß sich der Kritik daran an und forderte die Ostverwaltungsstelle des Reichsinnenministeriums dazu auf, die bereitgestellten Hilfsgelder auch für die Rettung der nichtlandwirtschaftlichen Sektoren zu verwenden.158 Die Verschuldung der ostpreußischen Industrie, insbesondere der Metallindustrie sowie der Sägewerke, war – genauso wie bei der Landwirtschaft – in der Hauptsache eine Zinsverschuldung, die sich aus der Aufnahme hochverzinslicher, kurzfristiger Kredite ergab. Die Wiedergesundung der gesamten ostpreußischen Wirtschaft erforderte es deshalb, nicht nur der Landwirtschaft, sondern auch der Industrie vergünstigte staatliche Kredite anzubieten. Anfang Februar 1928 wurde die konkrete Summe der Ostpreußenhilfe bekanntgegeben. Die Gesamtkosten in diesem Jahr sollten sich voraussichtlich auf ca. 75 Millionen RM belaufen, wovon 60 Millionen RM durch das Reich und 15 Millionen RM durch Preußen bereitzustellen waren. Von den ursprünglich als notwendig erachteten Umschuldungsmittel von 100 Millionen RM wurden zunächst lediglich 18 Millionen RM zur Verfügung gestellt, der Rest sollte durch eine Auslandsanleihe aufgebracht werden, für die das Reich, Preußen sowie die Provinzialselbstverwaltung die Ausfallbürgschaft (75 % von Reich und Preußen, 25 % von der Provinz) übernehmen würden.159 Von der Beteiligung Preußens (15 Millionen RM) sollten 10 Millionen RM für die Senkung öffentlicher Lasten (Steuern usw.) sowie 5 Millionen RM für die Kreditaktion verwendet werden. Von der Beteiligung des Reichs (60 Millionen RM) sollten 50 Millionen RM für die Kreditaktion sowie 10 Millionen RM für die Senkung der Frachtkosten im Korridorverkehr aufgewendet werden. Im Gegensatz dazu wurde den nichtlandwirtschaftlichen Sektoren lediglich ein Ausgleichszuschuß in Höhe von 1 Million RM für die Kursverluste bei der Ausgabe der Industriepfandbriefkredite von 10 Millionen RM in Aussicht gestellt. Die Erlöse der von der Landesbank auszugebenden Pfandbriefe sollten zur Gewährung von Darlehen an ostpreußische Mittel- und Kleinindustriebetriebe verwendet werden. Diese Aktion gehörte allerdings ursprünglich nicht zur Ostpreußenhilfe, sondern führte die 1927 vom Provinzialverband eingeleitete Provinzialindustrieanleihe fort.160 Im Rahmen der ersten Ostpreußenhilfe wurde dem ost158 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 2, Verband Ostpreußischer Industrieund Handelskammern (Grenzkammern) als geschäftsführende Kammer, IHK Tilsit, IHK Königsberg und Verband Ostpreußischer Industrieller e. V. an RMdI (Dammann), 20.1.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 2, OPO an Ministerialdirektor Dammann (RMdI), 28.1.1928. 159 AdRK Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 413, Ministerrat beim Reichspräsidenten, 7.2.1928, S. 1292 ff. 160 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1928, S. 71.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens187
preußischen Handel keine unmittelbare Kredithilfe eingeräumt, da man erwartete, daß die Vergabe der landwirtschaftlichen Umschuldungskredite zu Rückzahlungen an die Privatgläubiger der landwirtschaftlichen Schuldner führen würde. Dieser Effekt blieb aber weitgehend aus, da in erster Linie die Schulden bei den Sparkassen und Genossenschaftskassen umgeschuldet wurden. Folglich gerieten die Schulden bei den Privatgläubigern oft in die Illiquide.161 In der Kabinettssitzung vom 7. Februar 1928 drängte der Reichspräsident darauf, die zur Senkung öffentlicher Lasten bestimmten Mittel insbesondere auf die Entlastung der Grundstückssteuer zu verwenden. Ebenfalls verlangte er, die Frachtkostensenkung nicht nur für den Gütertransport aus dem übrigen Reichsgebiet – hauptsächlich für den Brennstoffe- sowie Düngemittelbezug –, sondern auch für den Transport aus Ostpreußen nach dem Reich – nämlich für landwirtschaftliche Produkte – vorzunehmen.162 Auch diese Maßnahmen kamen lediglich der Landwirtschaft, und zwar vornehmlich den Großagrariern, zugute. Ein Interessenausgleich zwischen der Landwirtschaft und der Handelskammern war dringend notwendig. Mitte März 1928 wurde zwischen dem Oberpräsidenten und den Handelskammern die Möglichkeit erörtert, wenigstens das dritte Haupthilfsprogramm der Ostpreußenhilfe, also die Frachterstattungsaktion, für die Lastensenkung der nichtlandwirtschaftlichen Sektoren anzuwenden und möglicherweise der Kontrolle der Handelskammern zu unterstellen.163 Diese Zielvorstellung wurde mit Rücksicht auf die Einseitigkeit der Ostpreußenhilfe auch durch die Vertreter der Landwirtschaft akzeptiert. Ende März 1928 lud Siehr die Vertreter der Handelskammern zu einer Anhörung über die landwirtschaftliche Umschuldungsaktion ins Oberpräsidium ein. Die Kritik der Handelskammern an der Ostpreußenhilfe konzentrierte sich darauf, daß die Privatschulden der Landwirte durch den Einsatz staatlicher Mittel saniert werden sollten, was außerdem eine individuelle Behandlung voraussetzte. Die nichtlandwirtschaftlichen Sektoren waren demgegenüber auf zweierlei Weise benachteiligt. Zum einen war überhaupt keine Kreditmaßnahme für Industrie und Handel vorgesehen. Zum anderen waren die Rechte der nichtagrarischen Privatgläubiger dadurch beeinträchtigt, daß nach dem Entwurf des Reichsministeriums des Innern keine nichtlandwirtschaftlichen Vertreter Ostpreußens dem Hauptkreditausschuß angehören sollten. So schlugen die Handelskammern vor, die Bestimmung in die Richtlinien aufzunehmen, daß der Oberpräsident ermächtigt werden sollte, 161 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1929, S. 65 ff. 162 AdRK Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 413, Ministerrat beim Reichspräsidenten, 7.2.1928, S. 1292 ff. 163 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPO, Aktenvermerk betr. Besprechung mit den Industrie- und Handelskammern vom 14.3.1928.
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1. Teil: Ostpreußen
je einen Vertreter der Handelskammern sowie der Handwerkskammer in den Hauptkreditausschuß zu entsenden.164 Diesem Verhandlungsergebnis entsprechend, stellte der Oberpräsident beim Reichsinnenministerium anschließend einen Änderungsantrag.165 d) Die Einberufung des Provinzialkreditausschusses unter dem Landeshauptmann Der Streit um den Hauptausschuß (Provinzialkreditausschuß) endete am 20. April 1928 mit dem Erlaß der endgültigen Richtlinie über die Kreditmaßnahme der Ostpreußenhilfe durch das Reichsministerium des Innern. Völlig überraschend166 wurde der Landeshauptmann zum Vorsitzenden des Provinzialkreditausschusses bestellt, während der Oberpräsident und der Landesfinanzamtspräsident lediglich einfache Mitglieder waren, ebenso wie der Präsident der Landwirtschaftskammer, zwei von der Landwirtschaftskammer zu bestellende ostpreußische Landwirte, der Generallandschaftsdirektor, der Präsident der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse sowie ein vom Oberpräsidenten zu nominierender Vertreter der nichtlandwirtschaft lichen Wirtschaft. Der Provinzialkreditausschuß war bei Anwesenheit von fünf der neun Mitglieder beschlußfähig. Entschieden wurde mit einfacher Stimmenmehrheit, bei Stimmengleichheit sollte die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag geben. Die Anträge der landwirtschaftlichen Betriebe auf Vergabe von Umschuldungskrediten waren zunächst durch die örtlichen Unterausschüsse zu begutachten und sodann an den Provinzialkreditausschuß weiterzuleiten. Falls dieser den Antrag befürwortete, sollte die Landesbank die letzte Entscheidung über die Kreditvergabe treffen. Verneinte hingegen der Ausschuß die Annahme des Antrags, sollte dieses Urteil endgültig sein. Kreisausschüsse waren in jedem Kreis der Provinz unter dem Vorsitz des Landrats bzw. Oberbürgermeisters zu bilden. Zu den Mitgliedern zählten der Vorstand des zuständigen Finanzamts sowie drei von der Landwirtschaftskammer zu bestellende Landwirte, die unter Berücksichtigung der örtlichen 164 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1071, sowie GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 2, Vermerk über die Sitzungen vom 27., 29. und 30. März 1928. 165 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 2, Frankenbach an OPO, 5.4.1928. 166 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 2, Frankenbach, 16.4.1928. Die Bestellung des Landeshauptmanns zum Vorsitzenden war bis kurz vor dem Beschluß des Reichsinnenministeriums auf preußischer Seite, auch Frankenbach, unbekannt gewesen. Der Wunsch der Provinzialselbstverwaltung nach der Einsetzung des Landeshauptmanns in den Provinzialkreditausschuß war besonders stark, vor allem nachdem sie sich bereit erklärt hatte, sich an der Aufbringung der Gelder für die Umschuldungskredite zu beteiligen.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens189
Betriebsgrößen auszuwählen waren.167 Die Begutachtung seitens der Kreiskreditausschüsse mußte die Entscheidungen des Hauptausschusses präjudizieren, da dieser infolge des enormen Antragsaufkommens nicht imstande war, die Urteile der Vorinstanz im Detail zu überprüfen.168 Infolge der Richtlinie vom April 1928 war es dem Oberpräsidenten zunächst kaum möglich, auf die Kreditvergabe Einfluß auszuüben. Während der Landeshauptmann als Vorsitzender des Hauptausschusses im Falle der Stimmengleichheit den Ausschlag geben konnte, hatten zunächst weder der Oberpräsident noch der Landesfinanzamtspräsident ein Vetorecht. Dieses wurde ihnen erst Anfang 1929 eingeräumt. Die Richtlinie bestimmte außerdem, daß die Reichsregierung und die preußische Staatsregierung befugt seien, Kommissare zu den Verhandlungen des Ausschusses zu entsenden. Von diesem Recht machten das Reich und Preußen nicht sofort Gebrauch. Die Entsendung des Staatskommissars in den Kreditausschuß erfolgte erst im Frühsommer 1929, nachdem die Ostpreußenhilfe eine reichsgesetzliche Grundlage erlangt hatte. Das Stimmverhältnis zwischen dem den Großagrariern nahestehenden Lager und den anderen Mitgliedern im Provinzialkreditausschuß betrug nach der Richtlinie 4 zu 5. Zu ersterem zählten der Präsident der Landwirtschaftskammer (Brandes), der Generallandschaftsdirektor (Walter v. Hippel), ein Vertreter des Großgrundbesitzes (Graf zu Eulenburg-Prassen) sowie der Landeshauptmann (v. Brünneck, später Blunk). Zu letzteren zählten der Oberpräsident, der Landesfinanzamtspräsident, ein von der Landwirtschaftskammer benannter Vertreter des bäuerlichen Besitzes, der Präsident der Preußenkasse und ein vom Oberpräsidenten benannter Vertreter der nichtlandwirtschaftlichen Wirtschaft. Die Großagrarier waren deshalb bis zur Geschäftsaufnahme des Ausschusses weiterhin bestrebt, das Stimmverhältnis umzukehren. Zum einen setzten sich sie dafür ein, die Ostbank für Handel und Gewerbe für das Amt eines nichtlandwirtschaftlichen Vertreters kandidieren zu lassen.169 Zum anderen versuchten sie, anstatt eines Vertreters des bäuerlichen Besitzes einen weiteren Repräsentanten des Großgrundbesitzes in den Ausschuß entsenden zu lassen. Die Ostbank, die ihren Hauptsitz in Berlin und Königsberg hatte, stand der DNVP sowie den Großagrariern nahe; ihrem Aufsichtsrat170 gehörten an Alfred Hugenberg als erster Vorsitzender, Adolf v. Batocki als stellvertretender Vorsitzender sowie die Ritter167 Denkschrift
des Landeshauptmann (1931), S. 14 f. (1969), S. 249. 169 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3536, Bd. 2, Ostbank für Handel und Gewerbe an OPO, 10.5.1928. 170 Einundsiebenzigster Geschäftsbericht der Ostbank für Handel und Gewerbe Berlin-Königsberg i. Pr. (für das Jahr 1928). 168 Hertz-Eichenrode
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1. Teil: Ostpreußen
gutsbesitzer Hermann Dietrich171 und Freiherr von der Goltz.172 Der Antrag der Ostbank, als Vertreterin der nichtlandwirtschaftlichen Kreise im Provinzialkreditausschuß zu fungieren, stieß selbstverständlich auf die Gegenwehr der ostpreußischen Handelskammern. Die Einsetzung eines nichtlandwirtschaftlichen Vertreters sollte eigentlich dazu beitragen, im Umschuldungsverfahren die Privatgläubigerrechte gegen die Interessen der Großagrarier zu schützen. Auch der Oberpräsident wies den Antrag der Ostbank entschieden zurück und beauftragte vielmehr einen Vertreter der Königsberger Handelskammer, Willy Ostermeyer (Handelsfirma: Bernhard Wiehler, Königsberg) mit diesem Amt im Provinzialkreditausschuß. Als dessen Stellvertreter wurde außerdem ein Vertreter der Tilsiter Handelskammer benannt.173 Während die Großagrarier auf diese Weise den Handelskammern unterlagen, gelang es ihnen jedoch, unter Umgehung der Kleinbauern zwei eigene Vertreter in den Provinzialkreditausschuß zu entsenden.174 Folglich gehörten dem neunköpfigen Provinzialkreditausschuß bei seiner Geschäftsaufnahme im Juni 1928 einschließlich des Vorsitzenden fünf Großgrundbesitzer an. 5. Die Frachterstattungsstelle beim Oberpräsidium und die Handelskammern a) Die Entstehung Die Einseitigkeit der Ostpreußenhilfe, die in erster Linie auf die Sanierung der landwirtschaftlichen Betriebe abzielte, kam auch im Gesetz über „die wirtschaftliche Hilfe für Ostpreußen“ vom 18. Mai 1929 zum Vorschein.175 Die Handelskammer Königsberg kommentierte: „Tatsächlich enthält das Gesetz im wesentlichen auch nur Hilfsmaßnahmen für diesen Wirtschaftszweig [scil. die Landwirtschaft], und zwar handelt es sich in der Hauptsache um die Bereitstellung weiterer Mittel für die landwirtschaftliche Umschuldung. […] Besondere Hilfsmaßnahmen für Handel und Industrie sowie Handwerk sieht das Gesetz so gut wie gar nicht vor.“176 Unter diesen 171 Hermann Adolph Christian Dietrich (1856–1930). Rittergutsbesitzer in Plenzlau u. Metzelthin. Bis 1924 war er stellv. Vorsitzender der DNVP und bis 1928 Fraktionsführer der DNVP im Reichstag. 172 Fritz Frhr. von der Goltz. Rittergutsbesitzer, Mertensdorf bei Friedland (Ostpreußen). 173 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3536, Bd. 2, OPO an Landeshauptmann, 23.5.1928. 174 Roidl (1994), S. 36. 175 RGBl. 1929, I, S. 97 ff. 176 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1929, Königsberg 1930, S. 65 ff.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens191
Umständen engagierten sich die Handelskammern dafür, wenigstens die Frachterstattungsaktion, die eine der drei Haupthilfsmaßnahmen der Ostpreußenhilfe bildete, unmittelbar unter ihre Kontrolle zu stellen. Die Notwendigkeit einer Senkung der Frachtkosten im Verkehr zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reichsgebiet war seit Kriegsende allgemein anerkannt. Die erhöhten Frachtkosten, die sich aus dem Korridorverkehr ergaben, drückte die Rentabilität der ostpreußischen Wirtschaft, sowohl bei der Landwirtschaft als auch bei der Industrie. Der Brennstoffbezug nach Ostpreußen sowie die Lieferung von Agrarprodukten sowie Schnitthölzern ins übrige Reich waren besonders betroffen. Durch die Abtretung des überwiegenden Teils der Provinzen Posen und Westpreußen an Polen hatte die ostpreußische Landwirtschaft ihre wichtigsten Absatzmärkte verloren. Während bis 1913 ca. 35 % der ostpreußischen Produkte nach Posen und Westpreußen geliefert worden waren, sank dieser Anteil nach dem Krieg auf 4 %.177 Die ostpreußische Landwirtschaft war daher gezwungen, neue Absatzmöglichkeiten in Mittel- und Westdeutschland, also in mindestens 600 km Entfernung, zu suchen. Seit der Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Reichsgebiet 1920 waren sowohl das Reichsverkehrsministerium als auch die Reichsbahnverwaltung bemüht, die Lasten Ostpreußens im Korridorverkehr durch verkehrspolitische Maßnahmen zu erleichtern. Die Tarifermäßigung für den Korridorverkehr wurde durch die Reichsbahn vorgenommen, die sich aber selbst in einer schwierigen Finanzlage befand, da ihr auf Grund des Dawes-Plans von 1925 bis 1928 jährlich etwa die Hälfte der gesamten Reparationszahlungsverpflichtungen Deutschlands auferlegt wurde.178 Ihr Haushalt stand außerdem unter Beobachtung durch die Alliierten. Als die Frachtensenkungsaktion als Teilprogramm der Ostpreußenhilfe Ende 1927 im Reichs kabinett zur Debatte gestellt wurde, äußerte zwar der Generaldirektor der Reichsbahngesellschaft, Julius Dorpmüller, seine Bereitschaft zur Mitwirkung, machte zugleich aber darauf aufmerksam, daß Ostpreußen für die Eisenbahn ohnehin ein Zuschußgebiet sei. Nach Angaben der Reichsbahngesellschaft arbeitete die Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.) mit einem Fehlbetrag von 22 Millionen RM. Dazu kam die bereits bestehende Tarif ermäßigung für Ostpreußen von ca. 11 Millionen RM. Dorpmüller machte deshalb für die vom Kabinett gewünschte Frachtsenkungsaktion zur Bedin177 Hertz-Eichenrode
(1969), S. 17. den gesamten Zahlungsverpflichtungen Deutschlands von ca. 1500 Mill. GM im Jahr 1927 / 28 erreichte der Verpflichtungsanteil der Reichsbahngesellschaft ca. 950 Mill. GM. Siehe hierzu Friedrich Raab: Der Dawes-Plan und seine Durchführung, in: Zehn Jahre Versailles, hg. v. Heinrich Schnee und Hans Daeger, Bd. 1, Berlin 1929, S. 295–348. 178 Gegenüber
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1. Teil: Ostpreußen
gung, daß eine Rückvergütung von Frachtkosten aus einem Staatsfonds erfolge.179 Damit lehnte es die Reichsbahn ab, weitere Opfer zugunsten Ostpreußens auf sich zu nehmen, weil „es nicht Sache der Reichsbahn ist, Ausfallbeträge aus der Beförderung durch den Korridor zu übernehmen.“180 In Ostpreußen hegte man den Verdacht, daß die Bahn beabsichtige, den Fehlbetrag der Reichsbahndirektion Königsberg durch die für die Frachtsenkungsaktion der Ostpreußenhilfe bereitgestellten Hilfsgelder auszugleichen.181 Daher hielt man es für notwendig, die Frachtsenkungsaktion zunächst unabhängig von der Einführung neuer Tarifermäßigungsmaßnahmen der Reichsbahn vorzunehmen und die Rückvergütung nicht der Reichsbahn anheimzustellen. Die staatlichen Gelder sollten vielmehr unmittelbar den Betroffenen in Ostpreußen erstattet werden. Tatsächlich beschloß das Reichskabinett, die Frachtsenkungsmaßnahme in Form einer Frachterstattung durchzuführen. Für diesen Zweck wurden jährlich 10 Millionen RM zur Verfügung gestellt.182 Gleich nach dem Kabinettsbeschluß vom 7. Februar 1928 beauftragte das Reichsministerium des Innern den Oberpräsidenten sowie die örtlichen zuständigen Stellen mit der Präzisierung des Frachterstattungsverfahrens. Es gelang dem Oberpräsidenten, hier den Handelskammern die Federführung zu überlassen.183 Grundkonzept war es, den Empfängern bzw. Absendern einen Teilbetrag der Frachtkosten für den Korridorverkehr nachträglich aus dem Reichsfonds zu erstatten. Der Kabinettsbeschluß ließ offen, ob die Antragsteller auf die landwirtschaftlichen Betriebe beschränkt sein sollten, wie z. B. beim Brennstoffbezug. Die Handelskammern drängten darauf, die Frachterstattung in erster Linie zur Lastensenkung der nichtlandwirtschaftlichen Sektoren anzuwenden. Der Gedanke, den Frachterstattungsfonds unter die Kontrolle der Handelskammern zu stellen, ging auf eine Eingabe des Präsidenten der Königsberger Handelskammer, Felix Heumann (Inhaber der Waggonfabrik L. Steinfurt A. G.), zurück. Im Vordergrund stand die Notlage der Metallindustrie in Königsberg und Elbing. Heumann wollte erreichen, daß die 179 AdRK Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 383, Ministerbesprechung beim Reichspräsidenten, 21.12.1927, S. 1184 ff. (hier S. 1189). 180 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1071, Deutsche Reichsbahngesellschaft an Reichspräsidenten, Reichskanzler, PreußMP, 5.1.1928. 181 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1071, Abschrift, OPO an PreußMdI, 9.1.1928. 182 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 413, Ministerrat beim Reichspräsidenten, 7.2.1928, S. 1292 ff. 183 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPV, Aktenvermerk betr. die Besprechung mit den Industrie- und Handelskammern über die Durchführung der Frachtsenkungsaktion vom 14.3.1928.
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Lage der Branche (Schiffbau, Waggon- und Lokomotivenbau usw.) durch die Vergabe öffentlicher Aufträge an ostpreußische Betriebe verbessert würde. Im Vergleich zur Vorkriegszeit, als die ostpreußische Industrie zahlreiche Aufträge der Eisenbahnen und des Militärs erhalten hatte, war nach dem Krieg die Vergabe von Aufträgen an ostpreußische Firmen deutlich eingeschränkt worden.184 Heumann schlug vor, den Frachterstattungsfonds, dem jährlich 10 Millionen RM zur Verfügung zu stellen waren, mit staatlichen Industrieaufträgen, wie z. B. durch die Reichsbahn, zu koppeln. Der ganze Fonds von 10 Millionen RM war auf Grund der Rückerstattung nicht sofort in Anspruch zu nehmen. Der zunächst übrigbleibende Betrag solle der Reichsbahn als Vorschuß auf ihre Aufträge an ostpreußische Firmen übertragen und dieser Vorschuß später aus Eigenmitteln der Reichsbahn zurückgezahlt bzw. mit der Frachtsenkung verrechnet werden.185 Heumanns Projekt, das durch den Oberpräsidenten an die Ostverwaltungsstelle des Reichsinnenministeriums weiter geleitet worden war, fand dort zwar keine Zustimmung, war aber im Hinblick auf die spätere Entwicklung des Frachterstattungsverfahrens doch aufschlußreich. Mitte März 1928 lud Oberpräsident Siehr die Vertreter der ostpreußischen Handelskammern sowie der Reichsbahndirektion Königsberg zu einer Besprechung über das Frachterstattungsverfahren ein. Die Haltung der Reichsbahn gegenüber der Initiative der Handelskammern war ausgesprochen unfreundlich. Ihr Vertreter kündigte an, daß „die Reichsbahndirektion und ihre Stellen auf keinen Fall an der Durchführung der Aktion sich beteiligen wollen“, um der Öffentlichkeit zu beweisen, daß die Frachterstattung nicht auf Kosten der Reichsbahn erfolge. Die Bahngesellschaft war nicht bereit, weitere finanzielle Opfer für Ostpreußen zu übernehmen. Da sie auf diese Weise auf alle Zuständigkeiten Verzicht leistete, die sich aus der Frachterstattungsaktion ergaben, beschloß Siehr, den Handelskammern die Federführung zu überlassen. Diese legten einen Entschließungsentwurf vor, wonach die Handelskammern mit der örtlichen Ausführung und der Oberpräsident mit der Oberaufsicht sowie mit der Behandlung von Beschwerden betraut werden sollten. Zu diesem Zweck sollte eine Kontrollstelle beim Oberpräsidium eingerichtet werden. Es erschien aber problematisch, daß die Handelskammern in ihrem Entwurf für sich nicht nur die Prüfungskompetenz der Anträge ihres eigenen Kammerbezirkes, sondern auch die Verwaltung des Fonds sowie dessen Auszahlung an die Antragsteller beanspruchten. Die Auszahlung der Erstattungsgelder hätte bei jeder Handelskammer die Ein184 Jahresbericht
S. 21.
der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1928,
185 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 2, OPO an Ministerialdirektor Dammann (RMdI), 28.1.1928.
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1. Teil: Ostpreußen
richtung eines eisernen Fonds erfordert, welcher aus dem staatlichen Fracht erstattungsfonds hätte gespeist werden müssen.186 Die Handwerkskammer Ostpreußens, die ebenfalls gegen die Einseitigkeit der Ostpreußenhilfe war, schloß sich dem Vorschlag der Handelskammern an; Zustimmung kam auch von der Landwirtschaftskammer.187 Einwände wurden einzig von seiten der Reichsbahn erhoben. Der Präsident der Reichsbahndirektion Königsberg, Moeller, äußerte Bedenken dagegen, den Staatsfonds an die insgesamt fünf Handelskammern zu verteilen und von dort aus unmittelbar an die Antragsteller auszuzahlen. Moeller schlug vor, den Fonds und die Auszahlung einheitlich einer Handelskammer oder einer öffentlichen Stelle zu unterstellen.188 Dies entsprach auch den Vorstellungen der Berliner Zentralstellen. Ende März 1928 machte daher der Oberpräsident den Änderungsvorschlag, eine einzige Auszahlungsstelle in Königsberg einzurichten und diese im Einvernehmen mit dem Landesfinanzamtspräsidenten seiner Aufsicht zu unterstellen.189 Dieser Vorschlag wurde letztlich Anfang April 1928 durch das Reich und Preußen angenommen. Sowohl die Aufsicht über die gesamte Aktion als auch die Verwaltung des Staatsfonds und dessen Auszahlung unterstanden demnach einheitlich dem Oberpräsidenten.190 Am 26. April erteilte der Reichsminister des Innern die Anordnung, die Frachterstattungsstelle einzurichten, und setzte den Geschäftsbeginn zum 1. Mai 1928 fest.191 Zu den Aufgaben der Erstattungsstelle gehörte auch der Zahlungsverkehr, dessen Gelder in Höhe von 10 Millionen RM aus der Reichskasse zinsbringend bei der Regierungskasse in Königsberg angelegt wurden. Die Einzelheiten sollten durch eine Geschäftsanweisung im Einvernehmen mit den beteiligten Reichs- und preußischen Ressorts geregelt 186 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPO, Aktenvermerk betr. Besprechung mit den Industrie- und Handelskammern vom 14.3.1928. 187 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPO an Ostverwaltungsstelle (RMdI), 16.3.1928. 188 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPV, Aktenvermerk über die Ressortbesprechung im RMdI, 19.3.1928. 189 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPV, Vermerk über das Ergebnis der auf dem Oberpräsidium am 28. 3. stattgehabten Erörterung, 2.4.1928. 190 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPV, Vermerk über die Ressortbesprechung im RMdI, 4.4.1928. Es wurde beschlossen: 1. Es solle in Königsberg ein räumlich vom Oberpräsidium getrenntes Büro eingerichtet werden. 2. Zu den Angestellten sollen auch von der Reichsbahn pensionierte bzw. beurlaubte Tarifsachverständige hinzugezogen werden. 3. Die Reichsbahn solle, soweit es sich um fachtechnische Fragen handele, die Kontrolle über das Büro übernehmen. 4. Der Oberpräsident solle in der Gesamtheit die Verantwortung und die Aufsicht über dieses Büro übernehmen. 191 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1071, Abschrift, RMdI an PreußHM, 26.4.1928.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens195
werden. Der preußische Minister für Handel und Gewerbe beauftragte den Oberpräsidenten, neben der unverzüglichen Einrichtung der Frachterstattungsstelle deren Geschäftsanweisung aufzustellen.192 b) Die Kompetenz und Organisation Nachdem der Versuch der Handelskammern, den Frachterstattungsfonds unter ihre Kontrolle zu bringen, gescheitert war, mußte ihr Kernanliegen, die verfügbaren Mittel vornehmlich für die Lastensenkung der nichtlandwirtschaftlichen Betriebe zu verwenden, nun vom Oberpräsidenten wahrgenommen werden.193 In der Regel sollten Anträge auf Frachterstattung nicht an die Handelskammern, sondern an die Frachterstattungsstelle des Oberpräsidiums eingereicht werden. Nach der Prüfung und Feststellung der Erstattungsbeträge durch pensionierte bzw. beurlaubte Tarifsachverständige der Reichsbahn sollten die Gelder von der Landesbank ausgezahlt werden. Als Verwalter der gesamten Aktion war der Oberpräsident verpflichtet, zum Ende des Geschäftsjahrs den Berliner Zentralstellen, vor allem dem preußischen Handelsministerium sowie dem Reichsministerium des Innern, Bericht zu erstatten. Falls man es in Ostpreußen für notwendig erachtete, eine neue Warengattung in das Frachterstattungsprogramm aufzunehmen, sollte der Oberpräsident bei den genannten Ministerien einen entsprechenden Antrag stellen. Dabei stand der Reichsbahngesellschaft kein Vetorecht zu; sie durfte bei der Durchführung der Frachterstattungsaktion lediglich eine gutachterliche Tätigkeit ausüben.194 Die ständige Beteiligung eines Vertreters des Oberpräsidenten an Ressortbesprechungen über die Frachterstattungsaktion, normalerweise beim Reichsministerium des Innern, wurde zugesichert. Mit dieser Aufgabe betraute Siehr nicht seinen Berliner Vertreter Frankenbach, sondern Oberregierungsrat Rohde aus der Wirtschaftsabteilung des Oberpräsidiums. Während die mit der Durchführung der landwirtschaftlichen Kreditaktion befaßten Stellen, insbesondere der Provinzialkreditausschuß, infolge des Interessenkonflikts zwischen Reich und Preußen im Übergang von der Ostpreußenhilfe zur Osthilfe grundlegend umstrukturiert wurden, blieben sowohl die Leitung als auch die Kompetenzen der Frachterstattungsstelle im Oberpräsidium unverändert, auch nach dem Ausscheiden Preußens aus der Osthilfe 1931.
192 GStA
PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPV an Weichmann, 2.5.1928. PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1072, Richtlinien für die Durchführung der Frachterstattung im Rahmen der Ostpreußenhilfe, Anlage vom RMdI, 20.7.1928. 194 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 185, Abschrift, OPO an PreußHM, 24.11.1929. 193 GStA
196
1. Teil: Ostpreußen
c) Die Durchführung Nach dem ursprünglichen Vorhaben des Reichskabinetts im Dezember 1927 sollte die Frachtsenkungsmaßnahme in erster Linie zur Entlastung der Landwirtschaft Ostpreußens beitragen. In diesem Sinne betonte Hindenburg wiederholt die Notwendigkeit, Frachterstattung nicht nur für Lieferungen aus dem Reich, sondern auch für den Versand insbesondere landwirtschaftlicher Produkte nach dem übrigen Reichsgebiet zu leisten. Die Frachterstattung war auf den Korridorverkehr beschränkt195 und wurde ab dem 1. Mai 1928 zunächst für 16 Warenarten (Agrarprodukte, Futter, Dünger, Kohle usw.) in Höhe von 8 bis 50 %, durchschnittlich 20 %, genehmigt.196 Der Transport von Agrarprodukten aus Ostpreußen wurde auf diese Weise erleichtert, in der Praxis jedoch den Bedürfnissen aller Wirtschaftszweige Rechnung getragen. Dabei nahm die Rückerstattung für die Εinfuhr der Kohle eine besondere Stellung ein. Tatsächlich wurde von Sommer 1928 bis Ende September 1930 mehr als die Hälfte der gesamten Rückerstattung, ca. 5,5 Millionen RM pro Geschäftsjahr, als Frachtenbonus für Kohle verwendet, wovon wiederum ca. 60 % auf die Industrie entfielen.197 Bei der Aufhebung des Kohlenbonus vertrat der Oberpräsident den Standpunkt, daß die dadurch freiwerdenden Mittel nicht der Landwirtschaft, sondern anderen notleidenden Wirtschaftszweigen zugute kommen sollten.198 So wurde ab dem 1. Oktober 1930 ein Frachtenbonus für Schnittholzsendungen (8 RM pro Tonne) zugunsten der Holzindustrie eingeführt.199 Es ist allerdings fraglich, inwieweit die Frachterstattungsmaßnahme zur Kompensation der durch den Korridor entstandenen Nachteile beigetragen hat. Bereits im Herbst 1928 wurde die Sonderbegünstigung für Ostpreußen durch eine Tariferhöhung der Reichsbahn erheblich eingeschränkt.200 Der Kohlenbonus hatte außerdem die gleiche Wirkung wie eine Exportsubvention für oberschlesische Kohle nach Ostpreußen.201 Mit dem Beginn der Osthilfe 195 In § 5 des Gesetzes über wirtschaftliche Hilfe für Ostpreußen vom 18.5.1929 wurden zur Senkung der Schiffahrtsabgaben auf dem Königsberger Seekanal jährlich 300.000 RM bewilligt. Dies erfolgte aber außerhalb der Frachterstattungsmaßnahme (§ 4). RGBl. 1929, I, S. 97 ff. 196 Hertz-Eichenrode (1969), S. 114 ff. 197 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 186, OPO an PreußHM, 17.6.1930. 198 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 185, RMdI, 8.1.1929. 199 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1077, Abschrift, RMdI, Aufzeichnung über das Ergebnis der kommissarischen Besprechung vom 3. Juli 1930 über die Durchführung der Frachterstattung im Rahmen der Ostpreußenhilfe. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 186, OPV, 4.7.1930. 200 Wessling (1957), S. 249. 201 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 185, OPO an PreußHM, 1.3.1930.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens197
1930 wurde die Frachterstattungsmaßnahme auch auf die anderen Ostprovinzen ausgeweitet, was die Ostpreußen gewährten Vorteile völlig aufzehrte.202 Der Frachterstattungsfonds der Ostpreußenhilfe, der ausschließlich vom Reich in Höhe von jährlich 10 Millionen RM aufgebracht wurde, konnte nicht restlos ausgeschöpft werden, da die Bewilligungskriterien sehr streng eingehalten wurden. Der Restbetrag des Fonds war deshalb als Geldreserve für unerwartet eintretende Notfälle zu betrachten,203 wie es schon vor Beginn der Ostpreußenhilfe zwischen den Handelskammern, dem Oberpräsidenten und dem Reichsinnenministerium besprochen worden war.204 Der Restbetrag des Jahres 1928 (ca. 2 Millionen RM) wurde im Einvernehmen mit dem Reichsinnenministerium sowie dem Reichsernährungsministerium zur Kreditgewährung an die im Schiff- und Lokomotivenbau tätige UnionGießerei A. G., für Saatgutkredite, Fischereikredite, Disagio-Zuschüsse für landwirtschaftliche Pfandbriefe usw. verwendet.205 d) Der Streit zwischen dem Oberpräsidenten und der Reichsbahn Anfang Mai 1928, kurz bevor die Frachterstattungsstelle beim Oberpräsidium ihre Arbeit aufnahm, beantragte die Reichsbahngesellschaft zur Verbesserung des Betriebsergebnisses beim Reichsverkehrsministerium die Genehmigung einer Erhöhung der Personen- und Güterbahntarife zum 1. Juli 1928.206 Das Kabinett unter Reichskanzler Marx lehnte diesen Antrag ab. Sowohl der deutschnationale Verkehrsminister als auch der Reichsfinanzminister sowie der Reichswirtschaftsminister hielten die Tariferhöhung vor allem wegen ihrer Auswirkung auf die Wirtschaftskonjunktur für nicht angängig.207 Die Reichsbahn gab ihr Vorhaben jedoch nicht auf. Nach der Regierungsübernahme durch die große Koalition unter Hermann Müller versuchte sie abermals, die Tariferhöhung durchzusetzen. Ende Juli 1928 überließ das Kabinett Müller die Angelegenheit dem Reichsbahngericht, das nach der Maßgabe des Reichsbahngesetzes über Tarifanträge, die von der 202 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 187, RMdI, Aufzeichnung über das Ergebnis der kommissarischen Beratung vom 2.11.1931 über die Frachterstattung im Rahmen der Osthilfe in Ostpreußen. 203 Hertz-Eichenrode (1969), S. 115 f. 204 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 175, Heft 2, OPO an Ministerialdirektor Dammann (RMdI), 28.1.1928. 205 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 185, OPV, 9.10.1929. 206 AdRK Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 468, Ministerbesprechung vom 3.5.1928, S. 1452 f. 207 AdRK Kabinette Marx III und IV, Bd. 2, Dok. 473, Ministerbesprechung vom 5.6.1928, S. 1472 ff.
198
1. Teil: Ostpreußen
Reichsregierung nicht anerkannt worden waren, zu entscheiden hatte. Das Gericht wies die Entschließung des Kabinetts Marx zurück208 und ermöglichte es der Reichsbahn, die Tarifsätze zum 1. Oktober 1928 einheitlich um 11 % zu erhöhen. Die Tariferhöhung mußte die Wirkung der Frachterstattungsmaßnahme zwangsläufig schwer beeinträchtigen.209 Siehr teilte daher dem preußischen Handelsministerium mit, daß er „das Empfinden habe, daß die Reichsbahnhauptverwaltung immer mehr versucht, auf Kosten der Ostpreußenhilfe sich der von ihr sonst für notwendig erachteten Frachtermäßigungen aus Mitteln der Reichsbahn zu entziehen“.210 Bei einer Ressortbesprechung im Reichsministerium des Innern Anfang November 1928 erwiderte darauf die Reichsbahnhauptverwaltung, daß die Tariferhöhung im engsten Benehmen mit dem Reichsverkehrsministerium durchgeführt worden sei. Der Vorwurf des Oberpräsidenten komme daher einer Kritik an der Reichsregierung gleich. Die Reichsressorts schlossen sich dieser Ansicht an und erklärten sich bereit, die Kritik des Oberpräsidenten zurückzuweisen.211 Mißhelligkeiten zwischen dem Oberpräsidenten und der Reichsbahn hatte es auch schon zuvor gegeben, da seit der im Jahr 1922 erfolgten Verständigung über die Leitsätze des Ostpreußenprogramms die Kompetenzen der beiden Behörden in der Verkehrsverwaltung Ostpreußens umstritten geblieben waren. Als die ostpreußische Sägewerksindustrie Mitte 1929 zusammenzubrechen drohte, setzte sich Siehr dafür ein, ein Rettungsprogramm auszuarbeiten. Ende Juli 1929 reichte er eine Eingabe an das Reich und Preußen ein, die im Einvernehmen mit der ostpreußischen Holzindustrie, den Handelskammern sowie der Landwirtschaftskammer entworfen worden war.212 Darin schlug er vor, eine Kreditmaßnahme eigens für die Sägewerke aufzulegen und die Gütertarife für den Rundholzbezug aus dem Ausland und für den Transport der Produkte (Schnittholz) im Inland zu ermäßigen.213 Bei einer Ressortbesprechung in Berlin Mitte August 1929 bezichtigte Geheimrat Scholz von der Reichsbahnhauptverwaltung Siehr der Kompetenzüberschreitung. Der Oberpräsident habe seinen Bahntarifantrag ohne Hinzuziehung der Reichsbahnvertreter lediglich im Einvernehmen mit den Wirt208 AdRK Kabinett Müller II. Dok. 12, Kabinettssitzung, 23.7.1928, siehe auch dort Anm. 14, S. 48 ff. (hier S. 50 f.). 209 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPO, 1.11.1928. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, OPO, 1.11.1928, Bericht über die Tariffrage, OPO an PreußHM. 210 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, OPO an PreußHM, 7.11.1928. 211 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 184, Abschrift, RMdI, Ergebnis der kommissarischen Besprechung vom 9.11.1928. 212 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 283, Verband Ostpreußischer Industrie- und Handelskammern (Grenzkammern) an OPO, 11.5.1929. 213 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1094, Abschrift, OPO an PreußHM, 30.7.1929.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens199
schaftsvertretern Ostpreußens ausgearbeitet und den Ministerien vorgelegt. Scholz kritisierte besonders scharf, daß das Ansehen der Reichsbahndirek tion Königsberg und ihres Präsidenten dadurch völlig kompromittiert worden sei.214 Dabei bezog er sich ausgerechnet auf die Leitsätze des Ostpreußenprogramms von 1922. Die Wünsche des Oberpräsidenten nach einer Vereinheitlichung der politischen Führung in der Provinz waren durch den Kabinettsbeschluß im Sommer 1922 angenommen worden. Damit waren sämtliche Provinzialbehörden, und zwar auch die nicht dem Oberpräsidenten unterstehenden, angewiesen worden, mit diesem enge Fühlung zu halten und sich auf seine Einladung hin zu Besprechungen zur Verfügung zu stellen.215 Das Reichsverkehrsministerium, dem die Reichsbahn damals noch unterstand, hatte ebenfalls zugestimmt, und zwar auch dem besonderen Wunsch des Oberpräsidenten, „daß die ihm nicht unterstellten Provinzialverwaltungen, insbesondere die Eisenbahndirektion auch über die allgemein bestehenden Vorschriften hinaus sich mehr wie bis dahin in ständiger Fühlung mit ihm halten sollten“.216 Auf Grundlage dieser Vereinbarung waren sowohl das Reichsverkehrsministerium als auch die Reichsbahn bemüht gewesen, bei den Eisenbahnverhandlungen sowie den Binnenschiffahrtsverhandlungen mit den Oststaaten soweit wie möglich mit dem Oberpräsidenten zusammenzuarbeiten und ihm nähere Informationen zur Verfügung zu stellen. Der Vorwurf von Scholz, der sich seit 1920 stets für die Angelegenheiten des internationalen Verkehrs zwischen Ostpreußen und den Oststaten eingesetzt hatte, richtete sich darauf, daß Siehr neuerdings „ohne Zuziehung der Reichsbahn mit den Interessenten über Angelegenheiten, die zur Zuständigkeit der Reichsbahndirektion gehörten“, verhandele, obwohl die Reichsbahn auf Wunsch des Oberpräsidenten bisher seine Beteiligung an den außerhalb seiner eigentlichen Zuständigkeit stehenden Angelegenheiten zugelassen habe.217 Der Streit zwischen Siehr und Scholz konnte durch die Vermittlung des preußischen Handelsministeriums geschlichtet werden. Dieses vertrat den Standpunkt, daß der Oberpräsident durchaus berechtigt sei, sich im Rahmen der Ostpreußenhilfe, vor allem auf Grund seiner Zuständigkeiten in der Frachterstattungsaktion, auch mit den Eisenbahntarifen zu beschäftigen. Es 214 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1094, PreußHM, Aktenvermerk über die Ressortbesprechung am 15. August 1929 über Maßnahmen für die ostpreußische Sägewerksindustrie. 215 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 2, OPO. Siehr, Vertraulich! Nicht zu veröffentlichen!, Leitsätze zum Ostpreußenprogramm, 22.9.1922. 216 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1094, PreußHM, Aktenvermerk über die Ressortbesprechung, 15.8.1929. 217 Ebd.
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1. Teil: Ostpreußen
sei ihm auch nicht verwehrt, die diesbezüglichen Wünsche der Wirtschaftsvertreter entgegenzunehmen. Allerdings sei es angebracht, daß sich der Oberpräsident in derartigen Fragen stets mit der Reichsbahndirektion Königsberg ins Benehmen setzen solle.218 6. Die Durchführung der Umschuldungsmaßnahme der ersten Ostpreußenhilfe a) Der Streit zwischen dem Provinzialkreditausschuß und der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse Die erste Ostpreußenhilfe wurde während der Regierungszeit des IV. Kabinetts Marx konzipiert, ihre Durchführung oblag allerdings dem II. Kabinett Hermann Müller, das auf Grund der großen Koalition (SPD, DDP, DVP, Zentrum, BVP) im Juni 1928 gebildet wurde. Bereits Ende Februar 1928 war das Kabinett Marx in eine Krise geraten, ausgelöst durch Streit über die Schulpolitik, die Behandlung des Roten Frontkämpferbundes sowie den Bau von Panzerkreuzern. Vor allem in den ersten beiden Fällen spielte der deutschnationale Reichsinnenminister Keudell eine wesentliche Rolle.219 Kurz zuvor, Anfang Februar 1928, waren der Verwendungszweck sowie der vorläufige Umfang der Ostpreußenhilfe durch eine Regierungserklärung an die Öffentlichkeit gebracht worden.220 Das Mißtrauen gegenüber Reichskanzler Marx wuchs in der Arbeiterklasse sowie den nichtlandwirtschaft lichen Kreisen rasch an. Als die Koalition im Februar 1928 auseinandergebrochen war, bemühte sich Reichsernährungsminister Schiele, die bis dahin erzielten Ergebnisse in den Angelegenheiten der Ostpreußenhilfe noch vor Auflösung des Reichstags festzuschreiben. Auf Wunsch Hindenburgs arbeitete er ein entsprechendes Programm aus, das dem Reichsrat Ende Februar vorgelegt wurde. Dieser erteilte Anfang März seine Zustimmung, und das Programm wurde daraufhin auch vom Reichstag (als Nachtragshaushalt ohne Aussprache) am letzten Tag der Legislaturperiode gebilligt.221 Nach der Auflösung des Reichstags am 31. März blieb das IV. Kabinett Marx nur noch geschäftsführend im Amt. Im Kabinett Müller, das nach den Reichstagswahlen vom 20. Mai gebildet wurde, wurde Hermann Dietrich, der zum rechten Flügel der DDP gehörte, mit dem Reichsernährungsministerium 218 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1094, PreußHM an RMdI, RVM, PreußMP, OPV, u. a. m., 29.8.1929. 219 Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, Teil IV, Dok. 285, S. 218 ff. 220 AdRK Kabinette Marx III und IV, Dok. 413, Ministerrat beim Reichspräsidenten, 7.2.1928, S. 1292 ff. 221 Ridol (1994), S. 31. Wessling (1957), S. 243.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens201
betraut. Er setzte die Agrarschutzpolitik seines Vorgängers, die sich auf die beiden Grundsätze Kreditpolitik und Schutzzollpolitik stützte, im wesent lichen fort.222 Die Durchführung der Umschuldungsmaßnahme stieß von Anfang an auf Hindernisse. Die ursprünglich von ostpreußischer Seite für notwendig erachteten Umschuldungsmittel von 100 Millionen RM wurden im Rahmen der ersten Ostpreußenhilfe nicht im vollen Ausmaße zur Verfügung gestellt. Die zunächst bereitgestellten Mittel beliefen sich lediglich auf 18 Millionen RM. Der Restbetrag sollte durch die vom Provinzialverband aufzunehmende Auslandsanleihe aufgebracht werden. Es war vorgesehen, daß das Reich und Preußen zusammen 75 % und der Provinzialverband 25 % der Ausfallbürgschaft übernehmen sollen. Landeshauptmann Blunk setzte sich mit Hilfe des Generallandschaftsdirektors dafür ein, auf eigene Initiative mit dem amerikanischen Bankinstitut Brair Co. Ltd. zu verhandeln. Als die Verhandlungen fast zum Abschluß gelangt waren und eine Anleihe von 100 Millionen RM in Aussicht stand, erhob das Reichsfinanzministerium dagegen aus repara tionspolitischen Gründen Einwände. Es schlug vor, daß die Provinz Ostpreußen sich statt an der Auslandsanleihe an einer Sammelanleihe der Landeszentralbank beteiligen solle. Deren Anleihebedingungen waren jedoch deutlich ungünstiger als die geplante Auslandsanleihe beim Bankhaus Brair, weshalb auch der Oberpräsident selbst angesichts der zu knapp bereit gestellten Umschuldungsmittel seine Bedenken nicht verbergen konnte. Es gelang Siehr und Blunk jedoch nicht, das Reichsfinanzministerium umzustimmen. An der Sammelanleihe der Landeszentralbank sollten sich nicht nur Ostpreußen, sondern auch andere Regionen des Reichs beteiligen. Bis Juni 1928 wurde die Anleihe von ca. 105 Millionen RM bereitgestellt; davon entfielen 30,45 Millionen RM auf Ostpreußen. Als der Provinzialkreditausschuß Mitte Juni 1928 seine erste Sitzung eröffnete, standen der Provinz lediglich Umschuldungsmittel in Höhe von 48,45 Millionen RM (18 Mill. RM vom Reich und Preußen, 30,45 Mill. RM aus der Sammelanleihe des Provinzialverbands) zur Verfügung. Dieser Betrag entsprach nicht einmal der Hälfte der vom Landeshauptmann geplanten Auslandsanleihe (100 Millionen RM). Der unglückliche Beginn der Umschuldungsmaßnahme warf einen Schatten auf die weitere Entwicklung. Auf der ersten Sitzung des Provinzialkreditausschusses traten die divergierenden Auffassungen zwischen Ostpreußen und Berlin hinsichtlich der Durchführung der Umschuldung deutlich zutage. Während man in Ostpreußen die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für unerläßlich hielt, vertrat der 222 AdRK
Kabinett Müller II, Einleitung S. XV.
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1. Teil: Ostpreußen
Vertreter der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse (Preußenkasse) den Standpunkt, daß die gesamte Maßnahme im Rahmen der vorhandenen Mittel beendet werden müsse. Da jedoch eine individuelle Behandlung aller Anträge vorgesehen war, bestand die Gefahr, daß lediglich die schnell eingereichten Umschuldungsanträge hätten berücksichtigt werden können, während für später eingereichte Anträge keine Mittel mehr vorhanden gewesen wären. Auf Instruktion Berlins erklärte der Oberpräsident, daß eine gewisse Kontingentierung der Umschuldungsgelder notwendig sei, um eine gerechte Verteilung auf die einzelnen Stadt- und Landkreise zu garantieren.223 Sein Vorschlag fand aber beim Landeshauptmann, beim Generallandschaftsdirektor sowie der Landwirtschaftskammer keine Zustimmung. Landeshauptmann Blunk erklärte: „Eine Kontingentierung der vorhandenen Mittel mit Rücksicht auf den Verschuldungsgrad der einzelnen Darlehnsnehmer sei nicht angängig, da dann erst der Eingang sämtlicher Gesuche abgewartet werden müsse, um eine Abwägung derselben gegeneinander vornehmen zu können.“224 Diese Haltung des Ausschußvorsitzenden erregte in Berlin erhebliche Bedenken. Nachdem die DNVP bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 gegenüber den Weimarer Koalitionsparteien dramatisch verloren hatte, war der Staat Preußen nicht mehr der alleinige Gegner der Umschuldungsmaßnahme. Das Reichskabinett unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler stellte sich Preußen zur Seite, und die Kontrolle der Umschuldungsmaßnahme wurde in der Regierungszeit von Hermann Müller erheblich verstärkt. Die Preußenkasse sowie die preußischen Ministerien beschwerten sich über das Verhalten des Provinzialkreditausschusses, was im Kabinett auf Anklang stieß. Auf diese Weise vollzog sich ein gewisser Kurswechsel. Die Kontingentierung der Umschuldungsgelder, für die sich vor allem die Preußenkasse einsetzte, wurde durch die Berliner Ressorts bewilligt. Außerdem ordnete das preußische Landwirtschaftsministerium an, lediglich solche Betriebe, deren Schuldenstand beinahe 60 % der Wertgrenze der Grundstücke erreichte, im Umschuldungsverfahren zu berücksichtigen, um auf diesem Wege die Bewilligungszahl zu reduzieren. Allerdings wurden in der Folge auch Anträge von Betrieben zurückgewiesen, die zu ca. 50 % verschuldet waren. Dadurch gerieten mehrere Betriebe, die Anfang 1928 noch sanierungsfähig gewesen waren, nur wenig später in eine hoffnungslose Lage.225 Obwohl die Preußenkasse mit dem Oberpräsidenten zunächst noch reibungslos zusammenarbeitete, traten auch hier alsbald Meinungsunterschiede 223 GStA 224 GStA
PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2430, Bd. 1, Bl. 14, OPO, Vermerk, 9.6.1928. PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2430, Bd. 1, Bl. 21 ff., Niederschrift,
11.6.1928. 225 Denkschrift des Landeshauptmanns (1931), S. 19.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens203
zutage. Während Siehr die Rettung der Landwirtschaft als wichtigste Aufgabe der Hilfsmaßnahme ansah, war die Preußenkasse als größter Gläubiger der landwirtschaftlichen Schuldner nicht zuletzt an der Wahrung der eigenen Rechte interessiert. In der Regel sollte die Preußenkasse gemäß ihrer Satzung den landwirtschaftlichen Genossenschaften möglichst billige Kredite zur Verfügung stellen und die überschüssigen Gelder verzinslich anlegen. Die Verschuldungskrise der ostdeutschen Landwirtschaft führte jedoch ihrerseits zu einer Liquiditätskrise der Preußenkasse. Im Jahr 1927 richteten die Sozialdemokraten im Preußischen Landtag scharfe Vorwürfe an die Adresse der Preußenkasse. Sie verlangten von ihr eine dringende Reform ihrer Kreditpolitik, da sie bis dahin vornehmlich den Großagrariern Kredite gewährt habe. Der Präsident der Preußenkasse, Geheimrat Semper, ein Konservativer, trat daraufhin zurück. Zu seinem Nachfolger wurde Anfang Januar 1928 Otto Klepper berufen, der bisherige Präsident des Domänenpächterverbandes und spätere preußische Finanzminister. Klepper setzte sich dafür ein, die Preußenkasse zu einem agrarpolitischen Instrument des republikanischen Preußens umzugestalten.226 Die Strategie des neuen Präsidenten der Preußenkasse kam in Ostpreußen jedoch in Verruf. Klepper versuchte, in erster Linie die Schulden der landwirtschaftlichen Betriebe bei der Preußenkasse (Genossenschaftskassen sowie Sparkassen) durch die vom Staat bereitgestellten Mittel umzuschulden. Die Schulden der Privatgläubiger (Handel und Gewerbe in Ostpreußen) wurden demgegenüber nachrangig behandelt. Außerdem weigerte sich die Preußenkasse, das Risiko der Umschuldungskredite auf sich zu nehmen und bestand auf Bürgschaften. Eigentlich sollten die Zubringerinstitute, an die sich die um Umschuldungskredite nachsuchenden Antragsteller zuerst zu wenden hatten, solche Bürgschaften (ca. 25 %) übernehmen. Mitte Juni 1928 ließ die Preußenkasse den Genossenschaftskassen in Ostpreußen jedoch einen Rundbrief zugehen, in dem sie aus Risikogründen den Kassen ausdrücklich davon abriet, Bürgschaften für die Umschuldungskredite zu übernehmen.227 Dies erweckte in Ostpreußen den Verdacht, daß die Preußenkasse darauf abziele, durch die Gelder der Ostpreußenhilfe nicht die Landwirtschaft, sondern ihren eigenen Haushalt zu sanieren. Daher forderte der Ostpreußische Vertreter bei einer Ressortbesprechung Ende Juni 1928 von der Preußenkasse die sofortige Aufhebung ihres Runderlasses. Frankenbach erinnerte die Preußenkasse an das Ziel der Maßnahme, „daß die durch die Umschuldungsaktion in die Genossenschaftskasse zurückfließenden 226 Pufendorf
(1997), S. 47 f. I. HA, Rep. 90A, Nr. 1072, Abschrift, Direktorium der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse an Direktionen der Verbandskassen in Ostpreußen, 15.6.1928. 227 GStA PK,
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1. Teil: Ostpreußen
Gelder in der Provinz bleiben und dort zur Verwendung kommen und nicht nach Berlin gehen, um anderen Zwecken zugeführt zu werden“.228 Von der ersten Arbeitsaufnahme Mitte Juni 1928 bis Ende August 1928 fanden sieben Sitzungen des Provinzialkreditausschusses in Königsberg statt, auf denen ca. 600 Anträge behandelt wurden. Die erste Auszahlung der Umschuldungskredite erfolgte nach der Genehmigung durch das Reich und Preußen Ende September 1928. Bis zum Ende des Jahres wurden insgesamt 1735 Umschuldungsanträge mit einem Volumen von 46.878.300 RM durch den Provinzialausschuß bewilligt. Davon wurden 679 Umschuldungsanträge von 20.871.750 RM durch Auszahlung erledigt.229 Zu diesem Zeitpunkt war damit die Grenze der vorhandenen Umschuldungsmittel (48,5 Millionen RM) fast erreicht. Schon im Herbst 1928 stießen mehrere Landkreise infolge der Kontingentierung an ihre Bewilligungsgrenzen. Vor diesem Hintergrund beantragte der Landeshauptmann bei der Reichsregierung weitere Mittel, um die Umschuldung weiterführen zu können. Das Reich bewilligte hierzu lediglich 10 Millionen RM als Vorschuß, der aus einer später durch die Landesbankenzentrale aufzunehmenden zweiten Auslandsanleihe, an der sich die Provinz Ostpreußen beteiligen sollte, zu ersetzen war.230 Dem Mangel an Umschuldungsmitteln war damit nicht lange abgeholfen, denn die bewilligten Anträge überschritten bereits Ende Februar 1929 den ursprünglichen Umschuldungsfonds um 20 Millionen RM.231 Angesichts dieser Entwicklung wurden Zweifel am Kreditentscheidungsverfahren des Provinzialkreditausschusses laut. Zum einen verlangten die nichtlandwirtschaftlichen Wirtschaftskreise in Ostpreußen, die Rechte der Privatgläubiger gegen die Agrarier sowie die Preußenkasse zu stärken. Zum anderen standen die Zentralstellen von Reich und Preußen dem Provinzialausschuß skeptisch gegenüber und hielten eine Stärkung der Staatsaufsicht für nötig. Zu diesem Zweck wurde im Herbst 1928 eine Erweiterung des Ausschusses vorgenommen. Die erste Initiative hierzu war vom Oberpräsidenten ausgegangen, der mit Rücksicht auf die Interessen der nichtlandwirtschaftlichen Wirtschaftskreise sowie der bäuerlichen Kleinbetriebe Anfang August 1928 beantragt hatte, den Ausschuß durch Vertreter aus diesen Kreisen sowie der Gläubiger von 9 auf 15 Mitglieder zu erweitern.232 Obwohl die Ostverwaltungsstelle des Reichsministeriums des Innern gegen diesen Vorschlag Einwände erhob, wurde die Erweiterung des Ausschusses mit Unterstützung der preußischen Handels- und Landwirtschaftsministerien 228 GStA
PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1072, Vermerk, Frankenbach, 23.6.1928. des Landeshauptmanns (1931), S. 18 f. 230 Ebd., S. 21. 231 Ebd., S. 22. 232 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1072, RMdI an PreußStM, 6.8.1928. 229 Denkschrift
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens205
durchgesetzt.233 Bei dieser Gelegenheit trat das Landwirtschaftsministerium außerdem für die Stärkung der Aufsicht über den Ausschuß ein und äußerte den Wunsch, zu jeder Sitzung einen eigenen Vertreter zu entsenden.234 b) Die Angriffe Berlins auf den Oberpräsidenten Die schnell anwachsende Zahl von bewilligten Umschuldungsanträgen hatte in Berlin den Verdacht erregt, daß der Provinzialkreditausschuß ohne Rücksicht auf die beschränkten staatlichen Mittel und im Widerspruch zu den Kreditvergaberichtlinien zugunsten der Großagrarier arbeite. Diese Skepsis wurde durch einen kritischen Bericht der Preußenkasse Mitte Oktober 1928 noch erheblich verstärkt. Den Anlaß dazu gab die neue Zusammensetzung des Provinzialkreditausschusses. Dem Bericht zufolge gab Landeshauptmann Blunk in der ersten Sitzung des erweiterten Ausschusses vom 10. Oktober bekannt, daß dem Vertreter der Preußenkasse nur eine beratende Stimme zustehe.235 Während der ersten Phase der Tätigkeit des Ausschusses (vom Juni 1928 bis zum Ende September 1928) war allerdings bereits ein Vertreter des Präsidenten der Preußenkasse als stimmberechtigtes Mitglied beteiligt gewesen. Der Landeshauptmann zielte offenbar darauf ab, die in Ostpreußen schlecht gelittene Preußenkasse aus dem Kreditentscheidungsverfahren auszuschalten. Dabei nahm er Bezug darauf, daß nach Maßgabe der Reichsrichtlinie über die Umschuldungsmaßnahme der Kasse kein Stimmrecht zu gewähren sei.236 In dieser Frage bestand zwischen dem Reich und Preußen keine einheitliche Ansicht, denn das preußische Landwirtschaftsministerium trat dafür ein, daß die Preußenkasse als stimmberechtigtes Mitglied zu behandeln sei. Die Preußenkasse setzte sich gegen das Vorgehen des Landeshauptmanns dadurch zur Wehr, daß sie die Arbeit des von ihm geleiteten Ausschusses als richtlinienwidrig hinstellte. In ihrem Bericht über die fragliche Sitzung kritisierte sie, daß der Ausschuß, der auf 233 Der neue Provinzialkreditausschuß bestand aus folgenden Mitgliedern: Landeshauptmann als Vorsitzender, Oberpräsident, Landesfinanzamtspräsident, Generaldirektor der Landesbank, Präsident der Landwirtschaftskammer, drei ostpreußische Landwirte (Groß-, Mittel- und Kleinbesitz), je ein Vertreter aus Landschaft, Genossenschaften, Sparkassen sowie ostpreußischen Privatbanken, ein Vertreter der Industrie- und Handelskammern, ein Vertreter der Handwerkskammer, ein Vertreter der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1072, RMdI, 25.9.1928. 234 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1072, RMdI an PreußStM, 6.8.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1072, RMdI, 31.8.1928. 235 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2430, Vol. 1, Bl. 119, Niederschrift über die Sitzung des Kreditausschusses, 10.10.1928. 236 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2430, Vol. 1, Bl. 139, Niederschrift über die Sitzung des Kreditausschusses, 7.11.1928.
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1. Teil: Ostpreußen
die Erhaltung der Grundbesitzstruktur größten Wert zu legen hatte, über die vorliegenden Umschuldungsanträge ohne Rücksicht auf die Sanierungsfähigkeit der betroffenen Betriebe entschieden habe.237 Er habe zudem die Beschränktheit der staatlichen Mittel außer acht gelassen, um auf diesem Wege weitere Zuschüsse zu erlangen. Die Preußenkasse resümierte: „Zusammenfassend ist als Ergebnis der letzten Sitzung des Kreditausschusses und einer Entwicklung, deren Anfänge bereits weiter zurückliegen, festzustellen, daß die Tendenz besteht, durch umfangreiche Bewilligungen und rasche Verausgabung der vorhandenen Beträge die Reichsinstanzen zur Einlösung der gegebenen Zusage über die Einräumung weiterer Mittel mehr oder minder zu zwingen. […] Alle derartigen Abweichungen von den bestehenden Vorschriften haben eine Beschränkung der Mittel für diejenigen Fälle zur Folge, für die die Umschuldung an sich bestimmt ist.“238 Auf die Angriffe der Preußenkasse gegen die Tätigkeit des Provinzialkreditausschusses reagierte Blunk seinerseits mit Kritik am Verhalten der Preußenkasse, die im Ausschuß lediglich anstrebe, die Sanierung der Großbetriebe zu verhindern: „Der Bericht des Vertreters der Preußenkasse bestätigt den Eindruck, den ich in den letzten Sitzungen des Kreditausschusses gewonnen habe, daß nämlich die Preußenkasse aus irgend einem Grunde bestrebt ist, die ganze ostpreußische Hilfsaktion abzudrosseln.“239 Dieser Eindruck des Landeshauptmanns war gewiß nicht ganz unzutreffend. Klepper vertrat in seiner Denkschrift vom Dezember 1928 offen den Standpunkt, daß der Auflösung des Großgrundbesitzes infolge der Agrarkrise nicht entgegengewirkt werden dürfe, sondern im Gegenteil der Besitzstrukturwandel hin zu kleineren bäuerlichen Betrieben gefördert werden müsse.240 Ebenso wie den Landeshauptmann belastete der Bericht der Preußenkasse auch die beiden staatlichen Vertreter im Ausschuß, den Oberpräsidenten und den 237 In dieser Sitzung faßte der Ausschuß unter Entzug des Stimmrechts der Preußenkasse Beschlüsse zu ca. 25 Umschuldungsanträgen. 238 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 176, Heft 2, Abschrift, Preußische Zentralgenossenschaftskasse. Landwirtschaftliche Abteilung. Zweigstelle Königsberg (Pahlke) an das Direktorium der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse, 18.10.1928. 239 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 176, Heft 2, Abschrift, Landeshauptmann Blunk an OPO, 17.11.1928. Vgl. Denkschrift des Landeshauptmanns (1931), S. 26. 240 Ebd., S. 33. Als kennzeichnend für die Haltung Kleppers zitierte K. Gossweiler folgenden Text: „Dieses ostelbische Gutsbesitzertum ist nicht nur das Bollwerk des preußischen Feudalkonservatismus, sondern es zeigt auch in wirtschaftlicher Hinsicht unglückliche Sonderzüge […] Der jungen deutschen Republik bot sich eine historische Gelegenheit, die Agrarreform in den deutschen Ostprovinzen durchzuführen, die die gesamte Linke schon seit Jahrzehnten erstrebt hatte. Die deutsche Landwirtschaft sollte von der Bürde des veralteten östlichen Gutsbesitzertums befreit werden.“ Siehe hierzu Kurt Gossweiler: Junkertum und Faschismus, in: Aufsätze zum Faschismus, Berlin 1986, S. 260–276 (hier S. 265).
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens207
Landesfinanzamtspräsidenten. Vergeblich bestritten sie den Vorwurf der Bevorzugung des Großgrundbesitzes durch den Provinzialkreditausschuß.241 Es gelang der Preußenkasse, die preußischen Ministerien von der Notwendigkeit zu überzeugen, die staatliche Aufsicht über den Ausschuß zu verstärken und die Umschuldungsmaßnahme nicht den örtlichen Instanzen zu überlassen, sondern der unmittelbaren Kontrolle der Zentralregierung zu unterstellen. Die Ministerien traten nunmehr dafür ein, einen Staatskommissar in den Provinzialkreditausschuß zu entsenden. So äußerte Finanzminister Höpker-Aschoff (DDP), „daß unter Umständen die Ernennung eines Staatskommissars unumgänglich sei, da er [scil. Höpker-Aschoff] persönlich den Eindruck habe, daß der Kreditausschuß zu weitherzig gearbeitet habe.“242 Die Anklagen der Preußenkasse brachten auch den Oberpräsidenten, der als Vertreter Preußens im Ausschuß saß, in Bedrängnis. In Berlin vermutete man, daß Siehr sich der Linie der Provinzialselbstverwaltung angeschlossen habe, weil er fürchte, daß seine politische Stellung in der Provinz durch die Ablehnung von Kreditgesuchen erodieren könne. Das preußische Landwirtschaftsministerium beantragte im Einvernehmen mit der Preußenkasse, den Oberpräsidenten aus dem Kreditausschuß abzuberufen und statt dessen einen Kommissar der Preußenkasse mit dem Vetorecht Preußens in den Ausschuß abzuordnen.243 Diese Forderung, die auf einen Vorschlag Kleppers zurückgingen,244 empörte Siehr so sehr, daß er seinen sofortigen Rücktritt vom Amt des Oberpräsidenten erklärte,245 was allerdings vom Ministerpräsidenten nicht angenommen wurde. Die Beauftragung der Preußenkasse mit der Vertretung des preußischen Staates anstelle des Oberpräsidenten mußte zur Folge haben, die Autorität Siehrs nicht nur im Umschuldungsverfahren, sondern weit darüber hinaus zu untergraben.246 Zu Beginn der Ostpreußenhilfe war es dem Landeshauptmann gelungen, durch die Übernahme des Kreditausschußvorsitzes die In241 GStA PK, I. HA, I. HA, Rep. 203, Nr. 176, Heft 2, Aktenvermerk über die Sitzung im RMfEuL, 4.12.1928. Zur ungerechten Kritik der Preußenkasse äußerte Siehr: „Die sehr umfangreichen und schwierigen Verhandlungen des Kreditausschusses haben sich stets durchaus reibungslos abgewickelt. Von ganz geringen Ausnahmen abgesehen, sind sämtliche Anträge einstimmig, – also mit der Stimme der Preußenkasse – angenommen worden.“ GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, OPO an PreußLM sowie PreußMP, 26.11.1928. 242 Hertz-Eichenrode (1969), S. 285. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, Frankenbach, Aktenvermerk über die Chefbesprechung vom 28.11.1928. 243 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, Frankenbach, Aktenvermerk über die Besprechung im RMdI vom 6.12.1928. 244 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, Aktenvermerk, Frankenbach, 7.12.1928. 245 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2499, Siehr an PreußFM, 15.12.1928. 246 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, Siehr an Frankenbach, 14.12.1928.
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1. Teil: Ostpreußen
itiative der Provinzialselbstverwaltung in der Öffentlichkeit effektiv herauszustellen. Die Ausschaltung des Oberpräsidenten im Ausschuß brachte demgegenüber Siehrs Autoritätskrise in zweierlei Hinsicht zum Ausdruck. Einerseits zeigte sich das Mißtrauen der Berliner Regierung gegenüber seiner Persönlichkeit, andererseits sein Autoritätsverlust in der Provinzialverwaltung.247 Daher bot die Ersetzung des Oberpräsidenten durch einen Staatskommissar der Preußenkasse dem antirepublikanischen Lager ausreichend Gelegenheit, die Schwäche der Staatsverwaltung anzugreifen und ihren Anspruch zu bekräftigen, die Provinz im Interesse der Mehrheitsparteien zu regieren. Siehr stellte fest: „Im übrigen sei aber der Oberpräsident Kommissar der Staatsregierung mit Vetorecht, und es sei für die Stellung des Oberpräsidenten völlig untragbar, wenn ein nicht nur beobachtender Staatskommissar entsandt werden sollte, sondern ein Staatskommissar, der im Einzelfall den Oberpräsidenten anweisen könne. Das würde die Autorität der Stelle des Oberpräsidenten restlos untergraben.“248 Das Landwirtschaftsministerium zeigte zwar Verständnis für Siehrs Auffassung, war aber gleichwohl fest entschlossen, an seinem Vorhaben festzuhalten. Die Auseinandersetzung zwischen dem Oberpräsidenten einerseits und der Preußenkasse, dem Finanzministerium sowie dem Landwirtschaftsministerium andererseits erregte im preußischen Innenministerium ernste Bedenken. Hier unterstützte man die Haltung des Oberpräsidenten und wies darauf hin, daß die Einsetzung eines Staatskommissars „vom Standpunkt des Innenministeriums nicht tragbar sei, weil dadurch die Stellung des Oberpräsidenten völlig untergraben würde. Ebensowenig sei es möglich, einem Vertreter der Zentralgenossenschaftskasse ein Vetorecht gegenüber dem Oberpräsidenten einzuräumen.“249 Dieser Ansicht schloß sich auch Ministerpräsident Braun an. Nach der bisherigen Reichsrichtlinie über die Umschuldungsmaßnahme stand im Kreditausschuß weder dem Oberpräsidenten noch dem Landesfinanzamtspräsidenten ein Vetorecht zu. Auch der Oberpräsident konnte deshalb seine Ablehnung eines Kreditantrags nicht gegen die Stimmenmehrheit im Ausschuß durchsetzen. Im Falle der Stimmgleichheit gab die Stimme des Vorsitzenden (des Landeshauptmanns) den Ausschlag. Braun zeigte Verständnis für Siehrs schwierige politische Stellung in Ostpreußen und versuchte, den Antrag des Landwirtschaftsministers zurückzuweisen. Es gelang Braun zunächst, durch einen Vermittlungsvorschlag die Abberufung Siehrs 247 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 176, Frankenbach an Minister durch die Hand des Staatssekretärs, Dezember 1928. 248 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, Frankenbach, Aktenvermerk, 7.12.1928. 249 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 176, Frankenbach an Minister durch die Hand des Staatssekretärs, Dezember 1928.
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aus dem Kreditausschuß zu verhindern. Demnach sollte dem Oberpräsidenten als Vertreter Preußens sowie dem Landesfinanzpräsidenten als Vertreter des Reichs jeweils ein Vetorecht eingeräumt werden. Beide sollten deshalb als staatliche Vertreter im Kreditausschuß verbleiben und zunächst kein Staatskommissar berufen werden. Der Oberpräsident sollte aber enge Fühlung mit dem Vertreter der Preußenkasse im Kreditausschuß halten. Falls keine Übereinstimmung zwischen dem Oberpräsidenten und der Preußenkasse über die Kreditbewilligung zu erzielen sei, solle die Entscheidung Berlins, vor allem des Preußischen Landwirtschaftsministeriums, eingeholt werden.250 Diese vorläufige Regelung blieb jedoch nur drei Monate lang in Kraft. Was Siehr am tiefsten erschütterte, war der in Berlin gehegte Verdacht, daß er sich zur Wahrung seiner eigenen Autorität hinter die Großagrarier gestellt habe. Siehr, der bisher stets für die Republik und Demokratie gekämpft hatte, erwiderte: „Der zweite nicht minder wichtige Punkt ist der, daß durch die beschlossene Regelung die Stellung des Oberpräsidenten in der Provinz völlig unterhöhlt wird. Ein demokratischer Oberpräsident kann wirksam die Staatsautorität auf dem nicht ganz einfachen Posten in Ostpreußen nur dann vertreten, wenn er einerseits das uneingeschränkte Vertrauen der Staatsregierung genießt, das ich bis dahin zu besitzen glaubte, und wenn er andererseits in der Provinz bei den einsichtigen Kreisen der verschiedenen Parteirichtungen eine Autorität genießt, die er sich durch sachliche Arbeit erwerben muß. Ein starkes Mißtrauen des Staatsministeriums gegen meine Amtsführung ergibt sich zunächst daraus, daß trotz des eingehenden Berichts des Oberpräsidenten, in dem er die Behauptungen des Pahlke’schen Berichts251 widerlegt, einschneidende Maßnahmen beschlossen werden, indem die Behauptung der Preußenkasse, der Ausschuß verfolgte mit Zustimmung des Oberpräsidenten die Tendenz, nicht mehr sanierbare Betriebe im Interesse der augenblicklichen Betriebsinhaber künstlich als sanierungsfähig erscheinen zu lassen, einfach als wahr unterstellt.“252 Siehr war nicht mehr stark genug, um die ungerechtfertigten Verdächtigungen völlig entkräften zu können.
250 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, Aktenvermerk, 7.12.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 176, Frankenbach an Minister durch die Hand des Staatssekretärs, Dezember 1928. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2499, Bl. 4 ff., Konzept, OPO Siehr an Frankenbach, 8.12.1928, GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, Abschrift, OPO Siehr an Frankenbach, 8.12.1928. 251 Hier meinte Siehr den Bericht der Preußenkasse vom 18. Oktober 1928. 252 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, OPO Siehr an Frankenbach, 14.12.1928.
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1. Teil: Ostpreußen
7. Die zweite Ostpreußenhilfe 1929 a) Zur Einsetzung des Staatskommissars Nachdem im Februar 1929 der Gesamtbetrag der Umschuldungsbewilligungen den ersten Umschuldungsfonds (48,5 Millionen RM) schon um rund 20 Millionen RM überschritten hatte, wurde die Auszahlung der Umschuldungskredite vorübergehend völlig eingestellt. Die vom Reich in Form eines Vorschusses bereitgestellten 10 Millionen RM kamen erst Mitte März 1929 zur Auszahlung. Preußen lehnte eine Aufstockung des Umschuldungsfonds zunächst ab. Innenminister Grzezinski nahm die wiederholten Warnungen Siehrs jedoch sehr ernst und bemühte sich, den Ministerpräsidenten zur Gewährung zusätzlicher Mittel zu veranlassen. Die Preußenkasse und das Finanzministerium stellten sich dem entgegen.253 Trotzdem bestand zwischen allen Regierungsstellen seit Ende 1928 Einigkeit darüber, daß die Hilfsmaßnahme für Ostpreußen keinesfalls eingestellt werden durfte. Im November 1928 legte der Enquête-Ausschuß des Reichstags ein vorläufiges Gutachten über die Lage der Landwirtschaft Ostpreußens vor, in dem nachgewiesen wurde, daß auch nach Einleitung der Ostpreußenhilfe die Schuldenlast der landwirtschaftlichen Betriebe weiter dramatisch zugenommen hatte.254 Das Gutachten konfrontierte die Berliner Zentralregierungen zum ersten Mal mit dem wahren Krisenzustand Ostpreußens. Der Ausschuß warnte angesichts der „Überschuldung einer sehr großen Zahl von Betrieben“ vor der „Gefahr, daß sich daraus ein Massenzusammenbruch landwirtschaftlicher Betriebe entwickeln und dann im weiteren Verlauf der Krise infolge der bestehenden Verflechtungen schließlich auch der heute noch gesunde Teil der Betriebe und die ganze Geschäftswelt der Provinz in Mitleidenschaft gezogen würde“.255 Dem Gutachten zufolge waren bis zum Frühjahr 1929 65 Zwangsversteigerungen zu erwarten und die Vorbereitungen für die Einleitung weiterer 475 Zwangsversteigerungen bereits im Gange.256 253 GStA PK,
I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, PreußMdI an PreußMP, 25.10.1928. PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1073, Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Enquete-Ausschuß). Unterausschuß für Landwirtschaft (II. Unterausschuß), Entwurf eines Vorberichts über die wirtschaftliche Lage in Ostpreußen, November 1928. 255 Die Lage der Landwirtschaft in Ostpreußen. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Landwirtschaft (II. Unterausschuß), Bd. 8, Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Enquete-Ausschuß), Berlin 1929, S. IV. 256 Ebd., S. 59 sowie S. 106 (siehe vor allem Anlage V: „Zwangsversteigerungen landwirtschaftlicher Grundstücke in Ostpreußen und im Freistaat Preußen). 254 GStA
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens211
Allerdings befand sich nicht nur Ostpreußen, sondern auch das Reich in einer Notlage. Anfang November 1928 berichtete Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht dem Reichskabinett über die krisenhafte Situation der Reichskasse. Bis zum Dezember-Ultimo fehlten mindestens 330 Millionen RM zur Zahlung fälliger Verpflichtungen.257 Mit Rücksicht darauf vertrat Schacht den Standpunkt, daß die Umschuldungsmaßnahme für Ostpreußen zwar fortgeführt werden müsse, soweit sie tatsächlich die Zinslasten der Landwirtschaft verringere, jede weitere Verschuldung der Landwirtschaft jedoch unbedingt vermieden werden müsse. Er schlug daher vor, „daß man der Landwirtschaft – zum mindestens bei dem Großgrundbesitz sollte es möglich sein – Zinsbeihilfen gewährt und zu deren Abdeckung Land in Staatsbesitz übernimmt, d. h. als Gegenwert für die Zinserleichterung, die man ihr gibt, sich neues Domänenland schafft, das dann für spätere Siedlungen oder auf sonstige Weise verwertet werden kann“.258 Der Gedanke, die nicht mehr sanierungsfähigen Güter durch den Staat anzukaufen und sodann zum Zweck der bäuerlichen Siedlung zu verwenden, war bereits vor der Einleitung der ersten Ostpreußenhilfe von verschiedenen Seiten diskutiert worden.259 In Preußen erhoffte man sich davon zum einen die Verhinderung des Bodenpreissturzes und zum anderen positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Zu den Vorkämpfern dieser Gedanken zählte der Präsident der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse Klepper.260 Hingegen denunzierten die Großagrarier das Projekt als „Agrarbolschewismus“. Die rasch anwachsende Zahl von Zwangsversteigerungen überzeugte das Reich und Preußen von der Notwendigkeit, Sondermaßnahmen zu ergreifen.261 Die Initiative hierfür ging zunächst vom preußischen Landwirtschaftsministerium aus. Es schlug zur Stützung des ostpreußischen Gütermarktes vor, einerseits staatliche Ankäufe zu tätigen und andererseits die Sanierung der vom Zusammenbruch bedrohten Betriebe zu fördern. Die erste Maßnahme, die Regulierung des Gütermarktes durch Ankäufe der Güter, sollte wesentlich von preußischer Seite erfolgen, unter Beteiligung 257 Werner Conze: Die politischen Entscheidungen in Deutschland 1929–1933, in: Die Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reichs 1929 / 33, hg. v. Werner Conze und Hans Raupach, Stuttgart 1967, S. 176–252 (hier S. 190). 258 AdRK Kabinett Müller II, Dok. 59, Bericht des Reichsbankpräsidenten an die Reichsregierung über die Lage der Reichsbank, 9.11.1928, S. 203 ff. (hier S. 210). 259 G. Schulz (1967), S. 141–204. Zur Siedlungspolitik Preußens seit dem 19. Jahrhundert siehe Max Sering: Die Verordnung der Reichsregierung vom 29. Januar 1919 zur Beschaffung von landwirtschaftlichem Siedlungsland. Eine Denkschrift, München und Leipzig 1919. Siehe auch Sering (1934), S. 84 f. 260 Hertz-Eichenrode (1969), S. 316 ff. 261 AdRK, Kabinett Müller II, Dok. 78, Kabinettssitzung, 1.12.1928, S. 274 ff. (hier S. 278).
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1. Teil: Ostpreußen
von gemeinnützigen Siedlungsunternehmen, der Staatsforst- sowie der Staatsdomänenverwaltung. Die zweite Maßnahme hingegen stellte prinzi piell die Fortführung der bisherigen Kredithilfen der ersten Ostpreußenhilfe dar, an denen sowohl das Reich als auch Preußen finanziell beteiligt waren. Das Landwirtschaftsministerium schlug Anfang März 1929 vor, einen preußischen Staatskommissar mit der Stützung des ostpreußischen Gütermarktes durch Güterankauf und der Siedlungstätigkeit zu beauftragen.262 Der Reichsernährungsminister setzte sich währenddessen für ein neues Gesetz über die Ostpreußenhilfe ein, in dessen Zentrum die Fortführung der bisherigen Kredit- sowie Lastensenkungsmaßnahmen und die Einleitung des Güterankaufs zu Siedlungszwecken stehen sollte. Zugleich sollte die Einsetzung eines Staatskommissars im Rahmen dieses Gesetzes angeordnet werden. Reichsernährungsminister Dietrich bat das Kabinett, anzuerkennen, „daß sich Ostpreußen in einem kriegsähnlichen Zustande befinde und daß zur Kriegsführung Geld notwendig sei, das gegebenenfalls durch Erhöhung jeder Steuermark um einen Ostpreußenpfennig beschafft werden müsse“.263 Als sich das Reichskabinett Anfang März 1928 mit dem Gesetz über die Ostpreußenhilfe beschäftigte, diskutierte man zunächst, ob es nicht notwendig sei, eine erweiterte Hilfsaktion nicht nur für die Landwirtschaft, sondern auch für die Industrie Ostpreußens einzuleiten. Reichsfinanzminister Hilferding gab jedoch zu bedenken, daß eine solche Maßnahme den Widerstand anderer Regionen des Reiches gegen die Bevorzugung der ostpreußischen Unternehmen hervorrufen müsse. Tatsächlich wurde die Einbeziehung der ostpreußischen Industrie in das Ostpreußenhilfsgesetz unter Zustimmung des Reichskanzlers zurückgewiesen.264 Die Umschuldungsmaßnahme, die den Kern der ersten Ostpreußenhilfe darstellte, sollte hingegen fortgesetzt und um 50 Millionen RM erweitert werden.265 In Preußen sah man die Stützung des Gütermarktes als Hauptaufgabe der neuen Ostpreußenhilfe an. Hier diskutierte man vornehmlich über die Frage der Einsetzung eines Staatskommissars speziell für diese Aufgabe. 262 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 177, Heft 3, Abschrift, PreußLM an PreußMP, 2.3.1929. Dabei empfahl der preußische Landwirtschaftsminister Steiger, den Oberregierungsrat Tiedmann (PreußLM) zum Staatskommissar zu ernennen. Vgl. AdRK Kabinett Müller II, Dok. 149, Vermerk Staatssekretär Pünders über eine Sitzung des Preußischen Staatsministeriums betr. das Ostpreußenprogramm, 8.3.1929, S. 474 ff. 263 AdRK Kabinett Müller II, Dok. 140, Ressortbesprechung, 1.3.1929, S. 460 ff. (hier S. 461). 264 AdRK Kabinett Müller II, Dok. 150, Kabinettssitzung, 11.3.1929, S. 476 ff. 265 Dabei ging Preußen davon aus, daß weitere Umschuldungsmittel ausschließlich vom Reich aufgebracht werden solle, weil die Erweiterung der Umschuldungsaktion im Rahmen des Reichsgesetztes vom 18. Mai 1929 vorzunehmen sei. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, PreußFM an PreußMP, 29.8.1929.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens213
Obwohl Ministerpräsident Braun zuerst dem Vorhaben des Landwirtschaftsministeriums entgegentrat und sich gegen die Einrichtung eines Kommissariats in Königsberg wandte,266 wurde die Einsetzung eines Staatskommissars zur Stützung des ostpreußischen Gütermarktes letztlich Mitte März 1929 durch das Reich und Preußen einstimmig beschlossen. In der gemeinsamen Chefbesprechung am 16. März 1928 erklärte sich Braun damit einverstanden, daß die Hilfsmaßnahmen für Ostpreußen in Gesetzesform gegossen werden sollen. Zugleich stimmte er zu, „daß von Reich und Preußen ein Reichs- und Staatskommissar für Ostpreußen ernannt wird, der dem Oberpräsidium der Provinz Ostpreußen anzugliedern ist, mit der Aufgabe, bei allen Gegenmaßnahmen gegen die Krisenerscheinungen in der ostpreußischen Wirtschaft mitzuwirken und einzugreifen. Er soll die einheitliche Durchführung der Absichten der Zentralstellen bei der wirtschaftlichen Hilfe für Ostpreußen sicherstellen. Demgemäß soll § 15 des Gesetzentwurfs umfassender so formuliert werden, daß der Kommissar mit der Durchführung des Gesetzes beauftragt wird. Er soll die Verfügung über die für Ostpreußen bereitzustellenden Reichs- und Staatsmittel haben. Die in Ostpreußen bereits laufenden Unterstützungsmaßnahmen sollen weitergeführt werden.“267 Damit war der Streit um die Einsetzung des Staatskommissars beigelegt. Braun gab offenbar dem Drängen der preußischen Finanzinstanzen, insbesondere der Preußenkasse, nach. Gemäß dieser Vereinbarung zwischen dem Reich und Preußen wurde dem Staatskommissar nicht nur die Stützung des Gütermarktes, sondern auch die Aufsicht über die Durchführung der gesamten Hilfsmaßnahmen aufgetragen. Da der Oberpräsident als oberste Staatsbehörde in der Provinz die Wirtschaftsförderung selbstverständlich als eine seiner Aufgaben ansah, stellte die Entsendung des Staatskommissars nach Königsberg als Wirtschaftskrisenmanager zwangsläufig seine eigene Stellung in Frage. Der Gesetzentwurf über die Ostpreußenhilfe wurde am 20. März 1929 im Beisein des Reichspräsidenten vom Reich und Preußen einstimmig angenommen. Unmittelbar im Anschluß an die Ausführungen des preußischen Landwirtschaftsministers Steiger über die Siedlungsförderung stellte ihn Hindenburg zur Rede: „In der Provinz herrscht meines Wissens große Mißstimmung gegen die Preußenkasse. Wie verhält es sich damit?“268 Steiger versuchte hingegen, das Verhalten der Preußenkasse in Schutz zu nehmen und die Kritik an ihren Siedlungsvorschlägen als unberechtigt zurückzuwei266 AdRK Kabinett Müller II, Dok. 149, Vermerk über die Sitzung des Preußischen Staatsministeriums, S. 474 ff. 267 AdRK Kabinett Müller II, Dok. 153, Chefbesprechung, 16.3.1929, S. 489 f. 268 AdRK Kabinett Müller II, Dok. 157, Ministerrat beim Reichspräsidenten, 20.3.1929, S. 500 ff. (hier S. 503).
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1. Teil: Ostpreußen
sen. Hindenburgs Äußerung berührte offenbar den Kern der Frage, woran überhaupt die Hilfsmaßnahme scheitern mußte. Durch die zwischen Ostpreußen und der Preußenkasse bestehenden Konflikte wurde Preußen schließlich dazu gezwungen, die Steuerung der Ostpreußenhilfe aus der Hand zu geben. Die Vorgänge um die Ausschaltung Preußens aus der Ostpreußen- und Osthilfe waren nicht allein auf die Abneigung der Großagrarier gegen die Preußenkasse und das „rote“ Preußen zurückzuführen.269 Die Entschließung der preußischen Regierung, den Staatskommissar nach Königsberg zu entsenden, untergrub geradewegs die Autorität des Oberpräsidenten. Das Gesetz über die wirtschaftliche Hilfe für Ostpreußen wurde Ende April 1929 durch den Reichsrat einstimmig angenommen und fand am 18. Mai 1929 auch eine große Mehrheit im Reichstag.270 Allein die Kommunistische Partei stimmte gegen die Annahme, weil das Ostpreußenhilfegesetz keine wesentliche Hilfe für die kleinbäuerlichen Betriebe biete.271 b) Der Widerstand des Oberpräsidenten In Ostpreußen war man durch die neuen Bestrebungen der Preußenkasse beunruhigt. Unmittelbar nach dem Kabinettsbeschluß über den Gesetzentwurf der Ostpreußenhilfe Ende März 1929 setzte sich die Kasse dafür ein, die Kreditvergabebestimmungen sowie die Zuständigkeiten des Staatskommissars in ihrem Interesse zu regeln. Zu diesem Zwecke arbeitete sie Entwürfe einer neuen Kreditrichtlinie sowie der Dienstanweisung des Staatskommissars aus, die inhaltlich von dem ursprünglichen Antrag auf Einsetzung eines Staatskommissars deutlich abwichen. Das preußische Landwirtschaftsministerium hatte ursprünglich beantragt, einen Staatskommissar nach Königsberg zur Stützung des Gütermarktes zu entsenden und ihn mit der Kontrolle des Güterankaufs und der Siedlungstätigkeit zu beauftragen.272 Hingegen verlangte nun die Preußenkasse, dem Staatskommissar darüber hinaus auch die gesamte Umschuldungsmaßnahme zu unterstellen. Diese Forderung, die das preußische Finanzministerium unterstützte, erregte im Landwirtschaftsministerium erhebliche Bedenken,273 da an der Umschuldungsmaßnahme nicht nur Preußen, sondern auch das Reich und die Provinzialselbstverwaltung finanziell beteiligt waren. 269 Muth
(1967), S. 317–369 (hier S. 326). I, S. 97. 271 Roidl (1994), S. 43. 272 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 177, Heft 3, Abschrift, PreußLM, 2.3.1929. 273 AdRK Kabinett Müller II, Dok. 180, Vermerk über die Besprechung im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 25.4.1929, S. 580 ff. 270 RGBl. 1929,
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens215
Die Preußenkasse legte Mitte April 1929 ihren Entwurf über die Dienstanweisung des Staatskommissars vor, den die preußische Regierung ohne Hinzuziehung der Reichsressorts sowie des ostpreußischen Oberpräsidenten anzunehmen beschloß.274 Der Präsident der Preußenkasse ergriff somit die Offensive und rächte sich an Siehr dafür, daß es diesem im Dezember 1928 mit Hilfe von Ministerpräsident Braun gelungen war, Kleppers Anträge auf Abberufung Siehrs aus dem Kreditausschuß und auf Einsetzung des Staatskommissars der Preußenkasse zurückzuweisen.275 Der neue Angriff gegen den Oberpräsidenten erfolgte, während Siehr als Delegationsvorsitzender mit den sowjetischen Staatsmännern in Moskau Wirtschaftsverhandlungen führte.276 Daß die vorläufige Entschließung über die Dienstanweisung des Staatskommissars während seiner Abwesenheit mit Dringlichkeit herbeigeführt worden war, bestürzte und erzürnte Siehr. Durch die von Klepper entworfene Dienstanweisung war wegen der darin festgeschriebenen Oberaufsicht des Staatskommissars die Autorität des Oberpräsidenten in der Kreditmaßnahme völlig untergraben. In einer Sitzung des Staatsministeriums Ende April 1929 verlangten die Preußenkasse und der preußische Finanzminister, dem Staatskommissar das Recht zur Vorprüfung und Zurückweisung der Umschuldungsanträge noch vor ihrer Beratung im Provinzialkreditausschuß einzuräumen.277 Die beiden Finanzinstanzen begründeten dies damit, daß der Ausschuß wiederholt richtlinienwidrig zugunsten der Großbetriebe entschieden habe.278 Ihrem Vorschlag zufolge sollten alle Anträge auf die Vergabe von Umschuldungskrediten in Höhe von mehr als 10.000 RM dem Staatskommissar vorgelegt werden. Falls dieser die betreffenden Betriebe als nicht sanierungsfähig und nicht kreditwürdig beurteile, sollten die Anträge zurückgewiesen werden können, ohne an den Provinzialkreditausschuß weitergeleitet zu werden (§ 3b der von den preußischen Ressorts angenommenen Dienstanweisung).279 Damit mußte der Oberpräsident im Kreditvergabeverfahren gegenüber dem 274 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 682, Abschrift, Präsident der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse an PreußMP, Richtlinien einer Dienstanweisung für den preußischen Staatskommissar, 23.4.1929. 275 Nach Arnold Brecht wirkte Klepper im Verhältnis zu seinem Vorgesetzten, Finanzminister Höpker-Aschoff, „wie ein junger Jagdhund neben einem Bernhardiner“, siehe hierzu Brecht (1967), S. 119. 276 Siehr war vom 4. April bis 25. April 1929 in der Sowjetunion. Siehe hierzu Teil III, Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit. 277 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 682, Sitzung des Staatsministeriums, 30.4. 1929. Vgl. Acta Borussica, N. F., Bd. 12 / I, Dok. 189, Sitzung des StM, 30.4.1929. 278 AdRK Kabinett Müller II, Dok. 180, Vermerk über die Besprechung im RMfEuL, 25.4.1929, S. 580 ff. 279 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 177, Heft 3. Der von den preußischen Ressorts vereinbarte Entwurf der Dienstanweisung des Staatskommissars, 3.5.1929.
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Staatskommissar zurückstehen, denn die neue Regelung bedeutete, daß dieser über ein weitaus stärkeres Vetorecht verfügte.280 Anfang Mai 1929 lud der preußische Landwirtschaftsminister den Oberpräsidenten zu einer Besprechung in Berlin ein. Bei dieser Gelegenheit kritisierte Siehr die Neuregelung, die den Eindruck erwecken mußte, als sei der Oberpräsident wegen seiner illoyalen Arbeit im Kreditausschuß durch die Zentralregierung bestraft worden. Die „Änderung des bisherigen Verfahrens mitten in der Aktion“ könne, so Siehr, „in der Öffentlichkeit nur als starkes Mißtrauensvotum der heutigen Staatsregierung gegenüber dem Oberpräsidenten und dem Kreditausschuß aufgefaßt werden“.281 Das eigenmächtige Vorgehen der preußischen Regierung bei der Aufstellung der neuen Kreditrichtlinie sowie der Dienstanweisung des Staatskommissars erregte auch im Reichskabinett Mißfallen.282 Schließlich wandte sich auch der Landeshauptmann gegen den Beschluß und verlangte die Sicherstellung der Mitwirkung der Provinzialselbstverwaltung an der Aufstellung der Umschuldungsrichtlinie, vor allem mit Rücksicht auf die Übernahme von Bürgschaften durch die Provinzialselbstverwaltung.283 Angesichts dieser Kritik lud das preußische Landwirtschaftsministerium am 7. Mai 1929 die Reichsressorts nachträglich zur Beratung über die Dienstanweisung des Staatskommissars ein. Auf der Sitzung erinnerte der Reichsernährungsminister daran, daß der bisherige Erfolg der Hilfsmaßnahmen sich 280 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 177, Heft 3, Vermerk über die Besprechung im PreußLM vom 3.5.1929, Frankenbach, 6.5.1929. Nicht zuletzt setzten Preußenkasse und Finanzministerium ihren Wunsch durch, die Vergabe von Mitteln aus dem Betriebserhaltungsfonds, aus dem keine Kredite, sondern reine Zuschüsse flossen, ausschließlich der Entscheidung des Staatskommissars anheimzustellen (§ 3c des Entwurfs). Auch die Vergabe von Mitteln aus dem vom Reich bereitgestellten Betriebserhaltungsfonds war bis dahin der Entscheidung des Provinzialkreditausschusses überlassen gewesen. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 177, Heft 3. Der von den preußischen Ressorts vereinbarte Entwurf der Dienstanweisung des Staatskommissars, 3.5.1929. 281 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 177, Heft 3, Vermerk über die Besprechung im PreußLM vom 3.5.1929, Frankenbach, 6.5.1929. 282 Gegen die preußischen Entwürfe machte die Reichsregierung aus folgenden Gründen Kritik geltend: Auf Grund des bereits vom Reichsrat gebilligten Gesetzentwurfs über die Ostpreußenhilfe, vor allem dessen § 16, der bestimmte, daß der Staatskommissar Weisungen durch Preußen lediglich im Benehmen mit der Reichsregierung erhalten sollte, sei das Reich als berechtigt anzusehen, in die Dienstanweisung Einsicht zu nehmen und vor der Entscheidung darüber zu beraten. Trotz dieser Maßgabe habe Preußen die Dienstanweisung des Staatskommissars beschlossen, ohne zuvor die Reichsressorts beratend heranzuziehen. Der preußische Entwurf beruhte anscheinend auf dem Vorschlag der Preußenkasse. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 682, Staatssekretär in der Reichskanzlei an PreußStM, 29.4.1929. 283 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2499, Landeshauptmann an OPO, 27.4.1929.
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ohne die Mitwirkung der Provinzialstellen nicht hätte erzielen lassen. Die Ostpreußenhilfe müsse scheitern, wenn zwischen Berlin und Ostpreußen kein gegenseitiges Vertrauen herrsche. Dietrich äußerte deshalb den Wunsch, vor dem Erlaß der Ausführungsbestimmungen des Ostpreußenhilfsgesetzes sowie der Dienstanweisung des Staatskommissars auch Landeshauptmann Blunk, den Leiter der ostpreußischen Landgesellschaft, Freiherr v. Gayl, und die Kreditinstitute anzuhören. Reichskanzler Müller schloß sich dieser Ansicht an. Auch Reichsfinanzminister Hilferding stellte sich Dietrich zur Seite und bat darum, den ostpreußischen Landesfinanzamtspräsidenten als Vertreter des Reichs an der Beratung über die Dienstanweisung des Staatskommissars teilnehmen zu lassen.284 Dennoch gewannen die Preußenkasse und das preußische Finanzministerium schließlich auch die Zustimmung des Reichs für ihr Vorhaben. In der Auseinandersetzung um die Neuregelung des Umschuldungsverfahrens und die Kompetenzen des Staatskommissars wurde von der preußischen Regierung folgende Kompromißlösung gefunden: Alle Anträge auf Umschuldungskredite sowie auf Mittel aus dem Betriebserhaltungsfonds sollten vor der Beschlußfassung des Provinzialkreditausschusses zuerst dem Staatskommissar vorgelegt werden. Falls dieser die Anträge als nicht sanierungsfähig beurteile, sollten sie der Landesbank zugeleitet werden, so daß diese eine Entscheidung treffen könne.285 Damit wurde dem Staatskommissar eine weitgehende Einflußnahme auf die Umschuldungsmaßnahme zugebilligt.286 Seit der zweiten Ostpreußenhilfe (das Reichsgesetz über die wirtschaft liche Hilfe für Ostpreußen vom 18. Mai 1929)287 traten zahlreiche Änderungen ein, die in erster Linie auf Wünsche der Preußenkasse und des Finanzministeriums zurückgingen. Im Vergleich mit der Entstehungsphase der ersten Ostpreußenhilfe, in der Preußen und die deutschnationalen Reichsminister des IV. Kabinetts Marx konträre Positionen vertreten hatten, konnte man zu Beginn der zweiten Ostpreußenhilfe die Auffassungen zwischen dem Reich und Preußen, nunmehr beide von den Sozialdemokraten regiert, 284 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 682, Vermerk über die Besprechung mit den Reichsressorts im PreußLM, 11.5.1929. Hinsichtlich der Kompetenzen des Staatskommissars im Verfahren der Umschuldung sowie des Betriebserhaltungsfonds waren die Reichsressorts einstimmig der Ansicht, daß es notwendig sei, alle durch den Staatskommissar geprüften Anträge auch dem Provinzialkreditausschuß zuzuleiten. Ihre Zurückweisung nur durch den Staatskommissar ohne Einsichtnahme des Kredit ausschusses, an dem sowohl die Vertreter des Reichs als auch der Provinzialverwaltung sowie der Oberpräsident beteiligt waren, dürfe keinesfalls zugelassen werden. 285 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2499, Dienstanweisung für den Staatskommissar zur Stützung des ostpreußischen Gütermarktes, § 4. 286 Denkschrift des Landeshauptmanns (1931), S. 30 f. 287 RGBl. 1929, I, S. 97 ff.
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leichter in Übereinstimmung bringen. Alle Maßnahmen der ersten Ostpreußenhilfe wurden im Rahmen der zweiten Ostpreußenhilfe fortgesetzt. Die Stützung der Landwirtschaft war allerdings mit aufgestockten Mitteln weiter zu intensivieren (174 Millionen RM). Neben der Umschuldungsmaßnahme wurde nun mit der staatlichen Güterübernahme und Siedlungspolitik neue Schwerpunkte gesetzt (§ 16 des Ostpreußenhilfegesetzes). Die lange diskutierte Einsetzung des „Staatskommissars zur Stützung des ostpreußischen Gütermarktes“ erfolgte mit dem Beginn der zweiten Ostpreußenhilfe. Er durfte außerdem auf das Umschuldungsverfahren entscheidenden Einfluß ausüben.288 c) Der Amtsantritt des Staatskommissars in Königsberg Kurz nach dem im März 1929 getroffenen Ministerialratsbeschluß über den Gesetzentwurf der Ostpreußenhilfe entschied das preußische Staatsministerium, den Landrat von Franzburg-Barth (Pommern), Heinrich Rönneburg, zum Staatskommissar zu ernennen. Ihm wurden zwei Mitarbeiter, ein Vertreter des preußischen Landwirtschaftsministeriums und einer der Preußenkasse, beigegeben.289 Hindenburg hätte es allerdings auf Wunsch der ostpreußischen Agrarier vorgezogen, wenn der ehemalige Oberpräsident Adolf v. Batocki mit dieser Aufgabe betraut worden wäre.290 Die Ernennung Rönneburgs, der zur DDP gehörte, wurde in erster Linie aus politischen Gründen getroffen; so trat Reichsernährungsminister Dietrich ausdrücklich für die Ernennung seines Parteikollegen ein. Man hoffte in Berlin außerdem, daß der demokratische Oberpräsident Siehr, dessen Abneigung gegen die Einsetzung des Staatskommissars bekannt war, mit seinem Parteikollegen gut auskommen würde. Rönneburg hatte die Absicht, die Bauern- und Siedlungspolitik als Agrarpolitik der Republik durchzusetzen und keine Kompromisse mit den Forderungen der ostpreußischen Großagrarier zu schließen.291 Während Dietrich selbst als Reichsernährungsminister in der Agrarpolitik allmählich von der strengen Parteilinie der DDP abwich, hielt Rönneburg an ihr fest. Seine Amtsübernahme erregte deshalb in Ostpreußen Bedenken, daß er auf die Zerschlagung des ostpreußischen Großgrundbesitzes abziele.292 Mit Rücksicht darauf lud Hindenburg den neuen Staatskommissar bei seinem Amts288 § 4 von Dienstanweisung für den Staatskommissar zur Stützung des ostpreußischen Gütermarktes. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2499. 289 Hertz-Eichenrode (1969), S. 286 f. 290 Groeben (1988), S. 283. 291 Wessling (1957), S. 277. 292 Denkschrift des Landeshauptmanns (1931), S. 34.
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antritt Anfang Juni 1929 zu einem persönlichen Gespräch ein. Der Reichspräsident fragte ihn zunächst, „ob er Ostpreußen kenne“. Rönneburg erwiderte, daß er die Provinz auf Reisen des Siedlungsausschusses und zuvor bereits im Militärdienst kennengelernt habe. Hindenburg äußerte daraufhin, jedoch mit großer Zurückhaltung, seine Auffassung, „daß man den Großgrundbesitz bei der Umschuldung nicht ausschalten solle“.293 Die Audienz beim Reichspräsidenten verstärkte Rönneburgs Argwohn, daß es bei der Durchführung der Ostpreußenhilfe zu einer Kollaboration zwischen dem Provinzialkreditausschuß und den Großagrariern gekommen war. Er vermutete außerdem, daß Hindenburg wahrscheinlich durch die ostpreußischen Agrarier, insbesondere von Oldenburg-Januschau, beeinflußt worden sei.294 Unmittelbar darauf erstattete Rönneburg dem preußischen Landwirtschaftsministerium einen Bericht über die bisherige Praxis des Umschuldungsverfahrens. Der Bericht wurde auf Grund einer Nachprüfung der in der Schlußphase der ersten Ostpreußenhilfe (im März und April 1929) abgehaltenen Sitzungen des Provinzialkreditausschusses abgefaßt. Der Staatskommissar vertrat die Auffassung, daß das bisherige Bewilligungsverfahren nicht zu rechtfertigen sei, weil ungeachtet der Kreditrichtlinie auch nicht mehr sanierungsfähigen Betrieben Umschuldungskredite gewährt worden seien. Rönneburg führte mehrere Beispiele von Landwirten an, die Umschuldungskredite sowie Mittel aus dem Betriebserhaltungsfonds erhalten hatten, in kurzer Frist aber wieder in die Krise geraten waren und sich daraufhin erneut an den Ausschuß gewandt hatten. Er schlußfolgerte: „Bei allen an der Umschuldung beteiligten Instanzen ist der Wunsch, Geldmittel nach Ostpreußen hineinzuziehen und den einzelnen Landwirten Hilfe zu bringen, offensichtlich stärker gewesen, als das Bestreben, Reich und Preußen vor untragbaren Risiken aus der Übernahme der Garantie für Umschuldungskredite zu bewahren und lebensunfähige Betriebe aus der Hilfsaktion auszuschalten.“295 Rönneburgs Bericht beruhte nicht auf eigenen Erfahrungen, da der Autor noch keiner Sitzung des Provinzialkreditausschusses beigewohnt hatte. Seine Darstellung schöpfte offenbar aus Mitteilungen der Preußenkasse.296 Dennoch gab sein Bericht dem preußischen Landwirtschaftsministerium ausreichenden Anlaß dazu, vom ostpreußischen Oberpräsidenten eine Stellungnahme darüber zu verlangen, weshalb er der Bewilligung von Umschul293 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 178, Heft 1, Vermerk, Frankenbach, 3.6.1929. Vgl. Hertz-Eichenrode (1969), S. 288. 294 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 178, Heft 1, Vermerk, Frankenbach, 3.6.1929. 295 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2496, Abschrift, Staatskommissar zur Stützung des ostpreußischen Gütermarktes an PreußLM, 1.7.1929. 296 Denkschrift des Landeshauptmanns (1931), S. 36.
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dungskrediten zugestimmt habe, obwohl die Sanierungsfähigkeit der Antragsteller zweifelhaft gewesen sei.297 Erneut stand so der Verdacht im Raum, daß der Oberpräsident mit den Vertretern des Großgrundbesitzes kollaboriert haben könnte. Das Verhältnis zwischen Siehr und Rönneburg war deshalb von Anfang an von Mißtrauen geprägt. Der fragliche Bericht überzeugte Siehr von der Notwendigkeit, die Zuständigkeiten zwischen dem Oberpräsidenten und dem Staatskommissar genau abzugrenzen. Auf Rönneburgs Vorwürfe an ihn selbst reagierte Siehr, indem er abermals seinen Rücktritt anbot. Er führte dazu aus: „Ein Oberpräsident ist als Vertrauensmann des Staatsministeriums und der einzelnen Minister undenkbar, wenn ein Ministerium in Zweifelfragen nicht von ihm Bericht und Gutachten erfordert, sondern über ihn durch eine Kontrollperson Berichte einholt. Am wenigsten in Ostpreußen kann ein Oberpräsident arbeiten, wenn er nicht das unbeschränkte Vertrauen der Herrn Minister genießt, sondern unter die Kontrolle einer anderen Spezialbehörde gestellt wird.“298 Obwohl Siehr nunmehr fest entschlossen war, vom Oberpräsidentenamt Abschied zu nehmen, wurde die Absendung seines bereits postfertig gemachten Abschiedsgesuchs auch diesmal durch den Ministerpräsidenten verhindert. Mit Rücksicht auf die Bestrebungen der ostpreußischen DNVP hielt Braun eine Oberpräsidentenkrise für äußerst unerwünscht. Er versprach Siehr, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Stellung des Oberpräsidenten und die Aufrechterhaltung einer geordneten Verwaltung zu sichern.299 Mitte September 1929 wurde daraufhin eine Vereinbarung folgenden Inhalts zwischen Siehr und Rönneburg über die Regelung ihres Verhältnisses getroffen: 1. Es gehöre nicht zu den Aufgaben des Staatskommissars, der Staatsregierung Bericht über die Diensthandlungen des Oberpräsidenten zu erstatten. 2. Berichte des Staatskommissars über bereits umgeschuldete Betriebe sollten durch die Hand des Oberpräsidenten an die Berliner Zentralstellen weitergeleitet werden. 3. Alle Berichte des Staatskommissars an die Berliner Zentralstellen sowie alle Erlasse der Zentralregierung an den Staatskommissar sollten abschriftlich auch dem Oberpräsidenten zugehen.300 Anfang August 1929 bat der Staatskommissar den Oberpräsidenten darum, das Vetorecht gegen einige Anträge auszuüben, bei denen der Provinzialkreditausschuß bereits die Gewährung von Umschuldungskrediten bewilligt hatte. Die Landesbank solle ersucht werden, die Auszahlung der 297 GStA 298 GStA 299 Ebd.
PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2496, PreußLM an OPO, 13.7.1929. PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 682, Abschrift, OPO an StM, 3.9.1929.
300 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2499, Vereinbarung mit Originalunterschrift von Siehr und Rönneburg, 20.9.1929.
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fraglichen Kredite einzustellen, da die Betriebe wegen der inzwischen neu entstandenen Verschuldung nicht mehr zu sanieren seien. Rönneburg ging davon aus, daß die Zahlungsunfähigkeit in erster Linie auf die Unrentabilität der Betriebe zurückzuführen sei.301 Landeshauptmann Blunk erwiderte hingegen, daß die neue Verschuldung eher durch die verspätete Auszahlung der Umschuldungskredite eingetreten sei.302 Zudem war die Annahme der Umschuldungsanträge seinerzeit unter Zustimmung des Oberpräsidenten bzw. Staatskommissars entschieden worden. Blunk vertrat die Auffassung, daß es den Kreditrichtlinien zufolge nicht zulässig sei, daß der Oberpräsident nachträglich gegen das bereits abgeschlossene Verfahren Widerspruch erhebe.303 Obwohl auch Siehr annahm, daß die Ursache der Zahlungsunfähigkeit in erster Linie in der vorübergehenden Sperrung der Umschuldungskredite zu suchen sei, setzte er sich dennoch für Rönneburgs Antrag ein. Er fragte Ministerpräsident Braun, ob die nachträgliche Ausübung des Vetorechts rechtmäßig sei, und regte eine Änderung der Kreditrichtlinien für den Fall an, daß diese nicht zulässig sei.304 Das Preußische Staatsministerium und das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft gingen davon aus, daß das Vetorecht bis zur Auszahlung des Darlehens ausgeübt werden könne und gaben dem Oberpräsidenten grünes Licht, das Vetorecht gegen die Auszahlung der Kredite in den bereits abgeschlossenen Verfahren einzulegen.305 301 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 102, Abschrift, Staatskommissar Rönneburg an OPO, 1.8.1929. 302 Blunks Behauptung ging auf folgende Tatsache zurück: Nachdem die Kreditbewilligung Ende Dezember 1928 die Höhe des ersten Umschuldungsfonds (48,5 Mill. RM) erreicht hatte, wurde die Auszahlung der Kredite eingestellt. Der Provinzialkreditausschuß setzte dennoch weiter sein Bewilligungsverfahren fort. Ende März 1929 überschritt der gesamte Bewilligungsbetrag den ersten Umschuldungsfonds um 20 Mill. RM. Daraufhin wurde dem Provinzialkreditausschuß ein Sitzungsverbot durch die Berliner Regierungen erteilt, um so die weitere Bewilligung von Anträgen bis zur Einleitung der zweiten Ostpreußenhilfe und der Geschäftsaufnahme des Staatskommissars zu verhindern. Nicht zuletzt revanchierten sich Reich und Preußen gegen den sog. Käuferstreik des Landwirtschaftsverbands dadurch, daß sie die Landwirte, die aktiv am Vorgehen des Verbands festhielten, von der Kredithilfe ausschlossen. Der Streit zwischen dem Staat und dem Landwirtschaftsverband wurde im Juli 1929 durch die Einschaltung des späteren Reichsernährungsministers Schiele beigelegt. Das Sitzungsverbot des Kreditausschusses blieb aber noch bis Anfang Oktober 1929 in Kraft. Siehe hierzu Denkschrift des Landeshauptmanns (1931), S. 31. 303 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 105, Abschrift, Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen, 1.9.1929. 304 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 100, OPO an PreußMP, 28.9.1929. 305 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 106, Entwurf, PreußMP, Oktober 1929. GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 138, RMfEuL an RFM, RMdI, PreußStM, OPO, 8.10.1929.
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1. Teil: Ostpreußen
Während Siehr in erster Linie an die Rettung der Landwirtschaft dachte und deshalb eine drastische Besitzstrukturänderung für unmöglich hielt, nahmen die Berliner Finanzinstanzen darauf keine Rücksicht. Sie forderten die Einstellung der Umschuldungsmaßnahmen, die sie als Versuch betrachteten, den Großgrundbesitz durch staatliche Gelder zu erhalten. In den Vordergrund trat die klassische Kapitalismustheorie, welche die Auflösung des Großgrundbesitzes und seine Aufteilung in kleinere Betriebe als unvermeidliche Folge der großen Depression ansah. Klepper stützte diese Theorie unkritisch. Ob sich der Provinzialkreditausschuß dem Großgrundbesitz gegenüber zu wohlwollend gezeigt hatte, wie die Preußenkasse kritisierte, ist durchaus fraglich. Nach der Bilanz, die Staatskommissar Rönneburg in seiner Reichstagsrede im Juni 1930 zog, waren bis zum 1. Juni 1929, also bis zu seinem Amtsantritt, ca. 80 Millionen RM Umschuldungskredite durch den Kreditausschuß bewilligt worden. Davon entfielen 60 Millionen RM auf ca. 1000 Großbetriebe und 20 Millionen RM auf ca. 2400 bäuerliche Betriebe.306 Dem Bericht des Landeshauptmanns zufolge wurden dem Provinzialkreditausschuß von der Aufnahme seiner Tätigkeit im Juni 1928 bis zum Dezember 1930 insgesamt 4534 Anträge vorgelegt, von denen 4208 Anträge bewilligt und lediglich 326 Anträge abgelehnt wurden. Die bewilligte Kreditsumme belief sich insgesamt auf 90.737.900 RM.307 Natürlich forderten, wie Blunk feststellte, die Großbetriebe größere Umschuldungsmittel als die Klein- und Mittelbetriebe: „Ausschlaggebend ist die Tatsache, daß überhaupt kein Antragsteller, auch keiner, der dem Kleingrundbesitz angehört, von der Umschuldungsaktion ausgeschlossen worden ist, sofern nur sonst die Voraussetzungen vorgelegen haben.“308 Der Provinzialkreditausschuß sei also nicht nur den Großbetrieben, sondern nahezu allen Landwirten gegenüber freigiebig gewesen. 8. Von der Ostpreußenhilfe zur Osthilfe Die Lage der ostpreußischen Landwirtschaft verbesserte sich auch nach Entsendung des Staatskommissars nur unwesentlich. Zwar wurden im Vergleich mit der ersten Phase der Ostpreußenhilfe mehr Kreditanträge mittlerer und kleinerer Betriebe in Erwägung gezogen. Dennoch konnte Rönneburg seine eigentliche Aufgaben, die Stabilisierung des Gütermarktes und die Durchführung der Siedlungsmaßnahme, mit seinen beschränkten Kompetenzen und Finanzmitteln nicht erfüllen. Er mußte schon nach wenigen Monaten feststellen, daß alle bisherigen Hilfsmaßnahmen ihr Ziel 306 RT,
Bd. 428, 182. Sitzung, 24.6.1930, S. 5732 f. des Landeshauptmanns (1931), S. 46. 308 Ebd., S. 40. 307 Denkschrift
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens223
verfehlt hatten.309 Große Güter, die bereits einmal umgeschuldet worden waren, gerieten nicht selten in eine neue Schuldenkrise und suchten erneut um die Vergabe von Umschuldungskrediten nach, und die Zahl der zwangsversteigerten Güter stieg weiter an. Vor diesem Hintergrund wurde beschlossen, in Königsberg eine Treuhandstelle einzurichten, die gefährdeten Betrieben weitere Kredite gewähren oder aber sie zu Siedlungszwecken ankaufen konnte. Zugleich sollte so die Auflösung des Großgrundbesitzes gefördert werden. Im Januar 1930 wurde die Treuhandstelle für die Umschuldungskredite in der Provinz Ostpreußen GmbH gegründet. Staatskommissar Rönneburg übernahm zugleich die Leitung des mit Garantien von Reich, Preußen und Provinzialverwaltung ausgestatteten Instituts. Zwei Monate darauf, im März 1930, erklärte Reichspräsident Hindenburg in seiner Osterbotschaft, daß eine durchgreifende Reform der landwirtschaft lichen Hilfsmaßnahmen und deren Erweiterung auf andere notleidende Ostgebiete notwendig sei. Damit stellte er die Wirkung der bisherigen Ostpreußenhilfe in Zweifel und kündigte zugleich die Einleitung einer größeren Agrarhilfe an. Kurz darauf stürzte das Kabinett Müller, und Heinrich Brüning bildete eine neue Regierung. Anläßlich seiner Ernennung zum Reichskanzler bat ihn Hindenburg nachdrücklich darum, Schiele (DNVP) mit dem Reichsernährungsministerium zu betrauen, womit er zugleich eine Intensivierung der Agrarhilfsmaßnahmen anmahnte.310 Der Entwurf des neuen Hilfsprogramms, der sog. Osthilfe, wurde ohne Beteiligung Preußens durch das Reich ausgearbeitet und erst im Mai 1930 in der Presse veröffentlicht. Sowohl die Handelskammer Königsberg als auch der Oberpräsident wandten sich vergeblich gegen die vorgesehene Gewährung des Vollstreckungsschutzes, der einen einschneidenden Eingriff in die Gläubigerrechte darstellte.311 Siehr lehnte es auch ab, das Staatskommissariat, das sich inzwischen zu einem wichtigen Organ der Kredit- und Güterregulierung entwickelt hatte, an sich anzugliedern, was aus seiner Sicht lediglich die eigentliche Geschäftsführung des Oberpräsidenten behindern mußte.312 In Berlin vermutete man, daß Siehr mehr und mehr mit den Großagrariern sympathisierte, und sein Kompetenzstreit mit dem Staatskommissar trug dazu bei, diesen Verdacht zu verstärken. Tatsächlich aber war der Oberpräsident weiterhin bemüht, sich neutral zu verhalten. So lehnte er es ab, dem Ehrenausschuß des Reichsbürgerrats beizutreten, wozu er unmittelbar vor Hindenburgs Osterbotschaft, Ende Februar 1930, von Landeshauptmann Blunk eingeladen wurde.313 Der neu gegründete Rat be309 Hertz-Eichenrode
(1969), S. 293. Brüning: Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970, S. 162 ff. 311 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 180, Heft 2, Abschrift, OPO, 23.5.1930. 312 Ebd. 310 Heinrich
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1. Teil: Ostpreußen
absichtigte, die deutsche Öffentlichkeit von der Hilfsbedürftigkeit der Provinz zu überzeugen. Während der Landeshauptmann glaubte, daß der Verein eine überparteiliche Gründung sei, betrachtete ihn Siehr jedoch als ein Organ der Deutschnationalen und lehnte daher Blunks Einladung ab.314 Kurz vor dem Erlaß der Notverordnung vom Juli 1930 wurde Preußen mitgeteilt, daß die Reichsregierung beabsichtige, die Leitung und Verwaltung der gesamten Hilfsmaßnahmen zu übernehmen. Mit der Durchführung sollten sogenannte Landstellen in den Ostprovinzen beauftragt werden, Einrichtungen des Reiches, an denen die preußischen Behörden nicht beteiligt sein würden.315 Ministerpräsident Braun bat Reichskanzler Brüning dringend um Änderungen und um die Hinzuziehung Preußens bei der Ausarbeitung der Hilfsrichtlinien.316 Mit der Notverordnung vom 26. Juli 1930 wurde die Einleitung der Osthilfe bekanntgemacht, die nunmehr auf alle Ostprovinzen abgestellt war.317 Auf den Wunsch Preußens hin wurde seine Beteiligung an der Durchführung der Hilfsmaßnahme und an den Landstellen sichergestellt. Die fünf Landstellen (Ostpreußen, Pommern, Grenzmark Posen-Westpreußen zusammen mit Brandenburg, Niederschlesien, Oberschlesien) nahmen Mitte September 1930 ihre Tätigkeit auf.318 Im Falle Ostpreußens wurde das bisherige Staatskommissariat in die Landstelle in Königsberg umgewandelt. Der bisherige Ostpreußische Vertreter, Friedrich Wilhelm Frankenbach, wurde auf Wunsch des Staatsministeriums von seinem bisherigen Amt entbunden und mit der Leitung der Landstelle für die Grenzmark Posen-Westpreußen sowie die Provinz Brandenburg (mit Sitz in Berlin und Schneidemühl) beauftragt.319 Die Geschäfte der Ostpreußischen Vertretung übernahm Oberregierungrat Herbert Weichmann vom preußischen Staatsministerium. Dadurch verlor Siehr seine wichtigste Verbindungsperson sowohl mit der Berliner Zentrale als auch mit Moskau und Kowno. Der Staatskommissar in Königsberg, Rönneburg, wurde Anfang November 1930 an die neu eingerichtete Oststelle beim Reichskanzler über313
313 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1077, Abschrift, Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen an OPO, 23.2.1930. 314 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1077, Abschrift, OPO an PreußStM, 1.3.1930. 315 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 180, Heft 2, Weichmann, Frankenbach an PreußMP, 23.5.1930. 316 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 180, Heft 2, PreußMP Braun an Reichskanzler Brüning, 24.5.1930. 317 Verordnung des Reichspräsidenten zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände, Dritter Abschnitt (Osthilfe), RGBl. 1930, I, S. 311. 318 Verordnung zur Durchführung des Dritten Abschnitts (Osthilfe) der Verordnung des Reichspräsidenten zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände vom 26. Juli 1930. Vom 8. August 1930, RGBl. 1930, I, S. 434. 319 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 682, PreußMP an Reichskanzler Brüning, 29.7.1930.
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens225
wiesen. Zu seinem Nachfolger wurde Ministerialrat Mussehl vom preußischen Landwirtschaftsministerium ernannt.320 Der Übergang von der Ostpreußen- zur Osthilfe machte nicht nur die organisatorische Abänderung der Kontroll- und Durchführungsorgane in den Regionen, sondern auch in der Zentralverwaltung in Berlin notwendig. Die Ostverwaltungsstelle beim Reichsministerium des Innern war Ende 1927 als Zentralkontrollstelle für die Durchführung der Ostpreußenhilfe eingerichtet worden. Mit der Notverordnung vom 27. Juli und insbesondere durch den Erlaß des Reichspräsidenten über die Errichtung einer Oststelle vom 14. August 1930 ging die Zentralleitung der Hilfsaktionen, soweit es sich um landwirtschaftliche Kreditmaßnahmen (einschließlich der Siedlung und des Vollstreckungsschutzes) handelte, von der bisherigen Ostverwaltungsstelle des Reichsministeriums des Innern auf die neu eingerichtete Oststelle bei der Reichskanzlei über.321 Die Frachterstattungsaktion hingegen oblag weiterhin der Ostverwaltungsstelle des Reichsinnenministeriums.322 Die Konflikte zwischen dem Reich und Preußen um die Durchführung der Osthilfe verschärften sich dadurch, daß die Oststelle durch zwei Kommissare, Reichskommissar Treviranus einerseits und den preußischen Staatskommissar Hirtsiefer andererseits, verwaltet wurde. Da sich dieses Doppelregiment als wenig praktikabel erwies, hielt es die Reichsregierung für geboten, das de facto bestehende absolute Veto Preußens in der Oststelle zu beseitigen und die Durchführung der landwirtschaftlichen Hilfsaktion in eigene Hände zu nehmen.323 Anfang November 1931 einigten sich das Reich und Preußen auf Vorschlag von Reichskanzler Brüning darauf, daß Preußen aus allen Bürgschaften und finanziellen Verbindlichkeiten, welche es seit der ersten Ostpreußenhilfe übernommen hatte, befreit werde, unter der Voraussetzung, daß das Reich in Zukunft als alleiniger Träger der Osthilfe sämtliche Kosten der Oststelle und der Landstellen tragen sollte.324 Daraus entstand die Notwendigkeit, alle betreffenden Stellen in reine Reichsbehörden umzuwandeln. Die Notverordnung vom 6. November 1931 regelte die Umgestaltung der seit 320 GStA
PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 682, PreußLM an PreußMP, 23.10.1930. I, S. 434, Erlaß des Reichspräsidenten über die Errichtung einer Oststelle vom 14. August 1930. 322 Siehe § 1 der Verordnung zur Durchführung des Dritten Abschnitts (Osthilfe) der Verordnung des Reichspräsidenten zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände vom 26. Juli 1930. Vom 31. März 1931, RGBl. 1931, I, S. 134. Danach gehörte die Durchführung der Frachterstattung (§ 4 des Ostpreußengesetzes vom 18.5.1929) zu den nicht auf die Oststelle zu übertragenden Aufgaben. 323 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1111, Abschrift, Reichskommissar Treviranus an Reichskanzler, 15.10.1931. 324 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1111, Reichskanzler Brüning an PreußMP Braun, 6.11.1931. 321 RGBl. 1930,
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1. Teil: Ostpreußen
1930 von Reich und Preußen eingeleiteten Osthilfe.325 Die Oststelle der Reichskanzlei wurde aufgelöst. An ihrer Stelle übernahm der Reichskommissar für die Osthilfe, Schlange-Schöningen, per Erlaß des Reichspräsidenten vom 5. November die Verwaltung der landwirtschaftlichen Hilfsaktion.326 Die Kompetenzverhältnisse wurden letztlich in folgender Weise geregelt: Das Reichsministerium des Innern und dessen Ostverwaltungsstelle waren weiterhin für die Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung, Arbeitsbeschaffung sowie zur Senkung der Gestehungskosten durch Frachtsenkung und steuerliche Lastensenkung zuständig, während der Reichskommissar für die Osthilfe den Aufgabenbereich der bisherigen Oststelle, d. h. die Entschuldung der landwirtschaftlichen Betriebe, die Stützung für die Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe übernahm.327 Die Zentralleitung der Frachterstattung ging also nicht auf den Reichskommissar für die Osthilfe über, sondern blieb weiterhin beim Reichsministerium des Innern. Die Aufsichtsbefugnis in Preußen verblieb sowohl beim Oberpräsidenten als auch dem preußischen Handelsministerium als oberster Instanz für die Frachterstattungsangelegenheiten, obwohl Preußen finanziell wie organisatorisch schon aus der Agrarstützungsmaßnahme der Osthilfe ausgetreten war. Mit dem Austritt Preußens aus der Osthilfe mußte der Oberpräsident seine Kontrolle über den größten Wirtschaftszweig seiner Provinz, die Landwirtschaft, endgültig aus der Hand geben. Gleichzeitig traten Reich und Provinzialselbstverwaltung als Träger der Rettungsaktion für Ostpreußen stärker in den Vordergrund. Siehr konnte zudem vom Provinziallandtag parteipolitisch keine Unterstützung erwarten, da bei der letzten Landtagswahl im November 1929 lediglich 3 % der Stimmen auf seine Partei (DDP) entfallen waren.328 Nachdem sich der Anteil bei den Wahlen zur Nationalversammlung von 1919 noch auf 17 % belaufen hatte, war dieser seitdem dramatisch abgefallen. Hingegen behaupteten sowohl die DNVP (1929: 31 %) und die DVP (9 %) als auch die SPD (26 %) ihre jeweilige Stellung in Ostpreußen konstant. Allerdings kann nicht gesagt werden, daß die Einbußen der DDP in Ostpreußen in erster Linie auf Siehr zurückzuführen waren. Auch die auf Drängen der Preußenkasse erfolgte Entsendung des Staatskommissars im Juni 1929 hatte sowohl bei den Landwirten (den 325 RGBl. 1931, I, S. 665, Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung der Osthilfe vom 6. November 1931. 326 RGBl. 1931, I, S. 665, Erlaß des Reichspräsidenten über die Bestellung eines Reichskommissars für die Oststelle vom 5. November 1931. RGBl. 1931, I, S. 681, Verordnung zur Änderung der Durchführungsverordnungen zum Osthilfegesetz vom 14. November 1931. Vgl. Hans Schlange-Schöningen: Am Tage danach, Hamburg 1946, S. 53. 327 WTB, 82. Jg, Nr. 2362, Erste Nachmittagsausgabe, 11.10.1931. 328 Groeben (1988), S. 33; Hartmann (1997), S. 23–46 (hier S. 34 f.).
V. Der Oberpräsident und die Not Ostpreußens227
Schuldnern) als auch bei den Handelskammern (den Privatgläubigern) heftige Gegenwehr hervorgerufen. Rönneburg war ein Parteikollege des demokratischen Oberpräsidenten. Trotz wiederholter Abschiedsgesuche blieb Siehr bis Sommer 1932 im Amt, was auf die politische Entscheidung von Ministerpräsident Braun zurückging, eine neue Oberpräsidentenkrise zu vermeiden. Nachdem die Weimarer Koalitionsparteien bei den preußischen Landtagswahlen vom April 1932 gegen die Nationalsozialisten eine schwere Niederlage erlitten hatten, konnte die Regierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten nur geschäftsführend im Amt bleiben. Im Mai 1932 stürzte aber das Kabinett Brüning. Franz v. Papen übernahm das Kanzleramt und bildete das sogenannte Kabinett der Barone, dem fünf Aristokraten alter Schule angehörten. Dazu zählten auch Freiherr v. Gayl als Reichsinnen minister und Magnus Freiherr v. Braun als Reichsernährungsminister, der nach dem Kapp-Putsch vom Amt des Regierungspräsidenten von Gumbinnen suspendiert worden war.329 Am 20. Juli 1932 setzte Papen auf Grund der Notverordnung des Reichspräsidenten sich selbst als Reichskommissar für die Landesregierung Preußen ein und beseitigte damit die bisherige geschäftsführende Braun-Severing-Regierung. Mit diesem Staatsstreich, bei dem Reichsinnenminister Gayl die federführende Rolle spielte, verlor Siehr endgültig seine letzte Stütze in Berlin. Er war nicht mehr imstande, sein Amt in Ostpreußen zu halten. Bereits einen Tag nach den Ereignissen in Berlin wurde der sozialdemokratische Regierungspräsident von Lüneburg, Christian Herbst, von seinem Amt suspendiert.330 Er hatte bis zum Sommer 1928 als Vizepräsident des ostpreußischen Oberpräsidenten amtiert und war wiederholt mit den antirepublikanischen Kräften, vor allem mit Gayl, zusammengestoßen. Anfang August 1932 stellte Siehr sein Abschiedsgesuch und wurde zum 1. Oktober zum Ruhestand versetzt.331 Sein Amt übernahm Wilhelm Kutscher, der dem konservativen Lager nahestand. Kurz vor Siehrs Abschiedsgesuch wurde die preußische Verordnung zur Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung vom 3. September 1932 erlassen. Dadurch wurde der lange Streit um die Beseitigung einer der beiden Mittelinstanzen (des Oberpräsidenten oder Regierungspräsidenten) zugunsten 329 M.
v. Braun (1955), S. 181 ff. PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten, Nr. 1118, PreußMdI (Grzesinski) an OP Noske in Hannover, 16.8.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten, Nr. 1118, Abschrift, Staatstelegramm, Reichskanzler als Reichskommissar für das Land Preußen (gez. Papen), 21.7.1932. 331 Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz), S. 36 ff. Siehe auch die Zeitungsnachrichten „Abschiedsgesuch des Oberpräsidenten Dr. Siehr“, in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Nr. 363, 5.8.1932; „Siehrs Abschied“, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, 5.8.1932. 330 GStA
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1. Teil: Ostpreußen
der letzteren geregelt.332 Die Verwaltungsaufgaben des Oberpräsidenten wurden zwar nicht gänzlich beseitigt, seine Kompetenzen jedoch auf den Stand der Oberpräsidialinstruktion vom 31. Dezember 1825 zurückgeschnitten.333 Seit der Instruktion von 1825 hatte sich der Oberpräsident zur Zwischeninstanz zwischen den Regierungen und Ministern entwickelt. Der Oberpräsident sollte nun zwar weiterhin ständiger Vertreter der Staatsregierung in der Provinz sein, das Schwergewicht seiner Verwaltungsaufgaben fiel jedoch den Regierungspräsidenten zu. Die Reform sollte zwar helfen, Verwaltungskosten einzusparen und den Instanzenzug zu vereinfachen. Tatsächlich aber wurde der politische Charakter des Oberpräsidenten als Vertreter der unter einem Reichskommissar stehenden Landesregierung Preußens noch verstärkt.334 Die Politisierung des Amtes des Oberpräsidenten wurde nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fortgesetzt, indem seine Befugnisse außerordentlich erweitert wurden. Es wurde schließlich mit dem Leiter der Provinzialselbstverwaltung (dem Landeshauptmann) vereinigt. Diese Entwicklungen nach dem Preußenschlag von 1932 sind allerdings von den von Siehr und Herbst unternommenen Bemühungen um eine Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten streng zu unterscheiden. Beide hatten das Ziel verfolgt, die Verwaltung Ostpreußens durch einen starken Oberpräsidenten zu demokratisieren und den Handel mit den Oststaaten und Rußland unter seiner Ägide zu fördern. 332 Die Verordnungen zur Vereinfachung der preußischen Verwaltung vom 3. Sept. 1932 u. 17. März 1933 mit den dazugehörigen Durchführungs- und Ausführungsbestimmungen, erläutert von Ernst Froelich (Oberverwaltungsgerichtsrat), Berlin 1933. Vgl. dazu Hartung (1961), S. 178–344 (Dritter Teil: Der Oberpräsident, S. 275–344). 333 Im Publikandum von 1808, in der Verordnung von 1815 sowie der Instruktion von 1817 wurde bestimmt, daß der Oberpräsident keine Instanz, sondern Kommissar des Ministeriums sein solle. Der Oberpräsident erhielt aber schon 1815 eigene Verwaltungsaufgaben. In der Instruktion von 1825 wurde die Bestimmung schließlich beseitigt. Der Oberpräsident war nun Stellvertreter der obersten Staatsbehörde in der Provinz. Ihm stand sowohl eine eigene Verwaltung als auch die Oberaufsicht über die Verwaltung der Regierungen zu. Seitdem wurde die eigene Verwaltungsaufgabe des Oberpräsidenten auf Kosten der Regierungen erweitert, und der Oberpräsident wurde tatsächlich zur Mittelinstanz. Diese Entwicklung wurde im allgemeinen Landesverwaltungsgesetz von 1880 entscheidend festgelegt. Zur Ersparung der Verwaltungskosten und zur Vereinfachung des Instanzenzugs stand deshalb in den 1920er Jahren stets die Beseitigung einer der beiden Mittelinstanzen zur Debatte. Zur zeitgenössischen Diskussion siehe vor allem Karl Friedrichs: Oberpräsident und Regierungspräsident, in: Preußisches Verwaltungs-Blatt, Bd. 45, Nr. 45, 13.9.1924, S. 460; Alexander Dominicus: Die Reform der Preußischen Staatsverwaltung, Berlin 1924; Hans Lohmeyer: Zur Verwaltungsreform, in: Preußisches Verwaltungsblatt, Jg. 45, Nr. 11, 11.1.1924. Carl Friedrich Goerdeler: Die Reform der preußischen Staatsverwaltung, in: Preußisches Verwaltungs-Blatt, Bd. 46, N. 3, 18.10.1924, S. 34. Siehe auch Widera (Diss. 1929). 334 Hartung (1961), S. 275–344; Möller (1985), S. 183–217.
Zweiter Teil
Ostpreußen und Litauen
Einführung 1. Die deutsch-litauischen Vertragsverhältnisse in den 20er Jahren1: ein Überblick Der erste Handelsvertrag zwischen Deutschland und Litauen wurde am 1. Juni 1923 in Dresden durch den deutschen Bevollmächtigten v. Stockhammern und den litauischen Bevollmächtigten J. Šaulys unterzeichnet.2 Der Abschluß des Handelsvertrags erfolgte einem Tag nach der Unterzeichnung des Vertrags zwischen Deutschland und Litauen über die Regelung der mit den Ereignissen des Weltkriegs zusammenhängenden Fragen vom 31. Mai 1923.3 Dem Handelsvertrag stimmte der Reichstag bereits am 12. Juli 1924 zu; der Vertragstext wurde im Reichsgesetzblatt von 1924 veröffentlicht. Dennoch fand der Austausch der Ratifikationsurkunden beider Staaten nicht statt. Demzufolge wurde das Inkrafttreten des ersten Handelsvertrags weiterhin verschoben. Erst am 5. Mai 1926 erfolgte der Austausch der Ratifikationsurkunden. Damit trat der erste Handelsvertrag fast drei Jahre nach seiner Unterzeichnung in Kraft.4 Dieser Vertrag sollte zunächst zwei Jahre lang gelten. Nach Ablauf dieser zwei Jahre sollte er in Kraft bleiben, falls er nicht von einer der vertragschließenden Seiten mit einer sechsmonatigen Frist gekündigt würde. Diesem ersten Handelsvertrag wurden bei dessen Unterzeichnung am 1. Juni 1923 zwei Sondervereinbarungen im nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schlußprotokoll beigelegt. Nummer 1 bestimmte die Einbeziehung des Memelgebiets, das damals noch förmlich unter der Souveränität der alliierten Hauptmächte stand, in den deutsch-litauischen Handelsvertrag.5 Die Ursache der außerordentlich lang 1 Siehe dazu ausführlich Rikako Shindo: Das Binnenschiffahrtsabkommen von 1923 / 24. Deutsch-litauische Verständigungsversuche im Schatten der Memelkonventionsverhandlungen, in: Memel als Brücke zu den baltischen Ländern. Kulturgeschichte Klaipėdas vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, hg. v. Bernhart Jähnig, Osnabrück 2011, S. 205–225. 2 RGBl. 1924, II, S. 205. 3 RGBl. 1924, II, S. 203. 4 RGBl. 1926, II, S. 253. 5 Das nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schlußprotokoll Nr. 1 des ersten Handelsvertrags lautete: „Der gegenwärtige Vertrag soll auch für das nach Maßgabe der Erklärung der Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923 unter litauische Souveränität gestellte Memelgebiet gelten. Vorstehende Erklärung soll zugleich mit dem Vertrag den vertragschließenden Teilen vorgelegt und mit dem Inkrafttreten des
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
verschobenen Inkraftsetzung ergab sich außerdem aus der Bestimmung von Nummer 2 des Schlußprotokolls zum Artikel 20, die das Inkrafttreten des Handelsvertrags mit dem Abschluß eines Grenzverkehrsabkommens zwischen Deutschland und Litauen vorsah.6 Auf Grund des Artikels 20 des ersten Handelsvertrags („Zur Erleichterung des gegenseitigen Verkehrs mit den Grenzbezirken wird zwischen den beiden vertragschließenden Teilen ein besonderes Abkommen vereinbart werden […]“7) traten Deutschland und Litauen gleich nach der Unterzeichnung des ersten Handelsvertrags im Juni 1923 in Verhandlungen über die Regelung der Grenzverkehrsverhältnisse ein. Dies führte zum Abschluß eines Zusatzabkommens zum Artikel 20 des ersten Handelsvertrags, des sog. kleinen Grenzverkehrsabkommens, das durch den deutschen Bevollmächtigten, Legationsrat Crull, und den litauischen Bevollmächtigten, Gesandten Sidzikauskas, am 16. Juli 1925 in Berlin unterzeichnet wurde.8 Das Zusatzabkommen zu Artikel 20 des ersten Handelsvertrags wurde als Staatsvertrag abgeschlossen. Dessen Verhandlungen wurden jedoch den örtlichen Provinzialbehörden überlassen. Artikel 78 der Weimarer Reichsverfassung regelte die auswärtige Gewalt des Deutschen Reichs. Artikel 78 Absatz 1 bestimmte, daß die Pflege der Beziehungen zu den auswärtigen Staaten ausschließlich Sache des Reichs sei. Artikel 78 Absatz 2 besagte jedoch, daß die Länder in Angelegenheiten, deren Regelung der Landesgesetzgebung zusteht, mit auswärtigen Staaten Verträge schließen können; solche Verträge bedürften der Zustimmung des Reichs. Zu diesen Angelegenheiten gehörte, nach der damals maßgebenden Erläuterung zur Weimarer Reichsverfassung, vor allem die Regelung des grenznachbarlichen Verkehrs.9 Die Verhandlunletzteren ohne weitere förmliche Ratifikation als genehmigt und verbindlich angesehen werden.“ BA, R 3101 / 8134, AA an RWiM, Anlage zum deutsch-litauischen Handelsvertrag vom 1.6.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 238, AA, Nicht zur Veröffentlichung bestimmt! Schlußprotokoll, 1.6.1923. Bei der Übersendung des Abdrucks des Vertragstexts wies das Auswärtige Amt darauf hin: „[…] Ferner füge ich Abdruck eines bei Unterzeichnung des Handelsvertrags vollzogenen Schlußprotokolls zur gefälligen vertraulichen Kenntnis bei.“ GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 215, AA, 5.6.1923. Die gleichen Dokumente auch in: GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2. 6 Ebd. Das nicht zur Veröffentlichung bestimmte Schlußprotokoll Nr. 2 lautet: „In Ausführung des Artikel 20 des Handelsvertrages werden die vertragschließenden Teile unverzüglich zusammentreten, um das dort vorgesehene Abkommen zu vereinbaren. Das getroffene Abkommen soll möglich gleichzeitig mit dem Handelsvertrag ratifiziert werden.“ 7 RGBl. 1924, II, S. 205. 8 RGBl. 1928, II, S. 377. 9 Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 12. Aufl., Berlin 1930, S. 363. Siehe auch Fritz Poetzsch: Handausgabe der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Berlin 1919, S. 94 f.
Einführung233
gen über das kleine Grenzverkehrsabkommen zwischen Deutschland und Litauen wurden zunächst im Sinne der preußischen Angelegenheiten, vor allem vom preußischen Innenministerium als der leitenden Instanz, geführt. Die Unterzeichnung des Abkommens, das sich auf den ersten Handelsvertrag bezog, wurde jedoch durch das Auswärtige Amt vollzogen. Als oberste Behörde in der Provinz beauftragte man in Deutschland den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen mit dem Verhandlungsvorsitz Deutschlands. Unter ihm wurde eine Kommission gebildet, an der die Vertreter der ört lichen Reichs- und preußischen Behörden beteiligt waren. Obwohl die Unterzeichnung des kleinen Grenzverkehrsabkommens bereits im Jahr 1925 erfolgt war, wurde dessen Ratifizierung weiterhin verschoben. Der Austausch der Ratifikationsurkunden erfolgte schließlich am 20. Dezember 1928.10 Nach der Unterzeichnung dieses Abkommens von 1925 gelang es Litauen, seinen Willen zur Geltung zu bringen, das förmliche Inkrafttreten dieses Abkommens von dem Abschluß eines neuen Handelsvertrags zwischen Deutschland und Litauen abhängig zu machen. Die Regelung des kleinen Grenzverkehrs war für das Wirtschaftsleben der im Grenzstreifen ansässigen Bewohner beider Staaten von herausragender Bedeutung, vor allem für die Bewohner an der ostpreußisch-memelländischen Grenze, die früher einheitlich zu Deutschland gehört hatten. Jetzt war die Bevölkerung auf Litauen und Deutschland aufgeteilt. Im Grunde genommen mußte man deshalb im Rahmen eines deutsch-litauischen Vertrags zwei verschiedene Regelungen des kleinen Grenzverkehrs herbeiführen. Zum einen sollte das Leben der Grenzbewohner an der alten deutsch-russischen Grenze nach dem Muster der alten deutsch-russischen Bestimmungen geregelt werden. Zum anderen sollten Sonderregelungen über die nunmehr in zwei Staaten geteilten ostpreußischen Kreise (Tilsit, Ragnit usw.) getroffen werden. Daraufhin enthielt das kleine Grenzverkehrsabkommen neben der generellen Regelung für die gesamten Grenzen die besonderen Bestimmungen für die memelländische Grenze (Artikel 11 § 1 bis 13). Um das Wirtschaftsleben der deutschen Grenzbewohner vor einem langjährigen vertragslosen Zustand zu schützen, setzte Deutschland durch, eine Sonderregelung in Absatz 8 des Schlußprotokolls des kleinen Grenzverkehrsabkommens einzuführen. Danach sollten die Bestimmungen des Grenzverkehrsabkommens ab dem Tag der Unterzeichnung, also vom 16. Juli 1925 an zur Ausführung gebracht werden, soweit nicht die bestehenden Gesetze der betroffenen Gebiete dem entgegenstünden. Somit konnten die meisten Bestimmungen des Zusatzvertrags zu Artikel 20 des ersten Handelsvertrags, vor dem Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft treten.11 Allerdings
10 RGBl. 1929,
II, S. 2.
234
2. Teil: Ostpreußen und Litauen
durfte die Veröffentlichung des Vertragstexts im Reichsgesetzblatt lediglich nach der Ratifikation erfolgen.12 11
Auch nach dem Abschluß des ersten Handelsvertrags vom 1. Juni 1923 blieb die Regelung der Binnenschiffahrts- und Flößereifrage ungelöst. Man überließ die Regelung dieser Angelegenheiten einem künftig abzuschließenden Sonderabkommen. Hierzu wurde in Artikel 30 des ersten Handelsvertrags sowie in den beigelegten Noten bestimmt, baldmöglichst in Verhandlungen über ein Schiffahrtsabkommen einzutreten.13 Mitte Juni 1923 erfolgte die Aufnahme dieser Verhandlungen in Tilsit, wo zugleich die Verhandlungen über das kleine Grenzverkehrsabkommen geführt wurden. Der Reichsverkehrsminister, der für den Abschluß des Schiffahrtsabkommens zuständig war, beauftragte den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen mit dem Verhandlungsvorsitz auf deutscher Seite. Die unter ihm gebildete Kommission, an der die örtlichen Behörden von Reich und Preußen beteiligt waren, führte die Verhandlungen mit dem litauischen Verkehrsministerium. Der Reichsverkehrsminister erteilte außerdem dem Oberpräsidenten die Abschlußvollmacht (siehe Anhang, Abb. 3, S. 857). Am 28. September 1923 wurde in der Ausführung des Artikel 30 des ersten Handelsvertrags das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen durch den deutschen Bevollmächtigten, Oberpräsidialrat Christian Herbst als Vertretung des Oberpräsidenten, und durch den Vertreter des litauischen Verkehrsministeriums, Skardinskas, in Kowno / Kaunas unterzeichnet (siehe Anhang, Abb. 4, S. 858 und Abb. 5, S. 863).14 Das Binnenschiffahrtsabkommen wurde in der Form eines Verwaltungsabkommens abgeschlossen, das weder die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften noch eine Veröffentlichung benötigte. Der räumliche Geltungsbereich dieses deutschlitauischen Abkommens wurde allerdings auf alle Gewässer in der Provinz Ostpreußen sowie in Litauen beschränkt (Artikel 1). Während sich der erste Handelsvertrag hinsichtlich der Verkehrsangelegenheiten lediglich auf die gegenseitige Meistbegünstigung bezog, wurde die Gleichberechtigung des Schiffs- sowie Flößereiverkehrs beider Staaten in diesem Abkommen ausdrücklich gesichert. Im Sinne des Verwaltungsabkommens legte das 11 RGBl. 1928, II, S. 377. Das Zusatzabkommen zu Artikel 20 des Handelsvertrags wurde deshalb zuerst im Amtsblatt des Memelgebiets (Nr. 121, 22.12.1925, S. 1053) veröffentlicht. 12 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 122, Heft 2, OPV an OPO, 7.10.1925. 13 RGBl. 1924, II, S. 205. Die nicht zur Veröffentlichung bestimmten Noten über die Schiffahrtsfrage befinden sich in: PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, AA, 27.8.1923, Anlage: Abschrift, Notenwechsel, Stockhammern und Schaulis, 1.6.1923. 14 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 200, Vertragstext vom 28.9.1923. BA, R 5 / 1382, Vertragstext vom 28.9.1923. PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Vertragstext vom 28.9.1923 (Durchschläge).
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Reichsverkehrsministerium außerdem Wert darauf, die Angelegenheiten der Schiffahrt und Flößerei ohne Inanspruchnahme des diplomatischen Weges zuerst in unmittelbarem Benehmen zwischen dem Oberpräsidenten (Wasserbaudirektion) und der Land- und Wasserstraßenverwaltung in Kaunas zu regeln (Artikel 10). Nicht zuletzt sollte die Vertraulichkeit dieses Binnenschiffahrtsabkommens gewahrt werden. Der Grund, weshalb das Schiffahrtsabkommen nicht als Zusatzvertrag zum Handelsvertrag, sondern als geheimes Verwaltungsabkommen abgeschlossen wurde, ist vor allem im Streit um die Gewährung der Gleichberechtigungsklausel zu sehen. Beim Abschluß des ersten Handelsvertrags hatte Litauen sich geweigert, die Gleichberechtigungsklausel anzunehmen. Es befand sich damals mit Polen im Kriegszustand. Infolge des Handstreichs der Żeligowski-Armee in Wilna von 1920 verlegte die litauische Regierung ihren Sitz nach Kowno und brach die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Polen ab. Die Grenze wurde abgesperrt und dadurch die Transitflößerei auf der Memel unterbunden. Litauen sah die Absperrung der Grenze als seine einzige Waffe gegen Polen an. Im Falle des künftigen Abschlusses der Handelsverträge mit der UdSSR und Polen mußte Litauen diesen Staaten alle Rechte, die Deutschland in Litauen genoß, im Wege der Meistbegünstigung einräumen. Zwangsläufig mußte Litauen in die Lage versetzt werden, dem Verkehr Polens und Rußlands die Parität auf der Memel zu gewähren. Da Litauen diese Gefahr unbedingt vermeiden wollte, wurde die Gleichberechtigungsklausel aus dem ersten Handelsvertrag zwischen Deutschland und Litauen ausgenommen. Anstatt dessen einigten sich Deutschland und Litauen beim Abschluß des Handelsvertrags darauf, die Regelung der Binnenschiffahrtsangelegenheiten einem Sonderabkommen zu überlassen, dessen Zweck sich auf die Gewährung der Gleichberechtigungsklausel richten sollte. Die Offenlegung des abgeschlossenen Abkommens wurde deshalb zunächst von beiden Staaten streng untersagt, um so außenpolitische Wirkungen auf Polen und die UdSSR zu vermeiden.15 „Das Binnenschiffahrtsabkommen ist vertraulich, um Litauen in kommenden Verhandlungen mit dritten Ländern, vor allem Polen, nicht zu belasten“ (Reichsverkehrsminister Oeser).16 15 Mitte 1925 erinnerte sich Ebhardt (Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums) an die Verhandlungen mit Litauen von 1923: „Die Litauer hatten zuerst Bedenken, uns soweit entgegenkommen [scil. bei der Gewährung der Gleichberechtigung], da sie die Notwendigkeit einer späteren Meistbegünstigung an Polen befürchteten. Daraufhin erklärten wir uns bereit, nur ein Geheimabkommen zu schließen.“ GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, RVM (Ebhardt) an Wasserbaudirektion Königsberg (Eichhardt), 24.6.1925. 16 GStA PK, XX. HA, Rep. 2093, Bl. 232, RVM (Oeser) an sämtliche Reichsminister u. a. m., 3.4.1924. BA, R 5 / 407, RVM (Oeser), 3.4.1924.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Allerdings ging der Anstoß zum Abschluß eines Verwaltungsabkommens nicht allein von den außenpolitischen Notwendigkeiten aus. Zum einen war der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen bestrebt, in seiner Sonderstellung, die er im Ostpreußenprogramm von 1922 erworben hatte,17 unmittelbar auf die Regelung der Verhältnisse zu Litauen einzuwirken. Zum anderen zielte das Reichsverkehrsministerium, vor allem dessen Wasserstraßenabteilung, darauf ab, die in der Weimarer Reichsverfassung neu eingeräumten Rechte des Reichs zur Geltung zu bringen und in der Wasserstraßenverwaltung, deren Kompetenz bisher bei den Ländern gelegen hatte, eine einheitliche Reichswasserstraßenverwaltung einzurichten. Die Weimarer Reichsverfassung bestimmte die Übertragung der Wasserstraßen von den Ländern auf das Reich (Art. 7 Ziff. 19, Art. 97 sowie Art. 171 WRV). Die Durchführung dieser Bestimmungen stieß aber auf den Widerstand der Länder. Daraufhin wurde als Übergangsregelung ein Kompromißvertrag zwischen Reich und Ländern 1921 abgeschlossen, was allerdings einen neuerlichen Kompetenzstreit beider Seiten zur Folge hatte. Problematisch war insbesondere, daß dieser Vertrag (Reichsgesetz vom 21. Juli 1921) die Wasserstraßen als Eigentum des Reichs bestimmte, jedoch hinsichtlich der Verwaltung lediglich die Übertragung der Zuständigkeiten der Landeszentralbehörden auf das Reichsverkehrsministerium vorsah. Zugleich räumte dieser Vertrag den Ländern ein, daß die einstweilige Verwaltung der Reichswasserstraßen durch die mittleren und unteren Behörden der Länder auf Kosten des Reichs und unter Leitung des Reichsverkehrsministeriums erfolgen sollte (3. Abschnitt § 11).18 Folge dieser unvollendeten Reform war es, daß ein untragbarer Zustand entstand, da keine klare Abgrenzung in der Kompetenz von Reich und Ländern herbeizuführen war. In Preußen blieben deshalb die Strombauverwaltung sowie Wasserbaudirektion der Provinzen, die den Regierungspräsidenten bzw. Oberpräsidenten oblagen, weiterhin bestehen. Sie waren zugleich sowohl als Organ des Reichsverkehrsministeriums für die von diesem geleitete Verwaltung der Reichswasserstraßen als auch als Organ der (nach der Auflösung des Preußischen Ministeriums der öffentlichen Arbeiten) für die Wahrnehmung der preußischen Wasserbau- und Wasserstraßenpolizei-Belange zuständigen Ministerien (Handelsministerium sowie Landwirtschaftsministerium) anzusehen.19 Unter diesen Umständen sah sich das Reichsverkehrsministerium vor die Aufgabe gestellt, seine unmittelbare Einflußnahme auf die Wasserstraßenverwaltung in den Provinzen zu stärken, um so die unvollendete Reform in die Richtung zu lenken, die mit der 17 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Denkschrift über das Ostpreußenprogramm, OPO, 18.4.1922. 18 RGBl. 1921, S. 961. 19 Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung, hg. v. Bitter, 3. Aufl., Berlin und Leipzig 1928, Bd. II, S. 753 ff.
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Weimarer Reichsverfassung ursprünglich intendiert gewesen war. Das Binnenschiffahrtsabkommen war als die erste Probe der Reichswasserstraßenverwaltung zu betrachten, weshalb der Reichsverkehrsminister den Oberpräsidenten mit dem Verhandlungsvorsitz beauftragte und ihm die Abschlußvollmacht erteilte. So machte das Reichsverkehrsministerium besonders darauf aufmerksam, daß das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen „der erste derartige Versuch [sei], den die Reichswasserstraßenverwaltung in dieser Richtung seit ihrem Bestehen unternimmt.“20 Das Binnenschiffahrtsabkommen wurde dennoch auf Wunsch Deutschlands, die völkerrechtlichen Verpflichtungen ausdrücklich festzulegen, durch den Notenwechsel zwischen dem deutschen Gesandten in Kowno, v. Olshausen, und dem litauischen Ministerpräsidenten und Außenminister, Galvanauskas, im Namen beider Regierungen am 26. März 1924 ratifiziert (siehe Anhang, Abb. 6, S. 864 und Abb. 7, S. 865).21 Das Abschlußdatum des Abkommens, das eigentlich am 28. September 1923 in Kowno unterzeichnet worden war, wurde hierbei nachträglich auf den 10. Dezember 1923 festgesetzt, dem Tag, an dem Olshausen eine Note über die Bestätigung des Abkommens durch die Reichsregierung sowie die Ermahnung zur baldigen Ratifizierung an die litauische Regierung eingereicht hatte.22 Sowohl die Ratifizierung des Binnenschiffahrtsabkommens als auch dessen Inkrafttreten stießen infolge der schwebenden Verhandlungen zwischen Litauen und den alliierten Hauptmächten über die Memelkonvention auf Schwierigkeiten. Hierbei verhielt sich Litauen aus taktischen Gründen gegenüber der ordentlichen Durchführung des Abkommens besonders zurückhaltend, was eine Auseinandersetzung zwischen Ostpreußen und Litauen unvermeidlich machte. Der erste Handelsvertrag trat im Jahr 1926 in Kraft. Man war sich darüber einig, daß die Bestimmungen des ersten Handelsvertrags, der drei Jahre zuvor unterzeichnet worden war, den aktuellen Verhältnissen angepaßt werden mußten. Inzwischen hatten sich sowohl die internationalen als auch die handelspolitischen Verhältnisse grundlegend geändert. Die meisten handelspolitischen Einschränkungen des Versailler Vertrags traten am 10. Januar 1925 außer Kraft. Die Agrarzölle Deutschlands wurden erhöht. Unter diesen Umständen war Litauen bestrebt, besondere Begünstigungen von Deutschland zu verlangen. Daher legte Litauen Wert auf die Revision des ersten Handelsvertrags, während Deutschland vielmehr der Verbesserung 20 BA,
R 5 / 405, RVM an Wasserbaudirektor (OPO), 6.6.1923. R 5 / 407, Deutsche Gesandtschaft für Litauen (Olshausen), 29.3.1924. 22 Die vom litauischen Ministerpräsidenten und Außenminister Galvanauskas unterzeichnete Originalurkunde über die Ratifizierung des Abkommens vom 26.3.1923 befindet sich in PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130. Seine Übersetzung und Abschrift auch in BA, R 5 / 407 und GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093. 21 BA,
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
der Lebensverhältnisse der deutschen Bevölkerung im Memelgebiet sowie der Ratifizierung des kleinen Grenzverkehrsabkommens Priorität einräumte. Die Freiheit der deutschen Bevölkerung wurde trotz der in der Memelkonvention gewährten Autonomiestellung in vielfältiger Weise beeinträchtigt. Deutschland forderte, daß die litauische Regierung als Gegenleistung für eine etwaige wirtschaftliche und politische Unterstützung Litauens durch Deutschland die Litauisierungspolitik im Memelgebiet einstellen müsse. Dieses Tauschangebot, das insbesondere Außenminister Stresemann vertrat, stieß aber auf Hindernisse. Der Streit zwischen Polen und Litauen um das Wilnagebiet spitzte sich in den Jahren 1927 / 28 zu, was die Einschaltung des Völkerbundsrats notwendig machte. Während Großbritannien unter Außenminister Chamberlain ein Interesse an einer polenfreundlichen Endlösung der Wilnafrage hatte, wiesen Deutschland und die UdSSR diese Alternative strikt zurück. Stresemann und Litvinov waren sich vielmehr darin einig, die Unantastbarkeit der Unabhängigkeit und die territoriale Integrität Litauens zu wahren. Dies versetzte Deutschland in die Lage, die litauischen Staatsgrenzen völkerrechtlich anzuerkennen. Das Reich wollte jedoch keineswegs auf seinen Anspruch auf Rückgabe des Memelgebiets verzichten. Um seine künftigen Rechte nicht schon jetzt zu präjudizieren, konnte das Reich die ostpreußisch-memelländische Grenze als Staatsgrenze Litauens vertraglich nicht anerkennen. Bei den deutsch-litauischen Grenzvertragsverhandlungen beantragten deshalb die preußischen Behörden und das Reichsinnenministerium, daß der Vertrag hinsichtlich der memelländischen Grenze sich lediglich auf die Bestimmungen von Artikel 28 des Versailler Vertrags beziehen solle. Damit wurde eine selbständige Anerkennung zwischen Deutschland und Litauen über die memelländische Grenze vermieden. Hingegen lehnte Litauen, das nicht zu den Signaturmächten des Friedensvertrags von Versailles zählte, die Bezugnahme auf den Versailler Vertrag ab.23 Zum Abschluß des Vertrags24 ging das Auswärtige Amt aus politischen Gründen auf den Wunsch Litauens ein. Die Entscheidung des Amts erfolgte ohne vorherige Vereinbarung mit Preußen, zumal mit den ostpreußischen Behörden, was bei letzteren heftige Gegenwehr hervorrief.25 Während die ostpreußisch-memelländische Grenze prinzipiell im Versailler Vertrag sowie in der Memelkonvention geregelt wurde, bereitete die Anerkennung der Grenze gegen das besetzte Wilna-Suwalki-Gebiet besondere Schwierigkeiten. Für die Anerkennung war lediglich die Entschließung 23 GStA
PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 2, OPV, Aktenvermerk, 23.1.1928. II, S. 205 ff., Der deutsch-litauische Vertrag über die Regelung der Grenzverhältnisse vom 29.1.1928. 25 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 2, OPO an OPV, 14.7.1928. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2875, Bl. 214, Geheim!, OPV an OPO, 31.7.1928. 24 RGBl. 1929,
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der Botschafterkonferenz vom März 1923 sowie des Völkerbundsrats vom April 1923 maßgebend. Mit Rücksicht auf die außenpolitischen Auswirkungen lehnte das Reich zwar den Wunsch Litauens ab, eine offene Erklärung über die litauische Souveränität im Wilnagebiet zu geben. Dennoch ging es beim Abschluß des deutsch-litauischen Vertrags über die Regelung der Grenzverhältnisse darauf ein, die Entschließung der Botschafterkonferenz hinsichtlich der Wilna-Suwalki-Grenze indirekt zurückzuweisen. Der Vertrag über die Regelung der Grenzverhältnisse wurde zusammen mit den sog. Memelverträgen (Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrag, Abkommen über die Unterhaltung der Grenzgewässer, Abkommen über die Fischerei, Abkommen über die Fürsorge für die Militärrentenempfänger im Memelgebiet, Abkommen über die Fürsorge für die Pensionäre im Memelgebiet) am 29. Januar 1928 zwischen Stresemann und Voldemaras in Berlin unterzeichnet.26 Dabei wurde eine Sondererklärung von Stresemann und Voldemaras über die Wilna-Suwalki-Grenze im Schlußprotokoll zu Artikel 1 des Grenzvertrags beigelegt.27 Ihr zufolge wurde die mit der polnisch-litauischen Grenzfestsetzung zusammenhängende Vermarkung des Endpunkts der deutsch-litauischen Grenze, die von der Festlegung der Zugehörigkeit des Wilna-Suwalki-Gebietes abhing, auf Wunsch der litauischen Regierung offen gelassen. Hiermit respektierte Deutschland die Haltung Litauens dahingehend, daß die Grenze zwischen Polen und Litauen, vor allem die Souveränität des Wilnagebiets, trotz der Entschließung der Botschafterkonferenz vom 15. März 1923 noch nicht festgelegt sei. Mit diesen politischen Zugeständnissen drängte Stresemann die litauische Regierung, die Wünsche Deutschlands in der Frage der Einhaltung der Memelkonvention, der sofortigen Ratifizierung des kleinen Grenzverkehrsabkommens sowie in den Handelsvertragsverhandlungen anzunehmen. Nach schwierigen Verhandlungen kam der zweite Handelsvertrag zwischen Deutschland und Litauen neun Monate nach der Unterzeichnung des Grenzvertrags zustande.28 Zum Abschluß des zweiten Handelsvertrags mußte das Reich allerdings weitere Zugeständnisse in wirtschaftlichen und politischen Bereichen machen. Der zweite deutsch-litauische Handelsvertrag wurde am 30. Oktober 1928 in Berlin unterzeichnet, kurz vor der Eröffnung der zweiten Königsberger Konferenz, die auf Vermittlung des Völkerbundsrats zum 26 RGBl. 1929,
II, S. 205. zu Artikel 1 des deutsch-litauischen Vertrags über die Regelung der Grenzverhältnisse vom 29.1.1928: „Die Litauische Regierung erklärt, daß die Grenze zwischen Litauen und Polen noch nicht festgelegt ist und daß daher der Endpunkt der Vermarkung der deutsch-litauischen Grenze noch nicht angegeben werden kann. Die Deutsche Regierung nimmt von dieser Erklärung Kenntnis.“ RGBl. 1929, II, S. 212. 28 RGBl. 1929, II, S. 104. 27 Schlußprotokoll
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Zwecke der Beilegung des polnisch-litauischen Streits veranstaltet wurde. Der Wunsch der Königsberger Handelskammer nach einer Gleichstellung der Häfen Memel und Königsberg im Eisenbahntransitverkehr mit der UdSSR und den Oststaaten wurde auf der Basis des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags von 1925 in diesem zweiten Handelsvertrag mit Litauen angenommen (Artikel 22 ff.). Die allgemeine Transitfreiheit des Verkehrs, die bereits im ersten Handelsvertrag gewährt worden war, wurde ebenfalls gesichert (Artikel 9). Für Litauen war der zweite Handelsvertrag von größerer politischer Bedeutung. Artikel 5 regelte die Requisitionen der Kraftfahrzeuge, Pferde sowie Lufttransportmittel usw. im Kriegsfalle. Danach durften im Kriegsfalle diese Transportmittel sowie Anlagen eines vertragschließenden Teils, die sich auf dem Gebiet des jeweils anderen Teils befänden, zur Requisition sowie Einquartierung hinzugezogen werden.29 Der zweite Handelsvertrag zwischen Deutschland und Litauen trat mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden vom 22. Februar 1929 in Kraft.30 Hinsichtlich der Binnenschiffahrtsangelegenheiten hatte sich der erste Handelsvertrag lediglich auf die gegenseitige Meistbegünstigung bezogen. Die Gleichberechtigungsklausel war deshalb allein im Sonderabkommen (dem Binnenschiffahrtsabkommen) gewährt worden. Nach 1925, insbesondere nach der Ratifizierung der Memelkonvention, deren Transitstatut auf den Grundsatz des Barcelona-Abkommens von 1921 abgestellt war, verminderte sich die Bedeutung erheblich, die Gleichberechtigungsklausel weiterhin geheimzuhalten. Außerdem bestand die litauische Regierung fest darauf, die Grenze zwischen Polen und Litauen ohne Rückgabe des Wilnagebiets keineswegs zu öffnen. Unter diesen Umständen war an den Abschluß eines polnisch-litauischen Handelsvertrags allenfalls in ferner Zukunft zu denken. Seit dem erstmaligen Ablauf der Vertragsfrist, der auf den Kündigungs antrag Litauens zurückging, wurde das Binnenschiffahrtsabkommen auf Wunsch Deutschlands bis 1928 wiederholt verlängert. Die Bestimmungen des Abkommens wurden sodann auf drei Staatsverträge (den Handelsvertrag, das Abkommen über die Unterhaltung und Verwaltung der Grenzgewässer, den Vertrag über die Regelung der Grenzverhältnisse) übertragen,31 die im Jahr 1928 zwischen Deutschland und Litauen abgeschlossen wurden. Zu beachten ist vor allem, daß die Gleichberechtigungsklausel, die den Kern 29 RGBl. 1929, II, S. 104. Vgl. Alwin Kiebeler: Die wirtschaftliche Lage Litauens vor und nach dem Weltkriege, Diss., Frankfurt am Main 1934, S. 188 ff. Im Hinblick auf die Bestimmungen von Artikel 5 vertrat Kiebeler den Standpunkt, daß der zweite Handelsvertrag „eine eminente ostpolitische Note“ sei. 30 RGBl. 1929, II, S. 131. 31 Tätigkeit der Reichswasserstraßenverwaltung im Geschäftsjahr 1928 (1. April 1928 bis 31. März 1929), in: Drucksachen des Ostpreußischen Wasserstraßenbeirates, I. Wahlperiode 1925 bis 1929, S. 133.
Einführung241
des Binnenschiffahrtsabkommens bildete, auf den zweiten Handelsvertrag übertragen wurde (Artikel 25). Damit wurde der räumliche Geltungsbereich dieser Rechte, die im Binnenschiffahrtsabkommen auf die Gewässer in Ostpreußen und Litauen beschränkt waren, deutscherseits auf das ganze Reichsgebiet erweitert. Ursprünglich verfolgte das Reichverkehrsministerium die Absicht, ein neues Verwaltungsabkommen zustande zu bringen. Auf die Anfrage Deutschlands, ob das Binnenschiffahrtsabkommen von 1923 nach dessen Revision weiterhin geheim behandelt werden solle,32 stellte Litauen jedoch einen Kündigungsantrag.33 Gemäß Artikel 12 wurde das Abkommen zum 31. De zember 1927 gekündigt. Auf Grund der Verlängerungsanträge des Reichsverkehrsministeriums blieb es allerdings bis zur Mitte Juli 1928 in Geltung. Die Verhandlungen zum neuen Schiffahrtsabkommen wurden bis zum Abschluß des zweiten Handelsvertrags fortgeführt. Obwohl der vom Reichsverkehrsministerium ausgearbeitete Entwurf eines neuen Verwaltungsabkommens von beiden Delegationen im Juni 1928 angenommen worden war, lehnte es Litauen in der Folgezeit stets ab, das Abkommen endgültig zu unterzeichnen. Das Binnenschiffahrtsabkommen trat nach Ablauf des letzten Verlängerungstermins am 15. Juli 1928 außer Kraft.34 Das litauische Außenministerium veröffentlichte das Abkommen erst 1930, drei Jahre nach seiner Kündigung.35 32 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, Niederschrift über die Besprechung vom 31. Mai 1926 betreffend die deutsch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen. 33 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, Abschrift, Die litauische Gesandtschaft (Sidzikauskas) an Reichsminister des Auswärtigen (Stresemann), 10.7.1926. 34 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), die Reichswasserstraßenverwaltung (Wasserbaudirektor Hentschel), 3.7.1928. Siehe auch Tätigkeit der Reichswasserstraßenverwaltung im Geschäftsjahr 1927 (1. April 1927 bis 31. März 1928), in: Drucksachen des Ostpreußischen Wasserstraßenbeirates, I. Wahlperiode 1925 bis 1929, S. 113. 35 Lietuvos sutartys, su svetimomis valstybemis (Recueil des Traités, conclus par la Lithuanie avec les Pays Étrangers) Tomas I: 1919–1929, Kaunas 1930, Nr. 39, S. 233 f. Siehe auch die von Jacob Robinson 1933 herausgegebene Auflistung der litauischen Verträge: Jacob Robinson: Tabelle der bis Ende 1932 von Litauen abgeschlossenen Staatsverträge in chronologischer Reihenfolge, in: Zeitschrift für Ostrecht, 7. Jg., 1933, S. 789–813. Mit Gewißheit wurde das Abkommen bis zu seiner Kündigung von beiden Seiten vertraulich behandelt. Anläßlich der Revision des Abkommens wies Ebhardt bei einer Sitzung im AA auf die Notwendigkeit hin, daß „bei Litauen angefragt werden [soll], ob es Wert auf eine weitere Geheimhaltung dieses Abkommens lege […]“. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, AA, Niederschrift über die Besprechung vom 31. Mai 1926 betreffend die deutsch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Trotz der Versuche des Reichsverkehrsministeriums und der ostpreußischen Behörden wurden die Binnenschiffahrtsverhandlungen infolge der inzwischen eingetretenen deutsch-litauischen Auseinandersetzungen bis Ende der 30er Jahre nicht wieder aufgenommen. Erst nach der 1936 erfolgten Beilegung der Streitigkeiten war es möglich, beide Parteien an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Nach der wiederholten Beschwerde der ostpreußischen Wirtschaftskreise über litauische Maßnahmen, durch welche die deutsche Schiffahrt auf der Memel verhindert worden sei, was gegen die Gleichberechtigungsklausel (Artikel 25) verstoße, traten das Reich und Litauen 1938 in neue Binnenschiffahrtsverhandlungen ein. Das Reichsverkehrsministerium wie auch die ostpreußische Wirtschaft waren einstimmig der Ansicht, daß die deutschen Schiffahrtsrechte auf der Memel im Handelsvertrag vom Oktober 1928 (Artikel 25) nicht genügend gewahrt worden seien, vor allem im Vergleich mit den Bestimmungen des alten Kauener Abkommens von 1923. Daher forderte Ostpreußen, ein neues Binnenschif�fahrtsabkommen auf Grund des im Jahr 1928 vereinbarten Entwurfs abzuschließen.36 Litauen lehnte dies jedoch ab. Die gegen den Abschluß eines neuen Verwaltungsabkommens eingestellte Haltung Litauens war seit der ersten Kündigung von 1927 konsequent. Die im Jahr 1938 aufgenommenen Verhandlungen zwischen Deutschland und Litauen fanden schließlich am 11. Mai 1940 in Berlin ihren Abschluß.37 Die beiden Parteien einigten sich darauf, die Verbesserung der Schiffahrtsrechtsverhältnisse lediglich durch die Ergänzung zum Artikel 25 des Handelsvertrags von 1928 vorzunehmen. Somit wurde das Vorhaben über den Abschluß eines Verwaltungsabkommens, das ein zweites Kauener Binnenschiffahrtsabkommen darstellen sollte, endgültig aufgehoben. Der Zusatzvertrag zum Artikel 20 des ersten Handelsvertrags vom 1. Juni 1923, das sog. kleine Grenzverkehrsabkommen, das am 16. Juli 1925 unterzeichnet worden war, trat mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden am 20. Dezember 1928 in Kraft.38 Dennoch waren die Schwierigkeiten nicht völlig ausgeräumt. Prinzipiell bezogen sich die Bestimmungen des 1925 unterzeichneten kleinen Grenzverkehrsabkommens auf den Vertragsentwurf, der in Tilsit im Juni 1923 durch die örtlichen Instanzen beider Staaten ausgearbeitet worden war. Zwangsläufig war eine Revision der damaligen Bestimmungen notwendig. Gleich nach der Ratifizierung nahmen 36 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), Abschrift, Industrie- und Handelskammer für Ost- und Westpreußen, Entwurf über das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen von 1928, 29.8.1938. 37 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), AA an die Gesandtschaft, Anlage: Abschrift, Vereinbarung, unterzeichnet für das Deutsche Reich gez. Martius, für die Republik Litauen gez. Augustaitis, 11.5.1940. 38 RGBl. 1929, II, S. 2.
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beide Seiten die Formulierung der Ausführungsbestimmungen in Angriff. Man war der Auffassung, die Koordinierung der alten Bestimmungen lediglich im Rahmen der Ausführungsbestimmungen herbeizuführen, weil die Abänderung der Bestimmungen des bereits ratifizierten Abkommens nicht ohne weiteres, wie z. B. auf dem Wege der parlamentarischen Behandlung, möglich war. Das Auswärtige Amt überließ den örtlichen Behörden Ostpreußens die Leitung der Ausarbeitung und Verhandlung mit Litauen über die Ausführungsbestimmungen. Am 11. Juni 1929 traten die beiden Delegationen in Gumbinnen in die Verhandlungen ein. Hierzu wurde der Regierungspräsident von Gumbinnen mit dem Verhandlungsvorsitz beauftragt. Die Bevollmächtigten beider Seiten unterzeichneten daraufhin die Ausführungsbestimmungen, die auf den deutschen Entwurf zurückgingen. Problematisch war jedoch, daß diese Ausführungsbestimmungen in vielen Punkten die Wirkung hatten, die Bestimmungen des kleinen Grenzverkehrsabkommens nichtig zu machen bzw. abzuändern.39 Unmittelbar darauf machte das preußische Innenministerium sowohl den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, als auch das Auswärtige Amt darauf aufmerksam, daß die Abänderung der Bestimmungen des Abkommens durch die Ausführungsbestimmungen unzulässig sei. Dennoch unterließen es die Zentralbehörden zunächst, die litauische Seite darüber zu informieren. Das Auswärtige Amt schwieg, bis der litauische Außenminister am 11. April 1930 ein Promemoria an die deutsche Regierung einreichte. Hiermit brachte die litauische Regierung unter Hinweis auf die vom Abkommen abweichenden Bestimmungen ihre Nichtanerkennung der Gumbinner Vereinbarung zum Ausdruck.40 Die irreführende Handhabung der örtlichen Behörden hatte zur Folge, daß das Auswärtige Amt unter Zurückziehung der Bevollmächtigung der örtlichen Instanz die Leitung der Verhandlung selber übernahm. Die Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Litauen um das Autonomiestatut im Memelgebiet wurde zwar durch die Genfer Vereinbarung zwischen den beiden Außenministern, Curtius und Zaunius, Ende September 1930 vorläufig geschlichtet. Die Erklärung des litauischen Außenministers wurde jedoch nicht sofort zur Ausführung gebracht. Kurz vor der Eröffnung der Januar-Ratstagung von 1931 in Genf, wo die Prüfung über die Memelautonomie auf der Tagesordnung stand, ging Litauen darauf ein, das Memeler Landesdirektorium demokratisch umzubilden. Bei diesem Nachgeben 39 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 123, Abschrift, Regierungspräsident Gumbinnen an OPO, 20.6.1929, Verhandlungsniederschrift über die zur Vereinbarung der Ausführungsbestimmungen am 11. Juni 1929 stattgefundene Sitzung. Zum Beispiel wurden die Ausstellungsbehörden der Grenzkarten dadurch abgeändert. 40 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7, Abschrift, Übersetzung von Promemoria, Ministerium des Äußern Litauen an die deutsche Gesandtschaft für Litauen, 11.4.1930.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Litauens im Memelstreit spielte die Frage des polnisch-litauischen Transitstreits an der Wilnagrenze eine wesentliche Rolle. Die Beratung über die Untersuchungsergebnisse der Verkehrskommission stand ebenfalls auf dem Programm der Ratssitzung im Januar 1931. Die UdSSR und Litauen drängten Deutschland dazu, in Genf in dieser Streitfrage den Standpunkt Litauens gegenüber Polen zu unterstützen. Während Polen die Öffnung des Eisenbahnverkehrs zwischen Kowno und Wilna forderte, lehnte Litauen diesen Wunsch strikt ab, unter Hinweis darauf, daß die Absperrung dieser Eisenbahnlinie als friedliche Repressalie gegen den kriegerischen Staat, der die litauische Hauptstadt okkupierte, verhängt worden sei. Dagegen verlangte Litauen die Öffnung der Transitflößerei auf der Memel, während Polen daran kein Interesse zeigte. Allerdings milderten die Litauer nach 1925 ihre bisherige Haltung in der Frage der Memelflößerei erheblich. Dagegen war Polen besonders nach 1925 daran interessiert, die Hölzer nicht mehr auf der Memel abwärts zu flößen, sondern ausschließlich auf Eisenbahnen vornehmlich nach den Häfen Danzig, Gdingen sowie den polnischen Sägewerken zu transportieren. Litauen war der Auffassung, daß die Öffnung des Eisenbahnverkehrs zwischen Kowno und Wilna einem Verzicht auf den Souveränitätsanspruch auf Wilna gleichkomme. Dank der tatkräftigen Unterstützung des Außenministers Curtius in Genf gewann Zaunius diese Schlacht gegen Polen. Der Völkerbundsrat beauftragte letztlich den Haager Ständigen Internationalen Gerichtshof mit der Begutachtung dieser Angelegenheiten. Daraufhin erklärte das Haager Gericht unter seinem japanischen Präsidenten Adachi im Oktober 1931, daß Litauen nicht zur Öffnung der fraglichen Eisenbahnlinie verpflichtet sei.41 Der deutsche Außenminister stellte allerdings bei seiner Unterstützung im Völkerbund Litauen die Bedingung, die Memelautonomie einzuhalten. Obwohl die Wirtschaftsinteressen Königsbergs durch die Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs zwischen Kowno und Wilna, der eine Teilstrecke der früheren Hauptlinie zwischen Königsberg, Minsk und Moskau bildete, schwer beeinträchtigt wurden, räumte Curtius vielmehr der Rivalität gegen Polen Priorität ein. Man zielte in Berlin offenbar darauf ab, die Erweiterung der Machtsphäre Polens zu verhindern. Zwangsläufig wurde das Reich dazu gezwungen, Litauen gegen Polen zu stützen. Dadurch wurde dem Reich die Möglichkeit entzogen, sowohl gegen die Litauisierungspolitik im Memelgebiet, als auch gegen die Unterbrechung des Transitverkehrs an der Wilnagrenze entscheidende Maßnahmen zu treffen. Die deutsche Litauenpolitik der 20er Jahre war durch diesen Fragekomplex stets schwer belastet. 41 Cour Permanente de Justice internationale, Série C, Plaidoiries, exposés oraux et documents, XXIIme Session 1931, N° 54, Trafic ferroviaire entre la Lithuanie et la Pologne, Avis consultatif du 15 octobre 1931, Leyden 1932.
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Im Gegensatz zu seinen Versprechungen hatte Litauen nicht die Absicht, die Litauisierungspolitik einzustellen. Das erste demokratisch gewählte Landesdirektorium im Memelgebiet, an dessen Spitze Otto Böttcher stand, wurde sogleich verfassungswidrig abgelöst, der Landtag durch den Gouverneur aufgelöst. Die deutschen Memelländer beschwerten sich. Die Reichsregierung unter Brüning legte im Februar 1932 Protest beim Völkerbundsrat ein. Daraufhin wurden die Angelegenheiten auf Antrag der vier Signaturmächten der Memelkonvention (Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan) dem Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag überlassen. Das Gericht befand am 11. August 1932, daß die Abberufung Böttchers ordnungsgemäß, die Auflösung des Landtags hingegen unzulässig gewesen sei.42 Der Streit zwischen Deutschland und Litauen um das Memelgebiet spitzte sich weiter zu, und die deutsche Regierung sah sich dazu gezwungen, die Beziehungen zu Litauen tatsächlich zu unterbrechen. Infolgedessen traten auch im Wirtschaftsverkehr zwischen beiden Staaten besondere Schwierigkeiten ein.43 Erst vier Jahre später wurden die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen wiederhergestellt. Der Abschluß des neuen Abkommens über den kleinen Grenzverkehr erfolgte am 5. August 1936. Noch am gleichen Tag wurden zwei Wirtschaftsverträge (das Warenverkehrsabkommen sowie das Verrechnungsabkommen) unterzeichnet. Mit Wirkung vom 25. August 1936, mit Inkrafttreten des neuen Grenzverkehrsabkommens, wurde das Zusatzabkommen zu Artikel 20 des ersten Handelsvertrags von 1923 endgültig außer Kraft gesetzt (Artikel 31 des neuen Abkommens).44 Am 22. März 1939 unterzeichneten beide Außenminister, Ribbentrop und Urbšys, den Vertrag über die Wiedervereinigung des Memelgebiets mit dem Deutschen Reich.45 In dessen Verfolg wurden am 20. Mai 1939 drei Staatsverträge zur Regelung der Wirtschaftsverhältnisse zwischen beiden Staaten unterzeichnet (1. Abkommen über den gegenseitigen Wirtschaftsverkehr, 2. über die Zahlungen im Warenverkehr, 3. über den kleinen Grenzverkehr),46 42 Ulrich Pferr: Die Verfassungskrise im Memelgebiet 1931 / 32. Insbesondere unter Würdigung der Memelkonvention und deren Auslegung im Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom 11. August 1932, Würzburg 2005. Siehe auch den Abdruck der Beschlüsse, in: Das Diktat von Versailles. Entstehung – Inhalt – Zerfall. Eine Darstellung in Dokumenten, hg. v. Fritz Berber, Essen 1939, S. 807 ff. 43 Zehn Jahre Litauischer Wirtschaft. Konjunkturbericht der Handels-, Industrieund Handwerkskammer in Kaunas, Kaunas 1938, S. 91 sowie 136. 44 RGBl. 1936, II, S. 247 (S. 269 ff.). 45 RGBl. 1939, II, S. 608. 46 RGBl. 1939, II, S. 789. Dazu siehe auch folgenden Kommentar über das Abkommen: „Die Aussichten für das deutsch-litauische Geschäft nach Abschluß der
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
in denen die Bestimmungen des im Oktober 1928 abgeschlossenen deutschlitauischen Handelsvertrags prinzipiell aufrechterhalten wurden. Das neue Grenzverkehrsabkommen ersetzte das Abkommen von 1936 (Artikel 38 des neuen Abkommens).47 Im Sommer 1940 wurde die litauische Republik auf Grund des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion annektiert. 2. Forschungsstand Das Thema der deutsch-litauischen Verträge in den 20er Jahren ist von der Forschung bislang nicht zusammenhängend behandelt worden. Die beiden Handelsverträge, das Binnenschiffahrts- und das Grenzverkehrsabkommen, fanden in Studien über das Memelgebiet oder die deutsch-litauischen Beziehungen allenfalls beiläufig Erwähnung.48 So wurde bis heute überseneuen deutsch-litauischen Wirtschaftsabkommen“, in: OEM, 19. Jg. / 1939, Heft 7 / 8, S. 350. 47 RGBl. 1939, II, S. 811, Abkommen über den kleinen Grenzverkehr zwischen dem Deutschen Reich (Deutsch-Litauisches Grenzverkehrsabkommen), 20.5.1939. 48 Zu den deutsch-litauischen Beziehungen in den 20er Jahren siehe vor allem Manfred Hellmann: Grundzüge der Geschichte Litauens und des litauischen Volkes, Darmstadt 1966, sowie Volker Blomeier: Litauen in der Zwischenkriegszeit. Skizze eines Modernisierungskonflikts, Münster 1998. Siehe auch: Deutschland und Litauen. Bestandsaufnahmen und Aufgaben der historischen Forschung, hg. v. Norbert Angermann und Joachim Tauber, Lüneburg 1995; Tausend Jahre Nachbarschaft. Die Völker des baltischen Raumes und die Deutschen. Im Auftrage der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Bonn, hg. v. Wilfried Schlau, München 1995; Harry Stossun: Litauen vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land der großen Ströme von Polen nach Litauen, hg. v. Joachim Rogall, Berlin 2002, S. 461–492. Zur baltischen Geschichte allgemein siehe Georg von Rauch: Geschichte der baltischen Staaten, 3. Aufl, München 1990. Michael Garleff: Die baltischen Länder. Estland, Lettland, Litauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2001. John Hiden: The Baltic States and Weimar Ostpolitik, Cambridge 1987. Hellmuth Günther Dahms: Litauen zwischen den Großmächten 1919–1945, in: Jahrestagung 1987, hg. v. Litauischen Kulturinstitut, Lampertheim 1988, S. 55–112. Siehe auch: The Baltic States. A survey of the political and economic structure and the foreign relations of Estonia, Latvia and Lithuania, presented by The Information Department of the Royal Institute of International Affairs, London 1938 (Repr. 1970). Zur litauischen Wirtschaftspolitik im Memelgebiet siehe vor allem Gerhard Willoweit: Die Wirtschaftsgeschichte des Memelgebiets, Marburg (Lahn) 1969. Julius Žukas: Soziale und wirtschaftliche Entwicklung Klaipėdas / Memel von 1900 bis 1945, in: Nordost-Archiv, N. F. 10 (2001), Lüneburg 2002, S. 74– 115. Von litauischer Seite über die deutsch-litauischen Beziehungen siehe Alfonsas Eidintas: Die litauisch-deutschen Beziehungen des 20. Jahrhunderts in der litauischen Forschung, in: Deutschland und Litauen. Bestandsaufnahmen und Aufgaben der historischen Forschung, hg. v. Norbert Angermann und Joachim Tauber, Lüneburg 1995, S. 67–75. Zur Außenpolitik Litauens im 20. Jahrhundert siehe vor allem Alfred Erich Senn: The Great Powers, Lithuania and the Vilna Question 1920–1928, Leiden 1966. Ders.: The Emergence of Modern Lithuania, New York 1959. Alfonsas
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hen, daß der erste Handelsvertrag mitsamt einigen vertraulichen Abmachungen am 1. Juni 1923 unterzeichnet wurde, und damit zu einem Zeitpunkt, als die Memelkonvention noch Gegenstand schwebender Verhandlungen zwischen Litauen und den alliierten Hauptmächten war. Da eine endgültige Regelung des Handels und des Verkehrs auf der Memel sowie an der ostpreußisch-memelländischen Grenze, die einen Teil der deutsch-litauischen Grenze bilden sollte, erst nach der endgültigen Übertragung der Souveränität des Memelgebiets auf Litauen erfolgen konnte, hatte dieser Handelsvertrag notwendig vorübergehenden Charakter, indem in ihm die Fortführung der Verhandlungen über die Regelung der wirtschaftlichen und verkehrs politischen Angelegenheiten festgeschrieben wurde. Der Inhalt der deutsch-litauischen Handelsverträge von 1923 und 1928 wurde erstmals 1934 von Alwin Kiebeler in einer wirtschaftswissenschaft lichen Abhandlung eingehend erläutert.49 Dennoch sind die beiden vom Verfasser ausgewerteten Vereinbarungen zum Abschluß des ersten Handelsvertrags, zum einen die Einbeziehung des Memelgebiets in den ersten Handelsvertrag (Schlußprotokoll Nr. 1) und zum anderen die gleichzeitige Ratifikation des Handelsvertrags mit dem kleinen Grenzverkehrsabkommen (Nr. 2), bis heute unbekannt geblieben. In Artikel 30 des ersten Handelsvertrags wurde der Abschluß eines Binnenschiffahrtsabkommens vorgesehen. Die Verhandlungen, die dazu unmittelbar nach der Unterzeichnung des Handelsvertrags Mitte Juni 1923 in Tilsit aufgenommen worden waren, führten Ende September 1923 zum Abschluß eines Schiffahrts- und Flößereiabkommens. Auf Wunsch Litauens wurde es zunächst als geheimes Abkommen abgeschlossen, um so etwaige Auswirkungen auf Polen zu vermeiden. Ebenso wie das vertrauliche Schlußprotokoll des ersten Handelsvertrags war diese Tatsache bisher in der Geschichtswissenschaft unbekannt. Die kurze Angabe bei Willoweit (1969) über den Abschluß von zwei Abkommen zur Regelung der Memelschiffahrt in den Jahren 1923 und 1924, die sich auf Akten des Oberpräsidiums stützt, ist leider als unzutreffend zu bezeichnen.50 Willoweits falsche Interpretation Eidintas / Vytautas Žalys / Alfred Erich Senn: Lithuania in European Politics. The Years of the First Republic, 1918–1940, New York 1998. Zenonas Butkus: Diplomatische Zusammenarbeit Deutschlands und der UdSSR in den baltischen Staaten 1920–1939, in: Jahrestagung 1998, hg. v. Litauischen Kulturinstitut, Lampertheim 1999, S. 61–90. 49 Kiebeler (1934), S. 188 ff. Auch der Journalist R. Valsonokas berichtete über den zweiten Handelsvertrag. Vgl. Rudolf Valsonokas: Der Memeler Hafen und die litauische Verkehrspolitik, Memel 1933. Zu den Handelsverhältnissen des Memeler Hafens in den Kriegs- und Nachkriegszeit siehe Louis Jahn: Memel als Hafen- und Handelsstadt (1913–1922), Jena 1926. 50 Willoweit (1969), S. 572.
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der archivalischen Quellen führte offenbar dazu, daß er den Kern der Sache übersah. Dieser lag darin, daß das Binnenschiffahrtsabkommen als geheimes Verwaltungsabkommen abgeschlossen und dessen Unterzeichnung und Ausführung dem ostpreußischen Oberpräsidenten als dem Bevollmächtigten des Reichs überlassen wurde. Die Entstehungsgeschichte des Binnenschiffahrtsabkommens sowie dessen Folgen werden in der vorliegenden Arbeit erstmals untersucht, insbesondere unter Hinzuziehung der Handakten der deutschen Delegationsmitglieder. Die Bestrebungen Ostpreußens und Litauens, zu einer bilateralen Schifffahrtsregelung zu gelangen, spielten sich natürlich hinter den Kulissen der Memelkonventionsverhandlungen zwischen den alliierten Hauptmächten und Litauen ab. Die Konventionsfrage ist bereits gründlich aufgearbeitet worden, wobei sich die deutschen Autoren zumeist auf das Studium der Souveränitätsfrage sowie des Autonomiestreits konzentriert haben.51 Hingegen bleibt die Verkehrsfrage auf der Memel / dem Njemen in den 20er Jahren noch weitgehend ungeklärt, obwohl sie eine der Hauptstreitfragen um das Memel- und Wilnagebiet bildete, welche die Einschaltung des Völkerbunds notwendig machte. Die gründliche Arbeit von Willoweit über die Wirtschaftsgeschichte des Memelgebiets von der Stadtgründung bis zum Zweiten Weltkrieg behandelt die Verkehrsangelegenheiten auf der Memel in den 20er Jahren nur am Rande.52 Bemerkenswert ist auch, daß die Schiffahrt auf der Memel in den 20er Jahren selbst von den Völkerrechtlern nur selten thematisiert wurde, im Un51 Zu den deutschen Abhandlungen nach dem Zweiten Weltkrieg siehe vor allem die folgenden Beiträge. Hellmuth Hecker: Deutschland, Litauen und das Memelgebiet, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg / Pr. 6 (1955), S. 228–256. Hans Hopp: Auswirkungen des Verhältnisses Litauens zu seinen Nachbarn auf das Memelgebiet, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg / Pr. 12 (1962), S. 235–270. Ernst-Albrecht Plieg: Das Memelland 1920–30. Deutsche Autonomiebestrebungen im litauischen Gesamtstaat, Würzburg 1962. Walther Hubatsch: Das Memelland und das Problem der Minderheiten, in: Die deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik, hg. v. Erwin Hölzle, Köln 1966, S. 42–64. GilbertHanno Gornig: Das Memelland. Gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, Bonn 1991. Joachim Wallet: Die völkerrechtliche Stellung des Memelgebietes, Frankfurt am Main 1991 (Diss., Göttingen 1990). Ulrich Pferr: Die Verfassungskrise im Memelgebiet 1931 / 32. Insbesondere unter Würdigung der Memelkonvention und deren Auslegung im Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom 11. August 1932, Würzburg 2005. Christian-Alexander Schröder: Die Entstehung des „Territoire de Memel“ und die Pläne der französischen Administration (1919–1923), in: Nordost-Archiv, N. F. 10 (2001), Lüneburg 2002, S. 45–74. 52 Willoweit (1969). Die Flußschiffahrtsverhältnisse in der Zeit des Ordensstaats bis zur Neuzeit wurden durch Forstreuter eingehend dargestellt. Kurt Forstreuter: Die Memel als Handelsstraße Preußens nach Osten, Königsberg 1931.
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terschied zu den Verhältnissen auf anderen deutschen Großschiffahrtsströmen. Im Verfolg des Versailler Vertrags (Artikel 331 ff.) wurden die deutschen Großschiffahrtsströme für international erklärt und für deren Verwaltung internationale Ausschüsse eingesetzt, an denen nicht nur die Vertreter der Uferstaaten, sondern auch von Nichtuferstaaten beteiligt waren. Die Mandate in den Ausschüssen wurden in einer Weise unter den beteiligten Ufer- und Nichtuferstaaten verteilt, daß die Mehrheit nicht selten an die Nichtuferstaaten fiel, was folglich den Alliierten zugute kam. Dieser Zustand hielt bis 1936 an, als das Deutsche Reich die entsprechenden Bestimmungen des Versailler Vertrags einseitig kündigte. Die Beteiligung der Nichtuferstaaten an der Stromverwaltung wurde von den deutschen Völkerrechtlern stets kritisch als verhängnisvolle Souveränitätsverletzung betrachtet. Indem sie die historische Entwicklung des völkerrechtlichen Status der deutschen Großschiffahrtsströme analysierten, entstanden in der Zwischenkriegszeit zahlreiche völkerrechtliche Abhandlungen,53 die die Frage der Verletzung der deutschen Souveränität über die internationalen Ausschüssen unterstellten Was53 In den 20er und 30er Jahren wurden zahlreiche völkerrechtswissenschaftlichen Abhandlungen über die deutschen Großströme veröffentlicht. Hans Wehberg: Die Fortbildung des Fluss-Schiffahrtsrechts im Versailler Friedensvertrage, Berlin 1919. Albert Dittmann: Das Flußschiffahrtsrecht in völkerrechtlicher Entwicklung mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands, Diss. Würzburg 1920. Bodo Ebhardt: Internationalisierung der deutschen Ströme. Eine Rückschau, in: Nauticus 18 (1926), S. 146–157. Richard Hennig: Freie Ströme!, Leipzig 1926. Alfred Lederle: Die Rechtsverhältnisse der internationalen Ströme auf Grund der Friedensverträge, in: Zeitschrift für Völkerrecht 13 (1924), Heft 1, S. 64–76. Ders.: Die Donau und das internationale Schiffahrtsrecht, Berlin 1928. Ders.: Die Internationalisierung der deutschen Wasserstraßen, in: Zehn Jahre Versailles, Bd. 1, hg. v. Heinrich Schnee und Hans Draeger, Berlin 1929, S. 243–267. Fritz Krieg: Das Weltbinnenschiffahrtsrecht und die Ströme Mitteleuropas, in: Mitteleuropäische Wasserstraßenpolitik. Referate und Beschlüsse der mitteleuropäischen Wasserstraßenkonferenz Budapest 11. bis 13. Mai 1929, hg. v. Elemér Hantos, Wien und Leipzig 1929, S. 81–101. Otto Schimmer: Die Internationalisierung der Flüsse, Diss. Würzburg 1930. Ernst Uecker: Die rechtliche Stellung der Oder mit besonderer Berücksichtigung des Streites über die räumliche Zuständigkeit der internationalen Oderkommission, Diss. Göttingen 1931. Heinrich Triepel: Internationale Wasserläufe. Kritische Betrachtungen, Berlin 1931. Joachim Volz: Die Frage der Internationalisierung der Weichsel, Danzig 1932. Werner Totzek: Das Wesen und die innere Berechtigung der Strominternationalisierung unter besonderer Berücksichtigung der Bestimmungen des Versailler Vertrages, Diss. Breslau 1933. Hans-Werner Otto: Das Wesen und die innere Berechtigung der Internationalisierung der Ströme unter besonderer Berücksichtigung der Bestimmungen des Versailler Vertrages, Diss. Breslau 1934. Gerhard Giesecke: Die völkerrechtliche Stellung der internationalen Wasserläufe des deutschen Stromgebiets in Geschichte und Gegenwart dargestellt mit besonderer Berücksichtigung des Statuts von Barcelona, Diss. Breslau 1936. Hans Böhme: Die völkerrechtliche Stellung der Elbe unter besonderer Berücksichtigung der Situation nach dem zweiten Weltkrieg, Erlangen 1959.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
serstraßen (Donau, Rhein, Elbe, Oder) thematisierten. Im Gegensatz dazu nahm die Memel in den 20er Jahren völkerrechtlich eine merkwürdige Zwitterstellung ein. Obwohl die Memel im Versailler Vertrag für international erklärt worden war, wurde für ihre Verwaltung schließlich kein internationaler Ausschuß eingesetzt. Nach Maßgabe von Artikel 342 sollte er einberufen werden, wenn nur ein Uferstaat dies beim Völkerbund beantragte. Bis 1936 machte jedoch kein Uferstaat von diesem Recht Gebrauch. Für die deutschen Völkerrechtler war deshalb die Memelschiffahrt kein geeignetes Beispiel, um der Weltöffentlichkeit die Souveränitätsverletzung vor Augen zu stellen. Diese Tatsache hatte offenbar die Forschungslücke im Bereich der Memelschiff fahrt in den 20er Jahren zur Folge. Die Dissertation von George Tschirner (1920),54 welche die nach dem Versailler Vertrag und der neuen Reichsverfassung eingetretenen rechtlichen und verwaltungsorganisatorischen Änderungen beim Wasserstraßenverkehr in Ostpreußen zu klären versuchte, zählt zu einem der wenigen Beiträge in diesem Bereich. Die Frage des Transitverkehrs auf der Memel wurde sowohl bei den Pariser Memelkonventionsverhandlungen als auch bei den Beilegungsversuchen des Völkerbunds zum Wilnastreit stets als eine der Hauptstreitfragen zwischen Litauen und Polen sowie allen Anliegerstaaten angesehen. In seiner bekannten Arbeit über die litauische Außenpolitik in den 20er Jahren richtete A. E. Senn (1966) sowohl bei der Behandlung des Memelstreits, als auch beim Wilnastreit einen Blick auf die Frage des Transitverkehrs.55 Auch bei den Beiträgen von Piotr Łossowski (1985) über den polnisch-litauischen Konflikt spielte die Memel- / Njemenschiffahtrsfrage eine wichtige Rolle.56 Von einer vertieften Untersuchung der Verkehrsverhältnisse ist deshalb zu erwarten, daß der Zusammenhang zwischen den territorialen Auseinandersetzungen entlang der Memel, um das Memelgebiet einerseits und das Wilnagebiet andererseits, deutlicher als bisher in den Blick kommt.57 So kann die 54 George Tschirner: Das Gebiet des Njemen-Memelstromes in bezug auf Holzhandel, Flößerei und Binnenschiffahrt mit Berücksichtigung der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 und des Friedensvertrags von Versailles vom 10. Januar 1920, Diss. Würzburg 1920. 55 Senn (1966). 56 Piotr Łossowski: Po tej i tamtej stronie Niemna. Stosunki polsko-litewskie 1883–1939, Warszawa 1985. 57 In den zeitgenössischen Abhandlungen über das Memel- und Wilnagebiet wurde die Flußverkehrsfrage stets berücksichtigt. Zur Memelfrage siehe vor allem Albrecht Rogge: Die Verfassung des Memelgebiets. Ein Kommentar zur Memelkonvention, Berlin 1928. Joachim Hallier: Die Rechtslage des Memelgebiets. Eine völker- und staatsrechtliche Untersuchung der Memelkonvention, Leipzig 1933. Karl Spohn: Die Memelkonvention vom 8. Mai 1924. Ihre Entstehung und ihr Inhalt, Diss. Würzburg 1934. Walter Schätzel: Das Reich und das Memelland. Das politische und völkerrechtliche Schicksal des deutschen Memellandes bis zu seiner Heim-
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vorliegende Studie des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens nicht nur der Geschichte der Memelkonvention, sondern auch der Geschichte des polnisch-litauischen Wilnastreits neue Ergebnisse hinzufügen. In der nachstehenden Untersuchung werden auch die außen- und handelspolitischen Strategien aller Anliegerstaaten (Deutschland, Litauen, Polen, die UdSSR) sowie des Völkerbundes berücksichtigt. Was den polnisch-litauischen Wilnastreit in den 20er Jahren angeht, kam die für Kownos Standpunkt eintretende Haltung des Auswärtigen Amts deutlich zutage. Dabei maß Berlin stets der Polenfrage die Priorität in seiner Außenpolitik bei. Mit der diplomatischen Unterstützung für Kowno in der Wilna frage versuchte Stresemann, Voldemaras Kompromisse in der Memelauto nomiefrage abzuringen.58 In diesem Kontext ist eine Revision der z. B. von Martin Walsdorff (1971) vorgenommenen Bewertung der im Jahr 1928 abgeschlossenen deutsch-litauischen Verträge nötig. Dies betrifft insbesondere kehr, Berlin 1943. Vgl. auch folgende Beiträge Rolf Schierenberg: Die Memelfrage als Randstaatenproblem, Berlin 1925. Friedrich Janz: Die Entstehung des Memelgebietes, zugleich ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Versailler Vertrags, Berlin-Lichterfelde 1928. Zur Wilnafrage siehe Gregor Rutenberg: Die baltischen Staaten und das Völkerrecht. Die Entstehungsprobleme Litauens, Lettlands u. Estlands im Lichte des Völkerrechts, Riga 1928. Paul Roth: Die Entstehung des polnischen Staates. Eine völkerrechtlich-politische Untersuchung, Berlin 1926. Bruno Grießinger: Die Wilnafrage. Eine völkerrechtliche Studie, Diss. Würzburg 1930. Martynas Anysas: Der litauisch-polnische Streit um das Wilnagebiet von seinen Anfängen bis zum Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofes vom 15. Oktober 1931, (Diss. Hamburg), Würzburg 1934. Curt Menzel: Zur Wilnafrage, in: Zeitschrift für Ostrecht 7 (1933), S. 290–298. Ders.: Die Lösung der Wilnafrage, in: Zeitschrift für osteuropäisches Recht 6 (1939 / 40), S. 340–357. Folgende Beiträge der litauischen und polnischen Autoren sind auf deutsch zugänglich. Česlovas Laurinavičius: Die litauisch-polnischen Beziehungen 1919–1945: Die Wilnafrage, in: Deutschland und Litauen. Bestandsaufnahmen und Aufgaben der historischen Forschung, hg. v. Norbert Angermann und Joachim Tauber, Lüneburg 1995, S. 101–105. Regina Žepkaitė: Die fehlende Hauptstadt: Litauens Politik im Zeichen der Wilnafrage, in: NordostArchiv, N. F. 2 (1993), Heft 2, S. 299–316. Piotr Łossowski: Das Wilna-Problem in der polnischen Außenpolitik 1918–1939, in: Nordost-Archiv, N. F. 2 (1993), Heft 2, S. 279–298. Zur Entstehung des Wilnastreits siehe auch Naum Oranski: Besetzung Wilnas durch Polen im Jahre 1920, in: Jahrestagung 1985, hg. v. Litauischen Kulturinstitut, Lampertheim 1986, S. 9– 32. Isabel Röskau-Rydel: Polnisch-litauische Beziehungen zwischen 1918 und 1939, in: Jahrbuch für Geschichte Osteuropas N. F. 35 (1987), Heft 4, S. 556–581. Gotthold Rhode: Geschichte Polens. Ein Überblick, Darmstadt 1966. Hans Roos: Polen zwischen den Weltkriegen, in: OsteuropaHandbuch. Polen, hg. v. Werner Markert, Köln 1959, S. 18–68. Kai von Jena: Polnische Ostpolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Das Problem der Beziehungen zu Sowjetrußland nach dem Rigaer Frieden von 1921, Stuttgart 1980. 58 Mit der Unterzeichnung des Grenzvertrags vom 29. Januar 1928 akzeptierte Stresemann den Standpunkt Litauens, daß die Wilna-Swalki-Grenze trotz der Entscheidung der Botschafterkonferenz von 1923 noch umstritten sei.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
den Fall des Grenzvertrags und des zweiten Handelsvertrags.59 Der polnischlitauische Streit um das Wilnagebiet gelangte Anfang der 30er Jahre an einen Wendepunkt. Die Königsberger Konferenz, die auf Vermittlung des Völkerbunds zur Wiederherstellung des Wirtschaftsverkehrs zwischen Polen und Litauen über die Wilnagrenze 1928 stattfand, blieb erfolglos.60 Somit sah sich der Völkerbundsrat vor die Notwendigkeit gestellt, den Transitverkehr über die Wilnagrenze, der seit 1920 sowohl auf dem Bahnwege als auch auf den Wasserstraßen eingestellt worden war, im Rahmen seiner wirtschaftspolitischen Kompetenz wiederherzustellen (Artikel 23e der Völkerbundssatzung). Diese Auslegung des Wilnastreits war völlig neu, indem nicht in erster Linie die Entstehungsgeschichte des polnisch-litauischen Konflikts, sondern die wirtschaftlichen Interessen der dritten Mächte in Betracht gezogen wurden. Auf den Protest Litauens hin wurde die Angelegenheit dem Haager Internationalen Gerichtshof vorgelegt. Der polnisch-litauische Transitstreit beim Haager Gerichtshof 1931 ist bisher von der Geschichtswissenschaft kaum beachtet worden.61 Hierzu ist lediglich eine zeitgenössische Abhandlung des Völkerrechtlers Gregor Rutenberg (1931) zu nennen.62 In der vorliegenden Studie werden diese verkehrspolitischen Angelegenheiten insbesondere im Zusammenhang mit der Außenpolitik Berlins und Moskaus untersucht. Dieser Abschnitt (Kapitel VI), in dem das Interesse der Königsberger Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt, stellt zugleich eine Brücke zum dritten Teil (die Sowjetunion und die Transiteisenbahn) dar. In seiner Abhandlung über die deutsche und litauische Historiographie des Memelgebiets berichtet Joachim Tauber (2002)63 über den heutigen 59 Martin Walsdorff: Westorientierung und Ostpolitik, Stresemanns Rußlandpolitik in der Locarno-Ära, Bremen 1971, S. 192 f., sowie Blomeier (1998), S. 157 f. Beide Autoren maßen dem Grenzvertrag überhaupt keinen politischen Wert bei, sondern sahen lediglich seine Bedeutung in der deutschen Zuerkennung für die von der Memelkonvention geschaffenen Lage. 60 Die Königsberger Konferenz wurde von Senn und Łossowski eingehend dargestellt, während die Frage des polnisch-litauischen Streits im Völkerbund von den deutschen Autoren, wie Krüger, Pagel sowie Blomeier lediglich am Rande ihrer außenpolitischen Darstellung behandelt wurde. Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, S. 398 ff. Jürgen Pagel: Der polnisch-litauische Streit um Wilna und die Haltung der Sowjetunion 1918–1938, in: Jahrbuch für Geschichte Osteuropas, N. F. 40 (1992), Heft 1, S. 41–75. 61 Senn widmete dem Transitstreit vor dem Haager Gerichtshof lediglich eine halbe Seite, Senn (1966), S. 233. 62 Gregor Rutenberg: Die Entscheidung des Haager Weltgerichtshofes vom 15. Oktober 1931 in den litauisch-polnischen Streitsachen, in: Zeitschrift für Ostrecht 7 (1933), S. 274–290. 63 Joachim Tauber: Das Memelgebiet (1919–1945) in der deutschen und litauischen Historiografie nach 1945, in: Nordost-Archiv, N. F. 10 (2001), Lüneburg 2002, S. 11–44.
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Forschungsstand bezüglich des litauischen Einmarsches ins Memelgebiet. Auf litauische Studien gestützt, stellt Tauber fest, Kownos Entscheidung für den Einmarsch ins Memelgebiet sei im Einvernehmen mit Berlin und Moskau getroffen worden.64 Das Reich habe damit das kleinere Übel gewählt, um die Einnahme des Memelgebiets durch Polen und Frankreich zu verhindern. Hierzu ist aber auf folgende unbekannte Tatsache der Handelsvertragsverhandlungen hinzuweisen: Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen wurden Anfang November 1922 aufgenommen und bis zum litauischen Einmarsch ohne große Unterbrechung fortgeführt. Die Verhandlungen über die Memelschiffahrt und den kleinen Grenzverkehr, die eigentlich im Rahmen des ersten Handelsvertrags geregelt werden sollten, waren natürlich auf Grund der durch den Versailler Vertrag geschaffenen Grenzverhältnisse durchgeführt worden. Offenbar waren weder die deutsche Delegation noch der ostpreußische Oberpräsident über die bevorstehende Grenzänderung vorab informiert worden. Die Regelung der beiden Angelegenheiten mußte nach der Einnahme des Memelgebiets durch Litauen vom ersten Handelsvertrag ausgeschlossen und späteren Verhandlungen überlassen werden. Im Entwurf des Abkommens über den kleinen Grenzverkehr, der bis zum Anfang Januar 1923 die Verhandlungsgrundlage bildete, war vorgesehen, lediglich den Verkehr an der alten ostpreußisch-litauisch / alten russischen Grenze, also ohne Heranziehung der ostpreußisch-memelländischen Grenze, zu regeln. Die Einnahme des Memelgebiets durch Litauen machte es notwendig, die Regelungsgegenstände entsprechend den neuesten Grenzverhältnissen zu ändern. Folglich wurde beim Abschluß des ersten Handelsvertrags die endgültige Regelung der Verkehrsangelegenheiten unterlassen. Die Verhandlungen über den kleinen Grenzverkehr, die unmittelbar nach dem Abschluß des ersten Handelsvertrags vom Oberpräsidenten geführt worden waren, wurden von Anfang an durch die zwischen Berlin und Ostpreußen bestehenden Diskrepanzen außerordentlich belastet.
64 Diese Einstellung war schon in der Arbeit von A. E. Senn zu erkennen. Senn (1966), S. 109 f. Folgende litauische Autoren teilen diese Sichtweise: Eidintas (1995), S. 67–75. Vytautas Žalys: Ringen um Identität. Warum Litauen zwischen 1923 und 1939 im Memelgebiet keinen Erfolg hatte, Lüneburg 1993. Ders.: Das Memelproblem in der litauischen Außenpolitik, in: Nordost-Archiv, N. F. 2 (1993), Heft 2, S. 235–278.
Kapitel I
Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922 / 23) 1. Ostpreußen und Litauen 1918–1922 Gleich nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags zwischen der Reichsregierung und den Alliierten wurde Mitte November 1918 die Republik Litauen mit der Hauptstadt Wilna proklamiert. Angesichts der Bedrohung durch die Polen und die Bolschewisten, die sich dem litauischen Boden nährten, verlangten die Litauer den Verbleib der deutschen Truppen in Wilna.1 Die junge, notleidende Republik beantragte in Berlin außerdem die Gewährung einer Anleihe, für die sie den Deutschen im Gegenzug wirtschaftliche Konzessionen in Litauen anbot. Für Ostpreußen war der Handelsverkehr mit Litauen, dem wichtigsten Transitland nach Rußland, von besonderer Bedeutung. Obwohl das Auswärtige Amt stark daran interessiert war, durch finanzielle Hilfe eine politische Abwendung Litauens vom Reich zu vermeiden, kamen die deutsch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen2 infolge der eingeschränkten Finanzlage des Reichs und nicht zuletzt wegen der schwebenden politischen Verhältnisse zu den Alliierten nur mühsam voran. Im April 1919 wurde die Übertragung der Verwaltungshoheit auf Litauen beendet und der Rückzug der deutschen Truppen aus Litauen abgeschlossen. Die Friedensbedingungen der Alliierten vom 7. Mai 1919 sahen u. a. für das Reich die Abtretung des Memel1 Zu den deutsch-litauischen Beziehungen während des Ersten Weltkriegs sowie zur Staatsbildung Litauens siehe vor allem Gerd Linde: Die deutsche Politik in Litauen im Ersten Weltkrieg, Wiesbaden 1964. Marianne Bienhold: Die Entstehung des litauischen Staates in den Jahren 1918–1919 im Spiegel deutscher Akten, Bochum 1976. Petras Klimas: Der Werdegang des Litauischen Staates von 1915 bis zur Bildung der provisorischen Regierung im November 1918. Siehe auch Senn (1959) sowie Arūnas Vyšniauskas: Konstituierung des litauischen Staatswesens am Ende des Ersten Weltkriegs, in: Lietuvių Kultūros Institutas / Litauisches Kulturinstitut, Lampertheim 2004, S. 28–56. 2 Auch Reichskommissar Winnig setzte sich für Verhandlungen mit Litauen ein. Dabei wurde die Teilnahme der Handelskammervertreter Ostpreußens als Sachverständige gewünscht. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 4171, Bericht über die Besprechung zwischen dem litauischen Minister für Handel und Industrie und der Vertretung des Reichskommissars für dem Osten von 14.5.1919.
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)255
gebiets vor. Hinter den Kulissen forderte aber das Auswärtige Amt von Litauen im Gegenzug für eine finanzielle Unterstützung durch Berlin einen Verzicht auf seine territorialen Ansprüche auf Teile Ostpreußens und auf eine mögliche Koalition mit Polen. Litauen lehnte das Angebot Berlins jedoch ab und stellte sich vielmehr auf die Seite der Allierten. Dadurch scheiterten alle Versuche Berlins, durch eine wirtschaftliche Verständigung mit Litauen die Abtretung des Memelgebiets zu verhindern.3 Dementsprechend ließ sich der Abschluß eines deutsch-litauischen Wirtschaftsabkommens vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags nicht mehr realisieren.4 Die Grenzlinie zwischen Deutschland und der aus Rußland herausgelösten Republik Litauen wurde zuerst an der nordöstlichen Grenze zwischen Ostpreußen und dem alten russischen Kaiserreich gezogen. Diese preußisch-litauische Grenze war seit dem Friedensvertrag von Melnosee, der zwischen dem Deutschen Orden und den Litauern 1422 abgeschlossen worden war, bis zum Inkrafttreten des Versailler Vertrags unverändert geblieben. Auf Betreiben der Versailler Siegermächte verlor das Reich nach dem Ersten Weltkrieg das Gebiet nördlich der Memel. Diese Grenzziehung hatte entscheidende Bedeutung für das zukünftige Verhältnis zwischen Deutschland und Litauen. Bis zur Abtretung dieses Gebiets gab es den Begriff „Memelland“ weder kulturell noch administrativ oder in wirtschaftlicher Hinsicht.5 Gemäß Artikel 99 des Versailler Vertrags verzichtete Deutschland zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche auf das Gebiet zwischen der Ostsee und der in Artikel 28 umrissenen Nordostgrenze Ostpreußens. Die Grenze zwischen Ostpreußen und dem Memelgebiet verlief in der Mitte der Memel sowie der Nebenflüsse Ruß und Skirwieth, und zwar von der alten deutsch-russischen Flußgrenzstation Schmalleningken durch das Kurische Haff bis zur Kurischen Nehrung an der Ostsee.6 Das Memelgebiet 3 Bienhold
(1976), S. 223. XX. HA, Rep. 2II, Nr. 4171, Reichskommissar für den Osten an die Handelskammer Königsberg, 4.6.1919. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 4171, Bl. 230, Der deutsche Generalbevollmächtigte für Litauen an Reichsminister für auswärtige Angelegenheiten, 6.6.1919. 5 Kurt Forstreuter: Die Entwicklung der Grenze zwischen Preußen und Litauen seit 1422, in: Altpreußische Forschungen, 18. Jg. / 1941, S. 50–70 (Nachdruck, Hamburg 1989). Siehe auch Paul Barandon: Der Vertrag von Versailles in seiner Bedeutung für Deutschlands Osten und die Nachbarstaaten, in: Das östliche Deutschland. Ein Handbuch, hg. v. Göttinger Arbeitskreis, Würzburg 1959, S. 429–476. 6 Über die Grenze zwischen Ostpreußen und dem Memelgebiet heißt es in Artikel 28: „eine im Gelände noch zu bestimmende Linie, die nördlich von Bialutten verläuft; von dort die alte russische Grenze bis östlich von Schmalleningken, dann die Hauptfahrrinne der Memel (des Njemen) abwärts, dann der Skirwietharm des Deltas bis zum Kurischen Haff; von dort eine gerade Linie bis zum Schnittpunkt der Ostküste der Kurischen Nehrung mit der Verwaltungsgrenze etwa 4 km südwestlich 4 GStA PK,
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
bestand aus den ehemaligen ostpreußischen Kreisen, dem Stadt- und Landkreis Memel einschließlich des Memeler Hafens und Teilbereichen der Kreise von Heydekrug, Ragnit und Niederung sowie Tilsit-Stadt und Land. Das Memelgebiet umfaßte ca. 2.656,7 km2.7 Die Einwohnerzahl in den Kreisen Memel, Heydekrug, Niederung, Tilsit sowie Ragnit betrug nach dem Stand von 1910 insgesamt 140.496. Davon entfielen 50,7 % auf die deutschsprachige, 47,9 % auf die litauischsprachige Bevölkerung.8 Die Stadt Memel war 1252 im Zuge der Kolonisation des Deutschen Ordens von livländischer Seite gegründet worden und hatte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs niemals zu Litauen oder Polen gehört.9 Dennoch erhoben beide Staaten während der Pariser Friedensverhandlungen 1918 / 19 ihren territorialen Anspruch auf das künftig von Deutschland abzutretende Memelgebiet einschließlich des Memeler Hafens.10 Die litauische Delegation, die nicht offiziell zur Friedenskonferenz eingeladen worden war, äußerte den Wunsch, das nördlich der Memel liegende Gebiet einschließlich des Memeler Hafens sowie eines Teils der Provinz Ostpreußen Litauen zuzuschlagen.11 Warschau war sogar bestrebt, alle Gebiete an Polen anzugliedern, die jenseits der neuen Grenze Ostpreußens lagen, und hatte dabei die Unterstützung Frankreichs. Ursprünglich war Polen außerdem der Ansicht gewesen, daß das Memelgebiet und der Memeler Hafen zuerst Litauen zugeteilt werden sollen, unter der Voraussetzung, daß Litauen später unter polnische Souveränität zu stellen sei.12 Die Versuche Polens, die tervon Nidden; von dort diese Verwaltungsgrenze bis zum Westufer der Kurischen Nehrung.“ RGBl. 1919, S. 757 f. 7 Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung, von Bitter, 3. Aufl., Berlin und Leipzig 1928, Zweiter Band, S. 151. Siehe auch: Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe A: Preußen, hg. v. Walther Hubatsch, Bd. 1: Ostund Westpreußen, bearbeitet v. Dieter Stüttgen, Marburg 1975, S. 26. 8 Davon entfielen 1,4 % auf die zweisprachige Bevölkerung. Siehe Rogge (1928), S. 4. 9 Erich Zurkalowski: Studien zur Geschichte der Stadt Memel und der Politik des Deutschen Ordens, in: Altpreußische Monatsschrift, N. F. 43 (1906), S. 145–191. Johannes Sembritzki: Geschichte der königlich-preußischen See- und Handelsstadt Memel, 2. Aufl., Memel 1926 (Nachdruck 1977), S. 11. Siehe auch B. Schumacher (1958), S. 43. 10 Vgl. Hecker (1955), S. 228–256 (hier S. 230). 11 Žalys (1993), Heft 2, S. 235–278 (hier S. 241 ff.) Siehe auch Klimas (1918). Darin forderte Klimas die Einverleibung der nördlichen Teile Ostpreußens (Preußisch-Litauen) an Litauen, vor allem aus dem Grund, daß das Gebiet, das den Zugang zum Meer darstelle, für Litauen von höchster wirtschaftlicher Bedeutung sei. 12 Vgl. Hopp (1962), S. 235–270 (hier S. 237 ff.). Christian Höltje: Die Weimarer Republik und das Ostlocarno-Problem 1919–1934. Revision oder Garantie der
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)257
ritoriale Zersplitterung Ostpreußens sowie die Wiederherstellung der Grenze von 1772 zu erzielen, scheiterten aber an der ablehnenden Haltung Großbritanniens, vor allem an Lloyd George, der in einer weiteren Expansion Polens eine mögliche Gefährdung des Friedens in Europa sah.13 Die Friedenskonferenz beschloß die Übertragung der Souveränität im Memelgebiet auf die alliierten und assoziierten Hauptmächte. Die Alliierten übergaben am 7. Mai 1919 der deutschen Regierung die Friedensbedingungen, welche die Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Reichsgebiet sowie die Abtretung Danzigs und Memels vorsahen. Dagegen machte das Reich Ende Mai den Alliierten gegenüber Gegenvorschläge und versuchte, unter Hinweis auf die historische und ethnische Zugehörigkeit Danzigs und Memels deren Abtretung zu verhindern.14 Gegen den deutschen Protest, daß die Abtretung des Memelgebiets mit dem Wilsonischen Nationalitätsprinzip sowie dem Selbstbestimmungsrechte der Völker unvereinbar sei, teilte aber Clemenceau am 16. Juni 1919 den Beschluß der Alliierten mit, der auf die Zukunft des Memelgebiets entscheidende Auswirkungen hatte. Die alliierten und assoziierten Mächte vertraten ohne beweiskräftige Begründung die Auffassung, daß das fragliche Gebiet (Memel) immer litauisch gewesen sei. Die Mehrzahl der Bevölkerung sei litauischer Herkunft und Sprache. Daher sei der Verbleib des Memelgebiets bei Deutschland nicht zu rechtfertigen. Der Hafen Memel sei der einzige Zugang Litauens zum Meer. Die Übertragung der Souveränität des Memelgebiets auf die alliierten Hauptmächte solle jedoch mit Rücksicht auf die Grenzfestlegung der neuen Republik Litauen nur vorläufigen Charakter haben, „weil die staatliche Zugehörigkeit der littauischen Territorien noch nicht bestimmt ist.“15 Die Erklärung der Alliierten bereitete in der Folge im Zusammenhang mit der Grenzfestsetzung Litauens und der De-jure-Anerkennung des litauischen Staates weitere Schwierigkeiten. Demnach wurde die Möglichkeit, Volksabstimmungen im Memeler Gebiet durchzuführen, durch die Siegermächte von vornherein untersagt.16 Dabei spielten auch wirtschaftliche Interessen deutschen Ostgrenze von 1919, Würzburg 1958, S. 12 f. Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 239, Legationssekretär Seiler an AA, 10.11.1922, S. 498 f. 13 David Lloyd George: The Truth about the Peace Treaties, London 1938, S. 308 ff., 970 ff. sowie 980. 14 Die Gegenvorschläge der Deutschen Regierung zu den Friedensbedingungen, Vollständiger amtlicher Text, Berlin 1919, S. 28. 15 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 2, Extrait de la réponse des Puissances alliées et associées aux remarques de la Délégation allemande sur les conditions de paix, S. 15. Der Abdruck des ins Deutsche übersetzten Texts in: Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte. Vollständiger amtlicher Text, Berlin 1919, S. 31. 16 Die gewaltsame Entscheidung, die Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Reichsgebiet und die Abtretung Danzigs und Memels zu vollziehen, ging auf das
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
eine Rolle. Die Alliierten hatten die Absicht, den beiden im Oberlauf der Memel verselbständigten Staaten Polen und Litauen den freien Zugang zum Meer, insbesondere für ihre Holzausfuhr auf der Memel, zuzusichern.17 Die völkerrechtliche Stellung des Memelgebiets war im Vergleich mit dem Danziger Gebiet weitaus unklarer. Anders als der Freien Stadt Danzig wurde dem Memelgebiet von Anfang an keine staatliche Existenz zugebilligt.18 Die Souveränität des Memelgebiets ging am 10. Januar 1920, am Tag des Inkrafttretens des Versailler Vertrags, auf die alliierten und assoziierten Hauptmächte über.19 Am 15. Februar 1920 erfolgte die Übergabe der Verwaltung durch den Reichs- und Staatskommissar für das Memelgebiet, Graf v. Lambsdorff, an die Vertretung der alliierten Hauptmächte, den französischen General Odry. Die Zollgrenze des Memelgebiets gegen Deutschland wurde am 27. April 1920 errichtet. Während das Memelgebiet berechtigt war, als ein eigenständiges Zollgebiet Handelsverträge nach außen abzuschließen, besaß es weder eine eigene Währung noch eine eigene Staatsangehörigkeit. Die Stellung des Gebiets von der Abtretung durch Deutschland bis zum Einmarsch der litauischen Armee im Januar 1923 war die eines unter dem Schutz der alliierten und assoziierten Hauptmächte stehenden Kondominiums, an dessen Spitze Frankreich als Besatzungsmacht stand.20 Trotz Kriegsniederlage hielt das Reich an seiner Litauenpolitik unverändert fest. Das Auswärtige Amt betrachtete Litauen als Brücke nach Rußland und wichtigen Kontrahenten gegen Polen. Dieser Standpunkt kam in der Haltung des Reichs- und Staatskommissars für das Memelgebiet deutlich zutage. Angesichts der gestärkten Einflüsse Frankreichs und Polens auf die einst ostpreußischen Ländereien vertrat Lambsdorff im Mai 1920 die eigentümliche Geschichtsverständnis der Alliierten zurück, „daß Ostpreußen mehrere Jahrhunderte hindurch tatsächlich so vollkommen für sich bestand, daß es bis 1866 in keinem Augenblick in Wahrheit als innerhalb der politischen Grenzen Deutschlands liegend angesehen wurde; die deutschen Geschichtsschreiber haben stets anerkannt, daß Ostpreußen kein Land deutschen Ursprungs ist, sondern eine deutsche Kolonie. Zweifellos wäre es für Deutschland bequem, daß dieses durch das deutsche Schwert eroberte und seinen Ureinwohnern entrissene Land in unmittelbarer Berührung mit dem wahren Deutschland bliebe, aber das, was für Deutschland erwünscht wäre, gibt keinen genügenden Grund ab, um die Fortsetzung der Zerreißung und Zerstückelung einer anderen Nation zu rechtfertigen.“ Der Abdruck der Antwort vom 16. Juni 1919 über die Ostpreußenfrage in: Ebd., S. 30 f. 17 Schröder (2002), S. 61. 18 Hubatsch (1966), S. 42–63. 19 Hinsichtlich der französischen Besatzung im Memelgebiet siehe Schröder (2002). 20 Willoweit (1969), S. 441.
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)259
Ansicht, daß ein Anschluß des Memelgebiets an Litauen, wenn man denn auf seine Wiedervereinigung mit dem Reich auch nicht unmittelbar hinarbeiten könne, die beste Lösung für Deutschland darstelle. Dabei ging er davon aus, daß das Deutschtum unter der litauischen Verwaltung besser bewahrt werden könne. Zudem sollte der Fall, daß Polen Litauen einnehme, im Interesse des Reichs verhindert werden. Die Existenzfähigkeit des kleinen Agrarlands Litauen, vor allem Polen gegenüber, sollte mit Hilfe Deutschlands gestärkt werden. Zu diesem Zwecke empfahl Lambsdorff dem Auswärtigen Amt, schnellstmöglich ein Wirtschaftsabkommen zwischen dem Reich und Litauen zu schließen.21 Die außenpolitische Perspektive Lambsdorffs fand allerdings nicht in allen Kreisen Deutschlands Beifall. In Ostpreußen warf man der Politik des ehemaligen Regierungspräsidenten von Gumbinnen,22 Lambsdorff, nicht selten vor, daß sie ohne Rücksicht auf die Lage Ostpreußens und vor allem aus realpolitischen Gründen lediglich die Wahrung der wirtschaftlichen und politischen Interessen der Memelländer verfolge.23 Nach der Souveränitätsübertragung des Memel gebiets auf die alliierten Hauptmächte mehrten sich bei den Litauern die Stimmen, das Memelgebiet endgültig Litauen einzuverleiben. Dagegen aber protestierte die deutsche Bevölkerung und lehnte den Anschluß an Litauen strikt ab.24 Sie führte selbständig eine Abstimmung durch und vertrat die Auffassung, daß nicht nur bei den Deutschen, sondern auch selbst bei den litauischsprachigen Einwohnern im Memelgebiet überwiegend die Meinung vorherrsche, daß das Gebiet, insbesondere aus wirtschaftlichen Gründen, weder Litauen noch Polen eingegliedert werden dürfe. Sie befürchtete die Vernachlässigung der deutschen Wirtschaft und Kultur unter der Verwaltung dieser Oststaaten.25 Im Grunde genommen wurde die Frage der deutsch-litauischen Wirtschaftsregelung stets im Zusammenhang mit der Frage des Memelgebiets zur Diskussion gestellt. Den Bestrebungen der Wirtschaftskreise Ostpreußens im Jahr 1920, einen baldigen Abschluß eines Wirtschaftsabkommens mit dem Memelgebiet zu erzielen, stand die Litauenfrage entgegen. Der Entwurf eines deutsch-memelländischen Wirtschaftsabkommens wurde zwar 21 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2089, Bl. 86, Abschrift, Vertraulich!, Graf Lambsdorff, 3. / 7. Mai 1920 (hier Bl. 101 f.). 22 Graf Lambsdorff hatte als Regierungspräsident von Gumbinnen amtiert, bevor er zum Staatskommissar für das Memelgebiet vom 23. Juli 1919 ernannt wurde. 23 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2089, Bl. 123, Bevollmächtigter der Provinz Ostpreußen beim Reichs- und Staatsministerium, 30.7.1920. 24 Die nordöstlichen Grenzkreise der Provinz Ostpreußen gegen den Anschluß an Russisch-Litauen, Jena 1921. 25 Denkschrift der wirtschaftlichen Körperschaften und Verbände zur Selbständigkeit des Memelgebiets, Memel 1921.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
bereits im Juni 1920 fertiggestellt. Dennoch lehnte der französische Gou verneur es ab, das Abkommen zu unterzeichnen, und zog Verhandlungen mit Litauen vor. Zur selben Zeit war Litauen bestrebt, eine Zollunion mit dem Memelgebiet zustande zu bringen,26 wogegen sich heftiger Widerstand in den ostpreußischen Wirtschaftskreisen breit machte. Im Fall einer litauisch-memelländischen Zollunion mußte der Hafen Königsberg aus dem Handel mit den östlichen Staaten ausgeklammert werden.27 Trotz der wiederholten Forderungen Königsbergs war eine Aufnahme der Wirtschaftsverhandlungen mit Litauen vom Auswärtigen Amt nicht vorgesehen. Unter diesen Umständen versuchte der Oberpräsident auf der zweiten Ostpreußenkonferenz vom Oktober 1920 in Berlin, die Reichsregierung von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Initiative in dieser Frage zu ergreifen.28 Daraufhin erklärte Reichswirtschaftsminister Scholz, die Anträge Ostpreußens auf einen baldigen Abschluß des Handelsvertrags mit Litauen anzunehmen. Scholz akzeptierte auch die Teilnahme der ostpreußischen Sachverständigen an der Verhandlungsvorbereitungen im Reichswirtschaftsministerium – eines der wenigen positiven Ergebnisse der Konferenz.29 Mitte Januar 1921 berief das Reichswirtschaftsministerium fünf Vertreter der Handelskammern zur Beratung der litauischen Angelegenheiten nach Berlin, die im Einvernehmen mit dem Oberpräsidenten von Ostpreußen bestellt wurden.30 Bei diesem Anlaß beantragte die Handelskammer Königsberg u. a. die Normalisierung der Verkehrsverhältnisse zwischen Ostpreußen und Litauen: 1. Die Regelung des Häfenwettbewerbs. Die Wiederherstellung der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Häfen Königsberg und Memel im Sinne des alten deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894.
26 GStA PK, XX. HA. Rep. 2II, Nr. 2089, Bl. 123, Bevollmächtigter der Provinz Ostpreußen beim Reichs- und Staatsministerium, 30.7.1920. 27 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Abschrift, Handelskammer Königsberg an RWiM, 20.9.1922. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2089, Bl. 173, Abschrift, AA an RWiM, 27.1.1921. 28 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 1, Der Bevollmächtigte der Provinz Ostpreußen beim Reichs- und Staatsministerium an OPO, 20.10.1920. 29 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Bl. 39, Protokoll der Besprechung über wirtschaftliche Fragen Ostpreußens vom 26. Oktober 1920 im Reichskanzlerhaus. 30 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 1, Abschrift, RWiM an AA, 12.3.1921. Für die allgemeine Wirtschaftsfrage, Syndikus Fritz Simon (Königsberg) sowie Syndikus Kurt Schauen (Allenstein), für die Sägeindustrie, Eugen Laaser (Tilsit), für die Zellstoffindustrie, Kommerzienrat Dessauer (Berlin), für den Flachshandel, Max Segalowitz (Königsberg). Simon hatte sich um den Abschluß des alten deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 besonders verdient gemacht. Vor allem das Zustandekommen des Schlußprotokolls zu Artikel 19, das dem Königsberger Hafen eine Sonderstellung im Rußlandgeschäft eingeräumt hatte, ging damals auf seine Initiative zurück.
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)261
2. Die Regelung des Schiffahrts- und Flößereiverkehrs auf der Memel, insbesondere die Freigabe der Transitflößerei.31 Im Gegensatz zum schnellen Eingreifen Ostpreußens mußte man jedoch noch über zwölf Monate bis zur Verhandlungsaufnahme mit Litauen warten. Die Alliierten hatten bisher noch nicht den Staat Litauen de jure anerkannt. Mit Rücksicht darauf hielt Kowno es für angebracht, sich bei der Annährung an Berlin vorsichtig zu verhalten, um seine Stellung gegenüber den Alliierten nicht zu präjudizieren.32 Auch war das Auswärtige Amt nicht geneigt, seine politischen Interessen den Wirtschaftsverhandlungen unterzuordnen. So vertrat die deutsche diplomatische Vertretung in Kowno den Standpunkt, daß das Reich wegen seiner marginalen Interessen an der litauischen Wirtschaft keineswegs einen baldigen Abschluß des Handelsvertrags benötige.33 Im Gegensatz zum alten russischen Kaiserreich war das kleine Agrarland Litauen für die deutsche Wirtschaft von geringer Bedeutung. Der litauische Anteil am gesamten Außenhandel Deutschlands lag, auch nach dem Abschluß des ersten Handelsvertrags, lediglich bei 0,5 % (im Jahresdurchschnitt von 1925 bis 1928). Hingegen war Deutschland der wichtigste Handelspartner Litauens. Der Anteil Deutschlands überstieg 50 % der Einfuhr und Ausfuhr Litauens (im Jahresdurchschnitt des gleichen Zeitraums).34 Litauen exportierte landwirtschaftliche Erzeugnisse bzw. halbfertige Waren und importierte hauptsächlich deutsche Industrieprodukte und Maschinenteile.35 Die deutsche Industrie hatte insofern kein großes Interesse am litauischen Absatzmarkt, der infolge der mangelnden Kaufkraft nur von geringer Bedeutung war. Vor diesem Hintergrund war es verständlich, daß sich das Auswärtige Amt in der Nachkriegszeit sich nicht beeilte, die Wiederaufnahme des Wirtschaftsverkehrs mit Litauen vor der Regelung der politischen Angelegenheiten zu behandeln. Gegen die Auffassung des Auswärtigen Amts erhob jedoch die Handelskammer Königsberg Protest. Mit Rücksicht auf die Schlüsselstellung Litau31 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 1, Abschrift, IHK Königsberg an RWiM, 3.3.1921. 32 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2089, Bl. 230, OPV Frankenbach an OPO, 23.5.1921. 33 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 1, Abschrift, Deutsche Diplomatische Vertretung für Litauen an AA, 1.3.1921. 34 RT. 1928, II a 2, S. 18 f. Im Jahr 1923 erreichte der Import aus Deutschland 80,9 % der gesamten litauischen Importe (im Wert). Vgl. Table 4 in: Hiden (1987), S. 201. 35 Kiebeler (1934), S. 198. Siehe auch Gert von Pistohlkors: Estland, Lettland und Litauen 1920–1940, in: Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, hg. v. Wolfram Fischer, Stuttgart 1987, S. 759.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
ens im Transitverkehr nach Rußland forderte sie wiederholt eine baldige Verhandlungsaufnahme.36 Das Reichswirtschaftsministerium und das Preußische Handelsministerium traten ausdrücklich diesem Standpunkt bei.37 Im Juli 1921 sandte der Oberpräsident die bedenkliche Nachricht nach Berlin, daß die Schiffahrt auf der Memel, der Information des Reichswasserschutzes zufolge, durch Litauen gravierend behindert würde. Diese Schwierigkeiten seien lediglich durch eine vertragliche Regelung der Schiffahrtsangelegenheiten zu beseitigen. Daher bat der Oberpräsident das Handelsministe rium, das Auswärtige Amt dringend zur Verhandlungsaufnahme mit Litauen zu veranlassen.38 Trotz der wiederholten Versuche seitens Ostpreußen gelang es Berlin jedoch nicht, die Litauer an den Verhandlungstisch zu bringen.39 Der Fragenkomplex von Memel und Wilna behinderte die Wiederherstellung des deutsch-litauischen Wirtschaftsverkehrs, da nicht nur die Interessen der Anliegerstaaten an der Memel, sondern auch die der Großmächte eine wichtige Rolle spielten. Am 12. Juli 1920 wurde der sowjetisch-litauische Friedensvertrag von Moskau geschlossen, was die Annährung beider Staaten deutlich machte. Sowjetrußland, das sich damals im Kriegszustand mit Polen befand, erkannte in diesem Vertrag das Wilnagebiet als litauisch an. Die Moskauer Regierung betrachtete die mit dem Handstreich von Żeligowskis Armee erfolgte Besetzung des Wilnagebiets als nicht rechtmäßig. Sie akzeptierte in der Folgezeit niemals die Souveränität Polens in Wilna. Die Versuche des Völkerbunds, den Wilnastreit friedlich beizulegen, erschienen deshalb in Kowno und Moskau als polenfreundlich. Sie standen dem Völkerbund einstimmig kritisch gegenüber. Das Hymans-Projekt,40 das auf Vermittlung des Völkerbunds im Jahr 1921 eingeleitet worden war, sah die Gründung einer Realunion zwischen Polen und Litauen vor. Obwohl das Projekt eigentlich auf die Lösung der Wilnafrage abzielte, faßte man dabei außerdem die zukünftige Behandlung des Memelgebiets ins Auge. Demnach sollten nicht nur Litauen, sondern auch Polen Sonderrechte im Memeler Hafen sowie Verkehrsfreiheit auf der Memel eingeräumt werden.41 Trotz mehrmonatiger Verhandlungen scheiterte das Projekt schließlich an den 36 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Abschrift, IHK Königsberg an RWiM, 25.4.1921. 37 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Abschrift, RWiM an AA, 13.5.1921. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 1, Abschrift, RWiM an OPV, 13.5.1921. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 1, PreußHM an OPV, 13.5.1921. 38 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2089, Bl. 220, OPO an PreußHM, 8.7.1921. 39 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, OPV an OPO, 5.1.1922. 40 Paul Hymans (1865–1941) war Außenminister Belgiens und erster Vorsitzender des Völkerbunds. Vgl. Paul Hymans: Mémoires, hg. von Fans van Kalken und John Bartier, Brüssel 1958. 41 Arthur Welz: Das Memelland in der gegenwärtigen Übergangsperiode. Eine historisch-staatsrechtlich-diplomatische Betrachtung, Diss. Königsberg 1922, S. 160 f.
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zwischen beiden Seiten bestehenden Meinungsverschiedenheiten, insbesondere an der Ablehnung Litauens.42 Auch unterstützte das Moskauer Außenkommissariat ausdrücklich die litauische Haltung.43 Im Januar 1922 erklärte der Völkerbund, das seit April 1921 eingeleitete Vermittlungsverfahren einzustellen.44 Im April 1922 forderte Ministerpräsident Galvanauskas auf der Weltwirtschaftskonferenz von Genua die Westmächte dazu auf, im Zusammenhang mit der Festsetzung der Staatsgrenze die Republik Litauen de jure anzuerkennen, insbesondere unter Zusicherung der künftigen Übertragung der Souveränität des Memelgebiets auf Litauen. Nicht zuletzt sollte die polnische Armee sofort aus dem Wilnagebiet abgezogen werden. Andernfalls, so drohte er, werde Litauen auf der Flößereisperre beharren. Seine Ausführungen fanden freilich bei den Westmächten keine Sympathien, so daß er sich isoliert sah.45 Durch diesen diplomatischen Fehlschlag geriet Litauen in eine kritische Situation. Ende April 1922 signalisierte der litauische Ministerpräsident dem Außenminister Rathenau, der sich zu diesem Zeitpunkt in Genua aufhielt, die Bereitschaft zu einem baldigen Eintritt in Handelsvertragsverhandlungen mit Berlin. Galvanauskas schlug vor, an Polen vorbei die wirtschaftliche Brücke zwischen Deutschland und Rußland über die Randstaaten zu bilden.46 Der kurz zuvor erfolgte Abschluß des Rapallo-Vertrags legte ihm den Gedanken nahe, sein Land als Bindeglied in den deutsch-russischen Handelsverkehr einzuschalten. Trotz dieser positiven Perspektive wurde jedoch in der Frage der deutsch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen bis November 1922 kein wesentlicher Fortschritt erzielt. Obwohl Moskau und Kowno in der Wilnafrage einstimmig gegen Polen eingestellt waren, war dennoch das russisch-litauische Verhältnis vor allem wegen der Transitfrage nicht völlig problemlos. Die Sperrpolitik Litauens hatte zur Folge, daß die wirtschaftlichen Interessen aller Anliegerstaaten an der Memel beeinträchtigt waren. Der sowjetisch-litauische Friedensvertrag 42 Zum Hymans-Projekt siehe vor allem Senn (1966), S. 66 ff. Vytautas Žalys: The Return of Lithuania to the European Stage, in: Alfonsas Eidintas / Vytautas Žalys / Alfred Erich Senn: Lithuania in European Politics. The Years of the First Republic, 1918–1940, hg. von Edvardas Tuskenis, New York 1998, S. 59–110 (hier S. 78 ff.). Siehe auch die Dissertationen von Anysas (1934), S. 25 ff. sowie Gießinger (1930), S. 27 ff. 43 DVP SSSR, Bd. IV, Dok. 221, Note des Außenkommissars der RSFSR Čičerin an die litauische Republik, 15.9.1921, S. 338 f. Vgl. Jena (1980), S. 104 ff. Senn (1966), S. 80. 44 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. II (1922), Nr. 1, S. 247 f. 45 Senn (1966), S. 94 f. 46 ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 75, Ministerialdirektor Frhr. v. Maltzan, 27.4.1922, S. 156 ff. Vgl. Hiden (1987), S. 122.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
von 1920 räumte Rußland die Rechte des Transitverkehrs durch Litauen ein. Der Vertrag bestimmte außerdem das Wilnagebiet als litauisch.47 Im Gegensatz dazu ließ der sowjetisch-polnische Friedensvertrag von 1921 die Souveränitätsfrage im Wilnagebiet weiterhin offen. Polen räumte dabei Rußland die Rechte der Transitfreiheit durch Polen ein. Dadurch gelang es Rußland, die Genehmigung Polens zur Transitflößerei durch das von Polen besetzte Wilnagebiet zu erlangen. Auf Grund dieser Rechtsverhältnisse forderte Anfang Mai 1922 die Sowjetregierung zusammen mit Weißrußland Litauen dazu auf, den Durchgang ihrer Transithölzer bis nach Ostpreußen zuzulassen.48 Die litauische Regierung lehnte diesen Antrag unter Hinweis darauf ab, daß Litauen sich im Kriegszustand mit Polen befinde und deshalb die zwischen Litauen und dem Wilnagebiet gezogene Demarkationslinie nicht öffnen könne. Die Aufhebung der Grenzsperre würde zu einer stillschweigenden Anerkennung des bestehenden Zustands führen.49 Kowno zufolge habe die Sowjetregierung selbst mit dem Friedensschluß mit Polen die russisch-litauische Grenznachbarschaft preisgegeben.50 Moskau sah hingegen die Maßnahme Litauens als einen unfreundlichen Akt gegen Rußland und drohte mit Wirtschaftssanktionen: „Die russische Regierung, die diese Tatsache mit Bedauern konstatiert, wird sich gezwungen sehen, in ihren weiteren wirtschaftlichen Beziehungen zu Litauen der von der litauischen Regierung eingenommenen Haltung Rechnung zu tragen und die Konsequenzen daraus zu ziehen.“51 Es gelang der Sowjetregierung jedoch nicht, Litauen zur Freigabe der Memelflößerei zu veranlassen. Im Sommer 1922 machte die Botschafterkonferenz für die De-jure-Anerkennung des litauischen Staates zur Bedingung, die Bestimmungen des Versailler Vertrags sowie des Barcelona-Abkommens, soweit sie die Transit rechte auf der Memel betrafen, zu achten.52 Hingegen forderte die litauische 47 Art. 13 (Regelung des Transitverkehrs). Der ins Deutsche übersetzte Vertragstext des Friedensvertrag zwischen RSFSR und Litauen vom 12. Juli 1920 befindet sich in: Rußlands Friedens- und Handelsverträge 1918 / 1923. Auf Grund amtlichen Materials aus dem Russischen übertragen von Heinrich Freund mit einer Einleitung von Paul Heilborn, Leipzig und Berlin 1924, S. 115 ff. 48 BA, R 5 / 404, Abschrift, Deutsche Diplomatische Vertretung für Litauen an AA, 3.5.1922. Vgl. auch „Rußland fordert unbeschränkten Transit durch Litauen“, in: OEM, 2. Jg. / Heft 16, 15.5.1922, S. 9. Darin wurde auch ein Auszug der russischen Note vom 3. Mai 1922 veröffentlicht. 49 Ebd. 50 BA, R 5 / 404, Abschrift, Der bevollmächtigte Vertreter der RSFR für Litauen an AA, 13.5.1922. 51 Ebd. 52 Über die Auseinandersetzung zwischen der Botschafterkonferenz und Litauen um die De-jure-Anerkennung besonders siehe: Rutenberg (1928), S. 124 ff.
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)265
Regierung die alliierten Hauptmächte dazu auf, die Staatsgrenze Litauens einschließlich des Memelgebiets festzulegen. Dabei nahm Litauen insbesondere auf die Erklärung von Clemenceau vom 16. Juni 1919 Bezug.53 Nach dem wiederholten Notenaustausch zwischen Paris und Kowno ging die litauische Regierung schließlich auf den Wunsch der Alliierten ein. Am 20. Dezember 1922 erklärte die Botschafterkonferenz, den Staat Litauen auf Grund der litauischen Annahme von Artikel 331 ff. des Versailler Vertrags54 de jure anzuerkennen, allerdings ohne Festsetzung der litauischen Staatsgrenze.55 Entgegen der Erwartung blieb die Transitflößerei auf der Memel allerdings weiterhin unterbunden, da Litauen an seiner Grenzsperre gegen Polen festhielt. Exkurs: Die Auswirkung des Wilnastreits auf die ostpreußische Holzwirtschaft56 Bis zur zweiten Teilung Polens floß der Oberlauf des Njemen durch weißrussisches und litauisches Gebiet, das zum Großfürstentum Litauen gehörte. Der Unterlauf der Memel ab Schmalleningken verlief ausschließlich durch Ostpreußen. Das Großfürstentum Litauen befand sich seit 1569 in der Lubliner Union mit Polen. Infolge der polnischen Teilung von 1772 wurde das jenseits von Düna und Dnjepr liegende ostslawische Gebiet des Großfürstentums Litauen dem russischen Kaiserreich zugeteilt. Der Hauptteil des litauischen Gebiets fiel sodann bei der dritten polnischen Teilung von 1795 an Rußland.57 Seitdem wurde der Fluß bis zum Ausbruch des diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., Note de Son Excellence M. Jurgutis, Ministre des Affaires étrangères de Lithuanie, à Son Excellence M. Poincaré, Président de la Conférence des Ambassadeurs, 4.8.1922, S. 53 f. 54 Es ging um die Bestimmungen über den Verkehr auf der Memel. 55 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., Note collective de la Conférence des Ambassadeurs adressée à Son Excellence M. Galvanauskas, Président du Conseil, Ministre des Affaires étrangères de Lithuanie, 20.12.1922, S. 57. 56 Hierzu handelte es sich in erster Linie um die Interessen der Holzindustrie und des Holzhandels im nördlichen Ostpreußen, vor allem im Memel- und Pregelstromgebiet (Tilsit, Memel sowie Königsberg). Dagegen war die Holzwirtschaft im südlichen Ostpreußen (Allenstein) auf die aus den dortigen Wäldern geschlagenen Hölzer angewiesen. Vgl. Adolf v. Batocki / Gerhard Schack: Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreußen. Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsentwicklung und Erwerbsgelegenheit, Jena 1929. Über die Holzwirtschaft Ostpreußens siehe Otto Höhn: Der ostpreußische Holzhandel nach dem Kriege, Jena 1925. Bruno Pfeifer: Holzhandel und Holzindustrie Ostpreußens, Jena 1918. Hans Friederichs: Ostpreußens Holzhandel und Holzindustrie. Die gegenwärtige Lage im Vergleich zur Vorkriegszeit, Berlin und Königsberg 1931. Siehe auch Tschirner (1920). 57 Hellmann (1966), S. 93 ff. 53 Documents
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Ersten Weltkriegs von Preußen und Rußland verwaltet. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Oberlauf des Njemen in drei Staaten, das sowjetische Weißrußland, Polen sowie Litauen aufgeteilt. Durch den Versailler Vertrag 1919 wurde der Unterlauf der Memel zum ersten Mal in der Geschichte als Grenze zwischen Deutschland und dem aus Deutschland abgetretenen Memelgebiet bestimmt. Dieser Wandel der Memel zum Grenzstrom hemmte die Entwicklung des Handelsverkehrs erheblich.58 Mit der Übertragung der Souveränität im Memelgebiet von den Alliierten auf Litauen am 25. August 1925, als die Memelkonvention völkerrechtlich verbindlich wurde, wurde die deutsch-memelländische Grenze abermals zur deutsch-litauischen Grenze, als welche sie allerdings bereits seit dem Einmarsch Litauens ins Memelgebiet im Januar 1923 de facto angesehen worden war. Die Schwierigkeiten des Handelsverkehrs auf der Memel ergaben sich aber nicht nur aus diesen Grenzverhältnissen. Der Flößereiverkehr, auf den die ostpreußische Holzwirtschaft angewiesen war, wurde nach dem Ersten Weltkrieg durch den territorialen Streit zwischen Litauen und Polen um das Wilnagebiet unterbrochen. Trotz wiederholter Versuche gelang es dem Völkerbund jedoch nicht, den polnisch-litauischen Streit beizulegen, so daß die Transitflößerei aus der UdSSR und Polen auf der Memel während der Weimarer Republik nicht mehr wiederhergestellt werden konnte. Zurecht schrieb Kurt Forstreuter 1931: „Unter den durch neue Grenzen zerschnittenen Verkehrslinien nimmt die Memel insofern eine besondere Stelle ein, als an der Wilnagrenze noch überhaupt kein Verkehr möglich ist. Der einst blühende Memelhandel ist für den Osten ein zerstörtes Gebiet.“59 Ostpreußen war nicht reich an Wäldern. Von der gesamten Fläche der Provinz (1913: 3.700.163 ha) waren nur 17,7 % (660.841 ha) von Wald bedeckt. Im Vergleich zu den anderen preußischen Provinzen stand dieser Prozentsatz erst an elfter und vorletzter Stelle. Vergleicht man die Zahlen mit denen anderer Bundesstaaten des alten Reichs, kommt die nachteilige Stellung Ostpreußens noch deutlicher zum Vorschein. Im Gegensatz zu den %), Bayern (32,9 %), Württemberg waldreichsten Staaten, Baden (39,1 (31,0 %) war Ostpreußen deshalb als eines der waldärmsten Gebiete in Deutschland anzusehen.60 Dennoch nahm die Holzwirtschaft in der Wirtschaft Ostpreußens eine besondere Stellung ein. Beim Holzbezug war Ostpreußen ausschließlich auf die Flößerei aus Rußland angewiesen. Die Me58 Ernst Ludwig Siehr: Ostpreußen nach dem Krieg, in: Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande, Königsberg 1931, S. 656–672 (hier S. 665). 59 Forstreuter (1931), S. 4. Zur Landschaft an der Memel in den 20er und 30er Jahren siehe Walter Engelhardt: Ein Memelbilderbuch. Mit einer Einführung von Ernst Wiechert, Berlin 1935. 60 Pfeifer (1918), S. 1 ff.
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)267
mel / Njemen, die in Weißrußland, südlich von Minsk, entspringt und in die Ostsee fließt, stellte eine der unerläßlichen Produktionsbedingungen der ostpreußischen Wirtschaft dar. Das ca. 976.000 km2 große Einzugsgebiet des Memel- / Njemenstroms,61 das zum Hinterland Ostpreußens gehörte, erstreckte sich im Norden bis fast auf die Höhe von Libau, im Osten bis in die Gegend von Minsk und im Süden bis zum Wygonowski-See südlich des 53. Breitengrads.62 Davon entfielen auf das deutsche Einzugsgebiet ca. 2.625 km2. Die Memel / Njemen floß südlich von Minsk über Grodno – Kowno – Schmalleningken – Tilsit – Ruß – Kurisches Haff. Der größte Nebenfluß der Memel, die Wilja, auf der die Hölzer aus dem Gebiet nördlich von Minsk geflößt wurden, vereinigte sich über den Wilna-Kanal in Kowno mit der Memel / Njemen. Ihre Gesamtlänge beträgt 880 km. Davon entfielen 110 km auf Preußen. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden ca. 200.000 Festmeter Rundholz pro Jahr aus dem russischen Kaiserreich über die preußische Flußgrenze Schmalleningken an der Memel in die Provinz Ostpreußen geflößt. In erster Linie war der Hafen Memel in der Holzausfuhr engagiert,63 aber auch der Hafen Königsberg konnte durch die gute Kanalverbindung (den Seckenburger Kanal sowie den Großen FriedrichsgrabenKanal) die Memelflößerei an sich ziehen. Die Prüfung der Flößereihölzer fand hingegen in Tilsit statt. Die Stadt Tilsit, die sich auf beiden Ufern der Memel ausdehnte, war ein Stapelplatz für Hölzer, die auf dem Fluß aus Rußland ankamen. Für die Vermessung und Einteilung der Flößereihölzer war das Holzmeßamt zu Tilsit zuständig, das 1895 auf gemeinsame Initiative der Vorsteherämter der kaufmännischen Kooperationen (Kaufmannschaft) Königsberg, Tilsit sowie Memel gegründet worden war.64 Der Vergleich der Gesamtholzeinfuhr Ostpreußens vor und nach dem Ersten Weltkrieg macht den Strukturwandel deutlich. Während 1913 ca. 95,5 % (1.327.395 t) der Gesamtholzeinfuhr Ostpreußens (1.387.297 t) über die Flußgrenzstation Schmalleningken auf der Memel transportiert worden war, verringerte sich bis 1925 der Anteil des Binnenwassertransports auf ca. 21,5 % (179.409 t) der Gesamtholzeinfuhr Ostpreußens (831.759 t). Dabei 61 Willoweit
(1969), S. 16. Deuticke: Ostpreußen und der polnische Korridor, Jena 1921, S. 29. 63 Jahn (1926), S. 36 ff. sowie 70 f.; Willoweit (1969), S. 855. 64 Pfeifer (1918), S. 60. Vgl. Jahresbericht des Vorsteheramts der Korporation der Kaufmannschaft zu Tilsit 1907, S. 56–63. Dabei wurde die Satzung und Geschäftsordnung abgedruckt. § 1 der Satzungen des Holzmessamtes zu Tilsit: „Die Vorsteherämter der kaufmännischen Korporationen zu Königsberg i. Pr., Tilsit und Memel errichten zur Vermessung von Hölzern ein gemeinsames Messamt in Tilsit unter der Bezeichnung: „Holzmessamt Tilsit.“ Dieses Holzmessamt besteht: 1. aus einer ständigen Aufsichtskommission, 2. aus einem vereidigten Obermesser und der nötigen Anzahl weiterer Holzmesser.“ 62 Wilhelm
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
fiel die Gesamtholzeinfuhr Ostpreußens um 40 % gegenüber dem Vorkriegsstand. Hingegen steigerte sich der Anteil des Eisenbahntransports an der Gesamtholzeinfuhr Ostpreußens von 4 % (1913: 59.902 t) auf 63,9 % (1925: 531.902 t). Zu beachten ist insbesondere, daß die Rundholzeinfuhr, für die der Eisenbahntransport eher ungeeignet war,65 nach der Absperrung der polnisch-litauischen Flußgrenze auf der Memel dramatisch sank. Die gesamte Rundholzeinfuhr Ostpreußens fiel von 865.073 t (1913) auf 93.371 t (1925), was einen Rückgang um 89,2 % gegenüber dem Vorkriegsstand bedeutete.66 Durch den Wandel der Versorgungsstruktur geriet die ostpreußische Holzwirtschaft in eine schwere Krise. Infolge des Rundholzmangels sowie des Bahntransports erhöhten sich die Anschaffungskosten erheblich. Daraufhin verlor die ostpreußische Holzindustrie ihre Konkurrenzfähigkeit. Sie war von Stillegung bedroht. Unter den veränderten Transportbedingungen nach dem Ersten Weltkrieg spielten die Eisenbahntariffragen eine wesentliche Rolle. In der Vorkriegszeit kostete zum Beispiel der Flößereitransport für ein Durchschnittsfloß von 400 Festmetern (363,6 t) auf der Memel von Wilna über Kowno, Schmalleningken, Tilsit bis Königsberg ca. 750 RM. Das bedeutete ca. 2 RM pro Tonne. Nach dem Krieg war die Strecke zwischen Wilna und Kowno aufgrund des polnisch-litauischen Wilnakonflikts unpassierbar. Ersatzweise wurde die Eisenbahn für den Holztransport aus Polen und Rußland eingesetzt. Infolge des höheren Kostenaufwands und der für den Eisenbahntransport ungeeigneten Länge des Rundholzes konnte die ostpreußische Sägeindustrie nicht von diesem Ersatzverkehr profitieren. Die Holzbeförderung aus dem Gebiet des polnischen Wilnakorridors bis Königsberg brachte außerdem die Zahlung zweier verschiedener Eisenbahntarife seitens der polnischen und der deutschen Eisenbahnverwaltungen mit sich. Zum einen war es erforderlich, den polnischen Tarif vom Wilnagebiet bis / Prostken an die polnische zur deutsch-polnischen Grenzstation Grajewo Eisenbahnverwaltung zu zahlen. Zum anderen waren die Kosten für den weiteren Frachtweg von der Grenzstation Grajewo / Prostken bis Königsberg an die Reichsbahn zu bezahlen. Zudem betrieb die polnische Staatseisenbahn eine Verkehrspolitik, die Rundholzbeförderung auf der Strecke von Wilna (Polen) über Thorn (Polen) bis zum Hafen Danzig bzw. Gdingen (ca. 880 km) eisenbahntariflich günstiger zu behandeln als auf der Strecke von Wilna über die deutsch-polnische Grenzstation Grajewo / Prostken bis zum 65 Friederichs
(1931), S. 28. S. 16 ff. Die statistischen Angaben in Festmeter wurden von Verfasser in Tonnen (Rundholz: 900 kg pro Festmeter, bzw. 1,1 Festmeter pro Tonne) umgerechnet. Nach Tschirner vermaß das Holzmeßamt in Tilsit an Hölzern der russischen Herkunft 2.212.323 Festmeter. Siehe hierzu Tschirner (1920), S. 11 f. 66 Ebd.,
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)269
Hafen Königsberg (ca. 487 km).67 Dagegen wurde die Absendung nach Ostpreußen von allen Vergünstigungen ausgenommen. Ein Vergleich z. B. der Frachten der Rundholzbeförderung aus dem Wilnagebiet nach den Häfen Danzig bzw. Gdingen und Königsberg zum Stand von 1929 macht die nachteilige Stellung Königsbergs deutlich. 1. Von Wilna über Thorn bis zum Hafen Danzig bzw. Gdingen (880 km) war das Holz einheitlich auf der polnischen Staatseisenbahn zu befördern. Im Fall der Anwendung der polnischen Hafenausnahmetarife kostete dieser Transport 7,50 RM pro Tonne. Beim polnischen Ausnahmetarif D 2, der für polnisches Holz zur Verarbeitung im Inlande bestimmt war, wurden für die Beförderung bis zum Hafen Danzig 7,60 RM pro Tonne fällig. 2. Auf der Relation Wilna über Grajewo / Prostken bis zum Hafen Königsberg (487 km) war für die Strecke von Wilna bis zur polnisch-deutschen Grenzstation Grajewo / Prostken der polnische Ausnahmetarif D 1, der polnisches Holz zur Ausfuhr bestimmte, anzuwenden. Zu diesem Tarif kostete die Beförderung von Wilna bis Grajewo / Prostken 7,60 RM pro Tonne. Hinzu kamen für die Beförderung von der Grenzstation Grajewo / Prostken bis zum Hafen Königsberg auf der deutschen Reichsbahn 4 RM pro Tonne. Der Tarif der Reichsbahn stellte hierbei allerdings einen Ermäßigungstarif dar. Insgesamt kostete somit der Holztransport von Wilna bis zum Hafen Königsberg 11,60 RM pro Tonne.68 Es läßt sich aus diesen Zahlen deutlich erkennen, wie schwer die Lage der Holzindustrie in Königsberg und Tilsit war. In den 20er Jahren war die ostpreußische Holzwirtschaft zudem einem außerordentlichen Wirtschaftskampf gegen Polen und die Freie Stadt Danzig ausgesetzt. Die Königsberger Handelskammer berichtete 1925 über die Lage der Sägewerksindustrie, daß 67 Albert v. Mühlenfels: Ostpreußens, Danzig und der polnische Korridor als Verkehrsproblem, Berlin und Königsberg 1930, S. 56. Kurt Fröhlich: Die Tarifpolitik der Deutschen Reichsbahn unter besonderer Berücksichtigung Ostpreußens, Diss. Königsberg, 1927, S. 116 f. Siehe auch den Bericht der deutschen Eisenbahnverwaltung; Ludwig Holtz: „Eisenbahnfrachten von den polnischen Holzversandstationen nach Königsberg und Danzig nach dem Stande vom 1. August 1923“, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 63. Jg, Nr. 34, 23.8.1923, S. 550 f. 68 Friederichs (1931), S. 40 ff. Die Einführung von Ausnahmetarifen der polnischen Bahnverwaltung für die Häfen Danzig und Gdingen waren völkerrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die deutschen Waren mit der polnischen auf den in Frage kommenden polnischen Schienen eisenbahntariflich gleichbehandelt werden. Bei den internationalen Übereinkommen, wie IÜG sowie Genfer Abkommen über die internationale Rechtsordnung der Eisenbahnen vom 9.12.1923, wurde lediglich jede unterschiedliche Behandlung, die das Merkmal der Mißgunst gegen andere Vertragsstaaten trägt, untersagt. Die Tarifhoheit des Staates wurde unversehrt aufrechterhalten. Siehe: Werner Haustein: Das internationale öffentliche Eisenbahnrecht, Frankfurt am Main 1953, S. 126 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
„ein großer Teil der dortigen Schneidemühlen […], soweit sie sich nicht Holz mit sehr großen Frachtkosten beschafft hatten, zum Stillstand gezwungen [war].“69 Die Tilsiter Handelskammer beschrieb im gleichen Jahr die krisenhafte Situation der Holzwirtschaft: „Die hohen Steuern, die große Zinsenlast bei den Privatbanken und die teueren Frachten, die sich in Ostpreußen ganz besonders auswirken, taten des übrigen, um jeden Verdienst unmöglich zu machen. Viele Werke stellten den Betrieb ein und vermehrten so die Zahl der Erwerbslosen. […] Noch immer ist die Flößerei von Rundholz auf dem Memelstrom von Rußland und Polen durch Litauen nicht freigegeben, was zur Folge hat, daß es den hiesigen Betrieben an dem nötigen Rohmaterial fehlt.“70 Unter diesen Umständen setzte man in Ostpreußen natürlich große Hoffnungen in die Freigabe der Memelflößerei. Für diesen Fall rechnete man mit einer Verringerung der Transportkosten um 57 % gegenüber den jeweiligen Eisenbahnfrachten,71 was aber trotz aller Bemühungen der ostpreußischen Wirtschaftskreise sowie des Oberpräsidenten in der Weimarer Republik nie erreicht wurde. 2. Die Aufnahme der Verhandlungen über den ersten Handelsvertrag Der Termin für den Beginn der deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen in Dresden wurde nun auf den 4. November 1922 festgesetzt.72 Trotz der bevorstehenden Verhandlungsaufnahme bestand aber zwischen den deutschen Ressorts noch keine übereinstimmende Sichtweise. Die Mutmaßung, daß die Alliierten, vor allem bei ihrer De-jure-Anerkennung Litauens, diesem Staat vorgeschlagen hätten, das Memelgebiet als Kompensation für Wilna an Litauen zu übergeben,73 hinderte die Wirtschaftsressorts daran, die Regelungsgegenstände des Handelsvertrags zu präzisieren. Am 1. November fand eine Besprechung der deutschen Ressorts im Auswärtigen Amt unter Teilnahme des Gesandten in Kowno, Franz v. Olshausen, statt. 69 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1925, Königsberg 1926, S. 31. 70 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Tilsit (für das Stromgebiet der Memel) für 1925, S. 18 ff. 71 Friederichs (1931), S. 42. 72 BA, R 5 / 404, Vermerk vom 6.11.1922 über die Besprechung im AA vom 1.11.1922 (Handschrift von Ebhardt). Es stand in Aussicht, die Wirtschaftsverhandlungen mit Polen und Tschechoslowakei zur selben Zeit in Dresden zu führen. 73 ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 69, Gesandtschaft v. Dirksen an die Botschaft in Paris, 22.4.1922, S. 147.
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)271
Dabei hielt der Verhandlungsvorsitzende, Ministerialdirektor v. Stockhammern (AA), einen Vortrag über die Verhandlungsleitlinien. Demnach sollte die gegenseitige Meistbegünstigung als Grundlage der Wirtschaftsbeziehungen beider Staaten erzielt werden. Was die Frage des Memelgebiets anging, machte Ministerialrat Sjöberg (Reichswirtschaftsministerium) darauf aufmerksam, daß man einem möglichen Anschluß des Memelgebiets an Litauen, ob in Form einer Zollunion oder auf andere Weise, Rechnung tragen solle.74 Hinsichtlich der Verkehrsangelegenheiten beabsichtigte jedoch das Auswärtige Amt die Frage der polnischen und russischen Transitflößerei, die ein Kernanliegen Ostpreußens bildete, zunächst von den Verhandlungsgegenständen auszunehmen. Entsprechend waren im Handelsvertrag lediglich allgemeine Verkehrs- und Transitangelegenheiten zu behandeln.75 Seine Entschließung wurde aus politischen Gründen getroffen, weil Litauen die Grenzsperre als Repressalie gegen Polen und die Alliierten verhängt hatte. Die Stellungnahme des Auswärtigen Amts wurde außerdem durch die Reichsbahnverwaltung unterstützt, indem sie sich aus finanziellen Gründen gegen die Freigabe der Transitflößerei wandte. Dem Reichsverkehrsministerium zufolge seien die Hölzer infolge der Absperrung der Flußgrenze ersatzweise auf dem Bahnwege nach Ostpreußen abtransportiert worden. Eine Freigabe der Flößerei hätte daher wahrscheinlich zum Ausfall von Eisenbahnfrachteinnahmen geführt.76 Unter diesen Umständen wurde die Frage der Transitflößerei bei der ersten Dresdner Verhandlung mit Litauen Anfang November 1922 von der deutschen Seite tatsächlich nicht angeschnitten. Das Vorgehen der deutschen Delegation in Dresden rief in Ostpreußen umgehend Widerstand hervor. Gleich nach der Verhandlungsaufnahme erhob der Oberpräsident Einwand und beantragte beim Auswärtigen Amt, im Interesse der ostpreußischen Holzindustrie die Frage der Transitflößerei ausdrücklich in die Handelsver-
74 BA, R 5 / 404, RVM, Vermerk vom 6.11.1923 über die Besprechung im AA vom 1.11.1923, (Handschrift von Ebhardt), 6.11.1922. 75 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, OPV, Aktennotiz über die Besprechung im AA vom 1.11.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Abschrift, RWiM an AA, 27.10.1922. Das im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt aufgestellte Verhandlungsprogramm des Reichswirtschaftsministeriums vom 27. November sah zunächst nicht vor, die Freigabe der Transitflößerei aus Polen und Rußland zum Verhandlungsgegenstand mit Litauen zu machen, während die Schif�fahrt auf dem Njemen verhandelt werden sollte. Diese Taktik wurde seitens der Holzindustrie Ostpreußens scharf kritisiert. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 39, Verein Ostpreußischer Holzhändler und Holzindustrieller (Vorsitzender Adolf Stepath in Königsberg) an OPO, 7.12.1922. 76 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 4, Telegrammbrief, RVM an OPO sowie Reichsbahndirektion Königsberg, 19.10.1922.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
tragsverhandlungen aufzunehmen.77 Das Amt verhielt sich dennoch weiterhin ablehnend und beharrte auf seinem Standpunkt, daß die Frage der Transitflößerei aus Polen und Rußland nicht durch bilaterale Verhandlungen zwischen Deutschland und Litauen geregelt werden könne. Diese Frage, die wesentlich eine Frage des polnisch-litauischen Grenzstreits darstellte, sei als hochpolitische Angelegenheit zu betrachten. Daher dürfe sie lediglich im Zusammenhang mit allen Anliegerstaaten, vor allem Rußland, Polen, Litauen, Deutschland und ggf. auch mit den alliierten Hauptmächten, behandelt werden.78 Im Gegensatz dazu hatten aber das Reichswirtschaftsministerium sowie das preußische Handelsministerium volle Sympathie für die Lage Ostpreußens und unterstützten seine Wünsche. In der Sitzung beim Reichswirtschaftsministerium am 22. Dezember gelang es den beiden Ministerien schließlich, das Auswärtige Amt dazu zu überreden, bei der nächsten Verhandlung mit Litauen die Frage der Transitflößerei aus Polen und Rußland zur Debatte zu stellen.79 Die Versuche Deutschlands zur Freigabe der Memelflößerei stießen jedoch auf Hindernisse. Am 3. Januar 1923 teilte Stockhammern den deutschen Wirtschafts- und Verkehrsinstanzen den neuesten Verhandlungsstand mit. Demnach lehnte Litauen sowohl die im Versailler Vertrag vorgesehene Internationalisierung der Memel (Artikel 342) als auch die Aufnahme der Gleichberechtigungsklausel für die Schiffahrt und Flößerei in den Handelsvertrag strikt ab.80 3. Meistbegünstigung oder Parität? Die von Deutschland beantragte Freiheit des Schiffahrts- und Flößereiverkehrs auf der Memel setzte die Gleichberechtigung zwischen dem deutschen und litauischen Verkehr voraus. Die Gewährung der Meistbegünstigung in Litauen war damals für den deutschen Verkehr fast bedeutungslos. Litauen hatte bisher dem Ausland überhaupt keinerlei Begünstigungen auf der Me77 BA, R 5 / 404, OPO an RVM, 28.12.1922. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 45, Entwurf, OPO an RVM, 28.12.1922. Zur Stellungnahme der Handelskammern siehe auch GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 15, Handelskammer Tilsit an OPO, 8.11.1922. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 17, Handelskammer Königsberg an OPO, 24.11.1922. 78 BA, R 5 / 404, RVM, Vermerk vom 6.11.1923 über die Besprechung im AA vom 1.11.1923, (Handschrift von Ebhardt), 6.11.1922. 79 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, Aktenvermerk, OPV (Frankenbach), 23.12.1922. 80 BA, R 5 / 404, Aktenvermerk von Ebhardt über die Besprechung mit Ministerialdirektor v. Stockhammern im AA, Eingang vom 3.1.1923. BA, R 3101 / 7568, RWiM (Sjöberg) an RWiM (Abteilung III), 15.1.1923.
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mel eingeräumt. Deshalb war für Deutschland unbedingt die Aufnahme der Gleichberechtigungsklausel notwendig. Hingegen hätte Litauen bei Abschluß eines auf Meistbegünstigung beruhenden Handelsvertrags mit Deutschland annähernd die gleiche Begünstigung wie die Parität auf deutschen Gewässern genießen können, auch wenn keine Paritätsklausel gewährt worden wäre. Denn Deutschland betrieb seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine sehr liberale Schiffahrtspolitik. Die Gleichberechtigung der Staaten hinsichtlich der Schiffahrt war in Deutschland zuerst durch den Abschluß des Handelsvertrags zwischen Deutschland (dem Deutschem Zollverein) und den Niederlanden vom 31. Dezember 1851 gewährt worden. Seitdem wurde auch anderen Staaten im Wege der Meistbegünstigung die Gleichberechtigung auf deutschen Wasserstraßen eingeräumt.81 Der alte deutschniederländische Handelsvertrag wurde außerdem nach dem Ersten Weltkrieg wieder in Kraft gesetzt.82 Dieser Umstand belastete nach dem Krieg die Verkehrsverhandlungen Deutschlands mit Staaten wie Litauen, Polen, der UdSSR außerordentlich. Die Meistbegünstigten in diesen Ländern konnten in der Tat keine ausreichenden Rechte ohne Gewährung der Parität genießen. Hingegen genossen die Meistbegünstigten in Deutschland, abgesehen von den Siegermächten, auch ohne ausdrückliche Gewährung der paritätischen Behandlung praktisch die Parität. Aus diesen Gründen vertrat das Reichsverkehrsministerium stets den Standpunkt, daß das Reich im Fall der Regelung der Verkehrsfragen mit Litauen, Polen sowie Rußland nicht nur die Meistbegünstigung, sondern auch die Gewährung der Parität verlangen müsse.83 Die litauische Delegation lehnte jedoch den Antrag Deutschlands strikt ab, auf dem Vertragsweg die freie Schiffahrt und Flößerei auf der Memel und zumal die Gleichberechtigung des deutschen Verkehrs mit den Inländern sowie die Freigabe der Transitflößerei aus Polen und Rußland zu bewilligen.84 Die Ablehnung Litauens wurde in erster Linie damit begründet, 81 Obwohl sich die Verfassung des zweiten Kaiserreichs das Recht Deutschlands, gegen nichtdeutsche Schiffahrtstreibende Repressalien auszuüben, vorbehalten hatte, war von diesem Recht vor dem Ersten Weltkrieg nie Gebrauch gemacht worden. Siehe vor allem Ebhardt (1926), S. 146–157 (hier S. 150 ff.). 82 „Stand der deutschen Handelsverträge“, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, LXV. Jg. / Nr. 4, 22.1.1925, S. 104. Siehe auch Lahr: Die Seeschiffahrtsbestimmungen der deutschen Handels- und Schiffahrtsverträge, in: Jahrbuch 1925. Die deutsche Seeschiffahrt. Norddeutscher Lloyd Bremen, Bremen 1926, S. 5–31 (hier S. 7). RGBl. 1923, II, S. 387. 83 BA, R 5 / 245, Vermerk zum Entwurf von Eisenbahnbestimmungen, RVM (Ebhardt), 13.9.1924. BA, R 5 / 241, Abschrift, RWiM, Sitzung der Kommission VI (Ausgestaltung des Rapallovertrages), 23.11.1922. BA, R 5 / 1383, RVM, Material für die Genua-Konferenz, 11.2.1922. BA, R 5 / 227, RVM, 4.10.1922. 84 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, OPV (Frankenbach), 5.1.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
daß es seine Grenze nicht öffnen könne, solange zwischen Litauen und Polen der Kriegszustand herrsche. Außerdem fürchtete Litauen den künftigen Abschluß der auf Meistbegünstigung beruhenden Verträge mit anderen Uferstaaten an der Memel, vor allem Polen und Rußland. In diesem Fall mußte Litauen auch Polen alle Rechte, die Deutschland in Litauen genoß, im Wege der Meistbegünstigung einräumen. Litauen betrachtete die Gewährung der Parität als das wichtigste strategische Mittel bei den künftigen Verhandlungen mit Polen. Litauen war deshalb nicht bereit, dieses Pfand schon jetzt aus der Hand zu geben.85 Der Mitteilung Stockhammerns zufolge ging Litauen außerdem darauf aus, die im Versailler Vertrag vorgesehene Einsetzung eines internationalen Ausschusses für die Verwaltung des Memelstroms (Artikel 342) zu verhindern. Im Fall der Bildung eines internationalen Ausschusses wäre es nicht zu vermeiden, daß daran auch Großbritannien und Frankreich als Vertreter des Völkerbundes teilnehmen würden. Litauen hielt es für äußerst bedenklich, die Verwaltung des Memelstroms einem solchen Ausschuß zu unterwerfen, da die Mehrheit seiner Mandate zweifellos den polenfreundlichen Staaten zufallen würde. Hingegen hatte Litauen ein Interesse daran, zwischen den vier echten Uferstaaten (Rußland, Polen, Litauen sowie Deutschland) eine Übereinkunft über die Verwaltung des Memelstroms herbeizuführen.86 Die in Dresden begonnenen deutsch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen stießen somit auf Hindernisse. Zur Fortführung der Verhandlungen mit Deutschland stellte Litauen die Bedingung, die Binnenschiffahrtsfrage sowie die Frage der Flößerei auf der Memel aus dem abzuschließenden Handelsvertrag auszuklammern und die Regelung dieser Frage einem später abzuschließenden besonderen Vertrag zu überlassen. Das Auswärtige Amt beabsichtigte hingegen, das ganze Vertragswerk bis zum 8. Januar 1923 fertigzustellen.87 Unter diesen Umständen kam das Amt, das die Verschleppung der Angelegenheiten für bedenklich hielt, der litauischen Seite mit folgendem Vorschlag entgegen: Es solle in den Handelsvertrag lediglich die Meistbegünstigungsklausel für die Binnenschiffahrt aufgenommen werden. Hinsichtlich der Schiffahrt auf der Memel solle im Notenwechsel festgelegt werden, daß auf Antrag der deutschen Schiffahrtsgesellschaft die Genehmigung dafür durch die litauische Regierung erteilt werde.88 Es war allerdings festzustellen, daß Deutschland mit diesem Kompromiß weder die Freiheit der Schiffahrt auf der Memel, also die Gleichberechti85 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Aktenvermerk, Ressortbesprechung im AA betreffend den deutsch-litauischen Vertragsentwurf, OPV, 23.2.1923. 86 BA, R5 / 404, Aktenvermerk, RVM (Ebhardt), 3.1.1923. 87 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, OPV (Frankenbach), 5.1.1923. 88 Ebd.
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gung, noch die Freigabe der Transitflößerei erzielen konnte. Der Vorschlag des Auswärtigen Amts erschien deshalb den deutschen Verkehrsinstanzen als ein folgenschwerer Fehler. Die Meistbegünstigung auf der Memel stellte für den deutschen Verkehr auf absehbare Zeit keine Begünstigung dar. Die Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums, insbesondere Regierungsassessor Bodo Ebhardt, der für die Angelegenheiten der ostdeutschen Großströme, vor allem Memel und Oder, zuständig war, bewertete den Vorschlag des Auswärtigen Amts außerordentlich kritisch, insbesondere im Hinblick auf die Polenfrage. Den alliierten und assoziierten Mächten, zu denen Polen gehörte, stand das Recht zu, gemäß Artikel 327 des Friedensvertrags von Versailles in allen deutschen Häfen und auf allen deutschen Binnenschiffahrtsstraßen die gleiche Behandlung mit deutschen Staatsangehörigen, Gütern, Schiffen sowie Booten zu genießen. Infolgedessen erfuhren die Polen Gleichbehandlung mit den deutschen Staatsangehörigen auf allen Wasserstraßen in Deutschland, obwohl der deutsche Verkehr in Polen schwer diskriminiert wurde.89 Daher mußte die deutsche Verkehrspolitik in der Nachkriegszeit darauf abzielen, die Gegenseitigkeit der Begünstigung und Verpflichtung in allen möglichen Bereichen auf dem Vertragsweg zu erlangen, um so die einseitige Begünstigung der Siegermächte zu durchbrechen.90 Wenn keine Gleichberechtigung, sondern nur die allgemeine Meistbegünstigungsklausel für den Verkehr auf der Memel in den deutsch-litauischen Handelsvertrag aufgenommen worden wäre, hätte sich Polen bei späteren Verhandlungen mit Deutschland zunächst auf das Ergebnis der deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen berufen und die Gewährung der Gleichberechtigung zwischen Polen und Deutschland abweisen können. Die Gleichberechtigung zwischen den deutschen und polnischen Staatsangehörigen sowie allen Verkehrsmitteln auf den Wasserstraßen beider Staaten war also das wichtigste Ziel Deutschlands im Hinblick auf das Wirtschaftsabkommen mit Polen, welches seit dem Sommer 1922 vom Reichsverkehrsministerium vorbereitet wurde.91 Aus diesen Gründen wies die Wasserstraßenabteilung des Reichs89 Die Ungleichheit der Verkehrsrechte ging in erster Linie auf französische Forderungen zurück. Während Großbritannien auf der Friedenskonferenz eine neue, auf Gleichberechtigung und Freiheit gestützte internationale Verkehrsordnung (für Häfen, Wasserstraßen und Eisenbahnen) unter Beteiligung aller Staaten, also nicht nur der Siegermächte, zu schaffen suchte, wies Frankreich dies strikt zurück. Auf der Friedenskonferenz wandte sich die französische Delegation gegen alles, was den Feindstaaten ebenso wie den Alliierten den freien Durchgangsverkehr gewährte. Frankreich wünschte vielmehr, den Alliierten die Flüsse und andere Verkehrswege Deutschlands zu erschließen. Hierzu siehe Woodrow Wilson: Memoiren und Dokumente über den Vertrag zu Versailles, hg. v. R. St. Backer, Bd. II, Leipzig 1923, S. 331 ff. 90 BA, R 5 / 404, Aktenvermerk, RVM (Ebhardt), 3.1.1923. 91 Ebd.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
verkehrsministeriums den Kompromißvorschlag des Auswärtigen Amts, mit Litauen zunächst die Meistbegünstigung zu vereinbaren, strikt ab. 4. Der Einmarsch Litauens ins Memelgebiet Mit der De-jure-Anerkennung der litauischen Republik durch die Botschafterkonferenz im Dezember 1922 verschärfte sich die Auseinandersetzung um die Souveränität über das Memelgebiet von neuem, denn die Souveränitätsanerkennung hing mit der Festsetzung der Staatsgrenze eng zusammen. Parallel zu den Verhandlungen über die De-jure-Anerkennung berief die Botschafterkonferenz im November 1922 die Vertreter aus Polen, Litauen sowie dem Memelgebiet zur Anhörung ihrer Wünsche nach Paris. Die litauische Delegation verlangte konsequent die Übertragung der Souveränität des Memelgebiets auf Litauen, indem es auf Clemenceaus Erklärung vom 16. Juni 191992 Bezug nahm. Im Gegensatz dazu äußerten die Vertreter des Memelgebiets den Wunsch, eine politisch unabhängige Freistadt, die allerdings unter einem französischen Alliiertenkommissar stehen sollte, aus diesem Territorium zu schaffen. Dieser Vorschlag, auf dessen Ausarbeitung der französische Kommissar in Memel, Petisné, erheblichen Einfluß ausgeübt haben soll, zielte zugleich darauf ab, die französische Herrschaft im Memelgebiet zu stabilisieren.93 Die polnische Delegation, die ebenso wie die memelländischen Vertreter, den Anschluß des Memelgebiets an Litauen ablehnte, schlug vor, das Territorium zu einem Freistaat, der provisorisch auf 10 Jahre unter französischem Protektorat stehen sollte, umzuwandeln und Polen und Litauen den freien Zugang zum Meer sowie die Sonderrechte in der Hafennutzung zuzugestehen.94 Die französische Regierung war noch im Jahr 1921 strikt gegen eine Unabhängigkeit des Memelgebiets gewesen, vor allem wegen der vermeintlichen Annährung der Memelländer an das Deutsche Reich. Frankreich hielt nun jedoch die Gewährung eines Freistaatsstatus für zweckmäßig, besonders aufgrund der Beibehaltung seiner Einflußnahme auf das Gebiet. In Berlin stand man hingegen einer Freistaatslösung skeptisch gegenüber. Weit abweichend auch von den Wünschen der deutschen Memelländer betrachtete das Berliner Auswärtige Amt den Anschluß des Memelgebiets an Litauen politisch als tragbare Lösung. Damit verband sich die Hoffnung, die Erhaltung 92 Der Abdruck der Antwort vom 16. Juni 1919 über die Memelfrage in: Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte. Vollständiger amtlicher Text, Berlin 1919, S. 31. 93 Zur französischen Politik siehe vor allem Schröder (2002). 94 Ernst Friesecke: Das Memelgebiet. Eine völkergeschichtliche und politische Studie, Stuttgart 1928, S. 29 f.
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des Deutschtums, die schnelle Beendigung der französischen Herrschaft und die Zurückweisung der polnischen Annexionsversuche schneller und leichter zu erreichen als mit der Freistaatslösung der Großmächten.95 Hingegen brachte jedoch der memelländsche Vertreter, Handelskammerpräsident Kraus, der an den Pariser Verhandlungen beteiligt war, wiederholt sein Bedenken zum Ausdruck, daß die Reichsregierung mit dem Anschluß des Memelgebiets an Litauen so sehr sympathisiere, daß sie im Fall einer Freistaatslösung dem Memelgebiet sogar wirtschaftliche Schwierigkeiten bereiten würde.96 Angesichts der französischen und polnischen Bestrebungen sah sich die Sowjetregierung vor die Notwendigkeit gestellt, ihre feste Rückendeckung für Litauen in diplomatischer Aktion zum Ausdruck zu bringen.97 Unmittelbar nach der De-jure-Anerkennung des litauischen Staates, am 22. Dezember 1922, teilte der Vertreter des Moskauer Außenkommissariats, Litvinov, den alliierten Hauptmächten telegraphisch mit, daß die Sowjetregierung sich für berechtigt halte, an der Behandlung der Memelfrage teilzunehmen, vor allem im Hinblick auf die wirtschaftlichen Interessen Rußlands und Weißrußlands, deren Waldwirtschaft in hohem Maße von der Transitflößerei sowie der Nutzung des Memeler Hafens abhängig seien. So erklärte Moskau ausdrücklich, keine Entschließungen der Botschafterkonferenz über die Memelfrage, die ohne Hinzuziehung Rußlands erfolgt seien, anzuerkennen.98 Am 10. Januar 1923 drangen litauische Freischärler ins Memelgebiet ein. Bereits am 15. Januar gelang es ihnen, die Stadt zu belagern. Der neueren litauischen Forschung zufolge seien Berlin und Moskau über Kownos Vorhaben vorab informiert worden. Die von Polen wiederholt erhobenen territorialen Ansprüche auf das Memelgebiet erregten offenbar in Berlin und Moskau Bedenken hinsichtlich einer weiteren Expansion Polens.99 Nach dem Scheitern der Beilegungsversuche des Wilnastreits seitens des Völkerbunds neigten auch die Westmächte zunehmend dazu, Litauen zum Ausgleich für das verlorene Wilnagebiet das Memelgebiet zu überlassen, insbesondere unter Vorbehalt der Sonderrechte Polens in der Hafennutzung. Am 16. Februar 1923 faßte man auf der Botschafterkonferenz in Paris den Beschluß, Litauen aufzufordern, dem Memelgebiet eine Autonomie 95 Schröder 96 GStA
(2002), S. 70 f. PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 156, Heft 1, Abschrift, Brieftelegramm, AA,
9.11.1922. 97 BDFA, Part II, Ser. F, vol. 60, Doc. 80, Baltic States. Annual Report 1923, S. 118–192 (hier S. 172) 98 DVP SSSR, Bd. VI, Dok. 50, Note von der Regierung der RSFSR an die Regierungen von Großbritannien, Frankreich sowie Italien, 22.12.1922, S. 110 f. 99 Žalys (1993), Heft 2, S. 235–278 (hier S. 252 ff.). Siehe auch Tauber (2002), S. 11–44.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
unter litauischer Souveränität zu gewähren. Formell wurde diese Entscheidung der Botschafterkonferenz auf die Erklärung der Friedenskonferenz vom 16. Juni 1919 sowie die De-jure-Anerkennung Litauens durch die Botschafterkonferenz vom 20. Dezember 1922 bezogen. Die litauische Besetzung des Memelgebiets wurde hiermit von den Westmächten hingenommen. Die Botschafterkonferenz machte dabei u. a. folgende Übertragungsbedingungen: 1. Verwaltung: die Schaffung einer Autonomieregierung. Die Gleichheit aller Einwohner. 2. Verkehr: die Gewährung der Durchgangsfreiheit durch das Memelgebiet zur See, auf den Flüssen und zu Lande. Dabei sollte den wirtschaftlichen Interessen Litauens und Polens Rechnung getragen werden. 3. Hafen: die Schaffung eines Hafenverwaltungsorgans. Dieses Verwaltungsorgan sollte aus Vertretern, die die wirtschaftlichen Interessen des Memelgebiets, Litauens sowie Polens wahrzunehmen hatten, gebildet werden. Die einzurichtende Freizone im Hafengebiet sollte von diesem Organ verwaltet werden. 4. Die Erstattung der Besatzungskosten der Alliierten durch Litauen. 5. Die Übernahme der im Artikel 254 sowie 256 des Versailler Vertrags vorgesehenen Lasten. 6. Diese Übertragungsbedingungen waren durch den Abschluß einer Konvention zwischen den alliierten Hauptmächten und Litauen festzusetzen. Schließlich forderte die Pariser Konferenz von der litauischen Regierung die baldmöglichste Aufnahme der Konventionsverhandlungen.100 Die Übertragung des Memelgebiets an Litauen stand damit nunmehr fest. Dadurch wurde die Einnahme des Memelgebiets durch Polen verhindert. Dennoch konnten die Übertragungsbedingungen weder die Wünsche Litauens noch die Rußlands erfüllen. Gleich nach dem Beschluß der Botschafterkonferenz protestierte die Sowjetregierung mit einer Note abermals gegen die Entscheidung der alliierten Hauptmächte. Moskaus Kritik richtete sich vor allem auf die Struktur des Hafenverwaltungsorgans. Nach dem Vorhaben der Konferenz war der UdSSR kein Mandat im Hafenverwaltungsorgan einzuräumen, da die Alliierten die UdSSR nicht als Memel-Uferstaat akzeptierten (Artikel 331 VV). Hingegen wurde den wirtschaftlichen Interessen Polens als Uferstaat in vielfältiger Weise Rechnung getragen. Die UdSSR, die hinsichtlich der Flößerei zu den Uferstaaten des Njemen zählte, betrachtete den Beschluß der Botschafterkonferenz als eine flagrante Verletzung ihrer Rechte. Mit Rücksicht darauf verlangte sie ihre Beteiligung an der Hafenverwaltung und die Gewährung des freien Transitverkehrs.101 100 Das ins Deutsche übersetzte Dokument der Entscheidung der Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923 in: Amtsblatt des Memelgebietes, Sonderausgabe, 1.3.1923, Nr. 22, S. 167 f. 101 DVP SSSR, Bd. VI, Dok. 112, Note der Regierung der RSFSR an die Regierungen von Großbritannien, Frankreich sowie Italien, 22.2.1923, S. 205 f. Die Note der Sowjetregierung an die alliierten Hauptmächte vom 22.2.1923, in: Das Diktat
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Was hingegen die Wilnafrage anging, richtete zur selben Zeit der sowjetische Außenkommissar Čičerin eine Note an die Westmächte, worin er erklärte, daß Rußland die Behandlung der Wilnafrage durch den Völkerbund sowie durch dritte Mächte als Intervention ansähe.102 Die Siegermächte von Versailles waren gerade dabei, in der Frage des Wilnastreits eine pro-polnische Entscheidung zu treffen. Nach dem Scheitern der wiederholten Vermittlungsversuche neigte der Völkerbundsrat dazu, den bestehenden Zustand zu akzeptieren. Inzwischen versuchte der Völkerbund die bisherige neutrale Zone zwischen Polen und Litauen durch die Festlegung einer neuen Demarkationslinie, die der durch den Einbruch der polnischen Armee geschaffenen Lage entsprach, zu ersetzten. Litauen verlangte hingegen die Wiederherstellung der im Suwalki-Vertrag vereinbarten Demarkationslinie. Als der Völkerbundsrat mit wirtschaftlichen Sanktionen gegen Litauen drohte, schlug die litauische Regierung vor, den Ständigen Internationalen Gerichtshof um ein Gutachten hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Festlegung der Demar kationslinie durch den Völkerbundsrat zu bitten.103 Nachdem der Völkerbundsrat am 3. Februar 1923 die Festlegung der Demarkationslinie entschieden hatte, wurde die endgültige Entscheidung über die Wilnagrenze der Pariser Botschafterkonferenz überlassen. Am 13. März 1923 erklärte Ministerpräsident Galvanauskas die Bereitschaft der litauischen Regierung, den Beschluß der Botschafterkonferenz vom 16. Februar sowie die dabei vorgelegten Übertragungsbedingungen des Memelgebiets anzunehmen. Unmittelbar nach der litauischen Annahmeerklärung über die Memelfrage faßte man aber auf der Botschafterkonferenz am 15. März 1923 den Beschluß, auf Grund der aus dem Versailler Vertrag (Artikel 87) sich ergebenden Zuständigkeit die (Ost-)Grenze Polens festzusetzen. Dadurch wurde die polnische Souveränität im Wilnagebiet tatsächlich anerkannt. Der Völkerbundsrat erklärte am 21. April 1923 seine Zustimmung zum Beschluß der Botschafterkonferenz. Dabei wurde der Antrag Litauens, die Frage der Zuständigkeit des Völkerbundsrats vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof zu bringen, schließlich zurückge wiesen.104 Somit wurde der Wilnastreit zugunsten Polens entschieden. Selbstverständlich war Litauen darüber außerordentlich empört. Dies legte den gerade aufzunehmenden Konventionsverhandlungen zwischen den allivon Versailles, Dok. 274, S. 766 f. Dabei verlangte die Sowjetregierung nicht nur die sowjetische Beteiligung an der Hafenverwaltung, sondern auch die Gewährung der Freiheit des sowjetischen Transitverkehrs auf der Memel sowie im Hafen. 102 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 60, Doc. 80, Baltic States. Annual Report 1923, S. 118–192 (hier S. 172). Der Außenkommissar reichte am 18. Februar 1923 die Note an die Westmächte ein. 103 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. III (1923), Nr. 2, S. 46 ff. 104 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. III (1923), Nr. 4, S. 95 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
ierten Hauptmächten und Litauen Hindernisse in den Weg. Litauen sah sich vor die Aufgabe gestellt, gegen die Übertragungsbedingungen der Memeler Souveränität Widerstand zu leisten und auf keinen Fall auf die polnischen Privilegien für die Hafennutzung und den freien Transitverkehr einzugehen. 5. Die Handelsvertragsverhandlungen nach dem litauischen Einmarsch Der Anschluß des Memelgebietes an Litauen, der mit dem Beschluß der Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923 fast zur vollendeten Tatsache geworden war, beeinflußte unmittelbar die Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Litauen. Bei den zwei internen deutschen Ressortbesprechungen, die in Dresden am 21. und 22. Februar im Berliner Auswärtigen Amt stattfanden,105 wurden folgende zwei wichtige Vereinbarungen für das künftige Vertragswerk getroffen: 1. Zum einen erklärte das Auswärtige Amt, daß der abzuschließende Handelsvertrag auch für das Memelgebiet gelten solle.106 In der Besprechung vom 21. Februar machte hierzu der Delegationsvorsitzende Stockhammern den Vorschlag, am Beginn des Abkommens einen Artikel mit folgendem Wortlauf aufzunehmen: „Der gegenwärtige Vertrag soll Geltung haben: Einerseits für das deutsche Zollgebiet und die evtl. mit Deutschland zollgeeigneten Gebiete (jetzt oder künftig), andererseits für die von Litauen international nach Außen vertretenen Gebiete.“107 Sein Antrag wurde von den beteiligten deutschen Ressorts einstimmig angenommen. Zugleich wurde Einverständnis darüber erzielt, daß die Memelländer bei der Ausführung des Handelsvertrags generell als litauische Staatsangehörige zu behandeln seien und diese Klausel auch für die Schiffahrt gelten solle. Am nächsten Tage teilte jedoch Legationsrat Crull (Auswärtiges Amt) mit, daß die litauische Regierung die Aufnahme der von Stockhammern vorgeschlagenen Klausel in den Hauptvertrag aus politischen Gründen für nicht zweckmäßig halte. Mit Rücksicht darauf wurde sodann durch die deutschen Ressorts beschlossen, diese Klausel dem Handelsvertrag lediglich in Form eines 105 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, AA, an RVM, RWiM, PreußHM, OPV, 20.2.1923. Bei den Verhandlungen in Dresden hatte die litauische Delegation einige Änderungen an den Binnenschiffahrtsbestimmungen vorgeschlagen. Zur Erörterung dieser Angelegenheiten lud deshalb das Auswärtige Amt die zuständigen deutschen Ressorts zur Besprechung in Berlin ein. 106 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Aufzeichnung über die Ressortbesprechung vom 22.2.1923. 107 BA, R 5 / 405, Vermerk über die Besprechung am 21.2.1923 in Dresden, RVM (Ebhardt), 23.2.1923.
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Notenwechsels bzw. Protokolls beizulegen.108 Diese Vereinbarung wurde zum Abschluß des deutsch-litauischen Handelsvertrags vom 1. Juni 1923 nach einer redaktionellen Abänderung als ein nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Schlußprotokoll Nr. 1 realisiert.109 2. Zum anderen wurde zwischen den deutschen Ressorts auch hinsichtlich des Verkehrs auf der Memel Einigung erzielt. Am 21. Februar erklärte Stockhammern zunächst den Standpunkt des Auswärtigen Amts, daß die Verhandlungslage zwischen Deutschland und Litauen trotz des litauischen Einmarschs ins Memelgebiet seit dem letzten Vertragsentwurf vom 5. Januar als unverändert zu betrachten sei. Dagegen sahen die Verkehrs- und Wirtschaftsinstanzen die Lage als äußerst kritisch an. Die Stellung Deutschlands in den Handelsvertragsverhandlungen sei infolge der litauischen Besetzung in Memel äußerst ungünstig geworden.110 Vor allem Ministerialrat Sjöberg (Reichswirtschaftsministerium), Ministerialrat Posse (Preußisches Handelsministerium), Regierungsrat Frankenbach (Ostpreußische Vertretung), sowie Regierungsassessor Ebhardt (Reichsverkehrsministerium), denen seit 1921 die litauischen Wirtschaftsangelegenheiten anvertraut waren, vertraten einstimmig diese Ansicht und widersetzten sich strikt den Verhandlungsleitlinien des Auswärtigen Amts, insbesondere in der Frage des Verkehrs auf der Memel. Die ostpreußisch-memelländische Grenzstrecke der Memel wurde durch den litauischen Einmarsch zum Bestandteil der deutsch-litauischen Grenze. Die Schiffahrt von der bisherigen deutsch-litauischen Flußgrenzstation Schmalleningken flußabwärts, nämlich auf der deutsch-memelländischen Strecke der Memel, war deshalb nicht mehr durch die Verhandlungen zwischen Deutschland und der Vertretung des Memelgebiets zu regeln. Sie mußte zwischen Deutschland und Litauen verhandelt werden, soweit die Verhältnisse durch die vorgesehene Memelkonvention noch nicht geregelt waren. Da das Memelgiebet und die Memelländer nach dieser Klausel prinzipiell als litauisch zu behandeln waren, mußte folglich die Regelung der Schiffahrt auf der deutsch-memelländischen Strecke unter den abzuschließenden deutsch-litauischen Handelsvertrag fallen.111 Die Verkehrsinstanzen lehnten einstimmig die Gewährung der Meistbegünstigungsklausel für die Binnenschiffahrt ab, weil sie keine wirkliche 108 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Aufzeichnung über die Ressortbesprechung vom 22.2.1923. 109 BA, R 3101 / 8134, AA an RWiM, Anlage zum deutsch-litauischen Handelsvertrag vom 1.6.1923, auch siehe GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734. 110 BA, R 5 / 405, Niederschrift über die Besprechung in Dresden vom 21.2.1923 (Ebhardt). 111 BA, R 5 / 405, Vermerk über die zweite Ressortbesprechung am 21.2.1923, RVM (Ebhardt), 23.2.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Begünstigung für den deutschen Verkehr darstellte. Sie forderten deshalb das Auswärtige Amt dazu auf, nicht nur die Meistbegünstigungsklausel, sondern auch die Gewährung der Gleichberechtigung sowie die Freigabe der internationalen Transitflößerei im Rahmen des Handelsvertrags ausdrücklich festzuhalten. Das Auswärtige Amt wies diesen Vorschlag jedoch ab, vor allem mit Rücksicht auf die Wünsche Litauens, etwaige Folgen für die Verkehrsbeziehungen mit Polen und Rußland zu vermeiden. Daher bestand das Auswärtige Amt darauf, für die Binnenschiffahrt lediglich die Meistbegünstigungsklausel in den Handelsvertrag aufzunehmen. Bei der zweiten Ressortsbesprechung vom 22. Februar schlugen dann Posse und Frankenbach im Hinblick auf die Lage Ostpreußens dem Auswärtigen Amt eine Lösungsmöglichkeit vor. Sie äußerten sich zunächst beifällig zu dem Vorschlag des Auswärtigen Amts, jedoch mit der Maßgabe, daß eine Erklärung in das Schlußprotokoll aufgenommen werden solle, durch die sich beide Staaten dazu verpflichteten, unmittelbar nach Abschluß des Handelsvertrags in neue Verhandlungen über die Schiffahrts- und Flößereifrage, und zwar mit dem Ziel des Abschlusses eines Abkommens, einzutreten. In diesem Binnenschiffahrtsabkommen sollte außerdem die Gleichberechtigungsklausel gewährt werden.112 Sjöberg und Ebhardt unterstützten diesen Vorschlag. Mit diesem Vorstoß gelang es den Wirtschafts- und Verkehrsinstanzen, die Zustimmung des Auswärtigen Amts, das eigentlich einer Separatbehandlung der Schiffahrtsbestimmungen skeptisch gegenüberstand,113 zum Abschluß eines gesonderten Binnenschiffahrtsabkommens zu erlangen.114 6. Zur Entstehung eines Verwaltungsabkommens (das Binnenschiffahrtsabkommen) Am 29. März 1923 richtete Oberpräsident Siehr eine Eingabe an das preußische Handelsministerium. Darin machte er kritisch auf die Verhandlungsführung des Auswärtigen Amts aufmerksam. Das Amt habe den Wün112 BA, R 5 / 405, Vermerk über die Besprechung im AA am 22.2.1923, RVM (Ebhardt), 23.2.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Aufzeichnung über die Ressortsbesprechung vom 22.2.1923, betreffend die Abänderungsvorschläge zum Deutsch-Litauischen Vertragsentwurf. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Handschriftliche Notiz von Ministerialrat Posse (PreußHM), 22.3.1923. 113 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 66, OPO, 9.4.1923. Stockhammern (AA) lehnte noch Mitte April 1923 ab, die Schiffahrtsfrage gesondert zu behandeln. 114 Es stand in dieser Sitzung in Aussicht, folgenden Text in den Handelsvertrag aufzunehmen: „Es besteht Einverständnis darüber, daß auf Anfordern eines der beiden vertragschließenden Teile auch vor der endgültigen Regelung der Binnenschif�fahrtsfrage in Verhandlungen über den Verkehr auf den beiderseitigen Wasserstraßen eingetreten werden soll.“ BA, R 5 / 405, Vermerk über die Besprechung im AA am 22.2.1923, RVM (Ebhardt), 23.2.1923.
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)283
schen Ostpreußens nicht genügend Rechnung getragen. Die Ergebnislosigkeit der bisherigen Verhandlungen mit Litauen, die in erster Linie auf die divergierenden Interessen zwischen Ostpreußen und Berlin zurückzuführen war, überzeugte die ostpreußischen Wirtschaftskreise von der Notwendigkeit, selbst die Federführung in den Verhandlungen mit Litauen zu übernehmen. Durch direkte Verhandlungen zwischen den örtlichen Sachverständigen beider Seiten könnte eine den regionalen Interessen entsprechende Regelung herbeigeführt werden. In diesem Sinne schlug Siehr vor, die Verhandlungen über den Verkehr auf der Memel den örtlichen Instanzen und Sachverständigen zu überlassen, und beantragte, folgenden Text in den abzuschließenden Handelsvertrag aufzunehmen: „Die Regelung des wechselseitigen Verkehrs auf den beiderseitigen Wasserstraßen wird aus betrieblichen Gründen einer aus Sachverständigen beider Länder bestehenden Kommission überlassen, die sofort in Königsberg zusammentreten soll. Bis zur Durchführung dieser Regelung soll der Verkehrszustand des Jahres 1922 beibehalten werden.“115 Dieser Vorschlag Ostpreußens entsprach dem Wunsch Litauens, die Binnenschiffahrtsfrage zur Vermeidung der Einflüsse auf die Verhandlungen mit Polen aus dem deutsch-litauischen Handelsvertrag auszuklammern und später gesondert zu verhandeln.116 So wies der Oberpräsident auf die Vorteile der örtlichen Regelung hin. Alle Bedenken sollten dadurch ausgeräumt werden können, daß die Gleichberechtigung nicht im Handelsvertrag, einem Staatsvertrag, gewährt werde, sondern lediglich im Rahmen einer örtlichen Vereinbarung zu sichern sei.117 Bei einer Besprechung im Reichswirtschaftsministerium am 9. April 1923 wurden diese Angelegenheiten zwischen den ostpreußischen Handelskammern und den Zentralressorts eingehend diskutiert. Zu den ostpreußischen Teilnehmern zählten u. a. Vertreter der Schif�fahrt und Flößerei wie Kurt Immisch (Präsident der Handelskammer Tilsit), Eugen Laaser (Holzhändler, Handelskammer Tilsit) sowie Oswald Haslinger (Reederei, Robert Meyhoefer Königberg). Sie beantragten die Schaffung 115 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, OPO an PreußHM, 29.3.1923. Die Abschrift auch in BA, R 5 / 405. 116 Regierungsat Rohde (OPO) berichtete Ende März 1923 als Begründung des Vorschlags des Oberpräsidenten: „Nach dem mir erstatteten Bericht hatte die litauische Delegation anfangs den Wunsch geäußert, die Regelung des gegenseitigen Schiffahrtsverkehrs außerhalb des Vertrags durch spätere besondere Vereinbarung zu regeln.“ Siehe GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, OPO an PreußHM, 29.3.1923. Die Abschrift auch in BA, R 5 / 405. Vgl. auch BA, R 5 / 404, Aktenvermerk, RVM (Ebhardt), 3.1.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, PreußMdI an PreußLM, 15.5.1923. Dabei empfahl auch das PreußMdI, die Schif�fahrtsfrage durch die Verhandlung der örtlichen Sachverständigen zu regeln, um den Einfluß der Gleichberechtigungsklausel auf Polen zu vermeiden. 117 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, OPO an PreußHM, 29.3.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
einer aus den örtlichen Sachverständigen zu bildenden Schiffahrtskommission in Königsberg und die Übertragung der Binnenschiffahrtsverhandlungen auf die örtlichen Instanzen. Darin wurden sie vom Ostpreußischen Vertreter, Frankenbach, ausdrücklich unterstützt.118 Unmittelbar danach unternahm es die Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums, vor allem Bodo Ebhardt, diese Pläne in verkehrstechnischer Hinsicht zu präzisieren. Ebhardt trat zwar den Vorschlägen der ostpreußischen Wirtschaftskreise bei. Dennoch hielt er es nicht für zweckmäßig, den beantragten Wortlaut: „einer aus Sachverständigen beider Länder bestehenden Kommission überlassen“, in den abzuschließenden Handelsvertrag einzufügen. Diese Ansicht teilte auch das Auswärtige Amt.119 Es erschien angezeigt, die Verhandlungsleitung des Binnenschiffahrtsabkommens nicht den Sachverständigen, zu denen auch die Vertreter der Privatwirtschaft gehören sollten, sondern den regionalen Behörden zu übertragen. Es stellte sich nun die Frage, welcher Instanz die Verhandlungsführung anvertraut und in welcher Form das Abkommen abgeschlossen werden sollte. Mitte April 1923 schlug die Wasserstraßenabteilung vor, das vorgesehene Binnenschiffahrtsabkommen als Verwaltungsabkommen zwischen dem Reichsverkehrsministerium und einer entsprechenden Instanz Litauens, jedoch vertreten durch die Provinzialbehörden, abzuschließen. Dabei sollte der Reichsverkehrsminister im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt, dem Reichsministerium des Innern, dem Reichsfinanzministerium sowie dem Reichswirtschaftsministerium die örtliche Instanz, nämlich den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen (Wasserbaudirektion Königsberg) mit der Verhandlungsleitung beauftragen. Ebhardt zufolge bestand der Vorteil eines Verwaltungsabkommens in erster Linie darin, daß es keinen Staatsvertrag darstellte und weder die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften noch seine Veröffentlichung benötigte. Die litauische Regierung mußte deshalb für künftige Handelsvertragsverhandlungen mit Rußland und insbesondere Polen nicht ihre Trümpfe aus der Hand zu geben. Außerdem konnten die Verhandlungen eines Verwaltungsabkommens unabhängig vom Inkrafttreten des Handelsvertrags geführt werden.120 Die Wasserstraßenabtei118 BA, R 5 / 405, Abschrift, RWiM, Ergebnis der Besprechung mit Vertretern Ostpreußens über den Entwurf eines Handelsvertrags und das Grenzabkommen mit Litauen am 9. April 1923. 119 BA, R 5 / 405, der von Ebhardt am 16. April 1923 abgefaßte Entwurf eines Erlasses des RVMs an OPO. Dieser Erlaß wurde am 29. Mai 1923 an OPO gegeben. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, RVM an OPO, 29.5.1923. BA, R 5 / 1382, RVM an OPO, 29.5.1923. BA, R 5 / 405, Handschriftliche Notiz von Ebhardt, 17.5.1923. 120 BA, R 5 / 1382 (Handakten von Ebhardt), RVM an OPO, 29.5.1923. BA, R 5 / 405, Handschriftliche Notiz von Ebhardt, 17.5.1923.
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)285
lung des Reichsverkehrsministeriums versuchte, die Zustimmung der deutschen und der litauischen Regierung für ihren Vorschlag zu erlangen. Auf Ersuchen des Reichsverkehrsministers erklärten zuerst Ende April das Reichsministerium des Innern und das Reichfinanzministerium ihr Einverständnis zu diesem Vorhaben.121 Mitte Mai erteilte das Auswärtige Amt ebenfalls seine Zustimmung.122 Der Reichswirtschaftsminister äußerte erst kurz vor Abschluß der Verhandlungen über den Handelsvertrag sein Einverständnis: „Mit der in Aussicht genommenen Ermächtigung des Oberpräsidenten in Königsberg (Wasserbaudirektion), Verhandlungen über die Regelung der Schiffahrt zwischen Litauen und Deutschland vorzubereiten und unter Hinzuziehung von Sachverständigen zu führen, bin ich einverstanden.“123 Das Reichsverkehrsministerium bat am 29. Mai 1923 das Auswärtige Amt darum, die Bereitschaft Litauens zur baldigen Aufnahme der Binnenschif�fahrtsverhandlungen in dieser Form einzuholen. Daher schlug dies das Auswärtige Amt in den Abschlußverhandlungen des Handelsvertrags der litauischen Seite vor.124 Am selben Tage ersuchte das Reichsverkehrsministerium im Einvernehmen mit den oben genannten Reichsministerien den Oberpräsidenten (Wasserbaudirektion) darum, „als Kommissar der Reichsregierung in derartige Verhandlungen mit den litauischen Dienststellen einzutreten“.125 7. Der Abschluß des deutsch-litauischen Handelsvertrags vom 1. Juni 1923 Der erste deutsch-litauische Handelsvertrag wurde in Dresden am 1. Juni 1923 zwischen den Bevollmächtigten beider Staaten, Karl v. Stockhammern (Auswärtiges Amt) und Jurgis Šaulys (Vertreter der litauischen Regierung) unterzeichnet. Der Abschluß des Handelsvertrags erfolgte einen Tag nach der Unterzeichnung des deutsch-litauischen Vertrags über die Regelung der mit den Ereignissen des Weltkriegs zusammenhängenden Fragen. Darin einigten sich Deutschland und Litauen darauf, daß die beiden Staaten aus den Ereignissen des Weltkriegs keinerlei Ansprüche gegeneinander ableiten würden (Artikel 1).126 Litauen verzichtete damit auf die ihm als russischem Nachfolgestaat in Artikel 116 Absatz 3 des Versailler Vertrags eingeräumten 121 BA,
1923.
122 BA,
R 5 / 405, RMdI an RVM, 25.4.1923. BA, R 5 / 405, RFM an RVM, 1.5.
R 5 / 405, AA an RVM, 16.5.1923. R 5 / 405, RWiM an RVM, 26.5.1923. 124 BA, R 5 / 405, RVM an AA, 29.5.1923. 125 BA, R 5 / 1382 (Handakten von Ebhardt), RVM an OPO, 29.5.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, RVM an OPO, 29.5.1923. 126 RGBl. 1923, II, S. 203. 123 BA,
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Rechte, von Deutschland Wiedergutmachung zu verlangen. Der Handelsvertrag bestand aus 33 Artikeln, einer Anlage zu Artikel 20, vier Notenwechseln sowie zwei nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schlußprotokollen.127 Im Reichsgesetzblatt vom August 1924 wurde aus diesem Vertragswerk allein der Hauptvertrag mit seinen 33 Artikeln veröffentlicht.128 Als Grundlage der Wirtschaftsverhältnisse zwischen den beiden Staaten wurde zwar die gegenseitige Meistbegünstigung gewährt, für die Regelung der Verkehrsverhältnisse blieb der erste deutsch-litauische Handelsvertrag aber völlig bedeutungslos. Was das Kernanliegen Ostpreußens anging, enthielt dieser weder die Freiheit der Schiffahrt auf der Memel (Gleichberechtigung zwischen dem deutschen und litauischen Verkehr) noch die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg. Außerdem wurde keine Regelung des kleinen Grenzverkehrs an der neuen memelländisch-ostpreußischen Grenze vorgenommen, da das Memelgebiet offiziell noch den alliierten Hauptmächten unterstand. Lediglich bezüglich des kleinen Grenzverkehrs an der alten deutsch-litauisch / russischen Grenze wurde dem Vertrag eine vorläufige Regelung als Anlage beigefügt.129 Sie bezog sich auf einen vor dem litauischen Einmarsch ins Memelgebiet abgefaßten Vertragstext, der nur die alte deutsch-litauisch / russische Grenze ins Auge faßte.130 Diese Bestimmungen sollten unabhängig von der Ratifizierung des Handelsvertrags, soweit die Landesgesetzgebung es zuließ, im Verordnungswege sofort in Kraft gesetzt werden, um einen vertragslosen Zustand zu vermeiden.131 Die endgültige Regelung des kleinen Grenzverkehrs für die gesamte deutsch-litauische Grenze, den neuesten Grenzverhältnissen entsprechend, sollte einem künftig abzuschließenden Abkommen überlassen werden. Während das Auswärtige Amt aus politischen Gründen Ende Mai um einen dringenden Abschluß des Handelsvertrags bemüht war, protestierten die ostpreußischen Handelskammern bis zum Tag vor der Unterzeichnung gegen die Annahme dieses Vertragswerks. Mit besonderer Schärfe übte die Königsberger Handelskammer Kritik an der 127 GStA
PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, AA, Vertragstext vom 1.6.1923. II, S. 205. 129 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 236, Abschrift, Stockkammern an den Vorsitzenden der litauischen Delegation, Minister Schaulis, 1.6.1923. 130 Bis zum Einmarsch der Litauer ins Memelgebiet war lediglich die Regelung des kleinen Grenzverkehrs für die eigentliche deutsch-litauische Grenze (die alte deutsch-russische Grenze) vorgesehen worden. Nach der litauischen Besetzung einigten sich Deutschland und Litauen darauf, die Regelung des kleinen Grenzverkehrs mit Rücksicht auf die neuesten Verhältnisse aus dem Handelsvertrag auszuscheiden. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 246, Protokoll der Sitzung im Auswärtigen Amt, 5.6.1923 131 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 339, PreußMdI an OPO sowie PreußLM, 24.8.1923. 128 RGBl. 1923,
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)287
Entscheidung des Auswärtigen Amts, da „vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ein weiterer vertragsloser Zustand dem erwähnten Vertragsentwurf vorzuziehen sei.“132 Der Vertrag stellte offenbar eine vorläufige Regelung dar, indem man in verschiedenen Bereichen die Weiterführung der Verhandlungen ankündigte. So war seine wesentliche Bedeutung in folgenden Sondervereinbarungen zu ersehen133: 1. Die Einbeziehung des Memelgebiets in den deutsch-litauischen Handelsvertrag. Diese Vereinbarung wurde auf Wunsch Litauens nicht im Hauptvertragstext,134 sondern als ein nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Schlußprotokoll Nr. 1 dem Handelsvertrag beigelegt.135 2. Die eingehende Regelung der Binnenschiffahrtsangelegenheiten sollte einem besonderen Abkommen überlassen werden. Die beiden Parteien sollten unverzüglich in die Verhandlungen eintreten und sie möglichst schnell abschließen (Artikel 30 sowie Notenwechsel).136 3. Die künftige Regelung des kleinen Grenzverkehrs. Artikel 20 bestimmte, die Angelegenheiten des kleinen Grenzverkehrs durch ein besonderes Abkommen zu regeln. Außerdem sollte dieses Abkommen zu Artikel 20 (das sog. kleine Grenzverkehrsabkommen) möglichst gleichzeitig mit dem Handelsvertrag ratifiziert werden. Diese Vereinbarung wurde in einem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schlußprotokoll Nr. 2 fest gelegt.137 Für die alte deutsch-litauische Grenze sollten bis zum Abschluß 132 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, OPV (Frankenbach) an Crull (AA), 31.5.1923. 133 BA, R5 / 405, AA, Protokoll der Sitzung im Auswärtigen Amt, 5.6.1923. 134 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Aufzeichnung über die Ressortbesprechung vom 22.2.1923. 135 Das nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schlußprotokoll Nr. 1 des ersten Handelsvertrags lautete: „Der gegenwärtige Vertrag soll auch für das nach Maßgabe der Erklärung der Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923 unter litauische Souveränität gestellte Memelgebiet gelten. Vorstehende Erklärung soll zugleich mit dem Vertrag den vertragschließenden Teilen vorgelegt und mit dem Inkrafttreten des letzteren ohne weitere förmliche Ratifikation als genehmigt und verbindlich angesehen werden.“ BA, R 3101 / 8134, AA an RWiM, Anlage zum deutsch-litauischen Handelsvertrag vom 1.6.1923, auch siehe GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734. 136 Der Notenwechsel über die Schiffahrtsfrage befindet sich in: PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, AA (Crull) an die Deutsche Gesandtschaft in Kowno, 27.8.1923, Anlage: Abschrift, Notenwechsel, Stockhammern und Schaulis, 1.6.1923. 137 Das nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schlußprotokoll Nr. 2 lautete: „In Ausführung des Artikel 20 des Handelsvertrages werden die vertragschließenden Teile unverzüglich zusammentreten, um das dort vorgesehene Abkommen zu vereinbaren. Das getroffene Abkommen soll möglichst gleichzeitig mit dem Handelsvertrag
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
eines kleinen Grenzverkehrsabkommens vorläufig die in der Anlage aufgeführten Bestimmungen angewendet werden.138 In den Abschlußverhandlungen gelang es dem Auswärtigen Amt, die Zustimmung Litauens dazu zu erlangen, unmittelbar nach dem Abschluß des Handelsvertrags in weitere Verhandlungen über beide Abkommen (das Binnenschiffahrts- und das kleine Grenzverkehrsabkommen) einzutreten. Diese sollten von den örtlichen Instanzen geführt werden. Man hoffte, daß alle drei Verträge (der erste Handelsvertrag, das Binnenschiffahrtsabkommen sowie das kleine Grenzverkehrsabkommen) baldmöglichst, und zwar gleichzeitig, ratifiziert werden könnten.139 Neben diesen Sonderregelungen sind folgende Bestimmungen des ersten Handelsvertrags hervorzuheben: 1. Die Schiffahrt auf der Memel: Für den Binnenschiffahrts- und Flößereiverkehr wurde in Artikel 30 die gegenseitige Meistbegünstigung gewährt. Artikel 16 bestimmte die Freiheit des Durchgangsverkehrs durch das Gebiet beider Staaten auf Land, Wasser und Luftwegen. Daraus ergab sich die Möglichkeit, die Transitflößerei aus Polen und Rußland auf Grund von Artikel 16 und 30 stattfinden zu lassen,140 im Fall, daß die litauische Regierung die Grenzsperre gegen Polen aufheben und damit die Freigabe der Memel zulassen würde. 2. Der Eisenbahnverkehr: Artikel 23 regelte die Eisenbahnfrage. Der Wunsch der Königsberger Handelskammer, den Häfenwettbewerb durch die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg, vor allem im Sinne des alten deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894, zu regeln,141 scheiratifiziert werden.“ BA, R 3101 / 8134, AA an RWiM, Anlage zum deutsch-litauischen Handelsvertrag vom 1.6.1923, auch siehe GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734. 138 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 236, Abschrift, Notenwechsel, Stockhammern an den Vorsitzenden der litauischen Delegation Herrn Minister Schaulis, 1.6.1923. 139 BA, R 5 / 405, RVM (Ministerialrat Oppermann) an Wasserbaudirektor beim OPO, Hentschel, 6.6.1923. PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), Protokoll der Sitzung im Auswärtigen Amt, 5.6.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, Protokoll der Sitzung im AA, 5.6.1923. 140 BA, R 5 / 405, Niederschrift (von Ebahrdt) über die Besprechung vom 21.2.1923. 141 BA, R 5 / 405, RVM, Vermerk (Ebhardt), 5.3.1923.
I. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen I (1922/23)289
terte am Widerstand Litauens. Diese Angelegenheiten waren bis kurz vor der Unterzeichnung zwischen den beiden Delegationen schwer umstritten. Dadurch wurde die Unterzeichnung des Handelsvertrags verschleppt.142 Litauen lehnte den Antrag Königsbergs strikt ab und hatte im Gegenteil die Absicht, den Hafen Memel mit Hilfe eisenbahntariflicher und verkehrspolitischer Maßnahmen intensiv zu fördern und ihn zum Export- und Importhafen Litauens zu entwickeln. Die Haltung Litauens in dieser Streitfrage war konsequent. Bereits vor dem Einmarsch ins Memelgebiet weigerte sich die litauische Delegation beständig, diese Klausel anzunehmen. Folglich wurden die Handelsvertragsverhandlungen durch die zwischen Königsberg und Litauen bestehenden Meinungsunterschiede in der Bahnfrage erheblich behindert. Anfang Januar 1923 trat das Auswärtige Amt entschieden für die Beschleunigung der Verhandlungen ein, da es eine Verschleppung der Unterzeichnung aus politischen Gründen für äußerst bedenklich hielt. In den Abschlußverhandlungen Ende Mai 1923 wurde deshalb der Antrag Königsbergs nach Gewährung der Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg mit Rücksicht auf die ablehnende Haltung Litauens schließlich vom Auswärtigen Amt zurückgezogen.143 Die Bestimmungen von Artikel 23 beschränkten sich deshalb auf die allgemeine Regelung des Eisenbahnverkehrs. In Absatz 1 wurde die paritätische Behandlung des Personen- und Gepäckverkehrs mit dem der Inländer in jeder Hinsicht (Abfertigung, Abgaben und Beförderungspreise) angeordnet. Bezüglich der Gütertransporte zwischen beiden Staaten wurde in Absatz 2 ebenfalls die paritätische Behandlung mit räumlicher Beschränkung (in derselben Richtung und auf derselben Strecke) gewährt. Der Transitgüterverkehr war den gleichen Grundsätzen zu unterwerfen.144 Was die Eisenbahntarife anging, behielten sich beide Staaten das Recht vor, ihre Eisenbahntarife nach eigenen Ermessen zu bestimmen (Absatz 3). Außerdem wurde in Absatz 4 vorgesehen, im direkten Benehmen zwischen den Eisenbahnverwaltungen beider Staaten weitere nähere Regelungen für den gegenseitigen Verkehr sowie Durchgangsverkehr zu treffen. In der Folge wurde ein Verwaltungsabkommen zwischen der Reichsbahn und der litauischen Staatsbahn über die Eröffnung des deutsch-litauischen Wechselverkehrs in Kowno Anfang August 1923 unterzeichnet.145 142 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, Abschrift, IHK Königsberg an OPO, 29.5.1923. 143 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, OPV an OPO, 28.5.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, OPV an Crull (AA), 31.5.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, Abschrift, Vertraulich! IHK Königsberg an AA, 26.6.1923. 144 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, Eigenhändig, Geheim!, OPV (Frankenbach) an OPO, 28.5.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
3. Ausnahmen von der Anwendung der Meistbegünstigungsklausel:146 145
Als Ausnahmeregelung der Meistbegünstigung des Handelsvertrags wurden folgende Vereinbarungen getroffen: 1. Für die auf Grund des Versailler Vertrags den alliierten und assoziierten Mächten eingeräumten Rechte dürfen von Litauen keine Ansprüche erhoben werden (Artikel 10 Absatz 3 Nr. 4). 2. Die besonderen Begünstigungen, welche den anderen baltischen Staaten (Estland, Finnland sowie Lettland) durch Litauen eingeräumt wurden, dürfen nicht als Fälle von Meistbegünstigung angesehen werden (Artikel 10 Absatz 3 Nr. 5 sowie Notenwechsel Nr. 1 und 2). Ebenfalls sollen die Österreich von Deutschland durch ein besonderes Abkommen eingeräumten Rechte nicht im Wege der Meistbegünstigung in Anspruch genommen werden.147
145 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 100, RVM an AA, 8.8.1923. Zuerst zögerte die litauische Regierung dieses Verwaltungsabkommen zu bestätigen. Nach wiederholten Anfragen Deutschlands reichte die litauische Regierung ihre Note an die deutsche Gesandtschaft und genehmigte damit das Verwaltungsabkommen am 10. September 1923. 146 Zur Ausnahme der Meistbegünstigungsklausel siehe vor allem Richard Riedl: Die Meistbegünstigung in den europäischen Handelsverträgen, Wien 1928, S. 93 ff. 147 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 326, AA, Abdruck des vollständigen Notenwechsels zum deutsch-litauischen Handelsvertrag, 18.8.1923.
Kapitel II
Die deutsch-litauischen Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923 / 24) 1. Die Bildung der Kommissionen und die Erteilung der Verhandlungsvollmacht Die Ergebnisse der Abschlußverhandlungen zwischen Stockhammern und Šaulys über den ersten Handelsvertrag wurden erst am 5. Juni den zuständigen Zentralstellen bei der Sitzung im Auswärtigen Amt mitgeteilt. Das Amt berichtete zunächst über die Sondervereinbarungen, indem der Inhalt des nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schlußprotokolls ausführlich dargestellt wurde. Legationsrat Crull (Auswärtiges Amt) ordnete sodann die Bildung zweier Kommissionen für die Verhandlungen über das Binnenschiffahrts- sowie das kleine Grenzverkehrsabkommen an.1 Die Binnenschiffahrtskommission sollte dabei so klein wie möglich gehalten werden, weil „eine große Reihe von vertraulichen Fragen zu erörtern sein wird.“2 Es war zudem beabsichtigt, das Binnenschiffahrtsabkommen mit Rücksicht auf den Wunsch Litauens, etwaige Wirkungen auf Polen sowie Rußland zu vermeiden, in Form eines Verwaltungsabkommens durch das Reichsverkehrsministerium abzuschließen. Nach der Weimarer Reichsverfassung war die Regelung des kleinen Grenzverkehrs hingegen als Angelegenheit der Länder zu betrachten.3 Demnach sollte das preußische Innenministerium für die Verhandlungsführung zuständig sein. Bei dieser Besprechung wurde deshalb beschlossen, dem Oberpräsidenten Ostpreußens die Leitung der Grenzverkehrsverhandlungen und dem Wasserbaudirektor (beim Oberpräsidium) die Leitung der Binnenschiffahrtsverhandlungen an1 PA AA Gesandtschaft Kowno, 130, AA, Protokoll der Sitzung im AA, 5.6.1923, siehe auch BA, R 5 / 405. 2 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 209, Vermerk, PreußLM, 7.6.1923. 3 Anschütz (1930), S. 363. Tschirner vertrat den Standpunkt, daß Preußen auf Grund von Art. 78 Abs. 2 WRV in Angelegenheiten der Ausnutzung von Wasserkräften sowie anderen wasserrechtlichen Verkehrs mit den am Njemen beteiligten auswärtigen Staaten Verträge schließen könne, welche aber der Zustimmung des Reiches bedürften. Vor allem sollte in diesem Falle dem Reichs- und Staatskommissar für Ostpreußen, dessen Einsetzung in Aussicht stand, die Abschlußvollmacht erteilt werden. Tschirner (1920), S. 112 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
zuvertrauen.4 Daneben beauftragte das preußische Staatsministerium Regierungsrat Frankenbach (Ostpreußische Vertretung in Berlin) mit der fortwährenden Beteiligung an den Verhandlungen.5 Seine Teilnahme an den Binnenschiffahrtsverhandlungen wurde zugleich vom Reichsverkehrsministerium, insbesondere durch den Verfasser des Verwaltungsabkommens, Ebhardt, erbeten.6 Die laufende Mitwirkung der bisher für die litauischen Angelegenheiten zuständigen Ressorts an den neuen Binnen- und Grenzverkehrsverhandlungen stand damit fest. Man überließ außerdem dem Oberpräsidenten sowie Frankenbach die Bestellung der örtlichen Sachverständigen sowie ihre Hinzuziehung zur Kommissionsarbeit.7 Während der Oberpräsident bei den Grenzverkehrsverhandlungen prinzipiell durch die preußischen Zentralstellen, insbesondere durch das preußische Innenministerium Weisungen erhalten sollte,8 stellten die Binnenschif�fahrtsverhandlungen im wesentlichen Angelegenheiten des Reichsverkehrsministeriums dar. Am 5. Juni erteilte das Auswärtige Amt im Auftrag des Reichsverkehrsministers deshalb die Instruktion, den Wasserbaudirektor (beim Oberpräsidium der Provinz Ostpreußen) als Kommissar des Reichsverkehrsministers mit dem Verhandlungsvorsitz zu betrauen.9 Anschließend gab der Reichsverkehrsminister am 6. Juni dem Oberpräsidenten den Auftrag, die Binnenschiffahrtskommission unter dem Vorsitz des Wasserbaudirektors zu bilden und die Verhandlungen mit Litauen, die voraussichtlich am 11. Juni in Königsberg beginnen sollten, einzuleiten.10 Wie sehr sich das 4 BA, R 5 / 405, AA, Protokoll der Sitzung im AA, 5.6.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Abschrift, RVM an OPO (Wasserbaudirektion), 6.6.1923. 5 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, OPV an OPO, 6.6.1923. 6 BA, R 5 / 405, RVM (Ministerialrat Oppermann) an Wasserbaudirektor des OPO (Hentschel), 6.6.1923. 7 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, OPV an OPO, 6.6.1923. 8 BA, R 5 / 405, AA, Protokoll der Sitzung im AA, 5.6.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Abschrift, RVM an OPO (Wasserbaudirektion), 6.6.1923. Die Grenzverkehrskommission: Der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen als Verhandlungsvorsitz Deutschlands. Ein Vertreter des preußischen Innenministeriums, ein Vertreter des preußischen Handelsministeriums, ein Beamter des Landesfinanzamts in Königsberg als Vertreter des Reichsfinanzministeriums, ein Vertreter der Reichsbahndirektion in Königsberg als Vertretung des Reichsverkehrsministeriums (Eisenbahnabteilung), ein Beamter der Wasserbaudirektion des Oberpräsidenten als Vertreter des Reichsverkehrsministeriums (Wasserstraßenverwaltung), ein Veterinär als Vertreter des preußischen Landwirtschaftsministeriums, ein Beamter des Generalkonsuls zu Memel als Vertreter des Auswärtigen Amts. 9 BA, R 5 / 405, RVM an OPO, 6.6.1923. In der Binnenschiffahrtskommission sollten der Wasserbaudirektor Hentschel sowie Frankenbach die Vertretung des preußischen Innenministeriums übernehmen. Aus der Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums beteiligte sich Regierungsassessor Ebhardt. 10 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Abschrift, RVM an OPO, 6.6.1923.
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)293
Reichsverkehrsministerium für die Vorbereitung der Binnenschiffahrtsverhandlungen einsetzte, ließ ein Brief deutlich erkennen: „Die Beauftragung der Provinzialinstanz mit der Führung der Schiffahrtsverhandlungen wie der in Aussicht genommenen ist der erste derartige Versuch, den die Reichswasserstraßenverwaltung in dieser Richtung seit ihrem Bestehen unternimmt.“11 Dieser Brief wurde vom Reichsverkehrsministerium persönlich an den Wasserbaudirektor des Oberpräsidiums, Hentschel, zugesandt. Das Ministerium legte größten Wert darauf, die gesamte Aktion unbedingt „tadellos“ durchzuführen.12 Die hierbei vorgesehene erste Gliederung der Kommissionen beider Abkommen erfuhr alsbald eine wichtige Abänderung, insbesondere in der Frage der Verhandlungsleitung. 2. Der Oberpräsident als Vorsitzender der deutschen Delegation Bei der Unterzeichnung des ersten Handelsvertrags in Berlin wurde zwischen dem Auswärtigen Amt und der litauischen Delegation die Vereinbarung getroffen, spätestens bis zum 12. Juni in weitere Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen in Königsberg und über das Grenzverkehrsabkommen in Tilsit einzutreten.13 Dennoch teilte Litauen kurz vor dem Verhandlungseintritt dem Auswärtigen Amt mit, daß Königsberg als Verhandlungsplatz nicht geeignet sei, und schlug vor, beide Verhandlungen einheitlich in Memel stattfinden zu lassen. Außerdem beantragte Litauen, nicht zwei Verhandlungsleiter, sondern einen einheitlichen Vorsitz für beide Verhandlungen zu benennen. Diesem Wunsch Litauens, der auf rein technische Gründe sowie mangelnde Fachkräfte zurückging, wurde vom Auswärtigen Amt Rechnung getragen. Dagegen wies das Auswärtige Amt den ersten Antrag Litauens strikt ab, die gesamten Verhandlungen nach Memel zu verlegen, da die Stadt offiziell noch der Souveränität der alliierten Hauptmächte unterstand. Das Amt machte den Gegenvorschlag, beide Verhandlungen einheitlich in Tilsit zu führen.14 Dieser Vorschlag wurde von Litauen schließlich angenommen. Daraus entstand die Notwendigkeit, den Vorsitz in beiden Verhandlungen (der Oberpräsident für die Grenzverkehrsverhandlungen und sein Wasserbaudirektor, der jedoch in der Eigenschaft eines Kommissars den Reichsverkehrsminister vertrat, für die Binnenschiffahrtsfrage) in einer Persönlichkeit 11 BA, R 5 / 405, RVM (Ministerialrat Oppermann) an Wasserbaudirektor des OPO Dr. Hentschel, 6.6.1923. 12 Ebd. 13 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Abschrift, RVM an OPV, 6.6.1923. 14 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, AA an PreußHM, 11.6.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 249, AA an PreußLM, 11.6.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
zu vereinigen. Unter diesen Umständen traten alle Instanzen dafür ein, daß der Oberpräsident beide Ämter übernehmen sollte. Umgehend beantragte Frankenbach beim Auswärtigen Amt, dem Oberpräsidenten die Verhandlungsführung einheitlich zu überlassen. Diese Entwicklung erregte jedoch im Reichsverkehrministerium Bedenken, vor allem im Hinblick auf die Kompetenzabgrenzung der Binnenschiffahrtsverhandlungen, die ursprünglich als Reichsangelegenheiten ausschließlich von diesem Ministerium zu führen waren. Hingegen waren die Grenzverkehrsverhandlungen neben dem Auswärtigen Amt prinzipiell vom preußischen Innenministerium zu leiten.15 Daher schlug Frankenbach als Notlösung vor, neben dem förmlichen Vorsitz des Oberpräsidenten den Wasserbaudirektor als tatsächlichen Vorsitzenden an den Binnenschiffahrtsverhandlungen teilnehmen zu lassen, um gegenüber der litauischen Delegation die Interessen der Reichswasserstraßenverwaltung zu vertreten.16 Infolge der unvollendeten Verwaltungsreform der Reichswasserstraßen bestand damals die Wasserbaudirektion, die unmittelbar dem Oberpräsidenten unterstand, sowohl als Organ des Reichsverkehrsministeriums als auch als Organ der für die Wahrnehmung der preußischen wasserbaulichen und wasserpolizeilichen Belange zuständigen preußischen Ministerien. Die Wasserbaudirektion nahm demzufolge eine äußerst komplizierte Stellung in der Verwaltung von Reich und Preußen ein. Im Sinne des Staatsvertrags vom 31. März 1921 (Reichsgesetz vom 29. Juli 1921)17 stand dem Reichsverkehrsministerium das Recht zu, die für die Wasserstraßenangelegenheiten zuständigen mittleren und unteren Instanzen der Länder unmittelbar zu instruieren. Im Fall der Provinz Ostpreußen fielen sie gerade auf die Wasserbaudirektion bzw. deren Leiter, dem Wasserbaudirektor. Im Gegensatz dazu war der Oberpräsident in keiner Weise dem Reichsverkehrsminister untergeordnet. Es kamen noch weitere Schwierigkeiten hinzu. Im Falle einer unmittelbaren Teilnahme des Oberpräsidenten an den Binnenschiffahrtsverhandlungen sollte er theoretisch im Auftrag seines Vorgesetzten, nämlich des preußischen Innenministeriums, an den Verhandlungen teilnehmen, um dort die preußischen Belange wahrzunehmen, wie bereits am 7. Juni das preußische Innenministerium offiziell den Oberpräsidenten mit seiner Vertretung sowohl für die Grenzverkehrsverhandlungen als auch für die Binnenschiffahrtsverhandlungen beauftragte.18 Wenn sich der Wasser15 In bezug auf die Zuständigkeit für die kleinen Grenzverkehrsverhandlungen vertraten G. Anschütz die Auffassung, im Sinne des Art. 78 Abs. 2 WRV den Ländern das Recht zu, über die Angelegenheiten des grenznachbarlichen Verkehrs einen Vertrag abzuschließen. Siehe Anschütz (1930), S. 363 f. 16 BA, R 5 / 405, RVM, 15.6.1923. 17 RGBl. 1921. S. 961. 18 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 121, Heft 1, PreußMdI (Loehrs) an AA sowie OPV, 7.6.1923.
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)295
baudirektor dennoch im Auftrag des Reichsverkehrsministeriums als Kommissar des Reichs und deshalb als Vorsitzender neben dem Oberpräsidenten an der Binnenschiffahrtskommission beteiligen sollte, mußte aber der Oberpräsident seinem eigentlichen Untergebenen (Wasserbaudirektor des Oberpräsidenten) in den vom Reich geführten Binnenschiffahrtsverhandlungen umgekehrt untergeordnet werden. Das schwer zu lösende Kompetenzproblem ergab sich vor allem aus der am Widerstand der Länder gescheiterten Reichsverwaltungsreform.19 Das Problem hätte sich lösen lassen, wenn das Reich bereits eine eigene Wasserstraßenverwaltung bis auf die Ebene der Provinzialbehörden besessen hätte. Die Mißstände der Doppelverwaltung in den Reichswasserstraßen traten zutage, „wo die Reichswasserstraßenverwaltung derartige Verhandlung durch die Provinzialinstanz führen lasse.“20 Trotz der noch ungelösten Kompetenzprobleme nahm das Reichsverkehrsministerium letztlich den Vorschlag Frankenbachs an. Der Reichsverkehrsminister gab am 15. Juni 1923 dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen telegraphisch den Auftrag, im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem preußischen Ministerium des Innern in den Binnenschiffahrtsverhandlungen den Vorsitz zu übernehmen, unter der Voraussetzung, „daß [die] vertretungsweise Wahrnehmung [des] Vorsitzes [beim] Wasserbaudirektor verbleibt.“21 Somit blieb die Frage der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen dem Oberpräsidenten einerseits und dem Wasserbaudirektor als Kommissar des Reichsverkehrsministers andererseits ungelöst. Diese Frage wurde in der Folgezeit nicht mehr diskutiert. Im Laufe der Binnenschiffahrtsverhandlungen mit Litauen gelang es dem Oberpräsidenten vielmehr, sich nicht nur förmlich, sondern auch als eigentlichem Verhandlungsführer Geltung zu verschaffen. 3. Der Verhandlungseintritt in Tilsit (Binnenschiffahrtsfrage) Kurz nach der Unterzeichnung des Handelsvertrags äußerte der litauische Ministerpräsident, Galvanauskas, gegenüber dem deutschen Gesandten Olshausen in Kowno, daß er die vorgesehene Regelung der Binnenschiffahrtsfrage momentan für nicht angängig halte, weil die Schiffahrt und Flößerei auf der Memel eine der Kardinalfragen der gerade in Paris stattfindenden Memelkonventionsverhandlungen darstelle. Litauen sei gern bereit, die Transitflößerei freizugeben, wenn es gelinge, die polnischen Ansprüche auf die Sonderrechte in der Memeler Hafennutzung in den Pariser Verhandlun19 Albert Schneider: Die reichseigene Verwaltung früher und jetzt, Diss. Köln 1924, S. 122 ff. 20 BA, R 5 / 405, RVM (Oppermann), 15.6.1923. 21 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Telegramm, RVM an OPO, 15.6.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
gen zurückzuweisen. Daher schlug der litauische Ministerpräsident vor, die Angelegenheiten bis zum Abschluß der Konventionsverhandlungen zu vertagen.22 In Berlin stand man jedoch auf dem Standpunkt, daß die gleichzeitige Verhandlungsaufnahme über die Grenz- und Binnenschiffahrtsangelegenheiten bereits zum Abschluß des Handelsvertrags zwischen beiden Seiten vereinbart worden sei. Das Auswärtige Amt beschloß daher, die Memelschiffahrtsfrage unabhängig von den Pariser Verhandlungen zwischen Deutschland und Litauen zu regeln, allerdings unter Vermeidung aller absehbaren rechtlichen Wirkungen auf dritte Staaten. Der vorgesehene Verhandlungsbeginn zum 11. Juni 1923 wurde aber auf Wunsch Litauens auf den 15. Juni in Tilsit verschoben. Die deutsche Kommission traf bereits am 11. Juni in Königsberg ein. Bei einer Besprechung im Oberpräsidium wurde unter Hinzuziehung von Vertretern der Handelskammern von Königsberg und Tilsit zunächst über die anzustrebenden Rechte Deutschlands diskutiert. Hinsichtlich der Binnenschiffahrtsverhandlungen sollten in fünf Bereichen (Verkehr, Paßwesen, zolltechnische Frage, Transitflößerei, Schlichtungsverfahren) Regelungen getroffen werden. Man legte besonderen Wert auf folgende Punkte: 1. die Gleichberechtigung des deutschen und litauischen Verkehrs auf allen litauischen Gewässern, 2. die Beibehaltung des sog. Lambsdorff-Abkommens für den Verkehr auf der Memel, insbesondere Talfahrt. Das Abkommen vom 23. März 1921, das zwischen dem Reichs- und Staatskommissar für das Memelgebiet, Graf v. Lambsdorff, und dem Vertreter der alliierten Hauptmächte, General Odry, zum Zwecke der Unterhaltung des Memelstroms abgeschlossen worden war,23 trat laut Artikel 17 dieses Abkommens mit der „Entscheidung über das endgültige Schicksal des Memelgebiets“ von selbst außer Kraft.24 Entsprechend den beiderseitigen Interessen sollte das Abkommen beibehalten werden, um so die Schiffbarkeit der Flüsse sicherzustellen.25 3. Die gültige Abstellung der Beschwerde. Die Beschwerde von Schiffahrtstreibenden war in der Weise abzustellen, daß die Wasserbaudirektion in Königsberg in 22 PA
AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Olshausen an AA, 6.6.1923. zwischen Preußen und dem Memelgebiet, betreffend den Memelstrom einschließlich Ruß–Skirwieth–Atmath vom 23.3.1921, in: Amtsblatt des Memelgebiets, 20.1.1922, Nr. 9, S. 51. Das Abkommen wurde erst am 31. Dezember 1921 veröffentlicht. 24 Artikel 17: „Dieses Abkommen tritt am 1. April d. Js. in Kraft. Das Abkommen gilt bis zu der in Art. 99 des Friedensvertrages vorgesehenen Entscheidung über das endgültige Schicksal des Memelgebiets, oder bis auf Grund der Art. 331 bis 335 des genannten Vertrages, insbesondere der Art. 338 und 342 Änderungen vorgenommen werden müssen. Außerdem kann dieses Abkommen durch einen oder den anderen der beiden Vertragsschließenden mit einjähriger Frist gekündigt werden.“ 25 BA, R 5 / 405, RVM (Ebhardt), Reisebericht über die Verhandlungen mit Litauen im Juni 1923. 23 Abkommen
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)297
freundnachbarlichem unmittelbarem Benehmen mit der entsprechenden litauischen Behörde (und umgekehrt) ohne Inanspruchnahme des diplomatischen Weges für Aufklärung und gegebenenfalls Abhilfe sorgen sollte.26 Was die internationale Transitflößerei aus Polen und der UdSSR anbetraf, untersagte das Auswärtige Amt der Kommission, diese Frage in den Verhandlungen aufzuwerfen. Mit Rücksicht auf die prekären Verhältnisse um Wilna durfte die Frage der Transitflößerei, die einen wesentlichen Aspekt der territorialen Auseinandersetzung zwischen Polen und Litauen darstellte, lediglich im Zusammenhang mit allen Uferstaaten sowie den alliierten Hauptmächten behandelt werden.27 Daher schlug das Reichsverkehrsministerium vor, diese Angelegenheiten gegenüber der litauischen Seite durch die Vertreter der ostpreußischen Privatwirtschaft, wie z. B. Eugen Laaser in Tilsit, inoffiziell anschneiden zu lassen.28 Das Reichsverkehrsministerium ermahnte die Kommission außerdem dazu, die mit der Einsetzung des internationalen Ausschusses (Artikel 342 des Versailler Vertrags) zusammenhängenden Fragen nicht zwischen den Provinzialbehörden, sondern lediglich unter Hinzuziehung von Ebhardt (RVM) zu behandeln.29 Am 14. Juni 1923 wurden in Tilsit die deutsch-litauischen Verhandlungen eröffnet. Diesmal wurden sowohl das Binnenschiffahrtsabkommen als auch das Grenzverkehrsabkommen durch die gleichen Kommissionen verhandelt. Die litauische Delegation bestand unter dem Vorsitz des Ministerialdirektors im litauischen Außenministerium, A. Lisauskis, aus Vertretern der litauischen Regierung und der memelländischen Behörden, sowie aus Vertretern der Landwirtschaftskammer und Handelskammer der Stadt Memel.30 Der deutschen Kommission gehörten folgende Beamte an: Regierungsrat F rankenbach (Ostpreußischer Vertreter) als Vertreter der preußischen Staatsregierung, des preußischen Innenministeriums und des preußischen Handelsministeriums,31 Wasserbaudirektor Hentschel als Vertreter des Reichsverkehrsministeriums, Regierungsassessor Ebhardt von der Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums, Regierungsrat Holtz aus der Reichsbahndirektion als Vertreter der Eisenbahnabteilung des Reichsverkehrsministeriums, Oberregie26 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, Anlage zum Schreiben vom RVM an AA sowie PreußHM, 9.7.1923. 27 BA, R 5 / 405, AA an RVM, 16.5.1923. 28 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Abschrift, RVM an OPO, 4.6.1923. 29 BA, R 5 / 405, RVM (Oppermann) an Wasserbaudirektor (Hentschel), 6.6.1923. 30 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Anwesenheitsliste, Anlage zu Bericht von Freundt, 18.6.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, PreußHM (Keichel), 15.6.1923. 31 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, PreußHM an AA, 9.6.1923. Dabei beauftragte das PreußHM neben dem PreußMdI Ostpreußischen Vertreter Frankenbach mit seiner Vertretung. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, OPV an OPO, 6.6.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
rungsrat Hinz (Landesfinanzamt Königsberg) als Vertreter des Reichsfinanzministeriums32 und Regierungsrat Rohde vom Oberpräsidium. Den Delega tionsvorsitz übernahm der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen, vertreten durch den Vizepräsidenten, Oberpräsidialrat Christian Herbst. Das Reichswirtschaftsministerium nahm hierzu in Anspruch, sich nicht durch die Provinzialbehörde vertreten zu lassen, sondern einen eigenen Beamten des Ministeriums, den Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligung, Regierungsrat Kersand, in die Kommission zu entsenden.33 Das Auswärtige Amt vertrat der deutsche Konsul in Memel, v. Freundt.34 Gleich nach der Sitzungseröffnung stieß man auf erste Hindernisse. Die litauische Delegation erklärte, daß sie den Auftrag ihrer Regierung habe, über die Binnenschiffahrtsfrage nur Präliminarverhandlungen zu führen, die noch nicht abzuschließen seien.35 Die Delegation sei nur damit beauftragt worden, in Tilsit die deutschen Wünsche bezüglich der Binnenschiffahrtsangelegenheiten entgegenzunehmen und der Regierung in Kowno darüber zu berichten.36 Somit lehnte die litauische Delegation unter Hinweis auf ihre mangelnde Instruktion sowie unzureichende Vorbereitung den Verhandlungseintritt in die Binnenschiffahrtsangelegenheiten ab.37 Durch diese Erklärung wurde die deutsche Seite dazu gezwungen, die Binnenschiffahrtsverhandlungen zu vertagen.38 Der litauische Delegationsvorsitzende Lisauskis gab an, daß Litauen mindestens drei Wochen zur Vorbereitung der Binnenschiffahrtsverhandlungen benötige. Hinsichtlich des Grenzverkehrsabkommens erklärte er hingegen, daß seine Delegation die Vollmacht zum Abschluß der Verhandlungen besitze.39 Er war der Ansicht, daß man erst nach der Unterzeichnung des kleinen Grenzverkehrsabkommens in Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen eintreten könne. Lisauskis’ Erklärung erregte in der deutschen Delegation den Verdacht, daß Litauen darauf abziele, die Regelung der Binnenschiffahrt auf der Memel soweit wie möglich herauszuzögern. Litauen versuchte offenbar, einen gleichzeitigen 32 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 121, Heft 1, Abschrift, RFM an AA und OPV Frankenbach, 11.6.1923. 33 BA, R 5 / 405, AA an RVM, 13.7.1923. 34 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 121, Heft 1, OPV an OPO, 6.6.1923. 35 BA, R 5 / 405, Reisebericht von Ebhardt über die Verhandlungen mit Litauen im Juni 1923 (ohne Datum). 36 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, Abschrift, OPV an PreußHM sowie PreußMdI, 23.6.1923. 37 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, Abschrift, Vertraulich!, IHK Königsberg an AA, 26.6.1923. 38 BA, R 5 / 405, Wasserbaudirektor (OPO) an RVM, 16.6.1923. 39 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, Handschriftlicher Bericht über die Verhandlungen in Tilsit, PreußHM (Keichel), 21.6.1923.
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)299
Abschluß des Binnen- und Grenzverkehrsabkommens, wie er bereits bei der Unterzeichnung des Handelsvertrags vereinbart worden war, zu verhindern.40 Die Königsberger Handelskammer drängte deshalb die deutsche Delegation, „daß das Grenzabkommen nicht früher abgeschlossen oder gar ratifiziert wird, bis eine Einigung in der Binnenschiffahrtsfrage zustande gekommen ist“.41 Andernfalls bestünde die Gefahr, daß der Abschluß des Binnenschif�fahrtsabkommens im Interesse Litauens weiter verschleppt würde. Auf Grund der Nachrichten aus Tilsit erinnerte das Auswärtige Amt die litauische Gesandtschaft daran, die in Berlin vereinbarte gleichzeitige Verhandlungsaufnahme der Grenzverkehrs- und Binnenschiffahrtsfragen einzuhalten, was jedoch ergebnislos blieb.42 4. Die Memelkonvention und die Unterbrechung der deutsch-litauischen Verhandlungen Im Gegensatz zu den vertagten Binnenschiffahrtsverhandlungen wurden die Grenzverkehrsverhandlungen planmäßig in Gang gebracht. Zunächst wurde eine Vereinbarung über die Regelung des kleinen Grenzverkehrs an der deutsch-memelländischen Grenze getroffen, die in der Form eines Mantelprotokolls durch die beiden Verhandlungsvorsitzenden, Vizepräsident Herbst und Ministerialrat Lisauskis, am 30. Juni 1923 in Tilsit unterzeichnet wurde.43 Diese Regelung, die als „Anlage B“ des Zusatzabkommens zum Artikel 20 des Handelsvertrags bezeichnet wurde, bereitete jedoch weitere Schwierigkeiten. Das Auswärtige Amt erhob Einwände gegen das Vorgehen der örtlichen Behörden, weil es der Auffassung war, daß es dem Oberpräsidenten die Instruktion gegeben habe, die ostpreußisch-memelländische Grenze nicht gesondert zu behandeln, sondern eine einheitliche Regelung des kleinen Grenzverkehrs für die gesamte deutsch-litauische Grenzzone herbeizuführen. Auch Litauen hatte beim Abschluß des Handelsvertrags dem Auswärtigen Amt diesen Wunsch geäußert.44 Aus regionaler Sicht lag es hingegen auf der Hand, daß der kleine Grenzverkehr an der ostpreußischmemelländischen Grenze völlig anders als der an der alten deutsch-russischen Grenze geregelt werden mußte. Denn der kleine Grenzverkehr an der ostpreußisch-memelländischen Grenze bestand im wesentlichen im Wirt40 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Deutsches Generalkonsulat in Memel (Freundt) an AA (Crull), 15.6.1923. 41 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, Handschriftlicher Bericht über die Verhandlungen in Tilsit, PreußHM (Keichel), 21.6.1923. 42 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Abschrift, Verbalnote, AA an die litauische Gesandtschaft Berlin, 20.6.1923. 43 BA, R 5 / 405, Mantelprotokoll vom 30.6.1923 mit Anlage B. 44 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 121, Heft 1, AA, 28.12.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
schaftsverkehr zwischen der im Grenzgebiet ansässigen deutschen Bevölkerung, deren Verwaltungs- und Wirtschaftseinheit durch die neue Grenzziehung durchtrennt wurde. Während die Verhandlungen über das kleine Grenzverkehrsabkommen auf diese Weise bereits in Tilsit zu einem vorläufigen Abschluß gelangten, wurde die Aufnahme der Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen erneut verschoben. Bei den Schlußverhandlungen des Grenzverkehrsabkommens äußerte Herbst ausdrücklich den Wunsch, die Binnenschif�fahrtsverhandlungen spätestens bis zum 9. Juli 1923 aufzunehmen.45 Kurz vor dem angekündigten Termin teilte die Kownoer Regierung abermals mit, daß die Memelschiffahrtsfrage infolge der schwebenden Konventionsverhandlungen auf der Pariser Botschafterkonferenz gegenwärtig zwischen Deutschland und Litauen nicht geregelt werden könne.46 Auf Anfrage des Gesandten v. Olshausen erwiderte Vizeminister Klimas, daß er nicht in der Lage sei, ohne Fühlungnahme mit Galvanauskas und Sidzikauskas, die in Paris weilten, eine Entscheidung zu treffen.47 Das Auswärtige Amt, vertrat ebenso wie das Reichsverkehrsministerium und der Oberpräsident hingegen den Standpunkt, daß der Personalmangel keine hinreichende Begründung für die Unterlassung der Verhandlungsaufnahme darstelle. Umgehend beauftragte das Auswärtige Amt den Gesandten, die litauische Regierung an die beim Abschluß des Handelsvertrags getroffene Vereinbarung zu erinnern, schnellstmöglich die Binnenschiffahrtsverhandlungen aufzunehmen. Olshausen zögerte jedoch, weiteren Druck auf die Kownoer Regierung auszuüben. Er schloß sich sogar dem Standpunkt Kownos an, daß die Schiffahrts- und Flößereiangelegenheiten, die den wichtigsten Streitpunkt zwischen Polen und Litauen ausmachten, gegenwärtig nicht zu regeln seien. Olshausen hatte Verständnis dafür, zunächst die litauischen Bestrebungen zur Beseitigung der polnischen Ansprüche auf die Sonderrechte zu stützen. Daher beschloß er, zunächst die Rückkehr von Galvanauskas aus Paris abzuwarten.48 Im Sommer 1923 kamen somit die deutsch-litauischen Verhandlungen sowohl über das Binnenschiffahrtsabkommen als auch über das Grenzverkehrsabkommen ins Stocken. Der Schwerpunkt des Beschlusses der Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923 lag darin, daß die alliierten und assoziierten Hauptmächte sich 45 BA, R 5 / 405, Mantelprotokoll vom 30.6.1923 unterzeichnet durch Herbst und Lisauskis. 46 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Lietuvos Respublika, Verbale Nota, 7.7.1923 (Übersetzung aus dem litauischen Original: Verbale Note, Republik Litauen. Ministerium für Auswärtigen Angelegenheiten an die Deutsche Gesandtschaft in Litauen, 7.7.1923). BA, R 5 / 405, AA an RVM, 11.7.1923. 47 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Olshausen an AA, 9.7.1923. 48 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Seiler an AA, 23.7.1923.
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)301
bereit erklärten, ihre Souveränität über das Memelgebiet zu übertragen, sofern Litauen die von der Botschafterkonferenz gestellten Bedingungen, vor allem die Memelkonvention, annehme, denen zufolge Litauen insbesondere die Autonomie des Memelgebiets sowie die Transitfreiheit zu gewährleisten hatte. Am 13. März 1923 erklärte der litauische Ministerpräsident Galvanauskas, den Beschluß der Botschafterkonferenz vorbehaltlos anzunehmen. Am Tag darauf setzte die Botschafterkonferenz die Ostgrenze P olens fest, wodurch das Wilnagebiet als polnisch anerkannt wurde. Diese Entscheidung, die durch den polnischen Außenminister in Paris am 15. März 1923 unterzeichnet und somit formalisiert wurde,49 erschütterte die litauische Regierung außerordentlich. Litauen beharrte darauf, daß das Wilnagebiet unter Verletzung des Suwalki-Vertrags vom 7. Oktober 1920 durch Polen gewaltsam erobert worden sei. Unter diesen Umständen sah man in Kowno die Absperrung der Grenze zu Polen als einzige mögliche Gegenmaßnahme an. Der Eisenbahnverkehr sowie die Memelschiffahrt und -flößerei an der Wilnagrenze wurden unterbunden.50 Daß die Entscheidung der Botschafterkonferenz über das Wilnagebiet unmittelbar nach der litauischen Annahme des Botschafterkonferenzbeschlusses über das Memelgebiet getroffen wurde, erschwerte die gerade einzuleitenden Verhandlungen zwischen den alliierten Hauptmächten und Litauen über die Memelkonvention erheblich. Die am 24. März 1923 begonnenen Verhandlungen zwischen der Sonderkommission der Alliierten und der litauischen Delegation in Paris stießen deshalb von Anfang an auf Hindernisse. Der von der alliierten Kommission aufgestellte erste Entwurf der Memelkonvention sah vor, daß Litauen im Hinblick auf die wirtschaftlichen Interessen der Uferstaaten, insbesondere Polens, die Freiheit des Transitverkehrs auf der Memel sowie die freie Nutzung des Memeler Hafens gewährleisten sollte.51 Die Aufforderung der alliierten Hauptmächte, welche vor allem in der Gewährung der Transitfreiheit auf Grundlage des Barcelona-Transitabkommens (Artikel 30 des ersten Entwurfs) sowie in der Teilnahme eines polnischen Vertreters im Hafenverwaltungsdirektorium (Artikel 33 des ersten Entwurfs) zum Ausdruck kam, rief bei der litauischen Delegation heftige Gegenwehr hervor.52 Galvanaus49 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. III (1923), Nr. 2, S. 46 f. Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. III (1923), Nr. 4, S. 95 f. 50 Litauen rechtfertigte die Absperrungsmaßnahme als Selbstschutz gegen einen aggressiven Staat, die als friedliche Repressalie anzusehen sei. Zu dem litauischen Standpunkt siehe Exposé écri du Gouvernement de la République Lithuanienne, 26.5.1931, in: P. C. I. J., Ser. C., No. 5, S. 130–222 (hier S. 194). 51 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., Annexe au N° 54, Projet de convention avec la Lithuanie, 25 mars 1923, S. 121 f. 52 ADAP, Ser. A, Bd. VII, Dok. 167, Generalkonsul in Memel Graf von Wedel an das AA, 27.3.1923, S. 403 f.
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kas teilte der alliierten Kommission am 5. April 1923 den Standpunkt seiner Regierung mit, die den von den Alliierten vorgelegten Entwurf ausdrücklich ablehnte: „Ainsi donc, l’établissement d’une Commission du port, tel qu’il est prévu dans l’article 33 du Projet de Convention porterait préjudice à la souveraineté sur Memel que la décision de la Conférence des Ambassadeurs du 16 février transfère à la Lithuanie et serait même contraire aux con ditions posées par les Puissances représentées à la Conférence des Am bassadeurs.“53 Tatsächlich war es jedoch der litauischen Regierung kurz vor dem Eintritt in die Pariser Verhandlungen gelungen, sich mit den deutschen Memelländern darüber zu verständigen, gegen die Botschafterkonferenz gemeinsam vorzugehen. Die beiden Parteien hatten sich vor allem darauf geeinigt, bei der Memeler Hafennutzung die Gewährung der Sonderrechte an Polen zu verhindern. Dabei waren die Memelländer außerdem darauf eingegangen, Litauen bei den Pariser Konventionsverhandlungen zu unterstützen, vor allem hinsichtlich der Aufnahme eines von Litauen zu bestellenden Gouverneurs anstelle des von der Botschafterkonferenz vorgeschlagenen Staatskommissars.54 Dies erklärt, weshalb sich die memelländische Delegation beim Streit zwischen Litauen und der Botschafterkonferenz um die Gewährung der polnischen Sonderrechte entgegen allen Erwartungen auf die Seite Litauens schlug.55 Während die litauische Regierung den Standpunkt vertrat, daß die Souveränität über das Memelgebiet mit dem Beschluß der Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923 bereits auf Litauen übergegangen sei, waren die Alliierten der Auffassung, daß die Übertragung der Souveränität über das Memelgebiet erst mit der Ratifizierung der Memelkonvention erfolge.56 Theoretisch sollte bis zum Inkrafttreten einer Memelkonvention sowohl die Souveränität über das Memelgebiet als auch die Verwaltung im Memelge53 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 56, Déclaration lue par M. Galvanauskas, Président de la Délégation lithuanienne, à la séance du 5 avril 1923 de la Commission d’élaboration du Statut de Memel, S. 130 ff. (hier S. 135). 54 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Abschrift, Vertraulich, AA, 5.4.1923. 55 Vgl. Pfarr (2005), S. 30. Auf die Darstellung von Kalijarvi (1937) gestützt wies Pfarr darauf hin, daß die Delegation der deutschen Memelländer (Oberbürgermeister Grabow, Präsident der IHK Kraus usw.) bei den Streitigkeiten zwischen Litauen und der Botschafterkonferenz die Haltung Litauens unterstützt habe. Vgl. Thorsten Waino Kalijarvi: Die Entstehung und rechtliche Natur des Memelstatuts und seine praktische Auswirkung bis zum heutigen Tag, Diss. Berlin 1936, S. 76 f. 56 Question de Memel, 1er vol., N° 52, Extraits du procès-verbal de la séance du 24 mars 1923 de la Commission chargée par la Conférence des Ambassadeurs de préparer un projet de convention avec la Lithuanie, S. 115 f.
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)303
biet unter alliierter Kontrolle bleiben. Tatsächlich begann Litauen jedoch bereits Ende Februar 1923 mit der Eingliederung des Memelgebiets in die litauische Verwaltung. Zunächst übernahm Litauen die Eisenbahn und Post, ferner wurde die litauische Währung neben der deutschen Mark eingeführt. Am 10. März wurde die Zollgrenze des Memelgebiets gegen Litauen aufgehoben und als alleiniger Gesetzgeber im Memelgebiet trat ein Bevollmächtigter der litauischen Regierung auf. Im April 1923 wurde ein besonderer Kriegskommandant eingesetzt, dem die Polizei unterstellt wurde.57 Am 7. Mai 1923 deklarierte die litauische Regierung außerdem eine vorläufige Autonomie des Memelgebiets, was allerdings vom Botschafterrat für nichtig erklärt wurde.58 Unter diesen Umständen sah man sich in Deutschland vor die Aufgabe gestellt, Schutzmaßnahmen für die deutsche Bevölkerung in diesem Gebiet zu treffen. Das Auswärtige Amt kam jedoch zu dem Schluß, daß das Reich im Sinne von Artikel 99 des Versailler Vertrags verpflichtet sei, sich jeder Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Memelgebiets, das unter der Souveränität der alliierten Hauptmächte stand, zu enthalten.59 Am 30. Juni 1923 protestierte die Botschafterkonferenz unter Hinweis auf die Souveränität der alliierten Hauptmächte gegen das Vorgehen Litauens sowie gegen die Deklaration der litauischen Regierung hinsichtlich der litauischen Souveränität über das Memelgebiet.60 Nach dem Scheitern der Pariser Aprilverhandlungen, in denen zwischen der alliierten Sonderkommission und der litauischen Delegation keine Einigung über den ersten Entwurf der Memelkonvention erzielt worden war, forderten die alliierten Hauptmächte am 15. Juni 1923 als Änderungsvorschlag zum Artikel 36 des ersten Entwurfs Litauen dazu auf, folgende Bestimmungen anzunehmen: Die autonome Verwaltung von Memel sei verpflichtet, der polnischen Regierung nötigenfalls einen Teil der Freizone des Memeler Hafengebiets zur Nutzung durch Polen auf 99 Jahre zu verpachten.61 Diese Aufforderung der Alliierten, die anscheinend auf den Wunsch 57 Gornig
(1991), S. 46 f. diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 60, Télégramme adressé le 9 mai 1923 par la Conférence des Ambassadeurs aux Représentants alliés à Kaunas, S. 173. Schierenberg (1925), S. 118. 59 ADAP, Ser. A, Bd. VII, Dok. 146, Ministerialdirektor Wallroth, 15.3.1923, S. 345 f. ADAP, Ser. A, Bd. VII, Dok. 200, Legationssekretär v. Küchler, 24.4.1923, S. 491 f. 60 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 70, Télégramme adressé le 30 juin 1923 par la Conférence des Ambassadeurs aux Représentants Alliés à Kovno, signé: Poincaré, S. 229 f. 61 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 61, Amendements proposés par la Commission d’élaboration du Statut de Memel au projet de Convention relatif au Territoire de Memel, le 15 juin 1923, S. 177 ff., Article 36 (hier S. 178). 58 Documents
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der polnischen Regierung zurückging,62 rief bei Litauen heftige Gegenwehr hervor. Am 11. Juli 1923 legte die litauische Delegation schriftliche Beschwerde ein, daß der Vorschlag der alliierten Kommission in erster Linie die polnischen Handelsinteressen berücksichtige. Hinsichtlich der fraglichen Bestimmung (die Verpachtungspflicht auf 99 Jahre) wies die litauische Delegation wegen der Verletzung der litauischen Souveränität auf die Möglichkeit hin, den Haager Internationalen Gerichtshof einzuberufen.63 Somit wies Litauen die Annahme des Änderungsvorschlags der Alliierten strikt ab. Am 13. Juli sandte die Botschafterkonferenz einen (zweiten) Entwurf der Memelkonvention an Litauen, der nach wie vor die Verpachtungspflichtbestimmung enthielt.64 Am 23. Juli legte Ministerpräsident Galvanauskas der Botschafterkonferenz einen Gegenentwurf Litauens vor. Er lehnte es ab, auf die Forderung der Botschafterkonferenz einzugehen, und erklärte: „La Délégation lithuanienne se permet d’exprimer le regret que la Commission, au cours de la dernière séance, ait cru devoir insister sur certaines propositions qui touchent aux relations politiques entre la Lithuanie et la Pologne et aux quelles la Lithuanie ne saurait souscrire.“65 Auf der Botschafterkonferenz war man sich darin einig, Litauen zur vorbehaltlosen Annahme der Memelkonvention zu drängen. Zu diesem Zweck sollte zuerst ein neuer Konventionsentwurf abgefaßt werden. Am 27. Juli 1923 faßte man in Paris den Beschluß, gemäß Artikel 11 Absatz 2 der Völkerbundssatzung unverzüglich den Völkerbundsrat einzuberufen, für den Fall, daß Litauen nicht in der gegebenen Frist von einem Monat auf die vorbehaltlose Annahme der neuen Fassung der Memelkonvention eingehe.66 Am 8. August 1923 sandte der Präsident der Botschafterkonferenz, Poincaré, seine Note sowie den neuen Text der Memelkonvention an die litauische Regierung. Die neu abgefaßte Memelkonvention enthielt nach wie vor die Bestimmungen über die litauische Verpachtungspflicht (Artikel 47 62 Senn
(1966), S. 115. diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 62, Mémoire de la Délégation lithuanienne au sujet des amendements proposés au projet de Convention par la Commission d’élaboration du Statut de Memel, remis le 11 juillet 1923, S. 179 f. 64 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 63, Note du Secrétariat Général de la Conférence des Ambassadeurs à M. le Président de la Délégation lithuanienne, 13.7.1923, S. 182. Annex N° 1 au N° 63, Projet de Convention, S. 183 f. 65 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 66, Note de Son Excellence M. Galvanauskas, Président de la Délégation lithuanienne, à M. Laroche, Président de la Commission pour les Affaires de Memel, 23.7.1923, S. 209. 66 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 72, Résolution de la Conférence des Ambassadeurs en date du 27 juillet 1923, S. 233. Vgl. dazu Schierenberg (1925), S. 115. 63 Documents
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)305
der neuesten Fassung). Die Beteiligung Polens an der Hafendirektion (Artikel 42) sowie das uneingeschränkte Recht fremder Staatsangehöriger, Immobilien im Memelgebiet zu erwerben (Artikel 36 Absatz 2), blieben ebenfalls unverändert. Gegen letzteren Artikel hegte Litauen Befürchtungen, vor allem hinsichtlich französischer und polnischer Investoren.67 Mit dieser ultimativen Aufforderung von Poincaré trat in die Konventionsverhandlungen zwischen der Botschafterkonferenz und Litauen augenblicklich Stillstand ein. Nach der Rückkehr Galvanauskas’ aus Paris besuchte der deutsche Gesandte in Kowno, v. Olshausen, am 1. August 1923 die litauische Regierung. Bei einer Besprechung mit Vizeaußenminister Klimas warf Olshausen zunächst die Frage der Wiederaufnahme der Binnenschiffahrtsverhandlungen auf. Klimas äußerte jedoch, daß Litauen nicht in der Lage sei, in diese Verhandlungen einzutreten, weil in Paris keine Einigung zwischen der Botschafterkonferenz und Litauen über die Memelkonvention erzielt worden sei. Olshausen erwiderte, daß dies keinen hinreichenden Grund für die litauische Ablehnung der Verhandlungsaufnahme darstelle. Er schlug vor, daß Deutschland im Falle der sofortigen Aufnahme der Binnenschiffahrtsverhandlungen dem Wunsch Litauens nach Nichtanwendung von Artikel 342 des Versailler Vertrags entgegenkommen könne. Es lag auf der Hand, daß Deutschland überhaupt kein Interesse an der Einberufung eines internationalen Ausschusses für die Schiffahrtsverwaltung auf der Memel hatte. Klimas zögerte dennoch, den Eintritt in die Binnenschiffahrtsverhandlungen zuzusagen. Olshausen erinnerte ihn nun daran, daß bei der Unterzeichnung des Handelsvertrags vom 1. Juni 1923 eine Vereinbarung über den baldigen Eintritt in die Binnenschiffahrts- und Grenzverkehrsverhandlungen getroffen worden sei. Er bat darum, wenigstens einige Wünsche der ostpreußischen Schiffahrts- und Flößereiinteressenten zu befriedigen, wenn schon eine generelle Freigabe der Memelschiffahrt infolge der Konventionsverhandlungen unmöglich sei. Klimas wies aber auch diesen Vorschlag Olshausens mit der Begründung zurück, daß die litauische Regierung damit rechnen müsse, daß die litauischen Schiffahrtskreise gegen ihre deutschen Konkurrenten alle Hebel in Bewegung setzen würden.68 Kurz danach hielt das Auswärtige Amt eine Besprechung mit dem Berliner Gesandten Vaclovas Sidzikauskas. Das Zögern der Kownoer Regierung gründete sich offenbar auf die vorher67 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 73, Note de Son Excellence M. Poincaré, Président de la Conférence des Ambassadeurs, à Son Excellence M. Galvanauskas, Président du Conseil, Ministère des Affaires Étrangères, 8.8.1923, S. 233 f. Annexe N° 1 au N° 73, S. 234 ff., Article 47 (hier S. 243 f.). Vgl. auch Friesecke (1928), S. 41. 68 GStA PK, XX. HA, Rep. 2093, Bl. 102, Abschrift, Deutsche Gesandtschaft in Kowno, 1.8.1923.
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zusehende Wirkung einer in das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen aufzunehmenden Gleichberechtigungsklausel auf Polen. Das Auswärtige Amt bemühte sich, Sidzikauskas davon zu überzeugen, daß Deutschland nicht vorhabe, die Rechte Litauens gegenüber Polen durch den Abschluß eines Staatsvertrags zu präjudizieren. Den entsprechenden Befürchtungen Litauens werde von deutscher Seite vollumfänglich Rechnung getragen. Nach dieser Erklärung ging Sidzikauskas schließlich darauf ein, spätestens Anfang September in die Binnenschiffahrtsverhandlungen einzutreten.69 5. Die Wiederaufnahme der Binnenschiffahrtsverhandlungen Am 1. September 1923 teilte der litauische Gesandte in Berlin, Sidzikauskas, Staatssekretär v. Maltzan mit, daß Litauen bereit sei, zum 6. September wieder in die unterbrochenen Binnenschiffahrtsverhandlungen in Tilsit einzutreten.70 Der von der litauischen Seite angesetzte Termin war so kurzfristig, daß selbst die eigene Delegation erst am 7. September in Tilsit eintreffen konnte. Der überraschende Vorschlag Litauens bereitete auch der deutschen Seite Schwierigkeiten, weil sowohl Oberpräsident Siehr als auch die zuständigen Fachreferenten, wie die Wasserbaudirektion, im Urlaub waren. Nach dem Eintreffen von Vizepräsident Herbst sowie Regierungsrat Rohde (Oberpräsidium) in Tilsit konnten jedoch die deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsverhandlungen am 8. September eröffnet werden.71 Die litauische Delegation bestand u. a. aus folgenden Personen: Der Vizedirektor der Chausee- und Wasserstraßenverwaltung des litauischen Verkehrsministeriums, Oberingenieur Skardinskas, leitete die litauische Delegation. Skardinskas war als litauischer Nationalist bekannt. Er brachte gegenüber der deutschen Delegation seine Hochachtung für die deutsche Kultur zum Ausdruck und versuchte, eine Atmosphäre der Verständigung zu schaffen. Er hatte in Riga die Schule besucht und in Stuttgart Wasserbauwissenschaft studiert. Während der Verhandlungen zeigte er stets Sympathie für die außenpolitische Lage Deutschlands und verbarg nicht seine gegen Polen gerichtete Haltung. Bis zum Kriegsausbruch war er im russischen Wasserbaudienst, insbesondere an der Wolga, beschäftigt gewesen. Neben 69 PA
AA, Gesandtschaft Kowno, 130, AA an Gesandtschaft Kowno, 3.8.1923. PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, Abschrift, Die litauische Gesandtschaft (Sidzikauskas) an Staatssekretär im AA Herrn Baron A. von Maltzan, 1.9.1923. PA AA, Gesandtschaft Kowno 130, Telegramm aus Berlin, AA an Gesandtschaft Kowno, 4.9.1923. 71 Der Reisebericht von Ebhardt über die Verhandlungen in Tilsit, Königsberg sowie Kowno vom 8. September bis zum Abschluß vom 28. September 1923 befindet sich in folgenden Beständen: BA, R 5 / 1382 (Handakten von Ebhardt). GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 207. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII 6b 56, Bd. 2. 70 GStA
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Skardinskas beteiligte sich Ingenieur Kurganowitsch an der Verhandlung. Auch er hatte vor dem Krieg im Dienst der russischen Wasserbauverwaltung, und zwar in Kowno, gestanden. Er war der deutschen Seite bereits gut bekannt, vor allem durch die frühere Zusammenarbeit mit dem Wasserbauamt Tilsit an der Memel. Der deutschen Delegation gehörten neben den beiden Vertretern des Oberpräsidiums (Herbst und Rohde) u. a. folgende Personen an: Regierungsrat Frankenbach (Ostpreußischer Vertreter) wurde durch das Auswärtige Amt, das Reichswirtschaftsministerium, sowie die zuständigen preußischen Ressorts damit beauftragt, ihre Belange in den Schlußverhandlungen wahrzunehmen. Oberregierungsrat Hinz (Landesfinanzministerium Königsberg) war mit der Vertretung des Reichsfinanzministeriums beauftragt. Aus dem Wasserbauamt Tilsit wurde Regierungs- und Baurat Strasburger in die Delegation hingezogen. Als Kommissar der Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums übernahm Ebhardt die fachliche Leitung und half somit dem Delegationsvorsitzenden Herbst. Die Verhandlungen verliefen von Anfang an in einer sehr freundlichen Atmosphäre. Dadurch gewannen beide Seiten den Eindruck, daß es erfolgversprechender sei, die Angelegenheiten der Wasserstraßen durch unmittelbare Fühlungnahme zwischen den örtlichen Behörden zu regeln, als über Verhandlungen zwischen den Zentralinstanzen beider Staaten, also auf diplomatischem Wege. Was die Freigabe der Memel sowie die Gewährung der Gleichberechtigungsklausel anging, äußerte die litauische Delegation auf Anfrage ganz offen, daß sie die Freigabe der Schiffahrt für die beste Maßnahme zur Förderung der Wirtschaft Litauens hielt. Sowohl Skardinskas als auch Kurganowitsch zeigten ein Interesse daran, die von ihnen betreute Memel verkehrspolitisch zu beleben und dadurch die Wirtschaftskraft des gesamten Stromgebiets zu heben. Am 9. und 10. September wurden die Verhandlungen kurzzeitig unterbrochen. Die litauische Delegation kehrte wegen Baggerarbeiten nach Kowno zurück. Herbst wurde hingegen von der Vorbereitung des ostpreußischen Provinziallandtags in Anspruch genommen. Während der Verhandlungspause bemühten sich Ebhardt und Rohde um die Fertigstellung des deutschen Entwurfs. Den deutschen Verhandlungsleitli nien zufolge waren folgende Rechte anzustreben: 1. die Beibehaltung der Bestimmungen des Lambsdorff-Abkommens, 2. die Gleichberechtigung des deutschen Verkehrs mit dem litauischen auf allen litauischen Gewässern, 3. die Einrichtung eines exponierten deutschen Zollamts in der Grenzstation Schmalleningken, 4. die Abstellung von Beschwerden durch die örtlichen Behörden (ohne Inanspruchnahme des diplomatischen Weges). Am 11. September kamen Skardinskas und Kurganowitsch in Strasburgers Begleitung nach Königsberg. Geführt von der Königsberger Handelskammer und dem Magistrat besichtigten sie die Stadt und den Industrie- und Handelshafen, der gerade modernisiert und erweitert wurde, das Messe
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
gelände sowie den Flughafen. Diese Gelegenheit nutzte die Königsberger Handelskammer zum Zweck einer inoffiziellen Besprechung mit den litauischen Vertretern über den Transitverkehr auf der Memel. Am nächsten Tag trafen die beiden Delegationen wieder in Tilsit ein. Zuerst legte die deutsche Delegation der Tilsiter Handelskammer den von Ebhardt und Rohde abgefaßten Entwurf vor. Die Einzelheiten des Vertragstexts wurden mit Hilfe der Tilsiter Wirtschaftskreise weiter präzisiert. Der Entwurf wurde sodann der litauischen Seite übergeben. Am 13. September erklärte sich die litauische Delegation mit dem deutschen Gegenentwurf einverstanden, allerdings mit Ausnahme der Zulassungsbedingungen der Dampferkabotage sowie des Schleppens auf litauischen Gewässern. Hier verlangte Litauen, ein gewisses Privileg zu behalten, indem lediglich den litauischen Schleppern die Schleppschiffahrt innerhalb seiner Gewässergrenze zuzugestehen war.72 Die deutsche Delegation erwiderte dagegen, daß man eine Einschränkung der deutschen Schiffahrt auf litauischen Gewässern im Sinne der Schiffahrtsgleichheit nicht akzeptieren könne. Die litauische Delegation war allerdings diesbezüglich nicht ermächtigt, so daß die Verhandlungen zunächst unterbrochen werden mußten. Sie kehrte am 15. September nach Kowno zurück, um eine neue Instruktion zu dieser Frage einzuholen. Abgesehen davon schien die deutsche Delegation in den Tilsiter sowie Königsberger Verhandlungen außerordentlich erfolgreich zu sein, da ihre obengenannten vier Anträge fast vollständig von der litauischen Delegation angenommen wurden. Diese erklärte sich außerdem bereit, beiderseitig auf die Gebühren der Dauersichtvermerke zu verzichten.73 6. Die Abschlußvollmacht und die Präambel Am 8. September 1923 telegraphierte Ebhardt aus Tilsit nach Berlin an Ministerialrat Oppermann (Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums) sowie an Legationsrat Crull (Auswärtiges Amt), daß der Delegationsvorsitzende Herbst um eine förmliche Abschlußvollmacht, wie sie der litauische Vorsitzende besitze, gebeten habe.74 Oppermann ging daran, im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt die Texte der Abschlußvollmacht sowie der Präambel des Abkommens zu formulieren. Das Binnenschiffahrts72 Nach der Ratifizierung des Binnenschiffahrtsabkommens versuchte Litauen jedoch, das Flößergeschäft innerhalb der litauischen Gewässergrenze zu monopolisieren. Dadurch wurde den Deutschen die Aufnahme der Transithölzer aus Polen und Rußland an der Demarkationslinie unmöglich gemacht. 73 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, OPV (Frankebach) an PreußHM, RWiM, PreußLM, AA, 14.9.1923. 74 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Bahntelegramm, Ebhardt an RVM (Oppermann), AA (Crull), OPV (Frankenbach), 8.9.1923.
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)309
abkommen sollte in Form eines Verwaltungsabkommens abgeschlossen werden. Die Vollmacht sollte dem Oberpräsidenten deshalb von dem hauptbeteiligten Ressortchef, nämlich vom Reichsverkehrsminister, und zwar nach Möglichkeiten im Auftrag des Reichspräsidenten, erteilt werden.75 Am 15. September 1923 gab der Reichsverkehrsminister Oeser dem Oberpräsidenten die gewünschte Abschlußvollmacht: „Im Einvernehmen mit den beteiligten Reichs- und preußischen Ressorts, insbesondere mit dem Herrn Reichsminister des Auswärtigen bevollmächtige ich Sie hierdurch, das in Aussicht genommene Verwaltungsabkommen über Binnenschiffahrtsfragen mit Litauen für den Geschäftsbereich der beteiligten Reichs- und preußischen Ressorts abzuschließen.“76 (siehe Anhang, Abb. 3, S. 857). Dieser Vollmacht wurde folgende Skizze der Präambel beigefügt, die Ministerialrat Oppermann entworfen hatte: „Vertrag / Abkommen zwischen der deutschen Reichswasserstraßenverwaltung zugleich für die deutsche Reichsfinanzverwaltung und die Paßverwaltungen des Deutschen Reichs und Preußens, vertreten durch den preußischen Oberpräsidenten in Königsberg i. Pr. und pp. [scil. den litauischen Stellen].“77 Damit war der deutsche Delegationsleiter jedoch nicht zufrieden. In zwei Schreiben vom 17. und 19. September antwortete Herbst unverzüglich dem Reichsverkehrsminister und beantragte, die Texte der Abschlußvollmacht sowie des Entwurfs der Präambel abzuändern. Er schlug vor, die Auflistung aller beteiligten Reichs- und preußischen Stellen in der Präambel zu unterlassen und statt dessen seinen eigenen Namen in seiner Funktion als Bevollmächtigter des Reichs ausdrücklich aufzuführen.78 Hinsichtlich der Vollmacht wies er außerdem kritisch darauf hin, daß diese nicht einer bestimmten Person erteilt worden sei, obwohl dies bei internationalen Verhandlungen in der Regel als erforderlich angesehen werde. Daher bat er um die Ausstellung einer persönlichen Vollmacht: „Die noch ausstehende Vollmacht bitte ich also auf die Person des Oberpräsidialrats Dr. Herbst ausstellen zu wollen.“79 Im Hinblick auf den räumlichen Geltungsbereich des Abkommens wies Herbst auf die Möglichkeit hin, das Abkommen nicht auf alle Gewässer im Reichsgebiet anzuwenden, sondern auf die Gewässer Ostpreußens zu be75 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 373, RVM (Oppermann), 13.9.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, RVM (Oppermann), 13.9.1923. 76 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 138 f., RVM (Oeser) an OPO, 15.9.1923. 77 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 134, RVM (Kirschstein) an OPO, 15.9.1923. 78 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 137, Abschrift, OPO (Herbst) an RVM, 17.9.1923. 79 Ebd. auch vgl. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 154, OPO (Herbst) an RVM, 19.9.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
schränken. Zum Grund dafür gab er an, daß die Verhandlungen ausschließlich durch die örtlichen Instanzen, vor allem vom Oberpräsidenten geführt worden seien. Eine räumliche Beschränkung sei für beide Vertragsparteien als zweckmäßig zu betrachten, insbesondere mit Rücksicht auf den litauischen Wunsch, mögliche Auswirkungen auf Polen und die UdSSR zu vermeiden.80 So beantragte Herbst mit seinem Schreiben vom 17. September, der Präambel folgenden Wortlaut zu geben: „[…] zwischen dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen (Wasserbaudirektion), vertreten durch den Oberpräsidialrat Dr. Herbst und dem litauischen Verkehrsministerium, vertreten durch den Vize-Ministerialdirektor Skardinskas wird folgendes Abkommen über die Schiffahrt und Fischerei in litauischen und ostpreußischen Gewässern geschlossen.“81 Diese Formulierung, so Herbst, sei bereits mit der litauischen Delegation vereinbart worden. Im Gegensatz zu Herbsts Auffassung vertrat jedoch Reichsverkehrsminister Oeser den Standpunkt, daß der Zweck der Präambel in erster Linie darin liege, die Vertragsparteien, die Legitimation ihrer Vertreter (Unterhändler) und das Vertragsziel einwandfrei zu bestimmen. Die Reichszentralverwaltungen, die mit der Provinzialverwaltung des Landes nicht ohne weiteres identisch seien, müßten deshalb in der Präambel ausdrücklich angegeben werden. Der Auffassung Oesers zufolge sollte die Präambel in folgender Hinsicht formuliert werden: 1. Ratifikation und Inkrafttreten: Gemäß Artikel 45 und 78 der Weimarer Reichsverfassung sollte die Ratifikation des Verwaltungsabkommens durch den Reichspräsidenten bzw. den von ihm beauftragten Reichsressortchef erfolgen. Im Gegensatz zu Herbsts Antrag, die Benennung des Reichsverkehrsministers in der Präambel zu unterlassen, machte Oeser darauf aufmerksam, daß die ratifizierenden Stellen durch die Ratifikation völkerrechtlich nur dann an das Abkommen gebunden seien, wenn sie mit den in der Präambel angegebenen Vertragsparteien identisch seien. 2. In Streitfällen: Für völkerrechtliche Verträge war die Möglichkeit vorhanden, sich in Streitfällen auf den Haager Ständigen Internationalen Gerichtshof zu berufen. Mit Rücksicht auf die Auslegung des Abkommens durch das Gericht mußte deshalb der Wortlaut des Abkommens völkerrechtlich einwandfrei formuliert werden, um sich gegebenenfalls gegen die Nichteinhaltung der Bestimmungen verwahren zu können. Die Nennung von Herbst in der Abschlußvollmacht hielt Oeser für nicht unbedingt notwendig, weil die Vollmacht prinzipiell dem Oberpräsidenten 80 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 137, Abschrift, OPO (Herbst) an RVM, 17.9.1923. 81 Ebd.
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als Behörde erteilt werde. In diesem Sinne sei es eigentlich ausreichend, wenn Herbst die Unterzeichnung als Vertreter des Oberpräsidenten Siehr vollziehe. Dennoch gab der Reichsverkehrsminister letztlich dem Wunsch Herbsts nach, indem er entschied, den Namen von Oberpräsidialrat Herbst nicht in der Abschlußvollmacht, sondern in der Präambel neben den Reichs- und preußischen Zentralstellen und hinter dem Oberpräsidenten zusätzlich anzugeben.82 Somit wurde die Präambel festgesetzt und dem Abkommen schließlich in folgender Fassung beigelegt: „Abkommen zwischen der Deutschen Reichswasserstraßenverwaltung zugleich für die Deutsche Reichsfinanzverwaltung und die Paßverwaltungen des Deutschen Reiches und Preußens, vertreten durch den Preußischen Oberpräsidenten in Königsberg i. Pr. und zwar den Oberpräsidialrat Dr. Herbst, und dem Litauischen Verkehrsministerium sowie der Litauischen Zoll- und Paß verwaltung, vertreten durch den Vize-Ministerial-Direktor Oberingenieur Skardinskas.“83 7. Die Paraphierung Der Erfolg in Tilsit, insbesondere in den Verhandlungen vom 13. / 14. September 1923, war größer, als man in Deutschland erwartet hatte. Fast alle Wünsche Deutschlands (1. die Beibehaltung des Lambsdorff-Abkommens, 2. die Gleichberechtigung des deutschen und litauischen Verkehrs, 3. die Einrichtung eines deutschen Zollamts in Schmalleningken, 4. die gütliche Lösung von Beschwerden zwischen den örtlichen Instanzen ohne Inanspruchnahme des diplomatischen Weges) waren von der litauischen Seite akzeptiert worden. Um das Erreichte zu sichern, entschloß sich Herbst am 15. September auf eigene Verantwortung, die bis dahin von beiden Delegationen anerkannten Artikel zu paraphieren.84 Er entschied sich dafür, weil er befürchtete, daß die litauische Regierung die eigene Delegation bei ihrer für den 15. September vorgesehenen Rückkehr nach Kowno hätte instruieren können, die Zustimmung zu den bisher angenommenen Bestimmungen zu widerrufen. Am 19. September übersandte Herbst den Entwurf des Binnenschiffahrtsabkommens an das Reichsverkehrsministerium sowie 82 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 157, RVM (Oeser) an OPO, 19.9.1923. BA, R 5 / 1382, RVM (Oeser) an OPO, 19.9.1923. 83 GStA PK, XX. Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 200, Vertragstext vom 28.9.1923. BA, R 5 / 1382, Vertragstext vom 28.9.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, Vertragstext vom 28.9.1923. 84 BA, R 5 / 1382, Reisebericht von Ebhardt über die Verhandlungen in Tilsit, Königsberg sowie Kowno vom 8. September bis zum Abschluß vom 28. September 1923.
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die Reichs- und preußischen Zentralstellen mit der Bemerkung: „soweit er bisher paraphiert ist“.85 Diese Mitteilung Herbsts alarmierte den Reichsverkehrsminister. Unmittelbar nach einer ersten telegraphischen Mahnung übte er am 21. September scharfe Kritik am Vorgehen Herbsts, das offenbar eine Kompetenzüberschreitung darstelle. Die Herbst kurz zuvor erteilte Abschlußvollmacht vom 15. September besagte ausdrücklich: „Vor der Unterzeichnung wollen Sie das Abkommen zur Kenntnis der beteiligten Reichs- und preußischen Ressorts bringen.“86 Demnach sollte der Bevollmächtigte das Abkommen erst dem Reichsverkehrsministerium sowie den Berliner Zentralstellen zur Prüfung vorlegen, bevor sein Inhalt in einer unabänderlichen Form festgelegt würde. Die bereits paraphierten Artikel konnten in der Regel nicht mehr abgeändert werden. Nach der Paraphierung hatte der Reichsverkehrsminister lediglich die Wahl, sie entweder anzunehmen oder abzulehnen. Die Berliner Zentralressorts wurden durch Herbsts Vorgehen deshalb dazu gezwungen, sich eine Stellungnahme über die Einzelheiten des Abkommens zu versagen.87 Immerhin stand Ebhardt, der als Vertreter des Reichsverkehrsministeriums an den Tilsiter Verhandlungen beteiligt war, hinter Herbsts Entschließung, die Errungenschaften der deutschen Seite rechtzeitig zu sichern. Er hatte zwar in seiner ersten Mitteilung an das Reichsverkehrsminister das Verfahren zunächst damit begründet, daß es wegen der enormen Reisekosten nicht nötig scheine, zum Zweck zur Vorlage des Entwurfs nach Berlin zurückzukehren. Später gestand er in seinem Verhandlungsbericht jedoch ein: „Der Unterzeichnete [Ebhardt] glaubte im Interesse der Sache trotz entgegenstehender Instruktion seine Zustimmung zu diesem Verfahren nicht versagen zu dürfen.“88 85 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 362, OPO (Herbst) an PreußLM, 19.9.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, OPO (Herbst) an PreußHM, 19.9.1923. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 154, Entwurf, OPO (Herbst) an RVM, 19.9.1923. Mit Ausnahme von Artikel 3 und 7 wurden das Abkommen paraphiert, siehe GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 363. 86 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 138, RVM (Oeser) an OPO, 15.9.1923. BA, R 3101 / 7568, Abschrift, RVM (Oeser) an OPO, 15.9.1923. 87 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734, Bl. 368, Telegrammbrief, RVM an AA, RFM, RWiM, RMdI, PreußMdI, PreußHM, PreußLM, 21.9.1923. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 164, RVM an OPO, 21.9.1923. 88 BA, R 5 / 1382, Reisebericht von Ebhardt über die Verhandlungen in Tilsit, Königsberg sowie Kowno vom 8. September bis zum Abschluß vom 28. September 1923. Der Reisebericht auch in GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093 sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2. Auf Wunsch Herbsts bat Ebhardt bereits am 18. September 1923 das Reichsverkehrsministerium um seine Zustimmung dafür, daß das Abkommen ohne vorherige Vorlage in Berlin durch den Bevollmächtigten paraphiert werden dürfe. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 141, Ebhardt an RVM (Oppermann), 18.9.1923.
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Nach der Prüfung der schon paraphierten Artikel durch die Zentralressorts wurde die Frage der Kompetenzüberschreitung nicht weiter diskutiert. Denn der Inhalt des Abkommens entsprach zweifellos den Wünschen Deutschlands. Es blieben nur noch einige Fragen unklar, wie z. B. die Gleichberechtigung ohne Beschränkung oder mit Beschränkungen. Sofern sie in den Schlußverhandlungen zu klären seien, sollte das Abkommen unterzeichnet werden. 8. Die Unterzeichnung vom 28. September 1923 Am 15. September wurde bei der Paraphierung des Entwurfs zwischen den beiden Delegationen vereinbart, nach einer kurzen Pause am 19. September in Tilsit in die Schlußverhandlungen einzutreten. Die litauische Delegation begab sich sodann nach Kowno. Der vorgesehene Termin der Schlußverhandlung wurde jedoch auf Wunsch Litauens verschoben. Am 19. September telegraphierte die litauische Delegation aus Kowno an die deutsche Delegation, daß es ihr nicht möglich sei, nach Tilsit zurückzukommen. Am nächsten Tag teilte Litauen der deutschen Delegation telephonisch mit, daß man den Wunsch habe, die Abschlußverhandlungen nicht in Tilsit, sondern in Kowno / Kaunas zu führen, weil die bisherigen Verhandlungen ausschließlich in Deutschland stattgefunden hätten.89 Diesem Wunsch Litauens wurde von der deutschen Delegation im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt Rechnung getragen.90 Die Aufnahme der Abschlußverhandlungen erfolgte nun am 24. September in Kowno. Auf deutscher Seite waren jedoch wegen der Ersparung der Fahrkosten nur drei Ressorts, nämlich Herbst, Frankenbach sowie Ebhardt an den Verhandlungen beteiligt. An diesem Tag beschäftigten sich die beiden Delegationen mit der Klärung der noch offenen Fragen, darunter vor allem die Gleichberechtigung bei der Flußhafennutzung, bei der zolltechnischen Behandlung sowie der Gebührenfreiheit der Sichtvermerke für die Schiffsbesatzungen. Die von Litauen beantragte Einschränkung der Gleichberechtigung bei der Schleppschiffahrt auf den litauischen Gewässern konnte jedoch nicht geklärt werden. Der Widerstand der ostpreußischen Reedereien gegen diesen Antrag war besonders stark. Der Inhaber der größten Reedereifirma in Königsberg „Robert Meyhoefer“, Haslinger,91 bestand fest darauf, den Abschluß des Binnenschiffahrtsabkom89 Hierüber wurde auch auf diplomatischen Wege eine Verbalnote durch das litauische Ministerium des Äußern an die deutsche Gesandtschaft in Kowno eingereicht. PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Verbalnote (litauische Urschrift), Ministerium des Äußern an die Deutsche Vertretung in Kaunas, 20.9.1923. 90 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Telegramm aus Berlin, AA an die Gesandtschaft Kowno, 20.9.1923. 91 Haslinger, Inhaber der Firma Robert Meyhoefer, Dampfschiffahrts-Gesellschaft Königsberg.
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mens an der etwaigen Nichtgewährung völlig freier Schleppschiffahrt sogar scheitern zu lassen.92 Am nächsten Tag war die litauische Delegation nicht verhandlungsfähig, so daß die Besprechungen zunächst unterbrochen werden mußten. Die Abschlußsitzung fand am 26. September statt. Bei der Plenarsitzung waren neben den beiden Delegationen als Vertretung des Memelgebiets die Memeler Handelskammer sowie das Memeler Hafenbauamt beteiligt. Der Präsident der Memeler Handelskammer, Joseph Kraus, erklärte, daß nach wiederholtem Ersuchen der Memelländer Ministerpräsident Galvanauskas nun die Zusicherung gegeben hätte, dem deutschen Verkehr unbeschränkte Gleichberechtigung auf den litauischen Gewässern, also die Freiheit der Memelschiffahrt, einzuräumen. Damit wurde das Ziel Deutschlands tatsächlich erreicht. In diesem Sinne war auch die völlige Gleichheit beider Staaten bei der Schlepperschiffahrt vorzusehen. Anschließend berichtete er aber, daß Galvanauskas in diesem Zusammenhang überraschenderweise darauf aufmerksam gemacht habe, daß die Wasserläufe II. Ordnung im Memelgebiet (die Flüsse außer Memel und Ruß), unter der Autonomie des Memelgebiets stünden. Galvanauskas habe festgestellt, daß die Autonomie das Heiligtum der Memelländer sei, so daß diese Gewässer vom deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommen nicht erfaßt seien. Tatsächlich aber waren sie insbesondere für die Flößerei von besonderer Wichtigkeit. Unverzüglich legte Ebhardt Widerspruch ein und betonte die Anwendbarkeit des Binnenschif�fahrtsabkommens auf das Memelgebiet, da das Memelgebiet staatsrechtlich von Litauen vertreten werden könne, sobald die Memelkonvention unterzeichnet und ratifiziert sei. Es gelang der deutschen Delegation, die litauische Auslegung der Souveränitätsfrage des Memelgebiets zurückzuweisen und den litauischen und memeländischen Delegationen zu vermitteln, daß sich das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen auf alle Wasserstraßen von Litauen einschließlich derer im Memelgebiet beziehe.93 Nach der Plenarsitzung traten die beiden Delegationen noch am selben Tage in die Schlußsitzung ein. Auch über die umstrittene Frage, auf welche Weise die Bestimmungen des Lambsdorff-Abkommens beizubehalten seien, wurde schließlich Einigung erzielt. Bereits in den Tilsiter Verhandlungen war Litauen auf den Antrag Deutschlands nach Beibehaltung dieses Abkommens eingegangen. Die Frage jedoch, wie es verlängert werden sollte, war noch ungeklärt. Litauen hielt es für inakzeptabel, das Abkommen, das im Jahr 1921 zwischen dem Reichs- und preußischen Staatskommissar für das 92 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Niederschrift über das Ergebnis der Besprechung über die deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsverhandlungen im Oberpräsidium in Königsberg, 17.9.1923. 93 BA, R 5 / 1382, RVM (Kirschstein) an AA, 19.10.1923.
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Memelgebiet, Graf v. Lambsdorff, und dem von den alliierten Hauptmächten beauftragten französischen General Odry abgeschlossen worden war, in der originalen Form zu übernehmen. Kowno verlangte ferner, die Bezugnahme des Abkommens auf den Versailler Vertrag fallenzulassen (Artikel 1 des Lambsdorff-Abkommens).94 Die litauische Delegation äußerte, daß die litauische Regierung die Internationalisierung der Memel gemäß Artikel 331 bis 342 und die Einsetzung einer internationaler Kommission für die Stromverwaltung verhindern wolle.95 Sie berichtete ganz offen, daß man damals Sidzikauskas, den gegenwärtigen Berliner Gesandten, nach seiner Rückkehr nach Kowno habe hängen wollen, weil er auf der Verkehrskonferenz vom April 1921 in Barcelona das Transitstatut unterzeichnet hatte.96 Man wolle in Kowno prinzipiell die volle Transitfreiheit im Sinne des Versailler Vertrags und des Barcelona-Abkommens nicht allen Mächten einräumen. In der Schlußsitzung wurde dieser Wunsch Litauens von der deutschen Delegation ohne weiteres angenommen, allerdings mit der Maßgabe, daß die Deutschland im Versailler Vertrag eingeräumten Rechte, insbesondere die Rechte auf Beantragung der Internationalisierung der Memel sowie auf die Bildung eines internationalen Ausschusses (Artikel 331 sowie 342) nicht beeinträchtigt werden dürften. Die Einzelheiten wurden nicht in Artikel 9 des Binnenschiffahrtsabkommens, sondern in der Anlage II („Richtlinien“) aufgeführt.97 Unmittelbar nach der Schlußsitzung besuchte die deutsche Delegation in Olshausens Begleitung Ministerpräsident Galvanauskas. Die Verhandlungen wurden sodann mit der Einladung der beiden Delegationen sowie der litau94 Abkommen zwischen Preußen und dem Memelgebiet, betreffend den Memelstrom einschließlich Ruß–Skirwieth–Atmath vom 23.3.1921, in: Amtsblatt des Memelgebietes, 1922, Nr. 9, S. 51. Artikel 1: „Die Schiffahrt auf dem Memelstrom unterliegt den Bestimmungen der Art. 331 bis einschließlich 345 des Versailler Friedensvertrags. […]“. 95 Später erinnerte das Reichsverkehrsministerium das Auswärtige Amt wiederholt an die Haltung Litauens in den Binnenschiffahrtsverhandlungen von 1923. Litauen sei stets bestrebt, in den Verträgen mit Deutschland jede Bezugnahme auf den Versailler Vertrag zu vermeiden. „Die litauische Politik hat es seither bei allen Gelegenheiten folgerichtig verstanden, in Verträgen mit dem Deutschen Reiche jede Bezugnahme auf den V. v. V. [scil. Vertrag von Versailles] zu vermeiden. Besonders deutlich trat dies bei den Verhandlungen über das Kauener Schiffahrtsabkommen von 1923 und über das zur Zeit zur Ratifizierung reife Wasserwirtschaftliche Abkommen in die Erscheinung.“ PA AA, R 124360 (Schiffahrtsreferat), RVM an AA, 1.4.1929. 96 Hierzu siehe vor allem die Berichte von Ebhardt über den Inhalt des Abkommens, GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 207 ff. (hier Bl. 211). 97 BA, R 5 / 1382, Der Inhalt des Abkommens als Beilage zur Reisebericht von Ebhardt vom 8. bis 28.9.1923. (Siehe auch GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 207). Anlage II des Abkommens: Richtlinien zu Artikel 9 des Schiffahrtsabkommens.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
ischen Regierungsstellen in die deutsche Gesandtschaft in Kowno erfolgreich abgeschlossen. Bei diesen Gelegenheiten gelangte Olshausen zur Überzeugung, daß auch auf litauischer Seite eine befriedigende Stimmung herrsche. Mit Rücksicht auf den vorteilhaften Inhalt des Abkommens sowie den besonderen günstigen Moment gab der Gesandte dem Leiter der deutschen Delegation, Herbst, den dringenden Rat, trotz entgegenstehender Instruktion des Reichsverkehrsministers jetzt zu beschließen, „das Errungene am folgenden Tage nach der Festlegung des deutschen und litauischen Textes alsbald zu paraphieren und – auf Grund der vorliegenden Vollmacht – auch durch Unterschrift festzuhalten.“98 Olshausen war der Auffassung, „daß das Eisen geschmiedet werden muß, solange es warm ist, und daß eine alsbaldige unterschriftliche Fixierung der heutigen Abmachungen sich empfiehlt.“99 Herbst kam, mit Zustimmung Ebhardts, Olshausens dringender Empfehlung nach.100 Das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen wurde somit am 28. September 1923 in Kowno / Kaunas durch den deutschen Verhandlungsleiter, Oberpräsidialrat Herbst, einerseits und den litauischen Verhandlungsleiter, Vizeministerialdirektor Skardinskas, andererseits unterzeichnet. Kurz danach beglückwünschte der Reichsverkehrsminister die ostpreußischen Behörden: „Für die umsichtige und erfolgreiche Führung der Verhandlungen spreche ich allen beteiligten Herren, insbesondere Herrn Oberpräsidialrat Dr. Herbst und Herrn Regierungsrat Dr. Rohde sowie Herrn Regierungs- und Baurat Strasburger vom Wasserbauamt Tilsit meine besondere Anerkennung aus.“101
98 BA, R 5 / 1382, Reisebericht von Ebhardt über die Verhandlungen in Tilsit, Königsberg sowie Kowno vom 8. September bis zum Abschluß vom 28. September 1923. 99 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Olshausen an AA, 26.9.1923. 100 BA, R 5 / 1382, Reisebericht von Ebhardt über die Verhandlungen in Tilsit, Königsberg sowie Kowno vom 8. September bis zum Abschluß vom 28. September 1923. 101 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 179, RVM (Oeser) an OPO, 2.10.1923.
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9. Der Inhalt des Binnenschiffahrtsabkommens102 1. Die Gleichberechtigung Das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen (vgl. Anhang, Abb. 4, S. 858 und Abb. 5, S. 863) mit seinen zwölf Artikeln sowie Anlagen wurde als Verwaltungsabkommen zwischen den Verkehrsministerien beider Staaten am 28. September 1923 in Kowno unterzeichnet. Der Schwerpunkt des Abkommens lag vor allem darin, daß auf allen litauischen Gewässern volle Gleichberechtigung des deutschen Schiffahrts- und Flößereiverkehrs mit dem Litauens gewährt wurde. Die paritätische Behandlung des Verkehrs beider Staaten erstreckte sich nicht nur auf die ungehinderte Nutzung sämtlicher Wasserstraßen, Einrichtungen, Häfen sowie Anlagestellen, sondern auch auf den Bereich der Gebühren und sonstigen Abgaben (Artikel 1, 2, 4, 5, 6). 2. Der räumliche Geltungsbereich Dagegen war der räumliche Geltungsbereich des Abkommens prinzipiell auf die Gewässer in der Provinz Ostpreußen und Litauen beschränkt (Artikel 1). Die Einschränkung des räumlichen Geltungsbereichs auf die Provinz Ostpreußen wurde vom Reichsverkehrsministerium durchaus für zweckmäßig gehalten.103 3. Das Verwaltungsabkommen und seine vertrauliche Behandlung Daß das Binnenschiffahrtsabkommen als Verwaltungsabkommen abgeschlossen und somit nicht veröffentlicht wurde, entsprach dem Wunsch Litauens.104 Die litauische Regierung wollte nicht künftig dazu gezwungen sein, Polen bzw. der UdSSR die dem deutschen Verkehr eingeräumte Gleichberechtigung auf der Memel im Wege der Meistbegünstigung einzuräumen, wenn auf Meistbegünstigung beruhende Handelsverträge mit diesen Staaten abgeschlossen würden. Bei dem Eintritt in die Binnenschiffahrtsver102 Der von beiden Bevollmächtigten handschriftlich unterzeichnete Originaltext des Binnenschiffahrtsabkommens befindet sich in: GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 168, Vertragstext (Maschinenschrift mit der originellen Unterzeichnung und Datierung von Herbst und Skardinskas, am 28. September 1923 in Kaunas). Der Vertragstext vom 28. September 1923 mitsamt dem Reisebericht von Ebhardt vom 28. September 1923 befindet sich in: GStA PK, XX. HA. Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 200 f., RVM, siehe auch GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, sowie BA, R 5 / 1382. 103 GStA PK, XX. HA. Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 157, RVM an OPO, 19.9.1923. 104 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 231, Abschrift, RVM, 3.4.1924.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
handlungen war Litauen von vornherein bereit gewesen, dem deutschen Verkehr die Gleichberechtigungsklausel auf litauischen Wasserstraßen zu gewähren, allerdings unter der Voraussetzung, daß damit kein Präjudiz für das Verhältnis zu Polen verbunden sein dürfe. Der Abschluß des Binnenschiffahrtsabkommens in Form eines Verwaltungsabkommens war deshalb theoretisch eine den Interessen beider Seiten entsprechende Lösung, weil die vereinbarten örtlichen Bestimmungen nötigenfalls von der Meistbegünstigung auszunehmen waren. In dieser Hinsicht war die Einschränkung des räumlichen Geltungsbereichs in Deutschland auf die ostpreußischen Gewässer von Bedeutung. Außerdem erforderte ein Verwaltungsabkommen weder die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften, noch die Veröffentlichung des Vertragstextes, was vollkommen dem litauischen Wunsch entsprach. Auf welche Weise konnte man aber einem zunächst geheim zu haltenden Verwaltungsabkommen völkerrechtliche Wirksamkeit verschaffen? Tatsächlich bedachte das Reichsverkehrsministerium beim Abschluß des Abkommens den Fall einer Nichterfüllung der vertraglichen Verpflichtungen Litauens. Es stellte sich die Frage, an welche Instanz sich Deutschland in einem solchen Falle wenden könnte. Mit Rücksicht darauf trat das Reichsverkehrsministerium dafür ein, dem Verwaltungsabkommen eine völkerrechtlich einwandfreie Form zu geben. Ihm zufolge sollte deshalb das Abkommen zur Sicherstellung seiner rechtlichen Stellung durch Ratifizierung in Kraft gesetzt werden. 4. Die Ratifizierung und Vertragsfrist Artikel 12 bestimmt, daß das Abkommen durch beide Regierungen ratifiziert werden solle. Die Ratifikationsurkunden sollten nach dem Vertragsschluß alsbald in Berlin ausgetauscht werden und das Abkommen mit dem Tage der Ratifikation in Kraft treten. Die Vertragsfrist wurde zunächst auf den 31. Dezember 1924 festgesetzt. Von diesem Zeitpunkt an sollte das Abkommen solange in Kraft bleiben, wie es nicht von einer der vertragschließenden Parteien mit einer sechsmonatigen Frist vor Jahresschluß gekündigt würde. 5. Keine Inanspruchnahme diplomatischer Instanzen Das Reichsverkehrsministerium legte großen Wert auf die Bestimmungen von Artikel 10. Danach sollten die sich aus der Ausführung des Abkommens ergebenden Schwierigkeiten ohne Vermittlung diplomatischer Instanzen durch ein unmittelbares Benehmen zwischen den örtlichen Instanzen beider Staaten erledigt werden. Artikel 10 Absatz 1 lautete: „Alle dem gegenwär-
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tigen Abkommen unterliegenden Angelegenheiten betreffs Schiffahrt, Flößerei, Verwaltung und Unterhaltung der Wasserwege werden zwischen dem Oberpräsidenten (Wasserbaudirektion) in Königsberg i. Pr. und der Chauseeund Wasserstraßenverwaltung in Kaunas ohne Inanspruchnahme der diplomatischen Instanzen unmittelbar geregelt. […]“ Der Versuch, die Verkehrsverwaltung den örtlichen Instanzen beider Staaten anzuvertrauen, ging insbesondere auf den Wunsch des Reichsverkehrsministeriums zurück. Das Ministerium sah es als besonders wünschenswert an, lediglich den reinen Uferstaaten die Verkehrs- und Stromverwaltung für das gesamte Stromgebiet der Memel / des Njemen zu überlassen, um so der Anordnung des Versailler Vertrags entgegenzutreten.105 Laut Artikel 342 des Versailler Vertrags sollte die Memel der Verwaltung eines internationalen Ausschusses unterstellt werden, sofern ein Uferstaat beim Völkerbund dessen Berufung beantragte. Dieser internationale Ausschuß sollte sich zusammensetzen aus je einem Vertreter der Uferstaaten und aus drei Vertretern von anderen Staaten, die durch den Völkerbund zu bestimmen seien. Es erschien aber besonders problematisch, daß Artikel 331 die Memel bis Grodno für schiffbar und deshalb für international erklärte. Die Alliierten hatten ursprünglich die Absicht gehabt, das westlich von Grodno liegende Gebiet Polen zuzuschlagen. Infolge des polnisch-sowjetischen Krieges verschob sich die Ostgrenze Polens ca. 250 km östlich von Grodno. Obwohl die NjemenFlößerei vom weißrussischen Waldgebiet aus, also oberhalb von Grodno, durchaus möglich war, wurde die Teilnahme der Sowjetstaaten an dem vorgesehenen internationalen Ausschuß für die Verwaltung der Memel von vornherein ausgeschaltet. Nicht zuletzt sah Artikel 342 neben der Vertretung der Uferstaaten (Deutschland, Litauen, Polen, ggf. Memelland) die Teilnahme von drei Vertretern vom Völkerbund bezeichneter Nichtuferstaaten vor. Ziel war es, die deutschen Binnenschiffahrtsstraßen einer dauernden internationalen Kontrolle zu unterwerfen, was eine Intervention der Nichtuferstaaten in die Hoheitsrechte der Uferstaaten darstellte.106 Unter diesen Umständen, unter denen die Teilnahme Großbritanniens und Frankreichs als Vertretung des Völkerbunds an diesem Ausschuß kaum zu vermeiden war, hielten Deutschland und Litauen die Anwendung von Artikel 342 in absehbarer Zeit für nicht zweckmäßig – es bestand die Gefahr, daß Polen unter Mitwirkung von Frankreich und Großbritannien das Heft in die Hand hätte nehmen können.107 Artikel 10 des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens stellte deshalb den Versuch dar, den ersten Schritt zu unternehmen, auf regionaler 105 BA,
R 5 / 405, RVM an AA, 24.7.1923. (1936), S. 5 f. 107 Vgl. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093 sowie BA, R 5 / 1382, Reisebericht sowie Inhalt des Abkommens, RVM, Ebhardt, September 1923. 106 Giesecke
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Initiative eine reine Uferkommission (Deutschland, Litauen, Polen, die UdSSR) ins Leben zu rufen und ihr die Verwaltung der Memelschiffahrt anzuvertrauen. Das Reichsverkehrsministerium hoffte, daß das durch den Versailler Vertrag zerstörte Uferstaatenprinzip somit wiederhergestellt werden könne.108 Den Informationen Ebhardts zufolge hatte auch die UdSSR ihr Interesse an der Teilnahme an einer solchen Uferkommission signalisiert, vor allem nach der auf Antrag des Reichsverkehrsministeriums erfolgten Anfrage des Auswärtigen Amts. Auf diese Weise hätte sich das politische Verhältnis in der Uferkommission eher als in einem vom Völkerbund zu berufenden internationalen Ausschuß zugunsten Deutschlands und Litauens verschieben können. Denn Polen war in dieser Streitfrage als der gemeinsame Kontrahent Deutschlands, Litauens sowie Rußlands an zusehen.109 10. Zur Ratifikationsform Kurz nach dem Abschluß des Binnenschiffahrtsabkommens urteilte Frankenbach: „Die litauische Regierung hat ihre Bedenken gegen die Zustimmung zur gegenseitigen freien Schiffahrt fallen lassen, so daß ein den deutschen Interessen voll gerechtwerdendes Abkommen zustande gekommen ist.“110 In Deutschland war man vom erfolgreichen Abschluß überzeugt und legte deshalb Wert darauf, das Abkommen baldmöglichst in Kraft zu setzen. Am 2. Oktober 1923 beauftragte der Reichsverkehrsminister den Oberpräsidenten damit, die Zustimmung Litauens zur vorgesehenen Ratifikationsform einzuholen. Die Ratifikation sollte durch die Bestätigung der beiden Verkehrsminister namens der zuständigen Stellen beider Staaten erfolgen. Der Reichsverkehrsminister erinnerte den Oberpräsidenten daran, Litauen ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Vereinbarung über die Ratifizierung des Abkommens, die ohne Heranziehung der gesetzgebenden Körperschaften und der Öffentlichkeit erfolgen sollte, in erster Linie auf das Ent108 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, Abschrift, RVM an AA, 24.7.1923. Das Reichsverkehrsministerium beantragte im Juli 1923 beim Auswärtigen Amt, allen Uferstaaten die Notwendigkeit der Bildung einer Uferkommission mitzuteilen. Dabei vertrat es den Standpunkt: „Auch die zurzeit für die ostpreußische Provinzialinstanz angestrebten Verhandlungen über Schiffahrtsfragen könnten hier den Boden schon etwas bereiten.“ 109 BA, R 5 / 405, Reisebericht von Ebhardt über die Verhandlungen im Juni 1923 in Königsberg und Tilsit. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 84, RVM (Ebhardt), Programm für die Schiffahrtsverhandlungen mit Litauen, 14.7.1923. BA, R 5 / 1382, Reisebericht von Ebhardt über die Verhandlungen in Tilsit, Königsberg sowie Kowno vom 8. September bis zum Abschluß vom 28. September 1923. 110 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Frankenbach an PreußMP, 2.10.1923.
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gegenkommen Deutschlands zurückgehe.111 Während sich Deutschland auf diese Weise rasch für die Vorbereitung der Ratifizierung einsetzte, hatte Litauen tatsächlich kein Interesse daran. Die von Deutschland abweichende Auffassung Litauens bereitete weitere Schwierigkeiten. Auf Anfrage des Oberpräsidenten teilte der litauische Delegationsleiter, Skardinskas, Mitte Oktober 1923 überraschenderweise mit, daß er bis zum Eingang des Schreibens des Oberpräsidenten überhaupt nicht gewußt habe, daß das Abkommen ohne parlamentarische Behandlung durch die Bestätigung der exekutiven Behörden in Kraft gesetzt, also „ratifiziert“ werden könne. Auf eine weitere Nachfrage des Gesandten v. Olshausen antwortete Skardinskas, daß er zuerst mit Ministerpräsident Galvanauskas Rücksprache halten wolle, um zu prüfen, ob die litauische Verfassung die Einordnung eines Verwaltungsabkommens kenne, und ob sie ein Abkommen gestatte, das durch die Bestätigung der zuständigen Regierungsstellen ohne parlamentarische Behandlung in Kraft gesetzt werden könne. Skardinskas fügte hinzu, daß er persönlich damit einverstanden sei, die Ratifikation in einer vereinfachten Form beschleunigt stattfinden zu lassen.112 Diese Erklärung von Skardingskas bestätigte sein Vorgesetzter, der Direktor des litauischen Verkehrsministeriums.113 Ende Oktober sicherte Skardinskas der deutschen Gesandtschaft abermals zu, daß das Abkommen nicht durch das Parlament, sondern durch exekutive Behörden bestätigt werden solle.114 Nach eingehender Prüfung des Vertragstextes erhob aber das Auswärtige Amt in Berlin Einwände vor allem gegen Artikel 12 (die Ratifikation). Es vertrat den Standpunkt, daß diese Bestimmung mit einer seinerzeit mit dem litauischen Gesandten getroffenen Vereinbarung nicht im Einklang stehe. Artikel 12 sah vor, daß das Abkommen durch beide Regierungen ratifiziert und die Ratifikationsurkunden in Berlin alsbald ausgetauscht werden sollten. Daraus sollte der Eindruck entstehen, als ob ein Staatsvertrag, der die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften benötige, abgeschlossen worden sei, was offenbar der seinerzeit mit dem litauischen Gesandten getroffenen Vereinbarung in Berlin, mit Rücksicht auf Polen keinen Staatsvertrag abzu111 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 179, RVM (Oeser) an OPO, 2.10.1923. 112 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 190, Deutscher Gesandter in Kowno (Olshausen), 18.10.1923. PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Deutsche Gesandtschaft Kowno (Olshausen) an OPO, 18.10.1923. 113 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 191, Deutsche Gesandtschaft Kowno (Olshausen) an OPO, 25.10.1923. Der Direktor des litauischen Verkehrsministeriums, Schimoliunas, äußerte sein Einverständnis zur Fertigstellung der litauischen Fassung des Vertragstextes sowie der vereinfachten Ratifikationsform. 114 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 192, Viceministerialdirektor Skardinskas an Oberpräsidialrat Herbst, 29.10.1923.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
schließen, entgegenstand. Daher ordnete das Amt an, die Zustimmung Litauens dafür einzuholen, daß unter „Ratifikation“ nur verstanden werden solle, das Abkommen durch die einfache Genehmigungserklärung beider Regierungen durch Notenwechsel zu ratifizieren.115 Auf diese Anfrage Berlins teilte der litauische Gesandte sogleich das Einverständnis seiner Regierung mit.116 Das Auswärtige Amt wandte sich aber gegen das Vorhaben des Reichsverkehrsministeriums, das die Ratifizierung des Abkommens durch die Bestätigung der Verkehrsminister beider Staaten vorsah.117 Das Amt hielt es vielmehr für angezeigt, damit die diplomatischen Instanzen, vor allem den deutschen Gesandten in Kowno zu beauftragen. Dieser sollte mit seiner Note der litauischen Regierung erklären, daß das Abkommen von der Regierung des Deutschen Reiches genehmigt worden sei.118 Mit Rücksicht auf die prekäre politische Lage zwischen den Vertragsparteien wurde diesem Vorschlag des Auswärtigen Amts vom Reichsverkehrsminister Rechnung getragen. Er erklärte sein Einverständnis und bat formell das Auswärtige Amt darum, v. Olshausen anzuweisen: „daß er die Bestätigung des Abkommens namens der Reichsregierung ausspricht.“119 Was den Vertragstext des Binnenschiffahrtsabkommens anging, bereitete Litauen weitere Schwierigkeiten. Nach dem Prinzip der völkerrechtlichen Gleichberechtigung sollten im allgemeinen zweiseitige Verträge in den Landessprachen der Vertragsparteien abgefaßt werden.120 Artikel 12 des Binnenschiffahrtsabkommens bestimmte nach diesem Prinzip die Abfassung des Vertragstextes in deutscher und litauischer Urschrift.121 Der am 28. September von Herbst und Skardinskas unterzeichnete Vertragstext war lediglich in deutscher Sprache abgefaßt. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, den deutschen Vertragstext ins Litauische zu übersetzen. Die endgültige Unterzeichnung des Abkommens sollte erst erfolgen, nachdem die beiden Vertragstexte in deutscher Urschrift einerseits und litauischer Urschrift andererseits von den beiden Bevollmächtigten unterzeichnet worden waren. Herbst forderte Litauen deshalb dazu auf, den in litauischer Sprache abge115 PA AA,
Gesandtschaft Kowno, 130, AA an Gesandtschaft Kowno, 23.10.1923. Gesandtschaft Kowno, 130, AA an Gesandtschaft Kowno, 30.10.1923. 117 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 199, RVM an sämtliche Reichsminister, Staatssekretär der Reichskanzlei, Büro des Reichspräsidenten, 13.10.1923. 118 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Frankenbach an Herbst, 20.11.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Abschrift, OPO an OPV, 10.11.1923. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 213, Deutsche Diplomatische Vertretung in Litauen / Der Deutsche Gesandte (Seiler) an OPO, 17.11.1923. 119 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, RVM (Oeser) an AA, u. a. m., 23.11.1923. 120 Handbuch der Völkerrechtspraxis der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Michael Schweitzer und Albrecht Weber, Baden-Baden 2004, S. 57. 121 BA, R 5 / 1382, Vertragstext vom 28.9.1923, Artikel 12. 116 PA AA,
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)323
faßten Vertragstext baldmöglichst der deutschen Seite zu übergeben. Ende Oktober 1923 antwortete Skardinskas, daß der Vertragstext bereits übersetzt und geprüft worden sei. Er sei jedoch nicht imstande, der deutschen Seite diesen Vertragstext mit seiner Unterschrift zu übersenden, denn der litauische Gesandte, Sidzikauskas, habe den in Deutsch abgefaßten Vertragstext nach Berlin mitgenommen. Das litauische Verkehrsministerium sei deshalb nicht in der Lage, dem Oberpräsidenten die von Litauen unterschriebenen Vertragstexte in beiden Sprachen zu überweisen.122 Unmittelbar danach teilte die litauische Regierung jedoch auf Anfrage der deutschen Gesandtschaft mit, daß der in litauischer Urschrift abgefaßte Vertragstext voraussichtlich am 12. November unterzeichnet werde.123 Am 17. November bestätigte die deutsche Gesandtschaft den Eingang des litauischen Vertragstexts mit der Unterzeichnung des litauischen Bevollmächtigten Skardinskas. Problematisch war jedoch, daß die litauische Regierung mit seiner Übersendung den Wunsch verband, das Unterzeichnungsdatum des Binnenschiffahrtsabkommens weder auf den 28. September, an welchem Tage das Abkommen in Kowno abgezeichnet worden war, noch auf den Tag der endgültigen Unterzeichnung, die nach dem Eingang des litauischen Vertragstexts durch die Unterzeichnung des deutschen Bevollmächtigten Herbst erfolgen sollte, festzulegen. Die litauische Regierung bat Deutschland darum, das Unterzeichnungsdatum vielmehr offenzulassen.124 Sie übergab deshalb der deutschen Gesandtschaft den litauischen Vertragstext mit der Unterzeichnung durch den litauischen Bevollmächtigten, aber ohne Datierung. Gegen dieses Vorgehen wurde aber kein Einwand seitens der deutschen Gesandtschaft erhoben. Sie sah die Lage sogar optimistisch, weil nach wie vor „das Abkommen erst mit dem Austausch der Ratifika tionsurkunden in Kraft tritt.“125 Im Gegensatz zu dieser Einschätzung des Legationssekretärs Seiler wurde aber das Inkrafttreten weiterhin durch die Manöver Litauens verschleppt. 11. Die Sowjetunion und Litauen Während der Oberpräsident mit Litauen über die Ratifikation des Binnenschiffahrtsabkommens verhandelte, spielte sich zur selben Zeit ein Versuch 122 GStA
PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 192, Skardinskas an Herbst, 29.10.
123 GStA
PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 196, OPO, 10.11.1923. Gesandtschaft Kowno, 130, Entwurf, Gesandtschaft Kowno an OPO,
1923.
124 PA AA,
17.11.1923. 125 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 213, Deutsche Diplomatische Vertretung in Litauen / Der Deutsche Gesandte (Seiler) an OPO, 17.11.1923.
324
2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Litauens ab, mit der Reichswehr sowie mit dem Auswärtigen Amt über die Möglichkeit eines deutsch-litauischen Militärbündnisses gegen Polen zu verhandeln.126 Unter strenger Geheimhaltung wurden sowohl der Oberpräsident als auch das Reichsverkehrsministerium von diesen militärpolitischen Unternehmungen völlig ausgeschlossen. Gleich nach der Unterzeichnung des Binnenschiffahrtsabkommens, am 4. Oktober 1923, besuchten inoffizielle litauische Unterhändler, die angeblich zu einem privaten Schützenbund gehörten, das Wehrkreiskommando I in Königsberg und äußerten den Wunsch, mit Wissen und Billigung der litauischen Regierung über eine mögliche enge Kooperation zwischen Litauen und Deutschland zu verhandeln. Es ging dabei um folgende Alternativen: 1. Ein inoffizielles Defensivabkommen zwischen privaten deutschen und litauischen Verbänden, wie z. B. mit dem Heimatbund. 2. Ein offizielles Defensivabkommen zwischen Deutschland und Litauen, ggf. zwischen Ostpreußen und Litauen. 3. Ein offizielles Bündnis mit offensivem Charakter zwischen Deutschland und Litauen gegen Polen. Das Wehrkreiskommando in Königsberg erklärte, daß es nicht befugt sei, über derartige Frage zu verhandeln. Auf die entsprechende Mitteilung des Wehrkreiskommandos erwiderte das Reichswehrministerium, daß man feststellen müsse, ob der Vorschlag der inoffiziellen Unterhändler wirklich auf die Weisung der litauischen Regierung zurückging. Am 28. Oktober besuchten die gleichen Litauer abermals das Wehrkreiskommando in Königsberg und teilten mit, daß die litauische Regierung um eine offizielle Besprechung gebeten habe. Außerdem wurde die Teil nahme des litauischen Kriegsministers, des Generalstabschefs, des Außen ministers sowie des Ministerpräsidenten Galvanauskas vorgesehen.127 Am 20. November 1923 trat die deutsche Gesandtschaft in Kowno, vor allem Legationssekretär Seiler, mit Galvanauskas in Verbindung, um das eigentliche Ziel der litauischen Regierung zu sondieren. Auf Anfrage Seilers räumte Galvanauskas die von ihm gegebene Instruktion ein. Er habe seine Unterhändler damit beauftragt, im Hinblick auf einen möglichen Überfall Polens gegen die Grenzen Deutschlands und Litauens beim Wehrkreiskommando sowie dem Heimatbund anzufragen.128 Außerdem zeigte sich Kowno optimistisch, daß Moskau mit einem derartigen Arrangement durchaus einverstanden sein würde.129 Nach der Analyse des Generals v. Seeckt konnte 126 PA AA,
1923.
NL Brockdorff-Rantzau, 14 / 2, Maltzan an Brockdorff-Rantzau, 29.11.
127 ADAP, Ser. A, Bd. VIII, Dok. 220, General v. Seeckt an Reichskanzler Stresemann, 31.10.1923, S. 569 f. 128 ADAP, Ser. A, Bd. IX, Dok. 8, Aufzeichnung von Seiler über die Unterredung mit Galvanauskas vom 20.11.1923, S. 14 f. 129 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 14 / 2, Maltzan an Brockdorff-Rantzau, 29.11. 1923.
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)325
Deutschland das litauische Angebot lediglich in folgender Hinsicht annehmen: 1. Derartige Verhandlungen dürften ausschließlich zwischen Berlin und Kowno, also zwischen der Reichsregierung und der litauischen Regierung geführt werden. Sie durfte keinesfalls zwischen Königsberg und Kowno stattfinden, auch wenn es sich in erster Linie um die Verteidigung Ostpreußens handeln sollte.130 Insofern seien das Auswärtige Amt und die Reichswehr bereit, die Besprechung mit Litauen aufzunehmen, „indem grundlegende Fragen nur zwischen der deutschen Regierung und Litauen, niemals mit ostpreußischen Behörden gesondert behandelt werden.“131 2. Für Deutschland kam lediglich ein Defensivbündnis in Betracht. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Deutschland und dem kleinen Agrarland, das militärisch kaum leistungsfähig war, konnte von einem Offensivbündnis keine Rede sein. 3. Das Zustandekommen eines militärischen Bündnisses zwischen Deutschland und Litauen hing lediglich von der Haltung Rußlands ab. Seeckt war davon überzeugt, daß allein Rußland als künftiger Partner eines militärischen Bündnisses zu betrachten sei.132 Polen war zwar als ein gemeinsamer Gegner Deutschlands, Litauens und Rußlands anzusehen. Die Bildung eines Bündnisses zwischen diesen drei Staaten stieß aber auf Schwierigkeiten, vor allem aus politischen Gründen. Die Ausbreitung des Kommunismus wurde sowohl in Deutschland als auch in Litauen als gefährlich erachtet, so daß man sich vor die Aufgabe gestellt sah, die Einflußnahme der Komintern auf die Außenpolitik auszuschalten. Ende Oktober 1923 erhielt das Auswärtige Amt eine aus Kowno stammende Nachricht. Ihr zufolge sollte Viktor Kopp (vom sowjetischen Außenkommissariat) anläßlich eines Besuchs in Warschau Mitte Oktober der polnischen Regierung mitgeteilt haben, daß Rußland im Fall eines polnischen Überfalls in die Grenze Ostpreußens unverzüglich gegen Polen marschieren werde.133 Vor seinem Warschauer Besuch hatte Kopp zuerst die Regierung in Kowno besucht, um Galvanauskas zu sprechen. Kopp fragte ihn nach der Haltung Litauens für den Fall, daß eine kommunistische Regierung in Deutschland zustande käme und Rußland dann zusammen mit Deutschland 130 ADAP, Ser. A, Bd. IX, Dok. 8, Aufzeichnung von Seiler über die Unterredung mit Galvanauskas vom 20.11.1923, S. 14 f. 131 ADAP, Ser. A, Bd. VIII, Dok. 220, General v. Seeckt an Reichskanzler Streesemann, 31.10.1923, S. 569 f. 132 Über die Kontaktaufnahme zwischen den Sowjets und Seeckt siehe Edward Hallett Carr: A History of Soviet Russia. Socialism in one country 1924–1926, Vol. 3, Part I und II, London 1964, S. 46 f. 133 ADAP, Ser. A, Bd. VIII, Dok. 221, Generalkonsul in Memel an AA, 31.10. 1923, S. 572 f. Über den Warschauer Besuch von Viktor Kopp im Oktober 1923 siehe vor allem Günter Rosenfeld: Sowjetunion und Deutschland 1922–1933, Berlin 1984, S. 58 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Polen angegriffen hätte. Galvanauskas erwiderte, daß Litauen in diesem Falle neutral bleiben werde.134 Kopp fragte weiter, ob Litauen bereit sei, der Roten Armee den Durchmarsch durch das litauische Hoheitsgebiet nach Deutschland zu erlauben, falls die Sowjetregierung im Falle einer kommunistischen Revolution ihre Armee nach Deutschland expedieren wolle. Galvanauskas lehnte diese Möglichkeit strikt ab und erklärte, daß die litauische Regierung nötigenfalls sogar die litauische Armee einsetzen würde, um einen Durchmarsch der Roten Armee zu verhindern.135 Kopps Sondierungsreise führte durch Polen und das Baltikum. Sowohl Außenkommissar Čičerin als auch der Botschafter Brockdorff-Rantzau warteten gespannt auf seine Rückkehr.136 Nach dem Abschluß des Rapallo-Vertrags vom April 1922 kam Litauen die Brückenstellung zwischen Deutschland und Rußland zu. Die klar umschriebene Aufgabe des deutschen Gesandten in Kowno lag darin, die Normalisierung der Beziehungen und die Intensivierung der Kontakte Berlins mit Moskau auf dem Wege über Litauen zu erzielen.137 Im Juni 1922 wurde Olshausen ins Amt des Leiters der diplomatischen Vertretung in Kowno berufen. Alsbald wurde er zu einem engen Kreis hinzugezogen, der eine aktive Ostpolitik zwischen Berlin und Moskau betrieb. Zu den maßgebenden Personen dieses Kreises zählten vor allem Staatssekretär v. Maltzan in Berlin und der Moskauer Botschafter v. Brockdorff-Rantzau, der im November 1922 die Moskauer Stelle antrat. Während der Abschluß des Rapallo-Vertrags nicht zuletzt auf die Initiative Maltzans zurückging, versuchte Brockdorff-Rantzau, die Freundschaft beider Staaten im Geist von Rapallo zu entwickeln. Es gelang Maltzan auch, den Kownoer Gesandten zu überzeugen, daß das Reich sich aus einem rein defensiven Zustande herauswinden und sich endlich nach irgendeiner Richtung hin zu positiver Politik aufschwingen müsse. Im Einvernehmen mit Maltzan lud BrockdorffRantzau im November 1923 Olshausen und Graf von der Schulenburg138 nach Moskau ein, um sie dort mit den maßgebenden Personen in Berührung 134 ADAP,
Ser. A, Bd. VIII, Siehe Anm. 2 von Dok. 221, S. 572. Part II, Ser. F, Vol. 60, Doc. 80, Baltic States. Annual Report 1923, S. 118–192 (hier S. 172). „Their lack of confidence in Russia is also proved by the reply made by M. Galvanauskas to His Majesty’s Minister at the time of Victor Kopp’s visit to Kovno. The Prime Minister stated, in reply to a question whether Lithuania would allow Red troops to pass through the republic in the event of the Soviet Government wishing to send them to Germany, that the Lithuanian Government would never agree to their passage and would, if necessary, employ armed force to prevent it.“ 136 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 14 / 2, Brockdorff-Rantzau an Maltzan, 6.11.1923. 137 PA AA, NL Olshausen (Lebenserinnerungen, Bd. 2), S. 53 f. 138 Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg (1875–1944). 135 BDFA,
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)327
zu bringen.139 Bei dem von Brockdorff-Rantzau vorbereiteten Diner am 21. November fragte der sowjetische Außenkommissar Čičerin zunächst Olshausen danach, ob Litauen eine Annährung an Polen beabsichtige. Sein Argwohn begründetete sich vor allem dadurch, daß Frankreich und Polen bestrebt waren, Litauen aus dem deutsch-russischen Block herauszulösen. Er fragte weiter, ob die Kownoer Regierung in der Lage sei, den Werbungen der Entente zu widerstehen. Darauf antwortete Olshausen, daß Litauen keinesfalls auf eine Verständigung mit Polen eingehen werde, soweit die Wilnafrage weiter bestünde. So stellte er fest, daß Litauen ungeachtet der ihm gewährten Unterstützung durch die Alliierten in der Memelfrage nicht einfach auf seine Annährung an Deutschland und Rußland verzichten könne, was bei Brockdorff-Rantzau volle Zustimmung fand.140 Der Außenkommissar äußerte nun, daß er dennoch Galvanauskas’ Haltung skeptisch betrachte, weil dieser auf Kopps Frage nach der litauischen Haltung im Falle eines eventuellen polnisch-russischen Konflikts, im Gegensatz zur russischen Erwartung einer litauischen Mitwirkungsbereitschaft, nicht über ein Neutralitätsversprechen hinausgegangen sei.141 Anfang Dezember erfuhr Olshausen in Riga bei seiner Rückreise aus Moskau, daß die Sowjetregierung am 23. November Lettland und Litauen den Abschluß eines Neutralitätspakts vorgeschlagen habe. Einer Auskunft von Galvanauskas vom 8. Dezember zufolge war diese Nachricht als vertrauenswürdig anzusehen. Die Absichten der Sowjetregierung zum Abschluß eines Neutralitätspakts mit Litauen gingen auf folgende Punkte aus: 1. Die gegenseitige Garantie der russisch-litauischen Grenze unter der Bedingung, daß Litauen nichts gegen die Grenze Ostpreußens unternehmen dürfe. 2. Ein Transitabkommen durch Litauen. 3. Die gegenseitige Neutralitätsverpflichtung bei Angriff eines Dritten auf einen der beiden vertragschließenden Parteien.142 Nach seiner Rückkehr nach Kowno war Olshausen davon überzeugt, daß die Aufgabe der deutschen Außenpolitik nun darin liegen müsse, die Beziehungen zwischen Rußland und Litauen in dieser Richtung, also dem Abschluß von Neutralitätspakten zwischen den Sowjets und den baltischen Staaten, zu fördern und das freundschaftliche Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland auch in Litauen amtlicherseits zu betonen. Er hoffte deshalb, die Gelegenheit zu erhalten, die litauische Regierung auf die Annahme der russischen Vorschläge, soweit es im Rahmen diskretester 139 PA AA,
1923.
140 PA
NL Brockdorff-Rantzau, 14 / 2, Brockdorff-Rantzau an Maltzan, 14.11.
AA, NL Olshausen (Lebenserinnerungen, Bd. 2), S. 69 f. Ser. A, Bd. IX, Dok. 47, Gesandter in Kowno v. Olshausen an AA, 8.12.1923, S. 110 f. 142 ADAP, Ser. A, Bd. IX, siehe Anm. 3 von Dok. 47, S. 110. 141 ADAP,
328
2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Zurückhaltung möglich sei, hinzuweisen. Der Neutralitätsvorschlag Rußlands gegenüber Litauen veranlaßte Olshausen zu dem Gedanken, daß der Zeitpunkt gekommen sei, „unseren Einfluß mit allen Mitteln in die Waagschale zu werfen.“143 Am 10. Dezember 1923 reichte der deutsche Gesandte in Kowno, v. Olshausen, beim litauischen Ministerpräsidenten und Außenminister Galvanauskas die Note ein. Darin teilte er der litauischen Seite die Bestätigung der Reichsregierung über das Binnenschiffahrtsabkommen mit, um so die Willenserklärung Deutschlands für das baldige Inkrafttreten des Binnenschif�fahrtsabkommens deutlich zum Ausdruck zu bringen: „Namens und im Auftrage der Deutschen Reichsregierung beehre ich mich, Euerer Exzellenz mitzuteilen, daß diese dem bezeichneten Abkommen ihre Zustimmung erteilt hat und mit der Ratifizierung des Abkommens durch Notenwechsel einverstanden ist.“144 Dabei wies Olshausen darauf hin, daß das Binnenschiffahrtsabkommen in der Form eines Notenwechsels zwischen beiden Regierungen erfolgen sollte. Demnach sollte das Abkommen am Tage der litauischen Antwort auf diese Note Olshausens in Kraft gesetzt werden. Olshausen schlug vor, das Unterzeichnungsdatum des Abkommens, das bisher auf Wunsch Litauens offen gelassen worden war, auf den Tag des Eingangs dieser deutschen Note, also auf den 10. Dezember 1923, zu setzen.145 Trotz dieses Gesuchs Olshausens um die Beschleunigung der Angelegenheiten antwortete aber die litauische Regierung nicht. Bis zum Eingang der litauischen Note mußte man in Berlin noch weitere vier Monate warten. 12. Die neue Entwicklung in den Verhandlungen der Memelkonvention Der hartnäckige Widerstand Litauens gegen die Aufforderung der Alliierten in der Frage von Memel und Wilna verschlechterte nicht nur die ohnehin gespannten Beziehungen Litauens zu Polen und Frankreich, sondern belastete auch das bis dahin gute Verhältnis zu Großbritannien. Bis zum Ersten Weltkrieg zählte England neben Deutschland zu den wichtigsten Abnehmern der im Memelstromgebiet geschlagenen Hölzer. Die baldige Freigabe der Memelflößerei war deshalb auch im Interesse Englands. Anfang Dezember 1923 gelang es der britischen Regierung, den politischen 143 ADAP, Ser. A, Bd. IX, Dok. 47, Gesandter in Kowno v. Olshausen an AA, 8.12.1923, S. 110 f. 144 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 226, Abschrift, Deutscher Gesandter v. Olshausen an Ministerpräsidenten Galvanauskas, 10.12.1923. 145 Ebd.
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)329
Kurswechsel Litauens zu verhindern.146 Zwischen beiden Staaten wurde ein Kreditabkommen abgeschlossen, in dem die britische Regierung darauf einging, die Bürgschaft für die Anleihe der Londoner Banken für den Eisenbahnbau in Litauen zu übernehmen. Diese Tatsache stärkte die Kownoer Regierung erheblich und erweckte bei ihr den Eindruck, daß Litauen noch nicht von der westlichen Welt isoliert sei.147 Für die Zugeständnisse erwartete man aber in London von Litauen die Gegenleistung, daß die litauische Regierung die Bestimmungen des Barcelona-Transitstatuts für den freien Transitverkehr auf der Memel vorbehaltlos einhalten solle. Man spekulierte in London dennoch darauf, daß die litauische Regierung trotz ihrer Anerkennung des Transitstatuts in den Konventionsverhandlungen nach wie vor darauf bestehen werde, die polnische Privilegien in der Memeler Hafennutzung aus dem Entwurf zu streichen.148 Nach dem letzten Beschluß der Botschafterkonferenz vom 27. Juli 1923 zur vorbehaltlosen Annahme der neuen Fassung der Memelkonvention trat in den Verhandlungen ein Stillstand ein. Die neue Fassung der Memelkonvention, die der Präsident der Botschafterkonferenz, Poincaré, am 8. August neben dem oben genannten Beschluß der Botschafterkonferenz an die litauische Regierung übergab, enthielt nach wie vor die Bestimmungen über die polnischen Privilegien in der Memeler Hafennutzung (1. die Pflicht zur Verpachtung eines Teils des Hafengebiets an Polen für 99 Jahre, 2. die Teilnahme eines polnischen Vertreters am Hafendirektorium).149 Die Botschafterkonferenz faßte außerdem den Beschluß, gemäß Artikel 11 Absatz 2 der Völkerbundssatzung die Frage unverzüglich vor den Völkerbundsrat zu bringen, sollte Litauen dem Präsidenten der Botschafterkonferenz nicht binnen eines Monates seine Bereitschaft zur Unterzeichnung der Memelkonvention mitteilen.150 Nach dem Ablauf der gesetzten Frist antwortete Mini146 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 60, Doc. 73, Memorandum respecting a Conversation between M. Narouschevitch and Mr. Gregory, 4.12.1923, S. 85. 147 Senn (1966), S. 125. 148 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 60, Doc. 73, Memorandum respecting a Conversation between M. Narouschevitch and Mr. Gregory, 4.12.1923, S. 85. 149 Nach Friesecke erhob Litauen Einwände, vor allem gegen die folgenden Bestimmungen des Konventionsentwurfs der Botschafterkonferenz. 1. Es wurde vorgesehen, daß allen fremden Staatsangehörigen das Recht zustehen sollte, Immobilien im Memelgebiet zu erwerben. 2. Die Beteiligung Polens an der Hafendirek tion. 3. Die Verpachtung eines Teils des Hafenbezirks für 99 Jahre. 4. Die Ausnahmebehandlung des Memelgiebets innerhalb des litauischen Zollgebiets. Siehe Friesecke (1928), S. 41. Vgl. Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 74, Note de Son Excellence M. Galvanauskas, Président du Conseil, Ministre des Affaires étrangüeres de Lithuannie, à Son Excellence M. Poincaré, Président de la Conférence des Ambassadeurs, 21.9.1923, S. 248 f. 150 Rogge (1928), S. 14.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
sterpräsident Galvanauskas der Botschafterkonferenz am 21. September 1923, daß seine Regierung den Entwurf der Memelkonvention nicht unterzeichnen könne, weil die neue Fassung der Konvention deutlich vom Beschluß der Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923, der die Übertragungsbedingungen der Souveränität von den alliierten Hauptmächten auf Litauen bestimmte, abweiche.151 Galvanauskas teilte dem französischen Vertreter in Kowno mit, die Bestimmungen hinsichtlich der Pflicht zur Verpachtung an Polen (Artikel 47 des neuen Entwurfs) sowie die Begleichungspflicht der bisherigen Besatzungskosten der alliierten Hauptmächte durch den Ertrag der litauischen Zölle (Artikel 53 des neuen Entwurfs) keinesfalls annehmen zu können, weil durch sie die Souveränität Litauens verletzt werde.152 In dieser Hinsicht wies Galvanauskas die Botschafterkonferenz darauf hin, daß nicht Artikel 11 Absatz 2 der Völkerbundssatzung, sondern vielmehr Artikel 12 in Betracht komme. Er schlug daher vor, gemäß Artikel 12 der Völkerbundssatzung den Haager Ständigen Internationalen Gerichtshof anzurufen, wenn keine Einigung zwischen Litauen und der Botschafterkonferenz erzielt werde.153 Unter diesen Umständen blieb der Botschafterkonferenz nichts anderes übrig, als die Angelegenheit dem Völkerbundsrat zu überlassen. Am 25. September 1923 faßten die alliierten Hauptmächte (Großbritannien, Frankreich, Italien sowie Japan) auf der Botschafterkonferenz den Beschluß, gemäß Artikel 11 Absatz 2 der Völkerbundssatzung die Aufmerksamkeit des Völkerbundsrats auf die durch die Haltung der litauischen Regierung geschaffene Lage im Memelgebiet zu lenken.154 Am 28. September 1923 überließ die Botschafterkonferenz diese Angelegenheiten dem Völkerbund. Dieser traf den Beschluß, die Sache auf die Tagesordnung der nächsten Ratstagung des Völkerbunds zu setzen.155 Die Behandlung der Memelfrage wurde jedoch bis zur Dezembersitzung vertagt. Nach mehreren Sitzungen und Anhörungen bei Galvanauskas, der gegen die Anwendung von Artikel 11 Absatz 2 Protest einlegte, erklärte der Präsident des Völkerbundsrats Branting (Schweden) in der Sitzung vom 15. Dezember, „daß die Tatsache, daß diese Frage laut Artikel XI, Paragraph 2 des Paktes dem Rat unterbreitet worden war, weder Tadel noch Kritik Litauens bedeutete, sondern daß 151 The Question of Memel, Lithuanian Ministry of Foreign Affairs, London 1924, LXXXVII, Letter from M. Galvanauskas to the President of the Conference of Ambassadors, 21.9.1923, S. 155 f. 152 Documents diplomatiques. Question de Memel, 1er vol., N° 75, Télégramme de M. Padovani, Représentant français à la Conférence des Ambassadeurs, 21.9.1923, S. 281. 153 Rogge (1928), S. 14 f. 154 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. III (1923), Nr. 10, S. 297. 155 Spohn (1934), S. 18 f.
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die Aufgabe des Rates diesem Artikel zufolge, hauptsächlich darin bestände, versöhnlich zu wirken.“156 Zwei Tage später empfahl der Vertreter Uruguays, auf Auftrag des Völkerbundsrats eine Studienkommission einzusetzen, um die Auseinandersetzung zwischen der Botschafterkonferenz und Litauen zu beenden. Diese Kommission sollte die Grundzüge des von der Botschafterkonferenz abgefaßten Entwurfs der Memelkonvention beibehalten. In der Sitzung des Völkerbundsrats vom 17. Dezember wandte sich aber Galvanauskas gegen diesen Vorschlag und wies erneut darauf hin, daß die Fassung der von der Botschafterkonferenz letztlich vorgelegten Memelkonvention stark vom Inhalt der Erklärung der Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923 abweiche. Er wandte sich strikt gegen die Beibehaltung der Konventionsfassung der Botschafterkonferenz. Statt dessen schlug Galvanauskas vor, daß die neu zu bildende Studienkommission aus drei Personen bestehen solle, und zwar daß neben zwei Mitgliedern aus nicht zu den Alliierten gehörenden Staaten ein Amerikaner den Kommissionsvorsitz übernehmen solle, um so die unabhängige Stellung des Völkerbundsrats von der Botschafterkonferenz zu beweisen.157 Dieser Protest des litauischen Ministerpräsidenten wurde vom Völkerbundsrat prinzipiell angenommen. Der Rat beschloß die sofortige Bildung einer Studienkommission, mit der Maßgabe, daß die Kommission aus drei Mitgliedern bestehen solle, die Nationen angehörten, welche zur Zeit nicht die Souveränität über das Memelgebiet ausübten.158 Damit wurde die Teilnahme der alliierten Hauptmächte außer den Vereinigten Staaten, die den Versailler Vertrag nicht ratifiziert hatten, ausgeschaltet. Darüber hinaus ordnete der Völkerbundsrat an, daß zwei der Kommissionsmitglieder durch den Präsidenten des Verkehrs- und Transitausschusses des Völkerbunds berufen und das dritte Mitglied, nämlich der Präsident der Kommission, durch den Völkerbundsrat ernannt werden sollte. Als Aufgabe der Studienkommission wurde bestimmt, Mittel und Wege zur Lösung der Schwierigkeiten zu finden, die insbesondere aus den Transitfragen sowie der Frage 156 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. III (1923), Nr. 12, S. 354. diplomatiques. Question de Memel, 2me vol., N° 6, Procès-verbal de la neuvième séance (publique) du Conseil, tenue à Paris, le lundi 17 décembre 1923, S. 38–40. „M. Galvanauskas estime que, si l’on voulait appuyer le projet de Convention soumis au Gouvernement lithuanien par la Conférence des Ambassadeurs, le Gouvernment lithuanien aurait le droit de considérer que le Conseil subit l’influence de la Conférence des Ambassadeurs. Il importe donc que la Commission proposée ne comporte pas de membres des Puissances alliées. S’il y a certains objections en ce qui concerne la présidence de la Commission par un Américain, il n’insistera pas sur ce point.“ (S. 41). 158 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. III (1923), Nr. 12, S. 354. 157 Documents
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um die Hafennutzung entstanden. Nach eingehendem Studium des bisherigen Konventionsprojekts und Anhörung beider Parteien, der alliierten Hauptmächte und Litauens, sollte die Kommission dem Völkerbundsrat ihre Empfehlungen für die Verfassung von Memel, also den neuen Entwurf einer Memelkonvention vorlegen.159 Im Januar 1924 beauftragte der Völkerbundsrat einen Amerikaner, Norman H. Davis, mit der Präsidentenschaft der neu zu bildenden Studienkommission für die Memelfrage. Davis war als Mitglied der amerikanischen Delegation an den Pariser Friedensverhandlungen von 1919 beteiligt gewesen. Unter dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson war er stellvertretender Finanzminister. Daneben bestellte der Präsident der Verkehrsund Transitkommission des Völkerbunds als weitere Mitglieder der Studienkommission den Niederländer A. G. Krolle sowie den schwedischen Ingenieur Hörnell.160 Dies bedeutete für die Konventionsverhandlungen eine Wende, ging doch die Federführung in der Memelfrage nun vom französisch-polnischen Bündnis in die Hand der Amerikaner über. Litauen hoffte, die Ansprüche Polens nunmehr erfolgreich abwehren zu können. Die Entscheidung des Völkerbundsrats widersprach natürlich den Interessen Polens und Frankreichs. Folgerichtig beschwerte sich am 4. Februar 1924 der Präsident der Botschafterkonferenz, Poincaré, über den gegen die Botschafterkonferenz gerichteten Beschluß des Völkerbundsrats vom 17. Dezember 1923, weil der Völkerbundsrat für die Einberufung der Studienkommission und die Erneuerung des Konventionsentwurfs den Grund angegeben habe, daß die von der Botschafterkonferenz letztlich vorgelegte Fassung der Memelkonvention nicht mit der Erklärung der Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923 im Einklang stünde.161 Am 5. Februar 1924 hielt die Studienkommission in Genf ihre erste Sitzung ab. Sie hörte zunächst die Wünsche und Beschwerden sowohl der litauischen Delegation als auch der Vertreter der Botschafterkonferenz an. Bemerkenswerterweise erklärte der Kommissionsvorsitzende Davis, daß der Hauptstreitpunkt beider Parteien um die Annahme der Memelkonvention wesentlich in der Frage der Verkehrsangelegenheiten liege, vor allem in der Frage der Organisation und Rechte im Memeler Hafen sowie der Regelung des Binnenschiffahrtsverkehrs, nicht aber in der Frage der Einzelheiten der inne159 Ebd.
160 Der Bericht der Memelkommission des Völkerbunds vom 6. März 1924 wurde abgedruckt in: Jocob Robinson: Kommentar der Konvention über das Memelgebiet vom 8. Mai 1924, Bd. II, Kaunas 1934, S. 35–52. 161 Documents diplomatiques. Question de Memel, 2me vol., N° 10, Lettre du Président de la Conférence des Ambassadeurs au Secrétariat genéral de la Société des Nations, Signé: Poincaré, 4.2.1924, S. 70 f.
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ren Verwaltung des Memelgebiets, wie des Autonomiestatuts.162 Darin kam die Problematik klar zum Vorschein. Die Auseinandersetzung zwischen Litauen einerseits und Polen bzw. der Botschafterkonferenz andererseits erwies sich wesentlich als Streit um die wirtschaftlichen Vorzugsrechte. Die Stu dienkommission trat am 11. Februar 1924 eine Studienreise nach Memel an. Bis zum 13. Februar hielt sie sich in Memel auf, fuhr sodann nach Kowno sowie Warschau und kehrte schließlich am 18. Februar 1924 nach Genf zurück. Die Kommission nahm danach die Formulierung der neuen Memelkonvention in Angriff. Bis Anfang März fanden mehrere Sitzungen und Verhandlungen unter Teilnahme der litauischen, memelländischen und polnischen Vertreter in Genf statt. Von litauischer Seite beteiligten sich insbesondere Sidzikauskas (Gesandter in Berlin), Balutis (Direktor im litauischen Außenministerium) sowie Vizeaußenminister Klimas an den Genfer Verhandlungen. Außerdem wohnte Ministerpräsident und Außenminister Galvanauskas ab 27. Februar den Verhandlungen bei. Am 6. März 1924 legte die Kommission schließlich ihren Studienbericht über die Memelfrage vor.163 Obwohl die neue Memelkonvention von der Studienkommission beinahe fertiggestellt worden war, leistete der polnische Vertreter Skirmunt in der Sitzung vom 12. März letzten Widerstand. Im Hinblick auf die nicht berücksichtigten polnischen Wünsche erklärte Skirmunt, daß Polen diesem Konventionsentwurf nicht zustimmen könne. Trotz der heftigen Auseinandersetzungen zwischen Davis und Skirmunt gelang es der Kommission, am 14. März 1924 schließlich die letzte Sitzung zu eröffnen. Denn die Weigerung Polens konnte den Beschluß des Völkerbundsrats nicht wesentlich beeinflussen, weil Polen damals im Völkerbundsrat keinen Sitz innehatte.164 Die Vertreter von England, Frankreich, Italien sowie Japan erklärten auf Anfrage von Präsident Davis ihre Zustimmung zur Annahme des von der Kommission vorgelegten neuen Konventionsentwurfs. Mit der Zustimmungserklärung Litauens wurde der Konventionsentwurf noch am selben Tage zwischen dem litauischen Ministerpräsidenten, Galvanauskas, und dem britischen Vertreter des Völkerbundsrats, Lord Parmoor, unterzeichnet. Der polnische Vertreter zögerte nicht, den Völkerbundsrat und Litauen auf die Frage der Flußgrenzsperre, die nach den Bestimmungen der Konvention zu öffnen war, aufmerksam zu machen. Er erklärte ausdrücklich den Standpunkt Polens, daß auf internationaler Ebene keine Wilnafrage mehr bestehe, weil die Grenze Polens einschließlich des Memelstroms, der Stadt Wilna sowie deren Umgebung bereits festgelegt worden sei.165 162 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. IV (1924), Nr. 2, S. 48 f. Abdruck des Berichts der Memelkommission des Völkerbundes in: R ogge (1928), S. 157 f. 164 Ebd., S. 17. 163 Der
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Die förmliche Unterzeichnung der Konvention durch die alliierten Hauptmächte erfolgte am 8. Mai 1924 in Paris.166 Sie wurde sodann am 17. Mai durch den litauischen Ministerpräsidenten Galvanauskas unterzeichnet.167 Der erfolgreiche Abschluß der Kommissionsarbeit, wobei im Gegensatz zur Ablehnung Polens die litauische Zustimmung für den Konventionsentwurf erzielt wurde, beruhte vor allem darauf, daß die Kommission auf Wunsch Litauens die polnischen Privilegien in der Hafennutzung, also sowohl die Pflicht zur Verpachtung an Polen für 99 Jahre als auch die Teilnahme Polens an der Hafenverwaltungsdirektion, gänzlich fallengelassen hatte. 165
Die Memelkonvention gliederte sich in vier Teile.168 Das Abkommen (der Hauptteil der Konvention) regelte die Bedingungen der Souveränitätsübertragung von den alliierten Hauptmächten auf Litauen. Dazu gehörten u. a. die Zahlungsbedingungen der bisherigen Besatzungskosten der Alliierten, die Bedingungen für die Übertragung der Güter, das Optionsrecht sowie der Minderheitenschutz. Der Anhang I „Statut“ bestimmte die Bedingungen der Autonomie des Memelgebiets. Demnach sollte das Memelgebiet unter der Souveränität Litauens eine gesetzgebende, gerichtliche, verwaltungsmäßige und finanzielle Autonomie innerhalb der vom vorliegenden Statut umschriebenen Grenzen genießen. Allerdings war die Autonomie dadurch schwer eingeschränkt, daß dem Präsidenten der litauischen Republik das Recht eingeräumt wurde, einen Gouverneur für das Memelgebiet zu ernennen. Der Anhang II „Der Memeler Hafen“ regelte die Organisation und die Rechte im Memeler Hafen. Die von der Botschafterkonferenz geforderte Pflicht zur Verpachtung eines Teils des Hafengebiets an die polnische Regierung wurde gänzlich aufgehoben. Es wurden lediglich die Einhaltung des Grundsatzes „Memel als Hafen von internationalem Interesse“ im Sinne des Barcelona-Abkommens, sowie die Beibehaltung der bisherigen Freizone vorgeschrieben. Die Verwaltung des Hafens sollte einer Hafendirektion anvertraut werden. Was die Gliederung des Hafendirektoriums anbetraf, wurde das vorgesehene polnische Mandat im Hafendirektorium fallengelassen. 165 Documents diplomatiques. Question de Memel, 2me vol., N° 15, Procès-Verbal de la huitième séance (publique) de la vingt-huitième session du Conseil, tenue à Génève, 14.3.1924, S. 123–129 (hier S. 127). 166 Spohn (1934), S. 21. 167 Documents diplomatiques. Question de Memel, 2me vol., N° 20, 21, 22, 23, Lettres de M. Galvanauskas, Präsident du Conseil des Ministres des Lithuanie, aux Représentants des États-Unis d’Amérique, de France, de la Grande-Bretagne et de l’Italie, 17. mai 1924, S. 209 f. BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 60, Doc. 87, Mr. Vaughan to Mr. MacDonald, 17.5.1924, S. 197. 168 Die Konvention wurde im Memelgebiet veröffentlicht, in: Amtsblatt des Memelgebietes, Nr. 82, 18.9.1924, S. 741 f.
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Statt dessen sollte die Hafendirektion aus drei Mitgliedern bestehen, von denen eines das Wirtschaftsinteresse Litauens und ein anderes das Wirtschaftsinteresse des Memelgebiets vertreten sollte. Das dritte Mitglied sollte die Aufgabe erfüllen, die besondere Aufmerksamkeit des Hafendirektoriums auf die internationalen wirtschaftlichen Interessen zu lenken. In diesem Sinne war das dritte Mitglied durch den Präsidenten der Verkehrs- und Transitausschusses des Völkerbunds zu ernennen.169 Mit dieser Bestimmung hoffte man, die Tätigkeit des Hafendirektoriums einer ständiger Aufsicht des Völkerbunds unterstellen zu können. Der Anhang III „Transit“ regelte die Freiheit des Verkehrs auf der Memel / dem Njemen. Hierbei war die im Barcelona-Abkommen bestimmte Freiheit des Transits als Grundsatz einzuhalten. Litauen verpflichtete sich somit, die Transitfreiheit zur See, auf Wasserstraßen sowie auf den Eisenbahnen für die von und nach dem Memelgebiet bestimmten oder dieses Gebiet durchlaufenden Transporte zu gewährleisten. Darüber hinaus sollte Litauen den Charakter der Memel / des Njemen, des sich auf diesem Fluß abwickelnden Verkehrs, sowie der wirtschaftlichen Vorteile, welche sich z. B. aus der Ausbeutung der Wälder des Stromgebiets ergaben, als international anerkennen. In bezug auf die Flößereisperre an der litauisch-polnischen Grenze wurde außerdem angeordnet, die Bestimmungen von Artikel 7 und 8 des Barcelona-Transitstatuts (die Ausnahme der Anwendung des Transitstatuts sowie die Regelung bei Kriegsfällen)170 nicht auf die gegenwärtige politische Lage zwischen Polen und Litauen anzuwenden.171 Mit Inkrafttreten der Memelkonvention hätte deshalb die Transitflößerei aus Polen und der UdSSR auf der Memel freigegeben werden können. Unter dieser Annahme hatte der Völkerbundsrat den Wunsch Litauens akzeptiert, die polnischen Privilegien im Hafengebiet fallenzulassen. 13. Die Ratifizierung des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens im März 1924 Daß die Federführung in der Memelfrage vom französisch-polnischen Bündnis auf die amerikanisch-britische Linie übergegangen war, kam nicht nur Litauen entgegen, sondern auch Deutschland. Am 7. Februar 1924, zwei Tage nach der Eröffnungssitzung der Studienkommission des Völkerbundsrats in Genf, wo die Verhandlungen mit den Litauern stattfanden, 169 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. IV (1924), Nr. 3, S. 75. und Statut über die Freiheit des Durchgangsverkehrs, RGBl. 1924, II, S. 389 f. 171 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. IV (1924), Nr. 3, S. 76. 170 Übereinkommen
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telegraphierte Staatssekretär v. Maltzan aus Berlin nach Kowno und beauftragte den Gesandten v. Olshausen damit, Ministerpräsident Galvanauskas dringend darüber zu informieren, daß Deutschland nunmehr bereit sei, bei den Konventionsverhandlungen die litauische Haltung insbesondere hinsichtlich der Hafendirektions- sowie der Binnenschiffahrtsfrage zu unterstützen.172 Obwohl diese Nachricht aus Berlin Galvanauskas erfreute, ließ er die Frage der Ratifizierung des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens dennoch weiter offen. Vorsichtshalber hielt er es für zweckmäßig, erst die Fertigstellung der neuen Konventionsfassung abzuwarten. Auf Wunsch der ostpreußischen Wirtschaftskreise, die wegen des bevorstehenden Frühlingsbeginns das Inkrafttreten des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens für dringend notwendig hielten,173 besuchte Olshausen Ende Februar 1924 den litauischen Ministerpräsidenten in Kowno. Olshausen fragte bei dieser Gelegenheit nach dem Stand des Binnenschiffahrtsabkommens. Darauf erwiderte Galvanauskas, daß vor dem Inkrafttreten dieses Abkommens zuerst der im Juni 1923 unterzeichnete Handelsvertrag ratifiziert werden solle, weil das Abkommen gemäß Artikel 30 des Handelsvertrags geschlossen worden sei. In Wirklichkeit stand dieser Standpunkt Litauens mit der bei Abschluß des Handelsvertrags getroffenen Vereinbarung nicht im Einklang. Demnach durfte das Binnenschiffahrtsabkommen als ein selbständiges Abkommen unabhängig von der Ratifizierung des Handelsvertrags in Kraft gesetzt werden. Olshausens’ Einwänden gegenüber äußerte Galvanauskas ganz offen, daß die Erledigung dieser Angelegenheiten infolge der Arbeitsüberlastung der litauischen Regierung durch die Konventionsverhandlungen im Völkerbundsrat momentan völlig unmöglich sei.174 Tatsächlich wurden alle wichtigen Regierungsstellen Litauens, unter ihnen der Berliner Gesandte Sidzikauskas und Vizeaußenminister Klimas, durch die Genfer Verhandlungen in Anspruch genommen. Unmittelbar nach der Besprechung mit Olshausen reiste Galvanauskas selbst nach Genf ab. Die Frage der Ratifizierung des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens wurde somit wesentlich davon abhängig gemacht, inwieweit es der litauischen Delegation in Genf gelingen würde, Polens Ansprüche zurückzuweisen und eine den litauischen Wünschen nahekommende Konvention zustande zu bringen. 172 ADAP, Ser. A, Bd. IX, Dok. 138, Telegramm, Staatssekretär Frhr. v. Maltzan an die Gesandtschaft in Kowno, 7.2.1923. 173 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, OPV, Bericht über die Sitzung des Oberpräsidiums in Königsberg, 8.2.1924. Dabei äußerten die Holzindustriellen Ostpreußens den Wunsch, das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen baldmöglichst in Kraft zu setzen. 174 BA, R 5 / 407, Abschrift, Deutsche Gesandtschaft in Kowno an AA, 26.2.1924.
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Am 26. März 1924, zwölf Tage nachdem Litauen und die alliierten Hauptmächte den Konventionsentwurf des Völkerbundsrats gebilligt hatten, reichte die litauische Regierung ihre Note mit der Unterzeichnung durch Ministerpräsident Galvanauskas an die Reichsregierung über die Bestätigung des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens ein: „Im Namen der litauischen Regierung beehre ich mich Ew. Exzellenz mitzuteilen, daß sie ihre Zustimmung zu dem erwähnten Vertrage erteilt hat und einverstanden ist, es als durch diesen Notenwechsel ratifiziert zu betrachten.“175 (Vgl. Anhang, Abb. 6, S. 864 und Abb. 7, S. 865). Damit vollendete sich der Austausch der Noten beider Staaten. Das Abkommen wurde somit am Tag des Eingangs der litauischen Note vom 26. März 1924 ratifiziert und trat am selben Tag in Kraft. Hinsichtlich des Unterzeichnungsdatums, das auf Wunsch Litauens bisher offengelassen worden war, erklärte Galvanauskas sein Einverständnis, daß das Abkommen nicht als am Tag der Unterzeichnung in Kowno (am 28. September 1923), sondern als erst am 10. Dezember 1923 geschlossen gelten sollte. An diesem Tag hatte Olshausen die Note der Reichsregierung über ihre Bestätigung des Abkommens eingereicht.176 Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß als Abschlußdatum, anders als von Olshausen entschieden, in der Folgezeit stets das Unterzeichnungsdatum (28. September 1923) angegeben wurde. Am 3. April 1924 teilte der Reichsverkehrsminister vertraulich sämtlichen Ministern von Reich und Preußen sowie den Länderregierungen die Ratifizierung und das Inkrafttreten des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens mit. Die im Handelsvertrag gewährte Meistbegünstigungsklausel, die für den Verkehr auf der Memel im wesentlichen keine Begünstigung darstellte, wurde somit durch die Meistbegünstigungs- und Gleichberechtigungsklausel ersetzt. Allerdings beschränkte sich der räumliche Geltungsbereich des Abkommens im Reich lediglich auf die ostpreußischen Gewässer. Für den litauischen Verkehr sollte auf den deutschen Gewässern außerhalb Ostpreußens die Bestimmungen des Handelsvertrags (die Meistbegünstigung) gelten. Nicht zuletzt machte der Reichsverkehrsminister auf die Vertraulichkeit des Abkommens aufmerksam: „Das Binnenschiffahrtsabkommen ist vertraulich, um Litauen in kommenden Verhandlungen mit dritten Ländern, vor allem Polen, nicht zu belasten.“177 175 Die vom litauischen Ministerpräsidenten und Außenminister Galvanauskas unterzeichnete Originalurkunde über die Ratifizierung des Abkommens vom 26.3. 1923 (an den Außerordentlichen Gesandten und Bevollmächtigten des Ministers Deutschlands v. Olshausen) befindet sich in PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130. Dessen Übersetzung sowie Abschrift auch in: GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, sowie BA, R 5 / 407. 176 BA, R 5 / 407, AA an RVM, 28.3.1924. BA, R 5 / 407, Deutsche Gesandtschaft für Litauen (Olshausen), 29.3.1924.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
14. Die Ausführung des Binnenschiffahrtsabkommens 177
Unmittelbar nach Inkrafttreten des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens beauftragte der Reichsverkehrsminister am 3. April 1924 gemäß Artikel 10 den Oberpräsidenten (Wasserbaudirektion) mit der Ausführung.178 Ende April 1924 bat der Oberpräsident die litauische Regierung, mit Rücksicht auf die gerade begonnene Schiffahrtsperiode bis spätestens zum 9. Mai eine Besprechung über die Festlegung der Ausführungsbestimmungen abzuhalten.179 Nach Auffassung der ostpreußischen Wirtschaftskreise sollte nicht nur die Schiffahrt, sondern sogar auch die internationale Transitflößerei aus Polen und Rußland, soweit die Hölzer bereits von deutschen Firmen erworben worden waren, auf den litauischen Gewässern verkehrspolitisch nicht mehr behindert werden.180 Der Oberpräsident zögerte allerdings, die Frage der Transitflößerei von sich aus anzuschneiden, vor allem im Hinblick auf die alte Instruktion des Auswärtigen Amts, daß diese Frage, die wesentlich eine litauisch-polnische Grenzfrage darstellte, nicht zwischen den regionalen Behörden verhandelt werden dürfe. Die Handelskammern in Tilsit und Königsberg drängten jedoch gegenüber dem Oberpräsidenten darauf, die Zulassungsbedingungen für die Übernahme der im deutschen Eigentum stehenden Hölzer an der polnisch-litauischen Grenze auf der Memel unbedingt in den Ausführungsbestimmungen festzulegen, weil sonst die Gefahr bestünde, daß Litauen weitere Schwierigkeiten bereite.181 Am 10. Mai 1924 fand in Eydtkuhnen die deutsch-litauische Besprechung über die Ausführung des Binnenschiffahrtsabkommens unter Teilnahme der beiden Delegationsvorsitzenden, Herbst und Skardinskas, statt. Nachdem die allgemeinen Schiffahrtsbedingungen sowie Paßfragen zwischen den regionalen Behörden besprochen worden waren, versuchte die deutsche Delegation in einer zweiten Runde unter Hinzuziehung von Vertretern der Tilsiter Handelskammer, sich bei der litauischen Delegation nach der Lage der 177 BA, R 5 / 407, RVM, 3.4.1924. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 231 f., Abschrift, Vertraulich!, RVM, 3.4.1924. 178 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 231, RVM, 3.4.1924. 179 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 234, OPO an Deutsche Gesandtschaft für Litauen, 30.4.1924. 180 Hierzu vertrat Deutschland den Standpunkt, daß den Deutschen die Übernahme der bereits im deutschen Eigentum stehenden Hölzer aus Rußland und Polen an der polnisch-litauischen Demarkationslinie gemäß Art. 1 des Kauener Abkommens (die Gleichberechtigung des Flößergeschäfts) sowie Art. 16 des ersten deutsch-litauischen Handelsvertrags (die Transitfreiheit) zuzulassen sei. 181 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 240, IHK Königsberg an OPO, 6.5.1923. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 241, IHK Tilsit, 6.5.1924.
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Transitflößerei zu erkundigen. Mit Hilfe der gerade in Paris durch die alliierten Hauptmächte unterzeichneten Memelkonvention vom 8. Mai hoffte man in Deutschland, endlich die Sperrpolitik Litauens abzumildern. Der Vizepräsident der Tilsiter Handelskammer, Eugen Laaser, legte als Sachverständiger den Standpunkt Deutschlands dar, daß es den Deutschen durch das Binnenschiffahrtsabkommen gestattet worden sei, das im deutschen Eigentum befindliche Floßholz aus Rußland oder Polen ohne Schwierigkeiten durch Litauen zu flößen. Er erkundigte sich nach den praktischen Bedingungen der Transitflößerei, wie man in diesem Jahr die Flößerei gestalten könne und an welcher Stelle die aus Polen nach Litauen geflößten Hölzer von den deutschen Holzhändlern zu übernehmen seien. Skardinskas erwiderte jedoch, daß die Memelflößerei aus Polen nach Litauen infolge des latenten Kriegszustandes nicht zugelassen sei, und wies darauf hin, daß keine Zollämter an der polnisch-litauischen Flußgrenze errichtet werden könnten, da dies zur faktischen Anerkennung der litauisch-polnischen Demarkationslinie durch Litauen führen würde, obwohl Litauen nie auf seinen Souveränitätsanspruch auf das Wilnagebiet verzichtet habe. Allerdings sprach er auch von der Möglichkeit, daß die Transitflößerei nach der Ratifizierung der Memelkonvention durch Litauen wahrscheinlich zugelassen werden könne. Skardinskas äußerte aber ganz offen seine Ansicht, daß er dennoch nicht glaube, daß schon während der Schiffahrtsperiode dieses Jahres die Transitflößerei normalisiert werden könne.182 Die Entscheidung hierzu liege nicht in der Hand seines Ministeriums, das eigentlich die Belebung der Memelschiffahrt äußerst begrüße, sondern ausschließlich in der hohen Politik der litauischen Regierung.183 So mußte die ostpreußische Wirtschaft trotz des Inkrafttretens des Binnenschiffahrtsabkommens schließlich einsehen, daß auch im Jahr 1924 die Hölzer aus Polen und Rußland nicht auf den Wasserstraßen, sondern unter höherem Kostenaufwand auf dem Schienenwege nach Ostpreußen abtransportiert werden mußten.184 Unter diesen Umständen beauftragte der deutsche Delegationsvorsitzende, Herbst, den Berliner Ostpreußischen Vertreter, Frankenbach, das Auswärtige Amt dringend darauf aufmerksam zu machen, daß Litauen sich trotz des Inkrafttretens des Binnenschiffahrtsabkommens weigere, die Transitflößerei aus Polen und Rußland zuzulassen.185 Am 12. Mai besuchte Frankenbach Ministerialdirektor Wallroth im Auswärtigen Amt. Nach dem Bericht Frankenbachs über die gegenwärtige Lage der 182 GStA PK, I. HA, Rep. 126, Niederschrift über die Besprechung vom 10.5. 1924, betr. Ausführung des deutsch-litauischen Schiffahrtsabkommens. 183 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 243, OPO an OPV, 11.5.1924. 184 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, OPO (Herbst) an OPV, 11.5.1924. 185 BA, R 5 / 407, OPO (Herbst) an RVM, 11.5.1924.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Transitflößerei äußerte Wallroth zunächst, daß die Lösung des Fragekomplexes sehr schwierig sei, weil der politische Gegensatz zwischen Litauen und Polen sogar im Interesse der deutschen Außenpolitik liege. Er brachte dennoch sein Verständnis für die Lage Ostpreußens zum Ausdruck und gab Frankenbach die Gelegenheit, unmittelbar mit dem litauischen Gesandten in Berlin, Sidzikauskas, zu sprechen. Wallroth ging davon aus, daß Frankenbach kein Diplomat sei und deshalb die Frage besser anschneiden könne.186 Am 13. Mai fand die Besprechung zwischen Frankenbach und Sidzikauskas in der litauischen Gesandtschaft zu Berlin statt. Auf Anfrage Frankenbachs berichtete Sidzikauskas ganz offen, daß sich die litauische Delegation bei den Konventionsverhandlungen in Genf außerordentlich heftig gegen die Öffnung der litauisch-polnischen Grenze gewehrt habe. Es sei unmöglich, Zollämter an der polnisch-litauischen Demarkationslinie einzurichten, weil Litauen dadurch gezwungen würde, die gegenwärtige provisorische Grenze offiziell anzuerkennen. In den Konventionsverhandlungen habe die litauische Delegation insoweit der Aufforderung des Völkerbunds nachgegeben, als man sich bereit gefunden habe, die Wasserstraßentransporte auf der Memel sowie die Eisenbahntransporte aus Polen zuzulassen. Damit habe man aber weder die Grenzanerkennung noch die Errichtung von Grenzzollämtern verbinden wollen. Was die Wirkung der Memelkonvention auf die Transitflößerei betraf, so erklärte Sidzikauskas ausdrücklich, daß nach der Ratifizierung der Konvention gegen die Zulassung der Transitflößerei aus der UdSSR keine Hindernisse mehr bestehen würden, ausgenommen jedoch die aus dem von Polen besetzten Wilnagebiet stammenden Hölzer, die Litauen keinesfalls durchlassen wolle. Außerdem teilte er überraschenderweise mit, daß die Konvention in etwa acht Tagen in Kowno ratifiziert werde solle.187 Entgegen diesen Ausführungen des litauischen Gesandten änderte sich die Lage der Transitflößerei jedoch nicht. Ende Juli 1924 stellte der Oberpräsident in einer Besprechung mit der Tilsiter Handelskammer fest, daß Litauen Maßnahmen getroffen habe, den Flößereiverkehr auf den litauischen Gewässern durch die Errichtung der litauischen Flößereigenossenschaft zu monopolisieren. Diese Monopolisierung erstreckte sich nicht nur auf die aus Litauen stammenden Hölzer, sondern auch auf die Transitflößerei aus Rußland und Polen, selbst wenn die Hölzer sich bereits im deutschen Eigentum befanden. Dadurch wurden die deutschen Firmen aus dem Flößergeschäft auf 186 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 252, Eigenhändig, Geheim!, OPV an OPO, 12.5.1924 sowie 13.5.1924. 187 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, Frankenbach, 13.5.1924. BA, R 5 / 407, Frankenbach an Ebhardt, 26.5.1924. BA, R 5 / 407, AA an RVM, 5.6.1924. Vgl. PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, AA an Deutsche Botschaft Moskau, Gesandtschaft Kowno, Gesandtschaft Warschau, Generalkonsul Memel, 5.6.1924.
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litauischen Gewässern ausgeschaltet, während es allein den litauischen Firmen zugestanden wurde, bei ihrer Regierung den Transit durch Litauen nach Deutschland zu beantragen.188 Dadurch wurde die Übernahme der aus der UdSSR und Polen geflößten Hölzer an der Demarkationslinie tatsächlich unmöglich gemacht. Selbstverständlich verstieß diese Maßnahme gegen den Grundsatz des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens, das auf das Gleichberechtigungsprinzip abgestellt war.189 Litauen führte außerdem ab 1. Juli 1924 eine neue Gebührenordnung für die Schiffahrt und Flößerei ein. Die Weigerung der Übernahme der Transitflößerei sowie die Erschwerung der deutschen Schiffahrt waren ebenfalls im Sinne von Artikel 16 des deutsch-litauischen Handelsvertrags (Durchgangsfreiheit) sowie der Memelkonvention (Anhang III „Transit“) als vertragswidrig zu bezeichnen. Unter diesen Umständen bat der Oberpräsident das Auswärtige Amt darum, die Deutsche Gesandtschaft in Kowno anzuweisen, mit Rücksicht auf den Handelsvertrag, der allerdings noch nicht ratifiziert war, sowie auf das Binnenschiffahrtsabkommen bei der litauischen Regierung Protest einzulegen.190 15. Der deutsche Protest im Oktober 1924 Während die ostpreußische Wirtschaft forderte, über die Gesandtschaft in Kowno, also auf diplomatischem Wege, bei der litauischen Regierung Protest einzulegen, sah das Reichsverkehrsministerium die Lage gelassen. Es erinnerte die Wirtschaftskreise zunächst daran, daß in Artikel 10 des Binnenschiffahrtsabkommens bestimmt sei, alle dem Binnenschiffahrtsabkommen unterliegenden Angelegenheiten zwischen den örtlichen Behörden beider Staaten unmittelbar und ohne Inanspruchnahme der diplomatischen Instanzen zu regeln. Demnach stand die Einschaltung diplomatischer Instan188 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, Deutsche Diplomatische Vertretung für Litauen an AA, 4.7.1924. Vgl. auch PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, Deutsche Gesandtschaft an AA, 4.10.1924. Anlage: Bestimmungen für die Transitholzflößerei auf der Memel (Übersetzung aus Lietuva v. 8 und „Ritas“ v. 13.8.1924). 189 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 287, Niederschrift über die Besprechung mit Vertretern der Handelskammer Tilsit vom 22.7.1924, OPO, 24.7.1924. Eugen Lasser (Deutsche Holzhändler) beantragte wiederholt bei der litauischen Regierung die Zulassung der Transithölzer aus Polen und Rußland durch Litauen. Dieser Versuch blieb vergeblich. PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, Abschrift, Eugen Laaser an die Litauische Regierung Kowno, 23.6.1924. 190 BA, R 5 / 407, OPO an RVM, 29.7.1924. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 287, Niederschrift über die Besprechung mit Vertretern der Handelskammer Tilsit vom 22.7.1924, OPO, 24.7.1924. Bei der Besprechung vom 22. Juli bat die Tisiter Handelskammer den Vertreter des Oberpräsidiums (Rohde) darum, das Auswärtige Amt dazu zu veranlassen, bei Litauen Protest einzulegen.
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zen mit dem Grundsatz des Verwaltungsabkommens in Widerspruch. Das Reichsverkehrsministerium forderte daher den Oberpräsidenten auf, den Sachverhalt zunächst durch die Wasserbaudirektion untersuchen zu lassen. Im Falle der Feststellung eines Verstoßes gegen das Abkommen sollte sich der Oberpräsident gemäß Artikel 10 an die zuständige litauische Behörde wenden, allerdings unter Hinweis auf den liberalen Geist, der im September 1923 bei den Tilsiter und Königsberger Verhandlungen zwischen den beiden Seiten gepflegt worden sei. Das Reichsverkehrsministerium erinnerte die ostpreußischen Wirtschaftskreise daran, daß im Sinne des Abkommens von der Einleitung diplomatischer Schritte zunächst keine Rede sein könne.191 Litauens Verstoß gegen das Abkommen wurde durch die Untersuchung der Wasserbaudirektion beim Oberpräsidium zweifelsfrei festgestellt.192 Es kamen folgende zwei Tatbestände in Betracht: 1. Die Monopolisierung des Flößergeschäfts auf den litauischen Gewässern und die Ausschaltung der deutschen Flößer aus der Übernahme der Transitflößerei an der litauischpolnischen Demarkationslinie. Dies verstieß gegen die Bestimmungen von Artikel 1 des Binnenschiffahrtsabkommens sowie von Artikel 16 (Transitfreiheit) des Handelsvertrags. Außerdem wurde die litauische Monopolisierung des Flößereigeschäfts durch die inzwischen vom litauischen Verkehrsministerium selbst an die deutsche Gesandtschaft ergangene Mitteilung festgestellt. Danach sollte die Flößerei auf den litauischen Gewässern allein durch die in Litauen eingetragenen Firmen besorgt werden.193 Dies widersprach dem Grundsatz des freien Wettbewerbs und der Gleichberechtigung des Binnenschiffahrtsabkommens. 2. Die Einführung der neuen Gebührenordnung für die Schiffahrt. Die Erhebung der Gebühren als solche war zwar nicht vertragswidrig, sofern diese Regelung nicht nur die deutschen, sondern auch die litauischen Schiffe gleichermaßen betraf. Die von Litauen neu eingeführte Gebührenordnung richtete sich aber auf die Strecke zwischen Schmalleningken und der Ruß-Skierwietmündung, wo die Memel den Grenzfluß zwischen Deutschland und Litauen sowie zwischen Deutschland und dem Memelgebiet bildete. Im Hinblick auf die völkerrechtlichen Grundsätze war jedoch bei einem gemeinsamen Fahrwasser die einseitige Einführung von Abgaben nicht zulässig.194 191 BA,
R 5 / 407, RVM an OPO, 22.8.1924. PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 316, Gutachten der Wasserbaudirektion in Königsberg zur Frage der Internationalisierung der Memel und zu dem litauischen Gesetz betr. die Erhebung von Abgaben auf den Wasserwegen und in den Häfen Litauens, vom 1. Juli 1924, OPO (Wasserbaudirektor Hentschel), 19.8.1924. 193 BA, R 5 / 1382, Reisebericht von Ebhardt über die Königsberger Besprechung vom 5.–7. September 1924. 194 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 316, Gutachten der Wasserbaudirektion in Königsberg, 19.8.1924. 192 GStA
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Nach diesem Prüfungsergebnis war man sich in Deutschland nunmehr darin einig, Protest gegen Litauen einzulegen, um das Land so zur Einhaltung seiner vertraglichen Verpflichtungen zu ermahnen. Allerdings war die Protestmöglichkeit stark eingeschränkt, da in Wirklichkeit weder der im Juni 1923 unterzeichnete Handelsvertrag, noch die Memelkonvention ratifiziert waren. Insofern war Litauen in seiner Schiffahrtspolitik auf der Memel völkerrechtlich noch autonom. Litauen war lediglich dem Reich gegenüber durch das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen von 1923 gebunden, das Ende März 1924 in Kraft getreten war. In diesem Sinne schien eine Protesterhebung Deutschlands gegen Litauen auch vor der Ratifikation der Memelkonvention und des Handelsvertrags rechtlich begründet zu sein. Dennoch konnte das Ministerium keine offene Beschwerde erheben, weil das Binnenschiffahrtsabkommen ein geheimes Verwaltungsabkommen darstellte: „Da aber das Kauener Abkommen geheim ist, kann Deutschland seine öffentliche Berücksichtigung nicht verlangen.“ (Das Reichsverkehrs ministerium).195 Unter diesen Umständen schlug die Tilsiter Handelskammer vor, Artikel 342 des Versailler Vertrags zur Geltung zu bringen und dadurch die Schiffahrtsverwaltung auf der Memel einem internationalen Ausschuß zu unterstellen, was Litauen unbedingt vermeiden wollte.196 Im Gegensatz dazu vertraten der Oberpräsident, das Reichsverkehrsministerium sowie die Königsberger Handelskammer einstimmig den Standpunkt, daß die Einsetzung eines internationalen Ausschusses unter den gegebenen politischen Verhältnissen für den deutschen Verkehr keine Vorteile bringen könne. Sie lehnten es daher ab, Litauen unter Hinweis auf Artikel 342 des Versailler Vertrags mit der Aufhebung des Binnenschiffahrtsabkommens zu drohen. Deutschland solle vielmehr auf der Einhaltung des Binnenschiffahrtsabkommens bestehen, vor allem aus folgenden Gründen: 1. Das Binnenschiffahrtsabkommen gewährte dem deutschen Verkehr, vor allem in Artikel 1, die volle Gleichberechtigung. Im Falle der Einsetzung eines internationalen Ausschusses sei nicht zu erwarten, daß dem deutschen Verkehr so günstige Rechte eingeräumt würden. Artikel 7 des Binnenschiffahrtsabkommens bestimmte die Erteilung unentgeltlicher Dauersichtvermerke für die Schiffsmannschaften und Flößer. Von einem internationalen Ausschuß sei auch diese Regelung nicht zu erwarten. 2. Im Falle der Bildung eines internationalen Ausschusses würden sich neben den Uferstaaten auch drei Nichtuferstaaten im Auftrag des Völkerbunds beteiligen. Unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen würde 195 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 314, Abschrift, RVM an OPO, 22.8.1924. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 3, RVM an PreußHM, 22.8.1924. 196 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 303, IHK Tilsit an OPO, 22.7.1924.
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Frankreich zweifellos ein Mandat eingeräumt werden. Als Uferstaat stand Polens Mandat schon fest. Hingegen war die Teilnahme der UdSSR, gemäß der Definition der Alliierten kein Uferstaat, nicht zulässig. Das Machtverhältnis im internationalen Ausschuß könnte somit für die Interessen Deutschlands und Litauens keinesfalls günstiger sein als der durch das deutsch-litauische Abkommen geschaffene Zustand, dem zufolge der Verkehr auf der Memel einer bilateralen Regelung zwischen Deutschland und Litauen unterworfen und ihre Ausführung sogar den regionalen Behörden, dem Oberpräsidenten und der litauischen Chaussee- und Wasserstraßenverwaltung, anvertraut wurde.197 Aus diesen Prüfungsergebnissen zogen das Reichsverkehrsministerium und der Oberpräsident die Konsequenz, daß Deutschland weder Litauen mit der Beantragung auf die Einsetzung des internationalen Ausschusses drohen, noch die Ersetzung des Verwaltungsabkommens durch einen neuen Staatsvertrag andeuten dürfe. Das Reich sollte vielmehr versuchen, Litauen im Rahmen des Binnenschiffahrtsabkommens ohne Einschaltung diplomatischer Instanzen zur Einhaltung der Bestimmungen aufzufordern.198 Allerdings schätze die deutsche Gesandtschaft in Kowno die Lage so ein, daß die Transitflößerei nicht nur durch Litauen, sondern auch durch Polen behindert werde. Polen habe die Ausfuhr polnischer Hölzer nach Litauen ebenso wie deren Durchfuhr durch Litauen verboten, da die Kownoer Regierung auf die Wünsche Warschaus nach Wiederherstellung diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen nicht einging. Außerdem versuchte Polen mit Hilfe der Eisenbahntarifpolitik zu erreichen, daß die polnischen Hölzer aus dem Wilna-Grodnogebiet auf dem Schienenwege nicht nach Ostpreußen, sondern nach dem Danziger Hafen abtransportiert würden. Litauen habe wahrscheinlich die Gegenmaßnahme ergriffen, durch die Erhebung einer besonderen Stromgebühr für die polnischen Hölzer die Aufnahme der Transitflößerei zu belasten.199 Unter diesen Umständen diskutierte man in Deutschland auch über die Ergreifung von Repressalien gegen den litauischen Verkehr auf ostpreußischen Gewässern, um so Litauen zur Einhaltung des Abkommens anzuhalten. Das Reichsverkehrsministerium dachte hier z. B. an die Verschärfung der strom- und schiffahrtspolizeilichen Vorschriften oder die Erhebung von 197 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 316, Gutachten der Wasserbaudirektion in Königsberg, 19.8.1924. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 3, RVM an AA, PreußHM sowie OPV, 10.10.1924. 198 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 328, Abschrift, RVM an OPO, 11.9.1924. 199 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 313, Die Deutsche Gesandtschaft in Kowno an AA, 8.8.1924.
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Abgaben für die Schiffahrt auf den ostpreußischen Gewässern. Daß die Einleitung dieser eher geringfügigen Repressalien auf den litauischen Verkehr keine wesentliche Wirkung haben konnte, verstand sich von selbst. Ohnehin lehnte der Oberpräsident diese Vorschläge entschieden ab. Er bezog sich hierbei auf die Auffassung der Königsberger Handelskammer, daß die Anwendung von Repressalien lediglich weitere Gegenmaßnahmen Litauens zur Folge haben würde.200 Schließlich einigten sich das Reichsverkehrsministerium und das Oberpräsidium darauf, von Repressalien vorläufig abzusehen und zunächst das litauische Verkehrsministerium schriftlich zur Einhaltung des Abkommens zu ermahnen.201 Seitdem Herbst und Skardinskas das Binnenschiffahrtsabkommen am 28. September 1923 in Kowno unterzeichnet hatten, waren bereits elf Monate ins Land gegangen, und doch wurde der deutsche Schiffahrts- und Flößereiverkehr auf der Memel immer noch durch die Verkehrspolitik Litauens behindert. Am 2. September 1924 gab das Auswärtige Amt schließlich seine Zustimmung zur Protesterhebung und erteilte dem Reichsverkehrsministerium die Weisung, den Oberpräsidenten damit zu beauftragen, sich hinsichtlich der fraglichen Durchführung der vertraglichen Verpflichtungen mit der litauischen Chaussee- und Wasserstraßenverwaltung in Verbindung zu setzen.202 Anläßlich der Holzhändlertagung in Königsberg vom 5. bis 7. September fand in der Wasserbaudirektion beim Oberpräsidium eine interne Besprechung der deutschen Binnenschiffahrtskommission (bestehend aus Ebhardt, Frankenbach, Rohde, Hentschel und Hinz) statt.203 Die Öffnung der Transitflößerei war dringend notwendig, weil die Disposition der Flößerei für das nächste Jahr im Zusammenhang mit den Holzkaufverträgen in der Regel spätestens bis zur Mitte Oktober getroffen werden mußte. In der Besprechung einigte man sich auf ein Programm zur Protesterhebung gegen Litauen. Danach sollte erst nach der Zusage des Reichsverkehrsministers Protest durch den Oberpräsidenten erhoben werden. Im Sinne von Artikel 10 des Binnenschiffahrtsabkommens durften dabei keine diplomatischen Instanzen eingeschaltet werden. Der Oberpräsident sollte zuerst schriftlich das litauische Verkehrsministerium um eine Stellungnahme bezüglich der Monopolisierung der Flößerei bitten. Falls Litauen darauf nicht antworte, sollte der Oberpräsident gemäß Artikel 10 den zweiten Schritt 200 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 76, IHK Königsberg an OPO, 4.5.1923. 201 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 362, Abschrift, RVM an AA, PreußHM, OPV, u. a. m., 10.10.1924. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 127, RVM an OPV, AA, PreußHM, u. a., 10.10.1924. 202 BA, R 5 / 407, AA an RVM, 2.9.1924. 203 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 326, OPO, Vermerk (Bericht über die Besprechung vom 7. September), 9.9.1924.
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unternehmen und die Aufmerksamkeit Litauens darauf lenken, daß die Monopolisierung der Flößerei gegen die Bestimmungen des Abkommens verstoße. Wenn Litauen auch diese Beschwerde Deutschlands zurückwiese, sei es als dritter Schritt nicht zu vermeiden, auf diplomatischem Wege gegen Litauen Protest einzulegen, und zwar ggf. unter Mitwirkung Großbritanniens und der UdSSR.204 Am 11. September beauftragte der Reichsverkehrminister den Oberpräsidenten unter Hinweis auf die Zustimmung des Auswärtigen Amts mit der Erhebung des deutschen Protests gegen Litauen: „Ich ersuche hierdurch, alsbald im Sinne der mit meinem Kommissar, Regierungsrat Ebhardt am Sonntag den 7. September getroffenen Abrede an das litauische Verkehrsministerium zu schreiben.“205 Allerdings war das Binnenschiffahrtsabkommen als ein geheimes Verwaltungsabkommen geschlossen worden. Insofern war die Stellung Deutschlands offensichtlich schwach. So machte das Reichsverkehrsministerium im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt darauf aufmerksam, „daß deutscherseits ein Zweifel an der Rechtswirksamkeit des Kauener Abkommens gegenüber der Litauischen Regierung nicht geäußert werden darf“.206 Inzwischen war auch die Ratifizierung der Memelkonvention erfolgt. Nachdem Ministerpräsident Galvanauskas die Konvention am 17. Mai 1924 förmlich unterzeichnet hatte, wurde ihr am 30. Juli auch vom litauischen Parlament (Seimas) zugestimmt. Am 1. September erfolgte die Veröffentlichung der englischen und französischen Texte der Konvention neben der litauischen Übersetzung im litauischen Regierungsanzeiger. Am 18. September wurde die Konvention sodann in deutscher und litauischer Übersetzung im Amtsblatt des Memelgebiets veröffentlicht. Somit trat die Memelkonvention gemäß Artikel 18 des Hauptteils der Konvention für Litauen und das Memelgebiet als Staatsgesetz in Kraft. Am 27. September legte die litauische Regierung in Paris die Ratifikationsurkunde der Konvention nieder. Auf Verlangen der französischen Regierung wurde die Memelkonvention am 3. Oktober 1924 gemäß Artikel 18 der Völkerbundssatzung beim Sekretariat des Völkerbunds registriert. Hiermit wurde die Memelkonvention völkerrechtlich verbindlich.207 Drei Anhänge der Konvention (I. Statut, II. Hafen, III. Transit) sollten ebenfalls in Kraft gesetzt werden. 204 BA, R 5 / 1382, Reisebericht von Ebhardt über die Königsberger Besprechung vom 5. bis 7. September 1924. 205 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 328, RVM an OPO, 11.9.1924. 206 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, Abschrift, RVM an OPO, 11.9.1924. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 127, RVM an OPO, 11.9.1924. Vgl. BA, R 5 / 407, AA an RVM, 2.9.1924. 207 Rogge (1928), S. 249 f. Die Tätigkeit des Völkerbunds, Bd. IV (1924), Nr. 10, S. 259. Die Ratifizierung der Konvention durch Frankreich und damit die endgültige Ratifizierung durch die alliierten Hauptmächte erfolgte am 25. August 1925.
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Dadurch wurde Deutschland nunmehr die Möglichkeit gegeben, Litauen zur Freigabe der Transitflößerei offen zu ermahnen. Am 4. Oktober 1924, also einen Tag nach der Registrierung der Memelkonvention beim Völkerbund, teilte der Direktor der Chaussee- und Wasserstraßenabteilung des litauischen Verkehrsministeriums, Skardinskas, überraschenderweise der deutschen Gesandtschaft in Kowno mit, daß Litauen den vom Oberpräsidenten am 30. Juni 1924 vorgelegten Entwurf eines Zusatzabkommens zum Binnenschiffahrtsabkommen nicht unterzeichnen könne, weil die Entscheidung über den Abschluß eines Zusatzabkommens den regionalen Behörden, die lediglich mit der Ausführung beauftragt seien, nicht obliege, sondern erst durch diplomatische Instanzen getroffen werden müsse.208 Litauen sandte daher den vom deutschen Verhandlungsvorsitzenden Herbst unterzeichneten Zusatzabkommensentwurf an die Gesandtschaft in Kowno zurück und wies auf die Notwendigkeit hin, auf diplomatischem Wege einen Notenwechsel zur Aufnahme des Zusatzabkommens vorzunehmen.209 Der Entwurf des Zusatzabkommens zum Artikel 7 des Binnenschiffahrtsabkommens (die Erteilung der unentgeltlichen Dauersichtvermerke für die Schiffsführer, Schiffsmannschaften und Flößer) bezog sich auf die Vereinbarung bei der deutsch-litauischen Besprechung über die Ausführungsbestimmungen in Eydtkuhnen am 10. Mai 1924.210 Bei diesem Zusatzabkommen ging es lediglich um die Bestätigung beider Staaten über die Gültigkeit der Gleichberechtigung für das Flößergeschäft auf den litauischen Gewässern, insbesondere bei der Übernahme der polnischen bzw. russischen Hölzer an der polnisch-litauischen Demarkationslinie.211 In diesem Sinne ging die Bestimmung des Zusatzabkommens nicht wesentlich über das Binnenschiffahrtsabkommen hinaus. Der Entwurf war mit der Unterschrift des deutschen Delegationsvorsitzenden, Oberpräsidialrat Herbst, am 30. Juni 1924 der litauischen Chaussee- und Wasserstraßenverwaltung übergeben worden.212 Obwohl Litauen bereits in der Eydtkuhner Verhandlung vom Mai 1924 seine Bereitschaft zum Ausdruck gebracht hatte, lehnte es jedoch 208 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 389, sowie I. HA, Rep. 203, Nr. 127, Chaussee- und Wasserstraßenverwaltung Direktor Skardinskas an die Deutsche Gesandtschaft für Litauen, 4.10.1924. 209 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 388, sowie I. HA, Rep. 203, Nr. 127, Deutsche Gesandtschaft für Litauen an OPO, 7.10.1924. 210 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 245, Niederschrift über eine Besprechung betreffend Ausführung des deutsch-litauischen Schiffahrtsabkommens, 10.5.1924. 211 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, OPO an Deutsche Gesandtschaft für Litauen, 30.6.1924. 212 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 390, Vizepräsident Herbst an die Chaussee- und Wasserstraßenverwaltung Kaunas, 30.6.1924.
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ab, das von Oberpräsidialrat Herbst unterzeichnete Zusatzabkommen anzunehmen.213 Hierzu verwies die litauische Regierung außerdem auf die Notwendigkeit eines diplomatischen Notenwechsels für die Annahme eines Zusatzabkommens.214 In einer Besprechung mit Skardinskas stellte die Gesandtschaft in Kowno fest, daß die Weigerung Litauens zur Annahme des Zusatzabkommens nicht vom Verkehrsministerium, sondern von höchsten Kreisen der Kownoer Regierung ausging. Nicht zuletzt ließ Skardinskas vertraulich durchblicken, daß die Annahme des Zusatzabkommens, auch wenn der Entwurf auf diplomatischem Wege eingereicht würde, unter Bezugnahme auf die am 8. August 1924 veröffentlichten Richtlinie Litauens über die Memelflößerei, welche die Ausschaltung der ausländischen Flößer anordnete, von der litauischen Regierung zurückgewiesen werden müsse.215 Unter diesen Umständen entschloß sich Herbst dazu, Protest gegen Litauen einzulegen. Er ging davon aus, daß sich die rechtliche Grundlage mit dem Inkrafttreten der Memelkonvention zugunsten Deutschlands verschoben habe. Außerdem untermauerte die vertrauliche Information der deutschen Holzhändler, daß der Vertreter des britischen Außenministeriums in Kowno der litauischen Regierung gerade eine Note gegen die Unterbindung der Transitflößerei überreicht habe, die Entscheidung Herbsts.216 Am 10. Oktober 1924 reichte Herbst somit dem litauischen Verkehrsministerium die erste schriftliche Ermahnung Deutschlands ein. Die Ausschaltung der deutschen Flößereifirmen aus dem Flößergeschäft sowie aus der Übernahme der im deutschen Eigentum befindlichen Hölzer an der polnisch-litauischen Demarkationslinie verstoße gegen den Grundsatz des Binnenschiffahrtsabkommens (Artikel 1, Gleichberechtigung und freien Wettbewerb) sowie gegen die Bestimmungen von Artikel 16 des Handelsvertrags (ungehinderter Transitverkehr). Daher bat Herbst das litauische Verkehrsministerium um eine baldige Beantwortung hinsichtlich der Zulassungsbedingungen für das deutsche Flößereigeschäft auf den litauischen Gewässern. Dabei vergaß er allerdings nicht, die freundliche Nachbarschaft zu betonen. So brachte er seine sichere Hoffnung zum Ausdruck, daß alle Verträge sowohl von Deutschland als auch von Litauen stets loyal eingehalten würden, „unter Beziehung auf den freundnachbarlichen Geist, in dem die Verhandlungen zwischen unseren 213 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Abschrift (Übersetzung), Chaussee- und Wasserstraßenverwaltung an die Deutsche Gesandtschaft in Litauen, 4.10.1924. 214 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Deutsche Gesandtschaft für Litauen an OPO, 7.10.1924. 215 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 388, Deutsche Gesandtschaft für Litauen an OPO, 7.10.1924. 216 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 334, OPO an RVM, AA, RWiM, PreußHM, PreußMdI, OPV, 10.10.1924. Die gleiche Akte auch in BA, R 5 / 407 sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 3.
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beiderseitigen Verwaltungen stets gepflogen worden sind“.217 Am gleichen Tag teilte er dem Reichsverkehrsminister die Erledigung des ersten deutschen Protests mit. Zugleich wies er aber darauf hin, daß man in Ostpreußen den bisherigen Erfahrungen nach damit rechne, daß Litauen trotz dieser ersten Mahnung die Wiederaufnahme der Transitflößerei weiterhin verhindern werde. Angesichts des bevorstehenden Winterbeginns, da in der Regel bis zur Mitte Oktober die Vorbereitung der Flößereiperiode für das nächste Jahr getroffen werden mußte, drängte die ostpreußische Holzwirtschaft den Oberpräsidenten dazu, das Auswärtige Amt zu veranlassen, als Parallelak tion eine energische diplomatische Demarche insbesondere unter Mitwirkung der an der Memelflößerei interessierten Staaten, Großbritanniens und der UdSSR, vorzunehmen.218 Im Herbst 1924 stand die Wiederaufnahme der bis dahin unterbrochenen Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und der UdSSR in Aussicht. Am 10. Oktober beantragte Oberpräsidialrat Herbst beim Auswärtigen Amt, die Angelegenheiten, vor allem die Frage der Freigabe der Memelflößerei, zum Gegenstand der deutsch-sowjetischen Verhandlungen zu machen. Bei der bevorstehenden Ressortbesprechung über die Verhandlungsleitlinien zum Handelsvertrag mit der UdSSR, die am 14. Oktober 217 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 340, sowie BA, R 5 / 407, OPO (Herbst) an das litauische Verkehrsministerium, 10.10.1924. Auf das Schreiben des Oberpräsidenten reagierte zunächst die litauische Regierung nicht. Bei der Memelstromschau Mitte Oktober 1924 teilte Skardinskas dem Vertreter der Wasserbaudirektion des Oberpräsidiums über den litauischen Standpunkt mit, daß das Schreiben des Oberpräsidenten durch die Hand der deutschen Gesandtschaft der litauischen Seite übergeben worden sei, so daß diese Vorgänge gegen die Bestimmung des Art. 10 des Schiffahrtsabkommens verstoße. Siehe hierzu GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 127, Abschrift, OPO an RVM, 25.11.1924. Nach wiederholten Erinnerungen des Oberpräsidenten gab das litauische Verkehrsministerium am 16. April 1925 seine schriftliche Stellungnahme (siehe hierzu GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 127, Abschrift, Übersetzung, Litauische Republik, Verwaltung der Chausseen und Wasserwege an OPO, 16.4.1925. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 127, RVM an AA, 24.7.1925). Das Reich betrachtete die Antwort Litauens als nicht befriedigend. Das Reichsverkehrsministerium vermutete, daß Litauen beabsichtige, die Erledigung der Angelegenheiten zu verschleppen. Siehe auch: Ostpreußischer Wasserstraßenbeirat, Nr. 4 (1925), Tätigkeit der Reichswasserstraßenverwaltung in den 4 Jahren vom 1. April 1921 bis 31. März 1925, S. 33 (Drucksachen des Ostpreußischen Wasserstraßenbeirates, I. Wahlperiode 1925 bis 1929, Reichswasserstraßenverwaltung). 218 GStA PK, XX. HA, Rep. 2093, Bl. 334, sowie BA, R 5 / 407, OPO (Herbst) an RVM, AA, RWiM, PreußHM, PreußMdI, OPV, 10.10.1924. Dem Vorschlag des Oberpräsidenten, diplomatische Aktion gegen Litauen einzuleiten, traten das Preußische Innenministerium und das Reichsverkehrsministerium ausdrücklich bei. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 3, RVM an AA, PreußHM, RJM, OPV, 4.11.1924. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 3, PreußMdI an PreußHM, 26.11.1924.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
1924 unter Hinzuziehung der maßgebenden Wirtschaftskreise Deutschlands im Haus des Berliner Auswärtigen Amts stattfinden sollte,219 möge diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt werden. Herbst bat das Amt ferner um die Beteiligung von Vertretern aus Ostpreußen an dieser Besprechung.220 Diesem Wunsch Herbsts wurde vom Auswärtigen Amt Rechnung getragen.221 Man trat in Ostpreußen nunmehr dafür ein, der willkürlichen Politik Litauens in der Frage der Memelflößerei durch wirtschaftliche bzw. verkehrspolitische Vereinbarungen zwischen Deutschland und der UdSSR zu begegnen. Diese Option war zuerst im Dezember 1922 in Kreisen der deutschen Reedereien und Flößereiwirtschaft diskutiert worden. Zur Vorbereitung der deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen hatte der Wirtschaftsausschuß der Deutschen Reederei beantragt, eine Klausel gegen Litauen in den abzuschließenden Handelsvertrag zwischen Deutschland und der UdSSR aufzunehmen: „Der Vertrag zwischen Deutschland und Rußland muß eine Klausel enthalten, lt. welcher beide Staaten sich verpflichten, auf Litauen so zu drücken, daß der Memelstrom sofort geöffnet wird. Das ist bei der wirtschaftlichen Abhängigkeit Litauens vom Deutschen Reich und Rußland eine Kleinigkeit für diese Staaten.“222 Trotz der ausdrücklichen Zustimmung des Reichsverkehrsministeriums und des ostpreußischen Oberpräsidenten223 hatte jedoch die deutsche Außenpolitik von dieser Möglichkeit, die keinen Erfolg versprach, zunächst Abstand genommen.224 Nach den wiederholten erfolglosen Anstrengungen Deutschlands zur Freigabe der 219 Der Abdruck des Protokolls über die Besprechungen im AA vom 14.10.1924 in: ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 116, S. 284 f. Siehe auch den Vermerk über die Besprechungen im Auswärtigen Amt, in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922– 1925, Bd. 1, Dok. 228, S. 438 ff. 220 GStA PK, XX. HA, Rep. 2093, Bl. 334, sowie BA, R 5 / 407, OPO (Herbst) an RVM, AA, RWiM, PreußHM, PreußMdI, OPV, 10.10.1924. 221 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, AA an Deutsche Gesandtschaft Kowno, 23.10.1924. Dabei lehnte das Auswärtige Amt allerdings die Option ab, Litauen mit dem möglichen Antrag Deutschlands auf Internationalisierung der Memel, also mit der Anwendung des Art. 342 VV, zu drohen. 222 BA, R 5 / 404, Wirtschaftsausschuß der Deutschen Reederei an RVM, 1.12. 1922. 223 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 52, OPO an RVM sowie PreußHM, 30.12.1922. 224 Bis Anfang Februar 1923 suchte das Reichsverkehrsministerium wiederholt nach Möglichkeiten, im Zusammenwirken mit der russischen Seite die Transitflößerei freizubekommen. Mitte Februar 1923 berichtete jedoch das Auswärtige Amt den deutschen Ressorts über die Erfolglosigkeit der inzwischen von Rußland unternommenen Schritte gegen die litauische Absperrpolitik. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 126, RVM an AA, 19.1.1923. BA, R 5 / 405, RVM an AA, 9.2.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Aufzeichnung über die Ressortbesprechung vom 22.2.1923.
II. Verhandlungen über das Binnenschiffahrtsabkommen (1923/24)351
Memelflößerei sah man sich in Ostpreußen im Oktober 1924 damit konfrontiert, jene Option wieder aufzugreifen. Die Königsberger Handelskammer beantragte nun, eine Klausel, die zur Freigabe der Memelschiffahrt eine gemeinsame Druckausübung Deutschlands und Rußlands auf Litauen vorsah, in den neuen deutsch-sowjetischen Handelsvertrag aufzunehmen. In der Sitzung vom 14. Oktober in Berlin erklärte der Vorsitzende v. Koerner (Leiter der deutschen Delegation für die Handelsvertragsverhandlungen mit Rußland), diesen Wunsch positiv in Erwägung zu ziehen.225 Bei einer internen Besprechung des Auswärtigen Amts vom 18. Oktober wurde auf Wunsch Königsbergs vereinbart, hinsichtlich der Freigabe der Memelschiffahrt einen Notenwechsel über das gemeinsame Einwirken mit der Sowjetregierung vorzunehmen. Nach einiger Überlegung beschloß aber das Amt, aus politischen Gründen zunächst davon abzusehen, bei den bevorstehenden Handelsvertragsverhandlungen in Moskau dieses Vorhaben offiziell anzuschneiden. Die Schwierigkeiten ergaben sich auch daraus, daß ein Abschluß eines Binnenschiffahrtsabkommens, das im Rahmen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vorgesehen wurde, infolge der Grenzziehung überhaupt unmöglich war. Das Auswärtige Amt empfahl der Königsberger Handelskammer sowie der deutschen Delegation dennoch, unmittelbar die Sowjets in dieser Richtung anzufragen.226 Der Wunsch nach einer gemeinsamen Druckausübung Deutschlands und Rußlands auf die Pufferstaaten, Polen und das Baltikum, zur Wiederherstellung des Königsberger Rußlandgeschäfts wurde sodann im Dezember 1924 in Moskau zuerst in einer vertraulichen Besprechung über das Eisenbahnabkommen, das im Rahmen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags abgeschlossen werden sollte, zur Diskussion gestellt. Selbstverständlich waren die Vertreter der Königsberger Handelskammer an dieser Sitzung als Sondersachverständige beteiligt.
225 Der Abdruck des Protokolls über die Besprechungen im AA vom 14.10.1924 in: ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 116, S. 284 f. Siehe auch den Vermerk über die Besprechungen im Auswärtigen Amt, in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922– 1925, Bd. 1, Dok. 228, S. 438 f. 226 PA AA, R 23941 (Handakten von Koerner), 81. interne Besprechung, 23.10. 1924.
Kapitel III
Die Memel- und Wilnafrage (1926–28) 1. Die Memel- und Wilnafrage im Völkerbund 1926 / 27 Der polnisch-litauische Konflikt verschärfte sich mit der Entstehung der autoritären Regime unter Piłsudski und Voldemaras im Jahr 1926. Obwohl Litauen im Rahmen der Memelkonvention die Freiheit des Transitverkehrs anerkannte, änderte sich seine gegen Polen gerichtete Sperrpolitik nicht. Die Forderung Warschaus, die Grenze zu öffnen und die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Staaten wiederaufzunehmen, wurde unter Piłsudski zunehmend energischer und schließlich von einer Kriegsdrohung gegen Litauen begleitet.1 Die europäischen Großmächte, Großbritannien, Frankreich, Deutschland sowie die UdSSR, bemühten sich, den polnisch-litauischen Konflikt auf friedlichem Wege beizulegen. Großbritannien versuchte, sich als Vermittler in den Streit einzuschalten. Außenminister Chamberlain hatte offenbar ein Interesse daran, die Haltung Polens in dieser Streitfrage zu unterstützen. In diesem Kontext bemühte sich Großbritannien, die litauische Regierung sowohl politisch als auch finanziell der Einflußnahme durch Rußland und Deutschland zu entziehen. So vermuteten Moskau und Berlin, daß das Endziel der britischen Außenpolitik darauf gerichtet sei, einen Zusammenschluß zwischen Polen und Litauen unter polnischer Oberhand zustande zu bringen, wie es der gescheiterte Hymans-Plan von 1921 vorgesehen hatte. Sowohl für die UdSSR als auch für Deutschland schien solch eine Lösung des polnisch-litauischen Konflikts absolut inakzeptabel. In diesem Fall wäre die Provinz Ostpreußen durch das erweiterte polnische Einflußgebiet, von Memel über Wilna bis Danzig, eingeschlossen worden. Deutschland sah sich somit vor die Aufgabe gestellt, die Bestrebungen Großbritanniens und Polens mit allen Mitteln zu verhindern. Seit Januar 1927 wies Litvinov die deutsche Seite wiederholt auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik von Moskau und Berlin in der Frage des polnisch-litauischen Streits hin, um dadurch den Absichten Londons entgegenzuwirken. Die britische Regierung war außerdem bereit, Litauen weitere Finanzhilfen anzubieten. Die Aufgabe 1 Zum Wilnastreit im Völkerbund siehe auch Krüger (1985), S. 398 ff., sowie Blomeier (1998), S. 147 ff.
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)353
Moskaus und Berlins mußte deshalb darin liegen, Voldemaras davon zu überzeugen, daß Litauen in der Frage des polnisch-litauischen Streits alle erdenkliche Unterstützung sowohl durch die UdSSR als auch durch Deutschland erhalten könne,2 „um Litauen bei der Stange zu halten.“3 Dieser Vorschlag Litvinovs stimmte vollständig mit der Strategie Stresemanns überein. Obwohl Berlin bis dahin die Wünsche Litauens nach einer sofortigen Aufnahme der Wirtschaftsverhandlungen stets zurückgewiesen hatte, vor allem infolge der litauischen Nichteinhaltung des Memelautonomiestatuts, milderte Stresemann nach der gerade erreichten Verständigung mit Litvinov seine Haltung erheblich ab. Er trat nunmehr für die Aufnahme von Kreditverhandlungen mit der litauischen Regierung ein. Allerdings durfte dabei das Reich die Frage der Memelautonomie keineswegs preisgeben. Vielmehr sollte die Kreditgewährung mit der Frage der Memelautonomie verknüpft werden. Bereits im März 1926 wandte sich der memelländische Landtag mit einer Beschwerde über die litauische Memelpolitik an den Völkerbund. Anfang 1927 war das Verhältnis zwischen Deutschland und Litauen schließlich äußerst angespannt. Die Tätigkeit des Landtags im Memelgebiet, in dem die Deutschen die Mehrheit bildeten, wurde durch einen staatsstreichartigen Vorgang seitens des Gouverneurs schwer behindert. Er versuchte, dem Landtag ein litauisch gesinntes Landesdirektorium, das die Regierung des Memelgebiets darstellte, aufzuzwingen. Der Landtag sprach daher ein Mißtrauensvotum gegen den vom Gouverneur ernannten Landesdirektor aus. Die Auseinandersetzung eskalierte dadurch, daß die politische Freiheit der Memelländer durch Voldemaras’ Machtübernahme im Dezember 1926 zunehmend eingeschränkt wurde.4 Unter diesen Umständen erwies sich die Aufnahme von Wirtschaftsverhandlungen trotz der außenpolitischen Notwendigkeit als unmöglich.5 Staatssekretär Schubert lehnte deshalb Mitte Januar 1927, also unmittelbar nach dem Staatsstreich in Litauen, das Bittgesuch des litauischen Gesandten Sidzikauskas für die baldige Aufnahme der deutsch-litauischen Verhandlungen (Wirtschaft, Grenzregelung, Schieds2 ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 88, Botschafter v. Brockdorff-Rantzau, 31.1.1927, S. 192 ff. ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 95, Außenminister Stresemann an die Botschaft Paris, 3.2.1927, S. 205 ff. ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 103, Stresemann an die Botschaft Moskau, 5.2.1927, S. 227 ff. 3 ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 202, Brockdorff-Rantzau, 1.3.1927, S. 435. 4 Friesecke (1928), S. 68. Vgl. auch Plieg (1962), S. 35 ff. 5 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 2, Sir Vaughan to Sir Austen Chamberlain, 14.1.1927, S. 2 ff. Vor allem berichtete der britische Gesandte über das deutschlitauische Verhältnis: „for the moment relations between the two countries are extremely bad, and the interrupted negotiations for the revision of the Commercial Treaty have not yet been resumed.“
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
gericht) ausdrücklich ab, unter Hinweis darauf, daß das Reich nicht in der Lage sei, mit Litauen in Verhandlungen einzutreten, solange die Litauisierungspolitik im Memelgebiet weitergehe.6 Litvinovs Vorschläge Ende Januar 1927 führten dennoch zu einer Wende. Berlin machte nun seinerseits der notleidenden litauischen Wirtschaft ein großzügiges Kreditangebot, das mit der Verhandlungsaufnahme über die Memelautonomiefrage gekoppelt wurde. Im Februar 1927 lehnte die litauische Regierung den Vorschlag Stresemanns jedoch ab. Das vorsichtige Benehmen Kownos ging offenbar darauf zurück, daß man bereits in London der litauischen Regierung die Gewährung von Krediten in Aussicht gestellt hatte. Sidzikauskas antwortete zwar auf Anfrage Deutschlands, daß Litauen das britische Kreditangebot wahrscheinlich nicht annehmen werde, weil es sich davon keine politischen Vorteile verspreche. Der Anspruch Litauens auf das Wilnagebiet wurde demnach im Rahmen der britischen Außenpolitik zugunsten Polens zurückgewiesen.7 Kowno versuchte dennoch, die Rivalität zwischen Großbritannien, Deutschland und der UdSSR auszunutzen. Mitte Januar 1927 äußerte Piłsudski gegenüber der französischen Botschaft in Warschau, daß Polen im Falle einer weiteren Weigerung Litauens, die Grenze zu Polen zu öffnen, kriegsbereit sei. Trotz dieser Kriegsdrohung Piłsudskis ließ das britische Außenministerium die Lage weiter auf sich beruhen und vertraute zunächst auf die darauffolgende Erklärung Piłsudskis, die der britischen Seite Ende Januar 1927 mitgeteilt wurde. Dieser Mitteilung zufolge hielt Piłsudski dennoch eine baldige Lösung des polnischlitauischen Streits für notwendig und versprach, die Unabhängigkeit sowie die territoriale Integrität Litauens zu achten.8 Es lag auf der Hand, daß er stets damit rechnen mußte, daß ein militärischer Angriff Polens gegen Litauen unvermeidlich Krieg mit der UdSSR zur Folge haben würde. Berlin trat ebenfalls dem Standpunkt des britischen Außenministeriums bei und glaubte, daß die polnische Armee trotz der Zuspitzung des Verhältnisses zwischen Piłsudski und Voldemaras die Grenze gegen Litauen momentan nicht überschreiten würde. Nachdem Litauen wiederholt das Finanzangebot Berlins abgelehnt hatte, erinnerte der deutsche Gesandte in Kowno, Moraht, Anfang März 1927 die 6 ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 94, Stresemann an die Gesandtschaft in Kowno, 3.2.1927, S. 202 ff. 7 ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 211, Ministerialdirektor Köpke an die Gesandtschaft in Kowno, 4.3.1927, S. 455 ff. ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 223, Gesandter in Kowno Moraht an AA, 7.3.1927, S. 493 ff. 8 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 8, Sir Austen Chamberlain to Sir W. Max Muller (Warsaw), 31.1.1927, S. 10 ff. Vor allem teilte Skirmunt als Versprechen des Marschalls mit: „to a promise that he would respect the independence and integrity of Lithuania under all circumstances“.
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)355
litauische Regierung daran, daß das Reich seine Litauen entgegenkommende Haltung, vor allem in der Frage der Memelangelegenheiten, nicht auf unbegrenzte Zeit aufrechterhalten könne. Berlin war nunmehr bereit, im Falle einer weiteren litauischen Ablehnung der Annahme der Kreditverhandlungen und der damit gekoppelten Memelverhandlungen sich mit einem Protestantrag über die litauische Nichteinhaltung des Autonomiestatuts an den Völkerbundsrat zu wenden. Der deutsche Gesandte bemühte sich, die Kownoer Regierung zu überreden, vor allem unter Hinweis darauf, daß Litauen in Berlin alles bekommen könne, was es brauche, sowohl eine Bodenkreditanleihe als auch eine Baranleihe.9 Die litauische Regierung setzte ihren hartnäckigen Widerstand gegen das deutsche Wirtschaftsangebot jedoch fort und brachte letztlich ihre Geringschätzung guter deutschlitauischer Beziehungen dadurch zum Ausdruck, daß der Außenausschuß des Seimas die Ratifikation des am 16. Juli 1925 unterzeichneten Zusatzabkommens zu Artikel 20 des ersten Handelsvertrags, nämlich das kleine Grenzverkehrsabkommen zwischen Deutschland und Litauen, im April 1927 ablehnte.10 Staatssekretär Schubert stellte daraufhin dem Berliner litauischen Gesandten das Ultimatum, daß die deutsche Regierung sich dazu gezwungen sehe, die Frage der Nichteinhaltung des Memelautonomiestatuts vor den Völkerbundsrat zu bringen, falls keine sofortige Verbesserung der Behandlung der deutschen Bevölkerung erzielt werde.11 Die Mutmaßung, daß Polen wegen der sowjetischen Rückendeckung für Litauen die Grenze nicht überschreiten könne, sicherte der deutschen Außenpolitik ihren Handlungsspielraum in der Memelfrage. Das Reich räumte nun der Memelautonomiefrage Priorität gegenüber der Behandlung des Wilnagebiets ein. Am 24. Mai 1927 beantragte die Reichsregierung beim Völkerbundsrat, die Memelangelegenheiten auf die Tagesordnung der kommenden 45. Völkerbundsratssitzung im Juni zu setzen.12 Dabei bezog sie sich auf die Petition der „Memelbevölkerung über die Verletzung der Autonomie des Memelgebiets durch Litauen“. Das Reich war seit dem September 1926 Mitglied des Völkerbunds und verfügte seither über einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat. Dadurch wurde ihm das Recht eingeräumt, von den Bestimmungen des Artikels 17 der Memelkonvention Gebrauch zu machen. 9 ADAP,
Ser. B, Bd. IV, Dok. 223, Moraht an AA, 7.3.1927, S. 493 ff. PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 122, Heft 2, AA, 5.4.1927. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, RWiM an AA, 16.4.1927. 11 ADAP, Ser. B, Bd. V, Dok. 66, v. Schubert, 8.4.1927, S. 138 ff. 12 Artikel 17 der Memelkonvention lautet: „Die Hohen vertragschließenden Teile erklären, daß jedes Mitglied des Völkerbundrates berechtigt sein soll, die Aufmerksamkeit des Rates auf jede Verletzung der Bestimmungen des gegenwärtigen Abkommens zu lenken.“ 10 GStA
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Gegen diesen Antrag Deutschlands verlangte aber die litauische Regierung die Vertagung dieser Angelegenheiten.13 Die 45. Ratssitzung fand in Genf Mitte Juni 1927 unter dem Vorsitz des britischen Außenministers, Austen Chamberlain, statt. In Genf versuchte Voldemaras, außerhalb der Ratssitzung unmittelbar mit Stresemann in bilateralen Verhandlungen eine deutsch-litauische Verständigung herbeizuführen. Voldemaras erläuterte zunächst den Standpunkt der litauischen Juristen, daß seine Regierung in dieser Frage hundertprozentig recht habe. Dagegen erwiderte Stresemann, daß ein Eingriff der litauischen Regierung in die Autonomie des Memellandes als unberechtigt anzusehen sei. Dennoch vergaß er nicht, Voldemaras daran zu erinnern, daß Litauen im Hinblick auf seine geographische und politische Lage auf ein gutes Verhältnis zu Deutschland angewiesen sei, um sich nicht zu isolieren.14 In dieser inoffiziellen Besprechung gelang es Stresemann, von Voldemaras Zugeständnisse in der Autonomiefrage zu erhalten. Am 15. Juni teilte der litauische Ministerpräsident in der Ratssitzung die zwischen Stresemann und ihm erzielten Ergebnisse mit und erklärte vor allen Ratsmitgliedern: „In der Frage der im Memelstatut vorgesehenen Autonomie des Memelgebietes ist die litauische Regierung fest entschlossen, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, damit sie Gültigkeit erhalte und sich in der Angelegenheit des Wahlrechtes, der Zusammensetzung der Kammer und der Bildung des Direktoriums auf demokratischer Basis entwickle.“15 Es gelang ihm somit knapp zu vermeiden, daß der Rat die Entschließung faßte, die Angelegenheit in die Ratssitzung zu bringen. Demensprechend zog Stresemann seinen Antrag auf die Behandlung der Memelfrage im Rat zurück. Hierdurch wurde die Krise im Völkerbundsrat zunächst entschärft. Daß der litauische Ministerpräsident die Einhaltung des Memelstatuts mit aller Deutlichkeit versprach, erschien der deutschen Regierung zunächst als zufriedenstellend.16 Die Erklärung Voldemaras’ im Völkerbundsrat ebnete deshalb den Weg zum Eintritt in die Wirtschafts-, Schiedsgerichts- sowie Grenzvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Litauen. Bei seiner Rückreise aus Genf besuchte Voldemaras das Berliner Auswärtige Amt und vereinbarte dort, Mitte Juli 1927 in neue Handelsvertragsverhandlungen einzutreten.17 Die Verhandlungsaufnahme erfolgte am 19. Juli. Trotz Voldemaras’ Erklärung in Genf wurde aber die Lage der deutschen Memelbevöl13 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VII (1927), Nr. 6, S. 244 f. Ser. B, Bd. V, Dok. 224, Legationsrat v. Dirksen, 13.6.1927, S. 506 ff. 15 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VII (1927), Nr. 6, S. 245. 16 ADAP, Ser. B, Bd. V, Dok. 238, v. Dirksen an AA, 15.6.1927, S. 545 f. 17 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, AA, 1.7.1927. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 122, Heft 2, OPV an OPO, 18.6.1926. 14 ADAP,
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)357
kerung nicht wesentlich verbessert.18 Denn die Rede des litauischen Ministerpräsidenten im Völkerbundsrat wurde in Kowno als zu nachgiebig empfunden und schließlich als inakzeptabel zurückgewiesen.19 Unter diesen Umständen sah sich die Reichsregierung zu weiteren wirtschaftlichen und politischen Zugeständnissen an Litauen gezwungen, um so die deutsche Memelbevölkerung von der Litauisierungspolitik zu befreien und die litauische Regierung zur Einhaltung des Memelautonomiestatuts zu ermahnen. 2. Der polnisch-litauische Wilnastreit im Völkerbundsrat 1927 / 2820 Das politische Verhältnis zwischen Großbritannien und der UdSSR hatte sich Ende Oktober 1924 durch den Regierungswechsel von der Labour Party zu dem von Baldwin und Chamberlain geleiteten konservativen Kabinett erheblich verschlechtert. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Seiten erreichte 1927 ihren Höhepunkt. Die britische Regierung kündigte am 27. Mai 1927 den im August 1924 abgeschlossenen britisch-sowjetischen Handelsvertrag und forderte die Sowjetregierung zur sofortigen Abberufung des Geschäftsträgers auf.21 Anschließend wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und der UdSSR über zwei Jahre lang, also bis zur Ende 1929 unter der Labourregierung von MacDonald erfolgten Wiederaufnahme unterbrochen.22 Die Haltung der Sowjetregierung in der 18 PA AA, R 29238 (Büro StS), Abschrift, Promemoria, Deutsche Gesandtschaft für Litauen (Moraht) an Voldemaras, 24.8.1927. Darin protestierte Moraht dagegen, daß Litauens seine Genfer Versprechungen nicht einhielt. 19 Plieg (1962), S. 42. 20 Zum Wilnastreit im Völkerbund vgl. Senn (1966), S. 194 ff., sowie Krüger (1985), S. 398 ff. 21 Wolfgang Eichwede: Der Eintritt Sowjetrußlands in die internationale Politik 1921–1927, in: Osteuropa-Handbuch. Sowjetunion: Außenpolitik I (1917–1955), hg. v. Dietrich Geyer, Köln 1972, S. 150–212 (hier S. 207 ff.). Ausführliche Darstellung von sowjetischer Seite über die Verschärfung der Beziehungen zu Großbritannien siehe folgende Beiträge: Geschichte der sowjetischen Außenpolitik 1917 bis 1945, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Institut für Geschichte der UdSSR, Übersetzer Heinz Kimmel sowie Johannes Rühle, Berlin (Ost) 1980, S. 290 ff. Siehe auch Iwan Michailowitsch Maiski: Memoiren eines sowjetischen Botschafters, Berlin (Ost) 1967, S. 18 ff. Siehe auch Günter Rosenfeld: Zur Außenpolitik des deutschen Imperialismus gegenüber der Sowjetunion im Jahre 1927, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas 20 (1976), Heft 2, S. 185–196. 22 Viktor Knoll: Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten im Prozeß außenpolitischer Entscheidungsfindung in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Zwischen Tradition und Revolution. Determinanten und Strukturen sowjetischer Außenpolitik 1917–1941, hg. Ludmila Thomas und Viktor Knoll, Stuttgart 2000, S. 73–155 (hier S. 130 ff.).
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Frage des polnisch-litauischen Streits war dadurch gekennzeichnet, daß sie Litauen vor Polens Ansprüchen zu schützen suchte und deshalb der von Chamberlain verfolgten Lösung stets energisch entgegentrat. Dieser sowjetische Standpunkt im polnisch-litauischen Streit war vor allem aus der zwischen London und Moskau bestehenden politischen Konstellation zu verstehen.23 Bezeichnend formulierte Außenkommissar Čičerin, „daß hinter der Haltung Polens England stehe.“24 Nicht zuletzt trieb das Attentat auf den sowjetischen Botschafter in Warschau, P. L. Vojkov, der am 7. Juni 1927 durch einen in Polen eingebürgerten russischen Weißgardisten ermordet wurde, die politischen Spannungen zwischen Polen und der UdSSR auf die Spitze. Unter diesen Umständen rückte der polnisch-litauische Streit im Sommer 1927 in den Hintergrund. Im Oktober 1927, als die litauische Regierung mit ihrem Protestantrag die Aufmerksamkeit des Völkerbundsrats auf die Minderheitsfrage im polnischen Besatzungsgebiet lenkte, trat aber die Frage der polnisch-litauischen Verhältnisse erneut in den Vordergrund der internationalen Politik. Ein neuer Konflikt zwischen Polen und Litauen ergab sich aus folgender Situation: Am 4. Oktober 1927 veröffentlichte eine polnische Zeitung den Brief von 28 polnischen, in einem litauischen Gefängnis einsitzenden Lehrern, die es abgelehnt hatten, polnischen Schülern das von der litauischen Regierung angeordnete Geschichtsbild zu vermitteln. Unmittelbar nach der Veröffentlichung ließ die polnische Regierung ca. 20 litauische Lehrer im Wilna- und Grodnogebiet in Haft nehmen. Nicht zuletzt veranstaltete Polen unter Teilnahme von Marschall Piłsudski sowie General Żeligowski eine Demonstration gegen die litauische Regierung anläßlich des siebenten Jubiläums der polnischen Einnahme Wilnas am 9. Oktober.25 Am 15. Oktober 1927 reichte die litauische Regierung auf Grund von Artikel 11 des Völkerbundspakts eine Eingabe an den Völkerbund ein und beschwerte sich über die gegen die litauischen Lehrer und Priester gerichteten Maßnahmen Polens. Sie erklärte, „die Gewißheit erlangt zu haben, daß die polnische Regierung einen gegen die Unabhängigkeit Litauens gerichteten, umfassenden Plan zur Ausführung bringe.“26 Somit versuchte Litauen, die Aufmerksamkeit des Völkerbundsrats nicht nur auf die litauische Minderheitsfrage im besetzten Gebiet, sondern auch auf die zwischen Polen und Litauen bestehende Souveränitätsfrage zu lenken. Die Großmächte verfolgten allerdings unterschiedliche Interessen. Es 23 BDFA, Part II, Ser. F, Vol., 61, Doc. 47, Sir T. Vaughan to Sir Austen Chamberlain, 21.1.1928, S. 54 ff. 24 ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 92, Brockdorff-Rantzau an AA, 12.11.1927. 25 Senn (1966), S. 194. 26 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VII (1927), Nr. 12, S. 468 ff.
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)359
bestand dennoch Einigkeit darüber, daß der Kriegszustand, der von der litauischen Regierung seit dem Handstreich Żeligowskis im Oktober 1920 gegen Polen verhängt worden war, unbedingt aufgehoben werden müsse, um so die stagnierende Wirtschaft Nordosteuropas in Gang zu bringen. In dieser Streitfrage waren Stresemann und der französische Außenminister Briand einstimmig der Ansicht, daß man es unter allen Umständen vermeiden müsse, die Frage der Ostgrenze Polens von neuem aufzurollen. Im Zuge einer Beilegung des aktuellen polnisch-litauischen Streits, für die sich die Großmächte einzusetzen bereit waren, durfte deshalb weder die Souveränität über Wilna noch die Souveränität des litauischen Staates in Frage gestellt werden.27 Die Vermittlungsbemühungen mußten sich deshalb darauf beschränken, den Kriegszustand aufzuheben und dadurch den Wirtschaftsverkehr zwischen Polen und Litauen an der Demarkationslinie zu öffnen. Für Deutschland schien eine solche wirtschaftspolitische Lösung besonders angezeigt, weil man unter den gegenwärtigen prekären Verhältnissen Europas nicht erwarten konnte, den gesamten Fragekomplex zugunsten Litauens zu lösen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre Litauen im Falle einer endgültigen Lösung der Wilnafrage dazu gezwungen worden, mit Polen eine wirtschaftliche bzw. politische Union zu bilden, was sowohl Berlin, als auch Moskau für eine äußerst bedenkliche Aussicht hielten.28 Mit Rücksicht auf die seinerzeit von Litvinov gemachten Vorschläge29 instruierte Stresemann Anfang November 1927 Brockdorff-Rantzau, Čičerin die Bereitschaft Berlins mitzuteilen, in der Frage des polnisch-litauischen Streits enge Fühlung mit Moskau zu halten, was dieser wohlwollend annahm.30 Stresemann bat den Außenkommissar um die Stellungnahme Moskaus zur gegenwärtigen Streitlage zwischen Polen und Litauen, „ob und welche Schritte die Russische Regierung ihrerseits zu tun gedenkt.“31 Zur Vermeidung der Kriegsgefahr an der polnisch-litauischen Demarka tionslinie dachten Frankreich, Italien sowie Großbritannien zunächst an die Möglichkeit, eine kollektive diplomatische Demarche, ggf. auch unter Mit27 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Telegramm, Hoesch (Paris) an AA, 22.10.1927. 28 ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 68, Stresemann an die Botschaft in Paris, 3.11. 1927, S. 162 ff. 29 ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 88, Brockdorff-Rantzau, 31.1.1927, S. 192 ff. ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 95, Stresemann an die Botschaft Paris, 3.2.1927, S. 205 ff. ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 103, Stresemann an die Botschaft Moskau, 5.2.1927, S. 227 ff. 30 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Brockdorff-Rantzau (Moskau) an Stresemann, 12.11.1927. 31 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Telegramm, Stresemann an Brockdorff-Rantzau (Moskau), 5.11.1927.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
wirkung Deutschlands, sowohl bei Kowno als auch bei Warschau zu erheben. Nachdem die litauische Regierung jedoch die Streitfrage vor den Völkerbundsrat gebracht hatte, beschloß der britische Außenminister Chamberlain, die Angelegenheit ausschließlich dem Völkerbundsrat zu überlassen und die Großmächte von einer vorherigen diplomatischen Demarche abzuhalten.32 Unabhängig von der förmlichen Unmöglichkeit, die Demarche gegen Kowno nach dem bereits erfolgten Antrag Litauens beim Völkerbundsrat einzulegen, schätzte Chamberlain die Lage so ein, daß die Behandlung dieser Frage im Völkerbundsrat sogar Polen zugute kommen könne. Er versuchte deshalb, Warschau von diesen Vorteilen zu überzeugen.33 Im Gegensatz dazu war man in Moskau bestrebt, die Stellung Litauens gegen Polen und Großbritannien zu stärken, indem für die Sowjetregierung von einem Zusammenwirken mit Großbritannien überhaupt keine Rede war. Die sowjetische Diplomatie bemühte sich, nicht nur Deutschland von der geplanten kollektiven Demarche der Großmächte abzuraten, sondern warnte sogar auch davor, „daß ein Schlag Piłsudskis gegen Litauen bevorstehe.“34 Die Sowjetregierung war nunmehr bereit, im Falle einer Verletzung der litauischen Souveränität durch Polen ernste Maßnahmen gegen Polen zu ergreifen. Um der polnischen Regierung die Rückendeckung Moskaus für die Souveränität Litauens noch einmal vor Augen zu führen, richtete die Sowjetregierung Ende November 1927 eine Protestnote an die Warschauer Regierung.35 Doch im Grunde genommen waren Berlin und Paris der Ansicht, daß vorläufig keine ernsthafte Gefahr eines militärischen Angriffs durch Polen bestehe. Es schien unwahrscheinlich zu sein, daß die polnische Regierung kurz vor der Völkerbundssitzung ihre günstige Stellung durch einen Gewaltakt kompromittieren würde.36 Obwohl im Memelautonomiestreit trotz Voldemaras’ Genfer Erklärung vom Juni 1927 keine wesentliche Änderung eingetreten war, beschloß Berlin Mitte November 1927, die bereits angekündigten Beschwerdeanträge der Reichsregierung beim Völkerbund hinsichtlich der Verletzung der Memelau32 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Telegramm, Stahmer (London) an AA, 1.11.1927. ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 98, v. Schubert an die Botschaft in Moskau, 12.11.1927, S. 216 ff. 33 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 38, Sir Austen Chamberlain to Sir W. Max Muller (Warsaw), 1.11.1927, S. 43. 34 ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 89, v. Schubert, 10.11.1927, S. 205 ff. 35 DVP SSSR, Bd. X, Dok. 265, Note der Sowjetregierung an die Regierung Polens, 24.11.1927, S. 491 ff. PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Abschrift, Botschaft der UdSSR (Krestinskij) an Reichsminister Stresemann, 25.11.1927. Anlage, Note der Sowjetregierung an Polen von 24.11.1927. 36 ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 123, Botschafter in Paris v. Hoesch an AA, 21.11.1927, S. 300 ff.
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)361
tonomie zu unterlassen. Das Auswärtige Amt wollte es unbedingt vermeiden, durch eine gleichzeitige Behandlung der Memel-Autonomiefrage und der polnisch-litauischen Wilnafrage die Stellung Litauens im Völkerbund zu präjudizieren. Es setzte sich entschlossen dafür ein, die Unabhängigkeit und Integrität Litauens gegen Polen zu wahren.37 Unmittelbar vor der Eröffnung der Genfer Tagung, am 30. November 1927, besuchte der litauische Gesandte Sidzikauskas Stresemann in Berlin und fragte ihn nach der Haltung Deutschlands hinsichtlich der Aufhebung des litauischen Kriegszustandes gegen Polen. Sidzikauskas kündigte an, daß Litauen in Genf die Aufhebung des Kriegszustandes erklären werde. Sein Land werde jedoch darauf bestehen, die Wilnafrage offenzulassen. Er wies auf die innenpolitische Schwierigkeit der Kownoer Regierung hin, daß Voldemaras’ Partei nur drei Sitze im aus 87 Sitzen bestehenden Parlament habe. Sein Regime stützte sich tatsächlich auf das Militär, welches den Gedanken hege, Wilna zu erobern, so daß Voldemaras keinen Kompromiß in der Souveränitäsfrage machen könne. So bat der litauische Gesandte Stresemann darum, im Falle der litauischen Aufhebungserklärung des Kriegszustandes den Völkerbundsrat dazu veranlassen, in seiner Empfehlung auszusprechen, daß die Wilna frage dennoch offen sei und deren Lösung in Verhandlungen zwischen Litauen und Polen entschieden werden müsse.38 Die 48. Tagung des Völkerbundsrats fand vom 5. bis 12. Dezember 1927 in Genf statt. Deutschland und Frankreich vertraten einstimmig den Standpunkt, daß die Souveränität Litauens auf keinen Fall beeinträchtigt werden dürfe. Litauen habe allerdings unbedingt den Kriegszustand mit Polen aufzuheben. Es sollte Kowno anheimgestellt werden, bei gegebenenfalls zu führenden Verhandlungen über die Wiederherstellung normaler Beziehungen mit Polen die eigenen Vorbehalte hinsichtlich der Anerkennung der gegenwärtigen Wilnagrenze zu erklären. Auch die Sowjetregierung trat diesem Standpunkt Deutschlands und Frankreichs bei. Allerdings gelang es dem sowjetischen Außenkommissariat trotz wiederholter Versuchen nicht, Litauen dazu zu veranlassen, schon vor der Genfer Ratstagung eine Erklärung über die Aufhebung des Kriegszustandes zu geben.39 Während Stresemann und Briand die Versöhnungsempfehlung des Völkerbundsrats zunächst auf wirtschaftliche Angelegenheiten beschränken wollten,40 drängte Chamberlain den litauischen Ministerpräsidenten dazu, die Wiederherstellung diplo37 PA 38 PA
AA, R 29238 (Büro StS), Aufzeichnung (Wallroth), 17.11.1927. AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Aufzeichnung, Stresemann, 30.11.
1927. 39 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Abschrift, Telegramm, Schubert an Kowno, 22.11.1927. 40 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Aufzeichnung, Stresemann (Genf), 4.12.1927.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
matischer Beziehungen mit Polen herbeizuführen, was Voldemaras als inakzeptabel zurückwies.41 Die Großmächte des Völkerbundsrats einigten sich letztlich kurz vor der Eröffnung der Sitzung auf folgende Versöhnungsempfehlung bezüglich des polnisch-litauischen Streits: 1. Unantastbarkeit der Unabhängigkeit Litauens, 2. Aufhebung des Kriegszustandes, 3. Vorbehalt Litauens über die endgültige Lösung der Wilnafrage, und 4. Verhandlungsaufnahme zwischen Polen und Litauen über die Wiederherstellung gutnachbarlicher Beziehungen.42 Es stand außerdem die Teilnahme der beiden Staatsoberhäupter, Voldemaras und Piłsudski, an der Ratssitzung in Aussicht. So sollten sich die beiden Diktatoren zum ersten Mal gemeinsam an den Verhandlungstisch setzen. Das Ziel Piłsudskis schien offenbar darin zu bestehen, Litauen vor aller Welt als Friedensfeind an den Pranger zu stellen und darauf hinzuweisen, daß ein Völkerbundsmitglied, das sich mit einem anderen Staat als im Krieg befindlich erklärte, die Grundbegriffe des Völkerbunds verletze.43 Briand wies Stresemann auf die Notwendigkeit hin, daß man in der Sitzung Piłsudski keinen Vorwand geben dürfe, um gegen Litauen vorzugehen. Deshalb müsse Litauen unbedingt erst darauf eingehen, den Kriegszustand aufzuheben. Der stellvertretende Außenkommissar der Sowjetregierung, Litvinov, der wegen der neben der 48. Ratstagung geführten Vorbesprechungen über die Abrüstungskonferenz zur selben Zeit in Genf weilte, stimmte mit dieser Ansicht Briands und Stresemanns gänzlich überein.44 Litvinov, der nicht zur 48. Ratssitzung eingeladen worden war, ermahnte den deutschen Außenminister kurz vor der Sitzungseröffnung wiederholt zur Vorsicht gegen die Manöver Großbritanniens und Polens: „Seien Sie sich bewußt, daß Sie in dieser wichtigen Frage drei Länder vertreten. Schützen Sie die deutschen Interessen, die russischen Interessen und schützen Sie Litauen vor sich selbst.“45 Die Behandlung des von der litauischen Regierung am 15. Oktober 1927 gestellten Antrags wurde zunächst auf die Tagesordnung der Ratssitzung vom 7. Dezember gesetzt. Die Untersuchungen und Anhörungen beider 41 ADAP,
Ser. B, Bd. VII, Dok. 175, Dirksen, 5.12.1927, S. 429 ff. AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Aufzeichnung über die zweite Unterhaltung Stresemanns mit Voldemars, 7.12.1927. ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 181, v. Dirksen, 7.12.1927, S. 441 ff. 43 ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 71, Botschafter in Paris v. Hoesch an AA, 4.11.1927, S. 169 ff. 44 Krestinskij und Schubert einigten sich schon Ende November auf dieses Verhandlungsprogramm. PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Abschrift, Telegramm, v. Schubert an Kowno, 22.11.1927. 45 PA AA, R 28645, Aufzeichnung, Stresemann (Genf), 4.12.1927. ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 174, Stresemann, 4.12.1927, S. 427 ff. 42 PA
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)363
Parteien wurden dabei in Anwesenheit Voldemaras’ und des polnischen Außenministers, August Zaleski, bereits vor Piłsudskis Ankunft in Genf durchgeführt. Zuerst hielt Voldemaras einen Vortrag über die seit den letzten Jahren erregten Besorgnisse hinsichtlich der Einmischung Polens in die inneren Angelegenheiten Litauens sowie hinsichtlich der Verletzung der Unabhängigkeit Litauens. Gegen diese Beschwerde erwiderte Zaleski, daß Litauen bisher stets erklärt habe, sich im latenten Kriegszustand mit Polen zu befinden. Litauens Haltung sei deshalb mit dem Geist des Völkerbunds nicht vereinbar und stelle eine Gefährdung der Weltpolitik dar. Er beendete seine Ausführungen mit folgender Erklärung: „Vor der ganzen Welt erklärt Polen im Bewußtsein seine Pflichten und seiner Verantwortung Litauen den Frieden. Feierlich reichen wir Litauen die Hände.“46 Dieses Schlußwort Zaleskis brachte Voldemaras in Zugzwang. Der litauische Ministerpräsident erwiderte zunächst, daß Litauen Polen nicht feindlich gegenüberstehe, und erklärte, daß die litauische Regierung unter dem Ausdruck Kriegszustand das Fehlen normaler Beziehungen zwischen Polen und Litauen verstehe, so daß er die Worte Zaleskis voll und ganz würdige. Hierdurch akzeptierte Litauen im Grundsatz die Aufhebung des Kriegszustandes mit Polen. Die Sitzung vom 10. Dezember, an der auch Piłsudski beteiligt war, verlief trotz der auf allen Seiten herrschenden Besorgnis ohne große Störungen, abgesehen davon, daß Piłsudski Voldemaras’ Rede plötzlich unterbrach und anmerkte, daß er nicht aus Warschau nach Genf gekommen sei, um eine langatmige Rede Voldemaras’ anzuhören, sondern um zu hören, daß Litauen den Frieden wolle. Voldemaras zögerte zu antworten. Als Piłsudski wiederholte: „Ich will nur von Ihnen hören, ob Sie Krieg oder Frieden wollen“, erwiderte Voldemaras schließlich, daß das Nichtbestehen des Kriegszustandes bereits in der Sitzung vom 7. Dezember festgestellt worden sei. Der litauische Ministerpräsident erkannte damit noch einmal die Aufhebung des Kriegszustandes an.47 Dies war das Hauptergebnis der 48. Völkerbundsratstagung. In diesem Zusammenhang wurde folgende Resolution auf Grund des bereits erwähnten Beilegungsprogramms der Großmächte verabschiedet: 1. die Kenntnisnahme der Erklärung der litauischen Regierung zur Aufhebung des Kriegszustandes mit Polen durch den Völkerbundsrat, 2. die Kenntnisnahme der Erklärung der polnischen Regierung betreffend die Achtung der politischen Unabhängigkeit und territorialen Integrität der litauischen Republik, 3. die Empfeh46 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VII (1927), Nr. 12, S. 468 ff. Schmidt: Statist auf diplomatischer Bühne 1923–45. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas, Bonn 1952, S. 144 ff. ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 197, Aufzeichnung des Hilfsarbeiters Schmidt, 10.12.1927, S. 478 ff. 47 Paul
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
lung der baldigen Aufnahme von direkten Verhandlungen zwischen beiden Parteien über die Wiederherstellung normaler Beziehungen, 4. die Überweisung der von der litauischen Regierung beantragten Minderheitsfrage an die Minderheitskommission des Völkerbunds, 5. die Erklärung der polnischen Regierung über die ungehinderte Rückkehr der aus Polen nach Litauen ausgewiesenen Personen. Von besonderer Bedeutung war Punkt 3 insbesondere im Zusammenhang mit dem letzten Absatz der Resolution, in dem der Völkerbundsrat erklärte, „daß diese Entschließung in keiner Weise die Fragen berührt, über die bei den Regierungen Meinungsverschiedenheiten bestehen.“48 Nach dem dieser Resolution beigelegten Bericht des Völkerbundsrats war darunter in erster Linie „die Frage der Ansprüche der litauischen Regierung auf das Gebiet von Wilna“ zu betrachten.49 So sollte die Behandlung der Wilnafrage bei den auf Empfehlung des Völkerbundsrats einzuleitenden direkten Verhandlungen zwischen Polen und Litauen zur Normalisierung der Beziehungen außer acht gelassen werden, obwohl es eine gänzlich unmögliche Vorstellung war, die Streitfrage um die Wilnagrenze vor allem zum Zweck der Normalisierung des dortigen Wirtschaftsverkehrs zu lösen, ohne die Souveränitätsfrage des Wilnagebiets zu berühren. Daß die Resolution des Völkerbundsrats vom 10. Dezember 1927 auf diese Weise die Behandlung der Wilnafrage unterließ und deren Lösung auf die weitere Zukunft verschob, erschwerte die darauffolgenden Verhandlungen zwischen Polen und Litauen ungemein. Die hier vorgesehenen direkten Verhandlungen wurden auf Vermittlung des Völkerbundsrats im Jahr 1928 in Königsberg geführt, hatten allerdings keine nennenswerten Ergebnisse für die Freigabe des Verkehrs an der Wilnagrenze. Litauen fühlte sich nicht dazu verpflichtet, trotz der Resolution des Völkerbundsrats die Beziehungen zu Polen zu normalisieren, weil zweifellos gerade der litauische Anspruch auf das Wilnagebiet den Kern dieses langjährigen Streits ausmachte. 3. Das politische Ziel zur Regelung der deutsch-litauischen Grenzverhältnisse Polen war mit den Ergebnissen der Genfer Ratssitzung vom 10. Dezember 1927 zunächst zufrieden. Zurück in Warschau propagierte der Marschall den Triumph über Voldemaras, vor allem mit Blick auf die litauische Erklärung über die Aufhebung des Kriegszustandes.50 Im Gegensatz zum äußerlichen Siegesjubel sah jedoch Piłsudski das deutliche Votum Stresemanns 48 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VII (1927), Nr. 12, S. 470. S. 469. 50 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 42, Mr. R. A. Leeper to Sir Austen Chamberlain, 20.12.1927, S. 48 ff. 49 Ebd.,
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)365
gegen Polen im Völkerbund mit Besorgnis. Zwar wurde auf der DezemberRatssitzung die Aufnahme direkter Verhandlungen zwischen Polen und Litauen über die Wiederherstellung normaler Beziehungen beschlossen. Die Resolution legte jedoch nicht nur der litauischen Regierung die Verpflichtung zur Aufhebung des Kriegszustandes auf. Durch die Annahme der Resolution wurde auch die polnische Regierung dazu gezwungen, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der litauischen Republik offiziell anzuerkennen. Diese gegenseitigen Verpflichtungen gingen offenbar auf den Wunsch Stresemanns zurück, eine Erweiterung der polnischen Einflußsphäre, vor allem auf Litauen, unbedingt zu vermeiden.51 Die Litauen nahestehende Haltung Berlins war auch in Äußerungen der deutschen Gesandtschaft in Warschau deutlich zu erkennen gewesen. Kurz vor seiner Abfahrt nach Genf hatte man dort dem polnischen Außenminister Zaleski erläutert, daß Stresemann bereit sei, in der bevorstehenden Ratssitzung seine ausdrück liche Zustimmung für die Aufhebung des Kriegszustandes zu geben. Er wolle jedoch keinerlei weitere Zugeständnisse Litauens gegenüber Polen zulassen, weil er die weitgehende Versöhnungsforderung der Großmächte, wie z. B. die Wiederherstellung diplomatischer Beziehungen zwischen Litauen und Polen, wegen der strikt ablehnenden Haltung Litauens von vornherein als unmöglich erachte.52 Während man in Kowno die Aufhebung des Kriegszustandes als Verlust des wichtigsten politischen Mittels ansah, bewertete man zugleich die im Völkerbund erzielte Anerkennungserklärung Polens über die Unabhängigkeit und Integrität Litauens positiv. Nicht zuletzt besagte die Resolution des Völkerbundsrats ausdrücklich, daß die Frage der Souveränität im Wilnagebiet bei den aufzunehmenden direkten polnisch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen nicht zu berühren sei. Trotz der äußerlichen Niederlage, durch die der litauische Ministerpräsident vor aller Welt zur Erklärung über die Aufhebung des Kriegszustandes gezwungen wurde, gewährten die Ergebnisse der Genfer Ratssitzung im ganzen der litauischen Regierung neuen Handlungsspielraum sowohl in der Frage der litauischen Unabhängigkeit als auch in der Frage des Wilnastreits. In diesem Sinne hatte Litauen mit der Genfer Resolution im wesentlichen nichts verloren. Es gelang Voldemaras vielmehr, die Stellung Litauens als eines selbständigen Staates in der internationalen Gemeinschaft zu festigen. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre, vor allem im Anschluß an die Ratifizierung der Memelkonvention 1925, äußerte Litauen wiederholt den Wunsch, daß Deutschland Garantien für die litauische Grenze, also sowohl 51 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 45, Mr. R. A. Leeper to Sir Austen Chamberlain, 31.12.1927, S. 51 ff. 52 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 42, Mr. R. A. Leeper to Sir Austen Chamberlain, 20.12.1927, S. 48 ff.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
über das Memelgebiet als auch für die litauische Souveränität im Wilnagebiet, übernehmen solle. Kowno hielt es für angezeigt, durch die Rückendeckung Berlins die eigene Stellung gegenüber Polen und den mit ihm sympathisierenden Westmächten zu stärken. Mitte Januar 1927 schlug der litauische Gesandte in Berlin, Sidzikauskas, dem Auswärtigen Amt vor, Verhandlungen über den Abschluß der deutsch-litauischen Verträge (Handel, Schiedsgericht sowie Grenzregelung) aufzunehmen. Dabei teilte er außerdem den Wunsch seiner Regierung mit, daß das Reich im Rahmen des abzuschließenden Schiedsvertrags die Unantastbarkeit des litauischen Territo riums und besonders der Wilnagrenze erklären solle. Dieser Vorschlag von Sidzikauskas fand allerdings zunächst in Berlin keine Zustimmung. Das Reich hatte nicht die Absicht, seine Beziehungen zu den Westmächten zu gefährden.53 Nachdem der deutsch-litauische Streit um die Memelautonomie zunächst durch die Erklärungen Voldemaras’ und Stresemanns im Juli 1927 in Genf über die Einhaltung des Autonomiestatuts beigelegt worden war, erfolgte wenig später die Verhandlungsaufnahme über die deutsch-litauischen Handels-, Schiedsgerichts- sowie Grenzregelungsverträge. Tatsächlich änderte sich dennoch die willkürliche Politik Litauens im Memelgebiet nicht wesentlich. Berlin sah sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, Litauen zur Aufhebung der Litauisierungspolitik im Memelgebiet zu veranlassen, ohne dessen Existenzgrundlage zu schädigen. Wirtschaftliche Sanktionen, die zweifellos einen bedeutenden Effekt erzielt hätten, durften in dieser Situation nicht verhängt werden, da eine weitere wirtschaftliche und politische Schwächung Litauens seine Angliederung an Polen zur Folge haben konnte. Unter diesen Umständen beschloß das Auswärtige Amt, den Weg zur deutsch-litauischen Verständigungspolitik einzuschlagen und die Aufhebung der Litauisierungspolitik als Gegenleistung für das deutsche Entgegenkommen zu den wirtschaftlichen und politischen Wünschen Litauens zu fordern.54 Die Unabhängigkeit und territoriale Integrität Litauens sollte in der Völkerbundsratssitzung vom Dezember 1927 unbedingt gegen die Ansprüche Polens und auch gegen die Strategie Großbritanniens abgesichert werden. Berlin unterstützte die litauische Selbständigkeit mit großem Nachdruck. So bekräftigte Schubert im November 1927 dem britischen Botschafter Lindsay gegenüber, daß man alles tun müsse, um die Integrität Litauens zu wahren.55 Vor diesem Hintergrund entschloß sich das Auswärtige Amt, die durch die Memelkonvention geschaffene Lage, also die bestehende Grenze 53 ADAP,
Ser. B, Bd. IV, Dok. 56, v. Schubert, 22.1.1927, S. 125 ff. AA, R 29238 (Büro StS), Wallroth an Dirksen, 3.9.1927. 55 ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 156, v. Schubert, 29.11.1927, S. 377 ff. (hier S. 379). 54 PA
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der litauischen Republik, durch den Abschluß eines deutsch-litauischen Grenzvertrags offiziell anzuerkennen, allerdings in der Annahme, daß Litauen dadurch mehr als bisher dazu gezwungen sein würde, das Autonomiestatut einzuhalten. Der Vertrag über die Regelung der Grenzverhältnisse wurde zusammen mit einer Reihe sogenannter Memelverträge (Schiedsgerichtsund Vergleichsvertrag, Abkommen über die Unterhaltung der Grenzgewässer, Abkommen über die Fischerei, Abkommen über die Fürsorge für die Militärrentenempfänger im Memelgebiet, Abkommen über die Fürsorge für die Pensionäre im Memelgebiet) am 29. Januar 1928 von Stresemann und Voldemaras in Berlin unterzeichnet.56 Dabei ging die Reichsregierung mit Rücksicht auf die litauische Stellung auf zwei Kompromisse ein: die Nichtanerkennung der Wilnagrenze auf der einen Seite und der Verzicht auf die Bezugnahme auf die Bestimmungen des Versailler Vertrags hinsichtlich der deutsch-memelländischen Grenze auf der anderen. Beim Abschluß der deutsch-litauischen Verträge am 29. Januar 1928 in Berlin wurden außerdem verschiedene Vereinbarungen zwischen Stresemann und Voldemaras getroffen, die sich in erster Linie auf die Schaffung einer engen Kooperation Deutschlands und Litauens in politischen und wirtschaftlichen Bereichen richteten.57 Mit der deutschen Garantie der Integrität des litauischen Staates, der weitgehenden politischen Unterstützung für Litauen im Völkerbund und schließlich der Einfuhrerleichterung für litauisches Vieh und Fleisch gelang es Stresemann, als Gegenleistung Versprechungen Voldemaras’ in der Memelfrage zu erlangen. So ging Voldemaras darauf ein, die Litauisierungspolitik im Memelgebiet zu beenden und die Wünsche der deutschen Wirtschaft (die Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg, die Herabsetzung der Holzausfuhrzölle, die Parität im Niederlassungsrecht usw.) bei den Handelsvertragsverhandlungen anzunehmen. Die hier erreichte Vereinbarung zwischen Stresemann und Voldemaras wurde als Geheimprotokoll den abgeschlossenen deutsch-litauischen Verträgen beigelegt.58 (Die Fragen des deutsch-litauischen Grenzverkehrs sowie des Berliner Protokolls werden im Kapitel IV Abschnitt 2 ausführlich dargelegt.) 56 RGBl. 1929,
II, S. 205 ff. Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 54, Inclosure in Doc. 53, M. Stresemann’s Letter to M. Woldemaras, S. 66 f. Chamberlain sah die Kopie der Note zwischen Stresemann und Voldemaras, die dem englischen Außenministerium durch die polnische Gesandtschaft in London übergeben worden war, als authentisch an. Darin erklärte Stresemann: „In the event of the attempts of Lithuania to obtain a peaceful settlement of any outstanding differences not leading to a successful issue, the German Federal Government are prepared to give their material and moral support to Lithuania for the protection of her legitimate interests before the competent resorts.“ 58 PA AA, R 29238 (Büro StS), Niederschrift über die politischen Besprechungen, die in den Tagen vom 25. bis 28. Januar 1928 in Berlin zwischen dem li 57 BDFA,
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
4. Die erste polnisch-litauische Konferenz in Königsberg59 und die Frage der Transitflößerei Am 10. Dezember 1927, unmittelbar nach der Erklärung des litauischen Ministerpräsidenten über die Aufhebung des Kriegszustandes, verabschiedete man im Völkerbundsrat eine Resolution, mit der Polen und Litauen empfohlen wurde, baldmöglichst direkte Verhandlungen über die Wiederherstellung normaler gutnachbarlicher Beziehungen aufzunehmen. Mit diesem Beschluß hoffte Warschau, die bisher unterbrochenen wirtschaftlichen und konsularischen Beziehungen zwischen Polen und Litauen wiederherstellen zu können. Unmittelbar nach der Genfer Sitzung schlug Außenminister Zaleski dem litauischen Ministerpräsidenten vor, am 7. Januar 1928 in Riga die Verhandlungen aufzunehmen.60 Während Warschau auf diese Weise rasch die Initiative ergriff, zögerte Kowno noch, darauf einzugehen. Nachdem Voldemaras den ersten Terminvorschlag zurückgewiesen hatte, schlug Zaleski vor, zum 30. Januar 1928 am gleichen Ort in die Verhandlungen einzutreten. Ihm zufolge sollte in folgenden vier Bereichen Übereinkunft erzielt werden: 1. die Regelung des kleinen Grenzverkehrs, 2. die Öffnung des Post- und Telegraphenverkehrs, 3. die Öffnung des Eisenbahnverkehrs, 4. die Öffnung der Memel / Njemen-Flößerei.61 Mitte Januar 1928 reichte Voldemaras seine Note an Zaleski ein, die eine vierseitige Polemik gegen dessen Persönlichkeit enthielt.62 Außerdem lehnte er abermals sowohl den von Polen vorgeschlagenen Verhandlungstermin als auch die vorgesehenen Verhandlungsgegenstände ab. Als Tagungsort schlug Voldemaras statt dessen Königsberg vor.63 Außerdem stellte er für die Verhandlungsaufnahme folgende Bedingungen: „Pour sa part, le Gouvernement lithuanien demandera d’inscrire à l’ordre du jour la question de la liquidation des conséquences de la guerre menée par la Pologne contre la Lithuanie (coup de force du Général Żeligowski et autres). Avant le commencement de la Conférence, le Gouvernement lithuanien ne manquera pas de soumettre les donnés, sur lesquelles est basée sa demande de dédommagements.“64 tauischen Ministerpräsidenten Woldemaras und dem deutschen Reichsaußenminister Dr. Stresemann stattgefunden haben, 29.1.1928. Anlage 1 (geheim). 59 Zur polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg vgl. Łossowski (1985), S. 233 ff. sowie Senn (1966), S. 210 ff. 60 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 42, Mr. R. A. Leeper to Sir Austen Chamberlain, 20.12.1927, S. 48 ff. 61 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 2, Lettre du Ministre des Affaires Étrangères des Pologne au Président du Conseil, Ministre des Affaires Étrangères de Lithuanie, 8.1.1928, S. 12 f. 62 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Rauscher (Warschau) an AA, 20.1. 1928. 63 PA AA, R 29238 (Büro StS), Aufzeichnung, Wallroth, 22.1.1928.
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)369
Der hartnäckige Widerstand Kownos gegen die Verhandlungsaufnahme löste in Berlin und Moskau erhebliche Beunruhigung aus. Die Stellung Litauens war lediglich dank äußerster Anstrengungen der deutschen und sowjetischen Diplomatie im Dezember 1927 beim Völkerbund vor den Manövern Polens und Großbritanniens gerettet worden. Die weitere Weigerung Kownos gegen die Ausführung der Resolution, wie sie in der oben zitierten Entschädigungsforderung zum Ausdruck kam, mußte zweifellos in der Weltöffentlichkeit den Eindruck erwecken, daß Litauen trotz seiner Bundesmitgliedschaft nicht die Absicht habe, seine Verpflichtungen gegenüber dem Völkerbund einzuhalten. Eine Einleitung von Sanktionen des Völkerbunds gegen Litauen, an der zweifellos Polen und Großbritannien ein Interesse hatten, sollte aber vermieden werden. So bemühten sich sowohl das sowjetische Außenkommissariat als auch das Auswärtige Amt, Voldemaras dazu zu überreden, endlich die litauische Bereitschaft zur Verhandlungsaufnahme mit Polen zu erklären.65 Außerdem richtete der polnische Außenminister Zaleski am 9. Februar eine weitere Note an die litauische Regierung, in der er die mit der Resolution des Völkerbundsrats unvereinbare Haltung Litauens scharf kritisierte. Zaleski warf Litauen vor, daß es die Arbeit und Ergebnisse der Genfer Ratstagung zur Wiederherstellung des Friedens zerstören wolle. Dabei forderte er mit den Worten „oui ou non“ die Kownoer Regierung beinahe ultimativ dazu auf, die Frage zu beantworten, ob sie die Wiederherstellung gutnachbarlicher Beziehungen mit Polen wünsche oder nicht.66 Warschau nutzte diese Gelegenheit aus und propagierte, daß nicht Polen, sondern Litauen als friedensfeindlich zu betrachten sei. Dadurch verschlechterte sich die Position Litauens erheblich. In einer Besprechung mit Stresemann, die beim Abschluß der deutsch-litauischen Verträge Ende Januar 1928 in Berlin gehalten wurde, äußerte Voldemaras, daß er zwar der Meinung sei, die Verhandlungen mit Polen unbedingt aufnehmen zu müssen. Er befürchte jedoch, daß Polen die Absicht habe, so zu tun, als ob die Wilnafrage nicht mehr existiere. Voldemaras’ Bedenken waren insoweit berechtigt, als Warschau darauf abzielte, nach Wiederherstellung der wirtschaftlichen Beziehungen Kowno dazu zu zwingen, alle Protestmaßnahmen gegen die polnische Okkupation im Wilnagebiet einzustellen. Strese64
64 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 3, Lettre du Président du Conseil et Ministre des Affaires Étrangères de Lithuanie au Ministre des Affaires Étrangéres de Pologne, 16.1.1927, S. 13 ff. (hier S. 16). 65 ADAP, Ser. B, Bd. VIII, Dok. 37, Staatssekretär v. Schubert, 21.1.1928, S. 72 ff. ADAP, Ser. B, Bd. VIII, Dok. 92, Staatssekretär v. Schubert an die Gesandtschaft in Kowno, 16.2.1928, S. 191 ff. 66 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 4, Lettre du Ministre des Affaires Étrangères de Pologne au Président du Conseil et Ministre des Affaires Étrangères de Lithuanie, 9.2.1928, S. 17 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
mann stimmte Voldemaras voll und ganz zu. Dennoch hielt er es für gut möglich, daß Litauen erst in die Verhandlungen eintreten und danach das Thema anschneiden könne, einer wirtschaftlichen Verständigung die Souveränitätsfrage Wilnas nicht opfern zu wollen. So empfahl Stresemann dem litauischen Ministerpräsidenten nachdrücklich die Verhandlungsaufnahme mit Polen.67 Die vorgesehenen Verhandlungen in Königsberg waren aber von vornherein zum Scheitern verurteilt, vor allem auf Grund der in der Wilnafrage bestehenden Diskrepanz.68 Berlin und Moskau drängten Voldemaras wiederholt dazu, daß Litauen die polnische Note spätestens vor dem Beginn der nächsten Genfer Ratstagung beantworten müsse. Zugleich bemühten sich das Auswärtige Amt und das Außenkommissariat, Warschau daran zu hindern, die litauische Frage wieder vor den Völkerbundsrat zu bringen.69 Daraufhin gab die litauische Regierung Ende Februar 1928 schließlich ihre Bereitschaft zur Aufnahme der Verhandlungen bekannt. Sie schlug vor, diese am 30. März 1928 in Königsberg beginnen zu lassen,70 was schließlich von Polen angenommen wurde. Mitte März besuchte der Berliner Gesandte Sidzikauskas das Auswärtige Amt und ersuchte um die Zustimmung der deutschen Regierung für die Konferenzveranstaltung in Königsberg. Zugleich bat er, zu diesem Zwecke einen entsprechenden Tagungsplatz zur Verfügung zu stellen.71 Das Auswärtige Amt beauftragte daraufhin den Ostpreußischen Vertreter, Frankenbach, mit der Bereitstellung geeigneter Räume im Oberpräsidium in Königsberg. Das Amt bat den Oberpräsidenten um die Betreuung der polnischen und litauischen Delegationen, insbesondere um verstärkte Sicherheitsmaßnahmen für den polnischen Außenminister und den litauischen Ministerpräsidenten sowie um die Pressekontrolle.72 Hierdurch wurde zwar die Verhandlungsaufnahme zwischen Polen und Litauen festgelegt. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Parteien waren jedoch zu groß, als daß die bevorstehende Konferenz zu positiven 67 ADAP, Ser. B, Bd. VIII, Dok. 94, v. Schubert, 17.2.1928, S. 196 f. ADAP, Ser. B, Bd. VIII, Dok. 120, v. Schubert, 27.2.1928, S. 258 f. 68 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 45, Mr. Leeper to Sir Austen Chamberlain, 31.12.1927, S. 51 ff. 69 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Telegramm, Brockdorff-Rantzau an AA, 16.2.1928. 70 Documents diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 5, Lettre du Président du Conseil, Ministre des Affaires Étrangères de Lithuanie au Ministre des Affaires Étrangères de Pologne, 26.2.1928, S. 18 f. 71 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Aufzeichnung, v. Schubert, 19.3. 1928. 72 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 96, Frankenbach an Herbst, 20.3.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 96, Aufzeichnung, Bassewitz (AA), 20.3.1928.
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)371
Ergebnissen hätte führen können. Während Polen im Sinne der Normalisierung der Beziehungen die Wiederherstellung diplomatischer Kontakte sowie die Wiedereröffnung des direkten Eisenbahn-, Post- und Telegraphenverkehrs zwischen beiden Staaten verlangte, lehnte Litauen diese Wünsche Polens strikt ab. Hingegen hielt Litauen es für notwendig, mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Interessen der Uferstaaten zuerst über die Freigabe der Transitflößerei auf der Memel zu verhandeln. In einer Mitteilung Voldemaras’, die kurz vor dem Eintritt in die Königsberger Verhandlungen an das Foreign Office gerichtet wurde, trat dieser Standpunkt Kownos offen zutage.73 Die litauische Regierung sei bereit, sowohl die Rechte der polnischen Flößereifirmen im Memelgebiet sowie in Litauen zu respektieren, als auch die Öffnung des direkten Post- und Telegraphenverkehrs, soweit es sich um die Angelegenheiten der Flößereigeschäfte handelte, unter der Bedingung zuzulassen, daß die polnische Regierung die Aufhebung der von ihr verhängten Hindernisse gegen die Transitflößerei veranlasse. Hingegen bereitete die Frage des Eisenbahnverkehrs weitere Schwierigkeiten. Als Bedingung für den Beginn der Verhandlungen über die Wiederherstellung des Eisenbahnverkehrs zwischen Kowno und Wilna forderte Litauen Polen auf, die Souveränitätsfrage des Wilnagebiets im Sinne des sowjetisch-litauischen Friedensvertrags von Moskau sowie des Suwalki-Vertrags zu klären. Der direkte Eisenbahnverkehr auf dieser Strecke war nach dem Handstreich Żeligowskis durch Litauen blockiert worden, um auf diese Weise gegen das vertragswidrige Vorgehen Polens zu protestieren. Litauens Auffassung nach mußte diese Verkehrsfrage deshalb unbedingt im Zusammenhang mit der Souveränitätsfrage des Wilnagebiets behandelt werden. In diesem Sinne wies die Kownoer Regierung als Lösungsmöglichkeit für den Eisenbahnverkehr darauf hin, eine Statusänderung des Wilnagebiets, wie z. B. die Einsetzung eines Sonderregimes für das Wilnagebiet, vorzunehmen. Es war von vornherein unmöglich, eine Diskussionsgrundlage zu finden. Zum einen akzeptierte es Polen nicht, die Frage der Transitflößerei gesondert zu behandeln. Sie sollte nach polnischer Auffassung lediglich im Zusammenhang mit der Öffnung des gesamten Verkehrs (Konsularbeziehung, Binnenwasser-, Eisenbahn-, Post-und Telegraphenverkehrs) behandelt werden. Zum anderen lehnte es Polen unter Hinweis auf die Ratsresolution, welche die Aus klammerung der Souveränitätsfrage des Wilnagebiets aus den direkten Verhandlungen anordnete, strikt ab, die Entschädigungsansprüche Litauens sowie eine Statusänderung des Wilnagebiets überhaupt in Erwägung zu 73 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 62, Mr. Addison to Sir Austen Chamberlain, 28.3.1928, S. 75 f. BDFA, Ser. F, Vol. 61, Doc. 65, Notes received from Lithuanian Prime Minister (Inclosure in Doc. 64, 19. März 1928), S. 77 f. BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 69, Mr. Addison to Sir Austen Chamberlain, 30.3.1928, S. 81 ff.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
ziehen. An dieser Diskrepanz waren alle bisherigen Versuche zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Polen und Litauen, vor allem die Konferenzen in Lugano und Kopenhagen in den Jahren 1925 / 26, gescheitert.74 Seit 1925 hatte die litauische Regierung ihre Haltung in der Frage der Transitflößerei erheblich abgemildert. Im Hinblick auf die Bestimmungen des Anhangs III „Transit“ der Memelkonvention sowie auf die wirtschaft lichen Interessen der Großmächte, vor allem Deutschlands, der UdSSR sowie Großbritanniens, welche mehrmals auf Litauen Druck ausübten, bemühte sich die litauische Regierung seit Ende 1925, von ihrer bisherigen Sperrpolitik abzurücken. Der Anlaß dazu war allerdings die wirtschaftliche Notlage des Memeler Hafengebiets. Nach der langjährigen Absperrung der Memelflößerei mußte die litauische Regierung feststellen, daß der Betrieb des Memeler Hafens, wo sich mehrere Sägewerke und Holzhandelsfirmen befanden, ohne Zufuhr der Flößerei aus Polen und der UdSSR nicht möglich war.75 In diesem Sinne erließ sie im Jahr 1926 eine neue Flößereiordnung, wonach die Hindernisse, die bei der Übernahme der Transitflößerei aus Polen und der UdSSR an der Wilnagrenze bestanden, abgesehen von einigen Schwierigkeiten, wie z. B. der Pflicht zur Auswechslung der Flößereibesatzungspersonen (Flößer) an der Flußgrenze, größtenteils beseitigt wurden.76 Im Gegensatz ging Polen dazu über, die aus dem Memel- / Njemenstromgebiet, vor allem aus dem Wilna-Grodnogebiet geschlagenen Hölzer ausschließlich auf dem Schienenwege abzutransportieren. Auf diese Weise gelang es Polen, das Danziger Hafengeschäft und zugleich die polnischen Sägewerke zu unterstützen. Die verstärkten Ablenkungsversuche Polens in der zweiten Hälfte der 20er Jahren ließen in der Frage der Memelflößerei eine Wende eintreten, da nun Polen als Hauptbehinderer der Memelflößerei erschien.77 Tatsächlich sah die polnische Wirtschaft nun 74 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, Entwurf, Gesandtschaft Kowno an AA, 18.1.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 127, OPV an IHK Tilsit, 12.11.1925. 75 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, Abschrift, IHK Tilsit an OPO, 15.11.1926. Anlage: „Memeler Wirtschaftsfragen. Russischer Handelsvertrag und Wilnakonflikt“ (zitiert aus dem Handelsblatt der Königsberger Allgemeinen Zeitung). 76 BA, R 5 / 408, OPO, 4.2.1926. BA, R 5 / 1382, IHK Tilsit, 25.6.1927. Der Abdruck der litauischen Flößereiordnung vom 27. Januar 1926 in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 71–74 (Règlement Lithuanien relatif au flottage du bois sur le Niémen, siehe vor allem § 4). Diese Flößereiordnung wurde von Litauen in Ausführung der Memelkonvention, Anhang III, erlassen. 77 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122, Abschrift, RVM an AA, 9.4.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, IHK Tilsit an PreußHM, 19.2.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 127, Frankenbach (OPV) an Lenkeit (IHK Insterburg), 29.7.1925. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 127, Abschrift, Deutsche Gesandtschaft für Litauen an AA. Nach der Sondierung der deutschen Gesandtschaft in
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)373
keine dringende Notwendigkeit mehr, die Memelflößerei freizugeben. Die Unterbindung der Transitflößerei trug sogar dazu bei, die polnische Holzindustrie, die neben der Kohleförderung den wichtigsten Exportzweig Polens darstellte,78 intensiv zu fördern. Unter diesen Umständen war für die Konkurrenten, vor allem für die ostpreußischen und litauischen Sägewerke, die Versorgung mit Rundhölzern äußerst beeinträchtigt. Der Anstieg der Gestehungskosten, der in erster Linie durch den Ersatztransport der Hölzer auf Eisenbahnen sowie durch den Rohstoffmangel verursacht wurde, machte es der ostpreußischen Holzindustrie unmöglich, einen im Vergleich mit den polnischen Schnitthölzern konkurrenzfähigen Produktpreis anbieten zu können. Die Holzwirtschaft Ostpreußens, die sich dadurch in einer außerordentlichen Notlage befand, erhoffte deswegen von der Königsberger Konferenz, daß die Transitflößerei durch den Interessenausgleich zwischen Polen und Litauen endlich geöffnet würde. Am 30. März 1928 trafen die beiden Delegationen aus Kowno und Warschau in der ostpreußischen Hauptstadt ein. Für die Verhandlungen wurde der Rote Saal des Oberpräsidiums in Königsberg zur Verfügung gestellt.79 Nachdem Vizepräsident Herbst als Vertreter der deutschen Regierung vor den zahlreichen Journalisten aus ganz Europa eine kurze Eröffnungsrede gehalten hatte, traten die litauischen und polnischen Delegationen ohne Beisein deutscher Vertreter in die Verhandlungen ein.80 Die litauische Delegation bestand unter Vorsitz des Ministerpräsidenten Voldemaras aus zwei Vertretern des Außenministeriums, dem Gesandten in Berlin Sidzikauskas sowie Dovas Zaunius, der wenig später Außenminister werden sollte. Aus Warschau beteiligten sich unter dem Vorsitz des Außenministers Zaleski der Gesandte in Berlin Olszowski sowie der Chef der Ostabteilung des Außenministeriums, Tadeusz Hołówko, der als Vertrauensmann Piłsudskis galt (the Marshal’s „homme de confiance“81). Kowno vertrat die Sowjetregierung den Standpunkt, daß die Unterbrechung der Transitflößerei von Polen ausginge. Hingegen bezeichnete Großbritannien Litauen als Verantwortlichen. 78 Die Ausfuhr Polens von 1928: Die Holz und Holzwaren betrugen 591.353 (in 1.000 Zloty), ca. 24 % von der gesamten Ausfuhr. Die Rohstoffe und Halbwaren des Hüttenwesens betrugen 590.323, siehe Friedrich Kürbs: Die osteuropäischen Staaten Polen, Litauen, Lettland, Estland als Staats- und Wirtschaftskörper, Stuttgart 1931, S. 78 ff. 79 Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz), S. 36. 80 „Die polnisch-litauische Konferenz. Eröffnungs-Sitzung“ in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Nr. 152, 31.3.1928. „Lithuania and Poland. Königsberg Conference opened“ in: The Times, 31.3.1928. 81 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 42, Mr. R. A. Leeper to Sir Austen Chamberlain, 20.12.1927, S. 48 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Bei der Eröffnung der ersten Sitzung stand das Verhandlungsprogramm infolge der Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Parteien überhaupt noch nicht fest. Im Gegensatz zu den Erwartungen des Völkerbundsrats sollten die Verhandlungen, wie Voldemaras kurz vor der Konferenz äußerte, wegen der Uneinigkeit über die Verhandlungsgegenstände lediglich einen vorbereitenden Charakter tragen.82 In der ersten Sitzung waren deshalb die beiden Delegationen zunächst mit der Ausarbeitung und Präzisierung des Verhandlungsprogramms beschäftigt. Die polnische Delegation übergab der litauischen Seite drei Exposés über die abzuschließenden Konventionen, vor allem über den kleinen Grenzverkehr an der Demarkationslinie (trafic local), den direkten Eisenbahnverkehr sowie den direkten Post- und Telegraphenverkehr. Die polnische Delegation unterließ es aber, der litauischen Seite auch ihr viertes Exposé über die Transitflößerei vorzulegen.83 Dabei stand Polen auf dem Standpunkt, daß die Freigabe der Flößerei gleichbedeutend mit der Frage sei, ob Litauen die Memelkonvention sowie das Barcelona-Transitstatut einhalte. Daher wies die polnische Delegation das litauische Argument, daß Polen an der Unterbrechung der Transitflößerei schuldig sei, in aller Deutlichkeit zurück. Während Litauen vorschlug, die Frage der Transitflößerei zum Verhandlungsgegenstand zu machen, weigerte sich Polen, die Flößerei gesondert zu behandeln. Die polnische Delegation bestand vielmehr auf der einheitliche Behandlung aller wirtschaftlichen und verkehrlichen Angelegenheiten. Dieser Haltung der polnischen Delegation war zu entnehmen, daß Warschaus Ziel offenbar auf die Öffnung der Eisenbahnstrecke zwischen Kowno und Wilna gerichtet war. Die litauische Delegation ging jedoch nicht auf die Verhandlungen über den direkten Eisenbahn- sowie Post- und Telegraphenverkehr an der Demarkationslinie ein. Ihr zufolge war die Absperrung der Wilnagrenze als Protestmaßnahme gegen die militärische Okkupation durch Polen verhängt worden. In diesem Sinne hing die Frage des Eisenbahnverkehrs zwischen Kowno und Wilna wesentlich mit der Souveränitätsfrage des Wilnagebiets zusammen, deren Ausnahmebehandlung gerade die Resolution des Völkerbundsrats angeordnet hatte.84 Die litauische Delegation legte ihrerseits zwei Exposés vor, deren weitgehende Forderungen bei der polnischen Delegation den Eindruck erweckten, daß die Gegenseite bestrebt sei, bei diesem Anlaß die gesamte Wilnafrage aufzurollen. Zum einen verlangte Litauen von der polnischen Regierung die Entschädigungserklärung und den 82 „Die polnisch-litauische Konferenz“, in: Neue Zürcher Zeitung, 149. Jg., Nr. 592, 30.3.1928. 83 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 16, Note du Président de la Délegation polonaise au Président de la Délegation lithuanienne, 31.3.1928, S. 38 f. 84 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 15, Procés verbal de la Séance privée, tenue le 30 mars 1928, S. 32 ff.
III. Die Memel- und Wilnafrage (1926–28)375
Schadensersatz von 10 Millionen US-Dollar für die Gewaltaktion Żeligowskis und die Okkupation des Wilnagebiets.85 Zum anderen schlug Litauen vor, die Schaffung einer entmilitarisierten Zone zum Zwecke der Absicherung des litauischen Staates gegen eine etwaige kriegerische Aktion Polens zu vereinbaren.86 Auf die erste Forderung Litauens erwiderte der polnische Delegationsvorsitzende Zaleski mit einer Gegenrechnung, daß die litauische Regierung während des sowjetisch-polnischen Kriegs von 1920 die Neutralität nicht eingehalten, im Gegenteil die Rote Armee aktiv unterstützt und ohne Kriegserklärung militärisch gegen Polen vorgegangen sei. In dieser Hinsicht sei die polnische Regierung als berechtigt anzusehen, Litauen zur Entschädigung für den dadurch entstandenen Schaden aufzufordern.87 Hinsichtlich der zweiten Forderung Litauens machte der polnische Außenminister den Gegenvorschlag, mit Litauen ein Nichtangriffsabkommen abzuschließen, unter Hinweis darauf, daß Polen im Gegensatz zur Erklärung Litauens niemals ein Gegner der litauischen Unabhängigkeit gewesen sei.88 Die Wünsche der litauischen Delegation, die in ihren zwei Exposés zum Ausdruck kamen, gingen offensichtlich über die Empfehlungen des Völkerbundsrats hinaus. Unter diesen Umständen sah sich Zaleski am dritten Tage der Konferenz dazu gezwungen, auf Voldemaras Druck auszuüben. Er erklärte, daß die polnische Regierung bereit sei, im Falle einer weiteren litauischen Weigerung, die Verhandlungen über Wirtschafts- und Verkehrsfragen aufzunehmen, sich mit Voldemaras zusammen an den Völkerbund zu wenden und die Vermittlung des Referenten für die Wilnafrage, des niederländischen Außenministers, anzurufen.89 Hierdurch wurde die erste Königsberger Konferenz vom Scheitern bedroht. Die Schwierigkeiten der Konferenz kamen auch darin zum Vorschein, daß abgesehen von der Eröffnungsund Schlußsitzung überhaupt keine unmittelbaren Verhandlungen zwischen den beiden Delegationen stattfanden. Der Meinungsaustausch wurde statt 85 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 17, Note du Président de la Délegation lithuanienne au Président de la Délegation polonaise, 31.3.1928, S. 39 ff. 86 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 24, Note du Président de la Délegation lithuanienne au Président de la Délegation polonaise, 1.4.1928. Mémoire concernant la sécurité de l’État lithuanien, S. 46 ff. 87 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 18, Note du Président de la Délegation polonaise au Président de la Délegation lithuanienne, 31.3.1928, S. 41. 88 „Polnischer Sicherheitsvorschlag an Litauen“ in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Nr. 160–161, 3.4.1928. Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 25, Note du Président de la Délegation polonaise au Président de la Délegation lithuanienne, 1.4.1928, S. 48 f. 89 „Polen-Litauen: Konferenzkrise“ in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Nr. 153–159, 2.4.1928.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
dessen lediglich auf schriftlichem Wege durch Notenwechsel sowie den Austausch der Exposés durchgeführt.90 Während Voldemaras in der Schlußsitzung erklärte, daß der Suwalki-Vertrag vom 7. Oktober 1920 weiterhin die Diskussionsgrundlage zwischen Polen und Litauen bilde, lehnte Zaleski diese Interpretation ab und vertrat wie bisher den Standpunkt, daß der Suwalki-Vertrag den Waffenstillstand sowie die Demarkationslinie zwischen der polnischen und der litauischen Armee geregelt habe, ohne Souveränitätsansprüche beider Seiten zu präjudizieren. Die Festsetzung der Ostgrenze Polens sei deshalb endgültig durch die Entschließung der Botschafterkonferenz vom März 1923 sowie die Zustimmung des Völkerbundsrats vom April 1923 erfolgt.91 Obwohl der Völkerbundsrat die Nichtbehandlung der Wilnafrage bei diesen direkten Wirtschaftsverhandlungen angeordnet hatte, gelang es der litauischen Delegation dennoch, mit ihrer offenen Kritik an Żeligowskis Handstreich die Verhandlungsaufnahme über die Öffnung des Eisenbahnverkehrs, die ausschließlich im Interesse Warschaus stand, zurückzuweisen. Auf der ersten Königsberger Konferenz wurde somit zwischen beiden Parteien keine Einigung über die abzuschließenden wirtschaftlichen Konventionen erreicht. Man konnte sich lediglich darauf verständigen, drei polnisch-litauische Kommissionen einzuberufen, die mit der weiteren Verhandlung und Ausarbeitung der abzuschließenden Konventionen beauftragt werden sollten. Die erste Kommission sollte sich in Kowno den Wirtschafts- und Verkehrsfragen widmen. In Warschau sollte sich die zweite Kommission mit der Entschädigungs- und Sicherheitsfrage beschäftigen. Hinsichtlich der Regelung des Lokalverkehrs an der Demarkationslinie (der sog. kleine Grenzverkehr / trafic local) sollten sich die beiden Parteien in Berlin am 20. April 1928 zusammentreffen und möglicherweise einen Konventionsentwurf festlegen.92 Die erste Königsberger Konferenz stellte zwar einen ersten Schritt zur Beilegung des polnisch-litauischen Konflikts dar, insofern die beiden Parteien endlich gemeinsam am Verhandlungstisch saßen. Das Ergebnis bewies jedoch, wie schwierig die Öffnung des direkten Verkehrs zwischen Polen und Litauen zu erreichen war, sowohl auf der Memel als auch auf den Eisenbahnen. 90 „Das Wilna-Gespenst hinter den Königsberger Verhandlungen“ in: Berliner Börsen-Zeitung, 73. Jg., Nr. 157, 1.4.1928. 91 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 28, Projet du procès verbal de la deuxième Séance de la Conférence polono-lithuanienne de Koenigsberg, 2.4.1928, S. 51 ff. (hier S. 58). 92 „Abschluß der Königsberger Konferenz“ in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Nr. 160 / 161, 3.4.1928. Vgl. auch PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Aufzeichnung, v. Schubert, 3.4.1928. PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Aufzeichnung über den polnisch-litauischen Wilnastreit, 15.8.1829.
Kapitel IV
Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28) 1. Zum Beginn der neuen Wirtschaftsverhandlungen Nachdem die deutsche Handelspolitik durch die Außerkraftsetzung der handelspolitischen Vorschriften des Versailler Vertrags am 10. Januar 1925 wieder einen weitgehenden Handlungsspielraum gewonnen hatte,1 wurden die Zolltarife durch das Reich erhöht, insbesondere für Agrarprodukte.2 Nach Maßgabe des 1923 unterzeichneten ersten Handelsvertrags mit Litauen sollte für die Wirtschaftsbeziehungen beider Staaten allgemein die Meistbegünstigung gelten. Unter der veränderten Konstellation der Weltwirtschaft nach dem 10. Januar 1925 bemühte sich Litauen darum, Zugeständnisse für den Export litauischer Agrarprodukte nach dem Reich zu erhalten.3 Parallel dazu verstärkte sich die protektionistische Tendenz der litauischen Außenhandelspolitik seit 1925 erheblich. Der territoriale Streit um Memel und Wilna belastete zudem die litauische Außenpolitik. Der langjährige Kampf gegen die Völkerbundsmächte hatte die faktische Isolierung der Kownoer Regierung zur Folge. Unter diesen Umständen versuchte Kowno, sich verstärkt Berlin anzunähern. Im Januar 1926 beantragte Litauen beim Auswärtigen Amt eine baldige Aufnahme neuer Wirtschafts- und Zolltarifverhandlungen.4 Dieser Wunsch führte in Berlin zu Verwunderung, denn Litauen hatte bis dahin den 1923 unterzeichneten ersten deutsch-litauischen Handelsvertrag noch nicht ratifiziert. Im Gegensatz dazu hatte der Reichstag bereits am 12. Juli 1924 1 Adolf Weber: Handels- und Verkehrspolitik (Binnenhandel – Verkehr – Außen handel), München und Leipzig 1933, S. 416 f. Hartmann Freiherr von Richthofen: Die Lahmlegung des deutschen Außenhandels, in: Zehn Jahre Versailles, Bd. 1, hg. v. Heinrich Schnee und Hans Draeger, Berlin 1929, S. 225–242. Matthias Schulz: Deutschland, der Völkerbund und die Frage der europäischen Wirtschaftsordnung 1925–1933, Hamburg 1997. 2 Sering (1934), S. 131 f. 3 Paul Alexander Friedhelm Loose: Deutschlands Handelsvertragspolitik der Nachkriegszeit, Diss. Marburg 1939, S. 21. 4 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, PreußHM, Vermerk über die Besprechung im AA, 28.1.1926.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
diesem Vertrag seine Zustimmung gegeben, so daß der Vertragstext bereits im Reichsgesetzblatt veröffentlicht worden war.5 Der Handelsvertrag konnte dennoch wegen der litauischen Absage nicht in Kraft treten. Litauen zögerte außerdem, das Zusatzabkommen zu Artikel 20 des ersten Handelsvertrags (das sog. kleine Grenzverkehrsabkommen), das im Juli 1925 unterzeichnet worden war, in Kraft zu setzen.6 Mit Rücksicht auf diese Tatsache machte das Reich die Aufnahme neuer Wirtschaftsverhandlungen von der Ratifizierung der beiden Verträge durch Litauen abhängig.7 Anfang März 1926 teilte das Auswärtige Amt dem litauischen Gesandten Sidzikauskas ultimativ mit, daß das Reich bereit sei, der litauischen Regierung mit Repressalien zu drohen, falls Litauen weiterhin die Ratifikation verweigere.8 Zwei Monate danach händigte Sidzikauskas dem Auswärtigen Amt die litauische Ratifikationsurkunde aus. Am 5. Mai 1926 trat somit der erste deutsch-litauische Handelsvertrag, drei Jahre nach seiner Unterzeichnung, in Kraft.9 Das Reich betrachtete die Aufnahme neuer Wirtschaftsverhandlungen mit Litauen, deren Ziel auf den Abschluß des zweiten deutsch-litauischen Handelsvertrags gerichtet war, vor allem wegen der geringfügigen Bedeutung des Wirtschaftsverkehrs mit Litauen primär als politisches Mittel. Mit Blick auf den internationalen Handelsverkehr hatte das Reich in erster Linie Interesse daran, seinen Industrieexport zu steigern. Im Reich behauptete außerdem die Agrarlobby ihre starke Stellung, so daß das Reich nicht in der Lage war, seine Agrarpolitik für den kleinen Oststaat preiszugeben. Hingegen versuchte Litauen es zu vermeiden, sich der deutschen Wirtschaft bedingungslos zu unterwerfen. Mit Rücksicht auf das Wirtschafts leben der Grenzbewohner an der ostpreußisch-memelländischen Grenze bemühte sich das Reich, die Bestimmungen des kleinen Grenzverkehrsabkommens baldmöglichst zur Ausführung zu bringen. Hingegen versuchte Litauen, die Inkraftsetzung des Abkommens ausschließlich von der Revision des ersten Handelsvertrags bzw. von der Zolltariferevision abhängig zu machen, denn Litauen hielt weitere handelspolitische und finanzielle Zugeständnisse Deutschlands für unerläßlich. Litauen versuchte, das kleine Grenzverkehrsabkommen erst nach Unterzeichnung des zweiten Handelsvertrags zur Rati5 RGBl. 1924,
II, S. 205. Absatz 8 des Schlußprotokolls des kleinen Grenzverkehrsabkommens sollten die Bestimmungen für die memelländische Grenze (Art. 11 § 1 bis 13) ab dem Tag der Unterzeichnung, also dem 16. Juli 1925, zur Ausführung gebracht werden. RGBl. 1928, II, S. 377. 7 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, PreußHM, Vermerk über die Besprechung im AA, 28.1.1926. 8 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 194, Bl. 8, OPV an PreußMdI, 5.3.1926. 9 RGBl. 1926, II, S. 253. 6 Nach
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)379
fikation zu bringen. Durch dieses Junktim wurden die neuen Wirtschaftsverhandlungen sehr belastet. Was die Wirtschaftspolitik betraf, so verstärkte sich seit 1925 die protektionistische Tendenz der litauischen Handelspolitik. Ende Juli 1925 wurde ein neues Zolltarifgesetz Litauens verabschiedet, welches eine starke Erhöhung der bisherigen Einfuhrzolltarife anordnete, so daß die zu entrichtenden Zölle nicht selten die Preise der Einfuhrwaren überstiegen. Die litauische Regierung wollte damit die Handelsbilanz und das Staatsdefizit ausgleichen. In der Tat beliefen sich die Ein- und Ausfuhrzolleinnahmen auf 18 % des Staatshaushalts (Stand 1923). Eine Mißernte und die steigende Nachfrage nach ausländischen Industrieprodukten führten 1924 zu einem großen Defizit der Handelsbilanz. Zugleich litten die litauischen Importeure unter einem schweren Kreditmangel. Zum sofortigen Ausgleich der Handelsbilanz beschloß man in Kowno nicht nur die Zolltariferhöhung, sondern auch eine Kreditmaßnahme für die Landwirte, um so den Export der Agrarprodukte zu steigern. Dagegen wurde die Kreditbeschaffung für die Importeure, die überwiegend deutsche und englische Industrieprodukte einführten, sehr erschwert.10 Die seit 1925 eingeleiteten handelspolitischen Maßnahmen Litauens bereiteten deshalb der Wirtschaft Ostpreußens erneut Schwierigkeiten. Zum einen wurde der Absatz der ostpreußischen Fabrikwaren in Litauen durch die Einschränkung der Importkredite schwer getroffen. Zum anderen standen die Interessen der ostpreußischen Landwirtschaft denen der litauischen Agrarexporteure entgegen. Während Litauen die Absenkung der deutschen Agrarzölle forderte, wehrte sich die ostpreußische Landwirtschaft entschieden gegen diesen Antrag. In den neuen Wirtschaftsverhandlungen sah sich die deutsche Seite deshalb vor eine schwierige Aufgabe gestellt. Die Fabrikanten verlangten die Beseitigung der Einfuhrhindernisse in Litauen, die ostpreußische Holzindustrie beantragte hingegen die Aufhebung der litauischen Holzausfuhrzölle.11 Gleichzeitig wies die ostpreußische Landwirtschaft die von Litauen gewünschte Herabsetzung der deutschen Agrarzölle strikt ab.12 Bei einer Wirtschaftsbesprechung Ende Februar 1927 in Königsberg schwerten sich die ostpreußischen Handelskammern, daß Litauen nicht ständig die Zollsätze in unerträglicher Weise erhöhe, sondern auch Aufnahme der geplanten Handelsvertragsverhandlungen zu vermeiden 10 Kiebeler
benur die su-
(1934), S. 181 f. PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Adh. 2, Abschrift, Verband der Industrie- und Handelskammer Ostpreußen, 8.3.1927. 12 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Adh. 2, Landwirtschaftskammer der Provinz Ostpreußen an OPO, 16.3.1927. 11 GStA
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
che. Die Kammern forderten energisch Repressalien gegen Litauen. Dagegen äußerten jedoch die Vertreter des Reichswirtschaftsministeriums und des Preußischen Handelsministeriums Bedenken. Die Kammern schlugen nun vor, den deutsch-litauischen Wirtschaftsverkehr durch die Kreditgewährung, insbesondere nach dem Muster des Handels mit der Sowjetunion, zu festigen.13 Im Vordergrund der deutsch-litauischen Annährung stand die deutsche Ostpolitik des Auswärtigen Amts, deren Ziel sich konsequent gegen die Erweiterung Polens richtete. Ende März besuchte Oberpräsident Siehr die Ostabteilung des Auswärtigen Amts in Berlin. Bei einer Unterredung mit Generalkonsul v. Dirksen und Staatssekretär v. Schubert vertrat Siehr ausdrücklich den Standpunkt, daß das Reich die litauische Wirtschaft unterstützen müsse, um Kownos Annährung an Warschau zu verhindern, was man in Ostpreußen als eine Lebensfrage betrachtete.14 Der Gedanke, Litauen finanziell zu unterstützen, setzte sich im Auswärtigen Amt durch. Bei einer Unterredung in Berlin Ende März 1927 zog Ministerialrat Wallroth (AA) die Konsequenz, daß das Reich die wirtschaftliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit Litauens stärken müsse, um der Gefahr einer polnisch-litauischen Verständigung vorzubeugen. Daher stimmte Wallroth den Wirtschaftsvertretern ausdrücklich zu, den Export der deutschen Industriewaren nach Litauen durch Gewährung von Krediten zu befördern. Hierzu betonte der Ostpreußische Vertreter, Frankenbach, daß man in Ostpreußen eine etwaige Einkreisung durch das polnisch-litauische Bündnis für äußerst gefährlich halte. Die leitenden Stellen Ostpreußens seien deshalb bereit, unter vorläufiger Zurückziehung ihrer Beschwerde wegen der Litauisierungspolitik im Memelgebiet mit Litauen zuerst wirtschaftlich zu einer Übereinkunft zu kommen. Dadurch würde vermieden, daß Voldemaras in Warschau um Unterstützung ersuche.15 Anfang 1927 verschärfte sich die Kriegsgefahr zwischen Polen und Litauen erneut, vor allem unter den beiden autoritären Regimen Piłsudskis und Voldemaras’. Unter diesen Umständen hielt Berlin es für notwendig, Kowno wirtschaftliche und politische Rückendeckung zu geben, um so die Existenzfähigkeit Litauens gegenüber Polen zu stärken. Was jedoch die Auseinandersetzung im Memelgebiet betraf, sah sich die Reichsregierung vor die Aufgabe gestellt, bei der Kownoer Regierung die Einhaltung des Autonomiestatuts anzumahnen, vor allem mit Rücksicht auf die Unterdrückung der Deutschen im Memelgebiet. Anfang 1927 machte daher Außenminister Stresemann bei 13 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, Vermerk über die Besprechung vom 21.2.1927, PreußHM, 24.2.1927. 14 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 140, Heft 2, OPO an PreußMdI, 22.2.1927. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 140, Heft 2, OPV, 30.3.1927. 15 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 194, Frankenbach, 30.3.1927.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)381
Kowno ein Kreditangebot, das mit der Verhandlungsaufnahme über die Memelfrage gekoppelt war. Kowno wies jedoch Berlins Angebot nachdrücklich zurück.16 Nicht zuletzt lehnte das litauische Parlament die Ratifikation des im Juli 1925 unterzeichneten Zusatzvertrags zu Artikel 20 des ersten Handelsvertrags (das kleine Grenzverkehrsabkommen) ab.17 Angesichts des unfreundlichen Vorgehens entschloß sich die Reichsregierung im April 1927, die memelländischen Angelegenheiten vor den Völkerbund zu bringen. Das politische Leben der deutschen Bevölkerung in Memel wurde zunehmend eingeschränkt, vor allem nachdem Voldemaras Ende 1926 die Regierungsleitung übernommen hatte. Die Memelfrage behinderte die Aufnahme der Handelsvertragsverhandlungen, denn die Zuspitzung des Memelautonomiestreits belastete die deutsch-litauischen Beziehungen erheblich. Nachdem der Streit durch Voldemaras’ Erklärung zur Einhaltung des Autonomiestatuts beim Völkerbund Ende Juni 1927 zunächst beigelegt worden war, eröffnete sich beiden Staaten die Möglichkeit, die Wirtschafts-, Schiedsgerichts- sowie Grenzvertragsverhandlungen aufzunehmen. Bei seiner Rückreise aus Genf besuchte Voldemaras das Berliner Auswärtige Amt und vereinbarte mit ihm den Termin zur Verhandlungseröffnung.18 Am 19. Juli 1927 traten die beiden Delegationen in Berlin in Verhandlungen ein. Kowno forderte im Rahmen der neuen Wirtschaftsverhandlungen die Erweiterung der Exportmöglichkeiten nach Deutschland, insbesondere die Herabsetzung der Agrarzölle. Dagegen war das Reich überhaupt nicht in der Lage, während der seit 1927 verschärften Weltagrarkrise die Agrarzölle zu senken, vor allem mit Rücksicht auf die anderen meistbegünstigten Staaten, da dies einen katastrophalen Preissturz auf dem deutschen Agrarmarkt hätte zur Folge haben können. In Berlin war man fest entschlossen, Kowno gegenüber in der Frage der Zolltarife keine Zugeständnisse zu machen. Litauen verlangte hingegen nicht nur aus rein wirtschaftlichen, sondern auch aus politischen Gründen ein besonderes deutsch-litauisches Kontingentsystem, insbesondere für die Viehausfuhr.19 Die litauische Delegation wurde durch 16 ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 211, Ministerialdirektor Köpke an die Gesandtschaft in Kowno, 4.3.1927, S. 455 f. ADAP, Ser. B, Bd. IV, Dok. 223, Gesandter in Kowno Moraht an AA, 7.3.1927, S. 493 f. 17 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 122, Heft 2, AA, 5.4.1927. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, RWiM an AA, 16.4.1927. 18 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, AA, 1.7.1927. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 122, Heft 2, OPV an OPO, 18.6.1926. Als Mitglied der deutschen Delegation beteiligte sich der Ostpreußische Vertreter, Oberregierungsrat Frankenbach an den deutsch-litauischen Verhandlungen. GStA PK, I. HA, Rep. 120, 6b 56, Bd. 5, AA, Aktennotiz über die Ergebnisse der Besprechung vom 24.3.1927. 19 PA AA, R 29238 (Büro StS: Deutsch-litauische Beziehungen, Bd. 6), AA (Wallroth) an Dirksen, 2.9.1927.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
die entschlossene Haltung Deutschlands nicht wenig enttäuscht und mußte kurz nach der Verhandlungseröffnung erfolglos nach Kowno zurückkehren.20 Das Reich war dennoch bereit, dem litauischen Wunsch entgegenzukommen, um so die Existenzfähigkeit Litauens gegen Polen zu stärken. Die hierbei von Berlin gemachte Konzession war allerdings auf die Erweiterung der litauischen Viehausfuhr nach Deutschland, vor allem von Schweinen, beschränkt. Diese sollte durch die partielle Aufhebung veterinärpolizeilicher Kontrollverfahren der preußischen Landesverwaltung bzw. im Rahmen des kleinen Grenzverkehrsabkommens erfolgen, damit diese Maßnahme keine Auswirkung auf die Meistbegünstigten haben konnte.21 Das Reich forderte Gegenleistungen Litauens für diese deutschen Zugeständnisse sowohl in den Verkehrsangelegenheiten als auch in der Memelautonomiefrage. Das Auswärtige Amt versuchte, Litauen wirtschaftlich zu unterstützen und ihm als Gegenleistung einen politischen Kompromiß für die Memelfrage, insbesondere die Aufhebung der Litausierungspolitik im Memelgebiet, abzuverlangen. Die Versuche Berlins stimmten mit der Ansicht der führenden konservativen Politiker Ostpreußens, vor allem Batocki, Gayl, Eulenburg, überein.22 Die Besprechung über das Tauschangebot Berlins wurde zwischen dem Auswärtigen Amt und Litauen zunächst bis kurz vor der Genfer Ratssitzung des Völkerbunds im Dezember 1927 fortgesetzt.23 Auf der Tagesordnung der Ratssitzung stand die Behandlung des polnisch-litauischen Wilnastreits. Daher zog das Reich seine Klage gegen die Litauisierungs politik im Memel umgehend zurück, um die Stellung Litauens gegenüber Polen bei den bevorstehenden Verhandlungen im Völkerbund nicht zu präjudizieren. Erst nach Abschluß der Genfer Tagung nahm Berlin die Verhandlungen mit Litauen in dieser Richtung wieder auf. Im Rahmen der neuen Handelsvertragsverhandlungen hielt Berlin es für notwendig, nicht nur die Zolltariffrage, sondern auch die gesamten Bestimmungen des ersten Handelsvertrags mitsamt der zwei Abkommen zu revidieren, nämlich das Binnenschiffahrtsabkommen und das kleine Grenzverkehrsabkommen, die in der Ausführung des ersten Handelsvertrags zustande gekommen waren.24 Nicht zuletzt sollte ein Abkommen zur Regelung der Grenzverhältnisse abgeschlossen werden. Das Grenzabkommen sollte ein 20 PA AA, R 29238 (Büro StS: Deutsch-litauische Beziehungen, Bd. 6), Telegramm, Moraht (Kowno) an AA, 30.8.1927. 21 PA AA, R 29238 (Büro StS: Deutsch-litauische Beziehungen, Bd. 6), Wallroth (AA) an Dirksen, 3.9.1927. 22 Ebd. 23 PA AA, R 29238 (Büro StS: Deutsch-litauische Beziehungen, Bd. 6), Bl. 110, Aufzeichnung über die Besprechung mit dem litauischen Ministerpräsidenten Woldemaras, 3.10.1927. 24 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, RVM an OPO, 12.8.1926.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)383
unkündbarer Staatsvertrag sein und allen deutsch-litauischen Verträgen zugrunde liegen. Trotz seines technischen Charakters wurde jedoch dem Grenzabkommen in mehrfacher Hinsicht eine politische Bedeutung zugemessen. 2. Das deutsch-litauische Grenzabkommen vom Januar 1928 a) Die Frage des Friedensvertrags von Versailles In der zweiten Hälfte der 20er Jahre, vor allem nach der Ratifizierung der Memelkonvention, äußerte Litauen wiederholt den Wunsch, daß das Reich Garantien für die litauische Grenze übernehmen solle. Den litauischen Standpunkt in der Frage der Souveränität über das Memel- und Wilnagebiet sollte das Reich ausdrücklich unterstützen. Litauen führte einen endlosen Kampf gegen die Völkerbundsmächte in der Frage von Memel und Wilna, was die außenpolitische Isolierung Litauens zur Folge hatte. Daher suchte die Kownoer Regierung die politische und wirtschaftliche Rückendeckung durch Berlin. Die deutsch-litauischen Unterkommissionsverhandlungen zur Regulierung der Grenzverhältnisse begannen im Oktober 1924, kurz nach Inkrafttreten der Memelkonvention. Dabei handelte es sich ausschließlich um die technischen Angelegenheiten der Grenzregulierung, für deren Ausarbeitung deutscherseits das Reichsinnenministerium zuständig war.25 Die Grenzverhältnisse zwischen dem Reich und Litauen wurden prinzipiell im Versailler Vertrag sowie in der Memelkonvention geregelt. Während im Friedensvertrag vom Deutschen Reich die Abtretung des Memelgebiets gefordert worden war, wurde die Übertragung der Souveränität des Memelgebiets an Litauen im Rahmen der Memelkonvention festgelegt. Mit Rücksicht darauf vertrat die Reichsregierung den Standpunkt, daß das Reich und Litauen die Grenze nicht selbständig festlegen sollten. Daher bestand das Reich darauf, daß ein deutsch-litauischer Grenzvertrag lediglich auf die durch den Friedensvertrag aufgezwungene Grenzziehung verweisen solle.26 Selbstverständlich war das Reich nicht bereit, seine Ansprüche auf die Rückgabe des Memelgebiets dadurch zu präjudizieren, daß die Reichsregierung die memelländische Grenze anerkannte.27 Im Herbst 1924 übergab das Reichsin25 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 1, RMdI, Niederschrift vom 28.10. 1924. 26 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, PreußHM, Vermerk, 26.10. 1927. 27 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 2, RMdI, Niederschrift über die Ressortbesprechung im AA vom 7.12.1926.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
nenministerium der litauischen Seite den vorläufigen Entwurf des deutschlitauischen Grenzabkommens, der auf den Bestimmungen von Artikel 28 des Versailler Vertrags beruhte.28 Die Frage des Friedensvertrags brachte besondere Schwierigkeiten mit sich. Bei einer Besprechung im Auswärtigen Amt Anfang Dezember 1926 erhob der litauische Gesandte, Sidzikauskas, Einwände gegen die Bezugnahme auf den Friedensvertrag von Versailles. Die litauische Regierung, die nicht zu den Signaturmächten zählte, habe niemals den Vertrag von Versailles anerkannt und werde ihn nie anerkennen. Daher forderte er, die Bezugnahme auf den Friedensvertrag im deutsch-litauischen Grenzvertrag nicht zu erwähnen.29 Aus denselben Gründen hatte die litauische Regierung stets versucht, die Bezugnahme auf den Versailler Frieden in den Verträgen mit den fremden Mächten, insbesondere in den Verträgen mit Deutschland, zu vermeiden. Bei den Verhandlungen über das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen im Jahr 1923 war es Litauen gelungen, trotz der Übernahme mehrerer Bestimmungen aus dem Lambsdorffs-Abkommen, das zur vorläufigen Regelung der Schiffahrt auf der Memel zwischen dem Reichskommissar und dem französischen General Odry im Jahr 1921 unterzeichnet worden war, die Bezugnahme auf den Friedensvertrag zu unterlassen.30 In Anhang III („Transit“) der Memelkonvention hatte Litauen, trotz seiner Anerkennung der Transitfreiheit, gegenüber den alliierten Hauptmächten ebenfalls seinen Wunsch durchgesetzt.31 Die Frage der memelländischen Grenze spielte auch bei den Verhandlungen Litauens mit der Sowjetregierung eine wichtige Rolle. Zum Abschluß des sowjetisch-litauischen Freundschafts- und Neutralitätsvertrags vom 28. September 1926 äußerte Kowno gegenüber Moskau den Wunsch, daß die Sowjetregierung die litauische Staatsgrenze mitsamt dem Wilna- und Memelgebiet garantieren solle.32 Während die Sowjetregierung, ebenso wie im sowjetisch-litauischen Friedensvertrag von 1920, in dem neuen Vertrag das Wilnagebiet als litauisch erklärte, lehnte Moskau es mit Rücksicht auf den Widerstand Berlins ab, für die memelländische Grenze, die ausschließlich eine Angelegenheit zwischen Deutschland und Litauen darstellte, zu 28 GStA
PK, I. HA, Rep. 120, CXVII, 2, 47b, RMdI, 8.12.1924. PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, PreußHM, Vermerk über die Besprechung im AA vom 7., 8. und 9.12.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 2, RMdI, Niederschrift über die Ressortbesprechung im AA vom 7.12.1926. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, Vermerk, PreußHM, 26.10.1927. 30 BA, R 5 / 1382, Reisebericht von Ebhardt (RVM) über die Verhandlungen in Tilsit, Königsberg sowie Kowno vom 8.9.1923 bis 28.9.1923. 31 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXVII, 2, 47b, RVM an AA, 1.4.1929. 32 ADAP, Ser. B, Bd. II / 1, Dok. 197, Stresemann, 10.5.1926, S. 459 f. 29 GStA
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)385
garantieren.33 In Anbetracht des litauischen Vorgehens bei Moskau bezog das Auswärtige Amt im Dezember 1926 dem litauischen Gesandten gegenüber ausdrücklich Stellung, daß das Reich auf seine Ansprüche auf Rückgabe des Memelgebiets keinesfalls verzichten werde. Daher bot das Auswärtige Amt der litauischen Seite an, den Versailler Vertrag durch den Wortlaut „das geltende internationale Vertragsrecht“ zu ersetzen.34 b) Das Berliner Protokoll zwischen Stresemann und Voldemaras im Januar 1928 Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen wurden zwar im Juli 1927 in Berlin aufgenommen, aber in der Folgezeit wiederholt unterbrochen. Da Litauen seine Genfer Versprechungen nicht einhielt, sah sich das Reich gezwungen, die Verhandlungen einzustellen. Nach wiederholten Ermahnungen zur Einhaltung der Memelautonomie beschloß das Auswärtige Amt, die Annahme der litauischen Wirtschaftswünsche, vor allem die Erleichterung der litauischen Vieh- und Fleischausfuhr davon abhängig zu machen, inwieweit Kowno auf die deutschen Forderungen in der Frage der Memelautonomie einging. In der Besprechung vom 3. Oktober 1927 im Auswärtigen Amt beschwerte sich Voldemaras über die gegenüber allen Oststaaten (mit Ausnahme des Memelgebiets) verhängte deutsche Vieheinfuhrsperre.35 Diese seit Oktober 1927 eingetretene Entwicklung im polnisch-litauischen Streit brachte neue Schwierigkeiten mit sich. Das Reich war gewillt, auf der Genfer Ratstagung vom Dezember 1927 die Integrität Litauens gegen die Ansprüche Polens zu wahren. Ein Anschluß Litauens an Polen, woran sowohl Warschau als auch London ein Interesse hatten, sollte unbedingt verhindert werden. Dem britischen Botschafter gegenüber äußerte Staatssekretär Schubert Ende November 1927, „daß alles geschehen müsse, um die Integrität Litauens zu garantieren.“36 Das Auswärtige Amt war bereit, mit allen Mitteln die Unantastbarkeit des litauischen Hoheitsgebiets zu wahren. Nachdem der polnisch-litauische Streit im Dezember 1927 in Genf durch die Erklärung Voldemaras’ über die Aufhebung des Kriegszustandes vorläufig 33 ADAP, Ser. B, Bd. II / 2, Dok. 74, v. Schubert, 5.8.1926, S. 164 f. ADAP, Ser. B, Bd. II / 2, Dok. 115, v. Schubert, 30.9.1926. Zum deutschen Kreditangebot und der litauischen Gegenleistung, siehe auch Anm. 2, S. 288. 34 GStA PK, I. HA, Rep. 120. CXIII, 6b 56, Bd. 5, PreußHM, Vermerk über die Besprechung im AA vom 7., 8. und 9.12.1926. 35 PA AA, R 29238 (Büro StS), Aufzeichnung über die Besprechung mit dem litauischen Ministerpräsidenten Woldemaras, 3.10.1927. 36 ADAP, Ser. B, Bd. VII, Dok. 156, v. Schubert, 29.11.1927, S. 377 ff. (hier S. 379).
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
beigelegt worden war, erfolgte am 29. Januar 1928 in Berlin die Unterzeichnung des deutsch-litauischen Vertragswerks (Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrag, Abkommen über die Unterhaltung der Grenzgewässer, Abkommen über die Fischerei, Abkommen über die Fürsorge für die Militärrentenempfänger im Memelgebiet, Abkommen über die Fürsorge für die Pensionäre im Memelgebiet).37 Hierzu wurden außerdem verschiedene Vereinbarungen zwischen Stresemann und Voldemaras getroffen, die sich in erster Linie auf die Schaffung einer engen Kooperation Deutschlands und Litauens in politischen und wirtschaftlichen Bereichen richteten.38 Dabei gelang es Stresemann, mit dem bedeutendsten politischen Entgegenkommen, also dem Grenzvertrag (Anerkennung Deutschlands für den litauischen Standpunkt in der Wilnafrage), und mit einem wirtschaftlichen Entgegenkommen (Erleichterung der Viehausfuhr nach dem Reich), politische und wirtschaftliche Gegenleistungen Litauens zu erlangen. Stresemann forderte Voldemaras dazu auf, auf folgende Kompensationen einzugehen: Erstens sollte Litauen auf die Litauisierungspolitik im Memelgebiet verzichten, die trotz Voldemaras’ Erklärung im Juli 1927 beim Völkerbundsrat nicht beendet worden war. Zweitens sollte Litauen folgende drei Wünsche Deutschlands zum Abschluß des zweiten deutsch-litauischen Handelsvertrags annehmen. 1. Die Gewährung der vollen Inländerparität im Bereich des Niederlassungsrechts; 2. Die Aufhebung der litauischen Ausfuhrbeschränkungen, vor allem die Aufhebung der Ausfuhrzölle und -abgaben auf Rundhölzer; 3. Der Verzicht Litauens auf die verkehrspolitische Bevorzugung des Memeler Hafens, die Gewährung der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg sowie die Mitwirkung Litauens zur Herstellung von Staffeltarifen von den Eisenbahnstationen der UdSSR bis zum Hafen Königsberg. Voldemaras ging auf diese Forderungen Stresemanns schließlich ein. Die hier erreichten Vereinbarungen wurden als ein geheimes Protokoll zwischen Stresemann und Voldemaras beim Abschluß der deutsch-litauischen Verträge am 29. Januar 1928 unterzeichnet.39 37 RGBl. 1929,
II, S. 205 f. Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 54, Inclosure in Doc. 53, M. Stresemann’s Letter to M. Woldemaras, S. 66 f. Chamberlain sah die Kopie der Note zwischen Stresemann und Voldemaras, die dem englischen Außenministerium durch die polnische Gesandtschaft in London übergeben worden war, als authentisch an. Darin erklärte Stresemann: „In the event of the attempts of Lithuania to obtain a peaceful settlement of any outstanding differences not leading to a successful issue, the German Federal Government are prepared to give their material and moral support to Lithuania for the protection of her legitimate interests before the competent resorts.“ 39 PA AA, R 29238 (Büro StS), Niederschrift über die politischen Besprechungen, die in den Tagen vom 25. bis 28. Januar 1928 in Berlin zwischen dem litauischen Ministerpräsidenten Woldemaras und dem deutschen Reichsaußenminister 38 BDFA,
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)387
c) Zwei Sonderregelungen zum Grenzabkommen Bei der Unterzeichnung des Grenzabkommens ging die Reichsregierung mit Litauen einen Kompromiß ein, vor allem in der Frage der memelländischen Grenze auf der einen Seite und in der Frage des polnisch-litauischen Wilnastreits auf der anderen. aa) Zur deutsch-memelländischen Grenze Zum Zweck zur Schlußverhandlung und Unterzeichnung der abschlußbereiten deutsch-litauischen Verträge besuchte der litauische Ministerpräsident, Voldemaras, Ende Januar 1928 in Berlin. Dabei legten die beiden Regierungen großen Wert darauf, das Grenzabkommen, dessen Verhandlung bereits im Herbst 1924 aufgenommen worden war, nunmehr zum Abschluß zu bringen. Bei der Vorbesprechung im Auswärtigen Amt am 23. Januar nahm der litauische Gesandte, Sidzikauskas, zum deutschen Entwurf des Grenzabkommens Stellung und lehnte konsequent die Bezugnahme auf den Versailler Vertrag ab. Dabei wies er auf den zwischen Litauen und Polen bestehenden territorialen Streit hin.40 Litauen hatte den Friedensvertrag von Versailles nicht unterzeichnet und ihn niemals anerkannt. Damit versuchte Kowno, seine Nichtanerkennung der von den Alliierten gezogenen Grenze zum Ausdruck zu bringen. Zur Beilegung des polnisch-litauischen Wilnakonflikts hatte die Pariser Botschafterkonferenz im März 1923 auf Grund ihrer aus Artikel 87 des Versailler Vertrags ausgehenden Zuständigkeiten den Beschluß gefaßt, das Wilnagebiet als polnisch anzuerkennen. Diese Entschließung war außerdem im April 1923 durch den Völkerbundsrat anerkannt worden.41 Sidzikauskas zufolge befürchte die litauische Regierung deshalb, daß die Völkerbundsmächte dies als Vorwand nehmen würden, falls sich das deutsch-litauische Grenzabkommen auf die Bestimmungen des Versailler Vertrags bezöge.42 An dieser Vorbesprechung waren nicht nur die Vertreter des Auswärtigen Amts, sondern auch der Ostpreußische Vertreter Frankenbach und Ministerialrat Wolff (Preußisches Innenministerium) beteiligt. Unter Zustimmung der beiden preußischen Vertreter wies Gesandtschaftsrat v. Schack (Auswärtiges Amt) den Wunsch Litauens ausdrücklich Dr. Stresemann stattgefunden haben. Anlage 1 (das geheime Protokoll), 29.1.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 118, Heft 2, Vertraulich, AA an OPV (Frankenbach), 29.2.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 118, Heft 2, Vermerk (Frankenbach), 9.1.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII. 6b 56, Bd. 5, PreußHM, Geheim, Vermerk über die Besprechung im AA vom 17.3.1928. 40 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 2, OPV, Aktenvermerk, 23.1.1928. 41 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. III (1923), Nr. 4, S. 95 f. 42 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 2, OPV, Aktenvermerk, 23.1.1928.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
zurück. Er machte Sidzikauskas darauf aufmerksam, daß die Reichsregierung den Anschein vermeiden müsse, als ob das Reich einen Teil seiner Grenze, die mit der durch den Friedensvertrag gezogenen Grenze identisch sei, selbständig festsetze.43 Die endgültige Entscheidung zu diesen Angelegenheiten wurde der bevorstehenden Abschlußverhandlung zwischen Stresemann und Voldemaras überlassen. Das deutsch-litauische Abkommen über die Regelung der Grenzverhältnisse wurde am 29. Januar 1928 durch Stresemann und Voldemaras unterzeichnet. Dabei ging das Auswärtige Amt, im Gegensatz zu seinem bisherigen Standpunkt, schließlich auf den Wunsch Litauens ein. Stresemann kam dem Wunsch Voldemaras entgegen, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß Litauen akzeptiere, daß das Reich auf seine Rückgabeansprüche auf das Memelgebiet niemals verzichten werde. Somit wurde die Bezugnahme auf den Friedensvertrag letztlich aus dem Vertragstext ausgeschlossen. Zugleich wurde eine Fassung vermieden, welche auf die selbständige Anerkennung des Reichs zur Abtretung des Memelgebiets hingedeutet hätte. Auf diese Weise einigten sich die beiden Regierungen darauf, in der Präambel, in Artikel 1 und 2 unter Fortlassung der Kapitelüberschrift („Festsetzung der Grenze“) jede Wendung zu vermeiden, die auf eine vertragliche Festsetzung der Grenze hindeuten sollte. In den Eingangsworten zu Artikel 1 („Die deutsch-litauische Grenze verläuft wie folgt […]“) wurde lediglich der gegenwärtig herrschende Zustand beschrieben. Es bestand Einverständnis beider Regierungen darüber, „daß die Eingangsformel nicht etwa als ein endgültiger Verzicht Deutschlands auf das Memelgebiet ausgelegt werden kann.“44 Gleich nach Abschluß des Vertrags erhob Preußen dagegen Einwände. Die beiden preußischen Vertreter, Frankenbach und Wolff, die an der Vorbesprechung zum Vertragsabschluß beteiligt gewesen waren, beschwerten sich am schärfsten über das selbständige Vorgehen des Auswärtigen Amts. Ihnen zufolge sei das Auswärtige Amt, insbesondere Außenminister Stresemann, bei der Vertragsunterzeichnung ausschließlich aus politischen Gründen auf die litauischen Wünsche eingegangen, auf die Bezugnahme auf den Versailler Vertrag zu verzichten. Frankenbach betrachtete diese Tatsache als schwerwiegende Verletzung der Kompetenzen und Interessen Preußens durch das Reich.45 Die Entscheidung des Auswärtigen Amts, den Vertrags43 Ebd.
44 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 194, Bl. 178, AA (Dirksen), Vertraulich!, 29.2.1928. 45 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 2, Geheim!, OPV (Frankenbach) an OPO, 11.2.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 2, OPV (Frankenbach) an PreußMdI (Wolff), 24.2.1928.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)389
entwurf abzuändern, war ohne Zustimmung der beteiligten Ministerien erfolgt, was bei Preußen heftige Gegenwehr hervorrief. Gegen das selbständige Vorgehen Berlins legte Oberpräsident Siehr Einspruch ein und hielt es für angemessen, daß das Reich den unterzeichneten Vertrag nicht ratifizieren und statt dessen eine neue Vertragsverhandlung mit Litauen aufnehmen solle.46 Das Auswärtige Amt versuchte jedoch seine politische Entscheidung dadurch zu rechtfertigen, daß der litauische Gesandte, Sidzikauskas, sich während der Vertragsverhandlungen aus freien Stücken stets bereit erklärt habe, den deutschen Standpunkt in der Frage der Rückgabeansprüche auf das Memelgebiet zu respektieren.47 bb) Zur Wilnagrenze Bei der anderen der beiden Sondervereinbarungen zum deutsch-litauischen Grenzabkommen ging es um die Stellungnahme Deutschlands zum polnischlitauischen Wilnastreit. Die Behandlung der deutsch-litauisch-polnischen Grenze in der Gegend von Goldap-Suwalki-Wolkowyschki war bereits bei der Aufnahme der Unterkommissionsverhandlungen im November 1924 auf Schwierigkeiten gestoßen. Dabei hatte der litauische Vertreter erklärt, daß Litauen diese Grenze lediglich als Demarkationslinie zwischen Litauen und Polen betrachte, so daß es sie als Landesgrenze gegen Polen nicht anerkennen könne. In dieser Frage ging die litauische Regierung davon aus, daß die Klärung der Angelegenheiten ausschließlich Litauen und Polen betreffe. Daher bat Litauen die Reichsregierung darum, die Behandlung dieser Grenzteile im deutsch-litauischen Vertrag bis zur endgültigen Festsetzung der polnisch-litauischen Landesgrenze, nämlich bis zur Klärung der umstrittenen Souveränitätsfrage des Suwalki-Wilna-Gebiets, offenzulassen.48 Dem litauischen Wunsche gemäß wurde die Vermarkung des Endpunkts der deutsch-litauischen Grenze im deutsch-litauischen Grenzabkommens vom 29. Januar 1928 tatsächlich offengelassen, da sie eine Festlegung der polnisch-litauischen Grenze vorausgesetzt hätte. Dazu wurde eine Sondererklärung Stresemanns und Voldemaras’ in das Schlußprotokoll zu Artikel 1 des Vertrags aufgenommen.49 Hiermit akzeptierte das Reich offenkundig die 46 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 2, OPO an OPV, 14.7.1928. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2875, Bl. 214, Geheim!, OPV an OPO, 31.7.1928. 47 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 194, Bl. 178, Vertraulich, AA, 29.2. 1928. 48 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 132, Heft 1, RMdI, 22.11.1924. 49 Schlußprotokoll zu Artikel 1 des deutsch-litauischen Vertrag über die Regelung der Grenzverhältnisse vom 29.1.1928: „Die Litauische Regierung erklärt, daß die Grenze zwischen Litauen und Polen noch nicht festgelegt ist und daß daher der Endpunkt der Vermarkung der deutsch-litauischen Grenze noch nicht angegeben
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Haltung Litauens, daß die Grenze zwischen Polen und Litauen, vor allem die Souveränität über das Wilnagebiet, trotz der Beschlüsse der Botschafterkonferenz vom 15. März 1923 noch nicht festgelegt sei. Im Vergleich mit dem sowjetisch-litauischen Neutralitätspakt vom 28. September 1926, wo die Zugehörigkeit des Wilnagebiets zu Litauen durch die Sowjetregierung ausdrücklich anerkannt worden war, beschränkte sich zwar Stresemanns Erklärung im deutsch-litauischen Grenzvertrag, der keinen politischen, sondern einen technischen Vertrag darstellte, auf eine Bestätigung der litauischen Haltung zur Nichtfestlegung der litauisch-polnischen Grenze. Dennoch änderte dies nichts an der Tatsache, daß das Reich in der Frage des Wilnastreits unter Zurückweisung des Beschlusses der Botschafterkonferenz für die von Rußland und Litauen vereinbarte Grenzregelung eintrat. Die polnische Regierung legte deshalb kurz nach der Veröffentlichung des deutsch-litauischen Grenzvertrags sowie der fraglichen Note Protest beim Auswärtigen Amt ein.50 Die Nachricht über den Abschluß der deutsch-litauischen Verträge, die das Verhältnis beider Staaten stärker als bisher regelten, erweckte in der Weltöffentlichkeit den Eindruck, daß sich Litauen sowohl wirtschaftlich als auch politisch an das Reich gebunden habe. Warschau und London vermuteten außerdem den Abschluß eines geheimen Bündnisvertrags. Im Auftrag Stresemanns besuchte Redlhammer Anfang Februar den polnischen Gesandten in Berlin und versuchte, Warschaus Argwohn zu zerstreuen. Trotz seiner wiederholten Beteuerung, daß neben diesen Verträgen kein Geheimvertrag abgeschlossen worden sei, zweifelte der polnische Gesandte jedoch an der Aufrichtigkeit der deutschen Erklärung.51 Die Wiederaufnahme der deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen erfolgte Mitte April 1928 in Berlin, wie es Voldemaras auf der Schlußsitzung der ersten polnisch-litauischen Konferenz von Königsberg zu Anfang des Monats angekündigt hatte.52 Die Vereinbarungen zwischen Stresemann und Voldemaras von Ende Januar 1928, die ohne weiteres zu realisieren waren, stießen allerdings wiederum auf Hindernisse. Während sich das Reich in der Frage des Mewerden kann. Die Deutsche Regierung nimmt von dieser Erklärung Kenntnis.“ RGBl. 1929, II, S. 205 ff. (hier S. 221). 50 PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Abschrift, Liedke an StS v. Schubert, 11.2.1930. Der polnische Gesandte übergab am 22.5.1929 eine Protestnote an das Auswärtige Amt, in der er den Standpunkt vertrat, daß die Entscheidung der deutschen Regierung gegen den Beschluß der Botschafterkonferenz sowie die Bestimmungen des Versailler Vertrags verstoße. 51 PA AA, NL Gustav Stresemann, Bd. 64, Redlhammer, 7.2.1928. 52 „Woldemaras über die Königsberger Konferenz“ in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Nr. 162–163, 4.4.1928. Vgl. auch PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), Aufzeichnung, v. Schubert, 3.4.1928.
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melautonomiestreits Litauen strikt entgegensetzte, zwang die Polenfrage Berlin paradoxerweise dazu, Litauen als Bollwerk gegen Polen sowohl außenpolitisch als auch wirtschaftlich zu stützen. Die Litauenpolitik Deutschlands in den 20er Jahren, vor allem die Verständigungspolitik Stresemanns, wurde durch dieses Dilemma schwer belastet. 3. Das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen a) Die Aufhebung des Abkommens von 1923 Im Jahr 1926 schlug die Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums für die neuen Handelsvertragsverhandlungen mit Litauen vor, die Meistbegünstigungsklausel für die Flußschiffahrt (Artikel 30 des ersten Handelsvertrags) durch die im deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommen gewährte Gleichberechtigungsklausel zu ersetzen.53 Dieser Abänderungswunsch des Reichsverkehrsministeriums war vor allem darauf gegründet, daß das Kauener Binnenschiffahrtsabkommen vom 28. September 1923 auf Wunsch Litauens als ein geheimes Verwaltungsabkommen unterzeichnet worden war. Denn zum Abschluß des Handelsvertrags vom Juni 1923 hatte Litauen beantragt, die Gleichberechtigungsklausel für die Flußschiffahrt geheimzuhalten, um so etwaige Einflüsse auf Polen und die UdSSR, vor allem im Fall des Abschlusses der auf Meistbegünstigung beruhenden Handelsverträge mit diesen Staaten, zu vermeiden. Diesem Wunsch Litauens war von Deutschland Rechnung getragen worden, so daß in den ersten deutsch-litauischen Handelsvertrag keine Gleichberechtigungsklausel aufgenommen und statt dessen ein geheimes Verwaltungsabkommen mitsamt der Gleichberechtigungsklausel abgeschlossen worden war. Zum Zeitpunkt des Zustandekommens des ersten Handelsvertrags und des Binnenschiffahrtsabkommens zwischen Deutschland und Litauen waren die Verhandlungen zwischen den alliierten Hauptmächten und Litauen über die Memelkonvention noch nicht abgeschlossen. Die Rechte der Uferstaaten hinsichtlich des Verkehrs auf der Memel waren deshalb damals noch nicht geklärt. Nachdem die Memelkonvention am 8. Mai 1924 unterzeichnet und Ende September 1924 als inneres Staatsgesetz für das Memelgebiet und Litauen in Kraft gesetzt worden war, entfiel die Notwendigkeit weitgehend, die Gleichberechtigungsklausel zwischen Deutschland und Litauen weiterhin geheimzuhalten. Denn Anhang III der Memelkonvention „Transit“, vor allem dessen Artikel 3, bestimmte ausdrücklich die Freiheit des Transitverkehrs durch das Memelgebiet zur See, auf Binnengewässern und Eisenbahnen im Sinne des Barcelona-Transitstatuts von 1921. Diese Klausel bestimmte außerdem, daß 53 BA,
R 5 / 408, RVM, 30.1.1926.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Litauen die Bestimmungen des Barcelona-Transitstatuts nicht nur im Hinblick auf die Interessen der Uferstaaten bezüglich des Transits durch das Memelgebiet, sondern auch allgemein bezüglich des Transitverkehrs durch Litauen, soweit es sich um Transitverkehr auf der Memel handelte, einhalten solle. Dies deutete darauf hin, daß Litauen mit der Ratifikation der Memelkonvention nunmehr dazu verpflichtet war, für die Transitflößerei aus Polen und der UdSSR durch Litauen auf der Memel / Njemen die Bestimmungen des Statuts von Barcelona, also die Freiheit und Gleichheit des Transitverkehrs, zu gewährleisten und die internationale Bedeutung der Memel anzuerkennen.54 Seit dem Herbst 1925 verbesserte sich das Verhalten des litauischen Verkehrsministeriums zur Durchführung des deutsch-litauischen Binnenschif�fahrtsabkommens erheblich, so daß Beschwerden über die Nichteinhaltung der vertraglichen Verpflichtungen Litauens von den deutschen Schiffahrtskreisen seltener erhoben wurden.55 Das Reichsverkehrsministerium berichtete Mitte Januar 1925 auch, daß hinsichtlich der Schiffahrt im allgemeinen beide Seiten mit der im Binnenschiffahrtsabkommen gewährten Gleichberechtigung zufrieden seien.56 Nachdem Deutschland, die UdSSR sowie Großbritannien wiederholt Litauen zur Freigabe der Memelflößerei aufgefordert hatten, bemühte sich Kowno, seine Sperrpolitik gegen die Transitflößerei aufzuheben. Litauen selbst mußte sich eingestehen, daß die Wirtschaft im Memeler Hafen ohne Zufuhr der Flößereihölzer aus Polen und der UdSSR nicht überlebensfähig war. Im Januar 1926 erließ die litauische Regierung in der Ausführung des Artikel 3 Anhang III Transit der Memelkonvention eine neue Flößereiordnung, durch die die bisher bestehenden Hindernisse gegen die Aufnahme der Transitflößerei an der Wilnagrenze prinzipiell aufgehoben wurden. Sie enthielt zwar noch einige Schwierigkeiten, wie z. B. die Pflicht zur Auswechslung der ausländischen Besatzung (Flößer) durch Litauer an der Wilnagrenze (§ 4 und 7). In rechtlicher Hinsicht konnte jedoch die Aufnahme der Transitflößerei durch diese Maßnahme nicht mehr entscheidend behindert werden.57 Im Hinblick auf die deutlich verbesserten völkerrechtlichen Verhältnisse des Verkehrs auf der Memel, unter denen Deutschland die Gewährung der Gleichberechtigung nicht mehr geheimzuhalten hatte, schlug das Reichsver54 Art. 3
des Anhangs III der Memelkonvention. R 5 / 408, OPO an RVM, 28.12.1925. 56 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), RVM, 14.1.1926. 57 BA, R 5 / 408, OPO, 4.2.1926. BA, R 5 / 1382, IHK Tilsit, 25.6.1927. Der Ab druck der litauischen Flößereiordnung vom 27. Januar 1926 in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 71–74 (Règlement Lithuanien relatif au flottage du bois sur le Niémen). Siehe auch Rogge (1928), S. 443 f. 55 BA,
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kehrsministerium vor, die Gleichberechtigungsklausel des nicht zur Veröffentlichung bestimmten Verwaltungsabkommens in den Staatsvertrag, also in den Handelsvertrag zu übertragen. Damit sollte diesen Rechten im bilateralen Staatsvertrag eine feste Grundlage gegeben werden.58 Das Reichsverkehrsministerium zielte dabei nicht auf die Aufhebung des Verwaltungsabkommens ab, sondern lediglich auf die Übertragung der Gleichberechtigungsklausel in den Handelsvertrag. Die Wasserstraßenabteilung ging davon aus, daß das Abkommen unbedingt beibehalten werden müsse, weil seine Besonderheit darin liege, daß die Regelung der Verkehrsangelegenheiten auf der Memel im Rahmen dieses Verwaltungsabkommens prinzipiell unmittelbaren Benehmen der Verwaltungsbehörden Ostpreußens und Litauens überlassen wurde. Bei einer Ressortbesprechung, die Ende Mai 1926 unmittelbar nach der Ratifizierung des ersten Handelsvertrags im Auswärtigen Amt stattfand, machte Regierungsrat Ebhardt deshalb auf diesen Standpunkt des Reichsverkehrsministeriums aufmerksam und betonte die Notwendigkeit der Beibehaltung des Verwaltungsabkommens. Er schlug dem Auswärtigen Amt vor, daß Deutschland zuerst bei der litauischen Regierung anfragen solle, ob Litauen es für notwendig halte, das Abkommen weiterhin geheimzuhalten. Im verneinenden Fall solle Deutschland vorschlagen, die Bestimmungen von Artikel 30 des ersten Handelsvertrags, worin die Meistbegünstigungsklausel für den Schiffahrtsverkehr gewährt worden war, beim Abschluß eines neuen Handelsvertrags durch die Gleichberechtigungsklausel des Binnenschiffahrtsabkommens zu ersetzen.59 Am 10. Juli 1926 richtete der litauische Gesandte in Berlin, Sidzikauskas, auf Anfrage des Auswärtigen Amts eine Note an Außenminister Stresemann. Darin kündigte die litauische Regierung das Kauener Binnenschiffahrtsabkommen. Zur Begründung wurde angegeben, daß das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen der Abänderung bedürfe. Litauen sei deshalb bereit, alsbald in Verhandlungen mit dem Ziel des Abschlusses eines neuen Abkommens einzutreten.60 Anfang Dezember 1926 äußerte die litauische Delegation den Wunsch, verschiedene dafür geeignete Bestimmungen des Kauener Schiffahrtsabkommens auf den Handelsvertrag zu übertragen.61 58 BA,
R 5 / 408, RVM, 30.1.1926. PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, AA, Niederschrift über die Besprechung vom 31. Mai 1926 betr. die deutsch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen. 60 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, Abschrift, Die litauische Gesandtschaft (Sidzikauskas) an Reichsminister des Auswärtigen (Stresemann), 10.7.1926. Abschrift auch in: PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen). 61 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII 6b 56, Bd. 5, RVM an AA, 15.12.1926. Abschrift, Deutsch-litauische Verhandlungen über den Ersatz des Kauener Schif�fahrtsabkommens vom 28. September 1923, 7.12.1926. 59 GStA
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Das Auswärtige Amt bestätigte die Kündigungserklärung der litauischen Regierung und teilte der litauischen Seite mit, daß das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen gemäß dessen Artikel 12 mit Ablauf des 31. Dezember 1927 außer Kraft treten werde.62 Daraus ergab sich die Notwendigkeit, nicht nur die Gleichberechtigungsklausel im neuen Handelsvertrag festzusetzen, sondern die gesamten Bestimmungen des Binnenschiffahrtsabkommens durch ein neues Abkommen zu ersetzen. Hierbei legte das Reichsverkehrsministerium besonderen Wert darauf, das neue Abkommen ebenfalls in Form eines Verwaltungsabkommens abzuschließen. Dieser Wunsch des Reichsverkehrsministeriums war vor allem darauf gegründet, daß nach Artikel 10, der die Ausführungskompetenzen des Abkommens regelte, alle dem Abkommen unterliegenden Angelegenheiten ohne Inanspruchnahme diplomatischer Instanzen durch unmittelbares Benehmen zwischen den örtlichen Verwaltungsbehörden, vor allem dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen einerseits und der Chaussee- und Wasserstraßenabteilung des litauischen Verkehrsministeriums andererseits, geregelt werden sollten. Die schwebenden Verhandlungen zwischen Ostpreußen und Litauen in den Jahren 1923 / 24 hatten zwar erwiesen, daß es dem Oberpräsidenten nicht immer gelungen war, die Schwierigkeiten gütlich beizulegen. Der Oberpräsident war auch dazu gezwungen gewesen, die Einschaltung diplomatischer Instanzen geltend zu machen. Das Reichsverkehrsministerium glaubte dennoch, daß die Ursache der schwierigen Durchführung nicht im Verwaltungsabkommen selbst, sondern in der damaligen Verhandlungsmethode Kownos liege. Seit Ende 1925 hatte sich aber die Haltung des litauischen Verkehrsministeriums erheblich geändert. Daher vertrat das Reichsverkehrsministerium den Standpunkt, daß ein Verwaltungsabkommen in diesen Angelegenheiten besonders geeignet sei, die verkehrstechnischen Probleme in regionaler Hinsicht schnell zu beseitigen und aufkommende Schwierigkeiten in gutnachbar licher Atmosphäre zwischen den Verwaltungsbehörden beider Seiten zu überwinden. Aus diesen Gründen beantragte das Ministerium gleich nach der Kündigungserklärung Litauens folgende zwei Abänderungswünsche zum neuen Handelsvertrag mit Litauen: 1. Übertragung der Gleichberechtigungsklausel des Kauener Abkommens auf den neuen Handelsvertrag, 2. Abschluß eines neuen Verwaltungsabkommens, das die übrigen Bestimmungen des Kauener Abkommens übernehmen sollte. Dieses sollte sich insbesondere auf die Bestimmungen von Artikel 10 des Kauener Abkommens beziehen. Das Reichsverkehrsministerium schlug außerdem vor, das
62 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, Abschrift, AA (Schubert) an den litauischen Geschäftsträger (Urbsys), 25.7.1926.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)395
neue Verwaltungsabkommen gleichzeitig mit dem Abschluß des neuen Handelsvertrags in Kraft zu setzen.63 Als Termin der Außerkraftsetzung des Kauener Binnenschiffahrtsabkommens war nun der 31. Dezember 1927 festgelegt. Um einen vertragslosen Zustand zu vermeiden, bemühte sich das Reichsverkehrsministerium, schnellstmöglich zu einer Einigung mit Litauen zu kommen. In unverbindlichen Verhandlungen vom Anfang Dezember 1926 einigten sich beide Parteien auf Antrag des Reichsverkehrsministeriums zunächst darauf, die Bestimmungen des Artikels 1 des Binnenschiffahrtsabkommens (die Schif�fahrtsfreiheit und die Gleichberechtigungsklausel) auf die Schiffahrtsbestimmungen des neu abzuschließenden deutsch-litauischen Handelsvertrags (Artikel 30 des alten Handelsvertrags von 1923) zu übertragen.64 Der gleich danach erfolgte Staatsstreich in Kowno verhinderte jedoch die Fortführung der Verhandlungen.65 Die Aufnahme der deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen selbst wurde infolge der unklaren politischen Verhältnissen in Kowno sowie der Zuspitzung des Memelautonomiestreits erneut verschoben. Der Eintritt in die Handelsvertragsverhandlungen erfolgte erst nach der Beilegungserklärung zwischen Voldemaras und Stresemann in Genf im Sommer 1927. Im Gegensatz zu den Erwartungen Deutschlands wurde die Fortführung der Verhandlungen über den Handelsvertrag durch die divergierenden Interessen beider Seiten massiv behindert. Unter diesen Umständen stellte das Reichsverkehrsministerium Ende November 1927 fest, es sei unmöglich, bis zur bevorstehenden Außerkraftsetzung des Kauener Abkommens einen befrie digenden Abschluß zwischen Deutschland und Litauen in der Frage der Binnenschiffahrtsangelegenheiten herbeizuführen. Das Ministerium erteilte sodann dem Oberpräsidenten (dem Wasserbaudirektor) die Verhandlungsvollmacht, mit Litauen eine Verlängerung des Kauener Binnenschiffahrtsab63 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, Abschrift, RVM an AA, 13.10.1926. Anlage 1, Neufassung für Artikel 30 des Deutsch-Litauischen Handelsvertrages vom 1. Juni 1923. Anlage 2, Verwaltungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Litauen, vertreten durch die beiderseitigen Verkehrsministerien, über die verwaltungsmäßige Behandlung der beiderseitigen Binnenschiffahrt und Flößerei. 64 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen, Bd. 1), AA an die Deutsche Gesandtschaft Kowno, 30.3.1927. Hierzu sollte eine Erklärung der litauischen Regierung ins Schlußprotokoll aufgenommen werden: „Schlußprotokoll. Die Litauische Regierung erklärt, daß sie die Freiheit des Nachbarortverkehrs von Schiffahrtsabgaben (§ 9 des litauischen Gesetztes über Wasserwege- und Hafenabgaben) auch auf die Strecke Ruß–Heydekrug–Orte der Kurischen Nehrung ausdehnen wird.“ 65 BA, R 5 / 1382, RVM, 15.12.1926.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
kommens zu vereinbaren.66 Die Verhandlung mit der Chaussee- und Wasserstraßenabteilung des litauischen Verkehrsministeriums wurde Ende Dezember 1927 aufgenommen. Dabei gelang es dem deutschen Delega tionsvorsitzenden, Wasserbaudirektor Hentschel, die Zustimmung Litauens zu diesem Wunsch Deutschlands einzuholen. So einigte man sich darauf, das Abkommen zunächst bis zum 29. Februar 1928 zu verlängern.67 Diese Vereinbarung wurde sodann durch die diplomatischen Instanzen beider Seiten bestätigt.68 b) Die Übertragung der Bestimmungen des Kauener Abkommens auf die neuen Verträge Nach Auffassung des Reichsverkehrsministeriums sollten die Bestimmungen des Kauener Binnenschiffahrtsabkommens auf vier neue Verträge aufgeteilt werden, nämlich auf den neuen Handelsvertrag, auf einen Vertrag über die Regelung der Grenzverhältnisse, auf ein Abkommen über die Grenzgewässer sowie auf ein neues Verwaltungsabkommen (Binnenschif�fahrtsabkommen). Abgesehen von der Ausführungskompetenz der Binnenschiffahrtsangelegenheiten auf der Memel konnten alle technischen und wirtschaftlichen Bestimmungen des alten Binnenschiffahrtsabkommens theoretisch durch den neuen Handelsvertrag, das Grenzgewässerabkommen sowie das Grenzabkommen ersetzt werden. Die Bedeutung des Abschlusses eines neuen Verwaltungsabkommens trat dadurch deutlich zurück. Während der von deutscher Seite gewünschten Umsetzung der Gleichberechtigungsklausel des Kauener Abkommens in den neuen Handelsvertrag durch Litauen ohne weiteres zugestimmt wurde, zeigte Litauen jedoch kein großes Interesse mehr daran, irgendein Verwaltungsabkommen abzuschließen. Tatsächlich war das im Jahr 1923 unterzeichnete Kauener Verwaltungsabkommen mit einer Ungleichheit der Rechte beider Vertragschließenden verbunden. Während sich der räumliche Geltungsbereich des Abkommens auf alle Gewässer Litauens erstreckte, beschränkte er sich in Deutschland lediglich auf die Gewässer in der Provinz Ostpreußen. Für den litauischen Verkehr auf den deutschen Wasserstraßen außerhalb Ostpreußens sollte allgemein die Meistbegünstigung gelten (Artikel 1 des Kauener Binnenschif�fahrtsabkommens). Die Umsetzung der Gleichberechtigungsklausel vom 66 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, RVM an OPO (Wasserbaudirektion), 24.11.1927. 67 BA, R 5 / 1382, OPO (Wasserbaudirektion) an RVM, 4.1.1928. Anlage: Abschrift, Wasserbaudirektor beim OPO, Vereinbarung in Kowno vom 30.12.1927. 68 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), Ge sandtschaft Kowno, 29.12.1927.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)397
Kauener Verwaltungsabkommen in einen Handelsvertrag konnte deshalb Litauen den Vorteil einbringen, daß der litauische Verkehr die Gleichberechtigung fortan nicht nur auf den ostpreußischen Gewässern, sondern auch auf allen deutschen Gewässern genießen würde. Zur Vermeidung eines vertragslosen Zustandes sollte der Abschluß der in Aussicht genommenen vier Verträge vor dem Ablauf des Verlängerungstermins des Kauener Abkommens erreicht werden. Während der Vertrag über die Regelung der Grenzverhältnisse sowie das Abkommen über die Unterhaltung und Verwaltung der Grenzgewässer am 29. Januar 1928 in Berlin im Rahmen des Abschlusses der sog. deutsch-litauischen Memelverträge unterzeichnet wurden,69 erwies es sich aber unter den prekären politischen Verhältnissen als unmöglich, bis zur Außerkraftsetzung des Kauener Abkommens am 29. Februar 1928 den neuen Handelsvertrag sowie das neue Verwaltungsabkommen zustande zu bringen. Die Unterzeichnung des neuen Handelsvertrags hing ausschließlich davon ab, inwieweit Litauen auf die Wünsche Deutschlands in der Frage des Eisenbahnverkehrs einzugehen gewillt war. Die Verhandlungen über den neuen Handelsvertrag wurden dadurch außerordentlich verschleppt. Kurz vor dem Ablauf des ersten Verlängerungstermins zum 29. Februar 1928 beantragte Deutschland, daß das Kauener Binnenschiffahrtsabkommen bis zur Ratifikation der als Ersatz geplanten neuen Verträge in Kraft bleiben solle.70 Litauen akzeptierte jedoch lediglich die Verlängerung des Abkommens für weitere zwei Monate.71 Schließlich einigten sich die beiden Parteien mit Rücksicht auf die schwebenden Handelsvertragsverhandlungen darauf, daß das Kauener Binnenschiffahrtsabkommen bis zum 15. Juli 1928 in Kraft bleiben solle, sofern es nicht in der Zwischenzeit durch die Ratifizierung der als Ersatz des Kauener Schiffahrtsabkommens geplanten neuen Verträge und Abkommen ersetzt würde.72 Im Rahmen der deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen 69 RGBl. 1929, II, S. 205 f. In diesem Rahmen wurden folgende Verträge und Abkommen am 29. Januar 1928 zwischen Stresemann und Voldemaras unterzeichnet: 1. Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrag, 2. Vertrag über die Regelung der Grenzverhältnisse, 3. Abkommen über die Unterhaltung und Verwaltung der Grenzgewässer, 4. Abkommen über die Fischerei, 5. Abkommen über die Fürsorge für die Militärrentenempfänger im Memelgebiet, 6. Konsularvertrag, 7. Abkommen über den Rechtsverkehr, 8. Abkommen über die Fürsorge für die Pensionäre im Memelgebiet. 70 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), AA an die Gesandtschaft Kowno, 25.1.1928. OPO (Wasserbaudirektor), 16.2.1928. 71 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), Moraht (Kowno) an AA, 29.2.1928. 72 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), Abschrift, Vereinbarung, Wasserbaudirektor Hentschel, Königsberg und Direktor der Chaussee-und Wasserstraßenverwaltung Kl. Karosas, Kaunas, 31.5.1928. GStA PK,
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
einigten sich sodann die beiden Verkehrsministerien im Juni 1928 in Kowno, ein neues Verwaltungsabkommen zur Regelung der Binnenschiffahrtsangelegenheiten abzuschließen. Der durch das Reichsverkehrsministerium ausgearbeitete Entwurf des neuen Abkommens wurde auch von der litauischen Seite anerkannt.73 Dennoch lehnte es Litauen ab, das Abkommen endgültig zu unterzeichnen. Dadurch wurde das Reichsverkehrsministerium dazu gezwungen, zur Vermeidung eines vertragslosen Zustandes noch einmal die Verlängerung des Kauener Binnenschiffahrtsabkommens zu beantragen. Kurz vor dem letzten Verlängerungstermin schlug Wasserbaudirektor Hentschel der litauischen Seite vor, daß das Abkommen erst mit der Inkraftsetzung der als Ersatz geplanten Verträge außer Kraft gesetzt werden solle.74 Auf diesen Antrag reagierte Litauen aber zunächst nicht. Das Abkommen trat somit am 15. Juli 1928 außer Kraft.75 Trotz der wiederholten Ermahnung des Oberpräsidenten zur Verhandlungsaufnahme reagierte Kowno bis Mitte November 1928 nicht. Erst nach Unterzeichnung des zweiten deutschlitauischen Handelsvertrags vom 30. Oktober 1928 und nach Abschluß der zweiten polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg Anfang November erklärte Litauen schließlich, daß der Abschluß eines Binnenschiffahrtsabkommens augenblicklich aus politischen Gründen unmöglich sei.76 Der neue Handelsvertrag zwischen Deutschland und Litauen wurde am 30. Oktober 1928 unterzeichnet. Hiermit vollendete sich die Übertragung der wichtigen wirtschaftlichen und technischen Bestimmungen des alten Kauener Abkommens auf die neuen Staatsverträge. Davon ausgenommen wurde allerdings der Kern des Verwaltungsabkommens, nämlich Artikel 10 des Binnenschiffahrtsabkommens, der die Ausführungskompetenz des Abkommens zum Zweck zur gütlichen Beilegung der Meinungsunterschiede durch die örtlichen Behörden ohne Inanspruchnahme diplomatischer Instanzen festlegte. Hierzu bestimmte z. B. Artikel 28 des Abkommens über die Unterhaltung und Verwaltung der Grenzgewässer vom 29. Januar 1928 die Schiedsgerichtsbarkeit. Die bei den zuständigen Behörden entstandenen Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung oder Anwendung des Ab-
I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6, RVM an die Reichs- und preußischen Minister, 25.6.1928. 73 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), AA an die Gesandtschaft Kowno, 16.4.1930. 74 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), die Reichswasserstraßenverwaltung (Wasserbaudirektor Hentschel), 3.7.1928. 75 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), Abschrift, OPO an das litauische Verkehrsministerium, 15.8.1928. 76 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), Gesandtschaft Kowno an OPO (Wasserbaudirektion), 13.11.1928.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)399
kommens waren demnach einer Entscheidung des Schiedsgerichts zu unterwerfen.77 Das Reichsverkehrsministerium berichtete Ende Dezember 1928, daß zwischen Deutschland und Litauen hinsichtlich der Memelschiffahrt bis zur Ratifizierung des Handelsvertrags ein vertragsloser Zustand bestehe, da das Kauener Schiffahrtsabkommen nicht mehr verlängert worden sei.78 Gleichwohl setzte das Reichsverkehrsministerium seine Hoffnungen darauf, daß die Verhandlungen über das Verwaltungsabkommen wahrscheinlich erst nach dem Inkrafttreten des zweiten Handelsvertrags ihren Abschluß finden würden.79 Nachdem sowohl das Reichsverkehrsministerium als auch die Deutsche Gesandtschaft Kowno wiederholt die Verhandlungsaufnahme gefordert hatten, teilte der litauische Außenminister Zaunius Mitte Februar 1929 mit, daß seine Regierung keine Notwendigkeit mehr sehe, ein neues Verwaltungsabkommen abzuschließen, da die Bestimmungen des alten Kauener Binnenschiffahrtsabkommens prinzipiell auf das wasserwirtschaftliche Abkommen vom Januar 1928 und den neuen Handelsvertrag vom Oktober 1928 übertragen worden seien.80 Obwohl der Entwurf über das neue Verwaltungsabkommen anläßlich der deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen vom 16. Juni 1928 in Kowno zwischen beiden Parteien vereinbart worden war,81 lehnte es Litauen in der Folgezeit stets ab, das Abkommen endgültig zu unterzeichnen. Im Februar 1930 übergab das Reichsverkehrsministerium dem litauischen Verkehrsminister anläßlich seines Besuchs in Berlin eine Beschwerdenote und erinnerte ihn an die 1928 getroffene Vereinbarung.82 Kurz danach ordnete aber das Auswärtige Amt die deutschen Ressorts an, mit Rücksicht auf den Memelautonomiestreit, der sich seit Anfang 1930 wieder verschärfte, die Forderung nach einem baldigen Abschluß des Binnenschiffahrtsabkommens zurückzuziehen. Damit räumte das Amt der politischen Frage Priorität ein.83 77 RGBl. 1929, 78 BA,
II, S. 222 ff. (hier S. 229). R 5 / 1382, RVM an Geheimen Oberbaurat Gustav Meyer, Dezember
1928. 79 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 127, Heft 3, RVM (Oeser) an OPO (Wasserbaudirektion), 17.12.1928. 80 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 101 (Deutsch-litauische Verträge), Telegramm Gesandtschaft Kowno an AA, 13.2.1929. 81 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen, Bd. 2), AA, 16. April 1930, Anlage: Entwurf des deutsch-litauischen Binnenschif�fahrtsabkommens. 82 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen, Bd. 2), Abschrift, RVM an AA und OPO, 28.2.1930. Anlage: RVM, Bemerkungen aus Anlaß des Besuchs des Herrn Litauischen Verkehrsministers, 24.2.1930. 83 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Gesandtschaft Kowno an AA, 26.4.1930.
400
2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Die Auseinandersetzung zwischen dem Reich und Litauen in der Memelautonomiefrage wurde durch die sog. Böttcher-Krise auf die Spitze getrieben. Im Februar 1932 wurde der erste deutschstämmige Landesdirektor Otto Böttcher im Memelgebiet durch den von Litauen eingesetzten Gouverneur abberufen. Trotz der Proteste der deutschen Regierung und der alliierten Hauptmächte gegen die Verletzung des Autonomiestatuts bewertete der Haager Internationale Gerichtshof das Vorgehen des Gouverneurs als ordnungsmäßig.84 Die politischen Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Kowno um das Memelgebiet führten zur Unterbindung des deutsch-litauischen Handelsverkehrs. Die deutsche Schiffahrt auf der Memel wurde durch die neuen Maßnahmen Litauens, die für den Oberlauf von der deutsch-litauischen Grenze ab eingeführt wurden, von neuem behindert, da die Gleichberechtigungsklausel nicht mehr eingehalten wurde. Die ostpreußischen Wirtschaftskreise beschwerten sich bis 1938 wiederholt beim Reichsverkehrsministerium über diese Tatsache. Erst in diesem Jahr gelang es dem Ministerium, diese Angelegenheiten mit Litauen zu verhandeln. Das Reichsverkehrsministerium und die ostpreußische Wirtschaft waren einstimmig der Ansicht, daß die deutschen Schiffahrtsrechte auf der Memel in Artikel 25 des Handelsvertrags vom Oktober 1928 nicht genügend gewahrt worden seien, vor allem im Vergleich mit den Bestimmungen des alten Kauener Abkommens von 1923. Daher verlangte Ostpreußen, auf Grund des im Jahr 1928 vereinbarten Entwurfs ein neues Binnenschiffahrtsabkommen abzuschließen.85 Litauen lehnte dies kategorisch ab und blieb bei seiner 1927 eingenommenen Haltung.86 Die 1938 aufgenommenen Verhandlungen fanden schließlich am 11. Mai 1940 in Berlin ihren Abschluß.87 Beide Parteien einigten sich darauf, die Verbesserung der Schiffahrtsverhältnisse lediglich durch die Ergänzung von Artikel 25 des Handelsvertrags von 1928 vorzunehmen. Somit wurde das Vorhaben über den Abschluß eines Verwaltungsabkommens, das ein zweites Kauener Binnenschiffahrtsabkommen darstellen sollte, endgültig aufgegeben. Das Memelgebiet wurde schließlich vor allem Pferr (2005). AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), Abschrift, Industrie- und Handelskammer für Ost- und Westpreußen, Entwurf über das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen von 1928, 29.8.1938. 86 Nach der auf Grund der Veröffentlichung des litauischen Außenministeriums (Lietuvos Sutartys) 1930 von Jacob Robinson 1933 herausgegebenen Tabelle der litauischen Verträge trat das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen offiziell mit dem Kündigungstermin vom 31. Dezember 1927 außer Kraft. Ein Abschluß eines neuen Binnenschiffahrtsabkommens ist dieser Sammlung nicht zu entnehmen. Siehe Robinson (1933), S. 789–813. 87 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen), AA an die Gesandtschaft, Anlage: Abschrift: Vereinbarung, unterzeichnet für das Deutsche Reich gez. Martius, für die Republik Litauen gez. Augustaitis, 11.5.1940. 84 Siehe 85 PA
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)401
am 22. März 1939 an das Reich restituiert. Im Sommer 1940 wurde die litauische Republik auf Grund des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion annektiert. Die rechtlichen Verhältnisse der neuen Verträge von 1928, soweit es sich um die Memelschiffahrt sowie Flößerei handelte, ließen erkennen, daß die Interessen der ostpreußischen Holzwirtschaft, trotz der Aufhebung des Kauener Abkommens, in vielfältiger Weise Berücksichtigung fanden. So wurden verschiedene Vorbeugungsmaßnahmen gegen eine etwaige Weigerung Litauens gegen die Transitflößerei getroffen. Diese bilateralen Abmachungen zwischen Deutschland und Litauen konnten allerdings keine ausreichende Wirkung auf die Normalisierung der Memelflößerei haben, da die Freigabe der Transitflößerei nunmehr von der Haltung Polens abhing. 1. Die Transitfreiheit: Die Transitfreiheit auf Landwegen und Wasserstraßen war bereits in Artikel 16 des ersten Handelsvertrags gewährt worden. Diese Klausel wurde in Artikel 9 des zweiten Handelsvertrags übernommen. Hierdurch wurde die Transitfreiheit durch Litauen für die im deutschen Eigentum befindlichen Flößereihölzer bestätigt, nämlich der aus Polen und der UdSSR stammenden und von deutschen Firmen erworbenen Hölzer. Hierzu erklärte die litauische Regierung außerdem im Schlußprotokoll zu Artikel 9 über die Sicherstellung des Holztransitverkehrs aus einem dritten Staate durch Litauen nach Deutschland: „Litauen wird die auf die Durchflößerei von Holz von dritten Staaten nach Deutschland bezüglichen Verwaltungsmaßnahmen so gestalten, daß der Verkehr nicht erschwert oder behindert wird, insbesondere wird die besondere Vermessung der Flöße für Zwecke der Verrechnung von Verkehrsabgaben und der Zollkontrolle nicht verlangt werden.“88 2. D ie Gleichberechtigung (Inländerbehandlung) und die Ausdehnung des räumlichen Geltungsbereichs: In Artikel 30 des ersten Handelsvertrags war die Meistbegünstigung für die Schiffahrt und Flößerei gewährt worden. Diese Meistbegünstigungsklausel für den Binnenwasserverkehr wurde in Artikel 25 des neuen Handelsvertrags durch die Gleichberechtigungsklausel ergänzt, die in Artikel 2 des alten Kauener Abkommens festgelegt worden war. Während der räumliche Geltungsbereich des Kauener Abkommens auf alle litauischen Gewässer sowie auf alle Gewässer in der Provinz Ostpreußen abgestellt worden war, 88 RGBl. 1929,
II, S. 105 ff. (hier S. 117).
402
2. Teil: Ostpreußen und Litauen
wurde er nun auf alle Gewässer in Litauen und Deutschland erweitert (Artikel 25). Hierdurch wurde die Ungleichheit der deutschen und litauischen Rechte des Kauener Abkommens zugunsten Litauens revidiert. 3. Das Kabotagerecht für die Transitflößerei: Die litauische Flößereiordnung vom Januar 1926, vor allem die § 4 und 7, bestimmte, daß die Besatzung (Flößer) von der litauischen Grenze ab innerhalb des litauischen Hoheitsgebiets ausschließlich auf litauische Staatsangehörige zu beschränken sei.89 Hierdurch wurde die Übernahme der im deutschen Eigentum befindlichen Transithölzer durch deutsche Flößereimannschaften an der Wilnagrenze untersagt. In den Verhandlungen beharrte die litauische Delegation besonders auf der Beibehaltung dieser Regelung. Die deutsche Delegation gab letztlich diesem Wunsche Litauens nach. So wurde in Artikel 25 zugleich eine gewisse Einschränkung in den Gleichberechtigungsrechten aufgenommen. Nach dessen Absatz 2 sollte die Beförderung von Personen und Gütern zwischen litauischen Stationen oberhalb der deutsch-litauischen Grenzstation Schmalleningken litauische Staatsangehörigen vorbehalten bleiben. Im Sinne von Absatz 2 durfte Deutschland hinsichtlich des Kabotagerechts in Litauen lediglich die Meistbegünstigung genießen.90 Statt dessen wurde das deutsche Kabotagerecht auf der Grenzstrecke der Memel auf folgende Weise in Artikel 25 Absatz 4 gesichert, daß die im deutschen Eigentum befindliche bzw. nach Deutschland adressierte Transitflößerei von Schmallenigken abwärts, wo die gemeinsame Strecke zwischen Ostpreußen und dem Memelgebiet begann, mit Mannschaften deutscher Staatsangehörigkeit zu besetzen sei. 4. Die Herabsetzung der litauischen Holzausfuhrzölle: Während der neue Handelsvertrag hinsichtlich der Zolltarife allein die Meistbegünstigung bestimmte, wurde eine Sonderregelung über die litauischen Ausfuhrzölle und -abgaben in dessen Schlußprotokoll zu Artikel 8 getroffen. Danach sollten die Ausfuhrzölle Litauens für die Hölzer und Holzwaren nach dem deutschen Zollgebiet ab dem 1. Dezember 1928 auf 89 Der Abdruck der litauischen Flößereiordnung vom 27. Januar 1926 befindet sich in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 71–74 (Règlement Lithuanien relatif au flottage du bois sur le Niémen). Siehe auch Rogge (1928), S. 443 f. 90 RGBl. 1929, II, S. 105 ff. (hier S. 112). Siehe auch: Tätigkeit der Reichswasserstraßenverwaltung im Geschäftsjahr 1928 (1. April 1928 bis 31. März 1929), in: Drucksachen des Ostpreußischen Wasserstraßenbeirates, I. Wahlperiode 1925 bis 1929, S. 142.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)403
die Hälfte der zuvor geltenden Sätze ermäßigt werden. Bei dieser Maßnahme wurde in erster Linie der Wunsch der ostpreußischen Holzindustrie berücksichtigt. as Verbot der Erhebung von Befahrungsabgaben auf der gemeinsamen 5. D Strecke auf der Memel: Im Schlußprotokoll Nr. III des Abkommens über die Unterhaltung und Verwaltung der Grenzgewässer vom 29. Januar 1928 erklärte die litauische Regierung, daß sie mit dem Inkrafttreten dieses Vertrags gemäß Artikel 3 Nr. 2 auf den gemeinschaftlichen Grenzströmen von Schmalleningken bis zur Skirwiethmündung keinerlei Befahrungsabgaben mehr erheben werde.91 4. Die Eisenbahnfrage a) Der Häfenwettbewerb Der Wunsch der Königsberger Handelskammer nach einer Gewährung der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg war beim Abschluß des ersten Handelsvertrags vom Juni 1923 an der ablehnenden Haltung Litauens gescheitert. Zum Verhandlungsbeginn des zweiten Handelsvertrags artikulierte die Handelskammer diesen Wunsch deshalb erneut. Die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen dem Königsberger Hafen und den nicht zur UdSSR gehörenden Ostseehäfen beim Transitverkehr mit der UdSSR wurde bereits im deutsch-sowjetischen Handelsvertrag vom Oktober 1925 gewährt.92 Darin war die Einführung direkter Tarife und durchgehender Staffeltarife von den russischen Verladestationen über die Transitländer bis zum Hafen Königsberg vorgesehen. Die Entstehung dieser Klausel ging ausschließlich auf die Bestrebungen der Königsberger Handelskammer zurück. Ihre Verwirklichung setzte allerdings die Mitwirkung der Transitländer (Litauen, Lettland, ggf. Estland und P olen) voraus. Daher bemühte man sich in Königsberg darum, die Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg im Sinne der Ausführung des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags von 1925 im neuen Handelsvertrag mit Litauen festzuschreiben. Der alte deutsch-russische Handelsvertrag von 1894 hatte den deutschen Ostseehäfen die gleichen Wettbewerbsbedingungen wie den russischen gewährt. Demnach konnten russische Staffeltarife bis zu den Häfen Danzig, 91 RGBl. 1929, 92 RGBl. 1926,
II, S. 222 f. II, S. 1 f. (hier S. 34).
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Königsberg sowie Memel aufgestellt werden.93 Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Lage grundlegend. Infolge der Grenzziehung und der Verselbständigung der russischen Randstaaten konnten die im Vertrag genannten fünf Ostseehäfen (Danzig, Königsberg, Memel, Libau, Riga) nicht mehr einer bilateralen Regelung zwischen Deutschland und Rußland unterworfen werden. Die alte Häfenwettbewerbsregelung wurde somit gänzlich aufgehoben. Die neu verselbständigten Oststaaten hatten die Absicht, das Umschlaggeschäft ihrer eigenen Ostseehäfen zu fördern. Unter diesen Umständen verschärfte sich nach dem Krieg der Häfenwettbewerb von neuem.94 Der Königsberger Hafen sah sich außerdem mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Zum einen versuchte Polen, den Güterbahnverkehr zwischen Königsberg und der Ukraine über die alte ostpreußisch-russische, jetzt ostpreußisch-polnische Grenzstation Prostken–Grajewo zu verhindern. Die sog. Südlinie, die für den Getreidetransport von Bedeutung gewesen war, wurde nach dem Krieg stillgelegt. Die Königsberger Wirtschaftskreise bemühten sich, einen Umleitungsweg über die baltischen Staaten nach Rußland und der Ukraine zu schaffen. Zum anderen wurde der Eisenbahnverkehr zwischen dem Hafen Königsberg, Minsk und Moskau auf der alten Nordostlinie durch den polnisch-litauischen Wilnakonflikt unterbunden. Die litauische Regierung brachte ihren Protest gegen Żeligowskis Handstreich durch Sperrung des Verkehrs an der Wilnagrenze zum Ausdruck. Die Strecke Kaišyadorys–Landwarowo an der Demarkationslinie, die den Hauptteil der Bahnstrecke zwischen Kowno und Wilna bildete, wurde auf diese Weise unterbrochen, selbst die Schienen herausgerissen.95 In der Nachkriegszeit gelang es der Königsberger Handelskammer sowie der Reichsbahn, die Zustimmung Litauens und Lettlands zur Öffnung der neuen Nordlinie (von Königsberg über Litauen und Lettland bis zur UdSSR) zu erhalten. Sie sollte den Verkehr auf der alten Südlinie sowie der alten Nordostlinie ersetzen. Trotz der Hoffnungen auf eine Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts konnte aber Königsberg auf diesem Umleitungsweg keine Konkurrenzfähigkeit mit anderen Ostseehäfen im russischen Transitverkehr erreichen. Das geographische Verhältnis zum russischen und ukrainischen Hinterland änderte sich bei diesem Umleitungsweg eher zugunsten der Konkurrenten Königsbergs.96
93 Simon
(1923), S. 57 f. Wischnewski: Der Hafen Königsberg und die Konkurrenz seiner Nachbarhäfen Danzig, Gdingen und Memel, Königsberg 1934, S. 35 f. 95 Rapport de la Commission consultative et technique des communications et du transit, le 4 septembre 1930, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 31–91. 96 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 194, Abschrift, Deutsche Reichsbahngesellschaft an AA, 27.1.1927. 94 Fritz
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)405
Auf der alten Nordostline war die Fahrstrecke zwischen Königsberg und Moskau kürzer als die zwischen Memel und Moskau. Nach dem Krieg mußte man hingegen auf dem neuen Umleitungswege von Königsberg bis Moskau über 100 km länger fahren als von Memel bis Moskau. Dieses Verhältnis galt ebenfalls für den Verkehr mit der Ukraine (Charkow) sowie mit dem Wolgagebiet (Atkarsk).97 Nach dem Krieg sah sich die Königsberger Handelskammer dazu gezwungen, die Senkung der Frachtkosten zu beantragen, um auf diesem Wege die Konkurrenzfähigkeit des Königsberger Hafens mit den Nachbarhäfen zu stärken. Hierbei kam die Einführung durchgehender Staffeltarife von den russischen Verladestationen bis zum Hafen Königsberg in Betracht. Die Königsberger Bestrebungen stießen aber auf Schwierigkeiten. Mit der Außerkraftsetzung von Artikel 365 des Versailler Vertrags, der dem Eisenbahnverkehr der Alliierten die unbedingte Meistbegünstigung sowie die Parität eingeräumt hatte, wurde die deutsche Bahnverwaltung in die Lage versetzt, sowohl Ausnahme- und Ermäßigungstarife als auch eisenbahntarifliche Regelungen des Häfenwettbewerbs mit Drittstaaten ohne Rücksicht auf etwaige Ansprüche der Alliierten vereinbaren zu können. Am 12. Oktober 1925 wurde daraufhin ein Eisenbahnabkommen im Rahmen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags abgeschlossen.98 Artikel 4a bestimmte die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen dem Hafen Königsberg und den nicht zur UdSSR gehörenden Ostseehäfen bei der Eisenbahnbeförderung nach und von der UdSSR. Diese bilateralen Bestimmungen zwischen Deutschland und der UdSSR benötigte natürlich die Zustimmung der Transitstaaten, Litauen und Lettland sowie ggf. Estland und Polen. In Artikel 4b und c wurde die Aufstellung direkter Tarife (auch durchgehender Staffeltarife) zwischen dem Hafen Königsberg und den sowjetischen Eisenbahnstationen vorgesehen, sobald die Mitwirkung der Bahnverwaltungen der Transitstaaten erzielt war. Nicht zuletzt mußte deren Mitwirkungsbereitschaft auf dem Wege weiterer Staatsverträge gesichert werden.99 Die Durchführung des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens stieß deshalb 97 Ein Vergleich der Fahrstrecken: Von Königsberg bis Moskau: 1293 km (1913), 1310 km (1926). Von Königsberg bis Atkarsk: 1888 km (1913), 1923 km (1926). Von Königsberg bis Charkow: 1391 km (1913), 1649 km (1926).Von Memel bis Moskau: 1319 km (1913), 1200 km (1926). Von Memel bis Atkarsk: 1914 km (1913), 1813 km (1926). Von Memel bis Charkow: 1418 km (1913), 1539 km (1926). GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, Deutsche Reichsbahngesellschaft an AA, 12.5.1926. 98 RGBl. 1926, II, S. 1 ff. (hier S. 34). 99 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, Anlage zum Schreiben der Deutschen Reichsbahngesellschaft an AA, 12.5.1926, betr.: Begründung zum Entwurf der Bestimmungen über den Wettbewerb der Ostseehäfen für den deutschlitauischen Handelsvertrag.
406
2. Teil: Ostpreußen und Litauen
auf Hindernisse. Die baltischen Länder sahen für sich keine Vorteile darin, sich an Staffeltarifen für den Transitverkehr zwischen Königsberg und der UdSSR zu beteiligen. Die Einführung durchgehender Staffeltarife verlangte von den Bahnverwaltungen finanziell ein erhebliches Opfer, indem sie nicht selten den Ausfall der Betriebseinnahmen hinnehmen mußten. Die baltischen Staaten und Polen setzen sich vielmehr für die Förderung ihrer eigenen Ostseehäfen ein.100 Sie nutzten außerdem die Kontrolle über den Transitverkehr zwischen Königsberg und der UdSSR als ein starkes wirtschaftspolitisches Mittel gegen Deutschland und die UdSSR. Obwohl das Kreditabkommen zwischen der Stadtbank Königsberg und der UdSSR zum Zweck zur Finanzierung des Import- und Exportgeschäfts der UdSSR über den Königsberger Hafen auf Basis des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens 1926 abgeschlossen wurde, war die Stellung des Königsberger Hafens noch immer durch seine Konkurrenten an der Ostsee bedroht. Das in erster Linie auf Wunsch der UdSSR abgeschlossene Kreditabkommen wurde seit 1926 jährlich erneuert. Für den Getreidetransport nach dem Hafen Königsberg machte die sowjetische Handelsvertretung stets die Gewährung von Krediten zur Bedingung.101 Die Entwicklung der Zufuhr sowjetischer Produkte nach Königsberg lag trotz des Abschlusses des Eisenbahnabkommens und nicht zuletzt trotz des Abschlusses des Kreditabkommens weit unter der Erwartung der Königsberger Wirtschaft. Unter diesen Umständen erreichte die Zufuhrmenge von Getreide und Hülsenfrüchten nie mehr das Vorkriegsniveau.102 Die Königsberger Handelskammer sowie der Magistrat beschwerten sich deshalb, daß die Eisenbahntarife von den Stationen der UdSSR durch die baltischen Staaten bis zum Königsberger Hafen zu hoch seien. Nach Angaben der Handelskammer beliefen sich z. B. die Frachtkosten für 1000 kg Getreide von Atkarsk (Wolgagebiet) bis zum Hafen Königsberg auf ca. 50,40 RM (Stand Ende 1927). Durch die Aufstellung von Staffeltarifen sollten die Fracht kosten auf 37,80 RM gesenkt werden.103 In einem anderen Fall beklagte der Magistrat der Stadt Königsberg die besonders ungünstige Lage des Königsberger Hafens gegenüber dem Hafen Leningrad. Die Frachtkosten für 1000 kg Getreide von Tambow bis zum Hafen Königsberg beliefen sich auf 11,03 US-Dollar. Die Beförderung von Tambow bis zum Hafen Leningrad kostete hingegen lediglich 6,90 Dollar. Durch die Aufstellung 100 Bruno Moeller: „Ostpreußen einst und Ostpreußen jetzt“, in: Ostpreußen. Wirtschaft und Verkehr, hg. v. Otto Blum, 1926, S. 4–10. 101 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Magistrat der Stadt Königsberg an OPO, 5.1.1928. 102 Cornelius Kutschke: Königsberg als Hafenstadt, Königsberg 1930, S. 58. 103 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, IHK Königsberg an Stadtkämmerei des Magistrats, abschriftlich an OPO, 17.1.1928.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)407
von Staffeltarifen bis zum Hafen Königsberg konnten die Frachtkosten theoretisch auf 8,30 Dollar reduziert werden.104 Vor diesem Hintergrund sah sich die Königsberger Wirtschaft veranlaßt, die Eisenbahnverwaltungen aller in Betracht kommenden Staaten (Deutschland, die UdSSR, die baltischen Staaten) zur Durchführung der Bestimmungen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens zu drängen.105 b) Die Reaktionen von Litauen, Polen und Lettland auf die deutschen und sowjetischen Eisenbahnwünsche Hauptstreitpunkt der neuen Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Litauen war offenbar die Regelung des Eisenbahnverkehrs. Gleich nach Inkrafttreten des ersten deutsch-litauischen Handelsvertrags legte im Mai 1926 die Reichsbahngesellschaft dem Auswärtigen Amt einen ersten Entwurf vor, der auf Grund der Anhörung der Königsberger Handelskammer abgefaßt worden war.106 Diesem Entwurf zufolge sollten folgende 104 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Anlage zum Schreiben der Stadtkämmerei (Magistrat) an OPO, 5.1.1928. 105 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, OPO an PreußHM, 9.8.1927. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Magistrat der Stadt Königsberg an OPO, 18.12.1928. 106 Der Antrag des Reichsverkehrsministeriums auf die Bestimmungen über den Wettbewerb der Ostseehäfen für den deutsch-litauischen Handelsvertrag lautete folgendermaßen: „1. Die Frachttarife auf den von und nach Königsberg (Pr.) (Pillau) führenden litauischen Eisenbahnlinien sind für Ein-, Aus- und Durchfuhr nicht nach ungünstigeren Grundsätzen zu bilden, als auf den nach irgend einem Ostseehafen von Memel bis Riga oder auf den nach der trockenen Grenze führenden litauischen Eisenbahnlinien. 2. Für die Tarifbildung sind die Tarifbildungsgrundsätze derjenigen Strecke maßgebend, deren Übertragung auf den Verkehr mit Königsberg (Pr.) (Pillau) für diesen Hafen am günstigsten ist. 3. Litauen einerseits und Deutschland anderseits werden entsprechend den Bedürfnissen des Handels direkte Gütertarife zwischen Königsberg (Pr.) (Pillau) und litauischen Stationen nach den in Absatz 1 und 2 genannten Grundsätzen aufstellen. 4. Litauen einerseits und Deutschland anderseits werden nach Maßgabe des Bedürfnisses direkte Tarife im Verkehr zwischen Königsberg (Pr.) (Pillau) einerseits und Stationen der Sowjetunion im Durchgang durch Litauen andererseits herstellen, sobald die Mitwirkung der Sowjetunion bei der Herstellung solcher Tarife sichergestellt ist. Über das Bedürfnis entscheidet der antragstellende Staat. 5. Litauen ist bereit, auf Antrag eines der an den in Ziffer 4 genannten direkten Tarifen beteiligten Staaten sich an der Durchrechnung dieser Tarife unter kilometrischer Verteilung des gesamten Frachtaufkommens zu beteiligen. Die Durchrechnung ist zunächst für Getreide aller Art, Ölfrüchte, Futtermittel, Kleie und Holz für den Verkehr nach Königsberg (Pr.) und auf Heringe für den Verkehr von Königsberg (Pr.) vorzunehmen.“ GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4, Anlage zum Schreiben der Deutschen Reichsbahngesellschaft an AA, 12.5.1926. Der Antrag des Reichsverkehrsministeriums wurde vollständig in den deutschen Entwurf aufgenommen, den das Auswärtige Amt Anfang 1928 zu den
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Regelungen getroffen werden: 1. Die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen dem Hafen Königsberg einerseits und den Häfen von Memel bis Riga andererseits durch die litauische Eisenbahn, 2. Die Regelung des Gütertransports zwischen den litauischen Stationen und dem Hafen Königsberg; hierbei sollten je nach Bedarf direkte Tarife von den litauischen Stationen bis zum Hafen Königsberg aufgestellt werden, 3. Die Regelung des Transitverkehrs durch Litauen bis zum Hafen Königsberg; die litauische Eisenbahnverwaltung sollte sich verpflichten, für den Transitverkehr zwischen den Stationen in der UdSSR einerseits und dem Hafen Königsberg andererseits sich je nach Bedarf an der Aufstellung direkter Tarife zu beteiligen. Die Grundlage dieses Entwurfs war der im Oktober 1925 abgeschlossene deutsch-sowjetische Handelsvertrag, und zwar dessen Artikel 4 des Eisenbahnabkommens. Die Aufgabe der neuen Eisenbahnbestimmungen mit Litauen sollte deshalb in erster Linie in der Ausführung des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens bestehen. Königsberg bedurfte allerdings der eisenbahntariflichen Gleichstellung nicht nur zwischen Königsberg und den Häfen von Memel bis Riga, sondern auch zwischen Königsberg und Danzig. Die ostpreußische Wirtschaft und die Reichsbahngesellschaft hatten deshalb auch bei den deutsch-polnischen Eisenbahnverhandlungen wiederholt die Aufnahme dieser Klausel gefordert. Die deutschen Entwürfe für die Verträge mit Litauen und Polen bezogen sich deshalb auf das gleiche Prinzip. Der Entwurf der deutschpolnischen Eisenbahnbestimmungen, der auf Grund der Anträge der ostpreußischen Wirtschaft107 von der Reichsbahngesellschaft Anfang Mai 1925 abgefaßt und der polnischen Seite vorgelegt worden war,108 sah folHandelsvertragsverhandlungen mit Litauen aufstellte. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, AA, 4.3.1928, Anlage: Entwurf des deutsch-litauischen Handelsvertrags (Artikel 20, Eisenbahnbestimmungen). 107 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 72, Heft 1, Aktenvermerk über die Besprechung von Eisenbahnfragen für das deutsch-polnische Wirtschaftsabkommen bei der Reichsbahndirektion Königsberg vom 5.3.1925. Bei dieser Vorbesprechungen zwischen den Ostverkehrsspezialisten der Reichsbahngesellschaft, wie Geheimrat Scholz, Möller (Kgb.), Holtz (Kgb.), Herzbruch (Breslau), einerseits und den Vertretern des Oberpräsidiums sowie der ostpreußischen Handelskammern andererseits wurde ein ostpreußischer Entwurf über die Regelung des Häfenwettbewerbs an der Ostsee aufgestellt. Dabei wurde jedoch die Einbeziehung des Hafens Stettin in die Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen nicht vorgesehen. Erst nach der Ausarbeitung durch den Verkehrsausschuß in Berlin in Mai 1925 wurde der Hafen Stettin trotz der Gegenwehr der ostpreußischen Wirtschaft in die Gleichstellungsklausel des deutschen Entwurfs einbezogen. 108 Unverbindlicher deutscher Entwurf der Bestimmungen über den Wettbewerb der Ostseehäfen für den deutsch-polnischen Handelsvertrag: 1. Die Frachttarife auf den nach Königsberg (Pillau), Elbing und Stettin führenden polnischen Eisenbahn linien sind für Ein-, Aus- und Durchfuhr nicht nach ungünstigeren Grundsätzen zu
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)409
gende drei Regelungen vor: 1. Die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen, insbesondere zwischen den deutschen Häfen Königsberg, Elbing, Stettin einerseits und den von Putzig bis Riga bestehenden Ostseehäfen andererseits. Zu letzteren gehörten die Häfen Danzig und Memel. 2. Die Aufstellung direkter Tarife für den Gütertransport zwischen den polnischen Stationen und den deutschen Ostseehäfen. 3. Die Regelung des Transitverkehrs der Häfen Königsberg und Elbing mit Litauen, Lettland sowie der UdSSR durch Polen. Hierbei sollte sich Polen dazu verpflichten, sich an der Aufstellung direkter Tarife zwischen den beiden ostpreußischen Häfen einerseits und den litauischen, lettischen sowie sowjetischen Stationen andererseits zu beteiligen. Die deutsche Reichsbahngesellschaft sowie die ostpreußischen Wirtschaftsvertreter waren bis zum Abbruch der deutschpolnischen Wirtschaftsverhandlungen, also bis zum Ausbruch des deutschpolnischen Zollkriegs im Juni 1925, stets darum bemüht, die Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen zu erreichen. Polen lehnte jedoch diese Wünsche strikt ab. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre versuchte Deutschland, die Verhandlungen mit Polen wieder aufzunehmen. Dabei stieß aber der Wunsch nach der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen stets auf Schwierigkeiten. Die deutschen Wirtschaftskreise, vor allem in Stettin und Königsberg, hatten ein Interesse daran, nicht nur den Transitverkehr mit der UdSSR durch Polen, sondern auch die Ein- und Ausfuhr Polens über die Ostseehäfen einer eisenbahntariflichen Häfenwettbewerbsregelung zu unterwerfen. Diese Forderung Deutschlands rief in Polen erhebliche Gegenwehr hervor. In Warschau reagierte man mit einer gegen Deutschland gerichteten Pressekampagne und brachte zum Ausdruck: „Diebilden als auf den nach irgend einem Ostseehafen von Putzig bis Riga oder auf den nach der trockenen Grenze führenden Eisenbahnlinien. 2. Für die Tarifbildung sind die Tarifbildungsgrundsätze derjenigen Strecke maßgebend, deren Übertragung auf den Verkehr mit den oben angegebenen deutschen Plätzen für diese am günstigsten ist. 3. Polen einerseits und Deutschland andererseits werden entsprechend den Bedürfnissen des Handels direkte Gütertarife zwischen Königsberg (Pillau), Elbing und Stettin einerseits und den polnischen Stationen andererseits nach den in Absatz I und II genannten Grundsätzen aufstellen. 4. Die vorstehenden Grundsätze dürfen nicht durch Schaffung günstiger Tarife für Binnenplätze umgangen werden, auf denen die Sendungen umbehandelt werden könnten. 5. Polen einerseits und Deutschland andererseits verpflichten sich, direkte Tarife im Verkehr zwischen Königsberg (Pillau) und Elbing einerseits und den polnischen Stationen andererseits im Durchgang durch Litauen, lettischen Stationen im Durchgang durch Polen und Litauen und russischen Stationen im Durchgang durch Lettland, Polen und Litauen herzustellen, sobald die Mitwirkung der in Betracht kommenden dritten Staaten bei der Herstellung solcher Tarife sichergestellt ist. (Direkte Tarife). GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 72, Heft 1, Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses bei den deutsch-polnischen Wirtschaftsverhandlungen (Geheimrat Scholz) an AA, 8.5.1925.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
se Forderung der deutschen Kreise läuft auf nichts anderes hinaus, als auf eine neue Teilung Polens, nicht in politischer, sondern in wirtschaftlicher Hinsicht“ und stellte schließlich fest, daß Deutschland lediglich darauf abziele, „unsere selbständige Seepolitik zu lähmen“.109 Gegen die Anträge Deutschlands auf die Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen wurden nicht nur in Polen und Litauen, sondern auch in Lettland scharfe Proteste erhoben. Zu den Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Lettland beantragte die Königsberger Handelskammer unter Zustimmung der Reichsbahngesellschaft die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen und die Zusicherung der Aufstellung direkter Tarife von der UdSSR durch die baltischen Staaten bis zum Hafen Königsberg, um so die Bestimmungen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags von 1925 zur Geltung zu bringen.110 In den Verhandlungen wandte sich die lettische Delegation jedoch strikt dagegen. Das Auswärtige Amt beschloß schließlich, diese Königsberger Anträge fallenzulassen.111 Daher wurde in den am 28. Juni 1926 unterzeichneten deutsch-lettischen Handelsvertrag keine Klausel über die lettische Verpflichtung zur Beteiligung an durchgehenden Transittarifen von der UdSSR bis Königsberg aufgenommen.112 Im Vergleich dazu wurde im Handelsvertrag zwischen Lettland und der UdSSR vom Juni 1927 die Gleichbehandlung der lettischen Häfen mit anderen Ostseehäfen beim sowjetischen Güterbahnverkehr gewährt.113 Gegen diesen Handelsvertrag veranstaltete man aber in Riga eine Massenkundgebung, durch welche die vorgesehene Ratifizierung erheblich verzögert wurde. Das eigentliche Ziel der Kundgebung richtete sich allerdings auf den Umsturz der sozialdemokratischen Regierung in Lettland.114 Dabei wurde die Klausel über die Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen als das beste 109 „Polens
Kampf um die Seepolitik“, in: OEM, 8. Jg., Nr. 8, 15.1.1928, S. 154. PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 135, Abschrift, Reichsbahngesellschaft Generaldirektor Oeser an AA, 27.1.1926. Abschrift, IHK Königsberg an AA, RVM, RWiM, 19.2.1926. 111 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 309, Abschrift, IHK Königsberg an Magistrat, 11.1.1928. 112 RGBl. 1926, II, S. 631 f. Eisenbahnbestimmungen in Anlage A zu Artikel III des deutsch-lettischen Handelsvertrags vom 28. Juni 1926. 113 Art. 9 Ziff. 5 (Die eisenbahntarifliche Bestimmung für die Beförderung nach den Häfen an der Ostsee.) Der ins Englische übersetzte Vertragstext „Treaty of commerce between Latvia and the Union of Socialist Soviet Republics, signed at Moscow, June 2, 1927“ in: Latvian-Russian Relations. Documents, compiled by Alfred Bilmanis, Washington 1944 (Second printing 1978), S. 148 f. 114 Die sozialdemokratische Partei war während der zweiten Hälfte der 20er Jahre in Lettland die stärkste Partei. Über die Auseinandersetzung mit der Agrarpartei sowie Bauernbund (the Farmers’ Union) siehe History of Latvia, the 20th Century, Daina Bleiere u. a., Riga 2006, S. 158 f. Im Jahr 1925 / 26 war Ulmanis (Bauernbund) Ministerpräsident Lettlands, siehe hierzu Rauch (1990), S. 94 f. 110 GStA
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)411
Beispiel einer Beeinträchtigung der Wirtschaftsrechte Lettlands von den Oppositionsparteien scharf kritisiert.115 Mitte Juli 1927 wurden in Berlin die deutsch-litauischen Verhandlungen zum Zweck der Revision des ersten Handelsvertrags aufgenommen. Es bestand zwischen beiden Parteien Einigkeit darüber, daß die gegenseitige Meistbegünstigung als Grundlage der deutsch-litauischen Wirtschaftsverhältnisse im neuen Handelsvertrag ebenso wie im ersten Handelsvertrag als Grundlage der Wirtschaftsverhältnisse beigehalten werden solle. Dabei beantragte der Gesandte Sidzikauskas, zunächst die von Litauen den baltischen Staaten eingeräumten Begünstigungen von der Meistbegünstigung auszunehmen. Das Auswärtige Amt betrachtete die Ausnahmeregelung als unparitätisch. Dennoch äußerte es anfänglich, diesen Wunsch zur Erwägung zu ziehen. Hinsichtlich der Eisenbahnfrage erklärte Sidziakuskas ganz offen, daß Litauen anstreben müsse, den direkten Güterverkehr nach der UdSSR abzuwickeln. Daher bat er die deutsche Delegation darum, in der Frage der Regelung der Eisenbahntarife dem litauischen Wunsche Rechnung zu tragen.116 Die Wirtschaftsstrategie Litauens, den Hafen Memel als Export- und Importhafen der UdSSR an der Ostsee zu fördern, was gerade den Interessen des Königsberger Hafens entgegenstand, war Sidzikauskas’ Ausführungen deutlich zu entnehmen. Nachdem das Eisenbahnabkommen im Rahmen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 zustande gekommen war, argwöhnten die baltischen Länder, daß zwischen Deutschland und Rußland bei diesem Vertrag eine Sondervereinbarung getroffen worden sei. Das Gerücht ging um, daß die Bevorzugung des Königsberger Hafens beim russischen Transitverkehr nur unter Vernachlässigung der anderen Ostseehäfen gewährt worden sei. Litauen versuchte deshalb die anderen baltischen Länder dazu zu veranlassen, sich gemeinsam gegen die Bevorzugung Königsbergs zu wehren.117 Unter diesen Umständen war es besonders schwierig, die Mitwirkungsbereitschaft der Transitländer zur Einführung direkter Tarife zwischen Königsberg und der UdSSR zu erreichen. Die Entwicklung des sowjetischen Außenhandels über den Königsberger Hafen war trotz des Abschlusses des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags nicht zufriedenstellend. Dennoch bemühte sich die Sowjetregierung, wenigstens noch im Jahr 1926 / 27, ihre Verpflichtungen gegenüber der Stadt Königsberg, die sowohl aus dem Kre115 „Der lettländisch-russische Wirtschaftsvertrag“, in: OEM, 8. Jg., Nr. 3, 1.11. 1927, S. 71 f. 116 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, AA, Protokoll über die Sitzung der deutsch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen im AA vom 21.7.1927. 117 BA, R 5 / 321, Telegramm, Deutsche Gesandtschaft in Riga (Köster) an AA, 26.10.1926.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
ditabkommen als auch aus dem Eisenbahnabkommen erwuchsen, zu erfüllen. Bei den Moskauer Wirtschaftsverhandlungen zwischen Litauen und der UdSSR vom November 1926 äußerte die litauische Delegation gegenüber dem Außenkommissariat den Wunsch, eine Klausel in den abzuschließenden sowjetisch-litauischen Handelsvertrag aufzunehmen. Danach sollte der Memeler Hafen bei der russischen Ein- und Ausfuhr mit dem Hafen Königsberg gleichbehandelt werden. Der sowjetische Sitzungsvorsitzende, Boris Stomonjakov, wies jedoch diesen Antrag ab und erklärte, daß die UdSSR gegebenenfalls bereit sei, den Memeler Hafen mit den Ostseehäfen Reval, Riga sowie Libau gleichzubehandeln, aber weder mit dem Hafen Königsberg noch mit den Häfen der UdSSR.118 Der Wunsch Litauens nach der Förderung des Memeler Hafens, den Sidzikauskas in den Berliner Verhandlungen vom Juli 1927 der deutschen Delegation gegenüber äußerte, erhellt deutlich die Problematik des deutschen Entwurfs der deutsch-litauischen Eisenbahnbestimmungen. In diesem Entwurf wurde vorgesehen, der litauischen Bahnverwaltung die Verpflichtung aufzuerlegen, direkte Gütertarife von den litauischen Verladestationen bis zum Hafen Königsberg aufzustellen und sich an Staffeltarifen für den Transitverkehr von der UdSSR bis zum Hafen Königsberg zu beteiligen. Problematisch war vor allem, daß dieser Entwurf keine gegenseitige Verpflichtung Deutschlands und Litauens vorsah. Ihm zufolge war die deutsche Bahnverwaltung nicht dazu verpflichtet, sowohl für den Verkehr aus Ostpreußen nach dem Hafen Memel direkte Gütertarife aufzustellen als auch an der Aufstellung von Staffeltarifen für den Transitverkehr von Polen durch Ostpreußen bis zum Hafen Memel mitzuwirken. Ebenfalls war es überhaupt nicht als vertragliche Verpflichtung Deutschlands zu betrachten, die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Häfen Königsberg und Memel bei dem Verkehr von den ostpreußischen Verladestationen bis zu diesen Häfen, bzw. bei den Transitverkehr von Polen durch Ostpreußen bis zu diesen Häfen zu gewährleisten. Es kam schließlich auf die einseitige Gewährung der Gleichstellung Königsbergs mit Memel beim Verkehr mit Litauen sowie beim Transitverkehr mit der UdSSR an. Diese Problematik kam gerade in der Erwiderung der deutschen Delegation auf die Äußerung von Sidziakauskas zum Vorschein, nämlich „daß die deutsche Regierung gezwungen sei, auf Ostpreußen die allergrößte Rücksicht zu nehmen, dessen Interesse in erster Linie gestützt werden müsse; hieraus ergebe sich die Notwendigkeit, dem Königsberger Hafen soviel Verkehr als möglich zuzuführen.“119 118 BA,
R 5 / 321, Deutsches Generalkonsulat in Memel an AA, 13.11.1926. PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, AA, Protokoll über die Sitzung der deutsch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen im AA vom 21.7.1927. 119 GStA
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)413
Unter diesen Umständen war es nicht zu vermeiden, daß die Handelsvertragsverhandlungen durch die divergierenden Interessen zwischen Deutschland und Litauen um die Eisenbahntariffrage, insbesondere durch den Kampf um das Rußlandgeschäft an der Ostsee, verschleppt wurden. c) Die Eisenbahnfrage und der Abschluß des zweiten Handelsvertrags am 30. Oktober 1928 Obwohl Voldemaras Ende Januar 1928 als Gegenleistung Litauens auf die Annahme der deutschen Wünsche eingegangen war, leistete die litauische Delegation bei den Ende April 1928 wiederaufgenommenen Handelsvertragsverhandlungen energischen Widerstand sowohl gegen die Aufhebung der Holzausfuhrzölle als auch gegen die Gewährung der Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg. Sie lehnte es ab, auf die eisenbahntarifliche Bevorzugung des Memeler Hafens zu verzichten. Kowno war gerade dabei, mit Hilfe der Eisenbahntarifpolitik das Memeler Hafengeschäft zu stützen. Die Delegation äußerte ganz offen, daß die Kownoer Regierung aus innenpolitischen Gründen die Verantwortung für diese Klausel wahrscheinlich nicht übernehmen würde, weil man den Protest der Memeler Wirtschaftskreise gegen eine solche Entscheidung befürchte.120 Die litauische Delegation unterbreitete der deutschen Seite einen Gegenentwurf, der weder die Regelung des Häfenwettbewerbs noch die Verpflichtung für die Mitwirkung an Staffeltarifen vorsah.121 Daraufhin erwiderte aber die deutsche Delegation, daß ein Verzicht auf die Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg insbesondere im Interesse der Königsberger Handelskreise nicht angängig sei. Sie erklärte nachdrücklich, daß die Unterzeichnung des Handelsvertrags von der Annahme dieser Klausel abhänge.122 Die konsequente Ablehnung des deutschen Wunsches durch Litauen ging offenbar darauf zurück, daß der deutsche Entwurf keine gegenseitige Verpflichtung für die deutschen und litauischen Bahnverwaltungen vorsah. Danach sollte Deutschland nicht dazu verpflichtet sein, die Beförderung von den ostpreußischen Verladestationen bzw. von den polnischen Verladestationen durch Ostpreußen bis zum Hafen Memel eisenbahntariflich nicht ungünstiger als die Beförderung bis zum Hafen Königsberg zu behandeln. Es war unbestreitbar, daß der deutsche Entwurf im Interesse des Königsberger 120 GStA PK,
1928.
I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, Vermerk, PreußHM, 16.5.
121 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6, AA an sämtliche Minister, Exemplar des litauischen Entwurfs, 20.4.1928. 122 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, Vermerk, PreußHM, 16.5. 1928.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Hafens Litauen einseitig die Verpflichtung auferlegte, die eisenbahntarif liche Bevorzugung des Memeler Hafens aufzuheben. Während der schwebenden Verhandlungen machte die deutsche Delega tion weitere Kompromißvorschläge. Zum einen durften direkte Gütertarife für einige bestimmte Artikel, wie z. B. Schiffbaueisen, bei dem Transport von den ostpreußischen Verladestationen bis zum Memeler Hafen durch die deutsche Bahnverwaltung aufgestellt werden. Zum anderen sollte die im deutschen Entwurf vorgesehene Regelung zunächst drei Jahre Geltung haben. Nach Ablauf dieser Dauer sollte die Frage erneut geprüft werden, ob diese Regelung wirklich für den Memeler Hafen untragbar sei. Die litauische Delegation lehnte diese Kompromißvorschläge zunächst ab. Im Juli 1928 teilte jedoch Sidzikauskas die Bereitschaft der litauischen Regierung mit, auf den Vorschlag der deutschen Delegation einzugehen, unter der Voraussetzung, daß Deutschland dem litauischen Wunsche nach dem Vorbehalt der Kabotage jenseits von Schmalleningken auf der Memel nachgebe. Nicht zuletzt stellte Litauen dabei die Bedingung, daß die einseitige Verpflichtung der Gewährung der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Häfen Königsberg und Memel nach drei Jahren durch eine gegenseitige Verpflichtung ersetzt werden solle. Die litauische Delegation legte Wert darauf, diese Vereinbarung in einen dem abzuschließenden Handelsvertrag beizufügenden geheimen Notenwechsel aufzunehmen.123 Einen Monat nach dieser Vereinbarung zwischen Legationsrat Eisenlohr (AA) und Sidzikauskas erhob die litauische Delegation abermals Einwände gegen die Annahme des deutschen Entwurfs in der Frage der Eisenbahnbestimmungen. Anfang August 1928 teilte Sidzikauskas der deutschen Seite mit, daß Litauen zwar bereit sei, während der drei Jahre nach dem Inkrafttreten des Handelsvertrags die von Deutschland gewünschte einseitige Gewährung der Gleichstellung zwischen den Häfen Königsberg und Memel einzuhalten. Die litauische Regierung erachte aber aus innenpolitischen Gründen diese Klausel für untragbar, weil sich die Memeler Wirtschaftskreise heftig gegen die Gewährung der Gleichstellung verwahrten und auf der Beibehaltung der litauischen Vorzugstarife für den Memeler Hafen bestanden. Die Annahme dieser Klausel würde deshalb in Memel den Eindruck erwecken, daß Kowno dem Druck Königsbergs nachgegeben hätte. So wies Sidzikauskas auf die Notwendigkeit hin, die Klausel über die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg gänzlich aus dem Hauptvertrag zu streichen und statt dessen in ein geheimes Schlußprotokoll aufzunehmen. Als Gegenleistung Litauens schlug er den Verzicht auf die Erneuerung der Eisenbahnbestimmungen 123 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6, Vermerk, OPV (Frankenbach), 4.7.1928.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)415
nach dem Ablauf von drei Jahren sowie auf die Ersetzung durch die Gegenseitigkeit vor.124 Der neueste Vorschlag Litauens schien zwar zunächst für die deutsche Seite günstig. Ihm zufolge mußte Deutschland den Litauern die Gegenseitigkeit nicht mehr einräumen, wenn die Regelung des Häfenwettbewerbs lediglich im Rahmen eines geheimen Protokolls gesichert würde. Der litauische Vorschlag erregte aber in Deutschland Bedenken. Zum einen war überhaupt unsicher, ob Litauen die Bestimmungen eines nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schlußprotokolls einhalten würde. Hierzu stellte die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts die Unverbindlichkeit solcher geheimen Vereinbarungen für die etwaigen Rechtsnachfolger fest. Daher vertrat das Amt den Standpunkt, daß Deutschland den Vorschlag Litauens ablehnen solle.125 Zum anderen standen die Reichsbahngesellschaft (Geheimrat Scholz) sowie das preußische Handelsministerium dem Vorschlag Litauens skeptisch gegenüber. Mit Rücksicht auf den etwaigen Einfluß auf die Verhandlungen mit Polen waren die Verkehrs- und Wirtschaftsinstanzen einstimmig der Ansicht, daß man ihn zurückweisen solle. Falls die Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg allein im geheimen Protokoll zwischen Deutschland und Litauen vereinbart würde, könnte sich Deutschland bei Verhandlungen mit Polen über die Gewährung der Gleichstellung zwischen den Häfen Danzig und Königsberg nicht auf den Vertrag mit Litauen berufen.126 Auch das Auswärtige Amt bewertete diesen litauischen Vorschlag kritisch, da das Reich sich der polnischen Regierung gegenüber nur auf ein Geheimabkommen mit Litauen berufen könne.127 Aus diesen Gründen beschloß die deutsche Delegation, den litauischen Vorschlag zurückzuweisen. Die litauische Delegation beharrte hingegen strikt darauf, entweder das Geheimprotokoll anzunehmen oder die Gegenseitigkeit des eisenbahntariflichen Gleichstellung im Hauptvertrag zu gewähren. So hing der Abschluß des zweiten Handelsvertrags wesentlich von dieser Frage ab. Die Einigung hierüber wurde letztlich bei den Abschlußverhandlungen Ende Oktober 1928 in Berlin erzielt, da Deutschland schließ124 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6, Aktenvermerk (Frankenbach) über die Besprechung im AA betr. Artikel 22 (Hafenwettbewerbstarif) des Entwurfs eines Handels- und Schiffahrtsvertrags zwischen dem Deutschen Reich und der Republik Litauen, 3.8.1928. 125 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6, Vermerk, Frankenbach, 7.8.1928. 126 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6, Aktenvermerk (Frankenbach) über die Besprechung im AA betr. Artikel 22 (Hafenwettbewerbstarif) des Entwurfs eines Handels- und Schiffahrtsvertrags zwischen dem Deutschen Reich und der Republik Litauen, 3.8.1928. 127 PA AA, R 29239 (Büro StS), Dirksen, 22.8.1928.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
lich dem Wunsch Litauens insoweit nachgab, daß die Gegenseitigkeit der Verpflichtungen für die Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg im Rahmen des Hauptvertrags festgelegt wurde. Diese Klausel wurde als Artikel 22 des abgeschlossenen Handelsvertrags mit folgendem Wortlaut aufgenommen: „Jeder der vertragschließenden Teile ist verpflichtet, auf Verlangen des anderen Teiles auf seinen Eisenbahndurchgangsstrecken von und nach den ostpreußischen bzw. den litauischen Seehäfen keine ungünstigeren Durchfuhrtarife zur Anwendung zu bringen als für den Durchgangsverkehr von und nach den eigenen Seehäfen.“128 Problematisch war aber die Tatsache, daß aus diesen Bestimmungen eine den Interessen der ostpreußischen Holzindustrie sowie des Königsberger Hafens zuwiderlaufende Situation entstehen konnte. Danach sollten die aus Polen stammenden Hölzer über die polnisch-ostpreußische Grenzstation Grajewo / Prostken durch Ostpreußen nicht nach dem Hafen Königsberg, sondern durch Tilsit über das Memelgebiet bis zum Memeler Hafen abtransportiert werden. Denn die Beförderung durch Ostpreußen nach dem Hafen Memel war im Sinne von Artikel 22 eisenbahntariflich nicht ungünstiger zu behandeln als nach dem Hafen Königsberg. Dementsprechend mußten die polnischen Hölzer nicht in Ostpreußen bleiben, sondern konnten auch ohne weiteres durch Ostpreußen nach dem Memelgebiet befördert werden. Tatsächlich war die ostpreußische Holzindustrie dazu gezwungen, ihr Holz per Eisenbahn zu beziehen, solange die Memelflößerei unterbrochen blieb. Die Ablenkung der Rundhölzer nach dem Memelgebiet erschien deshalb der ostpreußischen Holzindustrie als besonders ungünstig. Im Interesse des Königsberger Hafens mußte außerdem vermieden werden, daß die in Ostpreußen verarbeiteten Hölzer zur Verschiffung aus dem Memeler Hafen abgelenkt würden. Mit Rücksicht darauf machte die deutsche Delegation ihre Annahme der litauischen Wünsche nach Gewährung der Gegenseitigkeit der Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg davon abhängig, ob Litauen auf die Ausnahmebehandlung der Holzbeförderung aus dem Gegenstand von Artikel 22 einginge. Diese Ausnahmeregelung sollte außerdem im Rahmen des geheimen Notenwechsels gesichert werden. Dieser Wunsch Deutschlands wurde von Litauen angenommen. Nach Mitteilung Frankenbachs wurde beschlossen, „daß Holz ganz allgemein, soweit es nach dem Hafen Memel gesandt werden soll, solange nicht von der Vereinbarung des Artikels 22 betroffen wird, als der Memelstrom gesperrt bleibt.“129 128 RGBl. 1929,
II, S. 105 f. I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6, OPV (Frankenbach) an Ministerpräsidenten, 29.10.1928. Dem zweiten deutsch-litauischen Handelsvertrag war nach der Mitteilung Frankenbachs ein nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Schlußprotokoll beigelegt worden, das sich allerdings nicht in diesem Aktenbestand 129 GStA PK,
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)417
Der zweite Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Republik Litauen wurde am 30. Oktober 1928 in Berlin zwischen Legationsrat Eisenlohr und Gesandtem Sidzikauskas unterzeichnet. Dabei einigten sich die beiden Parteien außerdem darauf, das im Jahr 1925 unterzeichnete Zusatzabkommen zu Artikel 20 des ersten Handelsvertrags (das sog. kleine Grenzverkehrsabkommen), das noch nicht ratifiziert worden war, baldmöglichst in Kraft zu setzen. Die litauische Regierung hatte sich bis dahin wiederholt gegen seine Ratifikation gesperrt. Während der Abschluß eines neuen Handelsvertrags in erster Linie im Interesse Litauens lag, maß Deutschland mit Rücksicht auf das Wirtschaftsleben der deutschen Grenzbewohner dem Inkrafttreten des kleinen Grenzverkehrsabkommens großen Wert bei. In diesem Kontext hatte die litauische Delegation die Ratifizierung des kleinen Grenzverkehrsabkommens taktisch ausgenutzt und sie schließlich vom Abschluß des zweiten Handelsvertrags abhängig gemacht, mit der Begründung, daß die Frage des Veterinärverfahrens sowie die Erweiterung des zollfreien Fleischeinfuhrkontingents des kleinen Grenzverkehrsabkommens lediglich im Zusammenhang mit dem neuen Handelsvertrag zu regeln seien.130 Dagegen schlug Deutschland vor, im Rahmen der Ausführungsbestimmungen des kleinen Grenzverkehrsabkommens diesem litauischen Wunsch entgegenzukommen und dadurch die Handelsvertragsverhandlungen zu beschleunigen.131 Das Auswärtige Amt, das die weitere Verschiebung der Ratifikation des kleinen Grenzverkehrsabkommens für nicht zweckmäßig hielt, sah sich dazu gezwungen, auf einen weiteren Kompromiß einzugehen. Die deutsche Delegation entschloß sich somit Ende Oktober 1928, dem Wunsch Litauens in der Frage der eisenbahntariflichen Gleichstellung, vor allem dem Wunsch Litauens nach der Gewährung der Gegenseitigkeit der Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg, nachzugeben. Mit diesem Kompromiß gelang es Berlin letztlich, sowohl den zweiten Handelsvertrag zum Abschluß zu bringen, als auch über die Ratifizierung des kleinen Grenzverkehrsabkommens eine feste Zusage Kownos zu erlangen.132 Im zweiten deutsch-litauischen Handelsvertrag wurde die gegenseitige Meistbegünstigung als Grundlage der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen festgestellt. Mit Rücksicht auf die Stellung Litauens als Transitland nach befindet. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 120, AA an OPV, 19.2.1929. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 120, OPV an OPO, 21.2.1929. 130 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 123, OPV, 25.8.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 123, OPV an OPO, 14.9.1928. 131 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6, AA an RMdI, RFM, OPV, u. a., 26.6.1928. 132 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6, OPV (Frankenbach) an Ministerpräsidenten, 29.10.1928.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
dem Osten wurde dabei auf die Regelung der Verkehrsverhältnisse (Eisenbahn und Binnenschiffahrt) besonderer Wert gelegt. In bezug auf die Binnenschiffahrtsbestimmungen ging es um die Sicherstellung der deutschen Rechte auf der Memel, vor allem in Flößereiangelegenheiten. Dagegen wurde im zweiten Handelsvertrag keine neue Wirtschaftsregelung getroffen. Für die Zolltarife sollte nach wie vor die Meistbegünstigung gelten. Hierzu sollten u. a. die Rechte, die im Rahmen des sog. kleinen Grenzverkehrsabkommens den Grenzanrainern gewährt wurden, sowie die Rechte, die Litauen durch ein besonderes Abkommen Estland und Lettland einräumte, von der Meistbegünstigung ausgenommen werden (Artikel 31). Für Litauen war der Abschluß des Handelsvertrags mit Deutschland gewiß mehr von politischer als von wirtschaftlicher Bedeutung. Artikel 5 regelte die Requisitionen von Kraftfahrzeugen, Pferden sowie Lufttransportmitteln usw. im Kriegsfalle. Danach durften im Kriegsfalle die Transportmittel sowie Anlagen eines vertragschließenden Teils, die sich auf dem Gebiet des anderen Teils befanden, zur Requisition bzw. Einquartierung eingezogen werden.133 Hinsichtlich der Eisenbahnbestimmungen des zweiten Handelsvertrags sind folgende Regelungen hervorzuheben: 1. Die Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg: In Artikel 22 wurde die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg auf Grund der gegenseitigen Verpflichtung der Eisenbahnverwaltungen beider Staaten gewährt. 2. Die Aufstellung direkter Tarife bis zum Hafen Königsberg: Artikel 23 bestimmte die Aufstellung direkter Gütertarife für den deutsch-litauischen Verkehr zwischen dem Königsberger Hafen und den litauischen Eisenbahnstationen sowie für den Transitverkehr zwischen dem Königsberger Hafen und den jenseits von Litauen gelegenen Ländern durch Litauen. 3. Das Einverständnis Litauens für die Durchrechnung direkter Tarife (Staffeltarife) von der UdSSR sowie den baltischen Staaten bis zum Hafen Königsberg: In Artikel 24 wurde somit die vorherige Anerkennung Litauens für die Durchrechnung direkter Tarife (Staffeltarife) beim Transitverkehr zwischen den jenseits von Litauen gelegenen Ländern und dem Hafen Königsberg durch Litauen erzielt. Diese Klausel war im Zusammenhang mit den Bestimmungen von Artikel 4 des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens von Bedeutung. Dabei wurde der litauischen Bahnverwaltung das Recht eingeräumt, für den etwaigen Ausfall ihrer Frachteinnahmen, der sich 133 RGBl. 1929, II, S. 104 f. Vgl. Kiebeler (1934), S. 188 f. Im Hinblick auf die Bestimmungen von Artikel 5 vertrat Kiebeler den Standpunkt, daß der neue Handelsvertrag „eine eminente ostpolitische Note“ sei.
IV. Die deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen II (1926–28)419
aus den Differenzen zwischen Staffeln und normalen Durchfuhrtarifen ergab, eine Vergütung zu verlangen. Die deutsche Bahnverwaltung war jedoch nicht dazu verpflichtet, für den Transitverkehr von Polen über Ostpreußen bis zum Hafen Memel direkte Tarife bzw. Staffeltarife aufzustellen.134
134 RGBl. 1929, II, S. 104 ff. (S. 111 f.). Valsonok (Valsonokas), der nach Angaben des englischen Außenministeriums als Agent der polnischen Regierung das Memelgebiet betreten und auf die öffentliche Meinung des Memelgebiets (Memeler Allgemeine Zeitung) sowie auf den Memeler Gouverneur zu beeinflussen versucht hatte, kritisierte besonders die Eisenbahnbestimmungen des neuen deutsch-litauischen Handelsvertrags, weil die deutsche Eisenbahnverwaltung nicht verpflichtet war, für den Transitverkehr von Polen über Ostpreußen bis zum Memeler Hafen Staffeltarife aufzustellen. Valsonok (1933), S. 36 f. BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 62, Doc. 91, Mr. Knatchbull-Hugessen to Sir John Simon, 16.3.1932, S. 140 f.
Kapitel V
Vom Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg bis zum Moskauer Besuch des Oberpräsidenten 1. Die politische Krise im Völkerbund im Sommer 19281 Auf der ersten Königsberger Konferenz vom April 1928 wurde letztlich keine Einigung zwischen der polnischen und der litauischen Delegation über die Wiederherstellung gutnachbarlicher Beziehungen erzielt. Auf der Konferenz forderte die polnische Delegation Litauen zunächst auf, in Verhandlungen über die Öffnung des Verkehrs (Eisenbahn, Post und Telegraphen) sowie die Wiederherstellung wirtschaftlicher Beziehungen einzutreten. Die litauische Delegation lehnte diesen Vorschlag ab. Sie wies die polnische Seite darauf hin, daß Litauen nicht in der Lage sei, Verhandlungen in dieser Angelegenheit aufzunehmen, solange die Souveränitätsfrage des Wilnagebiets nicht geklärt sei. Darüber hinaus machte sie die Aufnahme der Wirtschafts- und Verkehrsverhandlungen davon abhängig, daß die polnische Regierung auf die Entschädigung für die Verletzung des Suwalki-Vertrags eingehe. So regte sie an, vor Beginn der Wirtschafts- und Verkehrsgespräche erst über die folgenden zwei Angelegenheiten zu verhandeln: 1. die Entschädigung für die durch Żeligowskis Gewaltakt und die polnische Okkupation in Wilna entstandenen Schäden, 2. die Sicherheitsgarantie für Litauen, vor allem die Schaffung einer entmilitarisierten Zone an der polnischlitauischen Demarkationslinie.2 Durch diese Forderungen Litauens, die den Rahmen der Resolution des Völkerbundsrats vom 10. Dezember 1927 deutlich überschritten, war die erste polnisch-litauische Konferenz vom Scheitern bedroht. Um dem Geist der Genfer Resolution, welche die Verhandlungsaufnahme über die Wiederherstellung gutnachbarlicher Beziehungen gefordert hatte, nachzukommen, wurde deshalb am letzten Tage der 1 Zur polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg vgl. Łossowski (1985) sowie Senn (1966). 2 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome I, N° 17, Note du Président de la Délegation lithuanienne au Président de la Délegation polonaise, 31.3.1928, S. 39 ff.; Ebd., N° 24, Note du Président de la Délegation lithuanienne au Président de la Délegation polonaise, 1.4.1928. Mémoire concernant la sécurité de l’État lithuanien, S. 46 ff.
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg421
Königsberger Konferenz beschlossen, zur Vermeidung einer Verhandlungsunterbrechung die von Vertretern beider Staaten zu bildenden drei Kommissionen einzuberufen und sie mit der Fortführung der Verhandlungen zu beauftragen (Kommission I in Kowno für die Wirtschafts- und Verkehrsfrage; Kommission II in Warschau für die Sicherheits- und Entschädigungsfrage; Kommission III in Berlin für die Regelung des kleinen Grenzverkehrs / trafic local).3 Auch die gleich nach Abschluß der ersten Königsberger Konferenz aufgenommenen Kommissionsverhandlungen verliefen allerdings nicht ohne Schwierigkeiten. Während die Sicherheitsfrage sowie die Wirtschafts- und Transitverhandlungen infolge der divergierenden Interessen beider Seiten um das Wilnagebiet von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, bemühten sich die beiden Delegationen, wenigstens eine Konvention in der Frage der Regelung des kleinen Grenzverkehrs zustande zu bringen, um so dem Völkerbundsrat ihren Willen zur Erfüllung der Resolution zu beweisen. Zu Beginn der Kommissionsverhandlungen beantragte die litauische Delega tion, in der abzuschließenden Konvention den Ausdruck Grenzverkehr zu vermeiden. Kowno stand entgegen dem Beschluß der Botschafterkonferenz stets auf dem Standpunkt, daß die polnisch-litauische Grenze noch nicht festgelegt worden sei. So schlug die litauische Delegation vor, alle Regelungen im Sinne der Demarkationslinie vorzunehmen. Hingegen legte die polnische Delegation Wert darauf, diese Linie als „frontier“ zu bezeichnen. Letztlich einigten sich die beiden Delegationen darauf, das abzuschließende Abkommen als „Regelung des lokalen Verkehrs an der administrativen Linie (trafic local)“ zu bezeichnen.4 Die am 21. Mai 1928 in Berlin aufgenommenen Kommissionsverhandlungen zwischen Polen und Litauen über die Regelung von „trafic local“ waren insofern erfolgreich, als der dabei ausgearbeitete Konventionsentwurf durch die beiden Bevollmächtigten, dem polnischen Vertreter Czudowski und dem litauischen Gesandten Sidzikauskas, bereits am 26. Mai, nur fünf Tage nach Verhandlungsbeginn, paraphiert werden konnte.5 Die Konvention über den trafic local beschränkte sich auf die Regelung der wirtschaftlichen Verhältnisse der innerhalb des 15 km breiten Grenzstreifens ansässigen Grenzbewohner beider Staaten. In diesem 3 PA AA, R 28645 (Büro Reichsminister), StS (Schubert), 3.4.1928. Über die Ergebnisse der beiden Königsberger Konferenzen siehe auch PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Aufzeichnung, 15.8.1929. 4 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome II, N° 25, Procès-verbal de la deuxième Séance de la Commission Juridique et de Trafic local, tenue à Berlin, le 22 mai 1928, S. 123 ff. 5 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome II, N° 29, Procès-verbal de la septième Séance de la Commission Juridique et du Trafic local, tenue à Berlin, le 26 mai 1928, S. 130 ff.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Sinne konnte die Konvention über den trafic local keine Wirkung auf die Öffnung des allgemeinen Handelsverkehrs zwischen Polen und Litauen oder auch auf die Wiederherstellung des internationalen Transitverkehrs durch das Wilnagebiet haben. Im Gegensatz zu den ohne große Störung zum vorläufigen Abschluß gelangten Verhandlungen über den trafic local stieß die Regelung der allgemeinen Verkehrs- und Wirtschaftsverhältnisse, deren Kommissionsverhandlungen am 18. Mai 1928 in Warschau aufgenommen wurden, auf erhebliche Schwierigkeiten. Gegen den generellen Standpunkt Polens, daß seit der Entschließung der Botschafterkonferenz vom März 1923 keine Wilnafrage mehr bestehe, hielt Litauen es für berechtigt, ohne Entschädigung Polens für die militärische Invasion nicht auf die Wiederherstellung des direkten Handelsverkehrs einzugehen. Die litauische Delegation zeigte insoweit ihre Kompromißbereitschaft, den bestehenden Handelsverkehr zwischen Polen und Litauen, der ausschließlich auf dem Umleitungswege über Ostpreußen bzw. Lettland stattfand und bisher von der litauischen Regierung prinzipiell als illegal erachtet wurde, zu legalisieren. Unter diesen Umständen war es unmöglich, einen gemeinsamen Anhaltspunkt über die Sicherheitsfrage zu finden, deren Kommissionsverhandlungen in Kowno aufgenommen wurden. Litauen war außerdem bestrebt, die Frage einer endgültigen Unterzeichnung der in Berlin paraphierten Konvention von trafic local in diesem Zusammenhang auszunutzen. Während Litauen einen gleichzeitigen Abschluß der Konvention über den kleinen Grenzverkehr mit einer Konvention über die Sicherheitsfrage für notwendig hielt, lehnte Polen diesen Wunsch ab. Die polnische Delegation stand konsequent auf dem Standpunkt, nicht nur den kleinen Grenzverkehr, sondern auch den allgemeinen direkten Verkehr (Eisenbahn, Post- und Telegraphenverbindungen) wiederherzustellen. Somit trat in die polnisch-litauischen Verhandlungen Ende Mai 1928 abermals ein Stillstand ein. Im Mai 1928 wurde die neue litauische Verfassung erlassen, die Wilna als Hauptstadt der Republik festlegte. Dies kam einer politischen Provokation gegen die bisherigen Vermittlungsversuche des Völkerbundsrats gleich. Trotz des fortdauernden Anspruchs Litauens auf litauische Souveränität im Wilnagebiet, der die gesamten Verhandlungen zum Scheitern zu bringen drohte, versuchte der britische Außenminister Chamberlain, die Kownoer Regierung dazu zu überreden, die Verhandlungen mit Polen auf realistischer Basis fortzuführen. Mitte Mai äußerte Chamberlain bei einer Besprechung mit Voldemaras in London, daß die litauische Regierung im Falle einer weiteren Weigerung gegen die Verhandlungen mit Polen keine Unterstützung sowohl in London als auch in Genf mehr fände. Er schlug vor, in praktischer Hinsicht die Verhältnisse zwischen Polen und Litauen zu normalisieren. Problematisch war jedoch, daß Chamberlain dabei besonderen
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg423
Nachdruck darauf legte, daß Litauen zu diesem Zweck unsinnige Provokationen wie die Hauptstadtproklamierung unbedingt unterlassen solle.6 Ziel dieser Lösungsvorschläge Chamberlains war es, daß die litauische Regierung den bestehenden Zustand akzeptieren und so der Republik wenigstens ihre Unabhängigkeit wahren solle. Dies wäre allerdings dem litauischen Verzicht auf das Wilnagebiet gleichgekommen. Bei dieser Unterredung vermied es Chamberlain zwar, eine Lösung vorzuschlagen, die auch die Bildung einer Realunion zwischen Polen und Litauen in Betracht gezogen hätte.7 Gleichwohl provozierten seine Vorschläge, welche die Souveränitätsfrage des Wilnagebiets berührten, Voldemaras ungemein. Man mutmaßte in Kowno, „daß England nicht nur die Erfüllung der Resolution des Völkerbundsrats, sondern sogar auch die völlige Beilegung des polnisch-litauischen Konflikts, also die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen sowie Verzicht auf Wilna verlange.“8 Chamberlains Äußerungen, die unzweideutig die Grenze der Resolution des Völkerbundsrats vom 10. Dezember 1927 überschritten, empörten sowohl Kowno als auch Berlin und Moskau. Der britische Außenminister verlor offenbar seine Geduld mit Voldemaras. Man fürchtete in Berlin und Moskau, daß Chamberlain auf der bevorstehenden Juni-Tagung des Völkerbundsrats in Genf die Frage des polnisch-litauischen Streits von neuem aufrollen wolle. Um eine solche Entwicklung zu vermeiden, sah es das Auswärtige Amt als geboten an, die eigene Haltung in dieser Streitfrage gegenüber Großbritannien deutlich zu machen.9 Staatssekretär v. Schubert, der wegen der Juni-Ratstagung 1928 in Genf weilte, gelang es, in einer privaten Unterredung mit Chamberlain scharfen Protest gegen dessen Äußerung gegenüber Voldemaras einzulegen. Mit besonderem Nachdruck betonte Schubert die Mitschuld des Völkerbunds an der ungerechten Entschließung in der Frage der polnischen Ostgrenze und hob hervor, „daß man bei der Beurteilung des litauischen Verhaltens niemals vergessen dürfe, wie übel der Völkerbund den Litauern in der Vergangenheit bei der Behandlung der Wilna-Frage mitgespielt hätte.“10 Trotz dieser Rettungsversuche hatte jedoch das ungeschickte Verhalten Voldemaras’ auf der Juni-Ratstagung eine Schwächung der Stellung Litauens zur Folge. Zu Beginn der Ratssitzung stellte das niederländische Ratsmitglied, Beelaerts van Blokland, der mit der Berichterstattung über die polnisch-litauischen Angelegenheiten beauftragt 6 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 72, Sir Austen Chamberlain to Mr. Addison, 21.5.1928, S. 88. 7 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 76, Consul Parish to Mr. Addison, 31.5. 1928, S. 91 ff. 8 ADAP, Ser. B, Bd. IX, Dok. 45, Moraht (Kowno) an AA, 29.5.1928, S. 98 f. 9 ADAP, Ser. B, Bd. IX, Dok. 52, Moraht (Kowno) an AA, 31.5.1928, S. 107 ff. 10 ADAP, Ser. B, Bd. IX, Dok. 76, v. Schubert an AA, 15.6.1928, S. 168 ff.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
worden war, zum Stand der polnisch-litauischen Unterhandlungen mit Bedauern fest, daß die bisherigen Verhandlungen zu keinen nennenswerten Ergebnissen geführt hätten. Voldemaras wies alle Anfragen und Empfehlungen der Ratsmitglieder, die ihn zur Ausführung der Dezember-Resolution zu überreden versuchten, ohne Ausnahme zurück. Dies erweckte im Völkerbundsrat den Eindruck, daß man in Kowno keine baldige Lösung des polnisch-litauischen Konflikts wünsche. In diesem Moment wurde Chamberlain klar, wie man dieses Verhalten Voldemaras’ ausnutzen konnte. Chamberlain warf Voldemaras vor, daß seine Erwiderung geradezu als Provokation des Völkerbundsrats zu bewerten sei. Mit dieser Einlassung Chamberlains wurde die Debatte verschärft. Auf die provokanten Einwendungen Voldemaras’ erklärte der britische Außenminister nun mit aller Deutlichkeit, daß jedermann dem kleineren Land der beiden im Streit liegenden Länder, also Litauen, Sympathie entgegenbringen müsse, allerdings nur unter der Voraussetzung, „daß es seine Schwäche nicht ausnützt, um eine herausfordernde Haltung einzunehmen, die sich ein großes Volk einem zweiten großen Volke gegenüber nicht erlauben würde.“ Zum Schluß richtete er sich direkt an den litauischen Ministerpräsidenten: „Täuschen Sie sich nicht.“11 Im Gegensatz zu dieser ultimativen Äußerung Chamberlains bemühten sich dennoch Deutschland und Frankreich, wie in der gemeinsamen Verständigung Stresemanns und Briands bei der Genfer Verhandlung vom Dezember 1927 deutlich wurde, Litauen aus seiner politischen Notlage zu retten. Der französische Vertreter Paul-Boncour schloß sich hinsichtlich der Haltung Voldemaras’ zwar der Auffassung Chamberlains an und äußerte die Befürchtung, daß der Frieden in Osteuropa gefährdet sei. Er schlug aber als Kompromiß vor, daß der Völkerbundsrat sich erneut mit dieser Frage beschäftigen solle, um geeignete Maßnahmen zur Erfüllung der DezemberResolution zu treffen, für den Fall, daß die Verhandlungen zwischen Polen und Litauen innerhalb einer gesetzten Frist zu keinem positiven Ergebnis führten. Schubert verteidigte demgegenüber den Standpunkt Litauens. Er brachte zum Ausdruck, daß Deutschland Wert darauf lege, innerhalb einer möglichst kurzen Frist jede Ursache zu einer Störung der Beziehungen beider Nachbarstaaten beseitigt zu sehen. Er fügte hinzu, daß die beiden Parteien wenigstens einen Teilerfolg erzielen sollten. Trotz dieser Vorschläge Frankreichs und Deutschlands behielt Voldemaras seine Position bei. Er erinnerte daran, daß „die polnisch-litauische Streitfrage eine lange Geschichte habe, und daß man nicht hoffen dürfe, sie in einigen Monaten beizulegen.“ Da zwischen dem litauischen Ministerpräsidenten und den Ratsmitgliedern keine Übereinstimmung zu finden war, blieb dem Rat unter 11 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VIII (1928), Nr. 6, S. 213–215 (hier S. 214).
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg425
diesen Umständen nichts anderes übrig, als die Hoffnung zunächst darauf zu setzen, daß in den polnisch-litauischen Verhandlungen bis zur nächsten Ratstagung Fortschritte gemacht würden. Während Voldemaras keinen bestimmten Untersuchungstermin festgesetzt sehen wollte und deshalb die Formulierung „innerhalb einer möglichst kurzen Frist“ vorschlug, wies der Rat dieses Ansinnen einstimmig zurück. Voldemaras’ Manöver zog vielmehr einen noch härteren Beschluß des Rats nach sich. Der britische Außenminister forderte nun den Völkerbundsrat auf, „eine Entschließung anzunehmen, in welcher der Rat beschließen solle, nicht nur die Frage des Standes der Verhandlungen, sondern auch die Frage der polnisch-litauischen Beziehungen auf die Tagesordnung seiner nächsten Tagung zu setzen“, was einstimmig angenommen wurde.12 Deutschland und die UdSSR waren zwar außenpolitisch gemeinsam der Ansicht, die Unantastbarkeit der litauischen Souveränität gegen Polen bzw. gegen die britischen Absichten wahren zu müssen. Was jedoch Voldemaras anbetraf, teilten sowohl Berlin als auch Moskau die Abneigung Chamberlains gegen die Person des litauischen Ministerpräsidenten,13 der sich auf internationaler Bühne nicht selten ungeschickt verhielt. Im Hinblick auf die trotz der Erklärung Voldemaras’ gegenüber dem Völkerbund nicht einge haltenen Memelautonomie äußerte sich Stresemann einmal deutlich gegenüber dem britischen Botschafter in Berlin: „Lithuania, he [Stresemann] said, was identical with M. Waldemaras, and M. Waldemaras was perfectly impossible.“14 In einer Unterredung mit Brockdorff-Rantzau in Moskau, die gleich nach der Juni-Ratssitzung 1928 stattfand, wies Stomonjakov darauf hin, daß Voldemaras trotz der wiederholten Ermahnungen Rußlands zur Befolgung der Resolution des Völkerbundsrats seine Haltung nicht geändert habe, und pflichtete Stresemann bei: „Voldemaras ist ja ein verrückter Kerl.“15 Der litauische Staat, der infolge des diplomatischen Fehlverhaltens seines Ministerpräsidenten in eine äußerst ungünstige Lage 12 Ebd. Vgl. mit dem französischen Originaltext: Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome II, N° 3 / N° 4, Extrait du Procès-verbal de la troisième Séance de la 50ème session du Conseil de la Société des Nations, tenue à Genève, le 6 juin 1928, S. 13–30. 13 Zum Beispiel schrieb die Königsberger Allgemeine Zeitung über die Haltung Chamberlains gegen Voldemaras: „Herr Chamberlain, Typ des Westmenschen, hat wahrscheinlich in seinem Nervensystem keine Faser des Verstehens für diesen Mann des Ostens, der, urwüchsig, der Typ der litauischen Schollenmenschen zu sein scheint, der Sohn eines Landes, dessen Struktur von Ackerboden des Bauern bestimmt wird.“ Königsberger Allgemeine Zeitung, 54. Jg., Nr. 521, 4.11.1928. 14 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 36, Sir R. Lindsay to Sir Austen Chamberlain, 21.10.1927, S. 41. 15 ADAP, Ser. B, Bd. IX, Dok. 74, Brockdorff-Rantzau an AA, 13.6.1928, S. 165 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
im Völkerbund versetzt wurde, sollte, wie Brockdorff-Rantzau hinwies, jetzt unweigerlich selbst die Konsequenzen tragen. Berlin und Moskau einigten sich darauf, Druck auf Kowno in der Richtung auszuüben, daß Litauen mindestens einige technische Konventionen mit Polen zustande bringen müsse, um so eine weitere Verschlechterung der litauischen Stellung im Völkerbund und somit eine Stärkung der polnischen Stellung zu vermeiden. In diesem Kontext empfahl Stomonjakov, das Gewicht Deutschlands in Kowno zu erhöhen, vor allem durch den baldigen Abschluß des deutsch-litauischen Handelsvertrags.16 Ende Juni 1928 übergab die litauische Regierung der polnischen Seite ein Programm der abzuschließenden Konventionen.17 Darin schlug sie vor, daß die beiden Staaten zuerst in Artikel 1 und 2 der Konvention über die Regelung der Verkehrsfrage (Eisenbahn, Post- und Telegraphenverbindungen) feststellen sollten, daß die Souveränität des Wilnagebiets noch umstritten sei, vor allem in Anbetracht der gegensätzlichen Definition im russisch-litauischen Friedensvertrag von Moskau vom 12. Juli 1920 einerseits und im Beschluß der Botschafterkonferenz vom März 1923 andererseits. Daraufhin sei die Regelung des Verkehrs so zu gestalten, daß nicht der direkte Verkehr zwischen Litauen und dem okkupierten Wilnagebiet zu öffnen, sondern lediglich der bisher illegale Umleitungsverkehr zwischen Litauen und dem polnischen Gebiet mit Ausnahme des besetzten Gebiets (Wilna) über Ostpreußen zu legalisieren sei. Im Entwurf der Konvention über die Sicherheitsfrage forderte Litauen außerdem die Schaffung einer 50 km breiten entmilitarisierten Zone durch den Rückzug der polnischen Armee von der Demarkationslinie. Der Entwurf sah jedoch keine entsprechende Verpflichtung für die litauische Armee an der Demarkationslinie vor. Selbstverständlich war Polen über dieses litauische Programm empört. Der polnische Außenminister Zaleski urteilte: „this draft treaty was a most astounding and imprudent document“, und wies die Annahme strikt zurück. Er mutmaßte außerdem, daß die Sowjetregierung seit dem Mißerfolg Voldemaras’ auf der Juni-Ratssitzung ihren Einfluß auf Kowno verstärkt habe.18 Daß die litauische Regierung die Ergebnisse der seit April 1928 in Königsberg aufgenommenen polnisch-litauischen Verhandlungen auf diese Weise interpretierte, legte Warschau den Gedanken nahe, die Öffnung des polnisch-litauischen Wirtschaftsverkehrs nicht durch bilaterale Verhandlun16 Ebd.
17 Documents Diplomatiques. Conférence de Koenigsberg, Tome II, N° 5, Lettre de l’Envoyé Extraordinaire et Ministre Plénipotentiaire de Lithuanie en Allemagne à l’Envoyé Extraordinaire et Ministre Plénipotentiaire de Pologne, 23.6.1928. Annexe: Projet de Traité à conclure entre la Lithuanie et la Pologne, S. 30–33. 18 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 79, Sir W. Erskine to Sir Austen Chamberlain, 2.7.1928, S. 94.
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg427
gen mit Litauen, sondern zwangsweise mit Hilfe des Völkerbunds zu erzielen. Anfang Juli 1928 teilte Chamberlain der deutschen Botschaft in London mit, daß die wiederholten Provokationen von Voldemaras gegenüber der polnischen Regierung nunmehr die Möglichkeit geben würden, die Anwendung von Artikel 15 der Völkerbundssatzung zur Geltung zu bringen. Im Falle der Anerkennung der Anträge Polens auf Artikel 15 müsse Polen theoretisch gegenüber Litauen freie Hand gelassen werden, wobei auch von der Einleitung militärischer Sanktionen (Artikel 16) die Rede war. Zur Vermeidung derart bedenklicher Folgen fragte Chamberlain den deutschen Botschafter, ob die deutsche Regierung die Möglichkeit habe, auf Voldemaras einzuwirken, um ihn zur Annahme der polnischen Wünsche in den Wirtschafts- und Verkehrsverhandlungen zu bewegen. Chamberlain brachte ganz bewußt seine Bedenken hinsichtlich der diplomatischen Unterstützung Moskaus für die Kownoer Regierung zum Ausdruck.19 Während das Auswärtige Amt die Anwendung von Artikel 15 des Völkerbundspakts jeoch für unwahrscheinlich hielt, wurde das Moskauer Außenkommissariat, vor allem Stomonjakov, vielmehr in seiner Überzeugung bestärkt, daß sich die Westmächte für die Anwendung von Artikel 15 entscheiden würden, weil dies einer Äußerung des französischen Botschafters in Moskau deutlich zu entnehmen sei.20 Die Warnungen Frankreichs und Großbritanniens könnten sich wie ein Ultimatum auswirken, um auf diesem Wege Litauen zur Annahme der Wirtschaftsverhandlungen mit Polen, deren Ziel in der Öffnung der Wilnagrenze lag, zu veranlassen. Es bestand zwar zwischen den Westmächten, Deutschland sowie der UdSSR Einigkeit darüber, daß Voldemaras wenigstens eine Konvention mit Polen abschließen müsse. Die Interessen der Großmächte gingen dennoch weit auseinander. In Berlin hielt man es für nötig, sich vom Vorhaben der Westmächte zu distanzieren, eine kollektive Demarche gegen Kowno zu unternehmen. Unter allen Umständen mußte Berlin vermeiden, bei Kowno und Moskau den Verdacht eines deutschen Bündnisses mit den Westmächten in dieser Streitfrage zu erregen. Das Auswärtige Amt war nunmehr bereit, unabhängig von allen Mächten einen selbständigen diplomatischen Vorstoß bei der Kownoer Regierung zu versuchen.21 Anfang Juli 1928 beauftragte das Auswärtige Amt den deutschen Gesandten in Kowno, Moraht, damit, eine Demarche Deutschlands gegen die 19 ADAP, Ser. B, Bd. IX, Dok. 132, v. Schubert an die Gesandtschaft in Kowno, 11.7.1928, S. 308 ff. BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 80, Sir Austen Chamberlain to Mr. Nicolson, 4.7.1928, S. 94 f. 20 ADAP, Ser. B, Bd. IX, Dok. 153, v. Schubert, 16.7.1928, S. 363 ff. 21 ADAP, Ser. B, Bd. IX, Dok. 150, v. Dirksen an die Gesandtschaft in Kowno, 15.7.1928, S. 360.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
litauische Regierung zu unternehmen, deren Ziel es war, Voldemaras zum Abschluß einer Konvention mit Polen zu veranlassen. Die mögliche Anwendung von Artikel 15 der Völkerbundssatzung mußte unbedingt verhindert werden. Mitte Juli drängte Moraht Voldemaras dazu, das bisherige litauische Programm, das den Abschluß der Konvention betreffend den trafic local mit einem Sicherheitspakt kombiniert hatte, aufzugeben und statt dessen separat den bereits Ende Mai in Berlin paraphierten Konventionsentwurf zum trafic local baldmöglichst zur endgültigen Unterzeichnung zu bringen. In der Unterredung mit Moraht erwiderte Voldemaras jedoch, daß Litauen die Sorge habe, daß Polen anläßlich der im August geplanten Manöver im Wilna- und Grodnogebiet Litauen provozieren werde. Unter diesen Umständen sei man gezwungen, gegen Polen zu mobilisieren. Im Gegensatz dazu sah man in Berlin vorläufig keine ernsthafte Gefahr eines polnischen Angriffs gegen die litauische Grenze. Moraht versuchte, Voldemaras von seinem Vorhaben abzubringen, unter Hinweis darauf, daß die litauische Mobilisierung Polen und den Westmächten die Möglichkeit geben könne, Artikel 15 geltend zu machen und den Weg für einen legalen Krieg gegen Litauen freizumachen. Nicht zuletzt erklärte Moraht mit aller Deutlichkeit, daß Litauen im Kriegsfall keineswegs die Hilfe Deutschlands erwarten dürfe.22 Nach der langen Unterredung gelang es Moraht letztlich, Voldemaras zu überreden und seine Zusage zur Annahme des Minimalprogramms zu erzielen. Tatsächlich behinderte die Provokation Polens, wie Voldemaras äußerte, die Fortführung der polnisch-litauischen Verhandlungen. Gleich nach der Besprechung mit Voldemaras teilte Moraht der britischen Gesandtschaft in Kowno mit, daß er trotz der Zustimmung Voldemaras’ zur baldigen Unterzeichnung des Abkommens über den trafic local die Lage skeptisch betrachte. Er lenkte ganz bewußt die Aufmerksamkeit der britischen Seite auf die Haltung Polens und sprach sich dafür aus, daß man nunmehr eine Demarche gegen Warschau erheben müsse. Die Ergebnisse der polnisch-litauischen Verhandlungen sollten in diesem Sinne davon abhängen, ob Piłsudski seine provokanten Ankündigungen militärischer Manöver an der Wilnagrenze einstellen werde.23 Gleich nach der Demarche des deutschen Gesandten gegen Kowno sandte die litauische Regierung am 23. Juli einen Brief an den Völkerbundsrat über die drohende Gefahr von Grenzzwischenfällen durch das Manöver der polnischen Armee.24 Die Sonderdemarche Deutsch22 ADAP, Ser. B, Bd. IX, Dok. 161, Telegramm, Moraht (Kowno) an AA, 18.7. 1928, S. 384 ff. 23 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 86, Mr. Addison to Sir Austen Chamberlain, 27.7.1928, S. 103 ff. 24 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VIII (1928), Nr. 7, S. 240 f.
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg429
lands, die zunächst allein bei der Kownoer Regierung eingelegt worden war, löste in Kowno und Moskau Kritik an der Einseitigkeit der diplomatischen Aktion Deutschlands aus. Das Auswärtige Amt, das offenbar vor dem Druck des Moskauer Außenkommissariats zurückwich, beschloß Anfang August, bei Warschau ebenfalls diplomatischen Protest gegen die polnische Truppenansammlung im Wilnagebiet sowie Piłsudskis Provokation einzulegen. Diese Nachricht wurde mit Hilfe der Nachrichtenagenturen schnell verbreitet. In Warschau wurde der deutsche Protest, der gleich nach einer Unterredung zwischen Litvinov und Brockdorff-Rantzau in Berlin erfolgte, besonders kritisch aufgenommen. Man urteilte, daß der „Geist von Rapallo“ für die Außenpolitik Deutschlands in dieser Streitfrage immer noch die entscheidende Rolle spiele.25 Die Schwierigkeiten in der Fortführung der polnisch-litauischen Verhandlungen ergaben sich nicht allein aus der Intransigenz Litauens. Was z. B. die Flößereifrage anging, war die litauische Regierung stets bereit, in diesbezügliche Verhandlungen mit Polen einzutreten. Auf der ersten Königsberger Konferenz bot sie der polnischen Seite deshalb an, die Durchfuhr polnischer Hölzer auf der Memel sowie die Geschäftstätigkeit der polnischen Flößereifirmen im Memeler Hafengebiet zu genehmigen, unter der Voraussetzung, daß Polen die polnischen Hölzer auf der Memel abwärts nach Litauen flößen werde. Diese Erklärung Litauens war als der einzige positive Vorschlag bei den Verhandlungen in Königsberg zu bewerten. Im Gegensatz dazu verhielt sich die polnische Regierung passiv, mit der Begründung, daß die Frage der Memelflößerei wesentlich davon abhänge, ob Litauen die Bestimmungen der Memelkonvention sowie des Barcelona-Transitstatuts einhalten werde. Polen war außerdem der Auffassung, daß der litauische Vorschlag, der sich lediglich auf die Regelung der Memelflößerei richtete, nicht die Resolution des Völkerbundrats vom 10. Dezember 1927 erfüllen würde. Der polnischen Auslegung zufolge sollte die Öffnung des direkten Eisenbahnverkehrs zwischen Kowno und Wilna im Sinne der Resolution zur Wiederherstellung gutnachbarlicher Beziehungen erzielt werden. Daher lehnte Polen es ab, die Flößereifrage ohne Verhandlungsaufnahme über die Eisenbahnfrage gesondert zu behandeln.26 Doch auch wenn das litauische Konventionsprogramm, das im Juni 1928 der polnischen Seite vorgelegt wurde, keinen positiven Willen der litauischen Regierung zur Wiederherstellung friedlicher Beziehung erkennen ließ, war die Haltung Polens gleichfalls nicht ohne Probleme. Stomonjakov, der jede weitere Verschlechterung der 25 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 90, Sir W. Erskine to Sir Austen Chamberlain, 7.8.1928, S. 114. 26 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 87, History of the Vilna Question from the year 1918, S. 105–111 (hier S. 109 f.).
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Stellung Litauens für äußerst bedenklich hielt, ermahnte Voldemaras im Juli 1928, mindestens einige kleine Abkommen mit Polen, wie z. B. das Abkommen über den kleinen Grenzverkehr bzw. über die Memelflößerei, sofort abzuschließen. Daraufhin erwiderte Voldemaras, daß Polen weder am Abschluß der Konvention über den trafic local noch an der Öffnung der Memelflößerei Interesse gezeigt habe. Stomonjakov empfahl Voldemaras dennoch, wenigstens über die Memelflößerei eine Einigung mit Polen herbeizuführen. Daran sei auch Großbritannien sehr interessiert.27 Nachdem es Moraht gelungen war, mit seiner Sonderdemarche vom Juli 1928 die litauische Regierung zur Fortführung der Verhandlungen zu überreden, schlug Litauen der polnischen Seite vor, Ende August die Verhandlungen in Königsberg wiederaufzunehmen. Die polnische Regierung war zwar prinzipiell dazu bereit, machte aber den Gegenvorschlag, die zweite polnisch-litauische Konferenz nicht in Königsberg, sondern in Genf stattfinden zu lassen. Polen gab als Grund an, daß Außenminister Zaleski gleich nach der Genfer Völkerbundsratstagung zur Unterzeichnung des KelloggBriand-Pakts nach Paris abreisen müsse, so daß er nicht nach Königsberg fahren könne. Litauen wies jedoch die Verhandlungsaufnahme in Genf strikt zurück. Polen machte den Kompromißvorschlag, anstelle Zaleskis Hołówko als polnischen Verhandlungsvorsitzenden nach Königsberg zu schicken. Litauen lehnte ab, Hołówko anzuerkennen, da er als Vertrauensmann von Piłsudski bekannt war28 und vor allem bei den in Kowno geführten Kommissionsverhandlungen über die Sicherheitsfrage heftigen Widerstand gegen den Standpunkt Litauens geleistet hatte.29 Während die Wiederaufnahme der direkten Verhandlungen auf diese Weise weiter verschleppt wurde, sah sich der litauische Ministerpräsident auf der Genfer Ratstagung im September 1928 vor ein politisches Ultimatum der Westmächte gestellt. Die Prüfung des gegenwärtigen Zustands der polnischlitauischen Unterhandlungen stand auf Grund der Juni-Entschließung des Rats auf der Tagesordnung der Septembersitzung. Bei einer privaten Unterredung mit Voldemaras äußerte der britische Vertreter in Genf, Lord Cushendun, daß die litauische Regierung infolge ihrer provokanten Haltung nicht nur die Unterstützung der britischen Regierung, sondern auch die Sympathie aller Mitglieder des Völkerbundsrats gänzlich verloren habe. Das einzige, was die britische Regierung Litauen unter diesen Umständen noch raten könne, sei die Fortführung der Verhandlungen mit Polen über die Wiederherstel27 ADAP,
Ser. B, Bd. IX, Dok. 153, v. Schubert, 16.7.1928, S. 363 ff. Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 42, Mr. R. A. Leeper to Sir Austen Chamberlain, 20.12.1927, S. 48 f. 29 Senn (1966), S. 228. 28 BDFA,
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg431
lung des direkten Verkehrs und Handels.30 Trotz dieser dringenden Vorschläge Großbritanniens war sich Litauen bewußt, daß die Öffnung des Eisenbahnverkehrs zwischen Kowno und Wilna, auf die Polen größten Wert legte, in erster Linie nicht von wirtschaftlicher, sondern von politischer Bedeutung war. Hierzu führte der litauische Gesandte Sidzikauskas, der ebenfalls in Genf weilte, die Problematik der Zweideutigkeit der wirtschaftlichen Wünsche Polens deutlich vor Augen. Der litauische Kompromißvorschlag, ohne die Öffnung des direkten Verkehrs die Umleitungswege über Ostpreußen zu legalisieren, wurde von polnischer Seite stets zurückgewiesen. Tatsächlich konnte der Wirtschaftsverkehr zwischen Polen und Litauen, allerdings mit einigem Zeitaufwand, auf dem Umleitungswege wiederhergestellt werden. Dagegen beharrte Polen konsequent auf die Öffnung der Grenze zwischen Litauen und dem Wilnagebiet. Man erhoffte sich in Warschau offenbar die politische Konsequenz, daß Litauen auf diese Weise zur Kapitulation in der Wilnafrage gezwungen würde. Zum Beweis dafür lehnte die polnische Delegation den Eintritt in die Flößereiverhandlungen stets ab, obwohl die Transitflößerei für alle Uferstaaten von wesentlicher wirtschaftlicher Bedeutung war. Die britische Regierung wiederholte zwar, daß im Fall einer Öffnung der Wilnagrenze der litauischen Regierung dennoch ihr Souveränitätsanspruch auf das Wilnagebiet erhalten bleibe. Dagegen sah Sidzikauskas das Wesen der Öffnung der Wilnagrenze vielmehr darin, die Tatsache der polnischen Verletzung des Suwalki-Vertrags sowie der rechtswidrigen Okkupation durch die litauische Anerkennung des bestehenden Zustands zu annullieren. Letzte Folge dieser litauischen Kapitulation würde es sein, daß die litauische Republik, die sowohl wirtschaftlich als auch militärisch weit hinter ihrem Kontrahenten zurückstand, an den polnischen Gesamtstaat angegliedert würde. Die Kritik des Generalsekretärs des Völkerbunds, Sir Drummond, daß Voldemaras die Verpflichtung und Empfehlung des Völkerbundsrats bisher nicht erfüllt habe, wies Sidzikauskas somit strikt zurück, vor allem unter Hinweis darauf, daß Litauen die Unterbrechung des direkten Verkehrs zwischen Kowno und Wilna als die einzig wirksame – und zwar friedliche – Waffe eines kleinen Landes gegen Polen ansah.31 Die Untersuchung des Völkerbundsrats über den Zustand der polnischlitauischen Verhandlungen fand in der Ratssitzung vom 6. und 8. September 1928 statt. Der niederländische Vertreter, Beelaerts van Blokland, berichtete in der ersten Sitzung vom 6. September abermals über die Ergebnislosigkeit der bisherigen Kommissionsverhandlungen. Er betrachtete die Bereitschaft 30 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 97, Record of Conversation between Lord Cushendun and M. Voldemaras, 5.9.1928, S. 120. 31 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 94, Record of Conversation (Communicated by Sir E. Drummond), 30.8.1928, S. 117 ff.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
beider Parteien zur Wiederherstellung normaler friedlichen Beziehungen mit großer Skepsis. Er wies darauf hin, daß weder ein Termin noch der Tagungsort der Abschlußkonferenz bestimmt worden sei. Geschickt erwiderte der polnische Außenminister Zaleski, daß seine Regierung alles getan habe, um sich nach den Ratsempfehlungen vom Dezember 1927 zu richten. Im Gegensatz dazu hielt Voldemaras einen langen Vortrag über die Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Parteien. Zum Schluß seiner Rede fügte er hinzu, daß er davon ausgehe, daß die Unterhandlungen, die bisher zu keinem Ergebnis geführt hatten, dennoch wenigstens die Wege geebnet hätten. In diesem Sinne seien bald positive Ergebnisse zu erwarten. Der Völkerbundsrat war nunmehr bereit, neue Schritte zur Öffnung des Verkehrs an der Wilnagrenze zu ergreifen. In der zweiten Sitzung vom 8. September beantragte van Blokland, den schwebenden Verhandlungen zwischen Polen und Litauen einen neuen Anstoß zu geben, insbesondere im Interesse der dritten Mächte: „Man darf nicht vergessen, […] daß die Entschließung vom 10. Dezember 1927 einerseits die Wiederherstellung des guten Einvernehmens zwischen den beiden Ländern, aber anderseits auch die Wahrung der Interessen der Allgemeinheit, die der Friede sicherstellen soll, anstrebte.“32 Er rechtfertigte daher die Kompetenz des Völkerbundsrats, die Öffnung des Verkehrs und Handels an der Wilnagrenze zu erzwingen, um so die Interessen dritter Staaten in der Frage des internationalen Transithandels, die durch den langjährigen Streit zwischen Polen und Litauen schwer beeinträchtigt worden waren, zu wahren. In diesem Sinne schlug van Blokland als ersten Schritt vor, im Fall der weiteren Unterbrechung des internationalen Transithandels an der Wilnagrenze diese Angelegenheiten einer eingehenden Untersuchung durch die Sachverständigen des Völkerbunds, also einer Prüfung der Transit- und Verkehrskommission, zu unterziehen. Hierdurch wurde dem territorialen Streit zwischen Polen und Litauen eine neue Bedeutung beigemessen. Während der polnische Vertreter nichts dagegen einwandte, erhob der litauische Ministerpräsident Einspruch gegen van Bloklands Antrag. Voldemaras bezweifelt vor allem die Kompetenz des Völkerbundsrats, im Sinne der Wahrung der wirtschaftlichen Interessen von Drittstaaten, insbesondere der Völkerbundsmitglieder, die Absperrung der Wilnagrenze, die von litauischer Seite als Protest gegen den Aggressor verhängt worden war, zwangsweise aufzuheben. Van Blokland erklärte dazu, daß der Völkerbundsrat im Sinne von Artikel 23e der Völkerbundssatzung, der die Kompetenz des Völkerbunds für die Sicherstellung der Rechte des freien Handels, Verkehrs sowie Transits zwischen den Völkerbundsmitgliedern bestimmte, als berechtigt anzusehen sei.33 Diese Auslegung über die Beilegung 32 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VIII (1928), Nr. 9, S. 317. S. 315–318.
33 Ebd.,
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg433
des polnisch-litauischen Wilnastreits war deshalb völlig neu, weil nicht in erster Linie die Entstehungsgeschichte der Absperrung der Wilnagrenze, sondern vielmehr die Wahrung der wirtschaftlichen Interessen dritter Staaten in Erwägung zu ziehen war. Hierzu kamen zwei Transitwege in Betracht, nämlich die Memelflößerei sowie die Eisenbahnstrecke zwischen Kowno und Wilna, die bis zum Ersten Weltkrieg als Teilstrecke der Hauptlinie zwischen Königsberg, Minsk und Moskau bestand. Die Meinungen zwischen den Ratsmitgliedern über diesen neuen Schritt des Völkerbundsrats gingen allerdings auseinander. Auf einer inoffiziellen Besprechung der Ratsmitglieder, die einem Tag vor van Bloklands Antrag, am 7. September, stattfand, äußerte der französische Außenminister Briand, daß er den Vorschlag, die Streitparteien im wirtschaftlichen Interesse dritter Mächte zur Öffnung der Wilnagrenze aufzufordern, skeptisch betrachte. Er empfahl vielmehr, zuerst beiden Staaten die technische Assistenz der Verkehrskommission zur Lösung der Streitfrage anzubieten. Van Blokland erwiderte, daß der Völkerbundsrat bereits in der Dezember-Resolution von 1927 technische Hilfe angeboten hatte, ohne daß diese in Anspruch genommen worden war. Briand bemühte sich, die Aufmerksamkeit der Ratsmitglieder darauf zu lenken, daß man zunächst die Ergebnisse der fortzuführenden direkten Verhandlungen zwischen Polen und Litauen abwarten müsse. In diesem Sinne schlug er vor, daß der Rat zunächst beiden Parteien die Fortsetzung der Verhandlungen über die Öffnung des direkten Verkehrs empfehlen solle. Wenn diese jedoch zu keinen Ergebnissen führten, solle der Rat die Verkehrs- und Transitkommission des Völkerbunds zur Beratung über diese Streitfrage, vor allem im Hinblick auf die Schädigung der Rechte dritter Mächte, einberufen. Schubert schloß sich dieser Ansicht an.34 Gegen den Vorschlag Briands, der mehr oder weniger den Standpunkt Litauens mit Nachsicht zu behandeln versuchte, hielt es der britische Vertreter, Lord Cushendun, für notwendig, einen noch genaueren Termin für die Einleitung dieses Schritts festzulegen. Er fragte nun, ob es die Möglichkeit gebe, den beiden Parteien vorher die Verpflichtung aufzuerlegen, sich im Fall der Unterbrechung der direkten Verhandlungen bzw. im Fall der Erfolglosigkeit in der Frage der Öffnung des Verkehrs und Handels an der Wilnagrenze einer Entscheidung des Völkerbundsrats, die sich auf die Untersuchungsergebnisse der Verkehrs- und Transitkommission beziehen sollte, zu unterwerfen.35 Auf Grund dieser inoffiziellen Besprechung der Ratsmit34 Das Auswärtige Amt versuchte, die Einsetzung der Transitkommission zu verhindern. PA AA, R 29239 (Büro StS), v. Schubert, 6.12.1928. 35 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 99, Memorandum by Mr. Cadogan (recording a meeting on the 7th September of the French, British, Italian, Japanese, Netherlands and Finnish representatives on the Council), S. 121 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
glieder wurde der Antragsentwurf van Bloklands zunächst im Sinne von Briands Vorschlag modifiziert und schließlich in der Form vom 8. September abgefaßt. Der Völkerbundsrat trat somit dafür ein, die Wiederherstellung des Handelsverkehrs über die Wilnagrenze in rein wirtschaftlicher Hinsicht herbeizuführen. Damit schien es allen Mächten, daß die Gefahr einer Anwendung von Artikel 15 der Völkerbundssatzung, auf die Polen und Großbritannien abzielten, zunächst beseitigt war. Der litauische Ministerpräsident, der in Genf aus seiner politischen Notlage nur dank äußerster Anstrengungen von Briand und Schubert gerettet wurde,36 sah sich vor die Entscheidung gestellt, wenigstens eine Konvention mit Polen zu unterzeichnen. Während sich Voldemaras dennoch zurückhaltend verhielt, vertraten Deutschland und Frankreich einstimmig den Standpunkt, daß die endgültige Lösung der Wilnafrage sowie die Angliederung Litauens an Polen augenblicklich nicht herbeigeführt werden könne. Die polnische Regierung wurde in der Dezember-Resolution von 1927 dazu gezwungen, vor aller Welt ihre Anerkennung der Unabhängigkeit und Integrität des litauischen Staates zu erklären. Im Falle einer weiteren Verschleppung der Verhandlungsaufnahme war die Einleitung von Sanktionsmaßnahmen des Völkerbunds gegen Litauen nicht zu vermeiden. In diesem Sinne drängte Schubert den litauischen Ministerpräsidenten zur baldigen Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Polen. Litauen müsse sich international so präsentieren, daß man für seinen Standpunkt Sympathie und Verständnis haben könne. Damit würde die künftige Rückgabe des Wilnagebiets erleichtert.37 Die Stellung Litauens hing nunmehr davon ab, inwieweit es Voldemaras gelingen würde, dem Völkerbund ein vernünftiges und friedfertiges Verhalten in der Frage des polnisch-litauischen Streits zu beweisen. 2. Die zweite polnisch-litauische Konferenz in Königsberg im Herbst 1928 Am 3. November 1928, also drei Tage nach der Unterzeichnung des zweiten deutsch-litauischen Handelsvertrags, erfolgte die Wiederaufnahme der polnisch-litauischen Verhandlungen in Königsberg. Die zweite Königsberger Konferenz fand unter Teilnahme des polnischen Außenministers Zaleski und des litauischen Ministerpräsidenten Voldemaras vom 3. bis 7. November im Sitzungssaal des Oberpräsidiums statt. Im Gegensatz zu den Erwartungen, wie sie Oberpräsident Siehr in seiner Begrüßungsrede zum 36 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VIII (1928), Nr. 9, S. 315–318. R 29239 (Büro StS), v. Schubert, 4.9.1928. Vgl. ADAP, Ser. B, Bd. X, Dok. 4, S. 5 ff. 37 PA AA,
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg435
Ausdruck brachte,38 war das Ergebnis der zweiten Königsberger Konferenz jedoch äußerst bescheiden. Wenigstens wurde die Konvention über den trafic local an der administrativen Linie zwischen den beiden Bevollmächtigten unterzeichnet, was allerdings auf die Öffnung des allgemeinen Verkehrs keine Auswirkung hatte. Während Litauen infolge des Fehlverhaltens Voldemaras’ für die Ergebnislosigkeit der bisherigen Verhandlungen allein verantwortlich gemacht wurde, änderte sich das Verhältnis zwischen Polen und Litauen auf der zweiten Königsberger Konferenz merklich. Die unversöhnliche Haltung Polens in der Frage der Öffnung der Wilnagrenze wurde als größtes Hindernis einer Verständigung erkennbar. Wie Zaleski bereits kurz vor Verhandlungsbeginn andeutete, zeigte die polnische Delegation keinerlei Kompromißbereitschaft. So erklärte Zaleski, daß die Konferenz scheitern müsse, wenn Litauen nicht auf die Öffnung des direkten Verkehrs und Handels an der Wilnagrenze eingehe.39 Folgerichtig führte die zweite Königsberger Konferenz wirtschaftlich zu keinen nennenswerten Ergebnissen. Dennoch erzielte die litauische Delegation einen politischen Erfolg, denn ganz im Sinne von Schuberts Ratschlag gelang es Voldemaras, die bisherige kritische Meinung der Weltöffentlichkeit über das litauische Verhalten zu ändern. Die zweite Königsberger Konferenz brachte insofern in der Frage des polnisch-litauischen Wilnastreits eine Wende. Ihre Ergebnisse kündigten bereits den darauffolgenden Transitstreit zwischen Polen und Litauen vor dem Haager Internationalen Gerichtshof von 1931 an. Auf der Konferenz milderte Litauen seine bisherige Haltung erheblich und machte der polnischen Seite mehrere konstruktive Lösungsvorschläge. Während Polen auf der Öffnung des direkten Verkehrs (Eisenbahn, Post- und Telegraphen, Warenverkehr) sowie auf der gleichzeitigen Verhandlungsaufnahme über die Transitflößerei mit der Eisenbahnfrage beharrte, erklärte sich Li38 Das Auswärtige Amt und der preußische Ministerpräsident beauftragten den Oberpräsidenten, im Namen der Regierungen vom Reich und Preußen die Begrüßungsrede zu halten. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 96, Frankenbach an OPO, 26.10.1928. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 96, PreußStM an OPO, 1.11.1928. „Die Eröffnung der Königsberger Konferenz“ in: Königsberger Allgemeine Zeitung, 54. Jg., Nr. 521, 4.11.1928. Oberpräsident Siehr hielt die Eröffnungsrede: „Namens der deutschen Reichsregierung und namens der Regierung des Freistaates Preußen habe er [Siehr] die Ehre und die Freude, die beiden Delegationen in Königsberg aufs herzlichste willkommen zu heißen. … Er [Siehr] dürfe vielleicht daraus den Schluß ziehen, daß bei dieser Tagung im Frühjahr sich die hohen Delegationen hier wohlgefühlt haben, und daß die äußeren Vorbedingungen für einen gedeihlichen Fortschritt der Arbeiten hier gegeben gewesen seien. Er hoffe, daß auch bei dieser Tagung das gleiche der Fall sein werde. Es seien wichtige und ernste Aufgaben, die der Beratung harrten, und die der wirtschaftlichen Wohlfahrt der beiden Länder dienen sollten.“ 39 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 108, Polish-Lithuanian Conference in Königsberg, S. 129.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
tauen bereit, dem polnischen Wunsche entgegenzukommen und die Beziehungen beider Staaten zu normalisieren, allerdings unter der Voraussetzung, daß eine internationale Garantie für ein Sonderstatut von Wilna, vor allem für die Autonomie des Wilnagebiets, geschaffen werde. Dieser Vorschlag wurde aber von der polnischen Delegation mit der Begründung zurückgewiesen, daß er eine Verletzung der Souveränität Polens sowie eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens darstelle.40 Was wirtschaftliche Zugeständnisse anbetraf, machte die litauische Delegation folgende Kompromißvorschläge: Zum einen sollte der bisherige illegale Umleitungsverkehr (Eisenbahn, Post- und Telegraphen-, Warenverkehr) über Lettland und Ostpreußen von der litauischen Regierung legalisiert werden. Bei der Umleitung über Ostpreußen sollten insbesondere der Warenverkehr von Polen nach Litauen, dessen größter Teil aus Schlesien, Galizien sowie Lodz kam, normalisiert werden. Zum anderen sollte für den polnisch-litauischen Warenverkehr Zollvergünstigung gewährt werden. Die litauische Delegation erklärte abermals, die Memelflößerei freizugeben.41 Im Gegensatz zur Initiative Litauens verhielt sich der polnische Delegationsvorsitz passiv. Zaleski unterließ es, die litauischen Vorschläge eindeutig anzunehmen oder zurückzuweisen. Er empfahl statt dessen, die weiteren Verhandlungen über diese Angelegenheiten den Unterkommissionen zu überlassen. Hinsichtlich der Sicherheitsfrage hielt es die polnische Delegation nach wie vor für nicht angängig, diese Frage jetzt zur Debatte zu stellen. Ihr zufolge sei eine gesonderte Regelung der Sicherheitsfrage durch den Beitritt beider Staaten zum Kellogg-Briand-Pakt nicht mehr erforderlich. Letztlich kam lediglich eine Konvention über die Regelung des kleinen Grenzverkehrs an der administrativen Linie (trafic local) zustande. Unter diesen Umständen wurde die zweite Königsberger Konferenz allgemein als gescheitert beurteilt.42 Somit änderte sich das politische Verhältnis zwischen Polen und Litauen in der Frage des Wilnastreits grundlegend. Mit den oben genannten Kompromißvorschlägen gelang es Litauen, der Welt zu demonstrieren, daß es bereit sei, auf vernünftiger und friedlicher Basis sowohl über die Freigabe der Memelflößerei als auch über die Normalisierung der Beziehungen mit 40 PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Aufzeichnung (zum gegenwärtigen Stand der polnisch-litauischen Verhandlungen), 15.8.1929. Darin urteilte das Auswärtige Amt, daß die zweite Königsberger Konferenz tatsächlich daran gescheitert sei, daß Litauen die Annahme der polnischen Wünsche nach Öffnung des direkten Bahn- und Postverkehrs lediglich von der Anerkennung eines Sonderstatuts für das Wilnagebiet unter internationaler Garantie abhängig gemacht habe. 41 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 110, Mr. Carr to Lord Cushendun, 10.11. 1928, S. 131 f. 42 „Lehren der Konferenz“, in: Königsberger Allgemeine Zeitung, 54. Jg., Nr. 525, 7.11.1928.
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg437
Polen zu sprechen. Insofern war die Königsberger Konferenz ein Erfolg für die litauische Diplomatie. Die Milderung der Haltung Litauens sowie der erfolgreiche Abschluß des Abkommens über den „trafic local“ waren, wie Zaleski zugab, in erster Linie der Vermittlung des Berliner Staatssekretärs v. Schubert zu verdanken.43 Im Auswärtigen Amt war man sich bewußt, wie man diesen günstigen Moment ausnutzen sollte. Der Chef der Ostabteilung, Ministerialdirektor v. Dirksen, gab gleich nach dem Abschluß der Konferenz die Weisung, dem Völkerbund Bericht zu erstatten, in dem auf zwei Vorschläge Litauens besonderer Nachdruck gelegt werden sollte, nämlich die Autonomie des Wilnagebiets sowie die Freigabe der Memelflößerei. Hiermit setzte sich die Reichsregierung ausdrücklich für den Standpunkt Kownos ein, daß zum einen die Ostgrenze Polens trotz des Beschlusses der Botschafterkonferenz von 1923 noch umstritten sei und daß zum anderen nicht Litauen, sondern Polen die Öffnung der Memelflößerei verhindere.44 3. Der Kellogg-Briand-Pakt und das Litvinov-Protokoll Zur Eindämmung der Kriegsgefahr machte man zuerst auf der LocarnoKonferenz 1925 einen bedeutenden Schritt nach vorn. Im Rahmen des sog. Westsicherheitspakts wurden die Vereinbarungen über ein Angriffskriegsverbot zwischen Deutschland und Belgien sowie zwischen Deutschland und Frankreich getroffen. Weil an die Locarno-Verträge, die auf die Garantie der bestehenden Westgrenze Deutschlands abzielten, nur eine beschränkte Anzahl von Staaten gebunden war, wurde es als notwendig erachtet, baldmöglichst das Angriffskriegsverbot weltweit zu erweitern, was dem Gründungsgeist des Völkerbunds von 1919 entsprach. Während der Völkerbund zunächst bemüht war, eine Übereinkunft über die Ächtung des Angriffskriegs zustande zu bringen, schlug Frankreich 1927 den Vereinigten Staaten vor, einen bilateralen Pakt über die Ächtung des Angriffs nach dem Muster des Locarno-Westpakts abzuschließen. Die USA lehnten jedoch diesen Vorschlag ab und beantragten vielmehr, einen kollektiven Vertrag mit den Hauptmächten der Welt abzuschließen und anderen Ländern den Beitritt zu ermöglichen.45 Frankreich ging schließlich darauf ein. Der Kellogg-Briand-Pakt kam somit im Sinne des amerikanischen Vorschlags zustande und wurde in 43 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 108, Polish-Lithuanian Conference in Königsberg, S. 129. 44 ADAP, Ser. B, Bd. X. Dok. 158, v. Dirksen an das Mitglied der politischen Abteilung im Sekretariat des Völkerbunds von Renthe-Fink, 24.11.1928, S. 406 ff. 45 Rolf Blum: Das System der verbotenen und erlaubten Kriege in Völkerbundssatzung, Locarno-Verträgen und Kellog-Pakt, Leipzig 1932, S. 30 ff. Siehe auch: Wörterbuch des Völkerrechts, begründet von Karl Strupp, hg. Hans-Jürgen Schlochauer, Erster Band, Berlin 1960, S. 249 ff.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Paris am 27. August 1928 von fünfzehn Staaten unterzeichnet. Obwohl Moskau bereit gewesen war, den Pakt zu unterzeichnen, lehnten es die USA ab, die Sowjetregierung als Erstsignatarmacht zu den Abschlußverhandlungen in Paris einzuladen. Nach dem feierlichen Abschluß des Pakts forderten die USA und Frankreich alle Staaten, mit denen sie diplomatische Beziehungen unterhielten, zum Beitritt auf. Daraufhin erklärte Ende August die Sowjetregierung ihren Beitritt und händigte am 6. September 1928 dem französischen Botschafter in Moskau die Ratifikationsurkunde aus.46 Der Kellogg-Briand-Pakt wurde am 8. März 1930 durch 57 Staaten ratifiziert, darunter 48 Mitglieder und 9 Nichtmitglieder des Völkerbunds. Der Abschluß des Kellogg-Briand-Pakts hatte nicht geringe Auswirkungen auf das polnisch-litauische Verhältnis. Die Frage der Regelung der Sicherheitsangelegenheiten an der Wilna-Demarkationslinie wurde erstmals auf der ersten Königsberger Konferenz im April 1928 aufgeworfen. Nach dem Abschluß dieser Konferenz überließ man die weiteren Verhandlungen einer aus Vertretern beider Staaten gebildeten Sicherheitskommission, welche aber zu keinen nennenswerten Ergebnissen führten. Nicht zuletzt schlug Litauen ein Paketprogramm vor, in dem die endgültige Unterzeichnung der Konvention über den „trafic local“ mit dem Abschluß eines polnisch-litauischen Sicherheitspakts zu koppeln war. Nach dem Zustandekommen des Kellogg-Briand-Pakts an dem Polen und Litauen beteiligt waren, galt ein Abschluß eines polnisch-litauischen Sicherheitspakts als nicht mehr erforderlich.47 Dadurch wurde es Litauen möglich, sein Paketprogramm zurückzuziehen. Nunmehr sollte eine separate Unterzeichnung der Konvention über den „trafic local“ vorgenommen werden. So wurden die Verhandlungen der zweiten Königsberger Konferenz erheblich entlastet, so daß es der litauischen Delegation gelang, mehrere konstruktive Kompromißvorschläge zu machen. Die Bestrebungen der UdSSR, mit Polen einen Nichtangriffspakt abzuschließen, begannen im Jahr 1925. Die Sowjetregierung zielte darauf ab, ein bilaterales Abkommen mit Polen abzuschließen, während Polen es für zweckmäßiger hielt, einen kollektiven Nichtangriffspakt zwischen der UdSSR, Polen sowie den baltischen Staaten zustande zu bringen. Die UdSSR wies jedoch diesen Gegenvorschlag zurück, weil es ihr inakzeptabel erschien, Polen die Rolle eines Vermittlers zwischen der UdSSR und den 46 Der Kampf der Sowjet-Union um den Frieden 1917–1929, Dok. IV / 2, Antwort der Regierung der UdSSR auf die Einladung zum Beitritt zum Kelloggpakt. Note an den französischen Gesandten in Moskau, Jean Herbett, 31.8.1928, S. 232 ff. Siehe auch Eva Buchheit: Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928. Machtpolitik oder Friedensstreben?, Münster 1998, S. 300 ff. 47 ADAP, Ser. B, Bd. X, Dok. 4, v. Schubert, 4.9.1928, S. 5 ff.
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg439
baltischen Ländern anzutragen.48 Während die polnische und die litauische Delegation in Königsberg im Frühling 1928 über die Wiederherstellung gutnachbarlicher Beziehungen verhandelten, bemühte sich die Sowjetregierung erneut, Polen zum Abschluß eines Nichtangriffspakts zu bewegen. Auch dieser Vorstoß der Moskauer Regierung wurde allerdings von polnischer Seite zurückgewiesen.49 Nachdem der Kellogg-Briand-Pakt abgeschlossen worden war, schlug die Sowjetregierung Ende Dezember 1928 sowohl der polnischen als auch der litauischen Regierung vor, ein Protokoll zu unterzeichnen, das die Vereinbarung über das vorzeitige Inkrafttreten des Pariser Kriegsächtungspakts für diese Staaten betraf. Das Inkrafttreten des Kellogg-Briand-Pakts benötigte gemäß dessen Artikel 3 die Ratifizierung aller 15 Erstsignatarmächte. Infolge der divergierenden Interessen zwischen den Unterzeichneten stieß die Erfüllung dieser Bedingungen des KelloggPakts von Anfang an auf Schwierigkeiten. Die polnische Regierung hatte den Pakt als erste Signatarmacht neben den Großmächten bereits auf der Pariser Abschlußkonferenz im August 1928 unterzeichnet. Litauen war wenig später als erster baltischer Staat dem Pakt beigetreten. Vor diesem Hintergrund unterbreitete die Sowjetregierung zuerst Polen und Litauen den Vorschlag einer vorzeitigen Inkraftsetzung des Kriegsächtungspakts, vor allem zum Zweck zur Sicherung des Friedens im Osteuropa.50 Dieser Schritt Moskaus stieß aber auf Hindernisse, denn die Sowjetregierung verlangte nach wie vor, zwei verschiedene bilaterale Verträge, einerseits zwischen der UdSSR und Polen sowie andererseits zwischen der UdSSR und Litauen, über das vorzeitige Inkrafttreten des Kellogg-Pakts abzuschließen, nicht aber ein kollektives Abkommen zwischen der UdSSR, Polen und Litauen. Allerdings ließ die Sowjetregierung anderen Staaten, wie z. B. Finnland, Estland, Lettland, die dem Kellogg-Pakt beigetreten waren, den Beitritt zu diesem Vorschlag offen.51 Die sowjetische Diplomatie war sowohl in der Frage des polnisch-litauischen Streits als auch in der Weltsicherheitsfrage weit hinter die Initiative der Völkerbundsmächte zurückgefallen. In Moskau wollte man jedoch das Gewicht der UdSSR gegenüber den Westmächten sowohl in der Frage des 48 I. K. Kobljakov: Die UdSSR und die kapitalistischen Staaten Europas (1921 bis 1932), in: Sowjetische Friedenspolitik in Europa 1917 bis Ende der siebziger Jahre, hg. v. Horst Bartel und A. L. Naročniskij, Berlin 1982, S. 33–59 (hier S. 48). Siehe auch Rosenfeld, Bd. II (1984), S. 175. 49 ADAP, Ser. B, Bd. IX, Dok. 74, Brockdorff-Rantzau an AA, 13.6.1928, S. 165 f. 50 Der Kampf der Sowjet-Union um den Frieden 1917–1929, Dok. IV / 3, Vorschlag der UdSSR an Polen und Litauen auf Inkraftsetzung des Kelloggpakts. Noten des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten vom 29.12.1928, S. 237 ff. 51 ADAP, Ser. B, Bd. X, Dok. 242, v. Schubert, 29.12.1928, S. 581 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Wilnastreits als auch in der internationalen Sicherheitspolitik überhaupt stärken. Der sowjetische Vorschlag war zwar angeblich Element einer ausgesprochenen Friedenspolitik. Dennoch sah man in Berlin die neue Entwicklung der sowjetischen Außenpolitik mit großer Skepsis, weil man befürchtete, daß die Sowjets der Unantastbarkeit der polnischen Grenze Rückendeckung geben wollten. Es lag nahe, daß eine etwaige Vereinbarung zwischen der UdSSR und Polen über die vorzeitige Inkraftsetzung des Kriegsächtungspakts zur Folge haben könnte, die bestehenden West- und Ostgrenzen Polens zu bestätigen. Bis dahin hatten sich Berlin und Moskau stets einstimmig gegen die Anerkennung der bestehenden Grenzen Polens gewandt. Während man in Berlin deshalb den sowjetischen Vorschlag als bedenklich ansah, hatte Moskau überhaupt nicht vor, in diesem Rahmen eine Anerkennung der Grenzen Polens herbeizuführen.52 Vielmehr unterließ sie es gerade aus diesem Grund, die deutsche Regierung in ihren Vorschlag einer frühzeitigen Inkraftsetzung des Kellogg-Pakts einzubeziehen.53 Tatsächlich verminderte sich die Gefahr eines „Ostlocarno“ durch die Antwort Polens selbst. Die polnische Regierung hatte schon bisher in bezug auf die Sicherheitsfrage stets den Abschluß eines bilateralen Abkommens mit der UdSSR abgelehnt, und sie machte auch diesmal der UdSSR den Gegenvorschlag, ein kollektives Abkommen unter Einbeziehung von Estland, Lettland sowie Rumänien zustande zu bringen. Insofern sei Polen bereit, auf den Vorschlag der Sowjetregierung über die vorzeitige Inkraftsetzung des Kellogg-Paktes einzugehen.54 Nach Verhandlungen akzeptierte die Sowjetregierung letztlich diesen Standpunkt Polens. Dementsprechend war der Gegenstand nicht mehr auf die polnische Ostgrenze (Polen, Litauen, sowie die UdSSR) zu beschränken. Der Vorschlag der Sowjetregierung zum vorzeitigen Inkrafttreten des Kriegsächtungspakts, der nach seinem Urheber „Litvinov-Protokoll“ hieß, wurde am 9. Februar 1929 in Moskau zwischen der UdSSR, Polen, Estland, Lettland sowie Rumänien unterzeichnet. Der von sowjetischer Seite gewünschte Beitritt Litauens zu diesem Protokoll erfolgte erst zwei Monate später neben dem Beitritt der Türkei und Persiens am 5. April 1929.55
52 PA AA, R 28300 (Büro Reichsminister: Rußland, Bd. 21), Telegramm, v. Dirksen (Moskau) an AA, 7.1.1929. 53 Rosenfeld, Bd. II (1984), S. 328. 54 PA AA, R 28300 (Büro Reichsminister: Rußland, Bd. 21), Telegramm, Dirksen (Moskau) an AA, 22.1.1929. 55 Hans-Adolf Jacobsen: Primat der Sicherheit 1928–1938, in: OsteuropaHandbuch. Sowjetunion Teil I: Außenpolitik 1917–1955, Köln 1972, S. 220. Siehe auch Rolf Ahmann: Nichtangriffspakte: Entwicklung und operative Nutzung in Europa 1922–1939, Baden-Baden 1988, S. 104 ff.
V. Scheitern der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg441
Das „Litvinov-Protokoll“ ist zwar in der Forschung als „ein beachtlicher Erfolg der sowjetischen Diplomatie“ im Sinne des Friedensappells der Sowjetregierung bezeichnet worden.56 Seine Bedeutung darf jedoch nicht überschätzt werden.57 In Wirklichkeit war seine Wirkung auf die Beilegung des polnisch-litauischen Streits nur marginal.58 Die UdSSR zielte zuerst auf die Stärkung ihrer Rivalität zu den Völkerbundsmächten in der Weltsicherheitspolitik ab, insbesondere in der Frage des Wilnastreits.59 Die folgende Entwicklung erwies aber die Machtlosigkeit der Sowjetregierung in diesem territorialen Streit zwischen Polen und Litauen. Es gelang der UdSSR nicht, die Memelflößerei und den Eisenbahnverkehr an der Wilnagrenze zu normalisieren. Am Tage des litauischen Beitritts zum Litvinov-Protokoll, am 5. April 1929, trat Oberpräsident Siehr seine Reise in die Sowjetunion an, deren Aufgabe es war, mit maßgebenden Staatsmännern in Moskau über die Möglichkeit der Hebung des Handelsverkehrs zwischen Ostpreußen und der UdSSR zu verhandeln. Hierzu wurden die Angelegenheiten der Memelflößerei sowie des Transiteisenbahnverkehrs als Kardinalfragen betrachtet. Im Frühling 1929 herrschte in Europa kurzzeitig die Atmosphäre einer politischen Entspannung zwischen der UdSSR, Polen und Litauen. Die im Litvinov-Protokoll getroffene Friedensvereinbarung in Osteuropa war deshalb als günstiger Moment für Siehrs Initiative anzusehen. Denn die wirtschaftlichen Wünsche Ostpreußens, vor allem die Umsetzung des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens sowie die Freigabe der Memelflößerei, waren ohne die friedliche Mitwirkung aller beteiligten Staaten, vor allem der UdSSR, der baltischen Staaten, Polens sowie Deutschlands, nicht zu erzielen.
56 Jacobsen (1972), S. 220. Zur Litvinovs Außenpolitik siehe Knoll (2000), S. 73–155. 57 Maxim Litwinow [Maksim M. Litvinov]: Memoiren. Aufzeichnungen aus den geheimen Tagebüchern, aus dem Französischen übersetzt von Ray Castres, München 1956, S. 100 ff. Zur Haltung Polens und Rußlands über das Litvinov-Protokoll siehe Jürgen Pagel: Polen und die Sowjetunion 1938–1939. Die polnisch-sowjetischen Beziehungen in den Krisen der europäischen Politik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, Stuttgart 1992, S. 22 f. 58 Pagel (1992), S. 41–75 (hier S. 67). 59 PA AA, R 28300 (Büro Reichsminister: Rußland, Bd. 21), Aufzeichnung über das Pakt-Angebot der Sowjetregierung an Polen, 23.1.1929.
Kapitel VI
Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs vom 15. Oktober 1931 über den polnisch-litauischen Streit um den Eisenbahntransitverkehr1 1. Nach der Königsberger Konferenz Mit der Unterzeichnung des polnisch-litauischen Abkommens über die Regelung des kleinen Grenzverkehrs an der administrativen Linie (trafic local) fand die zweite Königsberger Konferenz Anfang November 1928 ihren Abschluß. Daraufhin faßte der Völkerbundsrat unter dem amtierenden Ratspräsidenten, dem französischen Außenminister Briand, am 14. Dezember 1928 die Resolution, die Verkehrs- und Transitkommission des Völkerbunds damit zu beauftragen, einen Bericht auszuarbeiten über „die unter Berücksichtigung der in Kraft befindlichen internationalen Vereinbarungen zu ergreifenden Maßnahmen zur Prüfung des gegenwärtigen Standes der polnisch-litauischen Beziehungen (mit Hinblick auf die Verkehrs- und Transitfreiheit) und für die Milderung der internationalen Rückwirkungen des Standes dieser Beziehungen“.2 Diese Resolution bezog sich auf einen Antrag, den das niederländische Ratsmitglied Beelaerts van Blokland in der Ratssitzung vom 8. September 1928 gestellt hatte.3 Ziel seines Antrags war 1 Zum polnisch-litauischen Streit um den Eisenbahntransitverkehr siehe folgende Quellen und Literatur: Cour Permanente de Justice Internationale, Série C, Plaidoiries, exposés oraux et documents, XXIIme Session 1931, N° 54, Trafic ferroviaire entre la Lithuanie et la Pologne, Avis consultatif du 15 octobre 1931, Leyden 1932 (= P. C. I. J., Ser. C, No. 54). World Court Reports. A collection of the judgments, orders and opinions of the Permanent Court of International Justice, Edited by Manley O. Hudson, Vol. II, Washington 1935, No. 34: Railway traffic between Lithuania and Poland (Railway sector Landwarów-Kaisiadorys), S. 749–761. Gregor Rutenberg: Die Entscheidung des Haager Weltgerichtshofes vom 15. Oktober 1931 in den litauisch-polnischen Streitsachen, in: Zeitschrift für Ostrecht, 7. Jg (1933), Heft 2, S. 274–290. M. Anysas: Der litauisch-polnische Streit um das Wilnagebiet von seinen Anfängen bis zum Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofes vom 15. Oktober 1931, Würzburg 1934. 2 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. X (1930), Nr. 3, S. 111. 3 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VIII (1928), Nr. 8, S. 315–319 (hier S. 317).
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs443
die Wiederherstellung normaler Beziehungen zwischen Polen und Litauen im wirtschaftlichen Interesse der dritten Mächte, vor allem im Interesse des internationalen Transithandels. Hierbei nahm er insbesondere auf die Resolution des Völkerbundsrats vom 10. Dezember 1927 Bezug, die „die Wiederherstellung normaler Beziehungen“ anordnete. Nach der Auslegung der Mehrheit der Ratsmitglieder sowie Polens sollte die Wiederherstellung des direkten Verkehrs über die Wilnagrenze als eine von der Dezember-Resolution 1927 ausgehende Verpflichtung aufgefaßt werden. Van Blokland rechtfertigte die Zuständigkeit des Völkerbunds für diesen neuen Schritt vor allem dadurch, daß die Gewährung und Sicherstellung des freien Handels, Verkehrs sowie Transits zwischen den Völkerbundsmitgliedern laut Artikel 23e der Völkerbundsatzung zu den Aufgaben des Völkerbunds gehöre. Diese Beilegungsversuche des Völkerbunds in der Frage des polnisch-litauischen Wilnastreits waren deshalb völlig neu, weil nicht in erster Linie die Entstehungsgeschichte der Absperrung der Wilnagrenze, also der Handstreich von Żeligowski, sondern vielmehr die Wahrung der Wirtschaftsinteressen dritter Mächte in Erwägung gezogen wurde. Obwohl Litauen sich gegen die Einsetzung der Transitkommission wandte, setzte der Völkerbundsrat schließlich seinen Beschluß durch.4 Die polnisch-litauische Konferenz von Königsberg, die auf Grund der Resolution des Völkerbundsrats vom 10. Dezember 1927 zur Beseitigung der zwischen beiden Staaten bestehenden Schwierigkeiten, besonders in den Bereichen von Wirtschaft und Verkehr, im März / April sowie im Oktober / November 1928 stattfand, führte nicht zu den vom Rat erwarteten Ergebnissen. Abgesehen vom Abschluß des Abkommens betreffend den trafic local wurde die Öffnung des direkten Verkehrs zwischen Polen und Litauen, vor allem an der Grenze zwischen Litauen und dem Wilnagebiet, weder auf den Wasserstraßen noch auf den Eisenbahnen erreicht. Während die litauische Delegation im April 1928 ihre Bereitschaft zur Freigabe der Memelflößerei erklärte, lehnte Polen es ab, die Flößereifrage gesondert zu behandeln. Es forderte vielmehr die einheitliche Behandlung des gesamten Fragekomplexes (die Wiedereröffnung des Eisenbahnverkehrs, der Wasserstraßen sowie die Wiederherstellung der Konsularbeziehungen). Litauen wies seinerseits die Aufnahme von Verhandlungen über die Eisenbahnfrage mit der Begründung zurück, daß die Öffnung der Eisenbahnlinie zwischen Kowno und Wilna die Souveränitätsfrage des Wilnagebiets maßgeblich betreffe. Im Gegensatz dazu legte Polen vielmehr Wert darauf, den direkten Eisenbahnverkehr zwischen Landwarów und Kaisiadorys, einer Teilstrecke zwischen Kowno und Wilna sowie Teil der ehemaligen Eisenbahnhauptlinie zwischen Königsberg, Minsk und Moskau, wiederherzustellen. Die Entwicklung des 4 PA
AA, R 29239 (Büro StS), Aufzeichnung, v. Schubert, 12.6.1928.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Güter- und Personenverkehrs zwischen Deutschland und Moskau verdankte sich hauptsächlich der Inbetriebnahme dieser Hauptlinie. Die Strecke Landwarów–Kaisiadorys, die sich über die Grenze zwischen dem Wilnagebiet und Litauen erstreckte, war gleich nach dem Handstreich Żeligowskis im Oktober 1920 von litauischer Seite gesperrt worden. Damit machte Litauen den Protest gegen die Gewaltakt Polens geltend. Seit der Demontage der Schienen stand die Strecke auch für den litauischen Verkehr nicht mehr zur Verfügung. Die Ergebnislosigkeit der Königsberger Konferenz in der Frage des direkten Verkehrs an der Wilnagrenze veranlaßte den Völkerbundsrat, im Sinne des September-Antrags von van Blokland eine Sachverständigenkommission einzusetzen. Der Schwerpunkt der Ratsresolution vom 14. Dezember 1928 lag deshalb darauf, die Transit- und Verkehrskommission des Völkerbunds (Commission consultative et technique des Communications et du Transit) zu beauftragen, den Einfluß der langjährigen Absperrung der Memelflößerei sowie der Eisenbahnstrecke Landwarów–Kaisiadorys auf den internationalen Transithandel zu untersuchen und möglicherweise auf Grund seiner auf Artikel 23e der Völkerbundssatzung beruhenden Zuständigkeit Empfehlungen zu geben.5 Auf der Tagung der Transit- und Verkehrskommission Mitte März 1929 wurde beschlossen, eine Unterkommission unter Leitung des portugiesischen Ratsmitglieds, de Vasconcelos, zur Untersuchung der Angelegenheiten einzuberufen. Diese Kommission bestand aus dem Präsidenten und Vizepräsidenten der Transit- und Verkehrskommission, dem Vorsitzenden für die ständigen Unterausschüsse für Eisenbahn und Binnenschiffahrt, dem stellvertretenden Vorsitzenden des ständigen Juristenausschusses sowie zwei ehemaligen Präsidenten des Gesamtausschusses. Die Reichsregierung vertrat in der Unterkommission der Gesandte Seeliger, der zugleich Präsident der Transit- und Verkehrskommission war. Die Unterkommission wurde in weitere zwei Sonderausschüsse geteilt.6 Der erste Ausschuß hatte die Aufgabe, die Beeinträchtigung des Handels und Verkehrs durch die Sperrung der Wilnagrenze sowohl bei der Transitflößerei auf der Memel als auch bei dem Eisenbahnverkehr festzustellen. Der Präsident der Schweizerischen Bundesbahn, Herold, wurde mit seiner Leitung beauftragt. Dem Ausschuß gehörten zwei weitere britische und holländische Mitglieder an.7 Hingegen war der zweite Ausschuß für die Untersuchung der juristischen 5 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VIII (1928), Nr. 12, S. 485. AA, R 25705 (Handakten von Seeliger), Radziwill (Société de Nations) an Seeliger, 15.5.1928. 7 M. le général R. de CANDOLLE, ancien directeur-administrateur de la Grande Compagnie des Chemins de fer du Sud, Buenos-Ayres. M. A.-G. KROELLER, membre du Conseil économique du ministère des Affaires étrangères des Pays-Bas. Annexe 4 au N° 10. Composition de la sous-commission et des comités nommés par 6 PA
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs445
Verhältnisse zuständig. Guerrero (El Salvador) übernahm die Leitung des zweiten Ausschusses, an dem weitere fünf Vertreter aus Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden sowie Deutschland beteiligt waren.8 Der erste Sonderausschuß führte im Sommer 1929 eine Studienreise nach Litauen, Polen sowie zu den Ostseehäfen (Danzig, Königsberg, Memel, Libau und Riga) durch, wobei auch eingehende Gespräche mit den Regierungen der betroffenen Staaten, allerdings mit Ausnahme Litauens, geführt wurden. Die litauische Regierung, die sich in der Dezember-Ratssitzung 1928 strikt gegen die Einsetzung der Transitkommission gewandt hatte, lehnte die Übergabe der nötigen Informationen über die regionalen Verhältnisse und auch den Besuch des Studienausschusses ab.9 Erst nach dem Sturz Voldemaras’ im September 1929 lud die litauische Regierung den Präsidenten der Unterkommission, de Vasconcelos, nach Kowno ein, um so dem Völkerbund ihren guten Willen zu zeigen.10 In der Besprechung mit Vasconcelos erklärte Außenminister Davos Zaunius jedoch mit aller Deutlichkeit, daß seine Regierung hinsichtlich der Wilnafrage keinesfalls den Standpunkt der Vorgängerregierung aufgeben werde. Darüber hinaus warf er dem Völkerbund eine Einmischung in die litauischen Angelegenheiten vor. Unter Hinweis auf die Aufgabe des Völkerbunds, die im internationalen Verkehr bestehenden Schwierigkeiten zu beseitigen, wies Vasconcelos diese Kritik zurück. Zau nius erwiderte, daß seitens der UdSSR, Deutschlands und Litauens keine Beschwerde über die Absperrung des Bahnverkehrs eingelegt worden sei. Vasconcelos wies darauf hin, daß neben Polen auch Lettland sich beschwert habe und Deutschland, insbesondere Königsberg, großes Interesse daran habe, im Handel mit Rußland keine Umwege nehmen zu müssen, sondern den kürzesten Weg nach Moskau durch das Wilnagebiet verwenden zu können. Zaunius war durch diese Erklärung nicht wenig erstaunt und fragte nach, ob es sicher sei, daß der Reichsregierung daran sehr gelegen sei.11 Während die Königsberger Wirtschaftsvertreter bereits beim Besuch des Ausschusses auf die Notwendigkeit der Normalisierung des Bahnverkehrs an der Wilnagrenze hingewiesen hatten, verhielt sich Berlin in dieser Frage passiv und legte allergrößten Wert darauf, die Integrität Litauens gegen Polen zu wahren. In dieser Frage bestand außerdem zwischen Berlin und la commission consultative et technique des communications et du transit, in: P. C. I. J., Ser. C., No. 54, S. 432 f. 8 PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Abschrift, Koenigs (RVM), 26.11.1929. 9 Rapport de la Commission consultative et technique des Communications et du Transit, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 31–91 (hier S. 36). 10 PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Seeliger an AA, 31.12.1929. 11 Ebd.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Moskau Übereinstimmung. Folglich traten die beiden Mächte ausdrücklich für die litauische Haltung ein. Trotz der bestehenden realen wirtschaftlichen Interessen Königsbergs sah sich das Auswärtige Amt vor die Aufgabe gestellt, die politische Frage primär zu behandeln. Als der Sonderausschuß (der sog. Studienausschuß) im November den ersten Entwurf seines Studienberichts der in Paris tagenden Kommission vorlegte, bemerkte Ministe rialdirigent Koenigs (Reichsverkehrsministerium), daß dieser Bericht eine weitgehende Aufforderung gegenüber Litauen in bezug auf die Eisenbahnfrage beinhalte, da von der Öffnung der Wilnagrenze für den Bahnverkehr die Rede sei. Dabei blieb die Entstehungsgeschichte des Wilnastreits unberücksichtigt. Polen wurde hingegen allein für die Unterbindung der Transitflößerei aus der UdSSR verantwortlich gemacht. Der Entwurf wurde zuerst vom holländischen Vertreter (van Eysinga) ausdrücklich unterstützt. Darüber hinaus arbeitete der britische Vertreter einen Begleitbrief zu diesem Berichtsentwurf aus, der Kritik ausschließlich an der litauischen Regierung übte. Nach der dringenden Mitteilung Koenigs’ vertrat die deutsche Botschaft Paris ausdrücklich den Standpunkt, daß der vorgelegte Berichtsentwurf, insbesondere der Begleitbrief, „mit der politischen Haltung Deutschlands gegenüber Litauen unvereinbar sei“.12 Der Begleitbrief wurde zwar vom französischen Generalsekretär der Verkehrskommission zurückgezogen und durch eine von ihm selbst ausgearbeitete neue Fassung ersetzt, die hinsichtlich der Kritik an Litauen zurückhaltender formuliert war. Dennoch waren sowohl Litauen als auch das Reich und die UdSSR mit dem Entwurf äußerst unzufrieden. 2. Die Memel- und Wilnafrage im Völkerbund 1930 In einer Unterredung Ende Februar 1930 in Kowno äußerte der litauische Außenminister Zaunius gegenüber dem deutschen Gesandten Moraht, daß Litauen die auf Wunsch Polens erfolgte Resolution des Völkerbundsrats vom 14. Dezember 1928 sowie die vorläufigen Untersuchungsergebnisse der Transitkommission für untragbar halte. Darin sei von der Öffnung des Bahnverkehrs an der Wilnagrenze die Rede sowie davon, daß die Sperrung der Eisenbahnstrecke an der Wilnagrenze gegen das Prinzip der Freiheit des internationalen Transitverkehrs verstoße. Zaunius erklärte, daß ein Entgegenkommen Litauens in der Frage des Transitverkehrs das Ende der gegenwärtigen litauischen Regierung bedeute.13 Kowno müsse weiterhin auf der Nichtaufhebung der Verkehrssperre bestehen. Er sprach ganz offen von einem innen- und außenpolitischen Engpaß. Nach dem Sturz Voldemaras’ mehrten sich in Kowno die Stimmen, daß Litauen seine bisherige Polen 12 PA
AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Koenigs, 26.11.1929. Ser. B, Bd. XIV, Dok. 127, Moraht, 26.2.1930, S. 297.
13 ADAP,
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs447
politik revidieren und die Annäherung beider Staaten insbesondere im wirtschaftlichen Bereich vorantreiben solle. Durch die dauernde Krisenlage der litauischen Wirtschaft sah sich Kowno offenbar vor einen Scheideweg gestellt. Angesichts der im Oktober 1929 eingetretenen Weltwirtschaftskrise war selbst Deutschland nicht in der Lage, den litauischen Finanzwünschen entgegenzukommen. Außerdem legte der Autonomiestreit im Memelgebiet ein weiteres Hindernis in den Weg. Obwohl die Sowjetregierung politisch die Unterstützung auf Litauen für notwendig hielt und sich strikt gegen die Bildung einer polnisch-litauischen Union wandte, tat sie aber wirtschaftlich das Gegenteil. Der unverhältnismäßig große Ausfuhrüberschuß Rußlands gegenüber Litauen, der auf Dumpingpreise gestützt war, verursachte eine außerordentliche Imparität der Handelsbilanz zwischen der UdSSR und Litauen.14 Dies hatte die litauische Abneigung gegen die Sowjets zur Folge. Unter diesen Umständen befürchtete man, daß Kowno seine engen Beziehungen zu Moskau und Berlin abkühlen lassen werde.15 So zog Moraht die Konsequenz, daß das Reich Kownos Standpunkt in der Frage des Transitverkehrs an der Wilnagrenze ausdrücklich unterstützen solle, um eine Annährung Litauens an Polen zu verhindern. Als Gegenleistung sollte Deutschland Litauen dazu auffordern, die Litauisierungspolitik im Memelgebiet einzustellen.16 Am 10. März 1930 besuchten Außenminister Zaunius sowie der Gesandte Sidzikauskas das Auswärtige Amt und führten politische Gespräche mit Außenminister Curtius sowie Staatssekretär Schubert. Mit Blick auf die gerade in Genf tagende Sitzung der Verkehrs- und Transitkommission beschwerte sich Zaunius, daß der vom Unterausschuß aufgestellte erste Entwurf des Transitberichts sich auf einen einseitigen Standpunkt gestützt und deshalb ein falsches Bild vermittelt habe. Die litauische Regierung habe dem Völkerbund mitgeteilt, daß sie diesem Entwurf keinesfalls zustimmen könne. Er bat Curtius um die deutsche Unterstützung des litauischen Standpunkts, also der Rechtmäßigkeit der Absperrung der fraglichen Eisenbahnstrecke. Curtius sagte dies zu und äußerte den Wunsch, daß sich Litauen nicht eines Tages hinter dem Rücken Deutschlands mit Polen in dieser Frage verständigen möge.17 Sidzikauskas teilte weiter mit, daß die litauische 14 ADAP, Ser. B, Bd. XV, Dok. 227, Legationsrat Hencke, 21.9.1930, S. 546 ff. Die Einfuhr aus Rußland nach Litauen betrug 1929 13.122.000 Lit, die Ausfuhr aus Litauen nach Rußland 12.710,00 Lit. 15 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 199, Mr. Preston to Mr. KnatchbullHugessen, October 25, 1930, S. 293 ff. 16 ADAP, Ser. B, Bd. XIV, Dok. 127, Moraht, 26.2.1930, S. 297. 17 PA AA, R 29239 (Büro StS), Aufzeichnung, 10.3.1930. ADAP, Ser. B, Bd. XIV, Dok. 144, Aufzeichnung des Außenministers Curtius, 10.3.1930, S. 342 f. ADAP, Ser. B, Bd. XIV, Dok. 146, v. Schubert, 11.3.1930, S. 345 ff.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Regierung in Genf zunächst versuchen werde, beim Präsidenten der Kommission, Vasconcelos, eine Abänderung des Berichts zu erreichen.18 Während in Berlin auf diese Weise eine Verständigung zwischen Deutschland und Litauen erzielt wurde, gelang es den litauischen Vertretern in Genf, ihren Widerstand gegen den Entwurf des Transitberichts durchzusetzen. Dadurch wurde die Verkehrs- und Transitkommission zu einer erneuten Anhörung bei der polnischen und der litauischen Regierung gezwungen. Zum Sitzungsschluß beantragte deshalb die Verkehrskommission beim Völkerbundsrat, die Vorlage des erbetenen Berichtsentwurfs auf die am 4 . September 1930 zu eröffnende Tagung zu verschieben.19 Durch den Abschluß des Abkommens über den trafic local, das den Modus vivendi an der administrativen Linie bestimmte, wurde das polnischlitauische Verhältnis nicht wesentlich verbessert. Im Mai 1930 beklagte sich die litauische Regierung abermals über Gewaltakte der polnischen Soldaten gegen die Grenzbewohner. Sie beantragte beim Völkerbund, die Frage der administrativen Linie, also die Wilnagrenze, auf die Tagesordnung der Ratssitzung zu setzen.20 Nach polnischer Auffassung hatte sich der Zwischenfall innerhalb der polnischen Grenzzone ereignet, weshalb die Einschaltung des Völkerbunds unnötig sei. Daraufhin schlug Warschau der Kownoer Regierung die Aufnahme einer außerhalb der Zuständigkeiten des Völkerbunds stattfindenden direkten Verhandlung vor. Aufgabe sollte es sein, die Königsberger Vereinbarungen durch ein neues Abkommen über die Regelung von Grenzzwischenfällen zu ergänzen. Polen erklärte sich bereit, die Verhandlung über den grenzüberschreitenden Verkehr zwischen Litauen und dem Wilnagebiet hinsichtlich der Eisenbahnen und der Flößerei aufzunehmen.21 Der Völkerbundsrat trat diesem Standpunkt Polens bei und empfahl beiden Staaten die Aufnahme direkter Verhandlungen.22 Die von Polen aufgeworfene Lösungsmöglichkeit, die Frage der Grenzzwischenfälle an der administrativen Linie, also die Angelegenheiten an der Wilnagrenze, durch unmittelbare Verhandlung mit Litauen zu regeln, ließ Moskau argwöhnen, daß eine direkte Verständigung zwischen Polen und Litauen die Annäherung beider Staaten zur Folge haben könne. Die litauische Regierung erklärte sich zwar zunächst gegenüber dem Völkerbund zu direkten Verhandlungen mit Polen bereit. Anfang August 1930 teilte aber 18 PA AA, R 29239 (Büro StS), Aufzeichnung über die Unterredung zwischen dem Reichsaußenminister und dem litauischen Außenminister Zaunius, 10.3.1930 (8.3.1930). 19 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. X (1930), Nr. 3, S. 111. 20 Ebd., Nr. 5, S. 192 sowie Nr. 8, S. 290. 21 Ebd., Nr. 9, S. 347 f. 22 Ebd., Nr. 12, S. 437 f.
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs449
Zaunius dem Moskauer Außenkommissariat mit, daß Litauen es nicht für angängig halte, hinsichtlich der Angelegenheiten an der Wilnagrenze mit Polen zu einer Verständigung zu kommen. Litauen habe sich deshalb entschlossen, insbesondere im Streit um die Rechtmäßigkeit der litauischen Absperrung der Eisenbahndurchgangsstrecken keine Konzessionen mehr zu machen. Stomonjakov informierte umgehend die deutsche Botschaft in Moskau über diese Entwicklung. Er betonte die Notwendigkeit, daß Deutschland sowohl wirtschaftlich als auch außenpolitisch Kownos Standpunkt unterstützen solle, um so Litauen von einer Annährung an Polen abzuhalten. Zum einen sollte die Ausfuhrmöglichkeit nach Deutschland, insbesondere die Schweineausfuhr, erweitert werden. Zum anderen solle das Reich im Völkerbund, insbesondere in dessen Verkehrs- und Transitkommission, bei der Aufstellung des Transitberichts darauf hinwirken, Litauen vor den polnischen Ansprüchen zu schützen.23 Ebenso wie Stomonjakov versuchte die sowjetische Botschaft in Berlin das Auswärtige Amt unter Hinweis auf die drohende Gefahr einer polnisch-litauischen Annäherung von der Notwendigkeit der Unterstützung des litauischen Standpunkts zu überzeugen.24 Unmittelbar vor seiner Abreise nach Genf besuchte der litauische Gesandte Sidzikauskas Ende August 1930 das Auswärtige Amt und teilte mit, daß seine Regierung beschlossen habe, bezüglich der Transitfragen lediglich auf die Freigabe der Transitflößerei einzugehen, während sie die Empfehlung der Transitkommission zur Öffnung des Eisenbahnverkehrs an der Wilnagrenze ablehnen werde.25 Sidzikauskas fragte nach der Haltung der Reichsregierung in dieser Frage und brachte seine Bedenken zum Ausdruck, ob Berlin trotz des Memelautonomiestreits dennoch Kownos Standpunkt gegen Warschau unterstützen wolle.26 Wenngleich das Reich in der Frage der Memelautonomie ständig Auseinandersetzungen mit Litauen hatte, wurde es doch durch seine Polenpolitik paradoxerweise dazu gezwungen, Litauen wirtschaftlich und außenpolitisch zu stützen. Stomonjakov, der die schwierige Situation Berlins gut kannte, vertrat gegenüber Botschafter v. Dirksen den Standpunkt, daß Litauen als Gegenleistung für die deutsche Unterstützung in der Transitfrage dem Wunsch Deutschlands nach der Memelautonomie entgegenkommen solle.27 Dieser Ansicht schloß sich das Auswärtige Amt an und war gern bereit, in der Frage 23 ADAP, Ser. B, Bd. XV, Dok. 170, Botschafter in Moskau v. Dirksen, 6.8.1930, S. 426 ff. 24 PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Abschrift, v. Bülow, 3.9.1930 25 PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Abschrift, v. Bülow an Reichs minister, Trautmann, Gaus usw., 1.9.1930. 26 Ebd. 27 ADAP, Ser. B, Bd. XV, Dok. 170, v. Dirksen, 6.8.1930, S. 426 ff.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
des Transitstreits Kownos Haltung zu unterstützen und die Verkehrskommission des Völkerbunds dahingehend zu beeinflussen. Seine Unterstützung sollte jedoch ausschließlich davon abhängen, inwieweit Litauen darauf eingehen werde, die Litauisierungspolitik im Memelgebiet aufzuheben.28 Im August 1930 war der memelländische Landtag gerade dabei, sich mit seiner Beschwerdeeingabe gegen die Nichteinhaltung des Autonomiestatus durch Litauen an den Völkerbundsrat zu wenden. Wäre seine Eingabe vor der Eröffnung der September-Ratstagung eingereicht worden, hätte dies die Reichsregierung schon aus innenpolitischer Rücksicht gezwungen, die Beschwerde des Memellandtags zu unterstützen. In diesem Fall hätte das Reich der Kownoer Regierung im Transitstreit, dessen Behandlung in der am 4. September zu eröffnenden Ratstagung anstand, nicht mehr Rückendeckung geben können.29 Unter dem Gouverneur Merkys und den von ihm beauftragten Landesdirektoriumspräsidenten im Memelgebiet wurden die der deutschen Bevölkerung eingeräumten Autonomierechte schwer beeinträchtigt. Die Entlassung mehrerer deutscher Schullehrer sowie die statutswidrige Abänderung des Schulsystems, der Sprachzwang usw. riefen beim memelländischen Landtag Gegenwehr hervor. Nach dem Mißtrauensantrag des Landtags gegen den Präsidenten des Landesdirektoriums trat Präsident Kadgien mit seinem ganzen Direktorium zurück. Anfang August 1930 ernannte der Gouverneur als Nachfolger Kadgiens den Nationallitauer Reisgys zum neuen Direktoriumspräsidenten. Daneben wurde die Einberufung von zwei weiteren Litauern ins Direktorium trotz der Ablehnung des Landtags, wo die Deutschen die Mehrheit besaßen, durchgesetzt. Die Stimmenmehrheit des neuen Direkto riums lag somit nach wie vor auf litauischer Seite. Das neue Direktorium legte Wert auf die Fortsetzung der Litauisierungspolitik, vor allem in der Schul- und Beamtenpolitik. Nachdem der Mißtrauensantrag gegen das neue Direktorium vom Landtag angenommen worden war, löste der neue Landesdirektoriumspräsident, Reisgys, unter Zustimmung des Gouverneurs den Landtag auf. Ende August 1930 reichte der Landtag seine Beschwerde beim Völkerbundsrat ein.30 Die Befürchtungen der Reichsregierung wurden somit Wirklichkeit. In Kowno bemühte sich der deutsche Gesandte dennoch bis zur letzten Stunde, die litauische Regierung zur Demokratisierung seiner Memelpolitik zu überreden. Stomonjakov instruierte außerdem den sowjetischen Gesandten in Kowno, eine energische Demarche der Sowjetregierung gegen das litauische Vorgehen im Memelgebiet einzulegen. Im Interesse der sowjeti28 ADAP,
Ser. B, Bd. XV, Dok. 189, v. Bülow, 19.8.1930, S. 469 f. Ser. B, Bd. XV, Dok. 174, v. Bülow, 9.8.1930, S. 440 f. 30 Plieg (1962), S. 44. 29 ADAP,
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs451
schen Außenpolitik mußte vermieden werden, in diesem Moment Litauen im Völkerbund an den Pranger zu stellen. Trotz dieser diplomatischen Anstrengungen Deutschlands und Rußlands änderte jedoch Kowno seine Haltung nicht. Außenminister Zaunius sah vielmehr die Forderung Morahts nach sofortigem Rücktritt des memelländischen Gouverneurs als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Litauens an und wies ihre Annahme strikt zurück.31 In Genf teilte Curtius bei einer Unterredung mit Zaunius mit aller Deutlichkeit mit, daß die Reichsregierung ohne Lösung der Memelautonomiefrage den litauischen Transitwunsch im Völkerbund nicht mehr unterstützen könne. So beschloß die Reichsregierung schließlich, Artikel 17 der Memelkonvention in Anwendung zu bringen.32 Bis zum letzten Moment, aber letztlich ergebnislos, versuchte das sowjetische Außenkommissariat, der deutschen Regierung von der Beschwerdeerhebung im Völkerbund abzuraten.33 Auf der Genfer September-Ratstagung lenkte die Reichsregierung die Aufmerksamkeit des Rats auf die Verletzung des Autonomiestatuts und beantragte, die Angelegenheiten auf die Tagesordnung der Ratssitzung zu setzen. Gegen diesen Antrag der deutschen Delegation am 20. September leistete der litauische Außenminister letzten Widerstand. Er stellte einen Gegenantrag auf Prüfung der Rechtmäßigkeit des deutschen Antrags. Nach der Prüfung durch das Juristenkomitee wurde er allerdings für rechtmäßig erklärt.34 Dadurch war Litauen der Rückzug abgeschnitten.35 Zaunius versuchte nun, durch unmittelbare Verhandlung mit dem deutschen Außenminister außerhalb der geplanten Ratssitzung zu einer Einigung zu kommen, um so die offene Behandlung in der Ratssitzung zu vermeiden. Diesem Wunsch Litauens wurde durch Curtius Rechnung getragen.36 Er forderte Zaunius auf, im Hinblick auf die bevorstehenden Landtagswahlen vom 10. Oktober 1930 in Memel die statutsmäßige demokratische Wahlordnung zu gewährleisten und das gegenwärtige Landesdirektorium, das gegen den Willen des Landtags einberufen worden war, durch die Abberufung des Präsidenten Reisgys umzubilden. Zaunius erklärte, daß seine Regierung bereit sei, auf den Wunsch Deutschlands einzugehen. Die beiden Außenmi31 ADAP,
Ser. B, Bd. XV, Dok. 209, Moraht, 6.9.1930, S. 513 ff. R 28421 (Büro Reichsminister: Völkerbund, Bd. 22), Telegramm, Deutsche Delegation Genf (Curtius) an AA, 17.9.1930. 33 PA AA, R 28421 (Büro Reichsminister: Völkerbund, Bd. 22), Telegramm, Botschaft Moskau an AA, 18.9.1930. 34 PA AA, R 28421 (Büro Reichsminister: Völkerbund, Bd. 22), Telegramm, Delegation Genf (Curtius) an AA. 27.9.1930. 35 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. X (1930), Nr. 9, S. 348 f. 36 PA AA, R 28421 (Büro Reichsminister: Völkerbund, Bd. 22), Telegramm, Deutsche Delegation Genf (Curtius) an AA, 1.10.1930. 32 PA AA,
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
nister unterzeichneten sodann in Anwesenheit des Untergeneralsekretärs des Völkerbundsrats ein Protokoll. Darin akzeptierte Zaunius die deutschen Forderungen, insbesondere die Einhaltung der demokratischen Wahlordnung, die Gewährung der Rede-, Versammlung- und Pressefreiheit, sowie die sofortige Umbildung des Landesdirektoriums.37 Die eingehende Untersuchung hinsichtlich der Ausführung dieser litauischen Erklärung wurde auf Vorschlag des norwegischen Ratsmitglieds auf die Tagesordnung der JanuarRatstagung 1931 gesetzt. Somit gelang es dem litauischen Außenminister abermals, die Behandlung des Autonomiestreits in der Ratssitzung zu vermeiden. Im Gegensatz zu den Erwartungen Deutschlands wurden jedoch die Zusagen, sowohl die Demokratisierung des Wahlsystems als auch der Rücktritt von Reisgys, nicht eingehalten.38 Im Gegenteil wurden Anfang Oktober ca. 20 deutschsprachige Beamte aus dem memelländischen Landesdirektorium entlassen. Trotz der noch bestehenden Einschränkungen der Meinungsfreiheit, wie Pressezensur usw., wurden dennoch die vorgesehenen Landtagswahlen in Memel planmäßig am 10. Oktober 1930 durchgeführt. Bei diesem Wahlkampf hatte die Beanstandung der Reichsregierung in Genf gewiß eine psychologische Wirkung, da das Reich seine Unterstützung auf die deutschen Memelländer zum Ausdruck brachte. Die Mehrheit der Landtagssitze entfiel trotz der Störungsversuche durch Litauen nach wie vor auf das deutsche Lager. Aber die litauischen Parteien gewannen allein zwei Sitze mehr als bei den letzten Wahlen. Die litauische Verzögerung in der Umsetzung des in Genf unterzeichneten Demokratisierungsprogramms ging offenbar auf innenpolitische Rücksichten zurück. Die nachgiebige Erklärung des litauischen Außenministers in Genf hatte in Kowno stürmische Gegenwehr hervorgerufen. Man warf Zaunius vor, angesichts des deutschen Drucks kapituliert zu haben, und forderte seinen sofortigen Rücktritt.39 Obwohl die Prüfung des Völkerbundsrats über die Umsetzung des Autonomiestatuts für die Januar-Tagung von 1931 vorgesehen wurde, versuchte Litauen, seine Memelpolitik von dem Druck Berlins zu befreien. Im Fall 37 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 206, The Memelquestion, November 26, 1930, S. 302–313 (hier S. 308). ADAP, Ser. B, Bd. XVI, Dok. 2, AA an die Gesandtschaft in Kowno, 1.10.1930, S. 5 f. 38 PA AA, R 28421 (Büro Reichsminister: Völkerbund, Bd. 22), Abschrift, AA (Bülow) an Delegation Genf, 7.10.1930. 39 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 202, Mr. Preston to Mr. KnatchbullHugessen, November 4, 1930, S. 298 f. „M. Galvanauskas was vehement in his denunciation of what he described as the surrender to Berlin, and said that Dr. Zaunius, who was ponderous in his mental processes and handicapped by a German upbringing, had apparently become panic-stricken, and had compromised the posi tion of his Goverment in Memel by wholesale and preposterous concessions.“
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs453
der Feststellung der Nichterfüllung des durch den litauischen Außenminister unterzeichneten September-Protokolls hätte sich Litauen im Völkerbund in einer äußerst schwierigen Lage befunden.40 Außerdem stand die Verhandlung über den Bericht der Verkehrs- und Transitkommission über den polnisch-litauischen Transitstreit, der im September 1930 dem Rat vorgelegt wurde, ebenfalls auf der Tagesordnung der Januar-Tagung 1931. Obwohl die litauische Regierung infolge ihrer innenpolitischen Schwierigkeiten die gegen Berlin gerichtete Haltung in der Frage der Memelpolitik aufrecht erhielt, war Kowno dennoch in der Behandlung des Wilnastreits auf die diplomatische Rückendeckung des Reichs angewiesen. 3. Der Bericht der Verkehrs- und Transitkommission vom September 1930 Auf der Sitzung des Völkerbundsrats vom September 1930 wurden hinsichtlich des polnisch-litauischen Streits folgende zwei Fragen zur Debatte gestellt: 1. Die Beschwerde Litauens über den Gewaltakt der polnischen Soldaten gegen die Grenzbewohner an der administrativen Linie. Hiergegen wurde vom Rat dem polnischen Standpunkt Rechnung getragen.41 Auf Grund des Gegenantrags der polnischen Regierung beschloß der Rat, den beiden Parteien die Aufnahme direkter Verhandlungen über die Erledigung der Grenzzwischenfälle zu empfehlen. Der litauische Vertreter erklärte sich bereit, die vorgeschlagenen Verhandlungen sowohl über die Regelung der Grenzzwischenfälle als auch über die Regelung der Flößerei an der Wilnagrenze aufzunehmen.42 2. Die Vorlage des Studienberichts der Verkehrskommission über den Transitverkehr an der Wilnagrenze. Der Bericht hinsichtlich des Einflusses des polnisch-litauischen Streits auf den internationalen Transitverkehr, mit dessen Aufstellung die Verkehrs- und Transitkommission auf Grund der Ratsresolution vom 14. Dezember 1928 beauftragt worden war, wurde am 4. September 1930 dem Rat vorgelegt. Die Ergebnisse gliederten sich in zwei Teile. Der erste Teil betraf die Unterbrechung der Transitflößerei auf der Memel / Njemen und deren Einfluß auf die Wirtschaft in Nordosteuropa, vor allem Ostpreußen, Lettland, UdSSR, Litauen sowie Polen. Dagegen ging es bei dem zweiten Teil um die Absperrung der Eisenbahnstrecke zwischen Landwarów und Kaisiadorys an der Wilnagrenze und um deren Einfluß auf den internationalen Transithandel, insbesondere im Hinblick auf den Umschlaghandel der Ostseehäfen (Königsberg, 40 ADAP, 41 Die
Ser. B, Bd. XVI, Dok. 56, Hencke, 14.11.1930, S. 144 ff. Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. X (1930), Nr. 8, S. 290. Ebd., Nr. 9,
S. 347 f. 42 Ebd., Nr. 9, S. 347 f.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Memel, Libau sowie Riga) einerseits und der UdSSR sowie Polen andererseits. Die Verkehrskommission kam dabei zu folgender Schlußfolgerung:43 a) Der Verkehr auf der Memel: Die Transitflößerei werde in erster Linie durch Polen verhindert, vor allem durch seine Weigerung gegen die Aufnahme der Transitflößerei aus der UdSSR. Auch die im Wilna-Grodnogebiet ausgebeuteten oder die aus der Gegend Minsk bis zur polnischen Grenze ankommenden Hölzer würden nicht mehr auf Wasserstraßen nach Litauen und Ostpreußen geflößt, sondern nach der Ausarbeitung zum Schnittmaterial auf Schienenwegen nach den Häfen Danzig und Gdingen abtransportiert. Die Kommission bemerkte allerdings, es sei noch zu prüfen, ob die litauische Maßnahme hinsichtlich des Wechsels der Flößer von den polnischen zu den Nationallitauern an der administrativen Linie gegen die Freiheit des Transits verstoße. Sie schloß dennoch, daß bei der Memelflößerei in rechtlicher Hinsicht keine große Hindernisse mehr bestünden, die Transithölzer an der litauischen Grenze aufzunehmen.44 b) Der Bahnverkehr über die Wilnagrenze: Hingegen erklärte die Kommission hinsichtlich der Eisenbahnfrage ausdrücklich, daß die Eisenbahnstrecke Landwarów–Kaisiadorys durch die litauische Maßnahme unterbrochen worden sei. Die Schienen auf litauischem Gebiet seien durch die Litauer abgerissen worden. Zu beachten ist vor allem der Standpunkt der Kommission, daß der bilaterale Handelsverkehr zwischen Polen und Litauen auf dem Umleitungswege über Ostpreußen und Lettland ohne besondere Schwierigkeiten durchgeführt werden könne. Aus diesen Gründen stellte die Kommission fest, daß die fragliche Eisenbahnstrecke in erster Linie für den internationalen Transitverkehr, nicht aber für den polnisch-litauischen Lokalverkehr von Bedeutung sei. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte diese Eisenbahnstrecke ausschließlich zum russischen Kaiserreich gehört und war für den Handel zwischen den Ostseehäfen (Riga, Libau, Memel sowie Königsberg) einerseits und dem Hinterland Rußland andererseits ein unerläßliches Bindeglied gewesen. Nach dem Krieg war die Linie auf 43 Rapport de la Commission consultative et technique des Communications et du Transit, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 31–91. Vgl. auch PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Abschrift, RVM (Koenigs), Verhandlungen in einem Unterausschuß des Völkerbunds über den Streit zwischen Polen und Litauen, 26.11.1929. Darin berichtete Koenigs, daß die Kommission den Standpunkt vertrat, daß Polen für die Unterbrechung der Njemenflößerei an der polnisch-russischen Grenze, Litauen hingegen für die Unterbrechung des Bahnverkehrs an der Wilnagrenze verantwortlich sei. 44 Rapport de la Commission consultative et technique des Communications et du Transit, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 31–91 (hier S. 33, S. 43 sowie S. 49.) Vgl. auch PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Bericht, Seeliger an Reichsminister des Auswärtigen, 31.12.1929.
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs455
die neu entstandenen Oststaaten aufgeteilt worden. Den Untersuchungsergebnissen zufolge sei der Handel der genannten Ostseehäfen durch die Unterbrechung des Bahnverkehrs schwer beeinträchtigt worden, auch durch den Kostenaufwand der Umleitung, welche die Sperrung dieser Strecke notwendig gemacht habe. Die Ostseehäfen könnten ihren früheren Rußlandhandel nur durch die Wiedereröffnung dieser Bahnstrecke wiederaufnehmen. Schließlich forderte die Kommission, daß alle Hindernisse des freien Transitverkehrs, die gegen den Grundsatz von Artikel 23e der Völkerbundssatzung sowie die von Polen und Litauen unterzeichneten internationalen Übereinkommen verstießen, beseitigt werden müßten. Daher empfahl sie, folgende konkrete Regelungen zwischen Polen und Litauen herbeizuführen: 1. Die Regelung über die Flößerei auf der Memel / Njemen gemäß Artikel 332 bis 337 des Versailler Vertrags. 2. Der Abschluß eines administrativen und verkehrstechnischen Abkommens über die Wiederöffnung der Eisenbahnstrecke Landwarów–Kaisiadorys, vor allem im Interesse des internationalen Transitverkehrs.45 Gegen diese Empfehlungen erhoben Polen wie Litauen Einwände, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Unmittelbar vor der Eröffnung der September-Ratssitzung, bei der auf Grund des Kommissionsberichts eine Entscheidung durch den Völkerbundsrat gefällt werden sollte, einigten sich die beiden Staaten darauf, die Vertagung dieser Angelegenheiten auf die Januar-Tagung 1931 zu beantragen.46 Anfang September suchte Sidzikauskas den Präsidenten der Verkehrs- und Transitkommission, Seeliger, in Genf auf und teilte ihm die Entschließung Polens und Litauens mit. Er behauptete außerdem, daß die litauische Regierung bereit sei, sich an den Haager Internationalen Gerichtshof zu wenden, falls der Völkerbundsrat den Vertagungsantrag nicht annehmen und die Forderung nach einer nochmaligen Anhörung ablehnen werde.47 Obwohl Sidzikauskas, wie Seeliger feststellte, persönlich der Auffassung war, daß der Kommissionsbericht eine durchaus akzeptable Lösung darstelle, teilte er mit, daß Kowno den Bericht nicht annehmen werde.48 In bezug auf den Verkehr auf der Memel wies Polen die Darstellung zurück, daß es die Transitflößerei aus der UdSSR verhindere. Außerdem lehnte 45 Rapport de la Commission consultative et technique des communications et du transit, le 4 septembre 1930, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 31–91 (hier S. 36). 46 PA AA, R 35868 (Handakten von Trautmann), Telegramm aus Genf an AA, 6.9.1930. 47 PA AA, R 25705 (Handakten von Seeliger), Seeliger (Genf) an Reichsminister, 6.9.1930. 48 PA AA, R 25705 (Handakten von Seeliger), Seeliger (Genf) an AA, 6.9.1930.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
Warschau das Argument des Berichts ab, daß der Bahnverkehr über die Wilnagrenze nicht in erster Linie für den polnisch-litauischen Handel, sondern für den internationalen Handel von Bedeutung sei. Warschau beharrte auf dem Standpunkt, daß ohne direkten Bahnverkehr keine normalen Beziehungen zwischen beiden Grenznachbarstaaten herzustellen sei. So versuchte Warschau, die Frage des Bahnverkehrs über die Wilnagrenze nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch, ebenso wie Kowno, im politischen Kontext zu behandeln. Nach litauischer Auffassung konnte die Öffnung dieser Bahnstrecke die verhängnisvolle Situation nach sich ziehen, daß Litauen seine Souveränitätsansprüche auf das Wilnagebiet tatsächlich aufgeben müsse. Die Meinungen zwischen der Verkehrskommission, Polen und Litauen gingen völlig auseinander, und die nochmalige Anhörung beider Staaten war notwendig.49 Im September 1930 beschloß der Völkerbundsrat, seine Beratungen über den Kommissionsbericht auf die Januar-Tagung von 1931 zu vertagen und forderte die beiden Regierungen dazu auf, bis dahin ihre schriftliche Erklärungen bzw. Bemerkungen vorzulegen.50 4. Die Unterstützung Litauens durch Deutschland. Die Genfer Ratstagung vom Januar 1931 Für Kowno wie für Berlin und Moskau kam es bei der Behandlung des polnisch-litauischen Eisenbahnstreits im Völkerbund in erster Linie darauf an, ob die Souveränitätsfrage des Wilnagebiets durch die Entente wiederum, wie bereits bei der Resolution der Botschafterkonferenz vom März 1923, zugunsten der polnischen Interessen entschieden werden würde. Trotz der wirtschaftlichen Bedürfnisse, den Handel mit Polen wiederzueröffnen, wurde die litauische Regierung aus innenpolitischen Gründen schließlich dazu gezwungen, auf keinen Fall die Beziehungen zu Polen zu normalisieren, ohne das größte nationale Ziel, die Rückgewinnung der historischen Hauptstadt Wilna, zu erreichen. Eine etwaige Konzession an Polen mußte offenbar die gegenwärtige Kownoer Regierung zum Rücktritt zwingen. Im Einvernehmen mit Moskau gab das Auswärtige Amt wiederholt seine Zusage für die politische und technische Unterstützung Litauens. Nach eingehenden juristischen und eisenbahntechnischen Untersuchungen kam die Reichsregierung außerdem zu der Überzeugung, daß es nicht unwahrscheinlich sei, daß Litauen diesen Streit gegen Polen und die Verkehrskommission des Völkerbunds gewinnen könne, falls die Angelegenheiten nicht mehr im 49 PA
AA, R 35868 (Trautmann), Telegramm aus Genf an AA, 6.9.1930. Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. X (1930), Nr. 9, S. 348. PA AA, R 28421 (Büro Reichsminister: Völkerbund, Bd. 22), Telegramm, Deutsche Delegation Genf (Weizsäcker) an AA, 18.9.1930. 50 Die
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs457
Völkerbundsrat behandelt, sondern dem Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag überlassen würden.51 Voraussetzung für die deutsche Unterstützung war selbstverständlich die Umstellung der litauischen Memelpolitik. Im Gegensatz zur Genfer Erklärung von Zaunius weigerte sich aber der memelländische Gouverneur, sowohl den Präsidenten des Landesdirektoriums abzuberufen, als auch die vom Landtag empfohlenen Direktoriumsmitgliedskandidaten zu akzeptieren. Der litauische Außenminister versuchte außerdem, seinen Fehler in Genf, wo er dem Druck Curtius’ erlegen war, zu korrigieren. Sein Versuch, die litauische Memelpolitik von Berlin unabhängig zu machen, stieß aber auf Hindernisse. Obwohl das Memelautonomiestatut weiterhin nicht eingehalten wurde, milderte die Reichsregierung ihre Haltung gegenüber Litauen erheblich. Als minimale Gegenleistung für ihre Unterstützung in der Transitfrage forderte Berlin Kowno dazu auf, das Landesdirektorium auf Wunsch des Landtags sofort umzubilden.52 Zur selben Zeit spielte die Auseinandersetzung zwischen dem Reich und Polen um die Behandlung der deutschen Minderheit eine Rolle. Auf Grund der wiederholten Beschwerden der deutschen Bevölkerung in den ehemalig preußischen, jetzt polnischen Gebieten von Oberschlesien, Posen und Westpreußen reichte die deutsche Regierung im November und Dezember 1930 Beschwerdenoten beim Völkerbundsrat ein.53 Die polnische Regierung übergab dem Völkerbundsrat Anfang Januar 1931 als Gegenantwort eine Denkschrift. Die Verhandlungen über die deutsche Minderheitsfrage im Völkerbundsrat, und zwar unter Hinzuziehung der Außenminister beider Staaten, wurde auf die Tagesordnung der JanuarRatssitzung gesetzt.54 Durch die Vorbereitung der Ratsverhandlungen über die Minderheitsfrage in Polen wurde die Reichsregierung überlastet.55 Unter diesen Umständen erschien es Berlin als ungünstig, daß die Nichterfüllung 51 ADAP, Ser. B, Bd. XV, Dok. 198, v. Moltke an die Gesandtschaft in Kowno, 27.8.1930, S. 483. 52 ADAP, Ser. B, Bd. XVI, Dok. 62, Legationsrat von Moltke, 17.11.1930, S. 156 f. 53 PA AA, R 28421 (Büro Reichsminister: Völkerbund, Bd. 22), Abschrift, Curtius an Sir J. E. Drummond Generalsekretär des Völkerbunds Genf, 27.11.1930. 54 PA AA, R 28421 (Büro Reichsminister: Völkerbund, Bd. 22), Vertraulich, AA an die Deutsche Botschaft in Paris, London, Rom, Madrid, 28.11.1930. Vgl. auch Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. XI (1931), Nr. 1, S. 33 ff. 55 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 207, Mr. Knatchbull-Hugessen to Mr. A. Henderson, December 19, 1930, S. 315 f. „Dr. Zaunius surprised me con siderably by stating his belief that Germany was now anxious to avoid raising the Memel question at Geneva in January and said that Germany had expressed the view to him that it would be most unfortunate („es wäre ein Unglück“) if it were brought up. I said I found this very hard to believe. (In any case, the expression bears two interpretations.) He seemed to think that Germany would be too much occupied with her complaint regarding Silesia to attend to the Memel affair.“
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
der litauischen September-Erklärung durch den Rat festgestellt werde. Das Reich hatte vielmehr Litauens Ansprüche in der Frage des polnisch-litauischen Eisenbahntransitstreits an der Wilnagrenze, über die ebenfalls auf der Januar-Tagung eine Entschließung des Rats getroffen werden sollte, ausdrücklich zu unterstützen.56 Dieser Ansicht schloß sich das sowjetische Außenkommissariat an. Ende Dezember 1930 äußerte Litvinov den Wunsch, daß das Reich hinsichtlich der Nichteinhaltung der Memelautonomie nicht erneut den Völkerbundsrat anrufen möge. Stomonjakov empfahl außerdem, daß Berlin Kowno vermitteln solle, daß das erste deutsche Ziel im Osten die Rückgewinnung des Korridors und Ostoberschlesiens sei. Auf diese Weise könnten vielleicht die Bedenken der Litauer beruhigt und die Litauisierungspolitik im Memelland gelockert werden.57 Die litauische Regierung gab Anfang Januar 1931 ihren Widerstand gegen die Umbildung des memelländischen Landesdirektoriums auf. Auf Empfehlung des memelländischen Landtags wurde am 8. Januar 1931 durch den memelländischen Gouverneur als Nachfolger des statutswidrig einberufenen Landesdirektoriumspräsidenten Reisgys ein deutscher Memelländer, Otto Böttcher, zum neuen Präsidenten ernannt.58 Die Umbildung des Landesdirektoriums erfolgte kurz vor der Eröffnung der Genfer Januartagung. Damit gelang es dem Reich und Litauen, eine weitere kritische Untersuchung des Völkerbundsrats abzuwenden. Der Rat erklärte auf der vom 19. Januar begonnenen Tagung, daß die von der deutschen Regierung im September 1930 beantragten dringlichen Memelfragen, vor allem in der Frage der Landtagswahlen sowie der Umbildung des Landesdirektoriums, bereits als geregelt anzusehen seien. Er empfahl sodann hinsichtlich der noch zwischen beiden Parteien bestehenden Meinungsunterschiede, vor allem in juristischen sowie finanziellen Fragen, deren Prüfung auf die Tagesordnung der Mai-Tagung zu setzen.59 Die Verkehrs- und Transitkommission war bereits in ihrem Bericht vom 4. September 1930 zu der Schlußfolgerung gelangt, daß im Interesse des internationalen Handels der Durchgangsverkehr auf der Memel / Njemen sowie auf der Eisenbahnlinie zwischen Landwarów und Kaisiadorys (zwischen Wilna und Kowno) wiederhergestellt werden müsse. Trotz der inzwischen dem Rat vorgelegten Stellungnahmen Polens und Litauens, in denen die beiden Regierungen die Annahme dieses Berichts ablehnten, änderte 56 BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 61, Doc. 210, Mr. Knatchbull-Hugessen to Mr. A. Henderson, Annual report for the year 1930, S. 317 ff. 57 ADAP, Ser. B, Bd. XVI, Dok. 128, v. Dirksen, 30.12.1930, S. 326 ff. 58 ADAP, Ser. B, Bd. XVI, Dok. 146, v. Bülow, 9.1.1930, S. 368 f. Vgl. Plieg (1962), S. 48. 59 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. XI (1931), Nr. 1, S. 43.
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die Verkehrskommission ihre Untersuchungsergebnisse nicht. Am 23. Januar 1931 legte der spanische Vertreter im Völkerbundsrat, Quiñones de Léon, der seit September 1928 als Nachfolger vom niederländischen Ratsmitglied, Beelaerts van Blokland, mit der Berichterstattung über die polnischlitauischen Streitigkeiten beauftragt worden war, dem Rat einen Bericht über die Stellungnahmen der beiden Streitparteien sowie des Völkerbundsrats vor. Daraufhin führte der Ratspräsident, Arthur Henderson (Außenminister von Großbritannien), eine Sonderbesprechung mit Vertretern Litauens (Außenminister Zaunius), Polens (Außenminister Zaleski), Deutschlands (Außenminister Curtius) sowie der Transitkommission. Bei dieser Besprechung warf Zaunius zuerst die Frage der ökonomischen Bedeutung der fraglichen Transitlinien auf und wies den Standpunkt der Kommission zurück. Die Eisenbahnstrecke zwischen Landwarów und Kaisiadorys habe im Gegensatz zum Untersuchungsbericht und anders als in der Vorkriegszeit keine große Bedeutung für den internationalen Transithandel mehr. Das Handelsinteresse der UdSSR bestehe heute darin, ihre eigenen Häfen am Schwarzen Meer und den Hafen Leningrad in Anspruch zu nehmen. Die Güter aus dem Wilna- sowie Grodnogebiet würden nicht mehr wie früher auf dem kürzesten Weg nach dem Hafen Königsberg befördert, sondern durch die polnische Verkehrspolitik nach den Häfen Danzig und Gdingen abgelenkt. Außerdem zog Zaunius die Konsequenz, daß eine etwaige Öffnung der betroffenen Bahnstrecke auf die Wirtschaft Litauens keine wesentliche Auswirkung haben könne. Hingegen wurde die ökonomische Bedeutung der Memelschiffahrt für alle Uferstaaten besonders hervorgehoben. So erklärte Zaunius, daß die litauische Regierung voll und ganz ihre Verpflichtung für die Gewährung der freien Transitflößerei auf der Memel anerkannt habe, so daß die von Litauen verhängten Hindernisse gegen die Aufnahme der Transitflößerei bereits durch die Flößereiordnung vom Januar 1926 beseitigt worden seien.60 Anschließend polemisierte Zaunius gegen die Haltung der Verkehrskommission des Völkerbunds sowie Polens. Er äußerte sein Bedauern, daß die Kommission der Entstehungsgeschichte der Sperrung des Bahnverkehrs an der Wilnagrenze keine Aufmerksamkeit geschenkt habe. Der handstreichartige Überfall Żeligowskis und die Okkupation durch Polen seien in ihrem Bericht völlig außer acht gelassen worden. Tatsächlich waren die Argumente der Kommission lediglich auf die Frage einer Gewährung bzw. Beeinträchtigung der dritten Mächten zustehenden Rechte, zumal die Freiheit des Transitverkehrs, abgestellt (Artikel 23e der Völkerbundssatzung). Die Kom60 Extraits des procès-verbaux de la soixante-deuxième Session du Conseil de la Société des Nations, I, septième séance (publique, puis privée), le 23 janvier 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 120–128.
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mission lehnte es auch unter Bezugnahme auf die Memelkonvention Anhang III strikt ab, die Ausnahmeregelung des Transitrechts bei Not- und Kriegsfallen (Artikel 7 und 8 Barcelona-Statut) auf den polnisch-litauischen Streit anzuwenden. Sie vertrat außerdem die Auffassung, daß der fragliche Bahnverkehr bereits über zehn Jahre unterbrochen worden sei und deshalb als die in Artikel 7 aus Sicherheitsgründen gewährte Ausnahmebehandlung für eine möglichst beschränkte Zeit („pour un terme aussi limité que possible“) nicht mehr einschlägig sei.61 Zaunius griff diesen Standpunkt der Verkehrskommission scharf an. Die Kommission fordere Litauen ohne Rücksicht auf die Ursache der Absperrung der fraglichen Eisenbahnstrecke zur Öffnung des Transitverkehrs auf, damit die dritten Mächte in den Genuß der ihnen zustehenden Rechte des freien Transitverkehrs kämen. Die Resolution des Völkerbundsrats vom 10. Dezember 1927, auf die sich sowohl die Kommission als auch Polen stützten, enthielt nicht nur die Aufforderung zur Normalisierung der Beziehungen beider Staaten in wirtschaftlicher Hinsicht. Sie besagte auch ausdrücklich, daß die zwischen beiden Staaten bestehenden Meinungsunterschiede, vor allem hinsichtlich der Souveränität des Wilnagebiets, nicht Gegenstand der Resolution seien. Der Kommissionsbericht vermittelte den Eindruck, daß die Entstehungsgeschichte der Unterbrechung des Bahnverkehrs angesichts der vollendeten Tatsache, durch die das Wilnagebiet über zehn Jahre lang von der polnischen Armee okkupiert worden war, beim Völkerbund in Vergessenheit geraten war. Zaunius warf dem Völkerbund eine ungerechte Behandlung des polnisch-litauischen Wilnastreits vor und rechtfertigte die Sperrmaßnahme als Selbstschutz („sauvegarde“) eines kleinen Landes gegen einen kriegerischen Staat, durch den die Hauptstadt erobert worden sei. Zum Schluß seiner Ausführung erklärte er mit aller Deutlichkeit, daß die litauische Regierung weder das Verfahren der Verkehrskommission akzeptieren, noch auf ihre Souveränitätsansprüche auf das Wilnagebiet verzichten werde. Zugleich teilte er mit, daß die litauische Regierung ihre Verpflichtung zur Gewährung der freien Memelflößerei, die im Gegensatz zur Bahnstrecke Landwarów– Kaisiadorys rein ökonomische Bedeutung habe, voll und ganz anerkenne.62 Auf diese Erklärung des litauischen Außenministers erwiderte Ratspräsident Henderson, daß eine Verbesserung der Memelflößerei zu erwarten sei, und lenkte die Debatte ausschließlich auf die Eisenbahnfrage. Henderson wies darauf hin, daß der Sachverhalt des Bahntransitstreits sehr kompliziert 61 Rapport de la Commission consultative et technique des communications et du transit, le 4 septembre 1930, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 31–91 (hier S. 59). 62 Extraits des procès-verbaux de la soixante-deuxième Session du Conseil de la Société des Nations, I, septième séance (publique, puis privée), le 23 janvier 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 120–128 (hier S. 125).
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sei, so daß die Frage, ob Litauen unter den gegenwärtigen Verhältnissen zur Öffnung der Bahnstrecke auf Grund der internationalen Übereinkommen verpflichtet sei, dem Haager Ständigen Internationalen Gerichtshof vorgelegt werden solle. Bei diesem Vorschlag bezog er sich auf den Standpunkt der britischen Regierung. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, Austen Chamberlain, nahm Henderson als Minister des Labour-Kabinetts unter Premierminister Ramsay MacDonald eine versöhnliche Haltung gegenüber Litauen ein. Dabei spielte offenbar ein außenpolitischer Kurswechsel der britischen Regierung eine Rolle, da es London gelungen war, die durch Baldwin und Chamberlain unterbrochenen Beziehungen zur Sowjetunion wiederherzustellen. Curtius schloß sich Hendersons Ansicht an und äußerte, daß die Flößereifrage durch Zaunius’ Erklärung bereits als erledigt anzusehen sei. Die Behandlung der Eisenbahnfrage bedürfe hingegen einer näheren juristischen Untersuchung. Der deutsche Außenminister stimmte daher dem Vorschlag des Ratspräsidenten zu, sich an den Haager Gerichtshof zu wenden. Die prolitauische Haltung Großbritanniens und Deutschlands trat in folgender Äußerung von Curtius deutlich zutage: Die ökonomische Bedeutung der fraglichen Bahnstrecke für den Handel in Nordosteuropa sei durch die Umstellung der Handelsverkehrswege, wie es die litauische Untersuchung bewiesen habe, nicht mehr groß und dürfe deshalb keineswegs überschätzt werden.63 Somit versuchte er, den Standpunkt der Verkehrskommission, die Öffnung der Wilnagrenze im wirtschaftlichen Interesse der dritten Mächte zu rechtfertigen, abzuweisen. Die politisch sehr bewußte Aussage Curtius’ widersprach offenbar den wirtschaftlichen Interessen Ostpreußens, vor allem der Königsberger Wirtschaft. Das war der entscheidende Punkt dieser langen Debatte.64 Im Gegensatz zu dem gut vorbereiteten, scharf argumentierenden litauischen Außenminister verhielt sich der polnische Außenminister Zaleski ganz zurückhaltend. Er wies lediglich darauf hin, daß es nicht erforderlich sei, den Standpunkt Polens in der bekannten Grundfrage des polnisch-litauischen Verhältnisses abermals zum Ausdruck zu bringen.65 Damit gelang es Litauen, dem Völkerbund die Tatsache vor Augen zu stellen, daß im Kern der Sache nicht das internationale Transitrecht, sondern der territoriale Streit um Wilna stand. 63 Extraits des procès-verbaux de la soixante-deuxième Session du Conseil de la Société des Nations, I, septième séance (publique, puis privée), le 23 janvier 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 120–128 (hier S. 127). 64 Der britische Außenminister Henderson lobte Zaunius für sein Verhalten in der Januar-Sitzung, siehe: BDFA, Part II, Ser. F, Vol. 62, Doc. 9, Mr. KnatchbullHugessen to Dr. Zaunius, February 11, 1931, S. 8 f. 65 Extraits des procès-verbaux de la soixante-deuxième Session du Conseil de la Société des Nations, I, septième séance (publique, puis privée), le 23 janvier 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 120–128.
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Unmittelbar nach dieser Besprechung beschloß der Völkerbundsrat am 24. Januar 1931, auf Grund von Artikel 14 der Völkerbundsatzung den Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag zur Abgabe eines Gutachtens über folgende Frage aufzufordern: „Les engagements internationaux en vigueur obligent-ils, dans les circonstances actuelles, la Lithuanie, et, en cas de réponse affirmative, dans quelles conditions, à prendre les mesures nécessaires pour ouvrir au trafic, ou à certaines catégories de trafic, la section de ligne de chemin de fer Landwarów-Kaisiadorys?“66 5. Die Gerichtsverhandlung in Den Haag Am 31. Januar 1931 erhielt der Ständige Internationale Gerichtshof formell den Auftrag des Völkerbundsrats. Der Gerichtshof teilte sodann der polnischen und der litauischen Regierung mit, daß er bereit sei, ihre schriftliche Stellungnahmen über den Sachverhalt entgegenzunehmen. Für diese Angelegenheit wurde der Gerichtshof aus seinen ordentlichen zwölf Richtern, zu denen ein Pole (Graf Rostworowski, Rektor der Universität Krakau a. D.) gehörte, unter Leitung des Präsidenten Mineichiro Adachi (japanischer Vertreter im Völkerbundsrat) zusammengesetzt. Von den gesamten 15 ordentlichen Richtern des Haager Internationalen Gerichtshofs versagten jedoch drei Richter, Guerrero (El Salvador), Van Eysinga (Niederlande) sowie Kellogg (USA) ihre Teilnahme.67 Außerdem stand der litauischen Regierung gemäß Artikel 31 der Geschäftsordnung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs das Recht zu, einen Nationalrichter für diese Verhandlungen zu ernennen.68 Sie machte von diesem Recht Gebrauch und bestellte Stašinskas zu diesem Amt.69 Nachdem die schriftlichen Stellungnahmen bis Mitte Juli 1931 von beiden Regierungen zweimal vorgelegt worden waren, beschloß der Gerichtshof, die öffentliche Gerichtsverhandlung auf den 66 Résolution du Conseil de la Sociéte des Nations, le 24 janvier 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 10 f. Die Tätigkeit des Völkerbunds, Bd. XI (1931), Nr. 10, S. 538 f.: „Ist Litauen unter den gegenwärtigen Umständen auf Grund der in Kraft befindlichen internationalen Vereinbarungen verpflichtet – und bejahendenfalls unter welchen Bedingungen – Maßnahmen zu treffen, um die Eisenbahnlinie Landwarów-Kaisiadorys dem Verkehr oder gewissen Verkehrsarten zu öffnen?“ 67 Die Angelegenheit des polnisch-litauischen Eisenbahnstreits wurde durch folgende 13 Richter geprüft: Präsident Adachi (Japan), Baron Rolin-Jaequemyns (Belgien), Graf Rostworowski (Polen), De Bustamante (Kuba), Fromageort (Frankreich), Altamira (Spanien), Anzilotti (Italien), Urrutia (Kolumbien), Sir Cecil Hurst (Großbritannien), Schücking (Deutschland), Negulesco (Rumänien), Wang (China) und Stasinskas (Litauen, Richter ad hoc). Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. XI (1931), Nr. 9, S. 456. 68 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. XI (1931), Nr. 2, S. 102 f. 69 Ebd., Nr. 4, S. 206.
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs463
16. September 1931 anzuberaumen. Als Vertretung der litauischen Regierung wurde der Gesandte in Berlin, Sidizikauskas, ernannt.70 Als Rechtsbeirat für Sidzikauskas wurde außerdem Professor André N. Mandelstam, Mitglied des Instituts für Internationales Recht und der Internationalen Diplomatischen Akademie, durch die litauische Regierung bestellt.71 Dagegen übernahm der Präsident des Obersten Gerichtshofs in Warschau, Jan Mrozowski, die Vertretung der polnischen Regierung.72 Aus der Verkehrs- und Transitkommission des Völkerbunds vertrat der Kommissionspräsident, Silvain Dreyfus (Frankreich), der seit Mai 1931 als Nachfolger seines schweizerischen Kollegen in diesem Amt war. Die Gerichtsverhandlung wurde planmäßig am 16. September eröffnet und ohne besondere Störung am 22. September 1931 abgeschlossen. Litauen argumentierte, daß es unter den gegenwärtigen Umständen nicht zur Öffnung der Eisenbahnstrecke über die Wilnagrenze verpflichtet sei. Dieser Standpunkt bezog sich vor allem auf folgende zwei Tatsachen: Zum einem sei die Eisenbahnstrecke Landwarów–Kaisiadorys seit Kriegsende nicht mehr von internationaler Bedeutung. Daher sei das Argument der Kommission, daß die Öffnung dieser Bahnlinie im Interesse des internationalen Transithandels notwendig sei, zurückzuweisen. Zum anderen ging es um den Souveränitätsstreit. Die litauische Regierung hatte zwar am 10. Dezember 1927 im Völkerbundsrat erklärt, den Kriegszustand gegen Polen aufzuheben. Während Polen und die Verkehrskommission den Standpunkt vertraten, daß die litauische Verpflichtung zur Öffnung des direkten Bahnverkehrs sich aus der Ratsresolution vom Dezember 1927 ergebe, in der die Normalisierung des Wirtschaftsverkehrs gefordert wurde, lehnte die litauische Regierung dieses Argument ab. Trotz der Aufhebung des Kriegszustandes behauptete sie ferner, daß zwischen beiden Staaten noch keine normalen Beziehungen bestünden. So versuchte Litauen mit seinem Exposé, das Ende Mai 1931 dem Gerichtshof vorgelegt wurde, die Entstehungs geschichte der Sperrung der fraglichen Bahnstrecke deutlich vor Augen zu stellen, was einen klaren Gegensatz zum polnischen Exposé bildete, das 70 Ebd.,
Nr. 5, S. 265. im Mai 1928 hatte die litauische Regierung die drei Völkerrechtler (Prof. Albert de Lapradelle, Prof. Louis Le Fur sowie Dr. André N. Mandelstam) mit der Begutachtung der völkerrechtlichen Verbindlichkeit der Entschließung der Botschafterkonferenz vom 15. März 1923 für Litauen beauftragt. Sie vertraten einstimmig den Standpunkt, daß Litauen durch die Entschließung der Botschafterkonferenz betreffend die Grenze zwischen Polen und Litauen nicht gebunden sei. Siehe, Question de Vilna. Consultations de MM. A. de Lapradelle, Louis Le Fur et André N. Mandelstam, concernant la force obligatoire de la décision de la Conférence des Ambassadeurs du 15 mars 1923, Paris 1928. 72 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. XI (1931), Nr. 3, S. 172. 71 Bereits
464
2. Teil: Ostpreußen und Litauen
sich lediglich auf die Frage der Dezember-Resolution 1927 sowie der darauffolgenden Königsberger Konferenz 1928 richtete.73 Damit zielte Litauen darauf ab, den Völkerbund an die Tatsache zu erinnern, daß es sich bei dieser Streitsache nicht um internationales Transitrecht, sondern wesentlich um den territorialen Streit zwischen Polen und Litauen handelte. So begann das Exposé mit einer Schilderung der Entstehung des Wilnastreits und erläuterte, daß die litauische Hauptstadt unter Verletzung des SuwalkiVertrags von der polnischen Armee gewaltsam erobert worden sei, so daß Litauen als berechtigt anzusehen sei, friedliche Repressalien, welche völkerrechtlich anerkannte, sogar im Kellogg-Briand-Pakt sowie in der Völkerbundssatzung gewährte Rechte darstellten, gegen Polen anzuwenden („La Lithuanie affirme son droit d’exercer des représailles pacifiques vis-à-vis de la Pologne“).74 Daher definierte die litauische Regierung die Sperrung der fraglichen Bahnstrecke als Anwendung friedlicher Repressalien gegen Polen.75 In diesem Zusammenhang beschwerte sich Litauen über die bisherige ungerechte Behandlung des Wilnastreits durch die Botschafterkonferenz und den Völkerbund. Als Beweis dafür wies die litauische Regierung auf ihre gescheiterten Vorstöße beim Haager Internationalen Gerichtshof hin. Litauen hatte bereits Ende Januar 1922 auf Empfehlung des Völkerbunds der polnischen Regierung vorgeschlagen, direkte Verhandlungen über die Erledigung der Wilna frage aufzunehmen. Die polnische Regierung hatte jedoch die Annahme direkter Verhandlungen abgelehnt. Sodann hatte Litauen im Februar 1922 der polnischen Regierung von neuem vorgeschlagen, die Streitsache vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof zu bringen. Polen hatte auch diesen Vorschlag zurückgewiesen. Dadurch war der Versuch Litauens, die Wilnafrage einer gerichtlichen Entscheidung zu unterwerfen, auf Grund der beschränkten Zuständigkeit des Ständigen Internationalen Gerichtshofs unmöglich gemacht worden, denn die Unterbreitung einer Sache benötigte die Mitwirkung beider Parteien, so daß eine einseitige Klageerhebung unzulässig war.76 Außerdem hatte die litauische Regierung die Vorschläge des Völkerbunds zur Festlegung einer Demarkationslinie, die den aus dem polnischen Einfall entstandenen Verhältnissen entsprechen sollte, stets zurückgewiesen. Dennoch setzte der Völkerbund vom 13. Januar und 3. Februar 1922 mit Zustimmung Polens seine Entschließung durch. 73 Exposé du gouvernement Polonais, 29.5.1931, in: P. C. I. J., Ser. C, S. 223–243. 74 Exposé écrit du Gouvernement de la République Lithuanienne, le 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 130–222 (hier S. 194). 75 Exposé de M. le Professeur Mandelstam, à la séance publique du tembre 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 343–362 (hier S. 362). 76 Exposé écrit du Gouvernement de la République Lithuanienne, le 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 130–222 (hier S. 153 ff.).
No. 54, 26 mai 17 sep26 mai
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs465
Dagegen hatte Litauen die Wiederherstellung des status quo verlangt, der durch den Abschluß des Suwalki-Vertrags vom 7. Oktober 1920 geschaffen worden war. Gegen diese Einwände hatte aber der Völkerbundsrat die Kownoer Regierung an die möglichen Wirtschaftssanktionen (Artikel 16 der Völkerbundssatzung) erinnert, falls Litauen weiterhin die Annahme der Bundesempfehlung ablehnen werde. Am 10. Februar 1923 hatte die litauische Regierung beim Völkerbundsrat beantragt, den Ständigen Internationalen Gerichtshof um ein Gutachten über seine Zuständigkeit in dieser Sache zu bitten.77 Unmittelbar danach stellte aber der Völkerbund den Antrag auf die endgültige Grenzfestlegung bei der Botschafterkonferenz. Am 15. März 1923 hatte diese auf Grund der durch Artikel 87 des Versailler Vertrags verliehenen Rechte beschlossen, die Grenze Polens festzusetzen und das Wilnagebiet als polnisch anzuerkennen.78 In der Sitzung vom 21. April 1923 hatte der Völkerbundsrat auf Grund des Untersuchungsberichts des belgischen Ratsmitglieds, des amtierenden Ratspräsidenten Hymans, den Beschluß gefaßt, sowohl den Protest des litauischen Ministerpräsidenten Galvanauskas gegen die Entschließung der Botschafterkonferenz als auch den Antrag der litauischen Regierung auf Erstattung eines Gutachtens des Ständigen Internationalen Gerichtshofs hinsichtlich der Zuständigkeitsfrage des Völkerbundsrats zurückzuweisen.79 Demzufolge sei Litauen, so behauptete das litauische Exposé, die Möglichkeit entzogen worden, die Frage der Verletzung des Suwalki-Vertrags sowie der Festsetzung der Demarkationslinie einer gerichtlichen Entscheidung zu unterwerfen. In der Haager Verhandlung vom September 1931 erinnerte Sidzikauskas deshalb das Gericht an die Ursache der Unterbindung des Transitverkehrs und erklärte nachdrücklich, daß Litauen die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Polen und Litauen nicht als normal erachte und auf seine Ansprüche auf das Wilnagebiet nicht verzichten wolle, bis die Frage der polnischen Verletzung des Suwalki-Vertrags und der Okkupation des Wilnagebiets durch den Internationalen Gerichtshof entschieden werde.80 Hingegen vertraten sowohl die Verkehrskommission als auch die polnische Regierung die Auffassung, daß sich die litauische Regierung unter den gegenwärtigen Umständen, da der Kriegszustand bereits durch die Erklärung des litauischen Ministerpräsidenten vom 10. Dezember 1927 in Genf aufgehoben worden sei, auf Grund der bindenden internationalen Vereinbarungen 77 Die
Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. III (1923), Nr. 2, S. 46 ff. Nr. 3, S. 70. 79 Ebd., Nr. 4, S. 95 f. 80 Réplique (Suite) de M. Sidzikauskas, à la séance publique du 21 septembre 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 408–415 (hier S. 415). World Court Reports, Vol. II (1935), No. 34: Railway traffic between Lithuania and Poland (Railway sector Landwarów–Kaisiadorys), S. 749–761 (hier S. 754). 78 Ebd.,
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
verpflichten solle, die Bahnverbindung wiederherzustellen. Dazu erklärte der Präsident der Verkehrskommission, Dreyfus, in der öffentlichen Anhörung vom 16. September 1931, daß sich die Verpflichtung zur Öffnung der Eisenbahnen für den internationalen Transitverkehr aus der Auslegung von Artikel 23e der Völkerbundssatzung ergebe.81 Der polnische Vertreter, Mrozowski, sah hingegen den Rechtsgrund der Öffnungspflicht Litauens vielmehr in der Empfehlung der Resolution des Völkerbundsrats vom 10. Dezember 1927 über die Verhandlungsaufnahme hinsichtlich der Wiederherstellung der normalen, gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Polen und Litauen. Obwohl diese Resolution in ihrem letzten Absatz ausdrücklich besagte, daß die zwischen beiden Parteien bestehenden Meinungsunterschiede, vor allem die Frage der Souveränität über das Wilnagebiet, nicht Gegenstand der aufzunehmenden Verhandlungen sein sollten, behauptete Mrozowski, daß die Öffnung der Eisenbahnstrecke Landwarów–Kaisiadorys nicht als Gegenstand im Sinne dieses Absatzes zu betrachten sei. Hierzu verwies er auf die Auseinandersetzung zwischen dem polnischen Außenminister Zaleski und dem litauischen Ministerpräsidenten Voldemaras auf der Königsberger Konferenz im Frühling 1928. Mrozowski bezog sich auf die Erklärung Zaleskis, daß die polnische Regierung nicht glaube, ohne direkte Eisenbahnverbindung normale und friedliche Beziehungen beider Nachbarstaaten wiederherstellen zu können.82 In Königsberg hatte die litauische Delegation gegen Zaleskis Argument die Aufnahme von Verhandlungen über die Flößereifrage verlangt. Hingegen hatte es die polnische Delegation abgelehnt, die Flößereifrage gesondert zu behandeln. Unter Hinweis darauf behauptete Mrosowski, daß sich die litauische Regierung auf diese Weise den Verhandlungen über die Wiederherstellung der gutnachbarlichen Beziehungen verweigert habe.83 6. Die Untersuchungsergebnisse des Haager Gerichtshofs Die am 16. September eröffnete Gerichtsverhandlung wurde nach den öffentlichen Anhörungen bei Dreyfus, Sidzikauskas, Mandelstam sowie Mrozowski am 22. September abgeschlossen. Am 15. Oktober 1931 legte der Ständige Internationale Gerichtshof seine Untersuchungsergebnisse vor und gelangte zur Schlußfolgerung: „As appears from the foregoing consider ations, the Court, after examining the engagements which have been in 81 Exposé de M. Silvain Dreyfus, a la séance publique du 16 septembre 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 310–316. 82 Exposé du Gouvernement Polonais, le 29 mai 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 223–252 (hier S. 224). 83 Exposé de M. Jean Mrozowski, aux séances publiques des 18 et 19 septembre 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 377–396 (S. 385).
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs467
voked with regard to the re-opening for traffic, or for certain categories of traffic, of the Landwarówo-Kaisiadorys railway sector, has reached the conclusion that, in the present circumstances, the obligation, which is alleged to be incumbent on Lithuania, does not exist. For these Reasons, the Court unanimously is of opinion that the international engagements in force do not oblige Lithuania in the present circumstances to take the necessary steps to open for traffic or for certain categories of traffic the LandwarówoKaisiadorys railway sector.“84 Der Haager Gerichtshof erklärte hiermit entgegen der Aufforderung der Verkehrskommission sowie der polnischen Regierung ausdrücklich die Nichtverpflichtung Litauens zur Öffnung der Eisenbahnstrecke an der Wilnagrenze für den internationalen Transitverkehr, insbesondere unter den gegenwärtigen politischen Umständen sowie in aller rechtlichen Hinsicht der bindenden internationalen Vereinbarungen. Zu bemerken ist vor allem, daß alle zwölf Richter einschließlich des Polen, Rostworowski, einstimmig zu diesen Ergebnissen gelangten. Zur Begutachtung der Anfrage des Völkerbundes, ob Litauen unter dem gegenwärtigen Umständen im Hinblick auf die bindenden internationalen Übereinkommen zur Öffnung der Eisenbahn verpflichtet sei, wurde der Schwerpunkt der Gerichtsuntersuchung insbesondere auf folgende drei Fragen gelegt: 1. Die Resolution des Völkerbundsrats vom 10. Dezember 1927. 2. Artikel 23e der Völkerbundssatzung. 3. Anhang III (Transit) der Memelkonvention vom 8. Mai 1924 im Zusammenhang mit dem Barcelona-Transitstatut vom 20. April 1921.85 Zu 1. urteilte der Gerichtshof, daß sich aus der genannten Resolution des Völkerbundsrats vom 10. Dezember 1927 keine Verpflichtung Litauens zur Öffnung der bestimmten Eisenbahnstrecke ergebe. Die Resolution hatte beiden Parteien die Verhandlungsaufnahme zur Wiederherstellung gutnachbarlicher Beziehungen empfohlen, jedoch keine Verpflichtung für den Abschluß eines Übereinkommens oder für die Öffnung einer bestimmten Eisenbahnstrecke enthalten. Dadurch wurde das polnische Argument, daß die litauische Weigerung gegen die Verhandlungsaufnahme über die Wiederherstellung einer direkten Bahnverbindung gegen die Dezember-Resolution verstoße, zurückgewiesen. Der Gerichtshof gelangte bereits zu dieser Schlußfolgerung, ohne den umstrittenen letzten Absatz der genannten Reso84 World Court Reports, Vol. II (1935), No. 34, S. 749–761 (hier S. 760). Siehe auch: Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. XI (1931) Nr. 10, S. 538 ff., „[…] daß Litauen auf Grund der in Frage stehenden internationalen Vereinbarungen nicht verpflichtet ist, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die besagte Eisenbahnstrecke dem Verkehr zu öffnen.“ 85 Zu den Untersuchungsergebnissen siehe vor allem World Court Reports, Vol. II (1935), No. 34, S. 749–761. Rutenberg (1933), S. 274–290 (hier S. 279 ff.). Anysas (1934), S. 68–71.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
lution zu prüfen, welcher die Ausnahmebehandlung der zwischen beiden Parteien bestehenden Meinungsunterschiede aus den aufzunehmenden Verhandlungen enthielt.86 Zu 2. stellte der Gerichtshof fest, daß Artikel 23e der Völkerbundssatzung, der allein allgemeine Grundsätze des freien Verkehrs, Transits sowie Handels zwischen den Völkerbundsmitgliedern regelte, keine Verpflichtung zur Öffnung einer bestimmten Verkehrslinie enthalte. Die rechtlichen Verhältnisse einer bestimmten Bahnstrecke sollten vielmehr durch bereits abgeschlossene oder künftig abzuschließende Abkommen geregelt werden. Daher wurde das Argument der Verkehrskommission, daß die in Artikel 23e gewährten Rechte der Völkerbundsmitglieder durch die litauische Maßnahme verletzt worden seien und Litauen deshalb im Sinne von Artikel 23e zur Öffnung der Bahnlinie im Interesse der dritten Mächte verpflichtet sei, ausdrücklich abgewiesen. Hierbei wurde allerdings dem litauischen Standpunkt, daß Litauen berechtigt sei, infolge der rechtswidrigen polnischen Okkupa tion des Wilnagebiets die Bestimmungen von Artikel 23e nicht zu erfüllen, durch den Gerichtshof nicht Rechnung getragen. Zu 3. verpflichtete sich Litauen auf Grund von Artikel 3 des Anhang III (Transit) der Memelkonvention, die Freiheit des Verkehrs zur See, auf Binnengewässern und Eisenbahnen für den Verkehr von oder nach dem Memelgebiet oder im Transit durch dieses Gebiet im Sinne des BarcelonaTransitstatuts zu gewährleisten. Die Bestimmung des Barcelona-Statuts (Artikel 2) regelte die Sicherstellung des Transitverkehrs auf Wasserstraßen sowie auf Eisenbahnen, soweit sie in Betrieb und dem internationalen Transitverkehr angepaßt waren. So stellte sich die Frage, ob die Eisenbahnstrecke Landwarów–Kaisiadorys in Betrieb sei. Der Gerichtshof urteilte, daß die betroffene Eisenbahnstrecke gegenwärtig nicht in Betrieb sei, da die Schienen, soweit sie auf litauischem Gebiet verlegt waren, abgerissen worden waren. Seitdem stand diese Eisenbahnlinie nicht nur für den internationalen Transitverkehr, sondern auch für den innerlitauischen Verkehr nicht mehr zur Verfügung. Die betroffene Eisenbahnstrecke sei außerdem nicht als eine der in der Memelkonvention definierten Verkehrslinien anzusehen, die dem internationalen Transitverkehr von und nach dem Memelgebiet dienen sollten. Daher stellte das Gericht fest, daß sich aus den 86 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VII (1927), Nr. 12, S. 468 f. Der letzte Absatz der Resolution des Völkerbundsrats vom 10.12.1927 lautete: „Der Völkerbundsrat erklärt, daß diese Entschließung in keiner Weise die Fragen berührt, über die bei den Regierungen Meinungsverschiedenheiten bestehen.“ (S. 470). Hierzu wurde darauf aufmerksam gemacht: „Hingegen werden die Fragen, worüber die beiden Regierungen verschiedener Meinung sind – vor allem die Frage der Ansprüche der litauischen Regierung auf das Gebiet von Wilna – in dieser Entschließung nicht berührt“ (S. 469).
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs469
Bestimmungen der Memelkonvention keine litauische Verpflichtung zur Öffnung der betroffenen Strecke ergebe. In diesem Zusammenhang wurde die Frage der Anwendbarkeit der Ausnahmebestimmungen des BarcelonaTransitstatuts geprüft. Der letzte Absatz von Artikel 3 des Anhangs III der Memelkonvention bestimmte, daß in Anerkennung des internationalen Charakters des Memelstroms die Ausnahmeregelung des Barcelona-Statuts von Artikel 7 und 8, welche die Nichtausführung des Transitsstatuts aus Sicherheitsgründen sowie im Kriegsfalle bestimmten, nicht auf die gegenwärtigen politischen Beziehungen zwischen Polen und Litauen angewendet werden dürften. Das Gericht wies darauf hin, daß der letzte Absatz von Artikel 3 des Anhangs III der Memelkonvention lediglich auf die Wasserstraßen, insbesondere auf die Memel abgestellt sei. Daher stehe Litauen das Recht zu, im schwerwiegenden Notfalle im Interesse der Sicherheit und im Lebensinteresse des Landes die Bestimmungen von Artikel 7 und 8 auf Eisenbahnlinien, die dem Interesse des Memelgebiets dienten und in Betrieb waren, anzuwenden. Aus diesen Prüfungsergebnissen zog der Gerichtshof schließlich die Konsequenz, daß es unter den gegenwärtigen Umständen keine Verpflichtung für Litauen zur Öffnung der fraglichen Eisenbahnstrecke bestehe. Die Hauptaufgabe des Haager Verfahrens, wie die Untersuchung über die Anwendbarkeit von Artikel 7 und 8 des Barcelona-Transitstatuts erwies, lag offenbar nicht darin, die Frage zu prüfen, ob Litauen zur Öffnung der Eisenbahnstrecke Landwarów–Kaisiadorys verpflichtet sei, obwohl der Völkerbund seinen Antrag gerade in diesem Sinne formuliert hatte. Die wesentliche Aufgabe dieses Untersuchungsverfahrens bestand vielmehr darin, festzustellen, ob Litauen berechtigt sei, die fragliche Eisenbahnstrecke gegen Polen zu sperren.87 Die Erklärung des Haager Gerichtshofs beschränkte sich allerdings auf ein juristisches Gutachten über die Eisenbahntransitfrage, welches bindende Kraft weder für die Regelung der Eisenbahnfrage noch für die Lösung des Wilnastreits hatte. Das Gericht vermied außerdem, sich dem litauischen Standpunkt über die gerechte Anwendung friedlicher Repressalien gegen Polen wegen der polnischen Verletzung des Suwalki-Vertrags anzuschließen. Das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs bedeutete in der Frage des litauisch-polnischen Streits einen Wendepunkt, da dem litauischen Standpunkt hinsichtlich der Wilnafrage seit dem Beschluß der Bot87 Dazu wies der an der Gerichtsverhandlung beteiligte Richter Anzilotti auf die Problematik hin: „[…] the real question before the Court is not whether Lithuania is bound to open for traffic a given railway line; it is rather whether Lithuania can refuse to have railway communications with Poland.“ World Court Reports, Vol. II (1935), No. 34, S. 749–761 (S. 760 f.).
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
schafterkonferenz vom 15. März 1923 sowie deren Zuerkennung durch den Völkerbundsrat vom 21. April 1923 zum ersten Mal in der Weltöffentlichkeit, und zwar in juristischer Hinsicht, Rechnung getragen wurde.88 Der Völkerbundsrat nahm das Gutachten des Haager Gerichtshofs am 28. Januar 1932 zur Kenntnis.89 7. Die deutsche Ostpolitik gegen die Wirtschaftsinteressen Königsbergs Auf Grund der Resolution vom 14. Dezember 1928 beauftragte der Völkerbundsrat die Verkehrs- und Transitkommission mit der Aufstellung eines Berichts über den Einfluß der Unterbrechung des direkten Verkehrs zwischen Polen und Litauen auf den internationalen Transithandel. Unmittelbar danach ersuchte das Reichsverkehrsministerium die Reichsbahngesellschaft um die Begutachtung der Einflüsse der Unterbindung des fraglichen Transitverkehrs auf den Handel und Verkehr Deutschlands.90 Die Bahnlinie Königsberg–Eydtkuhnen–Kowno–Kaisiadorys–Landwarów–Wilna–Minsk– Moskau war bis zum Ersten Weltkrieg eine der wichtigsten Eisenbahnlinien zwischen Westeuropa und Rußland gewesen. Der größte Teil der auf der Strecke Landwarów–Kaisiadorys rollenden Güter hatte sich freilich aus dem Handel zwischen dem Hafen Königsberg und Rußland ergeben. Die Memelflößerei hatte in der Vorkriegszeit ausschließlich dem Holzhandel zwischen Ostpreußen und Rußland gedient. Für die Transitstreitfrage um das Wilnagebiet war die Stellungnahme Deutschlands deshalb von besonderer Wichtigkeit. Die Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.) führte diesen Auftrag aus und legte im Herbst 1929 einen ersten Entwurf ihres Gutachtens der Hauptverwaltung der Reichsbahn vor. Darin kam sie zu der Schlußfolgerung, daß die Reichsbahn keinen Anlaß habe, für die Wiederherstellung des direkten Verkehrs zwischen Polen und Litauen einzutreten. Dieser Standpunkt bezog sich auf folgende Tatsache: Die Öffnung des direkten Verkehrs zwischen Polen und Litauen sowohl auf Bahnstrecken als auch auf Wasserstraßen könne in der Folge die Tarifeinnahmen der Reichsbahn durch die Aufhebung der Güterumleitung, die gegenwärtig über Ostpreußen von der Reichsbahn befördert werden, vermindern. Daraus schloß die Reichsbahn, daß die Wiedereröffnung des polnisch-litauischen Verkehrs dem Reich im wesent 88 ADAP, Ser. B, Bd. XIX, Dok. 2, Gesandtschaftsrat Werkmeister (Kowno), 16.10.1931, S. 5 f. 89 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. XII (1932), Nr. 1, S. 45. 90 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 565, Bl. 196, Abschrift, RVM an PreußHM, 23.5.1930.
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs471
lichen keine Vorteile bringen, sondern sich auf die deutsche Volkswirtschaft nachteilig auswirken würde.91 Seit der Sperrung der polnisch-litauischen Flußgrenze wurden die Hölzer aus dem Wilna- und Grodnogebiet sowie aus der Gegend von Minsk auf Schienen transportiert. Für den Fernverkehr zwischen Königsberg und Moskau war eine neue Bahnlinie über Tilsit in Richtung Dünaburg (durch Litauen und Lettland nach Moskau) eröffnet worden. Dadurch wurde der Güter- und Personenverkehr zwischen Königsberg und der UdSSR zwar wiederhergestellt. Die neue Nordlinie stellte aber im Vergleich mit der Linie über Kowno und Wilna (Kaisiadorys–Landwarów) einen erheblichen Umweg dar. Selbstverständlich erforderte sowohl die Umleitung auf der Nordlinie als auch der Bahnersatzverkehr für die Holzbeförderung aus den Gebieten von Wilna, Grodno sowie Minsk einen erhöhten Kostenaufwand.92 Offenbar hatte die Reichsbahn in ihrem Gutachten die Lage der ostpreußischen Holzwirtschaft und des Königsberger Hafens außer acht gelassen, indem sie lediglich vom Standpunkt der Rentabilität der Reichsbahngesellschaft aus urteilte, der als Reparationszahlungsträger ein Defizithaushalt strikt untersagt war. Die Schlußfolgerung des Reichsbahnberichts stieß in Ostpreußen auf Gegenwehr. Der Oberpräsident teilte dem Präsidenten der Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.) mit, daß er sich mit dieser Begutachtung nicht einverstanden erklären könne. Unter Hinweis auf die Stellungnahme der Handelskammern Königsberg und Tilsit beschwerte er sich insbesondere über die Prüfungsergebnisse in der Frage der Memelflößerei, deren Freigabe die Reichsbahn im Hinblick auf die Verminderung ihrer Tarifeinnahmen als nicht notwendig bezeichnet hatte. Daß die Notlage der ostpreußischen Holzwirtschaft durch die Unterbindung der Memelflößerei verursacht wurde, war unbestreitbar, da sie an Rohstoffmangel und erhöhten Anschaffungskosten litt. Siehr zielte darauf ab, die Darstellung der Reichsbahn in dieser Streitfrage ändern zu lassen, da das Gutachten offenbar für die Stellungnahme der Reichsregierung zur künftigen Entschließung des Völkerbunds von Bedeutung war. Die Reichsbahn ging jedoch lediglich darauf ein, ihr Gutachten hinsichtlich der Flößereifrage durch eine kurze Anmerkung zu ergänzen, daß ihre Schlußfolgerungen unabhängig von der Wirtschaftslage Ostpreußens allein auf Rentabilitätserwägungen der Bahnverwaltung gründeten.93 91 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7, Abschrift, IHK Königsberg an OPO, 12.11.1929. 92 Curt Wyszomirski: Strukturwandlungen in Ostpreußens Wirtschaft und Verkehr, in: Archiv für Eisenbahnwesen, 57. Jg (1934), S. 297–316 (hier S. 312). 93 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7, Abschrift, OPO an PreußHM, 8.4.1930.
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
In der Frage der Öffnung der Bahnstrecke Landwarów–Kaisiadorys waren die Meinungsunterschiede zwischen der Königsberger Handelskammer und der Reichsbahn nicht mehr auszugleichen. Prinzipiell ging die Reichsbahn davon aus, daß es nicht unbedingt nötig sei, diese Bahnlinie wiederherzustellen, weil der deutsch-russische Transitverkehr über die neue Nordlinie abgewickelt werden könne. Die Reichsbahn legte Wert auf die Nordlinie, die auf Grund langjähriger Bemühungen der Reichsbahndirektion Königsberg bei Litauen und Lettland eröffnet worden war. Ihrer Darstellung zufolge seien hinsichtlich des Eisenbahnverkehrs zwischen Königsberg und Moskau wegen des Fernverkehrs die Entfernungsunterschiede zwischen der neuen Nordlinie und der alten Bahnlinie nicht so groß, so daß im wesentlichen keine Unterschiede in der Tarifbildung eingetreten seien. Gegen dieses Argument der Reichsbahn erhob die Königsberger Handelskammer Einwände und führte die Frage des Nah- und Mittelverkehrs vor Augen. Für den Verkehr zwischen dem Königsberger Hafen einerseits und den Regionen von Wilna, Grodno sowie Minsk, die früher zum wirtschaftlichen Hinterland Königsbergs gehört hatten, war die Bahnlinie Landwarów–Kaisiadorys von hervorragender Bedeutung gewesen. Nach der Absperrung der Wilnagrenze war man nicht mehr imstande, den kürzesten Weg (Minsk–Wilna–Landwarów–Kaisiadorys–Kowno–Eydtkuhnen–Königsberg) zu nutzen. Ersatzweise wurden die Güter aus diesen Gegenden über Polen nach Ostpreußen auf weitem Umleitungswege (Minsk– Baranowicze–Bialystok–Grajewo / Prostken–Königsberg) abtransportiert. Die Fahrpreise waren durchschnittlich mehr als 30 % höher als auf der kürzesten Bahnlinie. Während die Interessen des Königsberger Hafens dadurch erheblich beeinträchtigt wurden, gelang es Polen mit Hilfe der Bahntarifpolitik, die Güter, insbesondere Rundholz sowie Schnittmaterial, nach den Häfen Danzig und Gdingen abzulenken. Diese Häfen wurden somit durch die eisenbahntarifliche Vergünstigung subventioniert. Unter diesen Umständen verlor der Hafen Königsberg im Handel mit den Regionen von Wilna, Grodno sowie Minsk seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber den Nachbarhäfen. Die Königsberger Handelskammer stellte fest, daß der Holztransport nach Danzig und Gdingen durch zwei Faktoren, die Unterbrechung der Memelflößerei einerseits und die Sperrung der Bahnstrecke Landwarów– Kaisiadorys andererseits, von Polen sehr effektiv gefördert werde. Sie lehnte deshalb das Argument der Reichsbahn ab und forderte, daß die Reichsregierung sowohl für die Öffnung der Memelflößerei als auch für den Transitbahnverkehr über die Wilnagrenze eintreten solle.94
94 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7, Abschrift, IHK Königsberg an OPO, 12.11.1929.
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs473
Interessant ist vor allem die Tatsache, daß diese Auffassung der Königsberger Handelskammer mit den Untersuchungsergebnissen der Verkehrsund Transitkommission des Völkerbunds vom 4. September 1930 im wesentlichen übereinstimmte. Der Bericht der Verkehrskommission, der unter Leitung Herolds (des Präsidenten des Studienausschusses) auf Grund mehrmaliger Studienreisen nach Litauen, Polen sowie zu den betroffenen Ostseehäfen erstattet worden war, vertrat gerade diesen Standpunkt der Königsberger Handelskammer. Dabei wurde ausdrücklich sowohl auf die nachteilige Wirkung der Umleitung (die Nordlinie) auf den Handel zwischen dem Königsberger Hafen und der UdSSR als auch auf die Benachteiligung Königsbergs beim Holztransport aus den Regionen Wilna, Grodno und Minsk durch die Ablenkung nach den Häfen Danzig und Gdingen hingewiesen.95 Ausgehend von der herausragenden Bedeutung der Eisenbahnstrecke Landwarów–Kaisiadorys für den internationalen Transitverkehr, insbesondere für den Handelsverkehr zwischen dem Hafen Königsberg und Rußland, forderte die Verkehrskommission Litauen dazu auf, diese Bahnverbindung wiederherzustellen. Erinnert man sich an die zielbewußte Aussage des deutschen Außenministers Curtius in der Sondersitzung der Genfer Ratstagung vom 23. Januar 1931 („En ce qui concerne l’aspect purement économique de cette ligne de chemin de fer, le Dr Curtius croit, comme le représentant de la Lithuanie, que son importance, étant donné le changement intervenu dans le trafic des marchandises, ne doit pas être exagérée“96), in der er die wirtschaftliche Bedeutung der fraglichen Bahnlinie für den internationalen Handelsverkehr unter Hinweis auf die Stellungnahme der litauischen Regierung gegen die Prüfungsergebnisse der Verkehrskommission und zugleich gegen die Auffassung der Königsberger Handelskammer ausdrücklich zurückwies, versteht man die Absicht der deutschen Regierung in dieser Streitfrage. Wie zwi95 Rapport de la Commission consultative et technique des communications et du transit, le 4 septembre 1930, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 31–91. Zum Nachteil der neuen Nordlinie für den Hafen Königsberg: „Actuellement, le trafic qui, d’après les renseignements recueillis, atteindrait de 300.000 à 400.000 tonnes par an, s’effectue par une voie plus longue et moins économique, par la Lithuanie et la Lettonie, ce qui constitue un désavantage pour Königsberg“ (hier S. 47). Zur Ablenkung nach den Häfen Riga, Danzig und Gdingen: „Par suite des tarifs ferroviaires très bas concédés par les chemins de fer polonais ainsi que par les chemins de fer lettons, les exportations ou importations des régions de Grodno et Vilna, qui, normalement, utiliseraient Libau, Memel ou Königsberg, se font par des voies détournées et utilisent surtout Riga, Dantzig et Gdynia. L’exemple du trafic ferroviaire du bois est particulièrement frappant“ (hier S. 49). 96 Extraits des procès-verbaux de la soixante-deuxième Session du Conseil de la Société des Nations, I, septième séance (publique, puis privée), le 23 janvier 1931, in: P. C. I. J., Ser. C, No. 54, S. 120–128 (hier S. 127).
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2. Teil: Ostpreußen und Litauen
schen Deutschland, Litauen und der UdSSR wiederholt zur Diskussion gestellt, machte das Reich seine Unterstützung für Litauen in der Frage des Eisenbahnstreits geltend. Angesichts des Primats der Außenpolitik gab es keinen Spielraum, den berechtigten regionalen Wirtschaftsansprüchen Ostpreußens Rechnung zu tragen.97 Zwar erkannte die Handelskammer Königsberg selbst die Problematik, daß eine Verständigung zwischen Polen und Litauen über die Angelegenheiten an der Wilnagrenze möglicherweise ein Zustandekommen eines polnisch-litauischen Bündnisses und somit die Umkreisung der Provinz Ostpreußen von Memel bis Danzig zur Folge haben konnte. Dennoch war sie als ehemals größter Interessenvertreter an der Ostsee fest davon überzeugt, trotz der Normalisierung des Handels und Verkehrs zwischen Polen und Litauen diese Gefahr vermeiden zu können: „Es wird Aufgabe der Politik sein, die entsprechenden politischen Gegenmaßnahmen gegen eine solche Entwicklung rechtzeitig zu treffen.“ (Felix Heumann, Präsident der Handelskammer zu Königsberg).98 Dieser Aufgabe der Außenpolitik kam die deutsche Diplomatie, die keine andere Alternative kannte, jedoch nicht nach. Die deutsche Gesandtschaft in Kowno gratulierte gleich nach der Erteilung des Haager Gutachtens dem litauischen Außenminister zum einstimmigen Votum des Gerichtshofs gegen die Öffnung der Eisenbahnstrecke an der Wilnagrenze.99 Was war der deutschen Regierung in diesem Streitfall gelungen? Und was war überhaupt die Konsequenz der deutschen Unterstützung für Litauen gewesen? Zwar 97 Die ostpreußischen Handelskammern beantragten wiederholt beim Auswärtigen Amt, auf diplomatischen Wege auf Litauen und Polen zur Aufhebung der Flößereisperre einzuwirken. Diesen Wunsch Ostpreußens lehnte das Amt stets ab. Unter Hinweis auf das Haager Gutachten in der Frage des Eisenbahntransitstreits vertrat es den Standpunkt, daß es juristisch keine Möglichkeit gebe, im Sinne der Verkehrsfreiheit auf Litauen und Polen zur Aufhebung der Flößereisperre an der Wilnagrenze einzuwirken. Es versteht sich von selbst, daß das Amt aus politischen Gründen die Aufhebung der Grenzsperre zu vermeiden hatte. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXVII, 2, 47b, AA, RVM, 31.10.1931. Bereits im Jahr 1929 kritisierte das Reichsverkehrsministerium die Haltung des Auswärtigen Amts in der Frage der Memelschiffahrt. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXVII, 2, 47b, RVM an AA, 1.4.1929. 98 „Zusammenfassend sind wir also der Ansicht, daß die ostpreußische Wirtschaft an einer baldigen Verkehrsaufnahme zwischen Litauen und Polen das allergrößte Interesse hat. Selbstverständlich kann eine polnisch-litauische Verständigung, die soweit geht, daß Ostpreußen praktisch rings von Polen eingeschlossen wird, diese wirtschaftlichen Vorteile wieder völlig aufheben und ins Gegenteil verkehren. Die Wiederaufnahme des polnisch-litauischen Verkehrs braucht aber u. E. diese Gefahr nicht akut werden zu lassen. Es wird Aufgabe der Politik sein, die entsprechenden politischen Gegenmaßnahmen gegen eine solche Entwicklung rechtzeitig zu treffen.“ GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7, Abschrift, IHK Königsberg an OPO, 12.11.1929. 99 ADAP, Ser. B, Bd. XIX, Dok. 2, Gesandtschaftsrat Werkmeister (Kowno), 16.10.1931, S. 5 f.
VI. Das Gutachten des Haager Ständigen Internationalen Gerichtshofs475
mußte die polnische Regierung die für sie negativen Ergebnisse der Haager Gerichtsverhandlung hinnehmen. Die ökonomischen Errungenschaften Polens waren aber verhältnismäßig größer als der Gesichtsverlust. Durch die fortwährende Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs zwischen Wilna und Kowno war es Polen weiterhin möglich, die polnische Holzwirtschaft, neben der Kohle die wichtigste Exportindustrie Polens,100 unter Benachteiligung der ostpreußischen Holzindustrie zu fördern und mit Hilfe der gegen den Hafen Königsberg gerichteten Eisenbahntarifpolitik die Hölzer nach den Häfen Danzig und Gdingen abzutransportieren. Im Gegensatz dazu fiel nun der politische Sieg an Litauen. Mit der außenpolitischen Errungenschaft um die Wilnafrage gelang es der litauischen Regierung, die nationale Ehre zu retten und ihre innenpolitische Stellung in Kowno zu festigen. Die Unterstützung Deutschlands für den litauischen Standpunkt in der Eisenbahnfrage hatte ursprünglich zwei Zwecke gehabt: Zum einen sollte die Bildung einer polnisch-litauischen Interessengemeinschaft verhindert werden. Zum anderen sollte der litauischen Regierung als Gegenleistung die Aufhebung der Litausierungspolitik im Memelgebiet abverlangt werden. Anders als in Berlin erwartet, hörte jedoch die Unterdrückung der deutschen Bevölkerung im Memelgebiet auch nach dem Sieg Litauens im Eisenbahntransitstreit gegen Polen nicht auf. Die Auseinandersetzung um die Memelpolitik Litauens verschärfte sich vielmehr. Der deutsch-litauische Streit spitzte sich im Jahr 1932 zu, vor allem als man für die Memelautonomiefrage innerhalb der Zuständigkeit des Völkerbunds keine Lösung mehr finden konnte und deshalb den Haager Gerichtshof anrief.101
100 Die Ausfuhr Polens von 1928: Holz und Holzwaren betrugen 591.353 (in 1000 Zloty), ca. 24 % von der gesamten Ausfuhr. Die Rohstoffe und Halbwaren des Hüttenwesens betrugen 590.323, siehe Kürbs (1931), S. 78 ff. 101 Zum Urteil des Haager Internationalen Gerichts über die Memelautonomiefrage siehe vor allem Pferr (2005).
Dritter Teil
Königsberg und die Sowjetunion
Einführung Der deutsch-sowjetische Handelsvertrag vom 12. Oktober 1925. Die vertrauliche Note Nr. 9 zum Eisenbahnabkommen 1. Forschungsstand Am 12. Oktober 1925 wurde in Moskau ein Handelsvertrag zwischen Deutschland und der UdSSR durch die Bevollmächtigten beider Staaten, Botschafter Ulrich Graf v. Brockdorff-Rantzau und Paul v. Koerner einerseits und dem stellv. Volkskommissar M. M. Litvinov sowie J. S. Hanecki andererseits, unterzeichnet. Im Rahmen dieses Vertrags wurden insgesamt sieben Abkommen (Niederlassungsabkommen, Wirtschaftsabkommen, Eisenbahnabkommen, Seeschiffahrtsabkommen, Steuerabkommen, Abkommen über Handelsschiedsgerichte, Abkommen über gewerblichen Rechtsschutz) nebst einem Mantelvertrag abgeschlossen.1 Außerdem kamen noch zwei weitere Abkommen (Konsularvertrag sowie Rechtshilfeabkommen) am gleichen Tage zur Unterzeichnung. Der Handelsvertrag war zwar strikt auf die Regelung der Wirtschaftsverhältnisse abgestellt, trug jedoch in nicht geringem Maße politische Züge. Seine Unterzeichnung in Moskau fiel in eine Zeit, als Deutschland und die Westmächte gerade auf der Locarno-Konferenz über den Abschluß der Westsicherheitspakte verhandelten. Stresemann hob die Ausbalancierung der Ost- und Westorientierung hervor. Tatsächlich machte das Reich mit dem Abschluß der Locarno-Verträge einen bedeutenden Schritt nach Westen, da damit die Rückkehr Deutschlands in den Kreis der europäischen Großmächte eingeleitet wurde. Hingegen beschränkte sich der deutsch-sowjetische Vertrag vom Oktober 1925 lediglich auf die rechtliche Regelung des Wirtschaftsverkehrs. Darin kam die Ungleichheit der deutschen Ost- und Westpolitik im Oktober 1925 deutlich zum Vorschein. 1 RGBl. 1926, II, S. 1 ff. Vgl. die folgenden Kommentare: Handels- und Wirtschaftsvertrag zwischen der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und dem Deutschen Reich vom 12. Oktober 1925 nebst Konsularvertrag, erläutert von den Mitgliedern der Sowjetdelegation Dr. A. Rapoport und B. Stein, hg. v. Handelsvertretung der UdSSR in Deutschland, Berlin 1926. Siehe auch Georg Cleinow: Die Deutsch-Russischen Rechts- und Wirtschaftsverträge nebst Konsularvertrag vom 12. Oktober 1925, Berlin 1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Deutschland verzichtete in Locarno auf die Revision seiner Westgrenze. Der Beitritt des Reichs zum Völkerbund, der im September 1926 vollzogen wurde, ging im wesentlichen auf Stresemanns Locarno-Diplomatie zurück. Trotz seiner Zielsetzungen im Westen dachte er dennoch niemals daran, die Beziehungen zur Sowjetregierung zu unterbrechen. Im Gegenteil war er sogar bestrebt, den Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags unbedingt vor dem Abschluß der Locarno-Pakte zustande zu bringen. Auf diese Weise wollte er den Alliierten vor Augen stellen, daß trotz seines Eintritts in die Liga der Siegermächte von Versailles sich das Reich die volle Selbständigkeit seiner Ostpolitik vorbehielt. Der Abschluß des Handelsvertrags stellte deshalb zugleich eine Warnung an den Westen dar, daß das Reich, wie Stresemann es ausdrückte, nicht an den Rockschößen der Alliierten hängen bleiben wolle. In der Ostpolitik faßte er natürlich stets die Revision der deutschen Ostgrenze ins Auge. Im Gegensatz zur Westgrenze wurde in Locarno deshalb die Behandlung der Ostgrenze gänzlich offengelassen. Es wurden lediglich Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei abgeschlossen. Deutschland verzichtete nie auf seine Revisionsansprüche im Osten, auch nicht nach dem Völkerbundsbeitritt. Die gewaltsame, also militärische, Rückgewinnung des Korridors spielte bei Stresemann keine Rolle. Er war durchgängig bestrebt, die Revision der deutschen Ostgrenze auf legalem Wege zu erreichen. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung erlangte seine Völkerbundspolitik und die Ausbalancierung zwischen Ost- und Westorientierung erst ihre volle Bedeutung. Im Gegensatz zu den politischen Verträgen von Locarno beschränkte sich der deutsch-sowjetische Handelsvertrag strikt auf die Regelung des Wirtschaftsverkehrs. Er wurde in der Ausführung des Vertrags von Rapallo abgeschlossen; ihm wurde weder eine über den Rapallovertrag hinausgehende politische Klausel noch eine Erklärung hinzugefügt. Die einzige Ausnahme bildete das Eisenbahnabkommen, das mitsamt zwei vertraulichen Vereinbarungen im Rahmen des Handelsvertrags abgeschlossen wurde. Zur Präzisierung der Bestimmungen bzw. zur Einschränkung ihrer Anwendbarkeit wurden diesem Handelsvertrag mehrere Nachträge in der Form des Schlußprotokolls sowie eines vertraulichen Notenwechsels zwischen BrockdorffRantzau und Litvinov beigelegt (vgl. Anhang, Abb. 11, 12 und 13, S. 870– 872). Die gesamten Vertragstexte mitsamt sämtlichen vertraulichen Abmachungen wurden zuerst im Rahmen der Editionsarbeit des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR im Jahr 1978 in Berlin (Ost) veröffentlicht.2 2 Der Abdruck des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags mit Schlußprotokollen sowie vertraulichen Noten in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925. Vom Rapallovertrag bis zu den Verträgen vom 12. Oktober 1925, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und Ministerium für Auswärtige Angelegen-
Einführung481
Dennoch wurden diese vertraulichen Nachträge seit jener Veröffentlichung wissenschaftlich nicht aufgearbeitet. Obwohl der gesamte Prozeß der deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen, insbesondere mit den Locarno-Pakten von 1925 einerseits und mit dem deutsch-sowjetischen Berliner Vertrag von 1926 andererseits, sowohl in der Bundesrepublik als auch in der ehemaligen DDR grundlegend untersucht wurde, haben bei den Historikern die verkehrstechnischen Angelegenheiten somit bisher keine Beachtung gefunden.3 heiten der UdSSR, Berlin 1978, Bd. 2, Nr. 398, S. 766 ff., sowie Nr. 399, S. 816 ff. Der Vertragstext mit vertraulichen Protokollen und vertraulichem Notenwechsel (Reichsrat, 1925, Nr. 155, Entwurf eines Gesetzes über die deutsch-russischen Verträge vom 12. Oktober 1925, AA Stresemann an den Reichsrat, 6.11.1925) ist mitsamt einschlägigen Dokumenten in folgenden Archiven und in der Staatsbibliothek zu Berlin vorhanden: BA, R 43 I / 134 (früher in Koblenz), PA AA, Moskau II, R 9215 / 243 (BA Berlin-Lichterfelde, früher Zentralarchiv in Potsdam), GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3 (früher in Merseburg). 3 Zu nennen sind vor allem folgende Beiträge: Fritz Klein: Die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zur Sowjetunion 1917–1932, 2. Aufl. Berlin 1953. Alfred Anderle: Die deutsche Rapallo-Politik. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922– 1929, Berlin 1962. Ders.: Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und die Stellung Deutschlands zum Sowjetstaat. Diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen von 1917 bis zum zweiten Weltkrieg, in: Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und Deutschland, hg. v. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Sektion Geschichte, Bd. I, Berlin 1967, S. 343–441. Günter Rosenfeld: Sowjetunion und Deutschland 1922–1933, Berlin 1984. Wolfgang Ruge: Zur Problematik und Entstehungsgeschichte des Berliner Vertrages von 1926, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1961), Heft 4, S. 809–848. Edward Hallett Carr: Berlin – Moskau. Deutschland und Rußland zwischen den beiden Weltkriegen, Stuttgart 1954. Karl Dietrich Erdmann: Das Problem der Ost- oder Westorientierung in der LocarnoPolitik Stresemanns, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 6. Jg., Heft 3, 1955, S. 133–162. Ders.: Deutschland, Rapallo und der Westen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), Heft 2, S. 105–165. Theodor Schieder: Die Probleme des Rapallo-Vertrags. Eine Studie über die deutsch-russischen Beziehungen 1922– 1926, Köln und Opladen 1956. Herbert Helbig: Die Träger der Rapallo-Politik, Göttingen 1958. Lionel Kochan: Rußland und die Weimarer Republik, Düsseldorf 1955. Ludwig Zimmermann: Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Republik, Göttingen 1958. Martin Walsdorff: Westorientierung und Ostpolitik. Stresemanns Rußlandpolitik in der Locarno-Ära, Bremen 1971. Hubert Schneider: Das sowjetische Außenhandelsmonopol 1920–1925, Köln 1973. Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985. Christiane Scheideman: Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau (1869–1928). Eine politische Biographie, Frankfurt am Main 1998. Ingmar Sütterlin: Die „Russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes in der Weimarer Republik, Berlin 1994. Zu den Wirtschaftsbeziehungen siehe vor allem Jürgen Kuczynski / Grete Wittkowski: Die deutsch-russischen Handelsbeziehungen in den letzten 150 Jahren, Berlin 1947. Rolf-Dieter Müller: Das Tor zur Weltmacht. Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen, Boppard am Rhein 1984. Hans-Jürgen Perrey: Der Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft. Die deutsch-sowjetischen Wirt-
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Unabhängig von den politischen Differenzen zwischen Ost und West läßt sich vermuten, daß die Historiker diese Nachträge, die lediglich auf handelspolitische und verkehrstechnische Angelegenheiten beschränkt waren, für weitgehend bedeutungslos gehalten haben, vor allem was die Deutung der Außenpolitik der Großmächte betraf. Aus Sicht der Reichsbahn und des Königsberger Hafens jedoch waren die Verkehrsangelegenheiten, insbesondere die beiden Nachträge zum Eisenbahnabkommen (die vertrauliche Note Nr. 9 Ziff. 1 und 2), von höchster Wichtigkeit. 2. Die vertrauliche Note Nr. 9 Ziff. 1: Die Polenfrage a) Handelspolitische Analyse zur Entstehung von Nr. 9 Ziff. 1 In Ziff. 1 wurde die Verschiebung der offiziellen Inkraftsetzung der Paritätsklausel (Artikel 2 und 3 des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens sowie dessen Schlußprotokoll) auf den Zeitpunkt angeordnet, zu dem der Verkehr zwischen Deutschland und Polen auf Basis des Paritätsprinzips vertraglich geregelt wird. Der deutsche und sowjetische Bahnverkehr durfte dennoch unabhängig von dieser offiziellen Inkraftsetzung schon gegenseitige Parität genießen. Hier stellen sich zwei Fragen: 1. Weshalb durfte die Paritätsklausel zwischen Deutschland und der UdSSR bis zum Inkrafttreten eines entsprechenden Vertrags zwischen Deutschland und Polen nicht in Kraft gesetzt werden? schaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des OstWest-Handels, München 1985. Werner Beitel / Jürgen Nötzold: Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen in der Zeit der Weimarer Republik. Eine Bilanz im Hinblick auf gegenwärtige Probleme, Baden-Baden 1979. Hartmut Pogge von Strandmann: Großindustrie und Rapallopolitik. Deutsch-sowjetische Handelsbeziehungen in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 222 (1976), S. 265–341. Zur Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Roten Armee siehe Francis L. Carsten: Reichswehr und Politik 1918–1933, Köln und Berlin 1964. Manfred Zeidler: Reichswehr und Rote Armee 1920–1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München 1993. Über die Folgen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags aus sowjetischer Sicht siehe Oleg Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen in den Jahren 1925–1932. Deutschlands Rolle im außenwirtschaftlichen Integrationsbestrebungen der Sowjetunion, Frankfurt am Main 2006. Zur sowjetischen Außenpolitik siehe die Aufsatzsammlung: Zwischen Tradition und Revolution. Determinanten und Strukturen sowjetischer Außenpolitik 1917–1941, hg. v. Ludmila Thomas und Viktor Knoll, Stuttgart 2000. Siehe auch Sergej Slutsch: Deutschland und die UdSSR 1918–1939. Motive und Folgen außenpolitischer Entscheidungen, in: Deutsch-russische Zeitenwende. Krieg und Frieden 1941–1995, hg. v. Hans Adolf Jacobsen u. a., Baden-Baden 1995, S. 28–90.
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2. Von welcher Seite der beiden vertragschließenden Parteien wurde die Aufnahme dieser Klausel beantragt? Daß diese Sonderregelung über die Paritätsklausel sich aus dem Wunsch Deutschlands ergab, versteht sich von selbst. Im Fall, daß ein Handelsvertrag zwischen Deutschland und Polen mitsamt einer auf Meistbegünstigung beruhenden Eisenbahnregelung, die aber keine Paritätsklausel enthielt, zustande käme, hätte Deutschland im Wege der Meistbegünstigung Polen gleichfalls alle Begünstigungen, die Deutschland anderen Staaten einräumte, gewähren müssen. In diesem Fall hätte Deutschland, ohne für sich die Gleichberechtigung auf polnischen Schienen zu erlangen, Polen als dem Meistbegünstigten auf deutschen Schienen die der UdSSR durch Deutschland gewährte Parität einräumen müssen. Um solch eine Ungleichheit der Regelung des deutsch-polnischen Verkehrs zu vermeiden, beantragte Deutschland zum Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags bei der sowjetischen Delegation, die deutsch-sowjetische Gleichberechtigungsklausel bis zur Erlangung der paritätischen Behandlung mit dem polnischen Verkehr offiziell nicht in Kraft zu setzten (vgl. Anhang, Abb. 10, S. 868).4 Verkehrspolitisch und -historisch gesehen ist diese Abmachung besonders interessant, vor allem in Anbetracht der Tatsache, daß Deutschland bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im verkehrspolitischen und -technischen Bereichen keine Diskriminierungspolitik, wie sie oft von unterentwickelten Staaten betrieben wurde, sondern eine sehr liberale Verkehrspolitik verfolgte, unter der die meistbegünstigten Nationen in Deutschland annähernde Parität genießen konnten.5 Im Bereich der Eisenbahntarife bestand das Paritätsprinzip seit Abschluß des Handels- und Zollvertrags zwischen dem deutschen Zollverein und Österreich von 1865 (Artikel 16)6 im Grundsatz 4 PA AA, R 23853, Telegramm von Brockdorff-Rantzau (Moskau) an AA, 1.10. 1925. 5 Zur historischen Entwicklung der deutschen Handelsverträge siehe vor allem Robert Weber: System der deutschen Handelsverträge, Leipzig 1912. Richard Riedl: Die Meistbegünstigung in den europäischen Handelsverträgen, Wien 1928. Frank Beyer: Das System der deutschen Handelsverträge von 1853 und 1914. Völkerrechtliche Prinzipien und ihre Gemeinsamkeiten mit dem heutigen Weltwirtschaftsrecht, Berlin 2004. Zu den deutschen Handelsverträgen nach 1919 siehe Hans Ernst Posse: Handelsverträge, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. v. Ludwig Elster und Adolf Weber, 4. Aufl., Ergänzungsband, Jena 1929, S. 479–492. Klaus Bonhoeffer: Die Meistbegünstigung im modernen Völkerrecht, Berlin 1930. Johannes Hunisch: Die Meistbegünstigungsklausel in den Handelsverträgen, Diss. Breslau 1932. Hans-Jürgen Schröder: Zur politischen Bedeutung der deutschen Handelspolitik nach dem Ersten Weltkrieg, in: Die deutsche Inflation. Eine Zwischenbilanz, hg. v. Gerhard D. Feldmann und Carl-Ludwig Holtfrerich u. a., Berlin und New York 1982, S. 235–251. 6 Art. 16: „Auf Eisenbahnen sollen in Beziehung auf Zeit, Art und Preise der Beförderungen die Angehörigen des andern Theils und deren Güter nicht ungünsti-
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
der deutschen Eisenbahn- und Handelspolitik.7 In den Eisenbahnbestimmungen der Handelsverträge zwischen Deutschland und den europäischen Staaten war auch nach 1919 prinzipiell stets die Paritätsklausel enthalten.8 Die Ausnahme bildete der deutsch-sowjetische Handelsvertrag vom 12. Oktober 1925, der mit einer vorläufigen Verschiebung der Inkraftsetzung der Paritätsklausel verbunden war. Was die Eisenbahnbestimmungen der deutschen Handelsverträge betrifft,9 so wurde die Meistbegünstigungsklausel erst beim deutsch-russischen Handelsvertrag von 1894 für die Eisenbahnbestimmungen neben der Paritätsklausel eingeführt (Artikel 19).10 Auch bei der Eisenbahnregelung im deutsch-schwedischen Handelsvertrag von 1906 wurde das Paritäts- und ger, als die eigenen Angehörigen und deren Güter behandelt werden.“ Siehe hierzu den Abdruck des Vertragstexts vom 11. April 1865 in: Zoll- und Handelsvertrag zwischen Oesterreich und dem Zollverein, Berlin 1865. Dieser Vertrag wurde am. 9. März 1868 revidiert. Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1868, S. 239. 7 Zum Paritätsprinzip der Eisenbahntarifpolitik siehe vor allem Ernst Seidler / Alexander Freud: Die Eisenbahntarife in ihren Beziehungen zur Handelspolitik, Leipzig 1904, S. 70 ff. Elemér Hantos: Mitteleuropäische Eisenbahnpolitik. Zusammenschluß der Eisenbahnsysteme von Deutschland, Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Polen, Rumänien und Jugoslawien, Wien und Leipzig 1929. 8 Zum Beispiel wurden in den Eisenbahnbestimmungen der Handelsverträge mit Österreich (1920, 1924), Ungarn (1920), Tschechoslowakei (1922, 1924), Finnland (1922), Litauen (1923, 1928), Estland (1923, 1928), Holland (Wiederinkraftsetzung des alten Vertrags 1851 / 1923 / 1925 / 1928 / 1930), Dänemark (Wiederinkraftsetzung sowie 1926), Schweden (Wiederinkraftsetzung), Großbritannien und Irland (1924), Belgien und Luxemburg (1925), Italien (1925), Schweden (1926), Lettland (1926), Serbien, Kroatien und Slowenien (1927) die Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel ausdrücklich formuliert. Siehe hierzu Konstantin Fritsch: Handbuch der Eisenbahngesetzgebung im Deutschen Reiche und in Preußen, 3. Aufl., Berlin 1930, S. 577 ff. 9 Die Bedeutung der mit der Eisenbahntarifpolitik einhergehenden Zolltarifpolitik wurde zuerst von Reichskanzler Bismarck klar dargestellt. In seiner bekannten Reichstagsrede vom 8. Mai 1879, die den Wendepunkt der deutschen Außenhandelspolitik vom freihändlerischen Grundsatz zur Schutzzollpolitik bildete, hatte er vor allem auf die Unmöglichkeit einer von der Eisenbahntarifpolitik unabhängigen Zolltarifpolitik hingewiesen. Siehe hierzu Otto von Bismarck: Werke in Auswahl. Bd. 6: Reichsgestaltung und europäische Friedenswahrung. Zweiter Teil (1877–1882), hg. v. Alfred Milaz, Darmstadt 2001, Dok. 92, S. 299 ff. (hier S. 309). 10 RGBl. 1894, S. 153 ff. Artikel 19: „Die beiden vertragschließenden Theile behalten sich das Recht vor, ihre Eisenbahntransporttarife nach eigenem Ermessen zu bestimmen. Jedoch soll weder hinsichtlich der Beförderungspreise noch hinsichtlich der Zeit und der Art der Abfertigung zwischen den Bewohnern der Gebiete der vertragschließenden Theile ein Unterschied gemacht werden. Insbesondere sollen für die von Rußland nach einer deutschen Station oder durch Deutschland beförderten Gütertransporte auf den deutschen Bahnen keine höhere Tarife angewendet werden, als für gleichartige deutsche oder ausländische Erzeugnisse in derselben Richtung und auf derselben Verkehrsstrecke erhoben werden. Das Gleiche soll auf den russi-
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Meistbegünstigungsprinzip ausdrücklich formuliert. Hiermit wurde dem Vertragsgegner nicht nur die paritätische Behandlung mit der inländischen Sendung eingeräumt, sondern ihm auch das Recht verliehen, jede in der Vergangenheit oder in der Zukunft einem dritten Staate eingeräumte Begünstigung für sich in Anspruch zu nehmen, unter der Voraussetzung einer gleichartigen Gütersendung, in derselben Richtung und auf derselben Strecke. Die Anwendung der eisenbahntariflichen Parität benötigte eine gewisse Einschränkung. Ansonsten hätte sie eine widersinnige Begünstigung des Auslands zur Folge haben können, wenn einer der vertragschließenden Teile auf einer bestimmten Strecke nach dem Tarif einer anderen Strecke im Gebiet des anderen vertragschließenden Teils hätte fahren dürfen. Um solch eine Auslegung zu vermeiden, wurde erst beim Handelsvertrag zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn von 1891 die räumliche Beschränkung (in derselben Richtung und auf derselben Strecke) in die Paritätsklausel der eisenbahntariflichen Bestimmungen eingeführt (Artikel 15).11 Als Selbstverständlichkeit wurde die Anwendung der eisenbahntariflichen Parität auf die gleichartige Gütersendung beschränkt. Seitdem war sowohl die Paritätsals auch die Meistbegünstigungsklausel der deutschen Handelsverträge stets mit der räumlichen Einschränkung verbunden.12 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die deutsche Eisenbahnpolitik einer strengen Aufsicht durch die Alliierten unterstellt. Der Versailler Vertrag machte sich die Liberalisierung und „Demokratisierung“ der deutschen Verkehrspolitik zur Aufgabe. Die Ungerechtigkeit des Diktatfriedens kam jedoch insbesondere in den Bestimmungen von Artikel 365 deutlich zum Vorschein.13 Hier wurde den Alliierten die eisenbahntarifliche Parität sowie Meistbegünstigung ohne räumliche Beschränkung, also ohne Einschränkung in derselben Richtung und auf derselben Strecke, gewährt. So waren die Alliierten imstande, alle Begünstigungen, die dem einheimischen Verkehr und dem Verkehr eines dritten Staates eingeräumt waren, ihrerseits zu genießen, und zwar ungeachtet der Richtung und Strecke. In diesem Sinne konnten alle Gütersendungen der Alliierten von Rechts wegen die günstigsten deutschen Tarife genießen, die für Güter gleicher Art, aber auf irgendeiner deutschen Strecke bestanden, selbst wenn diese Tarife nur für eine einzige bestimmte deutsche Strecke und Verkehrsrichtung aufgestellt schen Bahnen für Gütersendungen aus Deutschland gelten, welche nach einer russischen Station oder durch Rußland befördert werden. […]“ 11 RGBl. 1892, S. 3. Handels- und Zollvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Oesterreich-Ungarn, 6.12.1891. 12 Zum deutsch-belgischen Handelsvertrag sowie die Klausel über die Aufstellung direkter Tarife siehe R. Weber (1912), S. 145 ff. RGBl. 1892, S. 241. Handelsund Zollvertrag zwischen dem Deutschen Reiche und Belgien, 6.12.1891. 13 Der Friedensvertrag von Versailles, in: RGBl. 1919, S. 689 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
waren. Im Sinne von Artikel 365 stand deshalb den Siegermächten das Recht zu, auf alle Begünstigungen, die den dritten Staaten von Deutschland eingeräumt wurden, wie z. B. die Ausnahmetarife des internationalen Verkehrs sowie direkte Tarife usw., ohne räumliche Einschränkung (Richtung und Strecke) Anspruch zu erheben.14 Die Bestimmungen von Artikel 365, die dem Grundsatz der sich seit 1865 entwickelten liberalen Verkehrspolitik Deutschlands und Europas widersprachen, traten am 10. Januar 1925 außer Kraft. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden einige der Handelsverträge, die bis 1914 zwischen Deutschland und den Nichtunterzeichnern des Versailler Vertrags abgeschlossen worden waren, wieder in Kraft gesetzt. Dazu zählten u. a. die Handelsverträge mit den Niederlanden, Schweden sowie Dänemark. Außerdem wurden mit verschiedenen europäischen Ländern, z. B. Österreich, der Tschechoslowakei, Litauen und Großbritannien, schon vor 1925 neue Handelsverträge abgeschlossen.15 In diesen Handelsverträgen wurde auch die Regelung des Eisenbahnverkehrs vorgenommen, die auf dem Paritäts- sowie Meistbegünstigungsprinzip beruhte.16 Zu erinnern ist daran, daß die Meistbegünstigung in der Entstehungsgeschichte der eisenbahntariflichen Abreden in den deutschen Handelsverträgen niemals so große Bedeutung wie die Parität erlangte. In der Praxis wurde die Meistbegünstigungsklausel nur im Anschluß an die Paritätsklausel vereinbart. Mit anderen Worten: In den klassischen Handelsverträgen kamen prinzipiell 14 In bezug auf die Einschränkung des Versailler Vertrags, vor allem dessen Artikel 365, sowie die Frage der räumlichen Beschränkung (Richtung und Strecke) bei der Gewährung der Parität und Meistbegünstigung in den Eisenbahnbestimmungen der deutschen Handelsverträge siehe besonders Curt Wyszomirski: „Tarifpolitik und Handelsverträge“, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 65 Jg. / 1925, Nr. 41, S. 1172 f. Zur Lage der deutschen Eisenbahnen unter dem Versailler System siehe auch Karl F. Reiter: Die Verkehrsbestimmungen des Versailler Vertrages und ihre Weiterbildung auf den allgemeinen Verkehrskonferenzen von Barcelona und Genf, Würzburg 1929, S. 23 ff. Werner Haustein: Die völkerrechtliche Stellung der Eisenbahnen in Kriegs- und Nachkriegszeiten, Köln und Darmstadt 1952. 15 Posse (1929), S. 479–492. Das deutsch-tschechoslowakische Wirtschaftsabkommen vom 29.6.1920 (RGBl. 1920, S. 2240) enthielt keine Zolltarifregelungen, gewährte aber die Meistbegünstigung. Die Handelsabkommen Deutschlands, die bis zum 10. Januar 1925 zustandegekommen waren, wurden prinzipiell nach dem Muster des deutsch-tschechoslowakischen Abkommen abgeschlossen. Siehe Posse (1929), S. 481 f. 16 Zur Paritätsklausel im deutsch-österreichischen Eisenbahnabkommen im Zusammenhang mit dem deutsch-tschechoslowakischen Abkommen siehe: „Verkehrsund Zollfragen im neuen Wirtschaftsabkommen zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland“, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 63. Jg. / 1923, Nr. 7, S. 119–120.
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keine Eisenbahnbestimmungen ohne Paritätsklausel zustande.17 Diese Regel wurde durch den Abschluß des mit einer vorläufigen Verschiebung der Inkraftsetzung der Paritätsklausel verbundenen deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens vom 12. Oktober 1925 erstmals gebrochen. Was die Wasserstraßen- und Eisenbahnverkehr in Rußland und Polen anging, stellte die Meistbegünstigung für den deutschen Verkehr im wesentlichen keine Begünstigung dar. Denn die UdSSR und Polen betrieben damals keine liberale Verkehrspolitik nach westeuropäischem Vorbild. Die UdSSR unterzeichnete weder den Friedensvertrag von Versailles noch das Barcelona-Transitabkommen und trat auch dem Völkerbund nicht bei. Um eine Ungleichheit des deutschen und sowjetischen Verkehrs zu vermeiden, mußte Deutschland zum Abschluß des Eisenbahnabkommens mit der UdSSR unbedingt die Parität erlangen, um so die Sicherheit des deutschen Verkehrs in der UdSSR sowie durch die UdSSR zu wahren.18 Das gleiche galt auch für das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen. Im Gegensatz zur UdSSR unterzeichnete Polen den Versailler Vertrag und war deshalb Mitglied des Völkerbunds. Außerdem ratifizierte Polen das BarcelonaTransitabkommen. Als ausgesprochener Gegner von Deutschland betrieb Polen jedoch die Politik, den deutschen Verkehr vom einheimischen streng zu unterscheiden und möglicherweise zu diskriminieren. (Ende 1930 wies die Reichsbahn kritisch auf die Lage des deutschen Verkehrs auf polnischen Schienen hin, die trotz der Inkraftsetzung der internationalen Übereinkommen immer noch nicht normalisiert war.19) Polen genoß außerdem als Signatarmacht des Versailler Vertrags im Sinne von Artikel 365 die unbedingte Meistbegünstigung sowie die eisenbahntarifliche Parität auf deutschen Schienen auf fünf Jahre nach dessen Inkrafttreten. Zur Sicherung des freien Durchgangsverkehrs Deutschlands durch den Korridor wurde zwar am 21. April 1921 in Paris zwischen Deutschland und Polen ein Abkommen auf Grund von Artikel 89 und 98 des Versailler Vertrags un17 Zum Paritätsprinzip siehe Seidler / Freud (1904), S. 70 ff., insbesondere S. 80 f.: „Die Meistbegünstigungsklausel involviert allerdings auch die Übertragung der einem dritten Staate eingeräumten Parität. Indes kommt diesem Falle keine praktische Bedeutung zu, da in den bestehenden Verträgen die Meistbegünstigung ohne Paritätsvereinbarung sich nicht vorfindet, so daß die paritätische Behandlung nicht aus der Meistbegünstigung fließt, sondern einen selbständigen Vertragspunkt bildet.“ 18 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Ergebnisse der Besprechung über den in den Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen Deutschland und Rußland aufzunehmenden Eisenbahnbestimmungen vom 20.11.1922. BA, R 3101 / 7421, RWiM, 17.3.1923. 19 Ludwig Holtz (Regierungsrat der Reichsbahndirektion Königsberg Pr.): „Ostpreußens Anteil an den Verkehrswegen Osteuropas“ in: OEM, 10. Jg, 1.10.1929, S. 19 ff.
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terzeichnet.20 Die deutsche Durchgangsfreiheit durch den Korridor war dennoch in vielfältiger Weise eingeschränkt.21 Der Abbau der modernen deutschen Eisenbahnbrücke bei Münsterwalde an der Weichsel, die vor dem Krieg mit einem Kostenaufwand von über 9 Millionen RM gebaut worden war, bewies den damaligen Zeitgeist in Polen, der durch einen unsinnigen Antagonismus gekennzeichnet war.22 Die eisenbahnpolitische Meistbegünstigung in den klassischen Handelsverträgen war prinzipiell von der handelspolitischen Meistbegünstigung zu unterscheiden. Während sich die letztere in erster Linie auf die Zölle richtete, bezog sich die Meistbegünstigung der Eisenbahnbestimmungen vielmehr darauf, die eisenbahntarifliche Gleichstellung des zweiten Paziszenten mit der meistbegünstigten Nation, und zwar mit der räumlichen Beschränkung (in derselben Richtung und auf derselben Strecke) und mit der Beschränkung auf die gleichartige Gütersendung zu gewähren.23 Hinsichtlich des Eisenbahnverkehrs genossen die Meistbegünstigten in Deutschland, abgesehen von den alliierten und assoziierten Mächten, die fast gleichen Rechte wie Parität. Bereits bis 1925 wurde Österreich, Schweden, Holland, Tschechoslowakei, Litauen, Belgien und Luxemburg, Großbritannien und Irland die Parität zugesagt. Demnach ist festzuhalten, daß Polen theoretisch unabhängig vom Abschluß des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens nach wie vor im Falle des Abschlusses eines Handelsvertrags mit Deutschland, in dem die auf Meistbegünstigung beruhenden Eisenbahnbestimmungen enthalten waren, im Wege der Meistbegünstigung die paritätische Behandlung in Anspruch nehmen konnte, auch wenn keine explizite Paritätsklausel in den deutsch-polnischen Eisenbahnbestimmungen enthalten war.24 Allerdings beschränkte sich die im Wege der Meistbe günstigung zu erlangende paritätische Behandlung ausschließlich auf dieselbe Richtung, auf dieselbe Strecke sowie auf die gleichartige Gütersendung. Die eisenbahnpolitische Meistbegünstigung war deshalb im Gegensatz zur handelspolitischen Meistbegünstigung nicht von jedem dritten 20 RGBl. 1921, S. 1069, Gesetz betreffend das Abkommen zwischen Deutschland, Polen und der Freien Stadt Danzig über den freien Durchgangsverkehr zwischen Ostpreußen und dem übrigen Deutschland, 12.7.1921. 21 Vgl. Bruno Schumacher: Geschichte Ost- und Westpreußens, 6. Aufl., Würzburg 1977, S. 307 ff. Hartmut Boockmann: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Ost- und Westpreußen, Berlin 1992, S. 403. 22 Curt Wyszomirski: Strukturwandlungen in Ostpreußens Wirtschaft und Verkehr, in: Archiv für Eisenbahnwesen, 57. Jg. / 1934, S. 297–316 (hier S. 303). 23 Die Eisenbahnen im deutschen öffentlichen Recht, hg. v. Werner Haustein, Frankfurt am Main 1960, S. 253. Siehe auch Seidler / Freud (1904), S. 72 ff. 24 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, Vermerk über die Besprechung im Auswärtigen Amt vom 7. Oktober 1924.
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Staat auszunutzen, weil die Zufuhrwege (Zugang) nach Deutschland meist verschieden waren.25 Im vorliegenden Fall war die Stellung Polens als Transitland zwischen Deutschland und den jenseits Polen liegenden östlichen Staaten von besonderer Bedeutung. In bezug auf den deutsch-litauischen Eisenbahnverkehr kam in erster Linie der Verkehr zwischen Ostpreußen und Litauen in Betracht. In diesem Sinne konnte aus geographischen Gründen die polnische Gütersendung nicht in derselben Richtung und auf derselben Strecke wie die Litauens stattfinden, wenn der direkte Bahnverkehr zwischen Polen und Litauen, der infolge des polnisch-litauischen Wilnastreits seit 1920 unterbunden war, nicht wiederhergestellt wurde.26 Dagegen setzte die Gütersendung der UdSSR nach Deutschland oder Ostpreußen, ausgenommen vom nördlichen Umweg über die baltischen Staaten nach Ostpreußen, den Durchgang durch Polen voraus (z. B. von der UdSSR durch Polen nach Ostpreußen und von der UdSSR über Polen (Ostgalizien) nach Oberschlesien). Die polnische Gütersendung nach Deutschland konnte also theoretisch in derselben Richtung und auf derselben Strecke wie die russische Gütersendung nach Deutschland stattfinden. In diesem Sinne war Polen in der Lage, im Fall des Abschlusses des deutsch-polnischen Handelsvertrags (einschließlich der Eisenbahnregelung) auf dem Wege der Meistbegünstigung alle Begünstigungen zu genießen, die der UdSSR durch Deutschland auf dem Vertragswege eingeräumt wurden. Der polnische Verkehr wäre dann mit dem einheimischen Verkehr in Deutschland gleichbehandelt worden, wenn die Paritätsklausel im deutsch-sowjetischen Handelsvertrag bereits aufgenommen worden wäre, auch wenn die Paritätsklausel nicht in den deutsch-polnischen Eisenbahnbestimmungen formuliert wurde. Die eisenbahnrechtliche Meistbegünstigung beschränkte sich aber auf die gleichartige Gütersendung. Polen durfte nur auf die gleichen Güterarten wie die russische Gütersendung Anspruch erheben. Schwierigkeiten entstanden auch daraus, daß die Sowjetunion darauf abzielte, hauptsächlich die gleichen Güter wie Polen auf Bahnwege nach Deutschland zu transportieren. Bei dem Export von Holz und Agrarprodukten nach Deutschland konkurrierten in den 20er Jahren die UdSSR und Polen miteinander.27 Im Gegensatz dazu konnte die deutsche Gütersendung, wenn nicht die Paritätsklausel, sondern lediglich die Meistbegünstigungsklausel im Vertrag zwischen Deutschland 25 Hantos
(1929), S. 6 ff. (1934), S. 307. 27 Der Hauptartikel des Bahntransports aus der UdSSR durch Polen nach Deutschland in den 20er Jahren war Holz. Dies belief sich auf über 80 % des gesamten Gütertransports auf diesem Wege, siehe: „Der Transitverkehr der UdSSR über Polen“, in: OEM, 10. Jg / Nr. 24, 15.9.1930, S. 413 f. 26 Wyszomirski
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und Polen gewährt würde, keineswegs die paritätische Behandlung mit dem einheimischen Verkehr auf polnischen Schienen erlangen. Um eine solche Einseitigkeit zu vermeiden, gab es für Deutschland nur zwei Möglichkeiten: Es mußte angestrebt werden, neben dem Abschluß des Handelsvertrags mit der UdSSR gleichzeitig einen Handelsvertrag mit Polen, der die Meistbegünstigung- und Paritätsklausel für den Eisenbahnverkehr enthalten sollte, zustande zu bringen. Sollte dieser Versuch Deutschlands am Widerstand Polens scheitern, so ließ es sich nicht vermeiden, einen anderen Weg einzuschlagen: Deutschland mußte dann anstreben, den Abschluß eines deutsch-polnischen Handelsvertrags soweit wie möglich auf die fernere Zukunft zu verschieben, wobei wegen der Abneigung Polens hinsichtlich der Eisenbahnbestimmungen keine Parität, sondern lediglich die Gewährung der Meistbegünstigung vorzusehen war. Daß die Abrede der vertraulichen Note Nr. 9 Ziff. 1 aus der Befürchtung Deutschlands gegen den künftigen Abschluß eines auf Meistbegünstigung beruhenden Handelsvertrags mit Polen entstand, ist nach der Aktenlage unbestreitbar.28 Die deutsche Bahnverwaltung war ursprünglich bestrebt, nicht nur bei dem deutsch-sowjetischen Handelsvertrag, sondern auch bei dem deutsch-polnischen Handelsvertrag die Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel, die als Standardrecht des europäischen Eisenbahnverkehrs anzusehen war, zu erzielen.29 In den 1922 aufgenommenen Wirtschafts- und Verkehrsverhandlungen erklärte Polen aber stets Deutschland gegenüber, nicht die Parität, sondern lediglich die Meistbegünstigung gewähren zu wollen.30 Mit Ausbruch des deutsch-polnischen Zollkriegs Mitte Juni 1925 28 PA AA, R 23853, Telegramm von Brockdorff-Rantzau (Moskau) an AA, 1.10.1925 (Abschrift in: PA AA, R 23937 sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3). Siehe auch GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, 30.3.1924. BA, R 5 / 245, RVM, 13.9.1924, Gutachten des RVM zum Entwurf von Eisenbahnbestimmungen (Abschrift in GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d). Siehe auch GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, Vermerk über die Besprechung im Auswärtigen Amt vom 7.10.1924. 29 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Ergebnisse der Besprechung über den in den Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen Deutschland und Rußland aufzunehmenden Eisenbahnbestimmungen vom 20.11.1922. 30 Die deutsch-polnischen Wirtschaftsverhandlungen wurden zunächst in Dresden im Herbst 1922 aufgenommen. Dabei wurde von der deutschen Delegation die Frage der Regelung des Eisenbahntransitverkehrs (von Deutschland durch Polen nach der UdSSR) aufgeworfen. Infolge des harten Widerstands der polnischen Delegation führten die Verhandlungen aber zu keinen positiven Ergebnissen. Vor allem lehnte Polen strikt ab, auf die von Deutschland gewünschte Parität für den Transitverkehr durch Polen nach Rußland einzugehen. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, 30.3.1924. ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 86, Staatssekretär v. Maltzan, 18.9.1924, S. 201 ff. Zum deutsch-polnischen Wirtschaftskrieg siehe vor allem
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stießen alle Bestrebungen der deutschen Bahnverwaltung auf Schwierigkeiten. Hiermit erschien die Erlangung der Parität bei Polen in absehbarer Zeit völlig unmöglich. Folglich sah man sich in Deutschland dazu gezwungen, die Gewährung der Parität zwischen Deutschland und der UdSSR im abzuschließenden Handelsvertrag geheimzuhalten, um zu vermeiden, daß Polen in den zukünftig wiederaufzunehmenden Handelsvertragsverhandlungen darauf bestehen würde, lediglich die Meistbegünstigung zu gewähren, damit Polen, ohne dem deutschen Verkehr die Parität einzuräumen, im Wege der Meistbegünstigung paritätische Behandlung auf deutschen Schienen genießen könne.31 Obwohl die deutsche Delegation in der inoffiziellen Plenarsitzung vom 3. / 4. Juni 1925 mit der sowjetischen Delegation die Gewährung der Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel vereinbart hatte,32 erhob die Reichsbahngesellschaft angesichts der neuesten Entwicklung der deutsch-polnischen Wirtschaftsverhältnisse Einwände und kritisierte die deutsche Delegation scharf. Die Reichsbahn beantragte am 25. Juni 1925 beim Reichsverkehrsminister, die Paritätsklausel zur Vermeidung der Rückwirkungen auf Polen geheimzuhalten.33 Schließlich wurde diesem Wunsch der Reichsbahn durch das Auswärtige Amt und die deutsche Delegation Rechnung getragen. Am 30. September 1925 äußerte die deutsche Delegation bei den Moskauer Abschlußverhandlungen über den Handelsvertrag den Wunsch, unter Festhaltung am Grundsatz der Parität das vertragliche Inkrafttreten der deutschsowjetischen Paritätsklausel bis zum Zustandekommen einer entsprechenden Regelung zwischen Deutschland und Polen zu verschieben.34 Die aus Eisenbahnfachleuten bestehende sowjetische Delegation zeigte sich entgegenkommend. Sie äußerte aber, daß der Wunsch Deutschlands eher von politischer Bedeutung sei.35 Die deutsche Delegation, die bisher die Verhandlungen stets auf Basis der Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel führte, mußte die Antwort der Sowjetregierung mit großer Besorgnis abwarten. Es gelang ihr, in der Sitzung vom 2. Oktober die ins Schlußprotokoll sowie in Berthold Puchert: Der Wirtschaftskrieg des deutschen Imperialismus gegen Polen 1925–1934, Berlin 1963, S. 31 ff. 31 PA AA, R 31556, Abschrift, Reichsbahngesellschaft Hauptverwaltung, an RVM, 25.6.1925. 32 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Eisenbahnabkommen zwischen Deutschland und der UdSSR nach den Ergebnissen der inoffiziellen Plenarsitzung vom 3. Juni 1925. 33 PA AA, R 31556, Abschrift, Reichsbahngesellschaft Hauptverwaltung, an RVM, 25.6.1925. 34 PA AA, R 23853, Telegramm von Brockdorff-Rantzau (Moskau) an AA, 1.10. 1925. 35 Ebd.
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die vertrauliche Note aufzunehmende Fassung im Sinne ihres Vorschlags fertig abzufassen.36 Die russische Eisenbahndelegation holte sodann die Entscheidung von höherer Stelle ein. Die Sowjetregierung kam dem deutschen Wunsch vollständig nach. Zum Abschluß des Handelsvertrags am 12. Oktober 1925 hielten Brockdorff-Rantzau und Litvinov diese Sonder regelung in ihrem vertraulichen Notenwechsel fest. So ist dieser Wunsch der deutschen Eisenbahndelegation gerade im Kontrast zum Antrag Litauens zum Abschluß des deutsch-litauischen Handelsvertrags und des darauffolgenden geheimen Binnenschiffahrtsabkommens von 1923 zu sehen.37 Damals hatte Litauen den Wunsch geäußert, die Paritätsklausel geheimzuhalten, weil Litauen im Falle des künftigen Abschlusses der auf Meistbegünstigung beruhenden Handelsverträge mit Polen und der UdSSR in die Lage versetzt werden sollte, im Wege der Meistbegünstigung diesen Staaten, zumal Polen, die Gleichberechtigung für die Schiffahrt und Flößerei auf der Memel einzuräumen.38 Um dies zu vermeiden, sollte das Binnenschiffahrtsabkommen mitsamt der Paritätsklausel zunächst geheimgehalten werden.39 b) Handelspolitische Analyse zur Folge von Nr. 9 Ziff. 1 Interessant ist aber vor allem die Tatsache, daß die Abmachung von Ziff. 1, also die Verschiebung der Inkraftsetzung der Paritätsklausel, in der Praxis schließlich keine Bedeutung erlangte. Das deutsch-polnische Wirtschaftsverhältnis wurde durch diese deutsch-sowjetische Geheimabrede niemals beeinflußt. Dies hatte zwei Gründe. Erstens: Der deutsch-polnische 36 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3, Bl. 138, Telegramm von Brockdorff-Rantzau (Moskau) an AA, 2.10.1925. 37 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 200, Vertragstext vom 28.9.1923. BA, R 5 / 1382, Vertragstext vom 28.9.1923. PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Vertragstext vom 28.9.1923 (Durchschläge). Nach seiner Außerkraftsetzung wurde das Abkommen erst im Jahr 1930 in Litauen veröffentlicht. Lietuvos sutartys, su svetimomis valstybėmis (Recueil des Traités, conclus par la Lithuanie avec les Pays Étrangers) Tomas I: 1919–1929, Kaunas 1930, Nr. 39, S. 233 f. 38 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, OPV (Frankenbach), 5.1.1923. BA, R 5 / 404, Aktenvermerk von Ebhardt über die Besprechung mit Ministerialdirektor v. Stockhammern im AA, Eingang vom 3.1.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1, Entwurf, RVM, 16.4.1923. PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130, Abschrift, RVM an AA u. a. m., 29.5.1923. 39 GStA PK, XX. HA, Rep. 2093, Bl. 232, RVM (Oeser) an sämtliche Reichsminister u. a. m., 3.4.1924. BA, R 5 / 407, RVM (Oeser), 3.4.1924. Darin äußerte der Reichsverkehrsminister: „Das Binnenschiffahrtsabkommen ist vertraulich, um Litauen in kommenden Verhandlungen mit dritten Ländern, vor allem Polen, nicht zu belasten.“
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Wirtschaftskrieg vom Juni 1925. Zweitens: Die Regelung des internationalen Handelsverkehrs durch die völkerrechtlichen Sonderverträge (beim Völkerbund). aa) Der deutsch-polnische Wirtschaftskrieg vom Juni 1925 Der von der Reichsbahn gefürchtete Fall, ein Zustandekommen eines deutsch-polnischen Handelsvertrags mitsamt einer Eisenbahnregelung, die ohne Paritätsklausel lediglich auf Meistbegünstigung beruhen sollte, trat infolge des langjährigen Wirtschaftskriegs zwischen Deutschland und Polen zunächst nicht ein. Mitte Juni 1925 brach der deutsch-polnische Zollkrieg aus.40 Zwangsläufig wurden die bis dahin geführten deutsch-polnischen Wirtschaftsvertragsverhandlungen unterbrochen. Mit dem Ablauf des in der Genfer Konvention 1922 vereinbarten deutsch-polnischen Kohlenkontingentvertrags am 15. Juni 192541 wurde Deutschland in die Lage versetzt, durch seine Nichtverlängerung die Kohleneinfuhr aus Polen einschränken zu können. Dadurch wurde das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen angespannt. Seit der Außerkraftsetzung der handelspolitischen Bestimmungen des Versailler Vertrags vom 10. Januar 1925 bestand zwischen Deutschland und Polen ein vertragsloser Zustand. Daher wurde der Abschluß eines neuen Handelsvertrags zwischen beiden Staaten für notwendig erachtet.42 Die deutsch-polnische Handelsbilanz in den 20er Jahren bewies deutlich die einseitige Abhängigkeit Polens von der deutschen Wirtschaft. Deutschland war der größte Abnehmer polnischer Produkte. In diesem Sinne war der deutsch-polnische Handel ausschließlich im Interesse Polens. Mit dem Fortfall der Zwangsmeistbegünstigung des Versailler Vertrags am 10. Januar 1925 sowie des 40 Zum deutsch-polnischen Zollkrieg siehe vor allem Berthold Puchert: Der Wirtschaftskrieg des deutschen Imperialismus gegen Polen 1925–1934, Berlin 1963. 41 RGBl. 1922, II, S. 238, Deutsch-polnisches Abkommen über Oberschlesien vom 15. Mai 1922. Hinsichtlich der Einfuhr aus Polen bestimmte Artikel 268b des Versailler Vertrags die zollfreie Einfuhrpflicht Deutschlands aus den ehemalig deutschen, jetzt polnischen Gebieten während eines Zeitraums von drei Jahren. Artikel 90 bestimmte, daß Polen verpflichtet war, während eines Zeitraums von fünfzehn Jahren die Bergwerksprodukte des durch den Vertrag an Polen abgetretenen Teils Oberschlesiens zur Ausfuhr nach Deutschland ausfuhrzoll- sowie gebührenfrei zuzulassen. Außerdem einigten sich Deutschland und Polen in der Genfer Konvention vom 15. Mai 1922, die die Übergabebedingung Ostoberschlesiens an Polen regelte, mit der zollfreien Einfuhr der polnischen oberschlesischen Kohle nach Deutschland auf 3 Jahre (Artikel 224 und 234 der Genfer Konvention). Siehe hierzu Gero Wolfgang Freiherr von Gersdorff: Die Entwicklung der polnischen Handelsvertragspolitik, Berlin 1935, S. 94 ff. 42 Puchert (1963), S. 31 ff.
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oberschlesischen Kohlenkontingents am 15. Juni 1925 änderte sich das rechtliche Verhältnis zwischen Deutschland und Polen grundlegend.43 Während Polen die im Versailler Vertrag gewährten handels- und verkehrspolitischen Begünstigungen nunmehr aufgeben mußte, hatte die deutsche Seite nichts wesentliches zu verlieren. Aufschlußreich war der letzte Versuch der polnischen Regierung in den deutsch-polnischen Handelsvertragsverhandlungen von 1925. Kurz vor dem Ablauf des Kohlenkontingents verlangte Polen die Aufhebung des deutschen Kohleneinfuhrverbots. Zugleich schlug Polen als Gegenleistung vor, Deutschland das freie Transitrecht durch Polen nach Rußland in liberalster Weise einzuräumen.44 Angesichts des harten Widerstands Deutschlands gegen die Aufhebung des Kohleneinfuhrverbots veröffentlichte Polen nun eine Einfuhrverbotsliste. Dies war der Ausgang der gegenseitigen Einfuhrverbots- und Zollerhöhungsmaßnahmen, die zur Unterbrechung der Handelsvertragsverhandlungen führten. Zwangsläufig trat in den deutsch-polnischen Eisenbahnverhandlungen, die im Rahmen des Handelsvertragsverhandlungen geführt wurden, ebenfalls ein Stillstand ein.45 In der Folge war Deutschland nicht mehr gezwungen, Polen als dem Nichtmeistbegünstigten dieselben Rechte zu gewähren, die der UdSSR, Österreich, Tschechoslowakei, Litauen usw. auf Vertragsweg durch Deutschland eingeräumt worden waren. Die polnische Ausfuhr war dennoch auf den deutschen Absatzmarkt stark angewiesen. Polen sah sich dazu gezwungen, den Transitgüterverkehr aus der UdSSR über Polen nach Deutschland zu erschweren.46 Sowohl Polen als auch die UdSSR hatte ein Interesse am Export von Holz sowie Agrarprodukten nach Deutschland. Die polnischen Agrarprodukte konkurrierten auch mit denjenigen Ostpreußens im west- und mitteldeutschen Absatzmarkt. Die Handelsstreitigkeiten zwischen Deutschland und Polen wurde mit Hilfe der Eisenbahntarifpolitik beider Länder auf die Spitze getrieben. Es gab allerdings einige positive Schritte in den deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen. Dazu zählten vor allem der Abschluß eines deutsch-polnischen Kontingentabkommens über die polnische Holzablieferung47 sowie eines bahnbetriebstechnischen Abkommens (das sog. Berliner Abkommen von 1926).48 43 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 24, Ministerialdirektor v. Stockhammern, 12.8. 1924, S. 55. 44 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 121, Legationsrat Zechlin, 13.6.1925, S. 329 ff. 45 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 72, Heft 1, Frankenbach an OPO, 26.9.1925. 46 Curt Poralla: „Die polnische Eisenbahnverkehrspolitik“, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 66 Jg. / 1926, Nr. 32, 12.8.1926, S. 863. 47 RGBl. 1928, II, S. 15 f. Nach dem schwebenden Verhandlungen kam das Holzabkommen zwischen Deutschland und Polen Ende November 1927 zustande. Demnach wurde Polen ein Einfuhrkontingent eingeräumt, indem Deutschland die polnischen Schnitthölzer von 1.250.000 m³ pro Jahr zu bestimmten Zollsätzen ein-
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Der Handelsvertrag zwischen Deutschland und Polen, unterzeichnet erst fünf Jahre nach dem Ausbruch des Zollkriegs, am 17. März 1930, wurde jedoch im Hinblick auf die Interessen der deutschen Agrarier in der Weimarer Republik letztlich nicht ratifiziert.49 Die Ergebnisse der deutsch-polnischen Wirtschaftsverhandlungen vom März 1930, welche angeblich auf die Aufhebung der Zollkriegsmaßnahmen, die Öffnung der Grenze sowie die Freigabe des Transitverkehrs über die deutschen Häfen von und nach Polen abzielten, kamen dennoch dem Wunsch der Königsberger Wirtschaftskreise nicht nach. Die von Königsberg gewünschte Regelung des Häfenwettbewerbs beim Eisenbahntransitverkehrs wurde infolge des Widerstands Polens nicht in den Vertrag aufgenommen. Tatsächlich enthielt das Wirtschaftsabkommen vom 17. März 1930 keine Regelung der Eisenbahnangelegenheiten. Man sprach darin lediglich ein Verbot von wirtschaftlichen Kampfmaßnah48
führen sollte. Dabei verpflichtete sich Deutschland, seine Einfuhrzölle in der Höhe von 1 Mark für 100 kg zu stabilisieren, und ebenso Polen seine Ausfuhrzölle (Nadelholz 0,40 Zl, Laubholz 0,20 Zl und Espenholz 1,50 Zl für 100 kg). Außerdem wurde die Vereinbarung getroffen, daß die Eisenbahnverwaltungen beider Staaten sich verpflichten sollten, die beim Zustandekommen dieses Abkommens geltenden Eisenbahntarifsätze nicht so zu ändern, daß der Zweck des Holzabkommens hierdurch beeinträchtigt würde. Das Abkommen wurde bis Ende 1930 verlängert. Siehe auch Maria Cremer: „Zur Lage des polnischen Eisenbahnwesens. Die wirtschaft liche Bedeutung des polnischen Güterverkehrs“, in: Archiv für Eisenbahnwesen 54 (1931), S. 133–182. Gerhard Hayn: Das Holzproblem im deutsch-polnischen Zollkrieg, Berlin und Königsberg 1931, S. 36. 48 Das Eisenbahnabkommen über den gegenseitigen Eisenbahnverkehr zwischen Deutschland einerseits, Polen und der Freien Stadt Danzig andererseits vom 27. März 1926. Bei diesem Eisenbahnabkommen handelte es sich lediglich um die Regelung der allgemeinen eisenbahn- und betriebstechnischen Angelegenheiten sowie der Kompetenzen der Bahnverwaltungen zwischen Deutschland, Polen und Danzig. Die Rechte, die normalerweise im Rahmen von Handelsverträgen zu regeln waren, wie die Meistbegünstigung- und Paritätsklausel, wurden hingegen nicht in dieses Abkommen aufgenommen. Curt Wyszomirski: „Das Berliner Abkommen über den gegenseitigen Eisenbahnverkehr zwischen Deutschland einerseits, Polen und der Freien Stadt Danzig andererseits vom 27. März 1926“, in: Archiv für Eisenbahnwesen 50 (1927), S. 1443–1466. Curt Wyszomirski: Die Polnischen Staatsbahnen im Jahr 1930, in: Archiv für Eisenbahnwesen 56 (1933), S. 995–1016. Zu den Unterschieden zwischen dem technischen Eisenbahnabkommen und den Eisenbahnbe stimmungen des Handelsvertrags wies das Reichsverkehrsministerium darauf hin: „Eisenbahnabkommen über eisenbahntechnische Fragen nur zwischen den Eisenbahnverwaltungen (Eisenbahndirektionen) ohne Hinzuziehung anderer Ressorts geschlossen worden. Eisenbahnfragen von wirtschaftlicher Bedeutung wurden dagegen in die Handelsverträge aufgenommen.“ GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2, RVM an PreußHM, 2.6.1923. 49 Puchert (1963), S. 157 ff. Hans Roos: Polen zwischen den Weltkriegen, in: Osteuropa-Handbuch, Polen, hg. v. Werner Markert, Köln-Graz 1959, S. 53. Zur Intervention Hindenburgs siehe Harald Zaun: Paul von Hindenburg und die deutsche Außenpolitik 1925–1934, Köln 1999, S. 686 ff.
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men beider Staaten aus.50 Demzufolge wurde der polnischen Eisenbahnverwaltung weiterhin anheimgestellt, die Häfen Danzig und Gdingen einerseits und den Hafen Königsberg andererseits beim Holztransport eisenbahntariflich differenziert zu behandeln.51 Der deutsch-polnische Zollkrieg wurde erst durch das gemeinsame Protokoll zwischen dem Reich und Polen im März 1934 beigelegt.52 Vor 1933 war der Handelsvertrag zwischen Deutschland und Polen nicht mehr ratifiziert worden. Daher war Polen auch unabhängig von der vertraulichen Vereinbarung zwischen Deutschland und der UdSSR nicht imstande, auf die der UdSSR durch Deutschland eingeräumten Rechte im Wege der Meistbegünstigung Anspruch zu erheben. Die Praxis bewies also, daß die vertrau liche Abrede zwischen Deutschland und der UdSSR über Artikel 2 und 3 des Eisenbahnabkommens vom 12. Oktober 1925 durch den langjährigen deutsch-polnischen Wirtschaftskrieg ihre Wirkung verlor. Der von deutscher Seite befürchtete Fall, daß Polen einseitig in den Genuß der Parität kam, trat hingegen nicht ein. bb) Die völkerrechtlichen Sonderverträge Der internationale Verkehr nach dem Ersten Weltkrieg war nicht nur durch bilaterale Verträge, sondern auch im Rahmen der vom Völkerbund koordinierten internationalen Übereinkommen geregelt (vgl. Artikel 23e der Völkerbundsatzung / des Versailler Vertrags).53 Zu diesen internationalen Übereinkommen zählten vor allem das Barcelona-Transitabkommen vom 50 RT, IV. Wahlperiode 1928 / 30, Bd. 442, Anlage Nr. 2138. Entwurf eines Gesetzes über das deutsch-polnische Wirtschaftsabkommen und über den Beitritt der Freien Stadt Danzig zu diesem Abkommen vom 17.3.1930. (Vorlage am 13.6.1930) 51 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1930, S. 64 ff. Cremer (1931), S. 133–182 (hier S. 146). Vgl. dazu Werner Haustein: Das internationale öffentliche Eisenbahnrecht, Frankfurt am Main 1953, S. 125 f. Hau stein wies darauf hin, daß die Tarifpolitik der polnischen Bahnverwaltung, die die Beförderung nach den Häfen Danzig und Gdingen vergünstigte, völkerrechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn die deutschen Waren auf derselben Strecken mit den polnischen eisenbahntariflich gleichbehandelt werden sollten. 52 RGBl. 1934, II, S. 93 f. 53 Zu den Verhältnissen der internationalen Übereinkommen zu den Eisenbahnbestimmungen der deutschen Handelsverträgen siehe Rudolf Meyer Eicklingen: System und völkerrechtlicher Gehalt der deutschen Handelsverträge, Berlin 1934, S. 47 ff. Ernst Beckh: Die Gestaltung des Internationalen Eisenbahnrechts im Rahmen des Völkerrechts mit besonderer Berücksichtigung der Nachkriegszeit, Diss. Nürnberg 1930, S. 102 ff. Michael Furtner: Die Organisation des Verkehrs im Völkerbund, insbesondere die Verkehrskonferenz von Barcelona 10. März bis 20. April 1921, Diss. Würzburg 1923.
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20. April 192154 und das Genfer Übereinkommen über die Rechtsordnung des internationalen Eisenbahnverkehrs vom 9. Dezember 1923.55 Die Bestimmungen des Genfer Statuts waren dadurch gekennzeichnet, daß volle Gleichheit zwischen den Vertragsstaaten bei der Abfertigung, den Abgaben sowie Beförderungspreisen im internationalen Eisenbahnverkehr gewährt wurde, ohne jedoch im Text ausdrücklich die Meistbegünstigungsund Paritätsklausel zu formulieren. Der Grundsatz stellte also unter völliger Ausschaltung unterschiedlicher Behandlung zwischen den Vertragsstaaten sowie Untersagung der Diskriminierung im wesentlichen eine Kombination der Meistbegünstigung und der Parität dar (Art. 4, Art. 20 sowie Zeichnungsprotokoll).56 Allerdings blieben die Hoheitsrechte der Staaten, vor allem die Freiheit der Betriebsführung und der Tarifierung, davon unberührt. In verkehrsrechtlicher Hinsicht traf das gleiche für das BarcelonaStatut über die Freiheit des Durchgangsverkehrs zu. Darin wurden die Freiheit und Gleichheit des Transitverkehrs aller Vertragsmächte auf Wasserstraßen sowie Schienenwegen gewährt, unter Hinweis darauf, daß keinerlei Unterschied in der Staatsangehörigkeit, den Flaggen, dem Ort des Ursprungs usw. gemacht werden durfte. Unter diesem Grundsatz von Freiheit und Gleichheit kam die Gleichbehandlung mit den inländischen Verkehr sowie mit dem der dritten Staaten, nämlich die Kombination der Parität und der Meistbegünstigung zum Ausdruck.57 Die Beitrittserklärung Deutschlands zum Barcelona-Transitabkommen erfolgte am 18. März 1924 beim Generalsekretariat des Völkerbunds. Mit der Veröffentlichung im Reichgesetzblatt vom 4. Oktober 1924 wurde es für Deutschland verbindlich.58 Interessant ist vor allem die Tatsache, daß der am 17. August 1927 abgeschlossene Handelsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich mit Blick auf die Eisenbahnbestimmungen (Artikel 30 bis 32) weder Meistbegünstigungs- noch Paritätsklausel enthielt, sondern sich sogar hinsichtlich der allgemeinen rechtlichen Verhältnisse des Eisenbahnverkehrs ausschließlich auf das Genfer Übereinkommen bezog, in dem das unverzügliche Inkrafttreten des Genfer Übereinkommens und Statuts festgehalten wurde (Artikel 30). Deutschland und Frankreich einigten sich ebenfalls bezüglich des Transitverkehrs darauf, sich darum zu bemühen, die Anwendung des 54 RGBl. 1924,
II, S. 388 ff. Vertragstext des Genfer Übereinkommens von 1923 wurde abgedruckt in: Internationales Eisenbahnrecht. Quellensammlung, hg. v. Werner Haustein und Willibald Pschirrer, Bd. I, Frankfurt am Main 1956, S. 86 ff. 56 Werner Haustein: Die Freiheit im internationalen Verkehr, Darmstadt und Köln 1954, S. 102 ff. 57 Riedl (1928), S. 16 ff. 58 RGBl. 1924, II. S. 387. 55 Der
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am 20. April 1921 unterzeichneten Barcelona-Transitabkommens in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu erleichtern (Artikel 29).59 Mit Recht urteilte man in der Folgezeit, daß das Genfer Übereinkommen über die internationale Rechtsordnung der Eisenbahnen nichts wesentlich Neues geschaffen, sondern vorwiegend nur bereits lange bewährte Grundsätze kodifiziert hatte.60 Die Gleichheit zwischen allen Vertragsstaaten, vor allem im gegenseitigen Verkehr zwischen den Nachbarstaaten, die in der Meistbegünstigung und Parität in derselben Richtung und auf derselben Strecke zum Ausdruck kam, war ein Grundsatz der Eisenbahnbestimmungen, die sich seit 19. Jahrhundert im Rahmen der europäischen Handelsverträge entwickelt hatten. Allerdings lag die Bedeutung des Genfer Übereinkommens nicht in seiner unmittelbaren Rechtsverbindlichkeit. Die ganz allgemein gehaltenen Bestimmungen waren eher eisenbahnpolitische als rechtliche Vereinbarungen. Das Genfer Übereinkommen ordnete vor allem im Bereich der internationalen Eisenbahntarife die Gleichbehandlung aller Vertragsmächte an. Obwohl man auf die gerechte Regelung des Handelsverkehrs abzielte, konnte in der Praxis dieser Grundsatz infolge der divergierenden Interessen der beteiligten Staaten seine Wirksamkeit nicht voll entfalten.61 Die neuen Oststaaten, Estland, Lettland, Litauen, Polen sowie die Tschechoslowakei, unterzeichneten das Genfer Übereinkommen am 9. Dezember 1923. Die Durchführung stieß aber nicht nur bei diesen Ländern, sondern auch selbst bei den Großmächten auf Schwierigkeiten. Unter diesen Umständen faßte man auf der dritten internationalen Verkehrskonferenz des Völkerbundes im September 1927 eine Resolution, den Signaturmächten die baldige Ratifikation des Genfer Übereinkommens zu empfehlen.62 Unmittelbar danach ratifizierte Deutschland das Abkommen. Die Reichsregierung legte die Ratifika tionsurkunde am 5. Dezember 1927 beim Generalsekretär des Völkerbunds nieder. Gemäß Artikel 6 des Übereinkommens trat es für Deutschland am 5. März 1928 in Kraft.63 Zwei wichtige Nachbarstaaten, Polen und die Niederlande, folgten diesem Beschluß Deutschlands. Das Genfer Übereinkommen wurde am 7. Januar 1928 durch Polen sowie die Freie Stadt Danzig und am 2. Februar 1928 durch die Niederlande ratifiziert.64 59 RGBl. 1927, II. S. 523. Über den deutsch-französischen Handelsvertrag von 1927 siehe vor allem Riedl (1928), S. 18 f. sowie Posse (1929), S. 483 f. 60 P. Wolf: Die Deutsche Reichsbahn und ihre Beziehungen zu ausländischen Eisenbahnen, Berlin 1931, S. 31. Haustein (1954), S. 105. 61 Reiter (1929) S. 49 f. 62 Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. VII / 1927, Nr. 9, S. 345 ff. 63 RGBl. 1927, II, S. 909. RGBl. 1928, II, S. 14. 64 RGBl. 1928, II, S. 649. Bekanntmachung, betreffend weitere Ratifikationen des Übereinkommens und Statuts über die internationale Rechtsordnung der Eisenbahnen sowie des zugehörigen Zeichnungsprotokolls. Vom 20. Dezember 1928.
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Damit war tatsächlich der Zeitpunkt erreicht, den man in der vertraulichen Note Nr. 9 Ziff. 1 des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 genannt hatte. Nun war sowohl Polen als auch Deutschland völkerrechtlich dazu verpflichtet, alle Diskriminierung zu unterlassen und den Verkehr Deutschlands bzw. Polens auch eisenbahntariflich paritätisch zu behandeln, allerdings mit räumlicher Einschränkung (in derselben Richtung und auf derselben Strecke). Der von Deutschland befürchtete Fall, daß Polen zum Abschluß des deutsch-polnischen Handelsvertrags lediglich auf der Meistbegünstigungsklausel bestehen werde, und daß Deutschland demzufolge dazu gezwungen sein werde, Polen einseitig die Parität zu gewähren, trat schließlich nicht ein. Also kam es nie dazu, daß Deutschland dem polnischen Verkehr einseitig die Parität im Wege der Meistbegünstigung einräumen mußte, und zwar unabhängig davon, ob die Paritätsklausel des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags geheim war. Denn eine deutsch-polnische Eisenbahnregelung, die lediglich auf Meistbegünstigung beruhte, kam vor dem Inkrafttreten des Genfer Abkommens überhaupt nicht zustande. Das Genfer Übereinkommen wurde schließlich bis zum Anfang der 30er Jahre durch die meisten europäischen Staaten ratifiziert.65 Seine Grundsätze wurden als Richtlinie zur internationalen Tarifgestaltung allgemein anerkannt und trotz seiner schwer eingeschränkten Durchführung bis nach dem Zweiten Weltkrieg nie formell aufgehoben.66 (Die UdSSR, die das Genfer Übereinkommen nicht unterzeichnete, sah ihren Beitritt zunächst nicht vor.67 Sie war erst seit 1934 Völkerbundsmitglied. Die Anwendbarkeit des Berner Internationalen Übereinkommens über den Eisenbahnfrachtverkehr [1890, 1924],68 dem die UdSSR nicht beigetreten war, auf den sowjetischen internationalen Verkehr wurde dennoch in einzelnen Fällen, wie z. B. für den auf Grund des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens vom 12. Oktober 1925 durchzuführenden Eisenbahnverkehr zwischen Deutschland und der UdSSR, mit etwaigen Abweichungen und Ergänzungen gebilligt.69 Hierzu siehe Artikel 1 des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens.) 65 Wolf
(1931) S. 32. des Völkerrechts, hg. v. Hans-Jürgen Schlockhauer, Erster Band, Berlin 1960, S. 417 ff. 67 Alfred von der Leyen: Rußland und das Internationale Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 66. Jg / 1926, Nr. 28, S. 745–746. 68 RGBl. 1925, II, S. 183. Gesetz über das am 23. Oktober 1924 unterzeichnete Internationale Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr, vom 30. Mai 1925. Über die historische Entwicklung der IÜG von 1890 bis 1952 siehe vor allem Haustein (1953), S. 12 ff. Fritsch, Handbuch (1930), S. 359 ff. 69 Handels- und Wirtschaftsvertrag zwischen der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und dem Deutschen Reich vom 12. Oktober 1925 nebst Konsular66 Wörterbuch
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c) Fazit Infolge des langjährigen Wirtschaftskriegs zwischen Deutschland und Polen, der den Abschluß eines Handelsvertrags mitsamt den Eisenbahnbestimmungen längere Zeit verhinderte, verlor die Geheimvereinbarung zwischen Deutschland und der UdSSR wesentlich an Bedeutung. Schon im Jahr 1928 wurde außerdem das Genfer Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr ratifiziert. Mit dem Inkrafttreten des Genfer Übereinkommen von 1928, dessen Durchführung und Wirkung in der Praxis des internationalen Verkehrs allerdings schwer eingeschränkt war,70 waren sowohl Deutschland, als auch Polen völkerrechtlich verpflichtet, den Verkehr beider Staaten nach dem Paritäts- und Meistbegünstigungsprinzip zu behandeln. Selbst wenn die vertrauliche Abrede dem deutsch-sowjetischen Handelsvertrag vom Oktober 1925 nicht beigefügt worden wäre, hätte dies nichts an der Tatsache geändert. Denn der Fall, daß Polen die Parität auf deutschen Schienen einseitig erhielt, also ohne Gegenleistung für den deutschen Verkehr auf polnischen Schienen, trat letztlich nicht ein. 3. Die vertrauliche Note Nr. 9 Ziff. 2: Die Stellung des Königsberger Hafens Die Bestimmungen von Ziff. 1 (die Verschiebung der offiziellen Inkraftsetzung der Paritätsklausel) scheinen deshalb von geringer wirtschaftlicher Bedeutung gewesen zu sein. Offenbar hatte diese Klausel allein vorläufigen Charakter, da sie nach dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags nicht wieder zur Diskussion gestellt wurde. Hingegen bildete Ziff. 2 für Königsberg eine Frage von großem wirtschaftlichen Interesse. Die vertrauliche Note Nr. 9 Ziff. 2 stellte die Zusicherungsmöglichkeit der Wettbewerbsfähigkeit des Königsberger Hafens mit anderen nicht zur UdSSR gehörenden Ostseehäfen beim Transitverkehr von und nach der UdSSR dar. Demnach sollten sich Deutschland und die UdSSR „miteinander über die zu ergreifenden Maßnahmen ins Benehmen setzen“, für den Fall, daß kein Einvernehmen zwischen den an diesem Transitverkehr beteiligten Staaten über die Gleichstellung zwischen dem Hafen Königsberg einerseits und anderen Ostseehäfen andererseits erzielt würde. Bei beiden vertrag, erläutert von den Mitgliedern der Sowjetdelegation Dr. A. Rapoport und B. Stein, hg. v. Handelsvertretung der UdSSR in Deutschland, Berlin 1926, S. 104 ff. 70 Nach dem Zweiten Weltkrieg merkte Haustein kritisch an: „Bei aller Anerkennung der Bemühungen des Völkerbundes bleibt festzustellen, daß die Konventionen und Statuten von Barcelona und Genf leider kaum jemals eine nennenswerte praktische Rolle gespielt haben.“ Siehe hierzu Haustein (1953), S. 131.
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Fällen der vertraulichen Note Nr. 9, aber insbesondere bei Ziff. 2, handelte es sich deshalb um eine über die allgemeine Meistbegünstigung hinausgehende Regelung, die ein Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands den dritten Staaten, zumal Polen und den baltischen Staaten, gegenüber voraussetzte. Diese Klausel (Ziff. 2) ist besonders interessant, vor allem im Hinblick auf die Tatsache, daß es eigentlich bis kurz vor dem Abschluß des deutschsowjetischen Handelsvertrags in Aussicht genommen war, das politische Verhältnis zwischen Deutschland und der UdSSR im Sinne eines Gegenstücks zu den Locarno-Verträgen zu regeln und dazu eine politische Freundschaftserklärung in die Präambel des abzuschließenden Handelsvertrags aufzunehmen. Darin sollte die Förderung enger Fühlungnahme beider Staaten für die die beiden Staaten berührenden Angelegenheiten schriftlich fixiert werden.71 Der Wunsch, die politischen Verhältnisse zwischen Deutschland und der Sowjetunion konkreter als im Rapallovertrag zu regeln, ging ursprünglich auf den Vorschlag Moskaus vom Dezember 1924 zurück. Für diesen Plan setzte sich der deutsche Botschafter in Moskau, v. Brockdorff-Rantzau, intensiv ein, um so den Kurswechsel der deutschen Außenpolitik, also die Abkehr Deutschlands von der Rapallo-Politik, die mit dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund endgültig vollzogen werden sollte, zu vermeiden. Die Handelsvertragsverhandlungen wurden seit Ende Dezember 1924 durch die politischen Ambitionen Berlins und Moskaus außerordentlich belastet, da dem abzuschließenden Handelsvertrag nicht nur eine rein wirtschaftliche, sondern auch eine politische Deutung (gegen die Westmächte von Locarno) zuzumessen war.72 Stresemann hielt das Zustandekommen eines gesonderten deutsch-sowjetischen Bündnisvertrags für unzulässig und schlug deshalb der Sowjetregierung die schriftliche Veröffent lichung einer Freundschaftserklärung in Form einer Präambel zum Handelsvertrag vor. In Moskau ging man auf diesen Vorschlag jedoch nicht ein, weil man glaubte, daß eine bedeutende politische Erklärung nicht auf die Präambel eines Wirtschaftsabkommens reduziert werden dürfe. Infolge der unterschiedlichen Strategien Berlins und Moskaus kam die geplante Präambel schließlich nicht zustande. Das politische Verhältnis zwischen Deutschland und der UdSSR, vor allem gegenüber dem Völkerbund, wurde erst im 71 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 639, Vorschlag der Reichsregierung, 1.7.1925, S. 639, sowie Dok. 324, Vorschlag der Regierung der UdSSR, 13.7.1925, S. 644 f. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 157, Staatssekretär v. Schubert, 25.6.1925, S. 415 ff. (vor allem Anlage, Richtlinien für die Fortsetzung der politischen Verhandlungen mit Rußland, S. 416 ff.). 72 Über den deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag 1926 siehe vor allem Schieder (1956), Herbig (1958), Ruge (1961), Walsdorff (1971), Rosefeld, Bd. II (1984).
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April 1926 mit dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrags (des sog. Berliner Vertrags) geregelt. So wurde die vorgesehene schriftliche Erklärung über die Förderung enger Fühlungnahme beider Staaten aus dem Handelsvertrag gänzlich fallengelassen. Folglich stellte die vertrauliche Note Nr. 9 Ziff. 2 zu Artikel 4 des Eisenbahnabkommens, in der die enge Fühlungnahme beider Staaten gegen Polen und die baltischen Staaten zur Zusicherung des Königsberger Handels schriftlich festgesetzt waren, die einzige über den Rapallovertrag hinausgehende Klausel des Handelsvertrags dar. Die Formulierung dieser Klausel ergab sich ursprünglich aus dem Vorschlag der Königsberger Handelskammer bei der Sonderbesprechung zwischen Deutschland und der UdSSR Mitte Dezember 1924 in Moskau.73 Die Flößerei auf der Memel war auch nach dem Abschluß des deutschlitauischen Binnenschiffahrtsabkommens im Jahr 1924 weiterhin unmöglich. Das Abkommen wurde außerdem von Litauen nicht loyal eingehalten. Im Oktober 1924 protestierte der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen gegen Litauen und schlug dem Auswärtigen Amt vor, die Memelflößerei durch ein politisches Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands freizugeben. Der Gedanke einer gemeinsamen Druckausübung auf die Pufferstaaten ging auf den Wunsch der Königsberger Handelskammer zurück. Königsberg beantragte außerdem, diese Frage zum Gegenstand der deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen zu machen.74 Das Auswärtige Amt zog aber nach kurzer Überregung seine erste Zusage, die in der Sitzung Mitte Oktober erteilt worden war, zurück und schlug der Königsberger Handelskammer statt dessen vor, bei den sowjetischen Stellen im Rahmen der kommenden Moskauer Verhandlungen inoffiziell in dieser Richtung anzufragen.75 Infolge der Grenzziehung war eine bilaterale Regelung der Memelschiffahrt zwischen Deutschland und Rußland unmöglich, weshalb das Vorhaben, ein deutsch-sowjetisches Binnenschiffahrtsabkommen zu schließen, aufgegeben wurde. Es sollte vielmehr auf anderen Wegen versucht werden, die gegen die Wiederherstellung des Königsberger Hafengeschäfts bestehenden Hin73 GStA PK, I. HA, Rep. 120. CXIII, 6a 35d, RVM, Bericht über die Beratungen über den Entwurf eines Eisenbahnabkommens zwischen Deutschland und der UdSSR, sowie Anlage 2, Äußerungen der deutschen Vertreter zum Artikel IV des Eisenbahnabkommens, Sitzung der Unterkommission vom 18. Dezember 1924. 74 BA, R 5 / 407, Vermerk von Ebhardt (RVM), 14.10.1924. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Protokoll von Herbst, 14.10.1924. PA AA, R 23936 (Handakten v. Koerner), Protokoll der im AA am 14. Oktober 1924 stattgefundenen Besprechung. ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 116, S. 284 ff. Vermerk über die Besprechung im AA vom 14. Oktober 1924, in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922– 1925, Bd. 1, Dok. 228, S. 438 ff. 75 PA AA, R 23941 (Handakten v. Koerner), 81. interne Besprechung in Berlin, 23.10.1924.
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dernisse durch gemeinsame Druckausübung Deutschlands und Rußlands zu beseitigen. Der Eisenbahnverkehr gewann nicht nur wie früher für Getreide und Hülsenfrüchte, sondern auch für den Holztransport an Bedeutung, während der Wasserstraßenverkehr eingestellt war. Daher wurde der Wunsch nach einem deutsch-sowjetischen Zusammenwirken gegen die Transitstaaten (Polen und die baltischen Staaten) zur Zusicherung des Königsberger Rußlandgeschäfts bei der Moskauer Dezember-Verhandlung 1924 im Rahmen des Eisenbahnabkommens zur Sprache gebracht.76 So ging diese Klausel auf den Wunsch der Königsberger Handelskammer zurück, die nicht nur auf die Handelsvertragsverhandlungen (1923 / 25), sondern auch schon auf den Abschluß des alten deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 entscheidenden Einfluß ausgeübt hatte.77 Das Schlußprotokoll zu Artikel 19 des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894, dessen Zustandekommen den Initiativen der Königsberger Kaufmannschaft zu verdanken war, hatte die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den deutschen und russischen Ostseehäfen (Riga, Libau, Memel, Königsberg, Danzig) gewährt. Dabei war außerdem die Anwendbarkeit von durchgehenden Staffeltarifen der russischen Bahnen auf den Gütertransport zwischen den russischen Verladestationen und den preußischen Ostseehäfen zugesichert worden. Somit konnten die Häfen Danzig, Königsberg und Memel eisenbahntariflich mit den russischen Ostseehäfen gleichbehandelt werden. Die Besonderheit des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 lag vor allem darin, daß der scharfe Wettbewerb zwischen den Häfen an der Ostsee zum ersten Mal einer vertraglichen Regelung zwischen Deutschland und Rußland unterworfen wurde. Dadurch wurde die Sonderstellung des Königsberger Hafens als Exporthafen für Rußland (Getreide, Hülsenfrüchte, Hanf, Flachs) gewährleistet. Der Rußlandhandel in Königsberg wurde außerdem durch die zugleich getroffenen innerdeutschen Maßnahmen (die Aufhebung des Identitätsnachweises und die Einführung des Einfuhrscheinsystems) gefördert. Im Sommer 1914 wurde aber der Umschlaghandel zwischen England und Rußland, der das Rückgrat des Königsberger Handels bildete, gänzlich unterbunden. Das Kriegsende von 1918 / 19 änderte an diesem trostlosen Zustand wenig. Durch die neue Grenzziehung wurde der direkte Verkehr zwischen Königsberg und Rußland verhindert. Die Häfenwettbewerbsrege76 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau) sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120. CXIII, 6a 35d, RVM, Bericht über die Beratungen über den Entwurf eines Eisenbahnabkommens zwischen Deutschland und der UdSSR, sowie dessen Anlage 2, Äußerungen der deutschen Vertreter zum Artikel IV des Eisenbahnabkommens, Sitzung der Unterkommission vom 18. Dezember 1924. 77 Fritz Simon: Die Korporation der Kaufmannschaft und die Handelskammer zu Königsberg i. Pr. 1823–1923, Königsberg 1923, S. 55 ff.
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lung des Schlußprotokolls zu Artikel 19 wurde seit dem Kriegsausbruch nicht mehr eingehalten. Nach dem Krieg wurden Danzig und Memel vom Reich abgetreten, Riga und Libau gehörten nun zu Lettland. Die fünf Ostseehäfen konnten also nicht mehr einer bilateralen Regelung zwischen Deutschland und Rußland unterliegen. Zum Wiederaufbau der städtischen Wirtschaft in Königsberg sollten die Transiteisenbahn mit Rußland und die Häfenwettbewerbsregelung wiederhergestellt werden. Die Bestrebungen der Königsberger Wirtschaftskreise, die der Oberpräsident und der Oberbürgermeister tatkräftig unterstützten, führten schließlich zum Abschluß des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens vom Oktober 1925. Dennoch ließ sich die Wiederherstellung des alten Rußlandhandels in Königsberg allein mit dem Vertragsabschluß nicht erzielen. Der dritte Teil der vorliegenden Arbeit wird die Entstehung des deutschsowjetischen Eisenbahnabkommens von 1925 und dessen Folgen aus Sicht der Königsberger Wirtschaftskreise skizzieren.
Kapitel I
Das Königsberger Rußlandgeschäft vom 19. Jahrhundert bis zum Versailler Vertrag 1. Der Aufschwung des Handels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts a) Der Ausbau der Eisenbahnen Der im 19. Jahrhundert begonnene Eisenbahnbau in Europa erfaßte im Jahr 1852 auch Ostpreußen. Die erste Bahn der Provinz wurde zwischen Marienburg und Königsberg angelegt. Mit der Fertigstellung der Weichselbrücke von 1857 ging die westpreußische Strecke Dirschau–Marienburg in Betrieb. Dadurch wurde ein Bahnanschluß Ostpreußens an die preußische Ostbahn hergestellt. Königsberg erhielt damit seine erste Bahnverbindung mit der Reichshauptstadt Berlin. In Ostpreußen war damals das Verkehrswesen besonders rückständig. Im Vergleich mit dem industriellen Westen war das Privatkapital zum Eisenbahnbau in der östlichsten Agrarprovinz nur schwer aufzubringen. Die Ostbahn wurde deshalb durch den preußischen Staat aufgebaut.1 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten sich die Königsberger Kaufleute für den Ausbau des Eisenbahnnetzes im Osten ein. Sie versuchten, ihr Einflußgebiet nach Rußland und der Ukraine auszudehnen, wo ebenso wie in Ostpreußen sich gerade die Eisenbahnaufbaubewegung zur Geltung brachte. 1860 / 61 wurde die Strecke zwischen Königsberg und der deutschen Grenzstation Eydtkuhnen gebaut und dadurch der Anschluß an die russischen Bahnen, und zwar in Richtung Nordosten, vor allem über Riga bis St. Petersburg hergestellt. Diese Linie über Eydkuhnen erlangte Anfang der 1880er Jahre Anschluß an die russischen Bahnen über Wilna sowie Minsk bis Moskau. Hingegen spielte die Ostpreußische Südbahn, die 1 Curt Wiszomirski: Wirtschaft und Verkehr in der Provinz Ostpreußen, in: Archiv für Eisenbahnwesen 74 (1964), S. 438–472. Zur Haltung der ostpreußischen Abgeordneten gegenüber dem Ausbau der Eisenbahnen siehe vor allem BernhardMaria Rosenberg: Die ostpreußische Vertretung im preußischen Landtag 1842–1862. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Parlamentarismus in Deutschland, Köln und Berlin 1979, S. 32 f. Vgl. auch Born: Die preußischen Eisenbahnen und Danzig, in: Archiv für Eisenbahnwesen 54 (1931), S. 1105–1117.
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von dem Londoner Privatunternehmer Joseph Bray unter Mitwirkung von Bethel Henry Strousberg sowie den Königsberger Bankiers gegründet worden war, für den Verkehr in Richtung nach Südosten eine besondere Rolle.2 Die Aufgabe der Südbahn, wie aus der 1865 durch die preußische Regierung erteilten Konzession zu ersehen ist, lag vor allem darin, die beiden Eisenbahnlinien, zum einen die Linie zwischen Königsberg und Pillau und zum anderen die Linie von Königsberg über Bartenstein und Lyck bis zur russischen Grenze (Prostken / Grajewo), aufzubauen sowie einen Anschluß an die von Grodno oder Bialystok heranzuführende russische Bahn, deren Bau damals von der russischen Seite noch nicht in Angriff genommen worden war, herzustellen. Auf Wunsch der Ostpreußischen Südbahngesellschaft genehmigte die russische Regierung Anfang 1870 einer Bahngesellschaft den Bau der russischen Linie von Brest-Litowsk über Bialystok bis zur preußischen Grenze (Prostken / Grajewo).3 Nicht zuletzt war die baldige Fertigstellung der russischen Strecke von Brest-Litowsk über Smolensk nach Moskau und über Kiew nach Odessa zu erwarten. Somit wurde der Wunsch der Königsberger Kaufleute tatsächlich erfüllt. Im Jahr 1873 wurde der Anschluß der Ostpreußischen Südbahn an die russisch / ukrainischen Eisenbahnen hergestellt. Dies bedeutete in der Handelsgeschichte Königsbergs einen Wendepunkt. Der Königsberger Hafen erhielt nunmehr Bahnverbindungen in die fruchtbarsten Kornkammern Rußlands und der Ukraine (von Königsberg über die Grenzstation Prostken / Grajewo, Brest, Kiew, Charkow bis zum Schwarzen Meer).4 Die Südbahn war deshalb nicht in erster Linie für den Personen-, sondern für den Güterverkehr von Bedeutung. Es wurden auf diesem Wege gewaltige Mengen an Hülsenfrüchten, Getreide und Futtermitteln aus der Ukraine transportiert. Das Verhältnis der Herkunft der Agrarprodukte, die im Königsberger Hafen ankamen, wurde dadurch drastisch verändert. Bis 1873, also vor der Fertigstellung der Bahnverbindung mit der Ukraine, hatten davon zwei Drittel aus ostpreußischen und ein Drittel aus russischen bzw. ukrainischen Produkten bestanden. Nach 1873 kehrte sich dieses Verhältnis durch die enorme Steigerung der Transportmenge aus dem Russischen Reich genau um.5 Den größten Teil der russischen Exportwaren machten die Hülsenfrüchte aus. Aus diesem Grunde 2 Klaus-Eberhard Murawski: „Im Glauben, meiner speziellen Heimat einen großen Dienst zu leisten“. Bethel Henry Strousberg und der Eisenbahnbau in Ostpreußen, in: Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, hg. v. Michael B rocke, Margret Heitmann und Harald Lordick, Hildesheim 2000, S. 397–404. 3 Overmann: Die Ostpreußische Südbahn. Ein Beitrag zur Privatbahngeschichte, in: Archiv für Eisenbahnwesen 40 (1917), S. 956–976. Die Ostpreußische Südbahn wurde 1903 durch Preußen verstaatlicht. 4 Wiszomirski (1964), S. 438–472. 5 Simon (1923), S. 41 ff.
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entwickelte sich in Königsberg das europaweit wichtigste Handelssystem für Hülsenfrüchte, indem die Börse, das Getreidekreditwesen, das Speicher- und Lagerwesen zusammen mit einem hoch modernisierten Verarbeitungssystem (Klassifizierung und Verfeinerung) ausgebaut wurden.6 Der Zwischenhandel von Hülsenfrüchten und Getreide war traditionell in der Hand der jüdischen russischen Händler. Sie vermittelten auf Grund ihrer persönlichen Beziehungen zwischen den deutschen Händlern einerseits und den Produzenten in Rußland und der Ukraine andererseits, insbesondere in Tambow, Saratow, Kursk sowie Charkow.7 Der Hafen Königsberg entwickelte sich so in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Zentralhandelsplatz für Hülsenfrüchte in Europa. Bis zum Ersten Weltkrieg schickte man fast 90 % der zum Export bestimmten Linsen aus Rußland und der Ukraine zuerst nach dem Hafen Königsberg. Dadurch wurde Königsberg zum führenden Welthandelsplatz für den Linsenhandel.8 In der Vorkriegszeit fand jedoch auf Grund des 1896 zustandegekommen Börsengesetzes prinzipiell kein Terminhandel für Linsen an der Königsberger Börse statt.9 Dennoch trug das Linsengeschäft infolge seiner höheren Preise, vor allem im Vergleich mit dem Brotgetreide oder den als Futtermittel verwendeten Erbsen, den Königsberger Kaufleuten außerordentliche Handelsgewinne ein. Der Linsenhandel in Königsberg nahm zudem spekulative Züge an. Dazu trugen die heftigen Preisschwankungen, die durch schwer vorsehbare Ernteausfälle verursacht wurde, besonders bei.10 Die Linsen schufen den Königsberger Kaufleuten trotz ihrer kleineren Zufuhrmengen fast den gleichen Ertrag wie das Roggengeschäft. Zum Beispiel belief sich der Wert der im Jahr 1907 aus Rußland sowie aus dem Inland im Königsberger Hafen angekommenen Linsen insgesamt auf 13.351.000 Mark (ca. 29.668 t), der des Roggens 13.535.000 Mark (ca. 88.463 t).11 6 Kurt Krause: Die Technik des Königsberger Getreidehandels, in: Zeitschrift für Handelswissenschaftliche Forschung, 5. Jg. (1911), S. 497–524 und S. 546–576. Siehe auch Benno Weissberg: Der Getreidehandel in Danzig und Königsberg, Diss. Frankfurt a. Main 1923 [1924]. 7 Kolef Daugilajcky: Die Bedeutung des jüdisch-russischen Zwischenhandels für den Königsberger Handel, Diss., Königsberg 1922, S. 3–22. 8 Über die Besonderheit des Königsberger Linsengeschäfts äußerte einmal die sowjetische Handelsvertretung: „[…] die außerordentliche Differenzierung in der Qualitäts- und Preisklassifikation. […] Das oben Gesagte vermittelt einen Begriff von der Sorgfalt, die die Klassifikation, die Sortierung und Kalkulation der Linsen erfordert. Selbst unter den Importeuren sind genaue Kenner des Linsengeschäftes keine allzuhäufige Erscheinung.“ in: „Königsberg und das Russengeschäft“ in: OEM, 8. Jg. / Nr. 1, 1.10.1927, S. 1 f. 9 Das Börsengesetz vom 22. Juni 1896. 10 Friedrich Benecke: Die Königsberger Börse, Jena 1925, S. 63 ff. 11 Handel, Industrie und Schiffahrt im Bezirk der Korporation der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr. im Jahre 1907, Bericht des Vorsteheramtes des Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr., S. 157 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Die Sonderstellung des Königsberger Hafens beim Rußlandgeschäft gründete sich aber nicht nur auf seine vorteilhafte geographische Lage.12 Sie verdankte sich zudem auch einer vertraglichen Regelung zwischen Deutschland und Rußland beim Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894. b) Das Schlußprotokoll zu Artikel 19 des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 Mit der Herstellung der Eisenbahnverbindungen zwischen den Ostseehäfen einerseits und ihrem Hinterland, Rußland und der Ukraine, andererseits verschärfte sich der Wettbewerb zwischen den Häfen. Der Betrieb dieser Eisenbahnen in den Ostprovinzen befand sich in den 1870er Jahren, mit Ausnahme der preußischen Ostbahn, prinzipiell noch in der Hand der Privatunternehmer. Sie bemühten sich, durch die Herabsetzung der Eisenbahntarife die Gütertransporte auf den je eigenen Hafen abzulenken. Durch die scharfe Konkurrenz um das Hinterland erlitten nicht nur der Handel der Ostseehäfen, sondern auch die Eisenbahnunternehmer selbst große Einbußen.13 Die Anfang 80er Jahren erfolgte Verstaatlichung der Eisenbahnen in Preußen und Rußland sollte theoretisch einer eisenbahntariflichen Regelung des Häfenwettbewerbs die materielle Grundlage verschaffen.14 Obwohl das zweite Kaiserreich in den ersten Jahren seiner Gründung noch den freihändlerischen Prinzipien der preußischen Handelspolitik treu blieb, mehrten sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Stimmen für die Einführung von Schutzzöllen. Neben der Eisenindustrie, welche die englische Konkurrenz mit Hilfe der Schutzzölle abweisen wollte, schlugen sich nunmehr auch die Agrarier auf die Seite der „Schutzzöllner“.15 Durch die steigende Einfuhr von Brotgetreide aus Nord- und Südamerika nach Europa verloren die ostdeutschen Produkte auf den niederländischen und eng12 Über den Getreidehandel im Hafen Königsberg im 18. Jahrhundert siehe vor allem Rolf Straubel: Die Handelsstädte Königsberg und Memel in friderizianischer Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des ost- und gesamtpreußischen „Commerciums“ sowie seiner sozialen Träger (1763–1806 / 15), Berlin 2003. Gerhard von Glinski: Die Königsberger Kaufmannschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, Marburg 1964. 13 Peter-Heinz Seraphim: Die Ostseehäfen und der Ostseeverkehr, Berlin 1937, S. 63 f. 14 Zur Verstaatlichung der russischen Eisenbahnen sowie deren Wirkung auf die russische Wirtschaft siehe Oscar Mertens: 1882–1911. Dreißig Jahre russischer Eisenbahnpolitik, in: Archiv für Eisenbahnwesen 40 (1917), S. 415–459, 699–729, 905–932, Jg. 41 (1918), S. 442–267, 563–598, Jg. 42 (1919), S. 687–714, 858–907. 15 Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolution, Frankfurt am Main 1980, S. 580 ff. Siehe auch Ernst Engelberg: Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas, Berlin 1990, S. 297 ff.
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lischen Absatzmärkten ihre Konkurrenzfähigkeit. Angesichts des katastrophalen Sturzes der Weltmarktpreise für Getreide, infolge dessen das Reich vom Getreideausfuhrland zum -einfuhrland wurde, forderten die Landwirte die Einführung von Getreideschutzzöllen. Somit kam 1879 eine Interessengemeinschaft zwischen der Eisenindustrie und den Agrariern zustande. Zwangsläufig stand sie den preußischen Hafenstädten wie Königsberg und Danzig gegenüber, welche traditionell dem freihändlerischen Grundsatz großen Wert beimaßen. Allerdings akzeptierten die Ostelbier und die Hansestädte an der Ostseeküste auch erst Anfang der 90er Jahre die Politik der Schutzzölle.16 Die von Bismarck eingeleitete Umkehrung der deutschen Handelspolitik in Richtung auf eine Schutzzollpolitik blieb für den Handel in Nordosteu ropa nicht ohne Folgen. Die Verstaatlichung der Privateisenbahnen in Preußen und Rußland konnte unter diesen Umständen nicht mehr zur Beruhigung des eisenbahntariflichen Wettbewerbs führen. Sie brachte sogar im Häfenwettbewerb zwischen Preußen und Rußland, allerdings im Zusammenhang mit der Einführung der Schutzzölle, neuen Konfliktstoff mit sich. Während Deutschland auf diesem Wege den Getreideimport aus Rußland einzuschränken versuchte, revanchierte sich Rußland mit der Erhöhung der Einfuhrzölle auf Industrieprodukte.17 Hierbei spielte, ebenso wie in Deutschland, die Rückkehr zum Protektionismus eine Rolle. Der Ausbruch des russisch-türkischen Kriegs von 1877 bereitete der seit der Jahrhundertmitte betriebenen russischen Freihandelspolitik ein Ende. Angesichts der steigenden Verschuldung sowie des fallenden Rubels versuchte Rußland, die Staatskasse durch die Vermehrung der Zolleinnahmen zu sanieren. Zur Verbesserung der Handelsbilanz wurde neben der allgemeinen Zollerhebung das Goldzoll system eingeführt, wodurch die bisherigen Zollsätze um über 30 % erhöht wurden. Mitte der 1880er Jahre begann Rußland außerdem damit, das Differentialzolltarifsystem, das in der liberalen Zeit abgeschafft worden war, wieder einzuführen. Aufgabe dieses Zollsystems war es, den Import nach Rußland durch unterschiedliche Einfuhrzollsätze zwischen den Eingangswe16 Karl Erich Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs (1867 / 71–1914), Stuttgart 1985, S. 119 ff. 17 Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtigen Politik 1860–1914, Göttingen 1977, S. 103 ff. sowie S. 116 ff. Helmut Böhme: Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen unter dem Gesichtspunkt der deutschen Handelspolitik (1878–1894), in: Deutschland und Rußland im Zeitalter des Kapitalismus 1861–1914. 1. Deutsch-sowjetisches Historikertreffen in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz, 14.–21. Oktober 1973, hg. v. Karl Otmar Freiherr von Aretin und Werner Conze, Wiesbaden 1977, S. 173– 190. Zu den deutsch-russischen Handelsbeziehungen siehe auch Horst Müller-Link: Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-Deutschland und das Zarenreich von 1860–1890, Göttingen 1977.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
gen (auf dem See- und Landwege), vor allem über die deutschen Ostseehäfen, einzuschränken.18 Es lag auf der Hand, daß Waren, die in den preußischen Ostseehäfen (Danzig, Königsberg sowie Memel) ankamen und auf dem Schienenwege weiter nach Rußland befördert wurden, die trockene Grenze Rußlands, an der höhere Einfuhrzollsätze zu entrichten waren, überschreiten mußten. Nicht zuletzt trugen auch die Gütertarife der russischen Privateisenbahnen zur Bevorzugung der russischen Ostseehäfen bei. Die Verstaatlichung der Privateisenbahnen in Rußland wurde zuerst aus fiskalischen Gründen durchgeführt. Zur Vermehrung der Staatseinnahmen sollte das Eisenbahntarifwesen wie das Zollsystem einer zentralisierten Staatskontrolle unterstellt werden. In den 80er Jahren, als der Protektionismus die neue russische Handelspolitik beherrschte, ging die Kompetenz für das Eisenbahntarifwesen vom Verkehrsministerium in die Hand des Finanzministeriums über, da die Eisenbahntarifpolitik nicht die Schutzzollpolitik des Staates durchkreuzen sollte. Die russische Regierung betrieb somit eine gegen die deutschen Ostseehäfen gerichtete Schutzpolitik, indem die Eisenbahntarife für die Getreideausfuhr über die deutschen Ostseehäfen sowie für die Einfuhr der Industrieprodukte auf den Eisenbahnen über Ostpreußen und Schlesien ohne staatliche Genehmigung nicht mehr ermäßigt werden durften.19 Durch die sich auf beiden Seiten verstärkenden protektionistischen Tendenzen wurden die deutschen Ostseehäfen, die auf den Handelsverkehr zwischen Deutschland und Rußland angewiesen waren, besonders schwer getroffen. Die positive Wirkung der Verstaatlichung der Eisenbahnen kam erst kurz vor dem Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrags zur Geltung. Nach dem langjährigen Handelskonflikt einigte sich man auf die Herstellung von Verbandstarifen zwischen den russischen und der preußischen Eisenbahnverwaltungen, wodurch die Benachteiligung des Königsberger Hafens gegenüber den russischen Ostseehäfen erheblich gemindert wurde. Zur Wahrung der Interessen des Transithandels führte das Deutsche Reich anläßlich der Erhöhung der Getreidezölle (1879) Identitätsnachweise ein, wodurch die zur Wiederausfuhr bestimmten ausländischen Getreide sowie Mehlprodukte zollfrei behandelt wurden. Diese Maßnahme konnte jedoch die Lage der Getreidehändler und Mühlenfabrikanten in den Ostseestädten nicht wesentlich verbessern. Der Rußlandhandel Preußens litt in den 1880er Jahren an besonderen Schwierigkeiten, die sich vor allem aus dem deutsch18 Emil Zweig: Die russische Handelspolitik seit 1877. Unter besonderer Berücksichtigung des Handels über die europäische Grenze, Leipzig 1906, S. 30. Alfred Zimmermann: Die Handelspolitik des Deutschen Reiches vom Frankfurter Frieden bis zur Gegenwart, Berlin 1899, S. 168 ff. 19 Mertens (1917), S. 699–729.
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russischen Zollkrieg und aus der preußischen Polenpolitik ergaben. Die gegen die russischen Staatsangehörigen gerichtete Ausweisungsregelung Preußens zielte darauf ab, der von den russischen Polen unternommenen Polonisierungsbewegung in den preußischen Ostprovinzen entgegenzutreten. Diese Maßnahme brachte es aber mit sich, den Aufenthalt der russisch-jüdischen Händler in Preußen einzuschränken. Dadurch wurde der Königsberger Zwischenhandel schwer beeinträchtigt.20 Als Reichskanzler Caprivi im Dezember 1891 neue Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien sowie der Schweiz abschloß und damit die Erneuerung der deutschen Handelspolitik einleitete,21 geriet der Handel mit Rußland in eine äußerst schwierige Lage. Zwischen Deutschland und Rußland bestand seit 1836, als der 1825 abgeschlossene preußisch-russische Handelsvertrag endgültig aufgehoben worden war, ein vertragsloser Zustand.22 Unter diesen Umständen mußten auf die russischen Waren im Gegensatz zu denen der Vertragsstaaten die deutschen autonomen Zolltarife angewendet werden, die seit dem auf den Agrarschutz abgestellten Zollgesetz von 1879 stets erhöht worden waren. Mit dem Inkrafttreten der neuen Handelsverträge im Februar 1892 brach der deutsch-russische Zollkrieg aus. Dieser Wirtschaftskrieg wurde durch den Abschluß weiterer Handelsverträge, vor allem mit Spanien, Rumänien sowie Serbien, auf die Spitze getrieben. Dem Zollkampf, der nicht ohne schwerwiegende wirtschaftliche Folgen geblieben war, setzte erst der Abschluß des deutsch-russischen Handels- und Schiffahrtsvertrags vom 10. Februar 1894 ein Ende.23 Die Errungenschaft dieses Vertrags war allerdings nicht nur in der gegenseitigen Herabsetzung der Zolltarife zu sehen. 20 So erhob die Königsberger Kaufmannschaft Einwände gegen die Ausweisungsregelung. „Gerade auf ihnen und ihrer Thätigkeit beruht ein grosser Theil unseres Geschäfts mit Russland. Insbesondere trifft dieses zu auf unsern Haupthandlungszweig, das Getreidegeschäft, das zum überwiegenden Theil in der Einfuhr russischen Getreides auf dem Bahnwege und in der Wiederausfuhr desselben über See besteht. Die Heranziehung des russischen Getreides ist vornehmlich Sache dieser russisch-jüdischen Commissionäre.“ Handel, Industrie und Schifffahrt von Königsberg i. Pr. im Jahre 1885. Bericht des Vorsteheramtes der Kaufmannschaft, S. 16. 21 Born (1985), S. 129 ff. 22 Leopold Karl Goetz: Die deutsch-russischen Handelsverträge 1189–1904. Ein geschichtlicher Überblick, Berlin 1917, S. 19 f. 23 Vgl. Alfred List: Die Interessen der Deutschen Landwirtschaft im deutschrussischen Handelsvertrag vom 10. Februar / 20. Januar 1894 mit besonderer Berücksichtigung des Brotgetreidebaues, Stuttgart 1900. Hans Pohl: Untersuchungen über das handelspolitische System Caprivis, insbesondere den Handels- und Schiffahrtsvertrag mit Rußland vom 20. März 1894, Diss. Breslau 1923. Hans Kloessel: Der Deutsch-Russische Handelsvertrag. Geographie und Volkswirtschaft Rußlands. Gesetzte und Tarife des Deutschen und Russischen Zollwesens für die Ausfuhr deutscher Waren nach Rußland und die Einfuhr russischer Waren nach Deutschland,
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Was die Interessen Königsbergs anging, bestand der Kern des Vertragswerks darin, daß den preußischen Ostseehäfen annähernd gleiche Wettbewerbsbedingungen wie den russischen Ostseehäfen gewährt wurden. Zum einen wurde die Aufhebung des russischen Differentialzollsystems zugesichert. Zum anderen sollten die deutschen Häfen beim russischen Exportund Importgeschäft eisenbahntariflich mit den russischen Ostseehäfen (Riga und Libau) gleichbehandelt werden. Demnach sollten durchgehende Staffeltarife der russischen Eisenbahnen für bestimmte Artikeln (Getreide, Flachs usw.) je nach Bedarf von den russischen Stationen bis zu den deutschen Ostseehäfen sowie in umgekehrter Richtung aufgestellt werden („Durchrechnung russischer Tarife“). Die Frachtberechnungen nach der russischen Staffelformel endeten deshalb nicht an der Grenze, sondern reichten bis Königsberg, Danzig und Memel. Die damals geltenden Frachtsätze der russischen Staffeltarife wurden ab einer Entfernung von 600 Kilometern niedriger als die der preußischen gestaffelt. Hingegen waren die preußischen Staffeltarife für die kürzeren Entfernungen billiger als die russischen.24 Selbstverständlich waren für den Fernverkehr zwischen den Ostseehäfen und den russischen Verladestationen russische Tarife günstiger als preußische. Bei ihrer Durchrechnung durfte allerdings keine Beeinträchtigung der Tarifeinnahme bei den deutschen Bahnen eintreten. Bei der Verteilung der Frachten war die an diesem Transporte von der deutschen Grenze ab beteiligten deutschen Bahnen nicht etwa auf ihren kilometrischen Anteil an dem letzen (niedrigsten) Glieder der Staffel beschränkt. Vielmehr waren die gesamten Frachten von den beteiligten deutschen und russischen Bahnen je nach kilometrischem Anteil ihrer Beförderung zu verteilen. Neben diesen Bestimmungen sollte außerdem der sog. Berliner Vertrag von 1893, der den Kampf zwischen den Häfen Königsberg und Danzig um das Hinterland durch die Abgrenzung des Einzugsgebiets beider Häfen beendigt hatte, in Kraft bleiben.25 Dies regelte das Schlußprotokoll zu Artikel 19 des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894.26 Hierdurch wurde der langLeipzig 1895. Arthur Human: Der deutsch-russische Handels- und Schiffahrtsvertrag vom 20. März 1894, Diss. Berlin 1899. 24 Handel und Schiffahrt Königsbergs i. Pr. im Jahre 1893. Bericht des VorsteherAmtes der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr., S. 15 f. 25 Zum Berliner Vertrag vom 17.3.1893 siehe PA AA, R 94557, Reichsbahngesellschaft Hauptverwaltung an RVM, AA, PreußHM, 26.3.1930. Vgl. Johann Fürst: Der Widersinn des polnischen Korridors, Berlin 1926, S. 34 f. 26 RGBl. 1894, S. 153 ff. (hier S. 234 f.) Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen Deutschland und Rußland vom 20. 2. / 29.1.1894. Schlußprotokoll zu Artikel 19: „(Absatz 1) Die vertragschließenden Theile werden einander im Eisenbahntarifwesen, insbesondere durch Herstellung direkter Frachttarife, thunlichst unterstützen. Namentlich sollen solche direkte Frachttarife nach den deutschen Häfen Danzig (Neufahrwasser), Königsberg (Pillau) und Memel zur Vermittelung sowohl der Ausfuhr aus als der
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jährige Wettbewerb zwischen den preußischen und russischen Ostseehäfen, der insbesondere seit dem Aufbau der Eisenbahnen entbrannt war, zum ersten Mal einer vertraglichen Regelung zwischen Deutschland und Rußland unterworfen. Der Gedanke, den Häfenwettbewerb eisenbahntariflich zu regeln und durch die Anwendung der Frachtsätze der russischen Staatseisenbahnen auf die Güterbeförderung bis zu den deutschen Ostseehäfen gleichmäßige Wettbewerbsbedingungen zwischen den deutschen und russischen Ostseehäfen zu schaffen, entstand aus dem Wunsch der Königsberger Kaufmannschaft, insbesondere aus den Anregungen des damaligen Direktors der Ostpreußischen Südbahngesellschaft, Arthur Krüger. Angesichts der Zuspitzung des deutsch-russischen Wirtschaftskriegs (1892–94) beantragte das Vorsteheramt der Korporation der Kaufmannschaft zu Königsberg wiederholt bei der deutschen Regierung sowie bei Kaiser Wilhelm II., eine Klausel über die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den deutschen und russischen Ostseehäfen beim russischen Export- und Importgeschäft in den abzuschließenden Handelsvertrag mit Rußland aufzunehmen, um auf diesem Wege die Benachteiligung des Königsberger Hafens aufzuheben.27 Der erfolgreiche Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrags, durch den in vielfältiger Weise die Wünsche der Königsberger Handelskreise berücksichtigt wurden,28 ging außerdem auf den Beitrag des Syndikus der Königsberger Kaufmannschaft, Fritz Simon, zurück.29 Einfuhr nach Rußland den Bedürfnissen des Handels entsprechend eingeführt werden. (Absatz 2) Zugleich sollen die Frachtsätze für die im russischen Eisenbahntarif zum Getreide gerechneten Artikel sowie für Flachs und Hanf von den russischen Aufgabestationen bis zu den oben erwähnten Häfen nach denjenigen Bestimmungen gebildet und unter die am Transport betheiligten deutschen und russischen Bahnen vertheilt werden, welche für die nach den Häfen Libau und Riga führenden russischen Eisenbahnen jetzt in Kraft sind oder in Kraft treten werden. Die außer den Frachtsätzen erhobenen Zuschläge (Nebengebühren) sollen in gleicher Weise gebildet und der Betrag derselben nach den russischen Vorschriften unter die betheiligten Linien ver theilt werden, wobei man darüber einverstanden ist, daß nur eine einzige Grenzgebühr, die den russischen und den deutschen zur Grenze führenden Bahnen zu gleichen Theilen zufällig, erhoben werden darf. (Absatz 3) Diese Verpflichtung bezieht sich nur auf die beiderseitigen Staatsbahnen; doch werden die beiden Regierungen dahin zu wirken suchen, daß die Privatbahnen bei der Tarifbildung und Frachtvertheilung auf ihren Linie die gleichen Grundsätze anwenden. Sollten sich jedoch trotzdem die am Verkehr in einer der bezeichneten Richtungen betheiligten Privatbahnen diesen Grundsätzen der Tarifbildung und Vertheilung nicht unterwerfen, so sollen diese Grundsätze auch für die Staatsbahnen der vertragschließenden Theile nicht mehr bindend sein. (Absatz 4) Die zur Zeit bestehenden besonderen Bestimmungen zur Regelung des Wettbewerbs zwischen Königsberg und Danzig bleiben in Kraft.“ 27 Simon (1923), S. 56 f. 28 Zum Erfolg bei den deutsch-russischen Handelsvertragsverhandlungen: „Denn die Bestimmungen des Schlussprotokolls zu Artikel 19 des deutsch-russischen Handelsvertrages sind unserer Anregung entsprungen, und die dort enthaltenen ent-
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Bei den Handelsvertragsverhandlungen hatte allerdings Rußland die Annahme der Königsberger Anträge davon abhängig gemacht, daß die sog. Exportklausel aufzuheben sei. Rußland wollte nicht auf die deutschen Wünsche eingehen, ohne für sich wirtschaftliche Konzessionen zu erlangen. Denn die Annahme der Königsberger Wünsche war mit dem Wirtschaftsinteresse der russischen Ostseehäfen nicht zu vereinbaren. Nach der Exportklausel durften allein für die zum Export in das deutsche Zollausland bestimmten russischen Produkte, nämlich die Transitwaren, russische Staffeltarife bis zu den preußischen Ostseehäfen aufgestellt werden. Nach der Auffassung der ostdeutschen Agrarier sollte dadurch die Überschwemmung des deutschen Markts mit russischen Produkten verhindert werden. Die deutsche Regierung und die Königsberger Kaufmannschaft gingen jedoch auf den russischen Wunsch ein, vor allem unter Zurückweisung der Anträge der deutschen Landwirtschaft.30 Der Königsberger Kaufmannschaft zufolge war der größte Teil der russischen Getreide zur Verschiffung aus den deutschen Ostseehäfen bestimmt. In diesem Sinne hätten die Transitwaren aus Rußland folglich keinen direkten Einfluß auf die Preisbildung im deutschen Getreidemarkt haben können. Das Vorgehen der Königsberger Kaufmannschaft sowie das auf ihren Wunsch aufgenommene Schlußprotokoll zu Artikel 19 des deutsch-russischen Handelsvertrags wurden deshalb im Reichstag, vor allem von den agrarischen Interessenvertretern scharf kritisiert.31 29
Die Gewährung direkter Eisenbahntarife war allerding im Rahmen eines Handelsvertrags nicht neu. Nachdem die Paritätsklausel hinsichtlich der Personen- und Gütertransporte in die Eisenbahnbestimmungen der seit den 1860er Jahren abgeschlossenen europäischen Handelsverträge aufgenommen worden war, trat alsbald zutage, daß allein mit der Paritätsklausel die unterschiedliche Behandlung zwischen den inländischen und anderen vertragschließenden Häfen bzw. Handelsplätzen bei der Eisenbahntarifbildung scheidenden Vorschriften über die Bildung der Getreide- und Flachstarife entsprechen beinahe wörtlich unseren Anträgen“; siehe Handel und Schifffahrt Königsbergs i. Pr. im Jahre 1897. Bericht des Vorsteher-Amtes der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr., S. 29. 29 „Syndikus Fritz Simon fünfundsiebzig Jahre“ in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Beilage zur Abendausgabe vom 2.1.1929. 30 Handel, Industrie und Schifffahrt im Bezirk der Corporation der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr. im Jahre 1900. Bericht des Vorsteheramtes der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr., S. 39 f. 31 Zur Resolution des Abgeordneten Graf v. Klinckowstroem im Reichstag sowie zur Erwiderung der Königsberger Kaufmannschaft siehe vor allem Handel, Industrie und Schifffahrt im Bezirke der Corporation der Kaufmannschaft Königsberg i. Pr. im Jahre 1900. Bericht des Vorsteheramtes der Kaufmannschaft, S. 31 ff., sowie ebd., 1901, S. 23 ff.
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nicht zu beseitigen war. Hierzu waren weitere Einschränkungen der Tarifbildung nötig. Nachdem das internationale Frachtrecht erst durch das Berner Internationale Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr vom 14. Oktober 1890, an dem die meisten europäischen Staaten sowie Rußland beteiligt waren, seine erste gesetzliche Grundlage erhalten hatte, machte die Regelung des internationalen Tarifwesens im Rahmen der mitteleuropäischen Handelsverträge Anfang der 90er Jahre bedeutende Fortschritte.32 So wurde im Rahmen der deutschen Handelsverträge die Gewährung der Aufstellung direkter Tarife zuerst im deutsch-belgischen Handelsvertrag vom 6. Dezember 1891 ausdrücklich formuliert. Hierzu spielte der Wunsch Belgiens nach der Begünstigung und Zusicherung für die Ein- und Ausfuhr von und nach Deutschland über die belgischen Häfen, vor allem Antwerpen, eine Rolle. Analoge Bestimmungen enthielten der deutsch-russische Handelsvertrag von 1894, die Zusatzverträge zu den Handelsverträgen mit Italien und Serbien von 1904 sowie der Handelsvertrag mit Schweden von 1906. Der Handelsvertrag zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn vom 6. Dezember 1891 enthielt im Interesse des die gemeinsame Grenze überschreitenden Eisenbahnverkehrs noch weitere eingehende Vereinbarungen über die Tarifbildung sowie die Nutzung der Verkehrseinrichtungen.33 c) Die Aufhebung des Identitätsnachweises und die Einführung des Einfuhrscheinsystems Der deutsch-russische Handelsvertrag von 1894, mit dem der Zollkrieg sowie das russische Differentialzolltarifsystem beseitigt wurde, zeigte schnell Wirkung. Dies kommt in folgender Statistik über die Getreideeinfuhr aus Rußland im Hafen Königsberg zum Ausdruck: 324.619 t (1891), 141.235 t (1892), 187.331 t (1893), 313.204 t (1894).34 Allerdings verdankte sich diese Entwicklung des Königsberger Rußlandgeschäfts nicht allein dem Schlußprotokoll zu Artikel 19. Auch die wirtschaftspolitischen Maßnahmen Deutschlands, nämlich die Aufhebung des Identitätsnachweises sowie die Einführung des Einfuhrscheinsystems, spielten eine besondere Rolle: „Ohne den deutsch-russischen Handelsvertrag wäre auch die Aufhebung des Identitätsnachweises nicht zu erlangen gewesen. Das Zusammen32 Wolfgang Bessler: Das Tarifwesen im internationalen Eisenbahnverkehr Deutschlands, insbesondere die direkten internationalen Tarife, Diss., Frankfurt am Main 1933, S. 18 ff. 33 R. Weber (1912), S. 145 ff. Über die Herstellung direkter Tarife siehe das Schlußprotokoll zu Artikel 10 des deutsch-belgischen Handels- und Zollvertrags vom 6.12.1891. Siehe auch RGBl. 1892, S. 241 ff. 34 Handel und Schiffahrt Königsberg i. Pr. im Jahr 1894. Bericht des VorsteherAmtes der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr., Königsberg 1895, S. 1 ff.
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treffen beider Maßregeln hat sich deshalb für den Handel und die ganze Provinz als außerordentlich segensreich erwiesen“ (das Vorsteher-Amt der Kaufmannschaft zu Königsberg).35 Nachdem 1879 das Identitätsnachweissystem eingeführt worden war, verloren die ostdeutschen Getreideprodukte ihre Konkurrenzfähigkeit in Westeuropa. Das ostdeutsche Brotgetreide war ohne die Beimischung des klebrigeren russischen Getreides in den Niederlanden und Großbritannien nicht absetzbar. Das Zollgesetz von 1879 akzeptierte zwar die Zollfreiheit der Transitwaren. Bei der Mischung des inländischen und russischen Getreides in den gemischten Getreidetransitlägern durfte jedoch allein der Anteil des letzteren nach der Verschiffung der gemischten Produkte (Getreide bzw. Mehl) nach dem Zollausland im Wege der Rückerstattung zollfrei behandelt werden. Die Preise des zollgeschützten deutschen Brotgetreides waren höher als die Weltmarktpreise. Daher waren auch die gemischten Waren im Ausland nicht konkurrenzfähig. In den 1880er Jahren mehrten sich im Reichstag die Stimmen, die gemischten Transitläger abzuschaffen. Dagegen reagierten die ostdeutschen Agrarier und die Getreidehändler in den preußischen Ostseehäfen scharf. Die Kaufmannschaft in Königsberg und in Danzig sowie die landwirtschaftlichen Zentralverbände in Ost- und Westpreußen befürworteten einstimmig die Aufhebung des Identitätsnachweises und die Beibehaltung der gemischten Transitläger und reichten 1887 ihre Eingabe an die Reichsregierung ein.36 Auf Grund des Identitätsnachweissystems war der Absatz der ostdeutschen Agrarprodukte im Ausland besonders schwierig. Die Produzenten in den Ostprovinzen suchten Absatzmöglichkeiten im Inland und forderten deshalb die Einführung von Eisenbahnstaffeltarifen. Am 1. September 1891 wurden daraufhin die Ostbahnstaffeltarife für die Beförderung des Getreides aus den preußischen Ostprovinzen nach Mittel- und Westdeutschland eingeführt, um auf diesem Wege den ostdeutschen Agrariern den Absatz ihrer Produkte auf dem Binnenmarkt zu erleichtern. Die Königsberger Kaufmannschaft erhob aber Einwände dagegen. Ihr zufolge trugen die Ostbahnstaffeltarife lediglich dazu bei, die ostpreußischen Agrarprodukte unter Umgehung 35 Ebd.,
S. 44. des Vorsteheramtes der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr. über das Jahr 1887. Teil I., S. 23 f. „Der Herr Hauptvorsteher des Ostpreussischen landwirthschaftlichen Centralvereins gab bei der betreffenden Verhandlung seiner Freude darüber Ausdruck, dass nach zehnjährigem Hader zwischen Handel und Landwirthschaft der erste Moment einer Einigung in einer wirthschaftlichen Frage eingetreten, dass an diesem Hader hauptsächlich das Missverständniss Schuld sei, der Handel schädige die Landwirthschaft, und dass eine weitere Einigung beider Theile geboten erscheine.“ 36 Bericht
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des Königsberger Hafens auf Bahnwege direkt zum westlichen Absatzmarkt zu befördern. Die Frachtkosten der Bahnbeförderung wurde auf Grund der Subventionierung niedriger als die der Verschiffung gesetzt, was den Königsberger Seehandel beeinträchtigen konnte.37 Als die deutsch-russischen Handelsvertragsverhandlungen kurz vor den Abschluß standen, leisteten die von den Landwirten vertretenen Konservativen im Reichstag Widerstand, vor allem gegen die Herabsetzung der Agrarzölle auf russisches Getreide. In diesem Zusammenhang beantragten außerdem die süd- und westdeutschen Landwirte die Abschaffung der Ostbahnstaffeltarife, um so die Zufuhren der Ostprodukte nach West- und Mitteldeutschland zu drosseln. Mit dem Inkrafttreten des deutsch-russischen Handelsvertrags kam die ostdeutsche Landwirtschaft deshalb in eine schwierige Lage, weil sie sowohl mit der Aufhebung der Ostbahnstaffeltarife, als auch mit der Senkung der Zollsätze für russisches Getreide konfrontiert war.38 Mit Rücksicht darauf wurde das Reichsgesetz über die Aufhebung des Identitätsnachweises vom 14. April 1894 erlassen. Dadurch wurde die Beweglichkeit des ostelbischen Getreides wiederhergestellt. Während der Identitätsnachweis zum Zweck der Gewährung des unbehinderten Transithandels eingeführt worden war, zielte das Einfuhrscheinsystem in erster Linie darauf ab, die Ausfuhr des ostelbischen Getreides nach dem Zollauslande zu fördern.39 Demnach sollten für die Zollwerte der nach dem Zollauslande ausgeführten Getreide- bzw. Mehlprodukte Einfuhrscheine ausgestellt werden. Mit diesen Scheinen sollte das ausländische Getreide der nämlichen Gattung zollfrei eingeführt werden. Die Einfuhrscheine waren außerdem auf dem Kapitalmarkt weiterzuverkaufen. Hierdurch wurde den ostdeutschen Produzenten für ihren Getreideexport nach dem Zollausland eine Prämie gewährt. Das Einfuhrscheinsystem förderte deshalb sowohl die Ausfuhr des inländischen Getreides, als auch den Transithandel im Sinne der Ausfuhrerleichterung der gemischten Getreide- bzw. Mehlprodukte. Infolgedessen sollte dieses System den Getreidehändlern an den deutschen Ostseehäfen besonders zugute kommen. 37 Aus diesen Gründen forderte die Königsberger Kaufmannschaft entweder die sofortige Aufhebung der Ostbahnstaffelatrife oder die Ermäßigung der NahverkehrTarife für die Verschiffung bestimmtenr ostpreußischer Produkte bis zum Hafen Königsberg. Bericht des Vorsteher-Amtes der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr. über das Jahr 1892, S. 26 f. 38 Fritz Simon: Die Getreide-Einfuhrscheine. Eine Kritik der Reichstagsverhandlung vom 22. April 1909, Königsberg 1909, S. 13 f. Vorsteheramt der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr.: Petition betr. Getreideeinfuhrscheine, Königsberg 1911. Zur Kritik am Einfuhrscheinsystem siehe Lujo Brentano: Die deutschen Getreidezölle. Eine Denkschrift, 3. Aufl., Stuttgart und Berlin 1925, S. 51 ff. 39 Erich Stoehr: Königsberg als Getreideausfuhrhafen und der Königsberger Ge treidehandel, Diss. Greiswald 1924, S. 74 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Alsbald trat aber die Problematik des Einfuhrscheinsystems zutage. In Wirklichkeit waren die Getreidehändler nicht imstande, die Einfuhrscheine zu verwenden, sofern sich keine Gelegenheit zur Einfuhr ausländischer Getreide der nämlichen Gattung bot, sondern lediglich Bedarf an anderen Sorten bestand.40 Mit Rücksicht darauf wurde in der Folgezeit an dem Einfuhrscheinsystem eine bedeutende Änderung vorgenommen. Als die deutsche Handelspolitik unter Reichskanzler v. Bülow mit dem Zollgesetz von 1902 zum Protektionismus zurückkehrte, sah man sich vor die Aufgabe gestellt, die Interessen der deutschen Ostseehäfen durch die Erweiterung der Verwendbarkeit der Einfuhrscheine zu kompensieren. Auf wiederholte Anträge der Königsberger Kaufmannschaft hin wurde es im Jahr 1906 anläßlich des Inkrafttretens der auf den Agrarschutz abgestellten autonomen Zolltarife sowie der neuen Handelsverträge zugebilligt, daß die Einfuhrscheine nach ihrem Zollwert nicht nur zur zollfreien Einfuhr der nämlichen Getreidegattung, sondern für sämtliche Getreidearten zu verwenden waren.41 Die Wirkung der 1906 erfolgten Maßnahme war recht groß, vor allem im Zusammenhang mit den sog. Bülow-Tarifen. Während die Zollsätze für Brotgetreide auf die Höhe in der Zeit vor den Caprivischen Handelsverträgen stiegen (z. B. Roggen: 3,5 M auf 5 M; Weizen: 3,5 M auf 5,5 M pro dz.), wurde auf Hülsenfrüchte, abgesehen von Speisebohnen, prinzipiell der bisherige Zollsatz (1,5 M) erhoben. Dies hatte zur Folge, daß sowohl die Ausfuhr des Brotgetreides aus dem ostelbischen Gebiete nach dem Zollauslande, als auch die Einfuhr der Hülsenfrüchte aus Rußland außerordentlich anstieg. Es lag auf der Hand, daß man mit den Einfuhrscheinen, die nach den Zollwerten des ausgeführten Brotgetreides ausgestellt wurden, die mehrfache Menge an Hülsenfrüchten sowie Futter, deren Einfuhrzollsätze im Vergleich mit dem Brotgetreide sehr niedrig waren, einführen konnte.42 Dies zeigt die Handelsstatistik von Getreide, Hülsenfrüchten sowie Futtermitteln im Königsberger Hafen (1891–1913). Der Getreidehandel im Hafen Königsberg spezialisierte sich, insbesondere nach dem Inkrafttreten der Bülow-Tarifen, auf die Hülsenfrüchte- und Futtermitteleinfuhr aus Rußland sowie auf die Ausfuhr, vor allem auf die Verschiffung des ostdeutschen Roggens nach dem Zollauslande.43 Die gesamte Zufuhr von Getreide und Hülsenfürchten im Hafen Königsberg erreichte im Jahr 1912 ihren Höhe40 Simon
(1909), S. 26 f. (1923), S. 45 f. 42 Simon (1909), S. 51 f. Vgl. Brentano (1925). 43 Infolge der Aufhebung der Ausnahmetarife für die Weizentransport auf den Flüssen Dnjepr und Dnestr 1897, deren Schiffahrt mit den Eisenbahnen bis zu den Ostseehäfen verbunden war, verlor der Hafen Königsberg die Zufuhren von Weizen aus Rußland. Seitdem wurden für die russische Weizenausfuhr die Häfen am Schwarzen Meer in Anspruch genommen. Simon (1923), S. 61. 41 Simon
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punkt mit ca. 873.000 t. Davon waren ca. 558.000 t russischer Herkunft.44 Das Spezialgeschäft Königsbergs, das Linsengeschäft, wurde dadurch gestützt, daß Rußland 90 % von den zum Export bestimmten erstklassigen Linsen über den Hafen Königsberg ausführte. Dadurch kam dem Hafen Königsberg eine Sonderstellung im Rußlandgeschäft zu. Der Interessenkonflikt zwischen dem Königsberger Handel und der ostpreußischen Landwirtschaft, der sich insbesondere in der Bismarck-Ära verschärft hatte, wurde auf diese Weise Mitte der 1890er Jahre weitgehend ausgeglichen. Die neue Interessengemeinschaft konnte deswegen so lange bestehen bleiben, wie der deutsch-russische Handelsvertrag von 1894 sowie die damit zusammenhängenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen, vor allem das Einfuhrscheinsystem, in Kraft waren. Nicht zuletzt setzte dieses Handelssystem ungehinderte Transportmöglichkeiten zwischen Ostpreußen und Rußland voraus, die jedoch durch den Ersten Weltkrieg völlig zerstört wurden. Zwangsläufig mußte also die vorläufige Interessengemeinschaft zwischen dem Handel und der Landwirtschaft wieder zerbrechen. 2. Die Folge des Ersten Weltkriegs a) Die Friedensverträge von Brest-Litowsk Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 wurde der Umschlaghandel zwischen Großbritannien und Rußland, der das Rückgrat des Königsberger Handels bildete, völlig unterbunden. Zu Kriegsbeginn wurde Ostpreußen zudem durch den Russeneinfall schwer getroffen. Immerhin änderte sich die Kriegslage im Osten rasch und entwickelte sich sogar zugunsten des Reichs. Ostpreußen setzte nun alle Hoffnungen auf einen siegreichen Ausgang des Rußlandkriegs. Für die Königsberger Kaufmannschaft war ein baldiger Kriegsabschluß besonders erwünscht. Die Wirtschaft der Stadt war auf den Handel mit Rußland angewiesen. Das Vorsteheramt der Kaufmannschaft äußerte wiederholt den Wunsch nach einer baldigen Öffnung des deutsch-russischen Handelsverkehrs. Zum einen beantragte die Kaufmannschaft die Fortführung des durch den Krieg eingestellten Bauprojekts über die Großschiffahrtsstraße „Masurischer Kanal“, die einen Schiffsweg von Ostpreußen bis zum Schwarzen Meer ermöglichen sollte.45 Zum 44 Benecke
(1925), S. 82. PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 2, Handelskammer zu Königsberg i. Pr., Denkschrift für den Haushaltsausschuß des Abgeordnetenhauses, 24.8.1918. Max Contag / Fritz Simon: Königsbergs Großschiffahrtswege nach Litauen, der Ukraine und Polen, Königsberg 1918, S. 35 ff. (Denkschrift). Der Masurische 45 GStA
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
anderen legte sie besonderen Wert auf die Wiederherstellung des Hülsenfrüchtehandels, denn „die Wiedereinschaltung Königsbergs für das Geschäft mit der Ukraine ist für die weitere Entwicklung unseres Handelsplatzes geradezu eine Lebensfrage.“46 Die eisenbahntarifliche Regelung des Wettbewerbs zwischen den Ostseehäfen wurde seit dem Kriegsausbruch vom Sommer 1914 nicht mehr eingehalten. Nachdem die russischen baltischen Provinzen durch die deutsche Wehrmacht besetzt worden waren, kam der Ostseehandel Rußlands zum Erliegen.47 Rußland versuchte, seine Waren soweit wie möglich über die Häfen am Schwarzen Meer auszuführen. Daraus wird deutlich, daß die Sonderstellung Königsbergs allein mit der Wiederinkraftsetzung des Schlußprotokolls zu Artikel 19 des deutsch-russischen Handelsvertrags nicht wiederzuerlangen war. Man erkannte nun die Notwendigkeit, die bisherige Hafenwettbewerbsregelung zwischen den Ostseehäfen nach Beendigung des Rußlandkriegs auch auf die Häfen am Schwarzen Meer und möglicherweise am Asowschen Meer zu erweitern. Am 3. März 1918 unterzeichneten die Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich) und die russische Sowjetregierung den Friedensvertrag von Brest-Litowsk.48 Der Kern dieses Vertrags, ebenso wie der Vertrag mit der Ukraine, richtete sich auf die Kanal war ursprünglich unabhängig vom deutschen Rußlandkrieg geplant worden. Der Bau wurde erstmals durch das preußische Gesetz vom 4. Mai 1908 genehmigt. 46 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 2, Abschrift, Vorsteheramt der Kaufmannschaft zu Königsberg an OPO, 4.3.1918. 47 Zur deutschen Baltikumpolitik siehe: Von den baltischen Provinzen zu den baltischen Staaten. Beiträge zur Entstehungsgeschichte der Republiken Estland und Lettland 1918–1920, hg. v. Jürgen von Hehn, Hans von Rimscha und Hellmuth Weiss, Marburg 1977. 48 Zu den Verträgen von Brest-Litowsk, siehe folgende Beiträge. Günter Rosenfeld: Sowjetrußland und Deutschland 1917–1922, [Diss. 1956, 1. Aufl. Berlin 1960], 2. Aufl. Berlin 1983. Über den von Ludendorff abweichenden Standpunkt Kühlmanns siehe Rosenfeld, S. 58. Winfried Baumgart: Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien und München 1966. Hans-Erich Volkmann: Die deutsche Baltikumpolitik zwischen Brest-Litovsk und Compiègne, Köln und Wien 1970. Zu den deutsch-ukrainischen Beziehungen insbesondre siehe Pavlo Skoropads’kyj: Erinnerungen 1917 bis 1918, hg. v. Günter Rosenfeld, Stuttgart 1999. Caroline Milow: Die ukrainische Frage 1917–1923 im Spannungsfeld der europäischen Diplomatie, Wiesbaden 2002. Wolfdieter Bihl: Österreich-Ungarn und die Friedensschlüsse von Brest-Litovsk, Wien, Köln und Graz 1970. Vgl. aus Sicht der Kriegszielpolitik des Kaiserreichs Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961. Peter Borowsky: Deutsche Ukrainepolitik 1918 unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftsfragen, Lübeck und Hamburg 1970. Zu den Friedensverhandlungen gab es ebenso wie beim Reich bei der russischen Seite große Meinungsunterschiede. Siehe hierzu Günter Rosenfeld: Vor 90 Jahren. Das räuberische Diktat von Brest-Litowsk, in: Neues Deutschland, 2.3.2008.
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Festsetzung der neuen Grenzverhältnisse. Während die Mittelmächte im Vertrag vom 9. Februar 1918 den ukrainischen Staat in seinen ethnographischen Grenzen anerkannt hatten (Artikel II des Vertrags mit der Ukraine),49 deren Umfang allerdings in erster Linie im Interesse der Mittelmächte gezogen wurde,50 setzte der Friedensvertrag mit Rußland vom 3. März die Westgrenze Rußlands fest. Die Sowjetregierung verzichtete auf das Gebiet von Kurland, Riga sowie der Inseln an der Ostsee und die bereits unter der deutschen Militärverwaltung verselbständigten Staaten Litauen und Polen. Hierdurch wurden die Ostseehäfen Libau und Riga aus dem russischen Staatsverband herausgelöst. Mit dem Abschluß des deutsch-russischen Zusatzvertrags vom 27. August 1918 verzichtete die russische Sowjetregierung außerdem auf das Gebiet von Estland und Livland. Dabei ging die Sowjetregierung auch auf die Kontributionszahlungen ein. Die deutsch-russischen Wirtschaftsangelegenheiten waren Gegenstand der Anlage 2 des Friedensvertrags mit Rußland. Während man dabei die Nichtwiederinkraftsetzung des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 / 1904 erklärte (Anlage 2 Ziff. 1), wurden dennoch die Grundzüge des alten Handelsvertrags mit einigen Abänderungen und Ergänzungen prinzipiell wiederhergestellt. Die neuen Handelsregelungen (Unterlage 1 zu Anlage 2) sollten demnach bis zum Abschluß eines neuen deutsch-russischen Handelsvertrags als Übergangsregelung in Geltung bleiben. Ferner wurden die alten Eisenbahnbestimmungen (Artikel 19 sowie Schlußprotokoll zu Artikel 19) in erweiterter Form auf Artikel 20 sowie dessen Schlußprotokoll übertragen. Dabei wurde, wie früher, die Herstellung direkter Tarife von den russischen Verladestationen bis zu den Ostseehäfen Danzig, Königsberg und Memel sowie in umgekehrter Richtung gewährt, außerdem die eisenbahntarifliche Gleichstellung im russischen Import- und Export zwischen den drei deutschen Ostseehäfen einerseits und den nunmehr aus dem russischen Staatsverband herausgelösten Häfen Libau und Riga andererseits. Grundsätzlich richtete sich also der Friedensvertrag mit Rußland auf die Wiederherstellung der alten Verhältnisse. Von diesem Standpunkt aus wurde im neuen Schlußprotokoll zu Artikel 20 angeordnet, das bis zum Kriegsausbruch in Geltung gebliebene eisenbahntarifliche Spannungsverhältnis zwischen diesen fünf Ostseehäfen einerseits und den Häfen am Schwarzen sowie am Asowschen Meer andererseits wiederherzustellen. 49 RGBl. 1918, S. 1010 ff. Siehe auch Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages. Bd. I, Dok. 136: Friedensvertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei einerseits und der Ukrainischen Volksrepublik andererseits vom 9. Februar 1918, S. 136 ff. 50 Skoropads’kyj (1999), S. 263 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Durch diesen neuen Zusatz wurde der Wettbewerb zwischen diesen Häfen einer staatsvertraglichen Regelung unterworfen.51 Der Friedensvertrag mit der Ukraine brachte hingegen besondere Schwierigkeiten mit sich, da die Friedensverhandlungen mit der Ukraine infolge einer raschen politischen Entscheidung am 9. Februar 1918 in großer Eile zum Abschluß gebracht werden mußten. Zwangsläufig überließ man die endgültige Regelung der wirtschaftlichen und verkehrlichen Angelegenheiten einem künftig abzuschließenden Wirtschaftsabkommen. Als Übergangsregelung wurde bis zum Abschluß eines neuen Handelsvertrags die Wiederinkraftsetzung des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 / 1904 mit einigen Einschränkungen vereinbart (Artikel VII Ziff. II). Hiermit trat Artikel 19 des alten Handelsvertrags (die Eisenbahnbestimmungen betreffend) wieder in Kraft. Im Gegensatz zum Friedensvertrag mit Rußland wurde hingegen die Klausel über die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen, also das alte Schlußprotokoll zu Artikel 19, nicht wiederhergestellt.52 Anstelle der Bestimmungen des alten Schlußprotokolls wurde lediglich die Herstellung direkter Tarife zwischen den deutschen und ukrainischen Eisenbahnstationen in Aussicht gestellt.53 Der Kern des alten deutsch-russischen Handelsvertrags, also die Gewährung der gleichen Wettbewerbsbedingungen zwischen den fünf Ostseehäfen im Handelsverkehr mit ihrem Hinterland, vor allem mit der Kornkammer in Rußland und der Ukraine, ließ sich demzufolge nicht im Friedensvertrag mit der Ukraine 51 RGBl. 1918, S. 480 ff. sowie RGBl. 1918, S. 622 ff. Siehe auch Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages, Bd. I, Dok. 178: Friedensvertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei einerseits und Rußland andererseits vom 3. März 1918, S. 455 ff. 52 „Während im Schlußprotokoll zu Artikel 20 des Friedensvertrages mit GroßRußland die Frage des Eisenbahntarifwesens, insbesondere die Regelung des Wettbewerbs zwischen den deutschen Häfen Danzig, Königsberg und Memel und den russischen Häfen an der Ostseeküste und am Schwarzen und Asowschen Meer eine Festlegung erfahren haben, sind solche Vereinbarungen im Friedensvertrag mit der Ukraine nicht vorgesehen.“ GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 72, Bd. 1, Bl. 159, Handelskammer zu Königsberg, 18.7.1918. „Noch mehr ist es zu bedauern, daß es bei dem Mangel an eisenbahntechnischen Fachkenntnissen der ukrainischen Unterhändler nicht gelungen ist, im Friedensvertrage mit der Ukraine überhaupt positive Bestimmungen zugunsten der ost- und westpreußischen Seehäfen, die dem bisherigen Schlußprotokoll zu Artikel 19 entsprechen, durchzusetzen.“ BA, R 3101 / 7421, Bl. 182 ff. Abschrift, Handelskammer zu Königsberg an PreußMdöA, 17.4.1918. 53 RT, Drucksache Nr. 1293, Denkschrift (vom Reichskanzler dem Reichstage am 19. Februar 1918 vorgelegt). M. Busemann: Der Friedensvertrag mit der Ukraine vom 9. Februar 1918, der Zusatzvertrag und der deutsch-ukrainische Handelsvertrag nebst der amtlichen Denkschrift. Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine, Berlin 1918, S. 34 sowie 47 f.
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erzielen. Die Regelung der Eisenbahnangelegenheiten blieb hier besonders lückenhaft.54 Die deutsche Seite, vor allem das preußische Ministerium der öffentlichen Arbeiten, hatte zwar ursprünglich beabsichtigt, die Eisenbahnverhältnisse (den Wechsel der Spurweite und Tarife) zugunsten der Rohstoff- und Getreideablieferung nach Deutschland zu gestalten. Es gelang jedoch dem Reich nicht, mit der Zentral-Rada zur Einigung in den Tarif angelegenheiten zu kommen.55 Zum einen zögerten die ukrainischen Unterhändler, die angeblich keine ausreichende eisenbahntarifliche Fachkenntnisse besaßen, solche Verhandlungen aufzunehmen. Zum anderen war die Ukraine in den Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten offenbar bestrebt, die ukrainischen Häfen beim Export- und Importgeschäft gegenüber den Ostseehäfen zu fördern.56 54 BA, R 3101 / 7421, Bl. 249 ff., PreußMdöA an das Reichswirtschaftsamt, 25.5. 1918. 55 Borowsky (1970), S. 218. 56 BA, R 3101 / 7421, Bl. 252 f., Anlage 1 zum Schreiben des PreußMdöA vom 29.1.1918, Erläuterung zu den Forderungen an Rußland. Bereits Mitte Juli 1918, also kurz vor der Ratifikation des Friedensvertrags mit der Ukraine, wandte sich die Königsberger Handelskammer mit einer Eingabe an das preußische Ministerium der öffentlichen Arbeiten. Ziel war es, die Aufmerksamkeit der deutschen Regierung darauf zu lenken, daß der Königsberger Hafen durch die geplante 300 %ige Erhöhung der ukrainischen Eisenbahntarife schwere Einbußen erleiden müsse. Im Friedensvertrag mit der Ukraine wurde die Klausel über die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen nicht wiederhergestellt. Eine starke Erhöhung der Gütertarife der ukrainischen Eisenbahnen mußte daher zur Folge haben, die Umlenkung des Warentransports nach den ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer zu fördern. Natürlich mußte sich die Differenz der Frachtkosten zwischen den Häfen an der Ostsee und am Schwarzen Meer durch die beabsichtigte Tariferhöhung außerordentlich vergrößern. Die außerordentliche Verteuerung der Bahntarife konnte außerdem die Tendenz verstärken, die Güter auf Binnenwasserstraßen nach den Häfen am Schwarzen Meer zu befördern. In diesem Falle mußten die Ostseehäfen, vor allem Danzig sowie Königsberg, die im Handel mit der Ukraine hauptsächlich auf die Eisenbahnen angewiesen war, ihre Konkurrenzfähigkeit einbüßen (GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 72, Bd. 1, Bl. 159 ff., Abschrift, Handelskammer zu Königsberg an PreußMdöA, 18.7.1918). Tatsächlich hatte der Hafen Königsberg seit 1897 den größten Teil der Zufuhr von ukrainischem Weizen verloren, da die kombinierten Weizen-Ausnahmetarife Rußlands (Eisenbahnen und Binnenschiffahrt) nach den deutschen Ostseehäfen abgeschafft und der Transport nach dem Schwarzen Meer bevorzugt wurde (Simon, [1923] S. 61.). Die Frachtkosten der Zuckerbeförderung nach den Ostseehäfen, zumal Danzig, blieben hingegen bis zum Ersten Weltkrieg trotz der weiteren Entfernung von den ukrainischen Verladestationen billiger als die Beförderung nach dem Hafen Odessa. In diesem Sinne gab es bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine gewisse Aufgabenverteilung zwischen den Häfen an der Ostsee und am Schwarzen Meer (GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 72, Bd. 1, Bl. 159 ff., Abschrift, Handelskammer zu Königsberg an PreußMdöA, 18.7.1918). Dabei profitierte der Hafen Königsberg insbesondere vom Hülsenfrüchtehandel. Die generelle Tariferhöhung mußte deshalb im Vergleich mit der Vorkriegszeit zu Nach-
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Die russische Delegation äußerte hingegen bei den deutsch-russischen Friedensverhandlungen keine Bedenken gegen den Wunsch Deutschlands nach Wiederherstellung des alten Schlußprotokolls zu Artikel 19. Angesichts der ukrainischen Bestrebungen, den gesamten Warenverkehr auf die Häfen am Schwarzen Meer zu konzentrieren, schien die Wiedereinführung der eisenbahntariflichen Regelung des Häfenwettbewerbs sogar im Interesse der russischen Sowjetregierung zu sein, der keine Häfen mehr an der Schwarzmeerküste zur Verfügung standen. Rußland war nach wie vor nicht dazu geneigt, die Ukraine auf diese Weise finanziell zu fördern, weil die Umlenkung der russischen Güter nach den Häfen am Schwarzen Meer in erster Linie den Frachteinnahmen der ukrainischen Eisenbahnen zugute kommen würde. Die russische Delegation hielt aber die Wiedereinführung des alten Schlußprotokolls zu Artikel 19 insofern für fraglich, als die Grenzverhältnisse noch nicht geregelt waren. Dabei bereitete das Verhältnis zwischen Polen und Litauen besondere Schwierigkeiten. Es lag auf der Hand, daß die Zuständigkeitsabgrenzung der Bahnverwaltungen, die aus Rußland nunmehr loszulösen waren, ausschließlich von den neuen Grenzverhältnissen abhängen mußte. Daher beantragte die russische Delegation Ende Januar 1918 die Vertagung dieser Angelegenheiten bis zur endgültigen Grenzfestsetzung der neuen Staaten. Dagegen bestand die deutsche Delegation strikt darauf, die Klausel über die Häfenwettbewerbsregelung in den abzuschließenden deutsch-russischen Friedensvertrag aufzunehmen. Sie ging davon aus, daß die Gütertarifverhältnisse unbedingt vor der Wiederöffnung des Handelsverkehrs mit Rußland festgesetzt werden müßten. Hierbei beabsichtigte das Reich, die Bahnverwaltungen in den besetzten Gebieten, vor allem in Litauen, Polen sowie Kurland, deutscher Aufsicht zu unterstellen. Insofern sollten die Bedenken Rußlands zerstreut werden, da nach wie vor eine den deutschen Wünschen entsprechende Tarifpolitik der neuen selbständigen Staaten zu sichern war.57 Mit dem Abschluß des Friedensvertrags vom 3. März 1918 wurde die Loslösung der russischen Randstaaten von Rußland tatsächlich vollzogen. teilen der Ostseehäfen führen, da die Wiederherstellung des Hülsenfrüchtegeschäfts in Königsberg nur schwer zu erreichen war. Mit Rücksicht darauf beantragte die Königsberger Handelskammer zum Abschluß des neuen Wirtschaftsabkommens mit der Ukraine die Wiederherstellung der alten eisenbahntariflichen Verhältnisse zwischen den Häfen an der Ostsee, am Schwarzen Meer sowie Asowschen Meer, wie sie bereits im Friedensvertrag mit Rußland vorgenommen wurde. Statt einer Erhöhung der Tarife um 300 % sah das neue Abkommen vom 10. September die Verdoppelung der bisherigen Tarifsätze vor (vgl. Borowsky, S. 250 f.). Die Wiederherstellung der Verhältnisse zwischen den Häfen an der Ostsee, am Schwarzen Meer sowie am Asowschen Meer wurde aber nach wie vor nicht akzeptiert. 57 BA, R 3101 / 7421, Bl. 256 f., Anlage 2 zum Schreiben des PreußMdöA vom 29.1.1918, Vorschläge für die Verhandlungen mit Rußland.
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Die Meinungsunterschiede zwischen Deutschland und Rußland hinsichtlich der Eisenbahnfrage wurden dementsprechend ausgeräumt. Der Grundsatz des alten Schlußprotokolls des Handelsvertrags wurde somit im Rahmen des Friedensvertrags mit Rußland wiederhergestellt. Dennoch stellte dies keine Sicherheit für die Handelsinteressen der deutschen und der besetzten Ostseehäfen dar. Hier spielte die Stellung der Häfen St. Petersburg (Petrograd) sowie Reval eine Rolle. Während die unter deutscher Macht stehenden fünf Ostseehäfen (Danzig, Königsberg, Memel, Libau, Riga) der eisenbahntariflichen Regelung unterworfen wurden, sah der Friedensvertrag mit Rußland keine Regelung über den Wettbewerb zwischen diesen Häfen und den Häfen St. Petersburg und Reval vor. Hinsichtlich der Behandlung des Hafens St. Petersburg wurde der russischen Seite noch freie Hand gelassen. In diesem Sinne war Rußland weiterhin imstande, St. Petersburg als Bestimmungshafen des russischen Exports und Imports gegenüber den fünf Ostseehäfen eisenbahntariflich bevorzugt zu behandeln. Im Hinblick auf die vorauszusehenden bedenklichen Folgen beantragte die Königsberger Handelskammer im April 1918 bei der deutschen Regierung, eine Klausel in den künftig abzuschließenden Zusatzvertrag mit Rußland aufzunehmen, um so auch die Häfen St. Petersburg und Reval der bereits zwischen den fünf Ostseehäfen bestehenden eisenbahntariflichen Regelung zu unterwerfen,58 was allerdings nicht mehr berücksichtigt wurde. In Wirklichkeit ließ sich die im Brest-Litowsker Vertrag mit Rußland gewährte Wiederaufnahme der Häfenwettbewerbsregelung niemals realisieren.59 Die Niederlage Deutschlands gegenüber den Alliierten im Herbst 1918 machte es ebenfalls unmöglich, die Wünsche Ostpreußens zu den deutsch-ukrainischen Verträgen zu verwirklichen.60 58 BA, R 3101 / 7421, Bl. 182 ff., Abschrift, Königsberger Handelskammer an PreußMdöA, 17.4.1918. 59 Simon (1923), S. 93. 60 Zum Friedensvertrag mit der Ukraine: Gleich nach dem Abschluß des Wirtschaftsabkommens zwischen den Mittelmächten und der von der Zentral-Rada vertretenen ukrainischen Regierung vom 23. April 1918 übernahm Pavlo Skoropads’kyj mit Unterstützung Deutschlands die Führung des ukrainischen Staates. Die unter ihm gebildete Hetman-Regierung, die zuerst die Zentral-Rada auflöste, zielte auf die Bildung und Stabilisierung eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaates ab. Das mit der Zentral-Rada abgeschlossene erste Wirtschaftsabkommen wurde von Deutschland über den vorgeschriebenen Geltungsdauer hinaus bis zum 15. August 1918 verlängert. Die inzwischen begonnenen neuen Wirtschaftsverhandlungen mit dem Hetmanat fanden am 10. September 1918, anläßlich von Skoropads’kyjs Deutschlandbesuch, ihren Abschluß. Das an diesem Tag unterzeichnete Abkommen kam, wie bereits das zweite, geheime Wirtschaftsabkommen, das bei der Ratifikation des Friedensvertrags vom 27. Juli 1918 abgeschlossen worden war, den Wünschen der Okkupationsmächte nach einer stärkeren Aufbringung von Getreide sowie Rohstoffen weit entgegen. Dennoch wurde der Wunsch Königsbergs nach einer Übertra-
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
b) Der Versailler Vertrag aa) Die fünf Ostseehäfen (Danzig, Königsberg, Memel, Libau und Riga) Für das Schicksal der preußischen Ostseehäfen waren die Bestimmungen des Versailler Vertrags maßgebend. Auf Grund der Bestimmungen von Abschnitt XI Artikel 100 bis 108 verzichtete Deutschland zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche auf das der „Freien Stadt Danzig“ zugeschlagene Weichselmündungsgebiet. Das Danziger Gebiet mit dem Hafen wurde dem Schutz des Völkerbunds unterstellt. Der Korridor, an dessen Spitze der Danziger Hafen stand, sollte dem polnischen Staat den Zugang zum Meere gewährleisten.61 Die Rechte Polens im Danziger Gebiet regelte vor allem der in Ausführung des Artikels 104 des Versailler Vertrags am 9. November 1920 zwischen der Freien Stadt Danzig und Polen unterzeichnete Pariser Vertrag, der den Anschluß Danzigs an das polnische Zollgebiet (Artikel 14) und die freie Hafennutzung Polens (Artikel 26) vorsah.62 Somit trat der Hafen Danzig als stärkster Konkurrenzhafen Polens gegen den Hafen Königsberg an. Die rechtliche Stellung des nördlichen Nachbars Königsbergs, des ehemaligen preußischen Hafens Memel, blieb hingegen ungeklärt. Die Souveränität des Memelgebiets ging zunächst auf die alliierten Hauptmächte über (Artikel 28 sowie 99). Die Lage des Memelgebiets von der Abtretung aus Deutschland bis zum Einmarsch der litauischen Armee 1923 war ein unter dem Schutz der alliierten Hauptmächte stehendes Kondominium, an dessen Spitze Frankreich als Besatzungsmacht stand. Der Memeler Hafen sollte den Bekundungen der Entente zufolge der litauischen Republik den Zugang zum Meer gewähren. Die baltischen Provinzen waren zuerst durch den Brest-Litowsker Vertrag vom 3. März 1918 sowie dessen Zusatzvertrag vom 27. August 1918 aus dem russischen Staatsverband herausgelöst worden. Gleich nach der Annullierung des Brest-Litowsker Vertrags versuchte Moskau, das Baltikum zugung der Häfenwettbewerbsregelung in diesem neuen Abkommen mit der Ukraine nach wie vor nicht erfüllt. 61 Vgl. Carl Budding: Der polnische Korridor als europäisches Problem, Danzig 1932. Wilhelm Deuticke: Ostpreußen und der polnische Korridor, Jena 1921. Paul Blunk: Ostpreußen und der Korridor. (Vortrag gehalten von Dr. jur. Paul Blunk, Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen, am 16. März 1933 auf Einladung der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft E. V. Berlin), 1933 Berlin. Albert v. Mühlenfels: Ostpreußen, Danzig und der polnischen Korridor als Verkehrsproblem, Berlin und Königsberg 1930. 62 Horst Jablonowski: Die Danziger Frage, in: Die deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik, Köln 1966, S. 65–87. Wolfgang Ramonat: Der Völkerbund und die Freie Stadt Danzig 1920–1934, Osnabrück 1979.
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rückzuerobern. Nach der Beendigung der Kriege im Baltikum kamen im Jahr 1920 Friedensverträge zwischen den baltischen Staaten und Sowjetrußland zustande. Dabei wurde die Verselbständigung der baltischen Staaten (Estland, Lettland, Litauen) durch Moskau de jure anerkannt.63 Die Häfen Libau und Riga fielen demzufolge an die Republik Lettland. Die Friedensverträge von Brest-Litowsk wurden durch Artikel 116 sowie 117 des Versailler Vertrags endgültig aufgehoben.64 Die eisenbahntarifliche Regelung, die im Brest-Litowsker Frieden mit Rußland vereinbart worden war, wurde infolge der Unklarheiten der polnischen Grenzverhältnisse niemals umgesetzt.65 Die Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen Danzig, Königsberg, Memel, Libau und Riga im Sinne des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 war nur in jener Zeit, da die betroffenen Ostseehäfen zu den beiden Kaiserreichen Deutschland und Rußland gehörten, einzuhalten gewesen. Alle Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg an der Ostseeküste neu entstanden, waren bestrebt, ihre Volkswirtschaft durch die intensive Förderung des Hafenumschlagsgeschäfts zwischen West- und Osteuropa zu stützen.66 Die Wiederherstellung der eisenbahntariflichen Regelung des Häfenwettbewerbs an der Ostsee war nun durch eine bilaterale Vereinbarung zwischen Deutschland und Rußland nicht mehr zu erzielen. Ostpreußen hatte keine gemeinsame Grenze mit Rußland mehr. Unter diesen Umständen war nach dem Krieg die Wiedereinführung direkter Tarife zwischen dem 63 Die De-jure-Anerkennung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten durch Moskau erfolgte im Jahr 1920 mit dem sowjetisch-estnischen Friedensvertrag von Dorpat vom 2. Februar, dem sowjetisch-litauischen Friedensvertrag von Moskau vom 12. Juli und dem sowjetisch-lettischen Friedensvertrag von Riga vom 11. August. Bei diesen bilateralen Friedensverträgen wurden die Staatsgrenzen zwischen den baltischen Staaten und der RSFSR festgesetzt, siehe Boris Meissner: Das Verhältnis der Sowjetunion und Rußlands zu den baltischen Staaten, in: Vom Sowjetimperium zum eurasischen Staatensystem. Die russische Außenpolitik im Wandel und in der Wechselbeziehung zur Innenpolitik. Ausgewählte Beiträge, Berlin 1995, S. 257–276. Vgl. Andreas Linde: Die Außenpolitik der Baltischen Staaten in der Zwischenkriegsphase und seit der Unabhängigkeit von 1991. Ein Vergleich, Berlin 1997. Siehe auch Fritz T. Epstein: Außenpolitik in Revolution und Bürgerkrieg 1917–1920, in: Osteuropa-Handbuch. Sowjetunion: Außenpolitik I (1917–1955), hg. v. Dietrich Geyer, Köln 1972, S. 86–149. 64 Vgl. Fritz T. Epstein: Studien zur Geschichte der „Russischen Frage“ auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, N. F. 7 (1959), S. 431–478. 65 Simon (1923), S. 93. In der Endphase des Kriegs wies die Königsberger Handelskammer wiederholt auf die gefährdeten Verhältnisse Polens hin. GStA PK, XX HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 2, Handelskammer Königsberg an Chef des Feld eisenbahnwesens im Hauptquartier des Feldheers, 18.6.1918. Handelskammer zu Königsberg an AA, 21.9.1918. 66 Seraphim (1937), S. 65 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Hafen Königsberg und den russischen und ukrainischen Stationen lediglich im Einvernehmen mit den Eisenbahnverwaltungen aller Transitstaaten (Litauen, Lettland bzw. Estland und Polen) zu realisieren.67 bb) Die Einschränkungen im Eisenbahntarifbereich Die Schwierigkeiten bei der Wiederherstellung der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen sowie der Einführung direkter Tarife bis zum Hafen Königsberg ergaben sich nicht allein aus der neuesten Grenzziehung. Auch die Eisenbahnbestimmungen des Versailler Vertrags bildeten ein Hindernis.68 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die deutsche Eisenbahnpolitik einer strengen Aufsicht durch die Alliierten unterstellt.69 Der Versailler Vertrag machte sich die Liberalisierung und „Demokratisierung“ der deutschen Verkehrspolitik zur Aufgabe. Der XII. Teil des Versailler Vertrags („Häfen, Wasserstraßen und Eisenbahnen“, Artikel 321 bis 386) regelte die Verkehrsverhältnisse auf Wasserstraßen und Landwegen.70 Artikel 321 bestimmte die Durchgangsfreiheit der Alliierten durch das deutsche Hoheitsgebiet und verpflichtete Deutschland darauf, den Durchgangsverkehr der Alliierten mit dem inländischen Verkehr paritätisch zu behandeln. Artikel 323 regelte die Gewährung der Meistbegünstigung für den Verkehr der Alliierten von und nach Deutschland (bei der Ein- und Ausfuhr) sowie ein Diskriminierungsverbot. Darin wurde untersagt, bei der Ein- und Ausfuhr die deutschen Häfen vor den Häfen der Alliierten bevorzugt zu behandeln. Hierzu wurde insbesondere die Einführung kombinierter Tarife (Schiffe und Eisenbahn) unterbunden.71 Deutschland wurde dazu verpflichtet, die Seehäfen der Alliierten bei allen Vergünstigungen sowie Vorzugstarifen der deutschen Eisenbahnen und Binnenschiffahrt, die zu diesen Häfen führten, nicht schlechter zu stellen als die deutschen Seehäfen oder die eines dritten Staates (Artikel 325 und 326). Kapitel I des XII. Teils (Artikel 365 bis 369) regelte speziell die internationalen Eisenbahntransporte. Die Ungerechtigkeit 67 Ludwig Holtz: Der Eisenbahnverkehr Ostpreußens vor und nach dem Kriege, in: Ostpreußen. Wirtschaft und Verkehr, hg. v. Otto Blum, [Sonderausgabe der „Verkehrstechnischen Woche“. Zeitschrift für das gesamte Verkehrswesen], Berlin 1926, S. 23–29. 68 Vgl. auch Stoehr (1924), S. 168 f. 69 Zur Lage der deutschen Eisenbahnen unter dem Versailler System siehe Werner Haustein: Die völkerrechtliche Stellung der Eisenbahnen in Kriegs- und Nachkriegszeiten, Köln und Darmstadt 1952. 70 Zum Versailler Vertrag siehe RGBl. 1919, S. 687 ff. 71 Paul Schulz-Kiesow: Die durchgehenden Eisenbahn-Seefrachttarife. Ein Beitrag zur Frage der organisatorischen Verflechtung von Eisenbahn und Seeschiffahrt, Jena 1941, S. 292 ff.
I. Das Königsberger Rußlandgeschäft529
des Diktatfriedens kam insbesondere in den Bestimmungen von Artikel 365 deutlich zum Vorschein. Hier wurde den Alliierten die eisenbahntarifliche Parität sowie Meistbegünstigung ohne räumliche Beschränkung, also ohne Einschränkung in derselben Richtung und auf derselben Strecke, gewährt. So waren die Alliierten dadurch berechtigt, alle Begünstigungen, die dem einheimischen Verkehr und dem Verkehr eines dritten Staates eingeräumt waren, ihrerseits zu genießen, und zwar ungeachtet der Richtung und Strecke. In diesem Sinne konnten alle Gütersendungen der Alliierten von Rechts wegen die günstigsten deutschen Tarife genießen, die für Güter gleicher Art, aber auf irgendeiner deutschen Strecke bestanden, selbst wenn diese Tarife nur für eine einzige bestimmte deutsche Strecke und Verkehrsrichtung aufgestellt waren.72 Im Falle der Einführung direkter Tarife von einem dritten Staat bis zum Hafen Königsberg waren die Alliierten deshalb imstande, von der deutschen Eisenbahnverwaltung gleiche Tarife bzw. Begünstigungen für den Transport nach den Häfen der Alliierten zu verlangen. Aus geographischen Gründen kamen hierzu die Häfen Danzig sowie Memel in erster Linie in Betracht. Diese Bestimmungen des Versailler Vertrags sahen keine gegenseitige Verpflichtung vor. Deutschland konnte keinen Anspruch auf die gleichen Begünstigungen für den deutschen Verkehr von, nach und durch die Hoheitsgebiete der Alliierten erheben. Infolgedessen war die Einführung direkter Tarife zwischen den deutschen Häfen und den Oststaaten sowie die eisenbahntarifliche Regelung des Häfenwettbewerbs, welche für die Wiederherstellung der Bedingungen des Schlußprotokolls zu Artikel 19 des alten deutsch-russischen Handelsvertrags notwendig war, tatsächlich erst nach der Außerkraftsetzung der handelspolitischen Vorschriften des Versailler Vertrags am 10. Januar 1925 möglich. 3. Der deutsch-russische Wirtschaftsverkehr a) Der Rückgang des deutsch-russischen Wirtschaftsverkehrs nach dem Ersten Weltkrieg Bis zum Ersten Weltkrieg war das Deutsche Reich der wichtigste Handelspartner Rußlands. Im Jahr 1913 belief sich der Handelsanteil Deutschlands auf ca. 47,5 % des Imports sowie auf ca. 30 % des Exports Rußlands.73 Auch im deutschen Außenhandel nahm Rußland eine wichtige Stellung ein. Im Jahr 1913 stand es beim Import Deutschlands an zweiter (13,6 %) und 72 Wyszomirski
(1925), S. 1172–1173. Reiter (1929), S. 23 ff. (1979), S. 208.
73 Beitel / Nötzold
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
beim Export an dritter Stelle (9,7 %). Wichtigste Importwaren aus Rußland waren Getreide (Gerste, Weizen), Holz, Flachs, sowie Lebensmittel (Eier, Butter), welche über 50 % der Einfuhrwerte aus Rußland ausmachten.74 Auch im Königsberger Hafen bestanden die Hauptzufuhrwaren (Einfuhr und Transit) aus diesen Artikeln. Dieser blühende Handelsverkehr zwischen beiden Staaten wurde mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 unterbunden. Auch nach Beendigung des Krieges trat zunächst keine wesentliche Änderung ein. Zum einen wurde die gesamte Wirtschaftstätigkeit in Rußland dem Kriegskommunismus unterworfen. Zum anderen verhängten die Alliierten eine Handelsblockade gegen Sowjetrußland. Angesichts des schweren Wirtschaftsrückgangs beschloß man auf dem X. Parteitag in Moskau die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik.75 Am 16. März 1921 unterzeichnete die britische Regierung unter Lloyd George ein Handelsabkommen mit der RSFSR. Das britisch-russische Abkommen, das die erste Anerkennung der Sowjetregierung durch eine westliche Großmacht darstellte, ebnete dem Reich den Weg zur Aufnahme der neuen deutschsowjetischen Beziehungen. Am 6. Mai 1921 wurde das deutsch-sowjetische Wirtschaftsabkommen in Berlin unterzeichnet. Damit wurde eine neue Rechtsgrundlage für die Wiederaufnahme des Handelsverkehrs auf staat licher Ebene geschaffen.76 Bis zum Abschluß eines neuen Handelsvertrags sollte das Abkommen die Grundlage des Handelsverkehrs beider Staaten bilden. Im Verfolg des Mai-Abkommens wurde die sowjetische Handelsvertretung in Berlin eröffnet, deren Leitung Boris Stomonjakov übernahm. Sowohl das Wirtschaftsabkommen, als auch der Vertrag von Rapallo vom 16. April 1922 führten jedoch nicht zu den erwarteten Ergebnissen. Der Vertrag von Rapallo regelte den gegenseitigen Verzicht auf die Entschädigung der Kriegsschäden sowie die gegenseitige Meistbegünstigung im Sinne der vollen Gleichberechtigung beider Seiten. Dieser Vertrag, obwohl wesentlich als ein Wirtschaftsabkommen abgeschlossen, war dennoch mehr von politischer, als von wirtschaftlicher Bedeutung.77 Der sowjetische Außenhandel mit Deutschland stieg zwar seit 1922 beständig an. Trotzdem belief sich der sowjetische Export nach Deutschland 74 Kuczynski / Wittkowski
(1947), S. 31 ff. Baberowski: Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 56 ff. Wolfgang Eichwede: Der Eintritt Sowjetrußlands in die internationale Politik 1921–1927, in: Osteuropa-Handbuch. Sowjetunion: Außenpolitik I (1917– 1955), hg. v. Dietrich Geyer, Köln 1972, S. 150 ff. 76 Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages, Bd. II, Dok. 187, S. 383 ff. 77 Hierzu betonte z. B. Perrey die eingeschränkte Wirkung des Rapallo-Vertrags auf die Wirtschaft. Perrey (1985), S. 50 ff. Zu den Handelsbeziehungen siehe auch Pogge von Strandmann (1976), S. 265 ff. 75 Jörg
I. Das Königsberger Rußlandgeschäft531
1924 (126 Mill. Mark) lediglich auf ein Zwölftel des Standes von 1913 (1470 Mill. Mark). Erst mit dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925, der mit großzügigen Industriekrediten in Höhe von 300 Millionen RM verbunden war, nahm der Wirtschaftsverkehr beider Staaten einen bedeutenden Aufschwung. Der Handelsvertrag wurde förmlich als Ergänzungsabkommen zum Rapallo-Vertrag abgeschlossen. Der sowjetische Anteil am deutschen Außenhandel (ca. 3 %, Jahresdurchschnitt von 1926 / 28) blieb dennoch weit unter dem Vorkriegsniveau. Hingegen nahm der deutsche Anteil am sowjetischen Außenhandel (über 20 % seit 1926) eine wichtige Stellung ein.78 Im Jahr 1931 / 32 erfuhr der deutsch-sowjetische Wirtschaftsverkehr einen beträchtlichen Aufschwung. Der Anteil des Exports nach der UdSSR belief sich auf ca. 10 % der gesamten Ausfuhr Deutschlands. Die Ursache lag nicht nur in der Weltwirtschaftskrise, durch die der Absatz in den westeuropäischen Ländern stark eingeschränkt wurde, sondern auch in einem finanziellen Engpaß Rußlands. Erst die dabei zustande gekommene neue Kreditgewährung der Reichs regierung für den Industrieexport machte es der UdSSR möglich, den deutschen Firmen neue Aufträge zu erteilen. b) Die Krise des Königsberger Handels nach dem Krieg Die Stillegung des deutsch-russischen Handelsverkehrs bedeutete einen schweren Schlag für die Wirtschaft in Königsberg. Während sich bis zum Ersten Weltkrieg die russischen Produkte (vornehmlich Getreide- und Hülsenfrüchte) auf zwei Drittel der gesamten Zufuhrmenge (aus dem In- und Ausland) des Königsberger Hafens beliefen, kehrte sich nach dem Krieg das Verhältnis zwischen In- und Auslandsprodukten um. Noch fünf Jahre nach Kriegsende hatte sich die Situation, trotz aller Bemühungen der Handelskammer, nicht wesentlich verbessert. Die Zufuhrmenge der russischen Getreide- und Hülsenfrüchte in Königsberg sank von 558.000 t (1912) auf 81.159 t (1924). Im Vergleich dazu blieb der Rückgang der inländischen Produkte (aus Ostpreußen) relativ gering: von 215.000 t (1912) auf 148.455 t (1924)79 (siehe dazu Anhang, Abb. 17, S. 876). Diese Umstellung der Wirtschaftsstruktur des Königsberger Hafens beschrieb die Handelskammer wie folgt: „Während vor dem Kriege gewaltige Zufuhren aus Rußland, bis zu 500 Waggons täglich eingingen, blieb die Transitzufuhr nach dem Kriege fast gänzlich aus.“80 78 Kuczynski / Wittkowski
(1947), S. 59 f. der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg i. Pr. für 1924, Königsberg 1925, S. 19. 80 Ebd., S. 13. 79 Jahresbericht
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Ein Getreideexport Rußlands war außerdem durch die im Sommer 1921 eingetretene Hungersnot überhaupt nicht möglich. Abgesehen davon ergab sich die langjährige Stagnation des Königsberger Rußlandgeschäfts offenbar auch daraus, daß der direkte Eisenbahnverkehr zwischen Ostpreußen einerseits und Rußland und der Ukraine andererseits infolge der Grenzziehung völlig unterbunden war. Zum einen wurde die ehemalige Hauptlinie zwischen Königsberg, Kowno, Wilna, Minsk und Moskau durch den polnischlitauischen Wilnakonflikt seit Oktober 1920 unterbrochen. Der die Wilnagrenze passierende Eisenbahnverkehr zwischen Kowno und Wilna wurde infolge der Grenzabsperrung eingestellt. Zum anderen weigerte sich Polen in der Nachkriegszeit, den Transitverkehr zwischen Ostpreußen und der UdSSR über das eigene Territorium zuzulassen,81 obwohl dem sowjetischen Verkehr die Transitfreiheit durch Polen im Rahmen des Rigaer Friedensvertrags zwischen Polen einerseits und der RSFSR sowie der Ukraine andererseits vom März 1921 (Artikel 22) eingeräumt wurde.82 Polen trat dem Barcelona-Transitabkommen vom April 1921 bei. Dennoch wurde der Transitverkehr zwischen Deutschland und der UdSSR durch Polen in den 20er Jahren niemals auf liberale Weise geregelt. Bis zum Ersten Weltkrieg waren die Agrarprodukte (Getreide und Hülsenfrüchte) aus der Ukraine und dem Wolgagebiet auf dem Bahnwege über die russisch-ostpreußische Grenzstation Grajewo / Prostken bis zum Hafen Königsberg transportiert worden. Die Beförderung auf dieser Südlinie wurde nach dem Krieg durch die Verkehrspolitik Polens stark behindert.83 Die frühere russisch-ostpreußische Grenzstation war zur Grenzstation zwischen Polen und Ostpreußen geworden. In der Tat fand in den 20er Jahren kein Getreidetransport auf dieser Südlinie mehr statt. Es gelang allerdings der Reichsbahndirektion Königsberg, die Kooperation der baltischen Staaten für die Öffnung der neuen Umleitungslinie in die UdSSR zu erlangen. Auf dieser Nordlinie konnte man von Ostpreußen aus die UdSSR erreichen, ohne Polen durchqueren zu müssen. Die Fahrt auf der neuen Nordlinie stellte jedoch einen großen Umweg von der Ukraine bis zum Hafen Königsberg dar. Zwangsläufig verursachte dies höhere Frachtkosten als auf der kürzeren Südlinie. Unter diesen Umständen sah die UdSSR keine Veranlassung, ihre Agrarprodukte nach dem Hafen Königsberg zu senden. Sie hatte zudem ein Interes-
81 Rosenfeld,
Bd. II (1984), S. 40 ff. ins Deutsche übersetzte Vertragstext in: Rußlands Friedens- und Handelsverträge 1918 / 1923. Auf Grund amtlichen Materials aus dem russischen Übertragen von Heinrich Freund mit einer Einleitung von Paul Heilborn, Leipzig und Berlin 1924, S. 161 ff. 83 Ludwig Holtz: Ostpreußens Anteil an den Verkehrswegen Osteuropas, in: OEM, 10. Jg / Nr. 1, 1.10.1930, S. 19–21. 82 Der
I. Das Königsberger Rußlandgeschäft533
se daran, ihre eigene Häfen am Schwarzen Meer sowie den Hafen Petrograd / Leningrad zu fördern.84 Die veränderten Grenz- und Verkehrsverhältnisse belasteten nicht nur den Handel, sondern auch die Industrie Königsbergs. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte die Königsberger Metallindustrie Ostpreußen und Rußland mit Schiffen, Lokomotiven, Waggons sowie Landmaschinen versorgt. In der Mitte der 20er Jahre geriet sie aber infolge der mangelnden Aufträge in eine Notlage.85 Die ostpreußischen Sägewerke hatten in der Vorkriegszeit Eisenbahnschwellen sowie Schnitthölzer für die Waggonherstellung geliefert. Mittel- und Westdeutschland sowie Großbritannien waren weitere wichtige Abnehmer für ostpreußische Schnitthölzer gewesen. Die Versorgung der ostpreußischen Sägewerke mit Rundhölzern wurde nach dem Krieg durch die Unterbindung der Memelflößerei besonders schwer getroffen. Die Beschaffungskosten stiegen für die ostpreußischen Sägewerke stark an, während die Produktpreise der Schnitthölzer infolge der Konkurrenz mit den polnischen Sägewerken sanken. Dadurch geriet die ostpreußische Holzindustrie in die Krise. Zu den Spezialwaren des Königsberger Hafens zählten (neben den Hülsenfrüchten) Flachs, Hanf sowie Salzheringe. Bis zum Ersten Weltkrieg kamen fast 100 % des von Rußland nach Deutschland importierten Flachses und Hanfs zuerst in Königsberg an und die Preise dieser Rohstoffe wurden ausschließlich an der Königsberger Börse gebildet. Nach dem Krieg wurde der Flachs- und Hanfhandel völlig eingestellt. Die UdSSR war bestrebt, unter Umgehung Königsbergs unmittelbar vom Hafen Petrograd / Leningrad aus zu exportieren. Die Salzheringe waren in der Vorkriegszeit von England zunächst per Schiff nach den Häfen Königsberg und Danzig transportiert worden. Die beiden preußischen Häfen hatten damals im Salzheringshandel eine Monopolstellung inne.86 Die Heringe wurden nach der Verarbeitung in Königsberg auf dem Bahnwege weiter in Richtung Moskau befördert. Nach dem Krieg gelang es der UdSSR, die Nordseeheringe ohne Vermittlung der deutschen Händler un84 Seraphim
(1937), S. 65 f. Richter: Beiträge zur Industrie- und Handwerksgeschichte Ostpreußens 1919–1939, Stuttgart 1988, S. 157 ff. Über die ostpreußische Metallindustrie (Schichau, Union-Gießerei sowie L. Steinfurt) siehe auch ebd., S. 318 ff. Zur Lage vor dem Ersten Weltkrieg siehe Hans-Jakob Tebarth: Technischer Fortschritt und sozialer Wandel in deutschen Ostprovinzen. Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien im Zeitalter der Industrialisierung, Bonn 1991. Zur Notlage Anfang 30er Jahre siehe Felix Heumann: Reden anläßlich der Hundertjahrfeier Waggon fabrik L. Steinfurt A. G. gehalten beim Festakt am 11.1.1930, Königsberg 1930, S. 7 ff. 86 Bruno Siltmann: Der Salzheringshandel Königsbergs und Danzigs, Jena 1920. 85 Friedrich
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
mittelbar aus Norwegen und Finnland in Form eines Austauschgeschäfts mit russischem Getreide zu beziehen.87 c) Die Denkschrift der Königsberger Handelskammer vom 27. Januar 1920 zur Wiederherstellung des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 Unmittelbar nach Inkrafttreten des Versailler Vertrags beantragte die Königsberger Handelskammer mit ihrer Eingabe vom 27. Januar 1920 beim Reich und Preußen, die Wirtschaftstätigkeit Ostpreußens von den geltenden wirtschafts- und zollpolitischen Regelungen Deutschlands auszunehmen. Es ging um die Gewährung einer gewissen Selbständigkeit in der Wirtschafts-, Handels- sowie Verkehrspolitik für die abgetrennte Provinz.88 Dieser Antrag der Königsberger Handelskammer ist von der Forschung im Zusammenhang mit der darauffolgenden Denkschrift des Oberpräsidenten Winnig vom März 1920 als Vorstoß zur Erlangung der Autonomie für Ostpreußen gesehen worden.89 Eine nähere Prüfung ergibt, daß es jedoch das Hauptziel der Kammer war, die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Notwendigkeit zu lenken, das zerstörte Handelsverkehrssystem zwischen Deutschland und Rußland, vor allem das deutsch-russische Handelsvertragssystem von 1894, das dem Königsberger Rußlandgeschäft Sicherheit sowohl beim Getreide- und Hülsenfrüchtehandel (die Begünstigung der Eisenbahntarife: Schlußprotokoll zu Artikel 19) als auch bei dem Rundholzbezug Ostpreußens aus Rußland auf der Memel (Schlußprotokoll zu Artikel 5 beim Zu-
87 Magistrat der Stadt Königsberg (Hg.): Königsberg in Preußen. Werden und Wesen der östlichen deutschen Großstadt, Königsberg 1924, S. 32 ff. Über die norwegisch-sowjetischen Verhandlungen siehe Alexandra Kollontai: Mein Leben in der Diplomatie. Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1945, hg. v. Heinz Deutschland, Berlin 2003, S. 64 ff. 88 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Denkschrift, IHK Königsberg betr.: Ausnahmen für Ostpreußen von wirtschaftlichen, sowie von Zoll- und Steuergesetzen, 27.1.1920: „Der Reichs- und der preußischen Staatsregierung, den gesetzgebenden Körperschaften des Reichs und Preußens unterbreiten wir das dringende Gesuch: schleunigst eine reichs- und landesgesetzliche Bestimmung zu erlassen, durch welche die Reichsregierung und die preußische Staatsregierung – jede innerhalb ihrer Zuständigkeit – ermächtigt werden, für die Provinz Ostpreußen im Falle dringende Bedürfnisse nach Anhörung oder auf Antrag eines zu bestellenden ostpreußischen Selbstverwaltungskörpers oder einer besonderen beratenden ostpreußischen Körperschaft in bezug auf wirtschaftliche, sowie auf Zoll- und Steuergesetze und die dazu erlassenen Ausführungsvorschriften Ausnahmen, Befreiungen oder Erleichterungen zu gewähren.“ 89 Hertz-Eichenrode (1969), S. 24 f.
I. Das Königsberger Rußlandgeschäft535
satzvertrag von 1904) garantiert hatte,90 baldmöglichst wiederherzustellen. Da die Nach barhäfen Königsbergs, Danzig und Memel nicht mehr den zollpolitischen und steuerlichen Bestimmungen des Deutschen Reichs unterlagen, waren die beiden neuen Staaten Polen und Litauen imstande, die beiden Häfen unter Benachteiligung des Königsberger Hafens, der dem Versailler Vertrag unterworfen war, durch verkehrs- und zollpolitische Begünstigung zu fördern. Mit Rücksicht darauf hielt es die Königsberger Handelskammer für erforderlich, die Wirtschaftstätigkeit des Königsberger Hafens nötigenfalls von den bestehenden Reichs- und Landesgesetzen sowie Vorschriften (steuerliche, zoll- und handelspolitische Bestimmungen, Hafengebührenordnung usw.) zu befreien, um ihm auf diesem Wege die Konkurrenzfähigkeit gegenüber den Nachbarhäfen beim russischen Transitverkehr zu verschaffen.91 Die Königsberger Kaufmannschaft war fest von der Notwendigkeit überzeugt, zur Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts eigene Initiativen zu ergreifen, denn „[d]ie gesamten Handelsbeziehungen Königsbergs bis tief nach Wolhynien und der Ukraine hinein beruhten auf alten persönlichen Verbindungen, die von Generation weiter gepflegt und ausgebaut worden sind.“92 Mehrere ostpreußische Wirtschaftsverbände, die direkt oder indirekt auf das Rußlandgeschäft angewiesen waren, unterstützten den Vorstoß der Königsberger Handelskammer. So hob die Königsberger Bankenvereinigung bei Berlin hervor: „Ganz abgesehen hiervon, bedeutet die Erreichung des Zieles der Handelskammer eine Lebensfrage für das Bankgewerbe im be-
90 Mit dieser Zielsetzung stellte die Handelskammer in ihrer Eingabe folgende drei Anträge: 1. Die zoll- und steuerpolitische Ausnahmebehandlung von Handel und Gewerbe in Ostpreußen aus den bestehenden wirtschaftspolitischen Bestimmungen von Reich und Preußen. Hierzu kamen folgende weitere drei Bereiche in Betracht: a) die Befreiung aus der in der Nachkriegszeit noch bestehengebliebenen Zwangswirtschaft, b) die Ausnahmebehandlung aus der Besteuerung des Personenund Güterverkehrs, c) die Ausnahmebehandlung aus den neu einzuführenden Umsatzgesetzen, denn „es ist kaum anzunehmen, daß im Freistaat Danzig und in Memel dieses deutsche Umsatzsteuergesetz beibehalten wird.“ 2. Die baldmöglichste Verhandlungsaufnahme mit Rußland und den Oststaaten über die Wiederherstellung des Eisenbahn- und Wasserstraßenverkehrs, und insbesondere 3. die Verhandlungsaufnahme über die Wiederherstellung der Regelung des Häfenwettbewerbs zwischen den Ostseehäfen im Sinne des deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894. Siehe GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Denkschrift der IHK Königsberg an Reichspräsidenten, Reichskanzler, PreußMP u. a. m., 27.1.1920. 91 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Denkschrift, IHK Königsberg betr.: Ausnahmen für Ostpreußen von wirtschaftlichen, sowie von Zoll- und Steuergesetzen, 27.1.1920. 92 „Die Hafen- und Handelsstadt Königsberg Pr.“ in: OEM, 2. Messe-Sondernummer, 16.8.1921.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
sonderen, namentlich in Berücksichtigung der auch in der Bittschrift der Handelskammer hervorgehobenen Tatsache, daß Königsberg vor dem Kriege in großem Umfange die Ausfuhr russischer Erzeugnisse vermittelte, an deren Finanzierung die Königsberger Banken in hervorragenden Masse mitzuwirken berufen waren.“93
93 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066, Bl. 114, Königsberger Bankenvereinigung an PreußMP, 16.2.1920.
Kapitel II
Die Königsberger Bestrebungen zur Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts nach dem Ersten Weltkrieg 1. Das Königsberger System und Hans Lohmeyer „So war die Lage in Königsberg, als der Diktatfrieden von Versailles über uns kam, bitter ernst. Vom deutschen Mutterlande sollte Ostpreußen durch den polnischen Korridor abgetrennt werden. Die beiden Nachbarhäfen Danzig und Memel wurden aus dem Reichsverbande ausgeschieden und dazu bestimmt, den Handel von Polen nach Danzig und den von Litauen nach Memel abzulenken. Rußland, wohin sich die hauptsächlichsten Handelsbeziehungen Königsbergs erstreckten, lag vollständig darnieder, von Ostpreußen durch neue Staaten getrennt. So war eine Situation, die zum Verzweifeln angetan war. Aber das ist nicht Ostpreußenart. Mit zusammengebissenen Zähnen gingen wir daran, uns auf die veränderten Verhältnisse umzustellen und neue Lebensbedingungen zu schaffen.“ (Hans Lohmeyer 1924)1
Der letzte Oberbürgermeister der königlichen Residenzstadt Königsberg in Preußen, Siegfried Körte,2 der infolge einer schweren Erkrankung in seiner letzten Amtszeit nicht mehr arbeitsfähig war, wurde unmittelbar nach der Novemberumwälzung 1918 durch revolutionäre Kräfte abgesetzt.3 Der alte Oberbürgermeister, der 16 Jahre lang die Hauptstadt Ostpreußens in ihrer schönsten Zeit regierte, war ein entschiedener Liberaler. Als Vorstandsmitglied des deutschen Städtetages engagierte er sich für die Selbständigkeit der Kommunen. Nach dem Kriegsausbruch und dem Russeneinfall in Ostpreußen beteiligte er sich an der Gründung der Vaterlandspartei Ostpreußens. Dadurch geriet er nach der Novemberrevolution beim linken Lager in Verruf.4 An Kör1 Hans Lohmeyer: Übersicht über die Entwicklung, in: Die Verwaltung der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Kriege. Festschrift des Magistrats der Stadt Königsberg i. Pr. anläßlich der 200-Jahrfeier der Vereinigung der drei Städte Altstadt, Löbenicht, Kneiphof, Königsberg 1924, S. 7–17 (hier S. 14 f.). 2 Siegfried Körte (1861–1919). Als Oberbürgermeister war er kraft Amtes zugleich Mitglied des Preußischen Herrenhauses. 3 Gegen die zu Unrecht durchgeführte Absetzung Körtes wurde ein Gegenantrag durch Cohn (DN) gestellt. Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung von 1918, Nr. 16, 27. November 1918. 4 Gause, Bd. 3 (1996), S. 14 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
tes Stelle wurde ein Sozialdemokrat, Albert Borowski, der in der Kriegszeit zum ehrenamtlichen Mitglied des Magistrats gewählt worden war, als Geschäftsträger eingesetzt. Borowski gab aber diese Aufgabe sogleich wieder ab und versuchte, diese anderen Magistratsmitgliedern zu überlassen. Sowohl der Stadtkämmerer als auch die beiden Bürgermeister lehnten die Übernahme dieser Funktion ab. In Königsberg herrschte Unruhe; an der Spitze der Arbeiter- und Soldatenräte in Ostpreußen stand der Rat der Matrosen in Königsberg. Nach den ersten auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts durchgeführten Stadtverordnetenwahlen am 2. März 1919 trat die Unabhängige Sozialdemokratische Partei mit 29 Mandaten an die erste Stelle. Von insgesamt 102 Sitzen der Stadtverordnetenversammlung fielen 50 an die Sozialdemokraten (USPD und MSPD), 37 an die Liberalen (davon 17 DDP, 20 DVP), 4 an die Angestellten, 3 ans Zentrum und 8 an die DNVP.5 Die Stadtverordnetenversammlung wählte einen Demokraten zu ihrem Vorsitzenden und brach dadurch mit dem alten Brauch, der stärksten Partei den Vorsitz zu geben. Dagegen revanchierten sich die Linksparteien mit Obstruktion, durch die die Stadtverordnetenversammlung tatsächlich beschlußunfähig wurde. Unter diesen Umständen wurde es von allen Seiten als notwendig erachtet, durch die umgehende Besetzung des vakanten Oberbürgermeisteramts den chaotischen Zustand zu beseitigen. Die Stadt schrieb die Oberbürgermeisterstelle daraufhin öffentlich aus.6 Der Stadtrat und Syndikus von Berlin-Schöneberg, Hans Lohmeyer, bewarb sich sogleich auf diese Stelle in Königsberg. Er war 1881 in Thorn geboren und hatte in Freiburg, Leipzig, Berlin und Breslau Jura studiert. Während seiner Schöneberger Zeit gehörte er, wie sein Chef, Oberbürgermeister Alexander Dominicus, der spätere preußische Innenminister, zur Deutschen Demokratischen Partei. Seine Zugehörigkeit zur bürgerlichen Mitte schien Lohmeyer als Kompromißkandidaten für Königsberg, wo die beiden politischen Lager miteinander wetteiferten, zu empfehlen. Am 28. Juli wurde er bei nur wenigen Gegenstimmen der DNVP zum Oberbürgermeister gewählt, am 4. August 1919 trat er sein Amt an. In Königsberg, wo im Gegensatz zu den anderen ostpreußischen Landkreisen die Linksparteien verhältnismäßig stark waren, mehrten sich die Stimmen, frische Luft in die Stadtverwaltung zu bringen. Der Amtsantritt eines nur 38jährigen Oberbürgermeisters machte bei den Königsbergern einen besonderen Eindruck.7 Die infolge der Obstruktion nicht erledigten Vorlagen beliefen sich 5 Verwaltungsbericht
der Stadt Königsberg für das Jahr 1913 / 20, S. 3. Lohmeyer: Rückblick auf meine Amtszeit, in: Jahrbuch der AlbertusUniversität zu Königsberg / Pr. 7 (1957), S. 250–265. 7 Zur Biographie Lohmeyers siehe vor allem sein letztes Interview „Meine Lebensarbeit habe ich Königsberg gewidmet“, in: Das Ostpreußenblatt, 19. Jg, 16.3.1968, S. 5 f. Siehe auch Kurt G. A. Jeserich: Hans Lohmeyer (1881–1968), in: 6 Hans
II. Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts nach dem Ersten Weltkrieg539
mittlerweile auf über 250. Die politische Kluft zwischen den Linksparteien und ihren Kontrahenten mußte unbedingt beseitigt werden. Daraufhin nahm Lohmeyer zuerst die Revision der Personalpolitik in Angriff. Die Stadtratsposten wurden unter den beiden politischen Lagern aufgeteilt, im Magistrat schieden die alten Stadtbeamten aus. Zum Stadtkämmerer wurde Anfang Februar 1920 Friedrich Lehmann berufen, der später beim Kreditabkommen zwischen der Stadtbank und der sowjetischen Handelsvertretung eine wichtige Rolle spielen sollte. Dazu übernahm Carl Friedrich Goerdeler, der spätere Oberbürgermeister von Leipzig, die Bürgermeisterstelle. Er engagierte sich für die Rationalisierung des Verwaltungssystems. Mit diesen fähigen Mitarbeitern setzte sich Lohmeyer für die durchgreifende Reform der Stadtverwaltung sowie den Wiederaufbau der Stadtwirtschaft ein, die infolge des langjährigen Krieges darniederlag. Infolge der Reichsfinanzreform unter Finanzminister Matthias Erzberger 1920 wurde den Ländern und Gemeinden ein nicht unbeträchtlicher Teil ihrer bisherigen Steuerquellen entzogen.8 Aufgabe dieser auf die Zentralisierung der Finanzhoheit abgestellten Reichsreform (Artikel 8 WRV) war es, das Reich, das an den enormen Reparationszahlungen schwer litt, zu stützen. Dadurch änderte sich die alte, klare Aufteilung der Steuerhoheit zwischen dem Reich, den Ländern und Gemeinden grundlegend. In der Vorkriegszeit hatte sich die Kompetenz des Reiches lediglich auf die indirekten Abgaben, wie Zoll sowie Matrikularbeiträge beschränkt, während die direkten Steuern prinzipiell bei den Ländern und Gemeinden blieben. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte mit der Erhebung der Kriegssteuer den Zugriff des Reichs auf die direkten Steuern zur Folge gehabt. Diese Tendenz trat in der Reichsfinanzreform von 1920 noch deutlicher zutage. Dadurch, daß den Ländern ihre Steuerhoheit über die Einkommensteuer entzogen wurde, erlitten auch die Gemeinden schwere Einbußen. Bis zum Ersten Weltkrieg waren die preußischen Gemeinden imstande gewesen, mittels Zuschlägen einen Teil der staatlich veranlagten Einkommensteuer für sich in Anspruch zu nehmen.9 Dieser Weg war den Gemeinden nun verstellt. Die Gemeinden waren zwar noch in der Lage, auf Grund der ihnen zustehenden Rechte der Steuerautonomie neue Realsteuern zu erheben, wenn sie ihre Einnahmen vermehren wollten. Angesichts steigender Lasten für die FürsorPersönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte, hg. v. Kurt G. A. Jeserich / Helmut Neuhaus, Stuttgart 1991, S. 380–384. 8 Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, hg. v. Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und GeorgChristoph von Unruh, Stuttgart 1985, S. 178 ff. 9 Hans Lohmeyer: Finanzausgleich im Reich und in Preußen, in: Die deutschen Städte. Ihre Arbeit von 1918 bis 1928, hg. v. Fritz Elsas und Erwin Stein, BerlinFriedenau 1928, S. 33–36.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
ge und sinkender Steuereinnahmen hatten die Kommunen aber große Schwierigkeiten, ihre Haushalte auszugleichen. Mit besonderer Härte traf die Reichsfinanzreform die ostpreußische Hauptstadt. Es erwies sich als dringend notwendig, sämtliche Einnahmequellen heranzuziehen und die Ausgaben zu verringern.10 Die Entstehung des polnischen Korridors durch das Inkrafttreten des Versailler Vertrags vom 10. Januar 1920 versetzte die ostpreußische Bevölkerung in große Unruhe. Man betrachtete „Ostpreußen als deutsche Insel im Slawenmeer“.11 In der Stadt Königsberg stieg der Heizkohlenpreis im Vergleich mit den übrigen Großstädten des Reichs auf die doppelte Höhe. Unter diesen Umständen hielt es die Stadtverwaltung nicht für sinnvoll, ihren Haushalt durch die Schaffung einer oder mehrerer neuen Steuern auszugleichen, mit Ausnahme der Einführung kleinerer Abgaben oder der Erhöhung der Steuersätze. So vertrat der Magistrat die Auffassung: „daß diese kleinen Steuern wenig einbringen, viel Ärger hervorrufen und letzten Endes doch in viel zu hohem Maße von ihren Werbungskosten verschlungen werden.“12 Als Steuerquellen der Stadt flossen neben dem festen Garantiebetrag zur Reichseinkommensteuer lediglich noch die Grundsteuer sowie die Gewerbesteuer. In der Nachkriegszeit erwies sich aber die Grundsteuer infolge der fortschreitenden Inflation als nahezu bedeutungslos. Hingegen blieb die Gewerbesteuer, die im Fall Preußens ausschließlich den Kommunen überlassen war, eine der wichtigsten Einnahmequelle der Stadtverwaltung. Eine schärfere Erhöhung der Gewerbesteuer schien jedoch im Fall Königsbergs besonders bedenklich. Durch die Abtrennung Danzigs und Memels aus den deutschen Staatsverband waren die Königsberger Wirtschaftskreise einer scharfen Konkurrenz von seiten der Nachbarstädte ausgesetzt. Eine übermäßige Erhöhung der Gewerbesteuersätze hätte lediglich zu einer weiteren Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit der Königsberger Wirtschaftskreise gegenüber Danzig und Memel geführt. In der Förderung der nicht landwirtschaftlichen Sektoren, die 98 % der Erwerbstätigen im Stadtkreis Königsberg beschäftigten, bestand die wichtigste Aufgabe des Magistrats der einzigen Großstadt der agrarisch geprägten Provinz. Nur die Gesundung dieser Sektoren konnte letzten Endes auch zur Steigerung der städtischen Steuereinnahmen führen. Angesichts der enormen Lasten der Reparationszahlungen, unter denen große Zuschüsse von Reich und Ländern nicht mehr zu erwarten waren, 10 Verwaltungsbericht
der Stadt Königsberg für das Jahr 1920, S. 1 f. Verwaltung der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Kriege. Festschrift des Magistrats (1924), S. 16. 12 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1921, S. 5 f. 11 Die
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sahen sich die Kommunen vor die Aufgabe gestellt, ggf. unter Einführung privatwirtschaftlicher Grundsätze ihre Einnahmen selbständig zu vermehren. Oberbürgermeister Lohmeyer entschloß sich, ein Rationalisierungsprogramm der Stadtverwaltung durchzusetzen. Hierzu verselbständigte er zunächst die bisher in öffentlicher Hand befindlichen Energieversorgungsbetriebe (Gas, Wasser, Strom sowie Straßenbahn). Lohmeyer hielt weder einen mit einem Privatunternehmer abzuschließenden Konzessionsvertrag noch die reine Privatisierung für richtig und schlug deshalb einen neuen Weg ein, nämlich die Umgestaltung der städtischen Energieversorgungsabteilung in die Form einer städtischen Gesellschaft (städtische G. m. b. H.). Unmittelbar nach seinem Amtsantritt 1919 machte Lohmeyer dem langen Streit zwischen dem Magistrat und der AEG um den 1910 abgeschlossenen Pachtvertrag über die „Elektrizitätswerk und Straßenbahn Königsberg Aktiengesellschaft (ESKA)“ durch den Ankauf der gesamten Aktien durch die Stadt ein Ende. Anschließend gelang es ihm, die Zustimmung der Stadt dafür einzuholen, die Gasanstalt der Stadtverwaltung in eine städtische Gesellschaft umzuwandeln. Damit wurde erstmals in Deutschland die an den Stadthaushalt gebundene Betriebsform der Gasanstalt aufgehoben. An ihre Stelle trat eine Gesellschaftsform, die nach rein kaufmännischen Gesichtspunkten zu leiten war. Gleichzeitig blieb aber die Stadt Eigentümerin der am 16. Februar 1920 registrierten Städtischen Gasbetriebsgesellschaft m. b. H. Königsberg Pr.13 Bereits im ersten Betriebsjahr erzielte die verselbständigte Gasbetriebsgesellschaft hervorragende Ergebnisse. Es gelang ihr, ohne Zuschüsse, allerdings mit selbständig aufgenommenen Krediten, zu arbeiten, obwohl die alte Gasanstalt stets entweder mit einem Defizit abgeschlossen oder Zuschüsse der Stadt erhalten hatte.14 Daher entschloß man sich, das städtische Gesellschaftssystem auf weitere öffentliche Wirtschaftsbereiche auszudehnen. Im Juli 1921 wurden die Wasserwerke und das Kanalisationswerk sowie das Elektrizitätswerk und die Straßenbahn (ESKA) mit der bereits verselbständigten Gasbetriebsgesellschaft unter der einheitlichen Firma m. b. H. (KWS)“ vereinigt.15 „Königsberger Werke und Straßenbahn G. Somit entstand das Königsberger System, das in der Kommunalverwal tungsgeschichte Deutschlands eine besondere Stellung einnahm.16 Das System zog große Aufmerksamkeit des Deutschen Städtetages auf sich. Das streng auf Wirtschaftlichkeit abgestellte Betriebssystem des öffentlichen Versorgungssektors setzte allerdings voraus, daß sowohl die Arbeitsverträge der Angestellten als auch die Besoldung der Direktoren der Gesellschaften 13 Hans Lohmeyer: Die städtische Betriebe, in: Die Verwaltung der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Kriege. Festschrift des Magistrats (1924), S. 49–61. 14 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1920, S. 2. 15 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1921, S. 41. 16 Herbert G. Marzian: Ostpreußen, Leer (Ostfriesl.) 1969, S. 120 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen sowie dem Leistungsprinzip zu regeln waren.17 Vor dem Hintergrund dieser positiven Erfahrungen entschloß sich der Magistrat, das gleiche Prinzip auf das von ihm einzuleitende Förderungsprogramm für den Rußlandhandel anzuwenden, in diesem Fall allerdings unter stärkerer Mitwirkung der Handels- und Industriekammer. 2. Die Königsberger Ostmesse und die Ausgestaltung von Rapallo „Besondere Bedeutung hatten die Tage durch die Verhandlungen mit den in Königsberg anwesenden Vertretern der russischen Organisationen und der SowjetRegierung. […] Bewundernswert ist die einheitliche Front, die ganz Ostpreußen im Eintreten für die Interessen der Provinz zeigt. Der Oberpräsident, der Oberbürgermeister, der Präsident der Handelskammer, das Meßamt, alles nahm geschlossen in einer Einheitsfront an den Verhandlungen teil.“ (Aus dem Reisebericht des Auswärtigen Amts in der Ostmesse 1923)18
a) Die Gründung Zur Wiederherstellung des zerstörten Handelsverkehrs zwischen Deutschland und Rußland nahmen der Magistrat und die Handelskammer im Sommer 1919 die Vorbereitungen für die Gründung einer Warenmesse in Königsberg in Angriff. Es wurde damit die Hoffnung verbunden, die Hafenstadt Königsberg zum internationalen Handelszentrum an der Ostsee zu entwickeln. Im September 1920 kam es zur Eröffnung der ersten Deutschen Ostmesse. Als Messegelände wurde provisorisch der Königsberger Tiergarten verwendet. Reichspräsident Friedrich Ebert versuchte in seiner Eröffnungsrede, die Bevölkerung der abgetrennten Provinz aufzumuntern und hob die feste Verbindung Ostpreußens mit dem Reich besonders hervor. Die erste Ostmesse war trotz aller Schwierigkeiten ein großer Erfolg. Die Besucherzahl belief sich auf etwa 50.000, als Aussteller waren ungefähr 1.700 Firmen beteiligt. Die vielversprechenden Ergebnisse der ersten Messe veranlaßten die Stadt, das Reich und Preußen davon zu überzeugen, die Ostmesse zur regelmäßigen Warenmustermesse auszugestalten. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, ein Messegelände sowie ständige Messehallen einzurichten. Mit Hilfe der großzügigen Unterstützung durch die Zentralbehörden 17 Alfred Eichelberger: „Das Königsberger System“, in: Das Ostpreußenblatt, 19. Jg., 30.3.1968, S. 10 f. Siehe auch Helmut Stubbe da Luz: Hans Lohmeyer und das Königsberger System, in: Das Rathaus, Nr. 8, 1984. 18 PA AA, R 94387, AA an Hausschild und Wallroth, 2.3.1923.
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(7,5 Mill. RM vom Reich und 2,5 Mill. RM von Preußen) wurde der Bau des Messegeländes im Herbst 1921 fertiggestellt (ca. 38.000 m2). Dabei kam dem Projekt die schnelle Entwertung der Grundstückswerte durch die Hyperinflation zugute. Die Messeeinrichtungen wurden in der Folgezeit wiederholt erweitert. Das Meßamt G. m. b. H. wurde im September 1920 durch den Magistrat und die Handelskammer Königsberg mit einem Stammkapital 150.000 RM (Stadt: 100.000 RM, IHK: 50.000 RM) gegründet und im Januar 1921 registriert. An die Spitze des Meßamts trat der Geschäftsführer und Direktor der Ostmesse, Erich Wiegand. Auf Vorschlag des Königsberger Stadtrats Martin Schaefer (DDP)19 wurde Wiegand aus dem Leipziger Meßamt in dieses Amt berufen.20 Der § 8 des Gesellschaftsvertrages bestimmte, den jeweiligen Oberbürgermeister der Stadt Königsberg zum ersten Vorsitzenden und den jeweiligen Handelskammerpräsidenten zum zweiten Vorsitzenden des Aufsichtsrates zu bestellen. Folglich übernahmen den Vorsitz Oberbürgermeister Lohmeyer und Kommerzienrat Felix Heumann, der Inhaber der Waggonfabrik L. Steinfurt, Stadtrat Schaefer hingegen das Amt des geschäftsführenden Vorstandes.21 In den Aufsichtsrat wurden Vertreter der maßgebenden Stellen der privatwirtschaftlichen, politischen und öffentlichen Kreise in Ostpreußen gewählt, darunter Oberpräsident Siehr, Landeshauptmann v. Brünneck, Vertreter der Königsberger Stadtverordnetenversammlung, der Landwirtschaftskammer, der Handwerkskammer, der ostpreußischen Handelskammern, sowie Vertreter der Regierungen von Reich und Preußen.22 Das Verkehrsamt der Stadt Königsberg, das u. a. auch mit der Flughafenverwaltung sowie den Angelegenheiten der internationalen Reisenden beauftragt war, wurde unmittelbar dem Meßamt unterstellt. Die Lösung der mit der Ostmesse zusammenhängenden Handels- und Verkehrsprobleme sollte, laut § 2 des Gesellschaftsvertrags des Meßamtes, eine der wichtigsten Aufgaben des Meßamtes sein.23
19 Schaefer
war Inhaber der Schirmfabrik M. Matias & Co. in Königsberg. PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, OPO an das Meßamt Leipzig, 12.5. 1920. Vgl. auch Gause, Bd. 3 (1996), S. 46 f. 21 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, Bl. 141, Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung des Meßamtes, 3.11.1920. 22 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, Bl. 178, Meßamt an OPO, 27.2.1921. 23 „Der Gesellschaftsvertrag des Messamts Königsberg GmbH“ in: OEM, 1. Jg. / Heft 11, 28.2.1921. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, Bl. 178, Meßamt an OPO, 27.2.1921. 20 GStA
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b) Die erste Beteiligung der Sowjets als Aussteller 1922 Bis zur erstmaligen offiziellen Beteiligung der sowjetischen Delegation 1922 spielten beim Auslandsgeschäft der Ostmesse die baltischen Staaten die wesentliche Rolle. So wurden die Handelsminister sowie deren Stellvertreter aus Litauen und Lettland regelmäßig zur Teilnahme eingeladen. Der größte Teil der ausländischen Besucher bestand ebenfalls aus privaten Kaufleuten sowie Journalisten aus dem Baltikum. Nachdem Ostpreußen durch den polnischen Korridor vom übrigen Reich abgetrennt worden war, gewann Königsberg als einziges deutsches Handelszentrum im Nordosteuropa zunehmend an Bedeutung. Mit Rücksicht auf die Porto- und Reisekosten von und nach dem übrigen Deutschen Reichsgebiet konnte die Warenmustermesse in Königsberg den baltischen Kaufleuten besonders günstige Einkaufsmöglichkeiten für deutsche Industriewaren anbieten.24 Das wichtigste Ziel des Magistrats und der Handelskammer richtete sich allerdings darauf, die Beteiligung der sowjetischen Handelsorganisationen an der Ostmesse zu erreichen. Das Meßamt versuchte bereits bei der ersten Messe vom Sommer 1920, den sowjetischen Vertreter in Deutschland, Viktor Kopp, für einen Besuch zu gewinnen.25 Von einer offiziellen Teilnahme der sowjetischen diplomatischen Vertretung an einer deutschen Messe war jedoch damals noch keine Rede.26 Erst nach dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsabkommens vom Mai 1921 erschien der Generalsekretär der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin, J. A. Pieper, bei der Herbstmesse zu Königsberg.27 Die stagnierende Verhandlungslage zwischen Königsberg und den Sowjets sollte nun durch den Abschluß des Rapallo-Vertrags in Bewegung gesetzt werden. Seit dem Oktober 1921 versuchte das Meßamt, die Beteiligung der Moskauer Zentrosojus (Allrussischer Verband der Genossenschaftsverbände) als Aussteller sowjetischer Exportwaren an der kommenden Frühlingsmesse von 1922 zu gewinnen. Ende Oktober reichte der Messedirektor Wiegand 24 So beschrieb die litauische Zeitung „Wolnaja Litwa“ ihren Eindruck von der Ostmesse: „Die Königsberger Messe erscheint als ein neuer Faktor nicht nur in der Entwicklung des deutschen Außenhandels, sondern auch in dem ökonomischen Leben des Baltikums, insbesondere Litauens. Einer der gelungensten Versuche, den Warenaustausch des Baltikums mit dem Auslande zu regulieren, erscheint die Königsberger Messe.“ Zitiert aus der litauischen Zeitung Wolnaja Litwa vom 18.8.1921, in: „Ausländische Stimme über die Deutsche Ostmesse Königsberg“ in: OEM, 1. Jg. / Heft 24, 15.9.1921. 25 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II. Nr. 2066, Abschrift, Meßamt an OPO, 4.8.1920. 26 Die sowjetische Vertretung in Berlin schickte zunächst den Leiter ihrer Handelsabteilung zur inoffiziellen Besichtigung in Königsberg. OEM, 1. Jg. / Heft 5, 1.12.1920, S. 7. 27 OEM, 1. Jg. / Heft 23, 1.9.1922, S. 3 ff.
II. Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts nach dem Ersten Weltkrieg545
sein Bittgesuch durch Vermittlung der Deutschen Gesandtschaft in Moskau an den Leiter des Zentrosojus, Chinčuk, ein.28 Trotz der beiderseitigen Interessen an dieser großen Handelsgelegenheit in Königsberg ließ sich eine russische Exportschau auf der Frühlingsmesse 1922 noch nicht realisieren. Auf wiederholte Gesuche Königsbergs hin erschienen schließlich vier sowjetischen Vertreter erstmals im offiziellen Auftrag der russischen, ukrainischen sowie weißrussischen Sowjetregierung bei der Februar-Messe 1922.29 Der Magistrat organisierte aus diesem Anlaß eine Zusammenkunft zwischen den sowjetischen Vertretern einerseits und den deutschen Behörden, vor allem Vertretern des Reichswirtschaftsministeriums, des preußischen Handelsministeriums, des Oberpräsidiums, der Reichsbahndirektion sowie der Handelskammern, andererseits.30 Die Zielsetzung der Königsberger Ostmesse kam darin deutlich zum Vorschein. Im Vergleich mit der Aufgabe der Leipziger Messe, die sich einseitig auf den deutschen Warenexport richtete, propagierte Lohmeyer gegenüber den sowjetischen Vertretern die Vorteile und Bedeutung des Königsberger Hafens für den sowjetischen Außenhandel. Zudem war die Stadt gerade dabei, den neuen Industrie- und Handelshafen aufzubauen. Die Hafenbesichtigung wurde den ausländischen Gästen stets als Exkursion im Rahmen der Ostmesse-Einladung angeboten. Die Anstöße zu diesem ersten offiziellen Besuch der sowjetischen Stellen in Königsberg schienen allerdings nicht allein von den Bemühungen Königsbergs ausgegangen zu sein. Sowohl Lohmeyer als auch die sowjetischen Vertreter setzten ihre Hoffnung auf die bevorstehende Weltwirtschaftskonferenz von Genua.31 Die Alliierten waren zum ersten Mal darauf eingegangen, 28 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 298, Heft 1, Deutsche Ostmesse Königsberg Pr. (Wiegand) an Frankenbach, 25.10.1921. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 298, Heft 1, (Übersetzung) Deutsche Ostmesse Königsberg an den Vorsitzenden des Zentrosojus, 18.1.1922. 29 Generalsekretär Pieper und Bittner aus der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin, Dr. Lourié als Delegierter der weißruthenischen Regierung, K. Pawluk als Konsul der ukrainischen Volksrepublik sowie Stocktlitzky als Pressevertreter (Ekonomitscheskaja Shisn). Vgl. „Vierte Deutsche Ostmesse. Begrüßung der auswärtigen Gäste“, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 89, 22.2.1922. Siehe auch GStA PK, XX. HA, Rep. 2II. Nr. 2066, Bericht über die vierte Deutsche Ostmesse Königsberg vom 19. bis 24. Februar 1922. 30 Von deutscher Seite erschienen Staatssekretär Dönhof (PreußHM), Geheimrat Mathies (RWiM), Frhr v. Blücher (AA), Legationsrat Weber (Deutsche Gesandtschaft in Riga), Oberpräsident Siehr, Vizepräsident Herbst, Oberbürgermeister Lohmeyer, Bürgermeister Goerdeler, Eisenbahndirektionspräsident Platho, Polizeipräsident Lübbring, Reichskommissar für Ein- und Ausfuhrbewilligung Scheringer, und die Präsidenten der Handelskammern. 31 Lohmeyer setzte seine Hoffnung auf die Konferenz in Genua: „Schwere Entscheidungen stehen in den nächsten Wochen in Genua bevor. Ich möchte daran die Hoffnungen knüpfen, daß die Verhandlungen in Genua der erste Schritt dazu sein
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sich zusammen mit der Sowjetregierung an einen Tisch zu setzen. Der Rapallo-Vertrag, der hinter den Kulissen der Weltwirtschaftskonferenz in Genua zwischen Deutschland und Rußland am 16. April 1922 unterzeichnet wurde, entsprach dem Königsberger Wunsch, die außenpolitischen Rahmenbedingungen für den Rußlandhandel zu schaffen. Die politischen Hindernisse, die der Veranstaltung der russischen Exportschau in Königsberg im Wege standen, wurden damit beseitigt. Das Meßamt erblickte im Abschluß des Vertrags „eine offizielle Sanktion“ der bisherigen Bestrebungen der Königsberger Kaufleute um die deutsch-russische Wirtschaftszusammenarbeit.32 Daraufhin entschloß sich das Meßamt, A. I. Markow, den stellv. Geschäftsführenden des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten, das als ein Nebenorgan des Königsberger Meßamts gegründet worden war, als Bevollmächtigten nach Rußland zu entsenden. Der Geschäftsführer des Wirtschaftsinstituts, Westenberger, ersuchte unmittelbar nach Abschluß des Vertrags die Berliner Handelsvertretung der RSFSR um ihre Genehmigung für diese Verhandlungsreise.33 Am 29. Mai 1922 trat Markow seine Reise nach den russischen sowie baltischen Hauptstädten an. Seine Aufgabe war es, die sowjetischen Wirtschaftsorgane zur Beteiligung an der kommenden Herbstmesse vom August 1922 zu bewegen und dazu die Zustimmung der Sowjetregierung zu erzielen. Sein Weg führte ihn nach Riga, Reval, St. Petersburg (Petrograd), Moskau, Nischni-Nowgorod, Charkow sowie Smomögen, daß endlich einmal in gewissen Kreisen die Erkenntnis aufdämmert, daß es so wie bisher nicht weiter gehen kann. Es scheint mir ein wichtiges Moment zu sein, daß man auch in Ententenkreisen eingesehen hat, daß nur durch das Zusammenstehen aller Völkerschaften ein Wiederaufbau der Welt möglich ist, und daß man auch die Vertreter der sowjetischen Regierung zu diesen Verhandlungen einzuladen hat. Ich hoffe, daß aus diesen Verhandlungen der erste Anfang auf der neuen Bahn vertrauensvoller Zusammenarbeit hervorgehen wird.“ in: „Vierte Deutsche Ostmesse. Begrüßung der auswärtigen Gäste“, Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 89, 22.2.1922. So veröffentlichte das Meßamt Anfang März als Äußerung der sowjetischen Vertreter an der Februar-Messe, daß „man sich am Vorabend großer Ergebnis befindet. Von entscheidenden Einfluß wird allerdings der Ausgang der Konferenz in Genua sein, doch es ist kein Zweifel, daß die russische Regierung ein großes Interesse daran hat, mit Deutschland wirtschaftlich zusammen zu arbeiten.“ Diesen Eindruck der sowjetischen Vertreter bestätigte auch der Bevollmächtigte des Moskauer Obersten Volkswirtschaftsrats, Halperin, der unmittelbar nach den Messetagen Ende Februar mit dem Sonderauftrag nach Deutschland entsandt worden sei, sich über die Wiederbelebung des russischen Verkehrs im Hafen Königsberg zu orientieren und das Interesse der deutschen Großindustrie auf die neuen Möglichkeiten in Rußland zu lenken. „Rückblick auf die vierte Ostmesse“ in: OEM, 2. Jg. / Heft 11, 1.3.1922. 32 „Die Deutsche Ostmesse Königsberg Pr. und die deutsche Ostpolitik“ in: OEM, 2. Jg. / Heft 22, 13.8.1922, S. 17 f. 33 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten (Westenberger) an Frankenbach, 21.4.1922. PA AA, R 94387, Bericht, OPO an AA, 9.9.1922.
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lensk. Während Markow in Moskau mit den Vertretern des Außenhandelskommissariats, der Trusts sowie der Genossenschaften verhandelte, bemühte er sich, in Petersburg die Handelskammer des Nord-West-Gebiets sowie das Börsenkomitee für eine Beteiligung an der Ostmesse zu gewinnen. Tatsächlich sandte die Handelskammer Petersburg, die nach der Einführung der NEP im November 1921 von neuem ins Leben gerufen worden war,34 bereits Anfang April 1922 einen Brief an die Königsberger Handelskammer und brachte ihren aufrichtigen Willen zur Wiederanknüpfung an den alten Geschäftsverkehr zwischen beiden Städten zum Ausdruck.35 Auf der Sitzung in Petersburg wurde unter Vorsitz des Handelskammerpräsidenten K. M. Begge36 unmittelbar nach Markows Vortrag der Beschluß gefaßt, sich als Aussteller von Exportwaren an der kommenden Ostmesse zu beteiligen.37 Eine entsprechende Entscheidung wurde auch seitens des Zentrosojus noch im Juni getroffen.38 Sowohl in Königsberg als auch in Berlin und Petersburg setzte man Hoffnung auf die Zustimmung der Moskauer Regierung zu diesen Entschließungen der regionalen Wirtschaftsorgane.39 Mitte Juli 1922 erteilte das sowjetische Außenhandelskommissariat seine Zustimmung zur Beteiligung der sowjetischen Wirtschaftsorgane sowie zur Veranstaltung der russischen Exportschau an der Königsberger Ostmesse vom August 1922.40 Ebenso wie in Königsberg erhoffte man sich in Petersburg von der Ostmesse den ersten Schritt zur Wiederherstellung des deutsch-russischen Wirtschaftsverkehrs und sah in der ersten Beteiligung der sowjetischen Wirtschaft an der Ostmesse ein Gegengewicht zur Welt34 Handbuch für Handel und Industrie der Union der Sozialistischen SowjetRepubliken (Rußland, Ukraine, Transkaukasien, Weißrußland), hg. v. den Handelsvertretungen der Union der Sozialistischen Sowjet-Republik in Deutschland und Österreich, Berlin 1924, S. 98 ff. 35 OEM, 2. Jg. / Heft 14, 15.4.1922, S. 10. 36 Begge wurde im Jahr 1925 als Nachfolger von Stomonjakov ins Amt des Handelsvertreters der UdSSR in Deutschland berufen. Vgl. Die Amtlichen Organe der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken in Deutschland, hg. v. Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten e. V., zusammengestellt mit Unterstützung des Generalsekretärs der Handelsvertretung der UdSSR in Deutschland Herrn J. A. Pieper, Berlin 15. Dezember 1925, S. 2 f. 37 GStA PK, I. HA, Rep. 120, E, XVI, 5, Nr. 15, Meßamt an PreußHM, 14.6. 1922. 38 „Russische Beteiligung an der Fünften Deutschen Ostmesse Königsberg Pr. in Aussicht genommen“, in: OEM, 2. Jg. / Heft 18, S. 17. 39 In diesem Zusammenhang äußerten der Magistrat und die Handelskammer den Wunsch, ein sowjetisches Konsulat sowie die Filiale der sowjetischen Handelsvertretung in Königsberg einzurichten. Im Jahr 1924 wurde dieser Wunsch realisiert. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 1, OPO an AA, 31.7.1922. 40 Die Landmaschinen, Nr. 29, 22.7.1922, S. 530.
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wirtschaftskonferenz von Genua, wo die Alliierten zum ersten Mal die Sowjetregierung als Repräsentantin Rußlands anerkannten.41 Trotz der kurzen Dauer bis zur Eröffnung der Messe setzten sich sowohl der Magistrat als auch die Handelskammer und das Meßamt mit allen Kräften für die Vorbereitung der sowjetischen Exportschau ein. Zu diesem Zwecke veröffentlichte der Magistrat außerdem einen ausführlichen Prospekt über den neuen Industrie- und Handelshafen in russischer Sprache. Die Ausstellungs güter verließen bereits Ende Juli den Petersburger Hafen. Infolge des inzwischen eingetretenen deutschen Seemaschinistenstreiks wurde jedoch ihr Eintreffen erheblich verzögert. Dennoch gelang es den sowjetischen Delegationen aus Petersburg und Moskau, Mitte August die ostpreußische Hauptstadt zu erreichen. Somit kam es zur ersten Beteiligung sowjetischer Wirtschaftsorgane an einer deutschen Messe weder in Leipzig noch in Breslau, sondern in Königsberg. Am 13. August 1922 wurde die fünfte Ostmesse Königsberg eröffnet. Unter den zahlreichen Gästen, namentlich den Vertretern der Regierungen, Handelskammern sowie Journalisten aus Deutschland und den Oststaaten, nahmen die sowjetischen Vertreter eine besondere Stellung ein. Als Vertreter des Botschafters Krestinskij stand Bratman-Brodovskij an der Spitze der Delegation, zu der etwa 30 Vertreter aus dem Moskauer Außenhandelskommissariat, Obersten Volkswirtschaftsrat, der Petersburger Handelskammer, Pressevertreter usw. gehörten.42 Die vier Organe (Zentrosojus, Verwaltung 41 „Die Königsberger Messe in der Beurteilung der Petersburger Presse“, in: OEM, 2. Jg. / Heft 21, 1.8.1922, S. 22. 42 Unter den sowjetischen Teilnehmern sind folgende Personen zu erwähnen: B. S. Berdonin (Vertreter der Abteilung des Außenhandelskommissariats für das Moskauer Gebiet), Gretschnew-Tscherneff (Bevollmächtigter des Obersten Volkswirtschaftsrats der RSFSR in Deutschland), J. A. Pieper (Generalsekretär der Ber liner Handelsvertretung der RSFSR), Stocklitzky (Vertreter der Kommission für Regulierung des Handels beim Rat der Arbeit und Verteidigung, zugleich Bevollmächtigter des Binnenhandelskommissars Leshwa und Pressevertreter der Ekonomischeskaja Shisn), B. I. Komorowsky (Vertreter der Moskauer Zentralwarenbörse), Saweljew (Vertreter des Obersten Volkswirtschaftsrats Moskau), I. Kopylow (Mitglied des Präsidiums des Petersburger Börsenkomitees), D. Berdakin (Außenhandelskommissariat Moskau), E. Schnirkin (Außenhandelskommissariat Moskau), Galop (Außenhandelskommissariat Moskau), J. Sapiro (Vorsitzender der Zentralverwaltung der Holzindustrie / Zulp), Schneiderow (Vertreter der Moskauer Börse), J. N. Makowetzky (Vertreter der Handelskammer des Nordwestgebiets, zugleich Redakteur des „Torgowo Pomyschlenny Bulletin“ und Mitglied des Verwaltungsrats Petroles), P. K. Babkow (Vertreter des russischen Trusts Selmasch / Vertretung für landwirtschaftliche Maschinen), Prof. Kusmin (Vertreter des Narkompros sowie des Textiltrusts), S. Metaxa (Vertreter der Zentralverwaltung der Holzindustrie / Zulp), Iwonin (Vertreter des Obersten Volkswirtschaftsrats Moskau zugleich Direktor des Zentralen Staatlichen Lagers der landwirtschaftlichen Maschinen beim Ackerbaukommissariat / Selmasch), Semjenow (Russischer Konsul in Libau), Dawtjan (Ge-
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der Hausindustrie Moskau, Handelskammer Petersburg, Sewerokustarj) leiteten die Exportausstellung der russischen Spezialwaren. Hingegen kam das Meßamt den Interessen Rußlands und der Oststaaten in der Weise entgegen, daß man der Landmaschinenabteilung sowie der Vorführungen von Kraftpflügen sowie Traktoren die größte Ausstellungsfläche zuteilte. Nicht zuletzt organisierte die Landwirtschaftskammer der Provinz Ostpreußen eine Lehrausstellung über die moderne Landwirtschaftstechnik wie auch über den Ackerbau und die Tierzucht, bei der Ostpreußen die federführende Stellung im Osten Europas einnahm. Nach fünftägigen Veranstaltungen wurde die Messe am 18. August erfolgreich abgeschlossen. Die Bedeutung der fünften Ostmesse lag nicht allein in dem Abschluß von Kaufverträgen. Es gelang nunmehr dem Magistrat, die unmittelbare Geschäftsverbindung zwischen den sowjetischen Handels- und Industrieorganen und der Stadt Königsberg herzustellen. Nach der Berichterstattung des Oberpräsidenten beim Auswärtigen Amt verfügten die Sowjets in Königsberg über außerordentlich große Geldmittel. Die sowjetische Delegation enthielt sich, nach Angabe der Landeskriminalpolizei, scheinbar aller kommunistischen Propagandatätigkeit.43 In diesem Sinne wurde die zuvor zwischen dem Meßamt und dem sowjetischen Botschafter getroffene Vereinbarung durch die Sowjets eingehalten.44 Die erfolgreiche Einladung in Königsberg beeindruckte die sowjetischen Vertreter tief, wie aus ihrem Dankesbrief aus Petersburg deutlich zu ersehen war.45 Der Magistrat und die Handelskammer waren bemüht, sie mit besonderer Gastfreundlichkeit zu empfangen, indem nicht nur die Messebesichtigung, sondern auch ein Besuch der Oper, Bankette am Internationalen Abend, Stadtrundfahrt und Hafenbesichtigung etc. angeboten wurden. Die Bestrebungen Königsbergs um die Wiederherstellung des russischen Transitverkehrs im Königsberger Hafen verfehlten offensichtlich ihr Ziel nicht. sandter in Litauen), Glagoliew (Vertreter des Obersten Volkswirtschaftsrats Selmasch), Bahrdt (Vertreter der russischen Hausindustrie), Transejew (Vertreter der Edelsteinschleifereien in Petersburg), Petritschew (Vertreter des Sewerokustarj / Haus industrie des Nordwestgebiets), Titow (Vertreter der Optischen Werke in Petersburg), Grigorijew (Vertreter der Pokobank, Russische Verbrauchergenossenschaft), Greisbard (Vertreter des Sapadoles), Kogan (Vertreter des Zentrosojus in Berlin), Nemser (Mitarbeiter der Berliner Handelsvertretung attachiert bei Iwonin), Mitzkun (Pressechef bei der russischen Gesandtschaft in Litauen), Riwkin (Vertreter der Iswestija Moskau), Sordin (Chefredakteur der Torogowo-Promyschlennaja Gaseta-Moskau). GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, Bl. 271, Liste der russischen Gäste des Meßamts Königsbergs Pr. PA AA, R 94387, OPO an AA, 9.9.1922. Vgl. auch „Rückblick auf die Fünfte Deutsche Ostmesse Königsberg Pr.“, in: OEM, 2. Jg. / Heft 23, 1.9.1923, S. 3 ff. 43 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, OPO an PreußMdI, 9.9.1922. 44 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, Abschrift, Meßamt an OPO, 4.8.1920. 45 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, Abschrift, Übersetzung, Handelskammer des nordwestlichen Gebiets, Petrograd, 28.9.1922.
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Der Vertreter der Obersten Volkswirtschaftsrat, Savel’jev, formulierte nach seiner Rückkehr in Moskau den von der sowjetischen Delegation gewonnenen Eindruck von der Ostmesse: „Sogar die geographische Abgrenzung Ostpreußens und Königsbergs von dem Deutschen Reiche könne die Bedeutung der Ostmesse nicht nur nicht mindern, sondern geradezu steigern. Die Pregelstadt sei gewissermaßen durch den Korridor weiter nach Osten verlegt und der Konkurrenz der anderen deutschen Großstädte entrückt worden.“ Damit versuchte er, die besondere Bedeutung des Königsberger Hafens für den Wiederaufbau der russischen Volkswirtschaft hervorzuheben.46 Die Entwicklung des Geschäftsverkehrs zwischen der Ostmesse und den russischen Nachfolgestaaten machte zwangsläufig die Verbesserung der unterbrochenen Verkehrsverbindungen zwischen Ostpreußen und diesen Staaten notwendig. Obwohl eine erste Geschäftsverbindung zwischen Königsberg und den sowjetischen Wirtschaftsorganen auf diese Weise hergestellt wurde, fehlte es an den wichtigsten materiellen und rechtlichen Grundlagen für die Wiederherstellung des Transitverkehrs aus Rußland über die baltischen Länder bzw. Polen bis zum Hafen Königsberg. Zum einen sollten die unterbrochenen Eisenbahnverbindungen wiedereröffnet werden. Zum anderen war der Abschluß der Handelsverträge mit Rußland und den Oststaaten notwendig, um so nicht nur die bilateralen Handelsverhältnisse, sondern auch die Transitverhältnisse zwischen diesen Ländern regeln zu können. Unmittelbar nach dem Abschluß der fünften Ostmesse, am 27. August 1922, wurde der Flugverkehr zwischen Königsberg und Moskau, der bisher lediglich auf den Post- und amtlichen Personenverkehr beschränkt war, für den nichtamtlichen Verkehr freigegeben.47 Zugleich wurde der Ausbau des Flughafens Devau bei Königsberg im Herbst 1922 mit der Fertigstellung der zweiten Halle zunächst abgeschlossen. Trotz der damals noch sehr eingeschränkten Gütertransportmöglichkeit beim Flugverkehr sah man sowohl in Deutschland als auch in Rußland in der Öffnung des Flugverkehrs zwischen Königsberg und Moskau ein „Symbol der Überwindung aller Hindernisse und der Anknüpfung direkter Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland“ (Vertreter der sowjetischen Handelsvertretung).48 Nicht zuletzt war die Verbesserung des Paßwesens sowie der Vergabe von Ein- und Ausfuhrgenehmigungen von Bedeutung. Um die Anträge möglichst schnell zu bearbeiten, wurde ein Bevollmächtigter des Reichsfinanzministeriums eigens für die Ostmesse eingesetzt. Außerdem bemühte sich der 46 „Die Königsberger Ostmesse und die Russen“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 1, 1.10.1922, S. 14. 47 „Erweiterung des Flugverkehrs Königsberg–Moskau“, in: OEM, 2. Jg. / Heft 23, 1.9.1922, S. 30. 48 „Vierte Deutsche Ostmesse“. Begrüßung der auswärtigen Gäste“, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 89, 22.2.1922.
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Magistrat, Konsulate und Vertretungen ausländischer Einrichtungen nach Königsberg zu ziehen. Als das östlichste Handelszentrum Preußens hatte es bereits vor 1914 zahlreiche ausländische Vertretungen in Königsberg gegeben. Infolge der Insellage Ostpreußens und der Gründung neuer Staaten im Osten Europas stieg die Anzahl der Konsulate in Königsberg nach dem Ersten Weltkrieg sogar deutlich an.49 Im Zusammenhang mit der Ostmesse war besonders bemerkenswert, daß die lettische Regierung den Messedirektor Erich Wiegand zum Honorarkonsul in Königsberg ernannte. Mit der Eröffnung des lettischen Konsulats in Königsberg Anfang Oktober 1922 wurden die bis dahin im Paßwesen bestehenden Schwierigkeiten erheblich gemildert.50 c) Die Holzkonferenz und -messe 1922 / 23 Nach dem Ersten Weltkrieg kam die Zufuhr von Hülsenfrüchten und Holz aus den ehemaligen russischen Gebieten völlig zum Erliegen. Seitdem war die Wiederherstellung dieser beiden Handelszweige stets die Kardinalfrage der politischen und wirtschaftlichen Verhandlungen zwischen Ostpreußen und den russischen Nachfolgestaaten. Die Memelflößerei wurde seit Oktober 1920 infolge des polnisch-litauischen Wilnakonflikts unterbunden. Angesichts der Krise der ostpreußischen Holzindustrie faßte man auf der Ausschußsitzung des Vereins Ostpreußischer Holzhändler und Holzindustrieller Anfang Oktober 1922 in Tilsit den Beschluß, dem Königsberger Meßamt den Vorschlag zu unterbreiten, anläßlich der kommenden Frühlingmesse eine internationale Holzkonferenz und -messe stattfinden zu lassen. Man zielte darauf ab, auf diesem Wege einen Meinungsaustausch zwischen den Holzhändlern und -industriellen in Nord- und Osteuropa herbeizuführen und möglicherweise zur Beseitigung der Schwierigkeiten, die sich vor allem aus der Unterbindung der Memelflößerei ergaben, eine gemeinsame Initiative zu ergreifen.51 Hierzu schlug der Verein Ostpreußischer Holzhändler und -industrieller vor, insbesondere folgende drei Fragen zum Verhandlungsgegenstand zu machen: 1. Freigabe der Memelflößerei, 2. Frachtenfrage beim Eisenbahnersatzverkehr, 3. Holzmarktregulierung / Rundholzversorgung. Hin gegen sollte die Holzmesse dazu dienen, die deutschen Holzbearbeitungsmaschinen, an denen die osteuropäischen Länder großes Interesse hatten, auszustellen. Außerdem erhoffte man sich in Ostpreußen von diesem Zu49 Königsberg in Preußen. Werden und Wesen der östlichsten Deutschen Großstadt, hg. v. Magistrat der Stadt Königsberg i. Pr., Königsberg 1924, S. 88. 50 „Einrichtung eines lettländischen Konsulats in Königsberg Pr.“ in: OEM, 3. Jg. / Heft 2, 15.10.1922. 51 „Holzhändler und Holzmesse“, in: OEM, 3. Jg, / Heft 2, 15.10.1922.
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sammentreffen die Möglichkeit, in Königsberg eine internationale Holz börse zu errichten, um den An- und Verkauf von Rundholz zu zentralisieren. Die Vorschläge fanden wohlwollende Zustimmung seitens des Meßamts. Die Stadtverwaltung legte sogleich den Termin der Holzmesse auf den März 1923 fest. Unmittelbar danach nahm man in Königsberg die Vorbereitungsarbeiten in Angriff, wobei es das Meßamt für besonders wünschenswert hielt, die Mitwirkung der UdSSR als ehemals größtem Holzlieferanten Osteuropas zu erlangen. Die Vorbesprechung zwischen den Vertretern von Ostpreußen, Berlin sowie Moskau über die Veranstaltung der osteuropäischen Holzkonferenz und -messe fand am 23. November 1922 im Sitzungssaal der Handelskammer Königsberg statt.52 In Königsberg zielte man offenbar darauf ab, über die Verhandlungsrichtlinie der geplanten Holzkonferenz eine vorherige gemeinsame Verständigung Deutschlands und Rußlands gegenüber den anderen Konferenzteilnehmern, insbesondere der baltischen Staaten und Polen, herbeizuführen. An dieser Besprechung waren von deutscher Seite, mit Ausnahme des als Beobachter anwesenden Oberpräsidenten Siehr, lediglich die Vertreter der Privatwirtschaft sowie des Meßamts beteiligt. Neben den maßgebenden Vertreter der ostpreußischen Holzindustrie sowie des Reedereiwesens nahmen Vertreter des Reichsverbands der deutschen Industrie (Fachgruppe der Sägeindustrie) sowie der größten Holzinteressenvertretung Deutschlands, des Vereins Ostdeutscher Holzhändler und Sägewerke (Sitz in Berlin) an der Besprechung teil. Aus Rußland waren drei Vertreter der sowjetischen Holztruste (die Zentralverwaltung der russischen Holzindustrie / Zulp, Sapadoles, Swinoles und Severoles) eingeladen. Als Vertreter der Moskauer Zulp gab Rubinčik zunächst die grundsätzliche Bereitschaft Rußlands zur Beteiligung an der geplanten Königsberger Holzkonferenz zu erkennen. Er dankte dem Magistrat und der Handelskammer für ihre unermüdlichen Bemühungen zur Wiederherstellung der Beziehung zu Rußland und hob die Bedeutung der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit in Königsberg hervor, vor allem mit Rücksicht auf die gerade in Berlin und Moskau begonnenen Vorbereitungen zum Abschluß eines neuen Handelsvertrags. Daraufhin bat Stadtrat Schaefer die sowjetischen Stellen um ihre Unterstützung für die Versuche der Stadt, in Königsberg ein sowjetisches Konsulat einzurichten.53 52 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Deutsche Ostmesse Königsberg (Wiegand und Westenberger) an Regierungsrat Frankenbach, 12.12.1922. Niederschrift der Vorbesprechungen für die Osteuropäische Holzmesse, den 23.11.1922. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2067, Bl. 6 f. (hier Bl. 8), Niederschrift, 23.11.1922. Vgl. auch „Die Vorbesprechungen über die Veranstaltung der Osteuropäischen Holzmesse zwischen den Vertretern der deutschen und russischen Holzwirtschaft“, in: Der osteuropäische Holzmarkt, 1. Jg., Nr. 1, 1.1.1923, S. 3 f.
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Neben der technischen Frage, auf welche Weise die Teilnahme der sowjetischen Trusts an der Holzmesse zu gestalten sei, wurde von deutscher Seite insbesondere auf die Regelung der Transportfrage größter Wert gelegt. Die Holzbeförderung aus Rußland nach Ostpreußen war infolge der Unterbindung der Memelflößerei durch Litauen lediglich auf dem Schienenweg möglich. Die ostpreußische Holzindustrie litt unter den größeren Frachtlasten der Eisenbahn sowie dem ungeheuren Rundholzmangel.54 Der Reeder Oswald Haslinger als Vertreter der Königsberger Handelskammer wies auf die Notwendigkeit hin, ein Transitabkommen zwischen der UdSSR und Polen bzw. zwischen der UdSSR und Litauen zustande zu bringen, durch das der Eisenbahnersatzverkehr für den Holztransport von Rußland über diese Staaten bis zur ostpreußischen Grenze garantiert werden sollte. Haslinger sprach ganz offen vom eingeschränkten Handlungsspielraum der deutschen Regierung, die unter dem Joch des Versailler Vertrags stand. Er äußerte den Wunsch nach der Ergreifung der Initiative seitens der Sowjetregierung in dieser Frage.55 Auf der Sitzung erklärten schließlich der Reichsverband der Deutschen Industrie sowie der Verein Ostdeutscher Holzhändler und Sägewerke ihre Bereitschaft zur Teilnahme an der Holzmesse.56 Unmittelbar 53
53 Er erinnerte vor allem daran, „daß gerade jetzt in Moskau eifrige Vorarbeit für den Abschluß eines deutsch-russischen Handelsvertrages im Zusammenhang mit dem Rapallo-Vertrag geleistet wird.“ GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Deutsche Ostmesse Königsberg (Wiegand und Westenberger) an Regierungsrat Frankenbach, 12.12.1922. Niederschrift der Vorbesprechungen für die Osteuropäische Holzmesse, den 23.11.1922. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2067, Bl. 6 f. (hier Bl. 8), Niederschrift, 23.11.1922. 54 „Polnische Eisenbahntarife und der Holzexport“, in: Der osteuropäische Holzmarkt, 1. Jg. / Nr. 8, 25.4.1923, S. 2 f. 55 Haslinger äußerte: „Deutschland ist nicht in der Lage, einen Einfluß auf die Holzbeförderung auf Polen auszuüben. Die Sicherstellung des Holztransports bis zur deutschen Grenze muß russischerseits erfolgen.“ GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Deutsche Ostmesse Königsberg (Wiegand und Westenberger) an Regierungsrat Frankenbach, 12.12.1922. Niederschrift der Vorbesprechungen für die Osteuropäische Holzmesse, den 23.11.1922. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2067, Bl. 14 f. (hier Bl. 17), Niederschrift, 23.11.1922. Bis zum Ende der Hyperinflation waren die Bahnfrachtkosten von den polnischen Holzversandstationen (Stolpce, Wilna, Bialystok usw.) bis zum Hafen Königsberg billiger als bis zum Hafen Danzig. Dieses Verhältnis änderte sich infolge der deutschen Währungsreform sowie der polnischen Eisenbahntarifpolitik in der zweiten Hälfte der 20er Jahre. „Eisenbahnfrachten von den polnischen Holzversandstationen nach Königsberg und Danzig nach dem Stande vom 1. August 1923“, von Regierungsrat Dr. Holtz (Reichsbahndirektion Königsberg), in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 63. Jg, Nr. 34, 23.8.1923, S. 550 f. Vgl. „Die polnische Eisenbahnverkehrspolitik“, von Curt Poralla (Ost-Europa-Institut Breslau), in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 66.Jg, Nr. 32, 12.8.1926, S. 863 f. 56 An der Sitzung waren folgende Organe beteiligt: Meßamt, Wirtschaftsinstitut, Wirtschaftsverband der deutschen Holzindustrie, Reichsverband der Deutschen Indu-
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nach dieser Königsberger Besprechung gab das sowjetische Außenhandelskommissariat in Moskau die Genehmigung zur Teilnahme der sowjetischen Holztrusts an der Königsberger Messe. Die sowjetische Delegation sollte unter Leitung der Zentralverwaltung der russischen Holzindustrie (Zulp) organisiert werden.57 In Nord- und Osteuropa kämpften die neuen Oststaaten, die die Holzindustrie als ihre wichtigste Exportindustrie ansahen, miteinander um die Absatzmärkte. Die UdSSR zeigte deshalb an der Regu lierung des Holzmarks und der Freigabe der Memelflößerei ein lebhaftes Interesse. So besuchten die Vertreter der Zulp bereits die fünfte Ostmesse vom August 1922.58 Die sowjetischen Hölzer, die früher nach Ostpreußen geflößt worden waren, wurden nach dem Krieg nach den Häfen Riga, Libau und Windau umgeleitet. Folglich stellte sich die Frage, inwieweit überhaupt die Mitwirkung der baltischen Länder an dem Vorhaben der Königsberger Handelskammer zu erzielen war, den Holztransport nach dem Hafen Königsberg zu stärken und hier eine internationale Holzzentralbörse zu errichten. Abgesehen von der für März 1923 in Aussicht genommenen Holzmesse sollte bereits im vorhergehenden Februar die turnusmäßige Frühjahrsmesse veranstaltet werden. Da die Handelsmöglichkeit mit dem Westen für die deutsche Wirtschaft noch sehr eingeschränkt war, suchte sie im Osten nach neuen Absatzmöglichkeiten und beteiligte sich in großer Zahl an der Ostmesse. Die Anzahl der Bewerber überstieg bei weitem die Aufnahmekapazität der Ausstellungshallen. Infolge der Hyperinflation und Markentwertung schien der Export in die Oststaaten zusätzlich begünstigt zu sein. Die Abhaltung der beiden Messen stieß jedoch Mitte Januar 1923 auf unerwartete Hindernisse. Am Tag der Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien überschritten die bewaffneten Litauer die Grenze des Memelgebiets. Im Zentrum der territorialen Konflikte unter den aus Rußland herausgelösten Oststaaten standen Polen und Litauen, die miteinander sowohl um das Wilnagebiet als auch um die freie Nutzung des Memeler Hafens stritten. Das Meßamt kommentierte: „Das gegenseitige Mißtrauen in dem balkanisierten Osteuropa hatte sich einem Siedepunkte genähert, der den Ausbruch von Katastrophen bedenklich nahezurücken schien.“59 Angesichts der denkbar schwierigen Bedingungen, zumal denen der Hyperinflation, bezweifelten strie (Fachgruppe Sägeindustrie), Verein Ostdeutscher Holzhändler und Sägewerke, Verein Deutscher Zellstoffabrikanten. „Die Osteuropäische Holzmesse“, in: OEM, 3.Jg. / Heft 6, 15.12.1922, S. 6 f. 57 „Die Beteiligung Rußlands an der Osteuropäischen Holzmesse Königsberg Pr.“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 5, 1.12.1922, S. 11. 58 J. Sapiro (Vorsitzender der Zentralverwaltung der Holzindustrie / Zulp). 59 „Rückblick auf die Sechste Deutsche Ostmesse“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 11, 5.3.1923, S. 1.
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selbst die sowjetischen Wirtschaftsorgane, ob es möglich sei, die Frühlingsmesse stattfinden zu lassen. Dennoch beschloß das Meßamt letztlich, die Ostmesse planmäßig am 18. Februar 1923 zu eröffnen. Obwohl das Meßamt mit Rücksicht auf das Nationalgefühl der ostpreußischen Bevölkerung seine gegen Litauen und Polen gerichtete Kritik, wie oben zitiert, veröffentlichte, verhielt es sich aber zugleich pragmatisch und gestattete ebenfalls den litauischen Wirtschaftsverbänden die Teilnahme an der Messe. Auch die Beteiligung polnischer Kaufleute unterlag keinen Einschränkungen. Allerdings entschlossen sich die Geschäftsleute aus Wilna, wo sich der Grenzstreit mit Litauen von neuem verschärfte, diesmal von der Teilnahme Abstand zu nehmen.60 An der Spitze der sowjetischen Vertreter stand diesmal Botschafter Krestinskij, da Außenhandelskommissar Krasin im letzten Moment verhindert war.61 Während der Messetage fanden zwischen den ostpreußischen Wirtschaftskreisen und der sowjetischen Delegation, die unter Krestinskij aus Vertretern der Handelskammer Petersburg, sowie des Zentrosojus und des Sapadoles bestand, mehrere Verhandlungen über die Wiederaufnahme des Handelsverkehrs zwischen dem Königsberger Hafen und Rußland statt, was bei den Vertretern des Auswärtigen Amts den Eindruck erweckte, daß die Messeveranstaltung die Handels- und Verkehrsverhandlungen tatsächlich in den Hintergrund gerückt habe.62 Am 12. Februar 1923 konstituierte sich das Holzexportbüro in Moskau. Das neu gegründete Exportbüro hatte die Aufgabe, alle Operationen der sowjetischen Holztrusts im Ausland zu leiten. Im Hinblick auf die bevorstehende Holzmesse wurden auch Markow und Legationsrat Graap als Vertreter des Königsberger Meßamts sowie der Moskauer Botschaft zur ersten Sitzung hinzugezogen. Unter Vorsitz von Daniševskij (Chef der Zentral verwaltung der russischen Holzindustrie / Zulp) faßte man den Beschluß, alle in Betracht kommenden großen Holztrusts der UdSSR zur Königsberger Holzkonferenz und -messe zu entsenden. Dazu gehörten vor allem die Holztrusts Sapadoles,63 Dwinoles,64 Petroles,65 Werchnewolgoles, Srednewolgoles, Kawkasles und der Furniertrust. Hinzu kamen später noch der weißrussische Holztrust Lesbel66 sowie der ukrainische Holztrust Dnepro60 Ebd.
61 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, OPO, 14.2.1923. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, Regierungspräsident an OPO, 21.2.1923. 62 PA AA, R 94387, AA an Hausschild und Wallroth, 2.3.1923. 63 Staatliche Vereinigung der Holzexportindustrie des Westgebiets. 64 Staatlicher Holztrust im West-Düna-Gebiet. 65 Verwaltung der Vereinigten Staats-Export-Sägewerke des Nordwest-Gebiets (Petrograd). 66 Staatlicher Vereinigung der Holzexport- und Holzbearbeitungsindustrie Weißrußlands
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les.67 Die sowjetische Delegation sollte unter Führung der Zulp aus Vertretern dieser Holztrusts gebildet werden, die zugleich zum Ankauf von Holzbearbeitungsmaschinen bevollmächtigt waren.68 Am 18. März 1923 wurde die erste Königsberger Holzkonferenz und -messe eröffnet. Die von sowjetischer Seite gewünschte Teilnahme der schwedischen Maschinenfirmen an der Königsberger Holzmesse kam infolge der Göteborg-Messe nicht zustande. Die Versuche Königsbergs, den Holzmarkt zu regulieren und möglicherweise die Schwierigkeiten der Memelflößerei auf gemeinsame Initiative der Wirtschaftskreise hin zu überwinden, stießen auf Hindernisse. Im Gegensatz zum Krisenbewußtsein Königsbergs und Rußlands standen die Häfenstädte der baltischen Länder diesem Versuch skeptisch gegenüber. Man hegte in den baltischen Ländern, die selbst am Holzexport großes Interesse hatten, Argwohn, daß die Königsberger Handelskammer versuche, den Holzverkehr durch die Schaffung einer Holzmesse in Königsberg an sich zu ziehen.69 Unter diesen Umständen war es eine schwierige Aufgabe, einen gemeinsamen Anhaltspunkt zwischen den Wirtschaftskreisen aller beteiligten Staaten (Deutschland, die UdSSR, Finnland, Estland, Lettland, Litauen sowie Polen) zu finden.70 Wenigstens wurden die Leitsätze der Konferenz über den Eisenbahnersatztransport der Hölzer aus dem Wilnagebiet, die von Regierungsrat Holtz (Reichsbahn direktion Königsberg) ausgearbeitet worden waren, von den Konferenzteil67 Staatlicher Verband der Holzindustrie Gebiet des Dnepr und seiner Nebenflüsse. 68 „Die Beteiligung Rußlands an der Ersten Osteuropäischen Holzmesse“, in: OEM, 3.Jg. / Heft 11, 5.3.1923, S. 8. „Die Beteiligung Rußlands an der Ersten Osteuropäischen Holzmesse Königsberg Pr.“, in: Der osteuropäische Holzmarkt, 1. Jg. / Nr. 4, 1.3.1923, S. 3. Die Einfuhr der Holzbearbeitungsmaschinen in die UdSSR war damals noch einfuhrzollfrei. Vgl. Handbuch für Handel und Industrie der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken (1924), S. 53. 69 „Das Ergebnis der Ersten Osteuropäischen Holzmesse“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 13, 1.4.1923, S. 1 ff. 70 In seiner Eröffnungsrede wies Oberbürgermeister Lohmeyer auf die heiklen internationalen Verhältnisse hin: „In besonders schwieriger Zeit findet die Erste Osteuropäische Holzmesse statt. Schwarze Wolken lagern am politischen Horizont. Das deutsche Wirtschaftsleben leidet nicht nur unter der Ruhrbesetzung auf das schwerste, auch die wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondere die Gestaltung der Mark, nötigen zu äußerster Zurückhaltung. Trotzdem haben wir geglaubt, den gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ungenutzt lassen zu dürfen, aller Schwierigkeiten ungeachtet. Denn wir haben den besten Willen, die alten Handelsbeziehungen zwischen den Völkern Osteuropas und Deutschland wieder anzuknüpfen und wieder in Gang zu bringen. Und so gehen wir getrost und mit Zuversicht an die Arbeit. Wir wissen, daß nicht militärische Expeditionen und nicht Sanktionen dazu führen können, die Wirtschaft der Völker wieder in Ordnung zu bringen, sondern nur der feste Wille gemeinsamer Zusammenarbeit.“ „Die osteuropäische Holzmesse“, in: Der osteuropäische Holzmarkt, 1. Jg. / Nr. 7, 10.4.1923, S. 2 f.
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nehmern einstimmig angenommen. Mit kritischem Blick auf die Unterbindung der Memelflößerei durch Litauen forderten die Leitsätze die Aufhebung aller Sperren und Verkehrseinschränkungen, die Erleichterung des Durchgangsverkehrs, die Umsetzung des Berner internationalen Übereinkommens, die Unterlassung unnötiger Erhöhungen der Eisenbahntarife usw.71 Trotzdem verfehlte die Holzbörse völlig ihr Ziel, wobei nicht nur die baltischen Staaten und Polen, sondern auch die UdSSR Schwierigkeiten bereitete. Die von der Zulp angebotenen Rundholzpreise widersprachen deutlich den Marktverhältnissen in Europa, da die Preise der bearbeiteten Hölzer (Schnitthölzer) infolge ihres Überangebots inzwischen stark gesunken waren. So kommentierte das Meßamt scharf das Verhalten der UdSSR: „Die Preise, die die Trusts kalkuliert hatten, standen erheblich über dem Tagesdurchschnitt. So wurden zwar große Geschäfte mit Rußland angebahnt, aber in Königsberg noch nicht formell abgeschlossen. […] Eine Erkenntnis werden die Russen in Königsberg gewonnen haben, die nämlich, daß sie nicht allein den Schlüssel zum europäischen Holzmarkt in Händen haben. Das amerikanische Holz ist zu den Preisen, die sie anstreben, konkurrenzfähig auch in den Absatzgebieten, die sonst eine Domäne des russischen Holzes waren.“72 Die Versuche Königsbergs, eine Zentralholzbörse zu schaffen und die Initiative gegen die Unterbindung der Memelflößerei zu ergreifen73, scheiterten an den divergierenden Interessen der beteiligten Staaten. Der Magistrat selbst mußte den Mißerfolg der Holzmesse einräumen, da sich auch beim Verkauf der Holzbearbeitungsmaschinen nicht die erwünschten Ergebnisse erzielen ließen.74 Daraufhin wurde die angekündigte zweite Holzmesse vom Oktober 1923 nicht mehr durchgeführt. Immerhin führten die bei der Vorbereitung der Holzmesse angebahnten Geschäftsverbindungen zwischen der Königsberger Handelskammer und den sowjetischen Holztrusts zur Errichtung von Geschäftsvertretungen der Trusts in Königsberg. Unmittelbar nach dem Abschluß der Holzmesse wurden Filialen der sowjetischen Holztrusts von Sapadoles und Lesbel im Bürogebäude des Meßamts eröffnet.75 71 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2067, Bl. 51, Deutsche Ostmesse Königsberg an OPO, Berichte über die Holzkonferenz (Bl. 52 f.). Vgl. auch „Osteuropäische Holzkonferenz“, in: Der osteuropäische Holz-Markt, 1. Jg., Nr. 7, 10.4.1923, S. 4 ff. 72 „Das Ergebnis der Ersten Osteuropäischen Holzmesse“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 13, 1.4.1923, S. 1 ff. 73 „Osteuropäische Holzkonferenz“, in: Der osteuropäische Holzmarkt, 1. Jg. / Nr. 7, 10.4.1923, S. 4 ff. 74 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1923, Königsberg 1924, S. 86. 75 Handbuch für Handel und Industrie der Union der Sozialistischen SowjetRepubliken (1924), S. 277.
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d) Die Beteiligung Königsbergs an der Allrussischen Landwirtschaftsausstellung in Moskau 1923 Die Landmaschinenausstellung war stets der meistbesuchte Teil der Ostmesse. Daher beschloß das Meßamt Ende 1922, die Landmaschinenabteilung aus der Ostmesse herauszulösen und im Juni 1923 eine selbständige Landwirtschaftsmesse zu veranstalten. Selbstverständlich gab es in Ostpreußen eine große Nachfrage auf diesem Gebiet. Die Wanderausstellung der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (DLG), die in diesem Bereich eine dominante Stellung einnahm, fiel 1923 ausnahmsweise aus, was dem Königsberger Vorhaben besonders zugute kam. Das Meßamt ging daran, eine der osteuropäischen Landwirtschaftsstruktur entsprechende Fachmesse zu organisieren. Als Mitveranstalter stellten sich ihm die Landwirtschaftskammer der Provinz Ostpreußen, die landwirtschaftlichen Institute der Universität Albertina sowie mehrere Pflanzen- und Viehzuchtvereine für die Vorbereitung der Mustermesse sowie die wissenschaftliche und technische Ausstellungen zur Seite. Dazu äußerten mehrere Maschinenbaufirmen aus Mittel- und Westdeutschland ihre Teilnahmebereitschaft. Man erhoffte sich von einer Agrarmesse in der ostpreußischen Hauptstadt die Wirkung, die osteuropäischen Staaten, insbesondere die Sowjetunion, über die hochmodernisierte deutsche Agrartechnik aufzuklären. Am 24. Juni 1923 eröffnete Oberbürgermeister Lohmeyer die Landwirtschaftsausstellung der Deutschen Ostmesse in Königsberg. Als Vertreter der Reichsregierung erschienen Reichskanzler Cuno, Reichsernährungsminister Luther sowie als Vertreter des Auswärtigen Amts der Leiter der Ostabteilung, Wallroth, der Generalkonsul in Danzig, v. Dirksen, sowie der Generalkonsul in Memel, Wedel. Die Werbearbeit des Meßamts in der Sowjet union hatte einen beträchtlichen Erfolg. Die Sowjetregierung entsandte die größte ausländische Delegation nach Königsberg. Sie bestand aus Vertretern des Allrussischen Verbands der landwirtschaftlichen Genossenschaften (Seljskosojus), des ukrainischen Außenhandelskommissariats Charkow sowie der Allrussischen Ausstellung für Landwirtschaft und Heimindustrie usw. unter Leitung des Präsidenten der Petersburger Börsenkomitees (für das Nordwestgebiet), Kopylov. Der angekündigte Besuch des Präsidenten der Kommission des russischen Innenhandels (Innenhandelskommissars), A. M. Ležava, mußte kurz vor der Eröffnung abgesagt werden. Dennoch telegraphierte er umgehend zur Messeeröffnung und wünschte der Königsberger Initiative Erfolg. Dies bahnte eine besondere Freundschaft zwischen dem Meßamt, dem Oberpräsidenten und Ležava an. Bei seiner Eröffnungsrede überreichte Kopylov dem Königsberger Meßamt sowie den deutschen Wirtschaftskreisen die Einladung zur bevorsteheden Allrussischen landwirt-
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schaftlichen Ausstellung in Moskau im Gegenzug zu den bisherigen Einladungen der sowjetischen Delegation zur Ostmesse.76 Die sowjetische Delegation bat auch die Landwirtschaftskammer ausdrücklich darum, ihre Vertreter nach Moskau zu entsenden.77 Wie der Besuch hochrangiger Vertreter der Reichsregierung bewies, betrachtete man die Königsberger Ostmesse als Hoffnungsträger beim Wiederaufbau des deutsch-russischen Wirtschaftsverkehrs. Zwei Tage nach der Messeeröffnung, am 26. Juni, erfolgte in Berlin der Eintritt in die deutschsowjetischen Handelsvertragsverhandlungen, deren Vorbereitung bereits im August 1922 begonnen hatte. In der Hoffnung auf einen erfolgreichen Verhandlungsgang in Berlin und Moskau brachte Oberpräsident Siehr in seiner Königsberger Rede die Bedeutung der Ostmesse darin zum Ausdruck, „ein neuer tragkräftiger Pfeiler in der Wirtschaftsbrücke zu sein, die über Ostpreußen Mitteleuropa und Osteuropa verbindet.“78 Die Veranstaltung der allrussischen Landwirtschaftsausstellung in Moskau beruhte auf zwei Überlegungen. Zum einen hatte der Oberste Volkswirtschaftsrat ursprünglich geplant, eine deutsche Industrieausstellung in Moskau im Sommer 1922 stattfinden zu lassen.79 Dieser Plan ließ sich jedoch nicht realisieren, vor allem auf Grund der Zurückhaltung der deutschen Wirtschaft. Moskau versuchte, die gescheiterte Ausstellung im Jahr darauf abzuhalten. Zum anderen hatte die Sowjetregierung die Absicht, der russischen Landbevölkerung vor Augen zu führen, daß der Staat den Bauern zur Seite stehe. Zugleich wollte sie die Verbindung zwischen der Land- und Stadtbevölkerung („Smytschka“) intensivieren.80 Beide Impulse führten letztlich zu dem Gedanken, eine große Landwirtschaftsausstellung Rußlands, zu der auch eine Sonderausstellung der ausländischen Technik gehören sollte, zu veranstalten. Obwohl das betreffende Dekret bereits Ende Oktober erteilt wurde, gingen die Vorbereitungen nur langsam voran. Erst im Februar 1923 trat das Präsidium des Zentral-Exekutivkomitees energisch für die 76 „Die Landwirtschaftsausstellung der Deutschen Ostmesse. Reichskanzler Cuno über die Bedeutung der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 19, 1.7.1923, S. 1 ff. 77 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 19384, Abschrift, LK an OPO, 26.7.1923. Daher beantragte die Landwirtschaftskammer beim Oberpräsidenten die Gewährung eines Reisekostenzuschusses. 78 „Die Landwirtschaftsausstellung der Deutschen Ostmesse. Reichskanzler Cuno über die Bedeutung der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 19, 1.7.1923, S. 1 ff. 79 „Eine deutsche Industrie-Ausstellung in Moskau“, in: OEM, 2. Jg / Heft 12, 15.3.1922, S. 14. 80 „Reiseeindrücke aus Rußland. Die Moskauer Ausstellung“, von A. I. Markow, in: OEM, 4. Jg / Heft 5, 1.12.1923, S. 1 f.
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Durchführung des Vorhabens ein. Ein neues Organisationskomitee über die Allrussische Landwirtschafts- und Heimindustrie-Ausstellung wurde unter Vorsitz von Lazis (Mitglied des Allrussischen Exekutivkomitees) einberufen. Es nahm Mitte März 1923 den Bau des Messegeländes in Angriff. Der Auslandsabteilungschef der Allrussischen Ausstellung, O. Osipov, besuchte Königsberg, Berlin, Hamburg, Prag sowie Wien, um die europäischen Messen zu studieren und die Beteiligung ausländischer Firmen zu sichern.81 Allerdings sollte es, so meinte Osipov, Hauptaufgabe der Allrussischen Ausstellung sein, die gegenwärtige Lage der russischen Landwirtschaft unter Beteiligung aller regionalen und agrarischen Vertretungen Rußlands vorzuführen. In diesem Sinne unterschied sich die Moskauer Ausstellung von den Messen, die in erster Linie auf den Abschluß von Kaufverträgen abzielten. Die Sowjetregierung benötigte deshalb nicht nur die Beteiligung der Privatfirmen, wie AEG, Borsig, Siemens usw., sondern auch der ausländischen öffentlichen Organe. Zu den letzteren zählten vor allem die Landwirtschaftskammer der Provinz Ostpreußen, das Landwirtschaftsinstitut Berlin-Dahlem und schließlich die Stadt Königsberg sowie ihr Meßamt. Mitte August 1923 wurde das Moskauer Ausstellungsgelände fertiggestellt. Am 19. August 1923 eröffnete man somit die Allrussische Landwirtschaftsund Heimindustrie-Ausstellung. Dabei hielten Außenkommissar Čičerin sowie Außenhandelskommisar Krasin die Begrüßungsreden für die ausländischen Gäste.82 Aus dem Ausland waren ca. 250 Firmen und wissenschaftliche Organisationen beteiligt. Davon kamen 87 Aussteller aus Deutschland, 45 aus den USA und 19 aus Österreich. Damit stand das Reich an erster Stelle. Hierzu sandten ca. 16 nichtrussische Staaten ihre Vertretungen nach Moskau. Dazu zählten Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei, Italien, England, Amerika, Frankreich, Lettland, Estland, Litauen, Finnland, Schweden, Dänemark, Belgien, Persien, Japan und China.83 Unter den ausländischen Teilnehmern nahmen die Stadt Königsberg und ihr Meßamt eine besondere Stellung ein. Während die Landwirtschaftskammer Ostpreußens sich bei ihrer Ausstellung für die agrartechnische Aufklärung engagierte, konzentrierten sich die Stadt und das Meßamt auf die Werbung für den neuen Industrie- und Handelshafen. Der Königsberger Ausstellung wurde der prominenteste Platz in der Mitte des Pavillons der Auslandsabteilung zur Verfügung gestellt. Unter Leitung des Architekten Hanns Hopp (Königsberger Stadtbauamt) wurde hier ein großes Hafen- und 81 „Die Allrussische Landwirtschafts- u. Heimindustrie-Ausstellung Moskau 1923. Interview mit dem Leiter der Auslandsabteilung der Ausstellung Herrn O. Ossipow“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 20, 15.7.1923, S. 2 f. 82 Ebd. 83 „Die Eröffnung der Moskauer landwirtschaftlichen Ausstellung“, OEM, 3. Jg. / Heft 23, 1.9.1923, S. 4.
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Speichermodell eingerichtet, das die Hafenanlagen, Verkehrsverhältnisse, technische und mechanische Besonderheiten des Königsberger Hafens bis ins Detail darstellte. Daneben wurden zahlreiche Kartogramme über die Handels- und Verkehrsverhältnisse zwischen Königsberg und der UdSSR ausgestellt. Darin kam die Zielsetzung des Königsberger Magistrats deutlich zum Vorschein. Man nutzte diese Gelegenheit zu dem Zweck, die Sowjet union dazu zu bewegen, ihren Export, vor allem von Hülsenfrüchten und Holz, wieder wie in der Vorkriegszeit über den Hafen Königsberg abzuwickeln. Das Meßamt sah in der Königsberger Beteiligung an der Moskauer Ausstellung eine Gelegenheit, der russischen Bevölkerung „zum Bewußtsein zu bringen, was bisher in Königsberg geschehen ist, um den zwischenstaatlichen Verkehr zwischen Deutschland und Rußland zu fördern […] In erster Linie wird dabei auf den neuen Königsberger Hafen hingewiesen, der dazu ausgebaut wird, mit den vollendetsten technischen Einrichtungen die Ueberschüsse der landwirtschaftlichen Produktion Rußlands aufzunehmen, zu veredeln und weiterzuleiten.“84 Die Moskauer Allrussische Ausstellung wurde am 20. Oktober 1923 beendet. Während der zweimonatigen Ausstellungsdauer zählte diese gigantische Messe, deren Gelände sich auf 1,5 km Länge erstreckte, mehr als eine Million Besucher, von denen etwa 600.000 Eintrittskarten lösten. Auch die Königsberger Ausstellung erzielte einen großen Erfolg, indem die Besucherzahl sich auf mehrere Hunderttausend belief. Sowohl die Broschüre „Königsberg–Moskau“, die den Russen die Bedeutung des russisch-ostpreußischen Handels und Verkehrs vor Augen führte,85 als auch die Exemplare der Zeitschriften der Ostmesse fanden rege Nachfrage. Die über 50.000 bereitgestellten Exemplare waren schnell vergriffen.86 Der Erfolg der Königsberger Delegation wäre ohne die Unterstützung des deutschen Botschafters, Brockdorff-Rantzau, nicht möglich gewesen. Er stand seit seinem Amtsantritt in Moskau stets den Bestrebungen der Stadt Königsberg zur Seite, indem er ausgesprochen für die Werbearbeit des Meßamts zur Wiederherstellung des deutsch-russischen Transitverkehrs im Königsberger Hafen eintrat. 84 Weiter heißt es: „Daß Königsberg vor dem Kriege der Weltmarkt für Linsen war, daß es ein wichtiger russischer Getreide- und Flachshafen, ein großes Ausfalltor für die russische Holzausfuhr war und infolge seiner geographische Lage zwangsläufig wieder werden muß, da leistungsfähige Verkehrswege von Königsberg weit nach dem Osten ausstrahlen, wird in graphischen Darstellungen, übersichtlichen Karten und aufklärenden Worten den Besuchern der Moskauer Ausstellung überzeugend dargetan werden.“ siehe „Die Deutsche Ostmesse auf der Moskauer Ausstellung“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 21, 1.8.1923, S. 8 f. 85 Ein Exemplar dieser Broschüre befindet sich in: GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2078. 86 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1923, Königsberg 1924, S. 86.
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Während der Moskauer Ausstellung besuchte der Botschafter den Königsberger Ausstellungsplatz und warb bei der Sowjetregierung für die Wiederherstellung des Königsberger Rußlandgeschäfts.87 Zum Abschluß der Ausstellung revanchierten sich die deutschen Aussteller für die Moskauer Einladung mit der Ausrichtung eines großen Banketts, an dem die Vertreter des Außenkommissariats, des Außenhandelskommissariats, des Hauptkonzes sionskomitees sowie des Ackerbaukomitees sowie die deutsche Botschaft unter Führung des Grafen Brockdorff-Rantzau teilnahmen. Dabei begrüßte der Moskauer ehrenamtliche Vertreter der Deutschen Ostmesse Königsberg im Namen der deutschen Aussteller die Gäste. Somit wurde die Teilname Königsbergs an der Moskauer Allrussischen Ausstellung im Oktober 1923 erfolgreich abgeschlossen.88 All diese Bestrebungen des Magistrats und der Handelskammer, die sich in der Arbeit der Ostmesse verkörperten, waren lediglich eine PropagandaMaßnahme, um auf diesem Wege den russischen Transitverkehr wieder nach Königsberg heranzuziehen. Zur Erfüllung dieser Wünsche mußten allerdings die rechtlichen Verhältnisse im Transiteisenbahnverkehr zugunsten des Königsberger Hafens neugestaltet werden. Die Handelskammer zielte deshalb darauf ab, in den gerade begonnenen deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen ihre Interessen wahrzunehmen, damit die Bestimmungen des Schlußprotokolls zu Artikel 19 des alten deutsch-russischen Handelsvertrags, die dem Hafen Königsberg eine Sonderstellung eingeräumt hatten, wieder Gültigkeit erlangen sollten. 3. Das Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten e. V. Königsberg Der organisatorische Aufbau des Meßamts wurde mit der Gründung des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten e. V. Königsberg Pr. im Januar 1922 vervollständigt. Nach der Gründung der Messe vom September 1920 hatte man alsbald die Notwendigkeit der Aufklärung der deutschen Kaufleute über die neuesten osteuropäischen Verhältnisse erkannt. Die Un87 Русско-Германские Торговые Сношения и Кенигсберг. Статьи и очерки германских ученых и специалистов под редакцией А. И. Маркoва. Предисловие Гермaнского посла в России ГРАФА БРОКДОРФ-РАНЦАУ. Перепечатка из спец. № журнала „Восточно-Европейский Рынок“ от 5-го августа 1923 г., посвященного Всероссийской Сельскохоз. и кустарно-промышл. выставке в Москве, Кенигсберг (Пруссия) 1923. 88 „Reiseeindrücke aus Rußland III. Das Ausland auf der Moskauer Ausstellung“, in: OEM, 4. Jg. / Heft 6, 15.12.1923, S. 1 f. „Der Besuch der Moskauer Ausstellung“, in: OEM, 4. Jg. / Heft 3, 1.11.1923, S. 4.
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klarheit der Verhältnisse des Osthandels hinsichtlich des Geschäftswesens, der Konjunkturverhältnisse sowie der Rahmenbedingungen (Handelsverträge usw.) belastete die deutsche Wirtschaft erheblich und hinderte sie daran, in den Geschäftsverkehr mit den Oststaaten zu treten. Zur Verringerung der dem Osthandel innewohnenden Risiken sollte das Königsberger Wirtschaftsinstitut sowohl den deutschen als auch ausländischen Kunden die erforderlichen Informationen über die Rechts-, Verkehrs-, Zoll- sowie Kreditverhältnisse zur Verfügung stellen. Außerdem hatten die meisten deutschen Unternehmer keine hinreichenden Kenntnisse osteuropäischer Sprachen. Folglich mußte der Geschäftsverkehr zwischen den deutschen und osteuropäischen Firmen durch eine Agentur vermittelt werden. Das Königsberger Wirtschaftsinstitut war keine wissenschaftliche Einrichtung, sondern sah es als seine Aufgabe an, den kaufmännischen Interessen zu dienen. In diesem Sinne unterschied es sich deutlich von anderen Forschungsinstituten wie z. B. dem Institut für die ostdeutsche Wirtschaft in Königsberg (IOW), das 1915 auf Initiative des damaligen Oberpräsidenten v. Batocki an der Albertus-Universität gegründet worden war.89 Die Anstöße zur Gründung des neuen Wirtschaftsinstituts gingen nicht nur von dem Wunsch aus, die Geschäftsverhältnisse zwischen den privaten Akteuren in Deutschland, dem Baltikum und Polen zu verbessern. Hier spielte auch der Kurswechsel der sowjetischen Wirtschaftspolitik, die seit dem Frühling 1921 eingeführte sog. Neue Ökonomische Politik, eine Rolle. Das sowjetische Wirtschaftssystem wich von dem Weltstandard deutlich ab. Mit der Einführung des Außenhandelsmonopols wurde die gesamte Handelstätigkeit einer zentralisierten Staatskontrolle unterstellt, und es bestand keine Möglichkeit mehr, auf privater Basis Kaufverträge zwischen Deutschland und Rußland abzuschließen. Alle Kaufverträge mußten ausschließlich von der sowjetischen Handelsvertretung übermittelt werden. In Deutschland wurde die sowjetische Handelsvertretung im Verfolg des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsabkommens vom 6. Mai 1921 zuerst in Berlin eröffnet.90 Im Herbst 1921 entstand in der Ukraine und Wolga eine beispiellose Hungersnot. Dies zwang die Sowjetregierung zur Getreideeinfuhr aus den Weststaaten, vor allem aus den USA. 89 Zur Gründung des IOWs siehe Friedrich Richter: Die Wirtschaftswissenschaften an der Universität zu Königsberg 1900–1945, in: Die Albertus-Universität zu Königsberg. Höhepunkt und Bedeutung. Vorträge aus Anlaß der 450. Wiederkehr ihrer Gründung, hg. v. Hans Rothe und Silke Spieler, Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen Bonn, Bonn 1996, S. 95–122 (hier S. 101 f.). Jürgen Kloosterhuis: „Friedliche Imperialisten“. Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kulturpolitik, 1906–1918, Frankfurt am Main 1994, S. 487 f. Von 1922 bis 1926 übernahm Fritz Karl Mann die Leitung des IOWs. Siehe hierzu Julia C. Ahrend: Fritz Karl Mann: Ein Pionier der Finanzsoziologie und der Theorie der Parafiski im Schnittfeld deutscher und amerikanischer Wissenschaftskultur, Marburg 2010, S. 28 f. 90 Vgl. H. Schneider (1973).
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Da das Sowjetsystem offensichtlich an die Grenze seiner Möglichkeiten geriet, erhoffte man sich im Westen von der ersten Krise des jungen kommunistischen Staates die Möglichkeit einer Rückkehr Rußlands zum Marktwirtschaftssystem und damit zum Welthandelssystem.91 In Königsberg hielt man deshalb es für besonders sinnvoll, sich den Wünschen der am Rußlandhandel interessierten deutschen Wirtschaft anzupassen und zu diesem Zwecke ein Informations- sowie Vermittlungszentrum einzurichten. Diese Anstöße führten letztlich zur Gründung des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten in Königsberg Anfang 1922.92 Auf Vorschlag des Meßamtes wurde das neue Institut mit Unterstützung des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, des Magistrats der Stadt Königsberg, der Handelskammer Königsberg sowie der Albertus-Universität als ein Nebenorgan des Meßamtes im Januar 1922 ins Leben gerufen. Es wurde am 1. März 1922 in das Vereinsregister eingetragen. Das Meßamt und das Wirtschaftsinstitut arbeiteten miteinander eng zusammen. Die Geschäftsführung des Wirtschaftsinstituts wurde zunächst dem Meßamt überlassen. Die Kosten, die für seine Gründung erforderlich waren, wurden auch anfänglich vom Meßamt getragen.93 Die auswärtigen Geschäftsstellen wurden normalerweise von beiden Organen gemeinsam eingerichtet, um auf diesem Wege sowohl die Reklamearbeit der Ostmesse als auch den Informationsdienst sowie die Geschäftsverhandlungen gleichzeitig zu führen. Der Zusammenschluß zwischen dem Wirtschaftsinstitut und dem Meßamt hatte jedoch die unklare Abgrenzung des Etats beider Organe zur Folge. Diese Problematik trat Ende der 20er Jahre in der Wirtschaftskrise offen zutage.94 Das Wirtschaftsinstitut legte stets großen Wert darauf, seine Auslandsfilialen zu erweitern und soweit wie möglich mehrere Auslandskorrespondenten anzuwerben. Sein Netz dehnte sich schnell auf die russischen Nachfolgestaaten und Skandinavien aus, wie Kowno, Warschau, Wilna, Riga, Reval, Helsinki, Leningrad, Moskau, Charkow usw.95 Die größte Auslandsvertre91 „Das Wirtschaftsinstitut für Rußland, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen“ in: OEM, 2. Jg. Heft 8, 15.1.1922. 92 Meßamt Königsberg Pr.: Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Randstaaten, Königsberg 1922, S. 2. 93 Ebd., S. 8. 94 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Frankenbach, 7.3.1930. Es wurde darauf hingewiesen: „Das Wirtschaftsinstitut sei noch aus den Zeiten seiner Gründung her mit der Deutschen Ostmesse, dem Magistrat in Königsberg, der Handelshof-GmbH usw. so verquickt gewesen, daß es einen selbständigen Etat nicht gehabt habe. Die nötigen Bedürfnisse seien vielmehr aus den Überschüssen der genannten Stellen gedeckt worden.“ 95 Walter Flach: Die Deutsche Ostmesse, Diss. Tübingen 1926. Vgl. Ders.: Die Deutsche Ostmesse. Ein Beitrag zur Entwicklung des Randmessenproblems, Königsberg Pr. und Berlin 1927.
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tung war die Zentralstelle in Moskau.96 Auf diese Weise wurden die Verbindungen zwischen dem Magistrat und den sowjetischen Behörden durch die Vermittlung des Wirtschaftsinstituts gestärkt. Die Organisation des Vorstandes des Instituts, die im ersten Geschäftsjahr 1922 / 23 noch vorläufigen Charakter hatte, wurde in der Folgezeit strukturell verändert. Prinzipiell wurde die Geschäftsführung des Wirtschaftsinstituts dem Meßamt unterstellt. In diesem Sinne leitete der Direktor der Ostmesse Erich Wiegand auch den Vorstand des Instituts. Dazu übernahmen Hans Westenberger und Alexis Markow (bzw. Aleksej Il’ic Markov, А. И. Марков) die Geschäftsführung.97 Zum Arbeitsausschuß gehörten Syndikus Alexander Berner (Handelskammer Königsberg), Oswald Haslinger (Inhaber der Reederei und des größten Reisebüros in Ostpreußen Robert Meyhoefer, Generalvertretung der Hamburg-Amerika-Linie in Königsberg), sowie Stadtrat Schaefer. Darüber hinaus bildeten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft den Verwaltungsrat des Wirtschaftsinstituts. Dazu zählten u. a. Oberpräsident Siehr, Oberbürgermeister Lohmeyer, der Rektor der Albertus-Universität Walter Kaufmann, der Präsident der Königsberger Handelskammer Kommerzienrat Felix Heumann, der Präsident der Landwirtschaftskammer Brandes, Oberpräsident a. D. von Batocki sowie der Berliner Rußlandexperte Otto Hoetzsch (Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas).98 Eine Geschäftsstelle in der Reichshauptstadt erwies sich als notwendig. Die Außenstelle des Königsberger Wirtschaftsinstituts sowie 96 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII. 1, Nr. 186, Bl. 163 ff., Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten, November 1929. 97 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Heft 1, Bericht der 1. ordentlichen Jahresversammlung des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten (Mai 1922 bis Mai 1923). Auf Wunsch des Meßamtes übernahm Otto Hoetzsch das Amt des Verwaltungsbeirats. Er äußerte Bedenken hinsichtlich der Persönlichkeit von A. I. Markow. Hoetzschs Darstellung zufolge habe Markow früher Markus geheißen und sei ein russischer Jude. Er habe früher bei der russischen Handelsagentur gearbeitet. Er sei bekannt als „überaus gerissener, geschickter, gewandter und zäher Kaufmann, der zu schwierigen Geschäften glänzend zu brauchen sei, dem aber der Ruf vorausgehe, daß er nicht charakterfest sei, vor allem alles tue was man von ihm verlange, er […] sei auch in dieser Hinsicht allen den Stellen in Rußland und Deutschland bekannt, die mit dem deutsch-russischen Handelsvertrag und mit den beiderseitigen Anleihen zu tun gehabt hätten.“ GStA PK I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Heft 1, Ostpreußische Vertretung (Frankenbach) an Herbst, 29.4.1922. A. I. Markow war auch schriftstellerisch tätig. 98 Zu Otto Hoetzsch siehe vor allem Gerd Voigt: Otto Hoetzsch 1876–1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers, Berlin 1978. Uwe Liszkowski: Osteuropaforschung und Politik. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken und Wirken von Otto Hoetzsch, Berlin 1988. Jutta Unser: „Osteuropa“. Biographie einer Zeitschrift, in: 50 Jahre Osteuropa. Osteuropa, 25. Jg. / Heft 8. / 9., 1975, S. 555–602.
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des Meßamts (Ostmesse) wurde zunächst in den Büroräumen der Ostpreußischen Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium (Regierungsrat Frankenbach) in Berlin untergebracht.99 Nach der erfolgreichen Geschäftstätigkeit in den ersten Jahren seiner Gründung erfuhr das Wirtschaftsinstitut im Jahr 1925 die erste grundlegende organisatorische Änderung. Wie zum Jahresanfang angekündigt, trat das Institut in diesem Jahr in eine ganz neue Phase.100 Schwerpunkt dieser Reform war die Umgestaltung des Instituts, dessen Verwaltungsrat noch einen provinziellen Charakter trug, zu einem überregionalen Organ entsprechend seiner überaus erweiterten Geschäftstätigkeit. Auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung vom 28. März 1925 in Königsberg faßte man den Beschluß, anstelle des bisherigen Verwaltungsrats ein Präsidium, das nicht nur aus Vertretern aus der Provinz, sondern auch aus den Spitzenvertretern der überregionalen Wirtschaftsverbände bestehen sollte, ins Leben zu rufen.101 Nach der neuen Satzung gliederte sich das Institut in folgende vier Organe: Präsidium, Arbeitsausschuß, Geschäftsführung, Mitgliederversammlung (§ 4 der Satzung). Das Präsidium sollte bei allen Fragen grundlegenden Charakters die letzte Entscheidung treffen. Das Amt des Vorsitzenden des Präsidiums sollte der jeweilige Oberbürgermeister der Stadt Königsberg übernehmen. War die Position des Oberbürgermeisters den anderen Mitgliedern des Verwaltungsrats bis dahin gleichgestellt gewesen, trat er nun an die Spitze des Präsidiums. Dadurch stand Hans Lohmeyer auch an der Spitze des Königsberger Ost-Handel-Komplexes, der aus Ostmesse, Wirtschaftsinstitut, Hafenbetriebsgesellschaft sowie Stadtbank bestand. Daneben sollte ein Repräsentant der mitteldeutschen Wirtschaft zum ersten stellvertretenden Vorsitzenden und ein Repräsentant der westdeutschen Wirtschaft zum zweiten stellvertretenden Vorsitzenden berufen werden. Allerdings wurde die Bestellung des geschäftsführenden Präsidiumsmitglieds, das in Königsberg sein Wohnsitz haben sollte, dem Oberbürgermeister anheimgestellt (§ 5). Unter dem Präsidium stand der Arbeitsausschuß, der damit beauftragt war, die Geschäftsführung zu beaufsichtigen und den Arbeitsplan, die Verwendung der Einnahmen sowie die Zusammensetzung des Präsidiums zu bestimmen. Der Arbeitsausschuß bestand aus mindestens vier Mitgliedern, und zwar aus zwei Vertretern der Stadtgemeinde Königsberg und zwei Vertretern der Industrie- und Handelskammer Königsberg. Auch in diesem Arbeitsausschuß nahm Lohmeyer eine beherrschende Stellung ein: Der Vorsitzende 99 GStA
PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 1, OPV an Oberpostdirektion, 26.5.1922. des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten e. V. Königsberg Pr.“, in: OEM, 5. Jg. / Nr. 7, 1.1.1925, S. 1 f. 101 „Offizielle Mitteilungen des Wirtschaftsinstituts“, in: OEM, 5. Jg / Nr. 12, 15.3. 1925, S. 1. Siehe auch: Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1925, S. 171 f. 100 „Ausbau
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des Ausschusses sollte der jeweilige Vorsitzende des Präsidiums sein, nämlich der jeweilige Oberbürgermeister (§ 6). Hingegen bestand die Aufgabe der Geschäftsführung darin, die Beschlüsse des Präsidiums, des Arbeitsausschusses sowie der Mitgliederversammlung umzusetzen. Die Geschäftsführung sollte außerdem durch den Arbeitsausschuß bestellt werden. Es versteht sich, daß der Oberbürgermeister hierbei auf die Personenauswahl der Geschäftsführung entscheidenden Einfluß ausüben konnte (§ 7).102 Allerdings erlitt Lohmeyer im Jahr 1929 nach schweren Kämpfen mit dem vom Reichsverband der Deutschen Industrie gegründeten Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft einen einschneidenden Machtverlust in seiner Stellung im Königsberger Wirtschaftsinstitut. Das Wirtschaftsinstitut erhielt seinen Hauptsitz in Königsberg beim Handelshof, wo auch das Meßamt sowie das neue Rathaus eingezogen waren. Seit seiner Gründung 1922 weitete sich die Arbeitstätigkeit des Wirtschaftsinstituts schnell aus. Es vermittelte nicht nur den Geschäftsverkehr der Privatfirmen, sondern auch in mehreren Angelegenheiten zwischen den deutschen und sowjetischen staatlichen Wirtschaftsinstanzen. Zur weiteren Entwicklung des Instituts war deshalb sein Ansehen als ein überregionales und öffentliches Organ von Bedeutung. Mit der Satzungsänderung vom März 1925 wurde versucht, das Präsidium in diese Richtung zu erweitern.103 Während der Verwaltungsrat in den Gründungsjahren, abgesehen von der Beteiligung von Otto Hoetzsch, auf ostpreußische Repräsentanten beschränkt war, nahmen nun die Spitzenvertreter der großen Wirtschaftsverbände eine wichtige Stellung ein. Dazu gehörten vor allem der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI), der Reichsverband des Deutschen Großhandels, die Großbanken (wie der Deutschen Bank, der Diskonto-Gesellschaft, der Sächsischen Staatsbank usw.) und die Handelskammern der mittel- und westdeutschen Großstädte. Zu nennen ist Hans Kraemer, der Vorsitzende des Deutsch-Russischen Ausschusses des RDI. Kraemer hatte als Spitzenvertreter der Papierindustrie bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine unübersehbare Rolle in der deutschen Wirtschaftspolitik gespielt. Im Jahr 1928 wurde er bei der Gründung des Rußlandausschusses der Deutschen Wirtschaft, der aus dem bisherigen Deutsch-Russischen Ausschuß des RDI hervorging, zu dessen Vorsitzenden ernannt. Der Rußlandausschuß hatte den Zweck, alle am Rußlandgeschäft beteiligten Wirtschaftskreise Deutschlands zusammenzuschließen. Anfang der 30er Jahre übernahm Kraemer das Amt der Stellvertretenden Vorsitzenden des RDI.104 Neben der Teilnahme der 102 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2078, Bl. 34 ff., Satzung des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten e. V. Königsberg Pr. 103 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1925, S. 171 f. 104 Über Hans Kraemer siehe Perrey (1985), S. 91.
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Spitzenvertreter der Wirtschaft wurde die Rückendeckung des Staates durch die Mitgliedschaft der sich für die Ostfrage interessierenden Beamten, Politiker sowie Wissenschaftler verstärkt. Zu nennen sind vor allem der Reichskanzler bei Abschluß des Rapallo-Vertrags, Joseph Wirth, Reichsminister a. D. Hans von Raumer, der Ostpreußische Vertreter, Friedrich-Wilhelm Frankenbach, sowie die beiden Spitzen der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas Berlin, Hoetzsch und Schmidt-Ott.105 Die Umgestaltung des Präsidiums des Wirtschaftsinstituts ließ die Strategie Lohmeyers, alle Wirtschaftskräfte, die sich gen Osten orientierten, nach Königsberg 105 Das Präsidium des Wirtschaftsinstituts (im Stand von 1928): Vorsitzender Hans Lohmeyer (Oberbürgermeister Königsberg), Stellv. Vorsitzender Hans Kraemer (Mitglied des Reichswirtschaftsrats, Präsidialmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und Vorsitzender des Deutsch-Russischen Ausschusses Berlin), Geschäftsführendes Mitglied Erich Wiegand (Konsul und Messedirektor Königsberg), Heinrich Arnhold (Mitinhaber des Bankhauses Gebr. Arnhold Dresden), BatockiBledau (Oberpräsident der Provinz Ostpreußen a. D., Vorsitzender des Verwaltungsrats der Vereinigung für ostdeutsche Wirtschaft Königsberg), Oberregierungsrat Becker, Berlin, Geschäftsführer der DIVO, Stadtrat Dr. Alexander Berner (Syndikus der IHK Königsberg), Direktor Alfred Blinzig (Vorstandsmitglied der Deutschen Bank Berlin), Direktor Paul Bonn (Direktor der Deutschen Bank Berlin), Generaldirektor Walter Borbet (Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation Bochum), F. Dangel (Direktor der Stadtbank Königsberg), Degenhardt (Präsident der Sächsischen Staatsbank Dresden), Geh. Justizrat Wilhelm Dietrich (MdR Berlin), Ministerialrat Friedrich-Wilhelm Frankenbach (Ostpreußischer Vertreter beim Reichs- und Staatsministerium), Oskar Funcke i. F. (Funke & Hueck, Hagen), Kommerzienrat Felix Heumann (Präsident der IHK Königsberg), Prof. Otto Hoetzsch (MdR, Geschäftsführender Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas Berlin), Generaldirektor Jucho (Präsident der IHK Dortmund), Graf von Kalckreuth Berlin, Reichstagsabgeordneter Otto Keinath (Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Reichsverbandes des Deutschen Großhandels Berlin), Geheimrat Klein (i. Fa. Klein, Schanzlin & Becker AG. Frankenthal / Pfalz), Heinrich Koppers (Essen-Ruhr), Eugen Laaser (Präsident der IHK Tilsit), Stadtkämmerer Lehmann (Magistrat Königsberg), Stadtrat Lohmann (Königsberg), Stephan Luther (Direktor der Mühlenbauanstalt und Maschinenfabrik vorm. Gebr. Seck, Dresden), Johannes März (Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller Dresden), Prof. Fritz Karl Mann (Universität Köln), Ottomar Heinsius von Meyenburg (Inhaber der Leo-Werke Dresden), Pöppelmann (Generaldirektor der Vereinigten Fabriken landwirtschaftlicher Maschinen vorm. Eppele & Buxbaum Augusburg), Prof. Preyer (MdR, Königsberg), Reichsminister a. D. von Raumer (MdR Berlin), Rechlin (Syndikus der IHK Essen-Ruhr), Generaldirektor Reuter (Demag Dusiburg), C. Roth (Generaldirektor der Firma F. Schichau Elbing), Arthur Salomonsohn (Geschäftsinhaber der DiskontoGesellschaft Berlin), Stadtrat Martin Schaefer (Fabrikbesitzer Königsberg), Staats minister Schmidt-Ott (Präsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wis senschaft und der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, Berlin), Geh. Hofrat und Kommerzienrat Verlagsbuchhändler Siegismund Berlin, Geh. Regierungsrat Prof. Otto Schreiber (Direktor des Instituts für Luftrecht, Königsberg), Reichskanzler a. D. Joseph Wirth (MdR Berlin). GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2078, Bl. 28 f.
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heranzuziehen und hier ein Osthandelzentrum zu schaffen, deutlich erkennen. Auf der außerordentlichen Versammlung vom 28. März 1925 wurde neben der Umgestaltung des Präsidiums die wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft zwischen dem Königsberger Wirtschaftsinstitut und der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas e. V. Berlin anerkannt, um so die Zersplitterung der Ostforschungsarbeit sowie die doppelte Ausgabe der Forschungsgelder zu vermeiden. Zu diesem Zweck wurde noch im gleichen Jahr eine gemeinsame Geschäftsstelle beider Organe in der Berliner Friedrichstraße eingerichtet. Die Berliner Geschäftsstelle des Wirtschaftsinstituts wurde seitdem durch den Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, Hans Jonas, geleitet.106 Nachdem Erich Wiegand infolge der schweren Auseinandersetzung mit dem vom Reichsverband der Deutschen Industrie einberufenen Rußlandausschuß Ende 1930 das Königsberger Meßamt und Institut verlassen hatte, übernahm Jonas als sein Nachfolger die Stelle des Generaldirektors der Ostmesse sowie des Königsberger Wirtschaftsinstituts.107 Der Arbeitsgemeinschaftsvertrag mit dem Wirtschaftsinstitut kam besonders der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas zugute. Die Gründung der Zeitschrift „Osteuropa“, die über zehn Jahre von der Deutschen Gesellschaft, vor allem von Hoetzsch geplant worden war, ließ sich erst durch diese Arbeitsgemeinschaft mit dem Königsberger Ostmessekomplex realisieren, indem die Finanzierungsprobleme durch die Übernahme des Drucks durch den Königsberger Osteuropa-Verlag, der gerade aus dem Meßamt verselbständigt wurde, sowie durch die finanzielle Unterstützung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und des Auswärtigen Amts gelöst wurden.108 Die Geschäftstätigkeit in Moskau wurde im Jahr 1925 außerordentlich erweitert, indem das Königsberger Wirtschaftsinstitut auf Grund des Beschlusses des Moskauer Hauptkonzessionskomitees vom 21. Mai 1925 registriert wurde und das Recht erhielt, seine eigene Vertretung zu unterhalten.109 Im Rahmen der Reklame- und Informationsdienste der Ostmesse wurde die Zeitschrift „Der Ost-Europa-Markt“ (OEM) seit Oktober 1920 zweimal monatlich in zwei Sprachen (deutsch und russisch) von der Verlagabteilung des Meßamts veröffentlicht. Neben dem verantwortlichen Herausgeber, Messedirektor Erich Wiegand, beteiligten sich Hans Westenberger (der Geschäftsführer des Wirtschaftsinstituts) und Carl Claus von der Decken, 106 „Offizielle Mitteilungen des Wirtschaftsinstituts“, OEM, 5. Jg / Nr. 12, 15.3. 1925, S. 1. 107 „Wechsel in der Leitung der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 11. Jg / Nr. 7, 1.1.1931, S. 99. 108 Unser (1975), S. 555–602 (hier S. 556). Liszkowski (1988), S. 513. 109 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1925, S. 172.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
der in der Ukraine geboren und bis zur Ermordung von Mirbach als Pressechef der deutschen Botschaft in Petrograd beschäftigt war, als Chefredakteure an dieser Arbeit.110 Daneben waren für die Schriftleitung der deutschen Ausgabe Franz Steiner und für die der russischen Ausgabe A. I. Markow (der Geschäftsführende des Wirtschaftsinstituts) verantwortlich. Nach der Gründung des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten von 1922 wurde diesem die Herausgabe der Zeitschrift „Der Ost-Europa-Markt“ überlassen. Die Strategie Königsbergs kam deutlich darin zum Vorschein, daß prinzipiell zwei- oder mehrsprachige Mitarbeiter als Redakteure angestellt wurden. Auf Grund ihres Inhalts gewann die Zeitschrift ein großes Vertrauen unter den Unternehmern, die genaue Informationen über die rechtlichen, wirtschaftlichen und verkehrlichen Verhältnisse des Osthandels benötigten. Mit diesem Erfolg erlangten das Königsberger Institut und seine Zeitschrift alsbald einen beträchtlichen Vorsprung vor ihren Berliner und Breslauer Konkurrenten. Nicht zuletzt gelang es den Königsbergern, auf Grund eines Geschäftsvertrags die geschäftliche Vertretung der sowjetischen Wirtschaftszeitung „Ekonomitscheskaja Shisn“ in Deutschland zu übernehmen.111 Das Reichswirtschaftsministerium schätzte die Tätigkeit und den Informationsdienst des Königsberger Instituts recht hoch ein und äußerte im Juni 1922 den Wunsch, daß das Institut seine Mitarbeiter nötigenfalls der Reichsregierung zur Verfügung stellen möge.112 Hierzu faßte man die kommenden Handelsvertragsverhandlungen mit Rußland und den Oststaaten ins Auge. In diesem Sinne bat das Reichswirtschaftsministerium zu Beginn der Vorbereitungen der deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen das Königsberger Wirtschaftsinstitut sowie das Osteuropa-Institut in Breslau um ihre Unterstützung.113 Allerdings rief der schnelle Aufstieg des Königsberger Wirtschaftsinstituts scharfe Kritik seiner Konkurrenten hervor, die ihm die Monopolisie110 Carl Claus von der Decken (1873–1928) arbeitete vor dem Ersten Weltkrieg für die „St. Petersburger Zeitung“ und die „Libauische Zeitung“. Nach der Russischen Revolution kehrte seine Familie nach Deutschland zurück. Neben dem Dienst bei der deutschen Botschaft in Moskau vertrat er als erster Generalbevollmächtigter das Wolffsche Telegraphen-Büro in Sowjetrußland. Nach der Ermordung Mirbachs 1918 kam er nach Deutschland. Um seiner versprengten Familie ein Heim zu schaffen, übernahm er die Hauptschriftleitung des „Ostpreußischen Tageblatts“ in Insterburg. Er wurde alsdann 1923 zur Arbeit der Königsberger Ostmesse berufen. „Carl Claus von der Decken“ in: Der Ost-Europa-Markt, 8. Jg. Nr. 18, 15.1.1928. 111 BA, R 3101 / 8133, Abschrift, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Randstaaten an RWiM, 30.5.1922. 112 BA, R 3101 / 8133, Abschrift, RWiM an Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Randstaaten, 15.8.1922. 113 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2081, Bl. 18 ff., OPV (Hoffmann) an OPO, 14.8.1922.
II. Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts nach dem Ersten Weltkrieg571
rung des Osteuropainformationsdiensts vorwarfen.114 Diese Ansicht teilten sowohl die Berliner Verleger der einschlägigen Fachzeitschriften als auch das Osteuropa-Institut in Breslau.115 Sie war allerdings nur schwer zu rechtfertigen. Bei der Gründung des Breslauer Instituts hatte man in seiner Denkschrift von 1918 als Auslöser angegeben, die Osteuropaforschungsstätten zu dezentralisieren und die Arbeitsverteilung der beiden östlichen Universitäten Preußens nach geographischen Interessen vorzunehmen: der Universität Breslau den Südosteuroparaum und der Universität Königsberg den Nordosteuroparaum anheimzustellen. Danach sollte sich die Breslauer Forschungstätigkeit in erster Linie auf Polen, die gesamten Balkanstaaten und Südrußland erstrecken. Hingegen sollte Königsberg die Forschung über Nordpolen, Zentral- und Nordrußland, die Ostseestaaten, Memel übernehmen. An dieser Aufgabenverteilung hielten in der Folgezeit die drei Königsberger Osteuropaforschungsinstitute (Institut für Rußlandkunde, Institut für ostdeutsche Wirtschaft, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten) fest. Die Verlagsabteilung des Meßamts wurde Anfang 1925 anläßlich der Umgestaltung des Wirtschaftsinstituts als „Ost-Europa-Verlag GmbH Königsberg Pr.“ verselbständigt.116 Alle Veröffentlichungen des Meßamts und des Wirtschaftsinstituts wurden durch diesen Verlag übernommen, der außer Königsberg noch in Berlin und Danzig Geschäftsstellen unterhielt. Der Betrieb des Wirtschaftsinstituts wurde prinzipiell durch die Mitgliederbeiträge finanziert. In diesem Sinne zählte es auch zu einer wichtigen Aufgabe des Instituts, neue Mitglieder, normalerweise Wirtschaftsverbände sowie private Geschäftsleute, zu werben. Der Erlös seiner Veröffentlichungen, wie „Der Ost-Europa-Markt (OEM)“, „Eil-Dienst-Osteuropa (EDO)“,117 „Восточно-Европейский Земледелец / Osteuropäische Landwirtschaftszeitung“, „Германская Техника / Zeitschrift der deutschen Technik“ usw. bildete ebenfalls einen wichtigen Anteil am Haushalt des Instituts. Außerdem wurden diese Zeitschriften (außer dem EDO) auch in russischer Sprache 114 BA, R 3101 / 2840-1, Aktionsausschuß zum Ausbau des Ostnachrichtenwesens Dr. Voss, 19.1.1925. 115 BA, R 3101 / 2840-1, Abschrift, Osteuropa-Institut Breslau an Ostweltverlag, 12.3.1925. 116 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1925, S. 170. 117 Der EDO wurde 1925 als Nachfolger des 1924 eingestellten „Vertraulichen Kaufmännischen Nachrichtendienstes“ gegründet. Das Wirtschaftsinstitut brachte unmittelbar nach dem Berliner Polizeiüberfall auf die sowjetische Handelsvertretung vom 3. Mai 1924 einen Artikel, der die Haltung der Sowjetregierung in der Frage der Exterritorialität ausdrücklich unterstützte. Darüber war das Auswärtige Amt außerordentlich empört. Folglich wurde der Vertrauliche Kaufmännische Nachrichtendienst zur Einstellung gezwungen.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
veröffentlicht und hatten über 60.000 Abonnenten in der UdSSR. Dennoch reichte der Erlös der Veröffentlichungen nicht aus, die Geschäftstätigkeit des Instituts mit seinen zahlreichen Geschäftsreisen in die UdSSR sowie dem Erwerb der sowjetischen Konzessionen zu gewährleisten. Zu den wichtigen Stiftern in der Zeit bis 1927 zählten vor allem die Stadt Königsberg, das Meßamt und die Handelskammer Königsberg. Die Finanzierungsfrage sowie die Auseinandersetzung zwischen dem Königsberger Institut und dem Reichsverband der Deutschen Industrie (vor allem dessen Rußlandausschuß) um die Rationalisierung und Zentralisierung des deutschen Rußlandgeschäfts Ende der 20er Jahre sind in Kapitel VI eingehend zu untersuchen.
Kapitel III
Die Wünsche Königsbergs und die Eisenbahnfrage (1922–24) 1. Die Bildung der sechs Kommissionen zur Ausgestaltung von Rapallo Mit dem Abschluß des Rapallo-Vertrags am 16. April 1922 machten Deutschland und Rußland einen bedeutenden Schritt nach vorn. Der Vertrag stellte die erste Anerkennung der Unabhängigkeit und Gleichheit beider Staaten seit der Annullierung des Brest-Litowsker Vertrags dar. Er legte zwar die gegenseitige Meistbegünstigung und den Verzicht auf die Entschädigung der Kriegsschäden fest, zur Abwicklung des Wirtschaftsverkehrs war aber dennoch eine weitere Regelung erforderlich. So nahm das Auswärtige Amt bereits im Sommer 1922 Vorbereitungen für neue Wirtschaftsverhandlungen mit Sowjetrußland in Angriff. Diese Verhandlungen, die letztlich am 12. Oktober 1925 zum Abschluß eines Handelsvertrags führten, liefen unter der Bezeichnung „Ausgestaltung von Rapallo“. Zur Anhörung der Wünsche der deutschen Behörden und Wirtschaftsverbände berief das Auswärtige Amt eine Sitzung am 14. August 1922 in Berlin ein. Neben den Vertretern der Zentralbehörden wurden zwei Vertreter des ostpreußischen Oberpräsidenten eingeladen.1 Nur zwei Tage zuvor hatte das Reichskabinett den Beschluß gefaßt, die Leitsätze des Ostpreußenprogramms anzuerkennen,2 in denen der Oberpräsident die Erweiterung seiner Befugnisse auf die auswärtige Angelegenheiten Ostpreußens und die Förderung des Königsberger Rußlandgeschäfts beantragt hatte, um auf diesem Wege die Notlage Ostpreußens zu überwinden. In der Sitzung schlug der Vorsitzende Erich Wallroth, Leiter der Abteilung IV des Auswärtigen Amts, die Bildung von fünf Kommissionen vor, die mit der Ausarbeitung der Vertragsentwürfe sowie den Verhandlungen 1 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 114, AA, 17.8.1922. Regierungsrat Hoffmann sowie Regierungsassessor Narten als Stellvertretung von Friedrich Wilhelm Frankenbach. 2 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067, Denkschrift, OPO, 18.4.1922. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, vol. 2, Abschrift, RMdI, 12.8.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 19384, Abschrift, RMdI, 12.8.1922.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
mit der sowjetischen Seite beauftragt werden sollten. Nach diesem Vorschlag Wallroths sollte die Arbeitsverteilung der Kommissionen in folgender Weise erfolgen: die Kommission I für Staatsverträge und Konsularkonventionen; die Kommission II für Wiederherstellung der Privatrechte; die Kommission III für Handelsschiffe; die Kommission IV für Wirtschaftsfragen. Das gesamte Verkehrswesen (Eisenbahnen, Seeschiffahrt sowie Binnenwasserstraße, evtl. Luftverkehr) sollte einheitlich der Kommission V überlassen werden.3 Die Kommission V war außerdem unter der Federführung des Reichswirtschaftsministeriums durch je einen Vertreter aus dem Reichswirtschaftsministerium, dem Auswärtigen Amt, dem Reichsverkehrsministerium sowie der Marineleitung zusammenzustellen. Gegen diese Gliederung der Kommission wurden von verschiedenen Seiten Einwände erhoben. Nach dem ursprünglichen Vorhaben des Auswärtigen Amts war die Möglichkeit der Teilnahme der Landesregierungen an der Ausarbeitung der Verhandlungsmaterien, d. h. die Beteiligung der Landesbehörden an den Kommissionen, stark eingeschränkt. Mit Ausnahme der Kommission IV, in der dem Preußischen Handelsministerium ein Sitz eingeräumt wurde, war den Ländern prinzipiell keine unmittelbare Teilnahme an den Kommissionen eingeräumt worden. Das preußische Handelsministerium, das nach der Auflösung des preußischen Ministeriums für öffentliche Arbeiten 1921 für die Verkehrsangelegenheiten Preußens zuständig war, hielt die Ausschaltung des preußischen Handelsministeriums aus der Kommission V für unzulässig. Bei der Wiederherstellung der Eisenbahnregelung zwischen Deutschland und Rußland sollten zuerst die Interessen der preußischen Ostprovinzen, die früher gemeinsame Grenzen mit Rußland hatten, in Erwägung gezogen werden. Vor allem die Königsberger Wirtschaftskreise waren bestrebt, ihr Kernanliegen, die Wiederherstellung des Schlußprotokolls zu Artikel 19 des alten deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894, als Kardinalfrage in die kommenden Handelsvertragsverhandlungen mit der Sowjetregierung einzubringen. Die Teilnahme Preußens an der Kommission V schien deshalb unerläßlich, weil nur so die Wahrnehmung preußischer Interessen in den Eisenbahnverhandlungen zu gewährleisten war. Neben dem Handelsministerium beantragte auch der Oberpräsident, dem Ostpreußischen Vertreter einen Sitz in der Kommission V zu überlassen.4 Der Vertreter des Oberpräsidenten, Hoffmann, der als Stellvertreter des beurlaubten Ostpreußischen Vertreters, Frankenbach, an der Sitzung teilnahm,5 unterrichtete das Auswärtige Amt mit besonderem Nachdruck über die Wünsche Ostpreußens nach Wie3 GStA
PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2081, OPV an OPO, 14.8.1922. PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2081, OPV an OPO, 16.8.1922. 5 Frankenbach mußte der Bestattung seines Vaters beiwohnen. BA, R 1501 PA, Nr. 6372 (F. W. Frankenbach). 4 GStA
III. Die Wünsche Königsbergs und die Eisenbahnfrage (1922–24)575
derherstellung der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen sowie nach der Erleichterung der Holzlieferung aus Rußland. Obwohl die Unterbreitung der ostpreußischen Wünsche ihre Wirkung nicht verfehlte, sollte man aber alsbald erfahren, wie schwierig es war, die regionale Vertretung unmittelbar zur Kommission V zu entsenden. Selbst die Aufnahme des preußischen Handelsministeriums in die Kommission V war zwischen den Reichsministerien umstritten. Unter diesen Umständen hielt es der Oberpräsident für angezeigt, seinen Wunsch zurückzuziehen und zunächst die Bestrebungen des preußischen Handelsministeriums zu unterstützen, damit Preußen wenigstens einen Interessenvertreter in die Kommission V entsenden könnte.6 Davon abgesehen erhob auch das Reichsverkehrsministerium Einwände gegen die von Wallroth geplante Gliederung der Kommission. Es schlug vor, deren Aufgaben auf zwei Kommissionen zu verteilen. Das Ministerium beanspruchte für sich außerdem den Kommissionsvorsitz hinsichtlich der Eisenbahn- sowie Binnenschiffahrtsangelegenheiten.7 Mit diesem Vorstoß gelang es letztlich dem Preußischen Handelsministerium sowie dem Reichsverkehrsministerium, die Kommis sion V völlig umzugestalten. Bei der zweiten Besprechung des Auswärtigen Amts vom 26. August 1922 einigte man sich auf die Arbeitsverteilung zwischen den Kommissionen V und VI. Dabei wurde dem Preußischen Handelsministerium je ein Sitz in beiden Kommissionen eingeräumt. Die Kommission V für den Eisenbahn- und Binnenschiffahrtsverkehr bestand unter dem Vorsitz des Reichsverkehrsministeriums aus je einem Vertreter des Reichsverkehrsministeriums, des Auswärtigen Amts, des Reichswirtschaftsministeriums sowie des Preußischen Handelsministeriums. Die Kommission VI für Seeschiff- und Küstenschiffahrtsverkehr bestand unter dem Vorsitz des Reichswirtschaftsministeriums aus je einem Vertreter des Reichswirtschaftsministeriums, des Reichsverkehrsministeriums, des Auswärtigen Amts, der Marineleitung, sowie des preußischen Handelsministe riums.8 In dieser Form kamen die sechs deutschen Kommissionen zu den bevorstehenden Wirtschaftsverhandlungen mit Rußland zustande.9 6 GStA
PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2081, OPV an OPO, 14.8.1922. PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7710, Bl. 161–171, AA, 17.8.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 114, AA, 17.8.1922. 8 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7710, AA, 2.9.1922. In der Besprechung am 26.8.1922 wurde jedoch für die Eisenbahn- und Wasserstraßenfrage die Kommis sion VI bestimmt, hingegen für den Seeschiffsverkehr die Kommission V. Später wurde die Nummernfolge umgekehrt. BA, R 5 / 241, RWiM, Sitzung der Kommis sion VI, 23.11.1922. BA, R 3101 / 8109, Abschrift, AA, 14.11.1922. 9 G. Rosenfeld und H. Schneider sprechen von der Bildung von fünf deutschen Kommissionen, tatsächlich aber waren es schließlich sechs. Vgl. Rosenfeld, Bd. II (1984), S. 92. Schneider (1973), S. 96. 7 GStA
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Die Entstehungsgeschichte der deutschen Kommissionen zur Ausgestaltung von Rapallo ließ erkennen, wie schwierig es war, die regionalen Interessen in den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen wahrzunehmen. Die Möglichkeit, unmittelbar Vertreter der regionalen Instanzen in die Delegation sowie Kommissionen zu entsenden, war stark eingeschränkt. Im Vergleich mit den deutsch-litauischen Verhandlungen, bei denen dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, die eine gemeinsame Grenze mit Litauen hatte, großer Handlungsspielraum eingeräumt wurde, trat dadurch der unterschiedliche Charakter der Verhandlungen mit Rußland deutlich zutage. 2. Die Wünsche Deutschlands zur Eisenbahnregelung Vor den Wirtschaftsverhandlungen mit Lettland machte das Reichsverkehrsministerium das Auswärtige Amt auf die Notwendigkeit aufmerksam, die lettische Regierung zur Wiederaufnahme der Bestimmungen des alten deutsch-russischen Handelsvertrags zu veranlassen. Zu diesem Zwecke sollte zuerst mit den Sowjets eine Verständigung herbeigeführt werden. In einer Besprechung in Riga versuchte Geheimrat Scholz (RVM) den russischen diplomatischen Vertreter Hanecki von den Vorzügen eines gemeinsamen Vorgehens Deutschlands und Rußlands gegenüber Polen und den baltischen Staaten in der Frage des Transitverkehrs zu überzeugen. Hanecki sicherte die Übermittelung der deutschen Wünsche an Moskau zu.10 Bei den deutsch-lettischen Wirtschaftsverhandlungen von 1922 beantragte die deutsche Delegation im Einvernehmen mit Moskau die Wiedereinführung durchgehender Transittarife sowie der Gleichstellung der Ostseehäfen, was allerdings nicht die Zustimmung Lettlands fand.11 Das deutsch-sowjetische Einvernehmen über den Transitverkehr durch Polen und das Baltikum war somit prinzipiell bereits vor Abschluß des Rapallo-Vertrags erzielt. Seit Dezember 1921 fanden zwischen Berlin und Moskau mehrere Wirtschaftsbesprechungen statt,12 die schließlich zum Abschluß des Rapallo-Vertrags vom April 1922 führten. Im Hinblick auf die bevorstehenden Transitverhandlungen zwischen Sowjetrußland und Polen versuchte das Auswärtige Amt, zuerst mit den Sowjets zu einer Einigung über die Wiederaufnahme 10 PA AA, R 31566, RVM (Scholz) an AA, 1.8.1921. PA AA, R 31566, RVM an AA, 14.11.1921. 11 PA AA, R 94551, RVM an AA, 15.4.1922. Abschrift, Wünsche für den Eisenbahnverkehr an den russischen Gesandten, Hanecki in Riga. Hanecki wurde später zum Leiter der sowjetischen Delegation für die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen. Siehe auch PA AA, R 31566, RVM an AA, 14.11.1921. 12 Horst Günther Linke: Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo, Köln 1970. Siehe auch Ernst Laubach: Die Politik der Kabinette Wirth 1921 / 22, Lübeck und Hamburg 1968.
III. Die Wünsche Königsbergs und die Eisenbahnfrage (1922–24)577
des deutsch-sowjetischen Transitverkehrs durch Polen zu kommen. Bei der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbesprechung vom Dezember 1921 äußerte Karl Radek seine Ansicht, daß die Sowjetregierung die Ausnutzung ihrer Rechte aus dem Versailler Vertrag gegen Deutschland unbedingt vermeiden wolle. Diese Haltung Moskaus stand mit dem Wunsch Berlins im Einklang, insbesondere in der Frage der sog. russischen Klausel (Artikel 116 und 117: Reparationsanspruch) sowie der verkehrrechtlichen Imparität des Versailler Vertrags. Mit Rücksicht auf die Polenfrage empfahl Radek den deutschen Vertretern, eine schriftliche Zusammenstellung der deutschen Anträge in Moskau einzureichen, damit sie bei den kommenden polnisch-sowjetischen Transitverhandlungen berücksichtigt werden konnten. Dabei wies er nachdrücklich darauf hin, daß die Sowjetregierung in der Lage sei, die deutschen Wünsche Polen gegenüber durchzusetzen.13 Umgehend übersandte das Auswärtige Amt die vom Reichsverkehrsministerium ausgearbeiteten deutschen Anträge. Darin legte man allergrößten Wert darauf, direkte Tarife, insbesondere durchgehende Staffeltarife von den russischen Verladestationen bis zum Hafen Königsberg auf Basis des Schlußprotokolls zu Artikel 19 des alten deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 wiederherzustellen, was auf die Wünsche der Königsberger Handelskammer zurückging.14 Hinsichtlich der Transitfreiheit durch Polen hielt Berlin es für angebracht, den deutsch-polnisch-sowjetischen Verkehr dem Barcelona-Transitabkommen zu unterwerfen.15 Die Vorbereitungen für die neuen Wirtschaftsverhandlungen mit Rußland, zu denen der Abschluß des Rapallo-Vertrags am 16. April 1922 Anlaß gab, wurden auf deutscher Seite zwar mit der Bildung der Kommissionen im Spätsommer 1922 in Angriff genommen. Die Verhandlungsaufnahme wurde aber auf Ende Juni 1923 verschoben. Unmittelbar nach der Eröffnung der Königsberger Landwirtschaftsmesse traten die beiden Delegationen in Berlin in die Verhandlungen ein. Sowohl in Berlin als auch in Moskau setzte man Hoffnungen auf die Königsberger Initiative als Träger der wirtschaft lichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der UdSSR.16 Nach der über acht Monate langen, gründlichen Vorbereitung bestand zwischen beiden Parteien Einigkeit darüber, die Wirtschaftsverhandlungen mit der Unterzeichnung eines Handelsvertrags abzuschließen. In Deutschland waren 13 PA
AA, R 94551, Telegramm aus Moskau (Schmidt-Rölke) an AA, 31.1.1921. AA, R 94551, RVM an AA (Strube), 6.1.1922. Vgl. auch PA AA, R 31566, Abschrift, RVM an Reichskanzler, Aufzeichnung über das Schlußprotokoll zu Artikel 19, 3.8.1921. 15 PA AA, R 94551, AA an Deutsche Vertretung Moskau, 5.1.1922. 16 „Die Landwirtschaftsausstellung der Deutschen Ostmesse. Reichskanzler Cuno über die Bedeutung der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 19, 1.7.1923, S. 1 ff. 14 PA
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
zwischenzeitlich einige personelle Veränderungen eingetreten. Zum einen übernahm Paul v. Koerner, der 72jährige Geheimrat beim Auswärtigen Amt, die Leitung der deutschen Delegation, da der bisherige Leiter Wallroth, der den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverkehr weitaus skeptischer betrachtete, die Übernahme der Delegationsleitung zurückwies. Zum anderen trat Graf Brockdorff-Rantzau im November 1922 den Moskauer Botschafterposten an.17 Die schwere Auseinandersetzung zwischen General v. Seeckt und Brockdorff-Rantzau um den Moskauer Posten wurde durch Reichspräsident Ebert beigelegt. Auf dessen Wunsch hin räumte Ebert außerdem dem neuen Botschafter ein besonderes Immediatrecht ein, indem der ehemalige Außenminister nicht dem jeweiligen Außenminister, sondern unmittelbar dem Reichspräsidenten sowie dem Reichskanzler unterstehen sollte. Dies hatte unvermeidlich Verstimmungen zwischen dem Berliner Auswärtigen Amt und der Moskauer Botschaft, vor allem in der Ära Stresemann, zur Folge. In Moskau verfolgte Brockdorff-Rantzau in seiner Sonderstellung das Ziel, die Stellung Deutschlands gegen die Versailler Siegermächte durch die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu stärken.18 Die erste Sitzung der deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen wurde am 26. Juni 1923 in Berlin von den Delegationsleitern Geheimrat v. Koerner sowie Bratman-Brodovskij eröffnet. Die Verhandlungen wurden, mit einer achtwöchigen Sommerpause, bis zum Ausbruch des Berliner Zwischenfalls vom 3. Mai 1924 kontinuierlich fortgesetzt. In dieser ersten Phase der deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen bis zur Unterbrechung vom Mai 1924 kamen zwar einige rechtliche Fragen, wie z. B. das Niederlassungsrecht, zur Erörterung. Dennoch wurden im Kernbereich des Handelsvertrags, der Regelung der Wirtschafts- und Verkehrsangelegenheiten, keine nennenswerte Ergebnisse erzielt. Die Aufnahme der Eisenbahnund Binnenschiffahrtsverhandlungen brachte besondere Schwierigkeiten mit sich, weil ihre Regelung weitgehend von der Haltung der Transitstaaten abhing. Da Deutschland keine gemeinsame Landesgrenze mit Rußland mehr besaß, mußte zuerst der Verkehr zwischen Deutschland und den Grenznachbarstaaten geregelt werden. In diesem Sinne versuchten das Reichsverkehrsministerium sowie das Auswärtige Amt, die Voraussetzungen für die Öffnung des direkten Verkehrs zwischen Deutschland und Rußland durch Handelsund Verkehrsverhandlungen mit den baltischen Staaten und Polen zu schaffen. Dies benötigte freilich ein einheitliches Vorgehen Deutschlands und Rußlands, um so auf die Pufferstaaten intensiv einzuwirken.19 17 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 14 / 1, Brockdorff-Rantzau an Maltzan, 17.11. 1922. 18 Helbig (1958), S. 102 ff. 19 BA, R 3101 / 7421, RWiM, 17.3.1923.
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Die Arbeitsaufgaben der Kommission V zur Ausgestaltung von Rapallo wurden unter dem Vorsitz des Reichsverkehrsministeriums auf zwei weitere Gruppen verteilt. Die Leitung der Binnenschiffahrtsfragen übernahm die Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums, während die Eisenbahnabteilung des Reichsverkehrsministeriums mit der Leitung der Bahnverhandlungen beauftragt wurde. An deren Spitze standen Ministerialrat Niemack und Geheimrat Scholz, der nicht nur bei den russischen Angelegenheiten, sondern auch bei den Eisenbahnverhandlungen mit Litauen und Polen eine wichtige Rolle spielte. Im Herbst 1922 wurde die Vorbereitung der kommenden Verhandlungen mit Rußland sowohl von der Eisenbahnabteilung als auch von der Wasserstraßenabteilung in Angriff genommen. Am 20. November 1922 fand im Reichsverkehrsministerium die erste Besprechung der Kommission V (Eisenbahnfrage) zur Präzisierung der deutschen Wünsche statt.20 Im Mittelpunkt stand die Regelung folgender zwei Angelegenheiten, die sich unmittelbar auf die Problematik der vertraulichen Noten des Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 bezogen: 1. Die Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel: Das Reichsverkehrsministerium hielt es für unerläßlich, nicht nur die Meistbegünstigung, sondern 20 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Ergebnisse der Besprechung über den in den Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen Deutschland und Rußland aufzunehmenden Eisenbahnbestimmungen vom 20.11.1922. BA, R 3101 / 7421, RWiM, 17.3.1923. Zusammenfassend gliederten sich die Leitsätze Deutschlands über die Eisenbahnverhandlungen mit Rußland, die Ende 1922 von der Kommission V aufgestellt wurden, in folgende acht Punkte: 1. Es solle der Beitritt der UdSSR zum internationalen Übereinkommen des Frachtverkehrs, vor allem zum alten Berner Internationalen Übereinkommen, gefordert werden. 2. Erwünscht sei der Beitritt der UdSSR zum internationalen Übereinkommen über die Freiheit des Transitverkehrs (Barcelona Abkommen). 3. Als Grundsatz des Eisenbahnverkehrs zwischen Deutschland und der UdSSR sei die Festsetzung der Meistbegünstigung und Parität auf derselben Strecke und in derselben Richtung erforderlich. Die Möglichkeit, die Paritätsklausel später in Kraft zu setzen, sei noch zu prüfen. 4. Die Tariffrage über solche Güter, die auf Schiffen angelandet werden und dann auf Eisenbahnen transportiert werden, müsse geklärt werden. 5. Die Regelung des Häfenwettbewerbs zwischen den Ostseehäfen, aber vor allem zwischen den Häfen Danzig, Königsberg und Memel, solle unbedingt wiederhergestellt werden (Wiederherstellung des alten Schlußprotokolls zu Artikel 19). Vorbedingung sei aber die Erledigung dieser Frage in den deutsch-polnischen Eisenbahnverhandlungen. 6. Die Sicherstellung eines einheitlichen Vorgehen Deutschlands und Rußlands in der Frage des Eisenbahnverkehrs gegen die Transitstaaten sei zu gewährleisten. 7. Die Anerkennung Polens über die Freiheit des Transitverkehrs durch Polen nach Rußland und in umgekehrter Richtung sollte in den kommenden Verkehrsverhandlungen mit Polen unbedingt sichergestellt werden. 8. Eine Klausel über die Einführung von Staffeltarifen von den russischen Stationen durch die Transitstaaten bis zum Hafen Königsberg sowie in umgekehrter Richtung müsse sowohl in den deutsch-russischen Handelsvertrag als auch in die Handelsverträge mit den Transitstaaten, vor allem mit Polen und Litauen, aufgenommen werden.
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auch die Parität in den neuen deutsch-sowjetischen Vertrag aufzunehmen. Das Paritäts- und Meistbegünstigungsprinzip mit räumlicher Einschränkung (Richtung und Strecke) war als das Standardrecht des europäischen Eisenbahnverkehrs anzusehen.21 Bedenklich erschien, daß Polen im Wege der Meistbegünstigung die dem russischen Verkehr eingeräumte Parität in derselben Richtung und auf derselben Strecke genießen konnte, wenn ein auf Meistbegünstigung beruhender Vertrag zwischen Deutschland und Polen, aber ohne Parität, abgeschlossen würde. Mit Rücksicht darauf empfahl das Reichsverkehrsministerium zu prüfen, ob es nicht möglich sei, trotz des Abschlusses des deutsch-russischen Handelsvertrags allein die Paritätsklausel des Eisenbahnabkommens zu einem späteren Zeitpunkt, nach der Regelung der deutsch-polnischen Eisenbahnverhältnisse, in Kraft zu setzen. Die Verkehrsressorts waren einstimmig der Ansicht, daß man zunächst anstreben solle, nicht nur bei den Verhandlungen mit Rußland, sondern auch mit Polen das europäische Standardrecht (Meistbegünstigung- und Paritätsprinzip) zur Geltung zu bringen. In der Nachkriegszeit stand das Reichsverkehrsministerium stets auf dem Standpunkt, daß die Aufgabe der deutschen Verkehrs politik darin liege, die verkehrsrechtliche Imparität des Versailler Vertrags durch den Abschluß eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Handelsvertrags zu durchbrechen.22 2. Die Wiederherstellung des Schlußprotokolls zu Artikel 19 des alten deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894: Die Kommission V sah die Hebung der Konkurrenzfähigkeit des Hafens Königsbergs als ihre wichtigste Aufgabe an. Hierzu kam die Wiederherstellung der Häfenwettbewerbsregelung im alten deutsch-russischen Handelsvertrag von 1894, nämlich die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen und die Gewährung direkter Tarife von den russischen Verladestationen bis zum Hafen Königsberg (auch in umgekehrter Richtung) in Betracht. Dabei war die Durchgangsstrecke zwischen Königsberg und Rußland über die alte ostpreußisch-russische und nunmehr ostpreußischpolnische Grenzstation Prostken / Grajewo von Bedeutung. Bis zum Ersten 21 Zum Paritätsprinzip der Eisenbahntarifpolitik siehe vor allem Seidler / Freud (1904), S. 70 ff. Siehe auch Wyszomirski (1925), S. 1172–1173. 22 Der erste Versuch Deutschlands in den Jahren 1921 / 22 wurde dennoch von der polnischen Seite abgelehnt. Polen erklärte sich lediglich bereit, in Eisenbahnverhandlungen mit Deutschland unter der Voraussetzung einzutreten, daß keine Paritätsklausel in das abzuschließende Abkommen aufgenommen werde. Da Polen offiziell zu den Versailler Siegermächten gehörte, konnte es ohne weiteres die verkehrrechtliche Imparität Deutschland gegenüber bis zur Außerkraftsetzung von Januar 1925 genießen. Hingegen kam zwischen Deutschland und Litauen schon im Juni 1923 ein Handelsvertrag einschließlich von auf das Paritäts- und Meistbegünstigungsprinzip gestützten Eisenbahnbestimmungen zustande.
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Weltkrieg wurden auf dieser Südlinie große Mengen Getreide und Hülsenfrüchte aus der Ukraine bis zum Hafen Königsberg transportiert. Nach dem Krieg jedoch wurde der Güterverkehr aus der UdSSR durch Polen nach Ostpreußen, vor allem über Grajewo-Prostken, völlig stillgelegt. Infolgedessen blieben der deutschen Seite lediglich die beiden Optionen, entweder die Normalisierung der Südlinie durch Polen abzuwarten oder aber die neue Umleitungslinie durch die baltischen Staaten herzustellen. Hinsichtlich der ersten Möglichkeit war das Reichsverkehrsministerium der Ansicht, daß zuerst die polnische Anerkennung der Gleichstellung zwischen den Häfen Danzig und Königsberg sowie der Durchgangsfreiheit durch Polen erreicht werden solle.23 Aus Gründen der Verhandlungstaktik legte das Reichsverkehrsministerium besonderen Wert darauf, zur Öffnung des freien Transitverkehrs durch Polen die Verhandlungen zwischen Deutschland und Polen sowie zwischen Rußland und Polen gleichzeitig zu führen, um auf diesem Wege gemeinsamen Druck auf Polen auszuüben. Zu diesem Zwecke sollte die hier ausgearbeitete Verhandlungsleitlinie baldmöglichst der russischen Seite vorgelegt werden, um so ein einheitliches Vorgehen Deutschlands und Rußlands gegen die Transitstaaten, vor allem Polen, zu sichern.24 Die eisenbahntarifliche Regelung des Häfenwettbewerbs war jedoch unter dem Versailler Vertrag weitgehend unmöglich. Das Reich hatte sich verpflichten müssen, dem Verkehr der Alliierten sowohl auf den Eisenbahnen als auch auf den Wasserstraßen die unbedingte Meistbegünstigung sowie die Gleichbehandlung mit den Inländern (die Parität) zu gewähren. Dabei stand den Alliierten das Recht zu, die jeweils billigsten Eisenbahntarife in jeder Richtung und auf jeder Strecke Anspruch zu erheben. Ebenfalls durften die Häfen der Alliierten beim Export und Import die Hafenausnahmetarife verlangen, die für jeden deutschen Hafen aufgestellt wurden. In diesem Sinne waren die Alliierten, zu denen Polen gehörte, imstande, alle eisenbahntariflichen und -rechtlichen Begünstigungen zu beanspruchen, die Inländer und 23 Hierzu sollten folgende Regelungen getroffen werden. 1. Die Sicherstellung der Durchgangsstrecke zwischen der neuen polnisch-sowjetischen Grenzstation und der deutsch-polnischen Grenzstation Prostken / Grajewo für den deutschen und russischen Transitverkehr. 2. Die paritätische Behandlung der russischen bzw. deutschen Durchgangsgüter an den polnischen Grenzstationen sowie auf polnischer Strecke mit den einheimischen Gütern. Hierzu durfte die Güter, die für den Hafen Königsberg einerseits und den Hafen Danzig andererseits bestimmt waren an der polnischen Grenzstation in jeglicher Hinsicht von Tarifen, Gebühren, Abfertigung, Umladung usw. nicht unterschiedlich behandelt werden. Insofern wurde folglich die Ausschaltung aller Differenzierung angestrebt. 24 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Ergebnisse der Besprechung über den in den Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen Deutschland und Rußland aufzunehmenden Eisenbahnbestimmungen vom 20.11.1922. BA, R 3101 / 7421, RWiM, 17.3.1923.
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dritte Staaten genossen.25 Unter diesen Umständen war die Wiederherstellung der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen beim Transitverkehr Rußlands erst nach der Aufhebung der verkehrspoli tischen Einschränkungen des Versailler Vertrags möglich, denn die Regelung des Häfenwettbewerbs sowie die Wiederherstellung des Königsberger Transithandels setzten die Einführung direkter internationalen Gütertarife voraus. Andernfalls hätte die deutsche Bahnverwaltung außerordentliche finanzielle Opfer hinnehmen müssen.26 Die handels- und verkehrspolitischen Vorschriften des Versailler Vertrags sollten erst am 10. Januar 1925 außer Kraft treten. 3. Die Verhandlungen mit Litauen und Polen Bis zum Frühling 1924 kamen jedoch die Eisenbahnangelegenheiten nicht unmittelbar zur Verhandlung zwischen der deutschen und sowjetischen Delegation. Die Normalisierung des deutsch-russischen Eisenbahnverkehrs benötigte als Voraussetzung die Wiederherstellung des Verkehrs mit den Transitstaaten, vor allem den baltischen Staaten und Polen. Deutschland engagierte sich daher stärker in den Handelsvertragsverhandlungen mit den Transitstaaten sowie auf den Verkehrskonferenzen der europäischen Bahnverwaltungen. Die Wiederaufnahme des direkten deutsch-polnisch-russischen Verkehrs war in der Nachkriegszeit weitgehend unmöglich, vor allem nach dem Ausbruch des sowjetisch-polnischen Kriegs von April 1920. Erst mit Abschluß des Friedensvertrags von Riga im März 1921 änderte sich die Lage allmählich.27 Die polnisch-sowjetische Grenze wurde zugunsten Polens weit östlich der Curzon-Linie gezogen. a) Litauen Im Rahmen der Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Litauen in den Jahren 1922 / 23 versuchte die Königsberger Handelskammer nicht nur den gegenseitigen Verkehr zwischen beiden Staaten, sondern auch den Transitverkehr zwischen Deutschland und Rußland durch Lettland und Litauen zu regeln. Zum einen sollte die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Häfen Königsberg und Memel beim russischen 25 Wyszomirski
(1925), S. 1172–1173. R 23952 (Handakten v. Koerner), Abschrift, RVM, 13.9.1924. 27 Der ins Deutsche übersetzte Vertragstext des Friedensvertrag zwischen der RSFSR und der Ukraine einerseits und Polen andererseits vom 18. März 1921 in: Rußlands Friedens- und Handelsverträge 1918 / 1923 (1924), S. 161 ff. 26 PA AA,
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Transitverkehr sowie beim litauischen Gütertransport gesichert werden. Zum anderen sollte Litauen auf die künftige Einführung direkter Tarife zwischen Deutschland, Litauen, Lettland und Rußland eingehen. Dieser Antrag Königsbergs scheiterte aber am Widerstand Litauens. Kowno zielte darauf ab, das Umschlaggeschäft im Hafen Memel, der nach dem Einmarsch Litauens de facto unter der Kontrolle Litauens stand, zu fördern. Die litauische Bahnverwaltung war gerade dabei, Sonderermäßigungstarife (60%ige Ermäßigung) für die für den Hafen Memel bestimmten Waren einzuführen. In den Schlußverhandlungen lehnte deshalb die litauische Delegation die Gewährung der Gleichstellung zwischen den Häfen Königsberg und Memel ab. Mit Rücksicht darauf beschloß die deutsche Eisenbahndelegation (Geheimrat Scholz und Ostpreußischer Vertreter Frankenbach), die endgültige Regelung dieser Frage den künftigen Verhandlungen zu überlassen, um so zumindest zu vermeiden, daß der deutsche Bahnverkehr unzulänglichen Bestimmungen unterworfen werde.28 Daher wurde auf Wunsch der deutschen Delegation die folgende Vereinbarung in den letzten Absatz des Artikels 23 des Handelsvertrags aufgenommen: „Die beiden Regierungen behalten sich weiter vor, im direkten Benehmen der Eisenbahnverwaltungen nähere Bestimmungen über den wechselseitigen Eisenbahnverkehr und den Durchgangsverkehr zu treffen.“29 Die Eisenbahnbestimmungen des ersten deutsch-litauischen Handelsvertrags vom 1. Juni 1923 enthielten deshalb weder eine Wettbewerbsregelung der Ostseehäfen, noch die Gewährung direkter Tarife und bezogen sich lediglich auf die allgemeine Regelung nach dem Muster der Handelsverträge mit anderen europäischen Ländern. Litauen blieb deshalb berechtigt, die nach dem Hafen Königsberg führende litauische Strecke einerseits und die nach dem Hafen Memel führende litauische Strecke andererseits eisenbahntariflich unterschiedlich zu behandeln. Was die rechtlichen Verhältnisse anging, wurden sowohl die Meistbegünstigung als auch die Parität auf derselben Strecke und in derselben Richtung für den Personen-, Gepäck- sowie Güterverkehr in jeglicher Hinsicht von Abfertigung, Beförderungspreisen, Abgaben und Tarifen im Sinne des europäischen Standardrechts gewährt (Artikel 23). In diesem Handelsvertrag blieben jedoch die Wünsche der Königsberger Wirtschaft unerfüllt. Wenigstens sah Artikel 16 die Transitfreiheit durch Litauen sowie durch Deutschland vor. Der erste deutsch-litauische Handelsvertrag trat erst drei Jahre nach der Unterzeichnung, also im Jahr 1926 in Kraft. In der Ausführung (Artikel 23 Absatz 4) wurde ein Verwaltungsabkommen zwischen der Reichsbahn und der litauischen Staatsbahn im August 1923 über die Eröffnung des Wechselverkehrs abgeschlossen. Auf der deutsch-litauischen Eisenbahnkonferenz 28 GStA
PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 117, Heft 2, Frankenbach an OPO, 28.5.1923. 1924, S. 205 ff.
29 RGBl. II,
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Ende Januar 1924 einigte man sich auch darauf, im Interesse beider Parteien baldmöglichst den Transitverkehr nach Rußland wiederherzustellen.30 b) Polen Hingegen versuchte die Königsberger Handelskammer, die Frage der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Häfen Königsberg und Danzig zum Gegenstand der deutsch-polnischen Wirtschafts- und Eisenbahnverhandlungen zu machen. Bei einer Warschauer Verhandlung vom November 1920, die eine Vorbesprechung für die Pariser Korridorverhandlungen darstellte, wurde die polnische Seite erstmals auf die Königsberger Wünsche hingewiesen. Als deutsche Vertreter nahmen Geheimrat Scholz und Syndikus Fritz Simon (IHK Königsberg) an der Besprechung teil. Unmittelbar nach der Verhandlung über die Korridorfrage unterbreitete Simon die Notwendigkeit einer Häfenwettbewerbsregelung zwischen Danzig und Königsberg. Die polnische Delegation zeigte sich zunächst verständnisvoll, machte jedoch darauf aufmerksam, daß die Regelung des Transitverkehrs nach den Häfen Danzig und Königsberg ausschließlich von der Haltung Rußlands abhänge. Die sofortige Lösung dieser Frage erschien deshalb aussichtslos, da zwischen Polen und Sowjetrußland zu diesem Zeitpunkt noch kein Friedensvertrag bestand, sondern lediglich ein im Oktober 1920 unterzeichneter, vorläufiger Waffenstillstandsvertrag.31 In der Folgezeit trat Polen als stärkster Gegner einer eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Häfen Danzig und Königsberg auf. Im sowjetisch-polnischen Friedensvertrag von Riga vom 18. März 1921 räumte Polen dem sowjetischen Verkehr das freie Transitrecht ein. Dennoch sollten die Wirtschafts- und Verkehrsangelegenheiten erst durch künftig abzuschließende Konventionen geregelt werden.32 So war der Transitverkehr von Rußland und der Ukraine durch Polen nach Ostpreußen weiterhin unterbrochen. Unter diesen Umständen erkundigte sich die Deutsche Gesandtschaft in Warschau Anfang 1922 beim polnischen Außenministerium nach der gegenwärtigen Lage des polnisch-sowjetischen Transitverkehrs. Auf das deutsche Ersuchen, den Transitverkehr aus Rußland durch Polen nach Ostpreußen im Sinne des Rigaer Friedensvertrags baldmöglichst frei30 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 100, Niederschrift über die Verhandlungen vom 30. bis 31. Januar 1924 in Kowno über den deutsch-litauischen Wechselverkehr. 31 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2091, Bd. 1, Bl. 114, Abschrift, Syndikus Simon an IHK Königsberg, 13.11.1920. 32 BA, R 901 / 65657, AA an Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligung, 10.2.1922. Siehe auch den ins Deutsche übersetzten Vertragstext, in: Rußlands Friedens- und Handelsverträge 1918 / 1923, S. 161 ff.
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zugeben, erwiderte der polnische Außenminister Konstantin Skirmunt, daß Polen dazu nicht in der Lage sei, weil selbst der gegenseitige Güterverkehr zwischen Polen und Rußland noch nicht ordentlich stattfinden würde. Bezüglich der umgekehrten Richtung, also von Deutschland über Polen nach Rußland, signalisierte Skirmunt dennoch die Bereitschaft Polens, auf den Wunsch Deutschlands einzugehen, wenn das Reich die gegen Polen verhängte Wirtschaftssperre aufheben werde.33 Die deutsche Wirtschaftssperre gegen Polen, die 1920 aus politischen Gründen verhängt worden war, stieß auch auf den Widerstand der ostpreußischen Wirtschaft. Vor allem die Königsberger Handelskammer beantragte wiederholt die sofortige Aufhebung des deutschen Wirtschaftsboykotts gegen Polen, weil eine negative Wirkung auf die Wirtschaft Ostpreußens unausweichlich war.34 Das Auswärtige Amt zögerte jedoch, die vom Kabinett Wirth verhängte Wirtschaftssperre gegen Polen überhaupt einzugestehen. Anfang April 1922 übergab die polnische Regierung an die Pariser Botschafterkonferenz eine kritische Note hinsichtlich des gegenwärtigen deutsch-polnischen Verhältnisses. Polen machte hierbei die Frage der Aufnahme der Wirtschaftsverhandlungen mit Deutschland sowie der Transitfrage durch Polen nach Rußland ausschließlich von der Aufhebung des deutschen Wirtschaftsboykotts abhängig und bat die Botschafterkonferenz darum, auf Berlin in dieser Richtung einzuwirken.35 Die Wiederherstellung der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen wurde erst in der Unterredung zwischen Rathenau und Skirmunt auf der Weltwirtschaftskonferenz in Genua Anfang Mai 1922 in Erwägung gezogen.36 Der deutsch-polnische Handelsstreit wurde schließlich durch ein Protokoll zwischen Stockhammern und Olszowski vom 20. Juli 1922 beigelegt. Dabei wurde die Vereinbarung getroffen, die antipolnischen Ausfuhrverbotsmaßnahmen Deutschlands sofort aufzuheben. Die polnische Regierung solle sich im Gegenzug bereit erklären, mit Deutschland Verhandlungen über die Transitfrage aufzunehmen.37 Der Termin für den Eintritt in die deutsch-polnischen Ver33 BA, R 901 / 65657, Deutsche Gesandtschaft Warschau an AA, 26.1.1922. Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 12, Außenminister Rathenau, 13.3.1922, S. 26. Hierbei machte Skirmunt für die Aufnahme der deutsch-polnischen Wirtschaftsverhandlungen die Aufhebung des Wirtschaftsboykotts zur Bedingung. 34 GStA PK, XX. HA, Rep. 2091, Bd. 1, Abschrift, IHK Königsberg an AA, RWiM, PreußStM, 10.6.1921. 35 ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 47, Staatssekretär Haniel v. Haimhausen, 7.4.1922, S. 90 ff. 36 ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 96, Gesandtschaftsrat v. Dirksen, 11.5.1922, S. 198 ff. 37 Gero Wolfgang Freiherr von Gersdorff: Die Entwicklung der polnischen Handelsvertragspolitik, Berlin 1935, S. 93 f. Berthold Puchert: Der Wirtschaftskrieg
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handlungen wurde auf den 1. September 1922 anberaumt. In der am 31. August im Auswärtigen Amt stattfindenden deutschen Ressortbesprechung erklärte Stockhammern die Zielsetzung Deutschlands zu den bevorstehenden Verhandlungen mit Polen.38 Das Reich solle die Transitfreiheit durch Polen von und nach Rußland erreichen. Was die Anträge Ostpreußens anging,39 wies Stockhammern jedoch darauf hin, daß die Frage der eisenbahntarif lichen Gleichstellung zwischen den Häfen Königsberg und Danzig weiterer Prüfung zu unterziehen sei.40 Ende November 1922 legte Reichsverkehrsminister Groener sein Gutachten über die Anträge der Königsberger Handelskammer vor. Trotz seines Verständnisses für die schwierige Situation Ostpreußens hielt er die Erfüllung der Königsberger Wünsche zum gegenwärtigen Zeitpunkt für aussichtslos, sowohl infolge der Einschränkungen des Versailler Vertrags als auch aus fiskalischen Gründen.41 Daher forderte Groener, bis zur Außerkraftsetzung der betroffenen Vorschriften des Versailler Vertrags, die für den 10. Januar 1925 erwartet wurde, die Wiederherstellung der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen nicht zum Gegenstand der deutsch-polnischen Wirtschaftsverhandlungen zu machen.42
des deutschen Imperialismus gegen Polen 1925–1934, Berlin 1963, S. 45 ff. Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 157, Gesandtschaftsrat v. Dirksen, 21.7.1922, S. 323 ff. 38 Das Transitabkommen solle folgende Rechte enthalten: 1. Freier Transit von Deutschland durch Polen nach Rußland und der Ukraine sowie in umgekehrter Richtung. 2. Keine Erhebung der Transitzölle. 3. Gewährung der Meistbegünstigung bei den Gebühren und Abgaben für die Transitwaren Deutschlands. 4. Die Transitwaren durften auf polnischer Strecke eisenbahntariflich nicht ungünstiger behandelt werden, als die gleichartigen einheimischen Waren, oder die eines dritten Staates (Parität- und Meistbegünstigung). 5. Eine Sonderklausel über den Korridorverkehr. 39 Das Holz wurde seit Beginn des polnisch-litauischen Wilnastreits ausschließlich auf dem Bahnwege befördert. Bei einer Besprechung im Oberpräsidium vom Juni 1922 einigten sich die Vertreter der ostpreußischen Wirtschaft darauf, beim Auswärtigen Amt zu beantragen, die Wiederaufnahme der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Häfen Danzig, Elbing, Königsberg sowie Memel zum Gegenstand der bevorstehenden deutsch-polnischen Verhandlungen zu machen. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 68, Heft 2, OPO an OPV, 17.6.1922. Die ostpreußische Forderung zu den deutsch-polnischen Wirtschaftsverhandlungen auf Grund der Verhandlungen mit den amtlichen Wirtschaftsorganisationen im Oberpräsidium 7. / 9. Juni 1922. 40 BA, R 901 / 65657, Aufzeichnung über die Ressortbesprechung im AA am 31. August 1922 betr.: Transitverkehr durch Polen nach Rußland und der Ukraine. 41 Den Alliierten stand das Recht zu, alle Begünstigungen, die dem deutschen Verkehr eingeräumt waren, auf deutschen Schienen und in Häfen zu genießen (Artikel 323, 325 und 365), so daß sie auch imstande waren, auf alle Begünstigungen, die dem Hafen Königsberg gewährt wurden, Anspruch zu erheben, was für die deutsche Bahnverwaltung weitere Finanzlasten nach sich ziehen würde.
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Obwohl die deutschen Forderungen hinsichtlich der Transitrechte prinzipiell mit dem Grundsatz des Barcelona-Transitabkommens im Einklang standen, stießen sie bei der deutsch-polnischen Verhandlung in Dresden vom November 1922 auf die scharfe Ablehnung Polens.43 Die polnische Delegation war lediglich bereit, über die Regelung des Transitverkehrs von Deutschland nach Rußland zu sprechen, nicht aber über den Verkehr in umgekehrter Richtung. Der Transitverkehr vom Reich durch Polen (den Korridor) über Ostpreußen und die baltischen Staaten nach Rußland konnte ebenfalls nicht behandelt werden.44 Außerdem lehnte es die polnische Delegation von vornherein ab, die Angelegenheiten des Häfenwettbewerbs zu erörtern, unter Hinweis darauf, daß diese Frage ein wesentlicher Bestandteil der russisch-polnischen Transitverhandlungen sei, welche vor allem den Häfenwettbewerb von Danzig und Königsberg regeln sollten.45 Hinsichtlich der rechtlichen Frage erklärte sich die polnische Delegation dazu bereit, dem deutschen Transitverkehr nicht die Parität, sondern lediglich die Meistbegünstigung einzuräumen. Somit wurde der deutsche Antrag, die deutschen Transitgüter auf polnischer Strecke mit einheimischen paritätisch zu behandeln, ausdrücklich zurückgewiesen.46 Der von Deutschland ausgearbeitete, auf das Meistbegünstigungs- und Paritätsprinzip gestützte Entwurf über die vorläufige Regelung des Eisenbahn-Güterverkehrs von Deutschland nach Rußland und der Ukraine durch Polen wurde schließlich nicht unterzeichnet. Die beiden Parteien standen sich vor allem in der Frage der Transitzulassung für Waffen und Rüstungsgüter gegenüber.47 Die deutsch-polnischen Verhandlungen wurden im Sommer 1923 infolge des Streits um die Behandlung der deutschen Minderheiten in Polen, vor allem um die Optantenfrage, unterbrochen. Der deutsche Versuch, eine liberale Regelung des Transitverkehrs durch Polen zu erzielen, blieb somit in den Jahren 1922 / 23 erfolglos.48 Aus diesen Erfahrungen zog das Reichsverkehrsministerium die Kon sequenz, daß es in absehbarer Zeit nicht zweckmäßig sei, Polen zur Regelung des Häfenwettbewerbs zu drängen, weil Deutschland sonst zur Übernahme größerer Kompensationen für die polnische Wirtschaft gezwungen 42
42 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 68, Heft 2, RVM (Groener) an PreußStM, 20.11.1922. 43 Vgl. Ralph Schattkowsky: Deutschland und Polen von 1918 / 19 bis 1925, Frankfurt am Main 1994, S. 202 f. 44 PA AA, R 31566, RVM (Scholz) an AA (Koerner), 23.4.1923. 45 BA, R 901 / 63920, Abschrift, RVM an Reichsbahndirektion Königsberg, 10.11. 1922. 46 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, 30.3.1924. 47 PA AA, R 31566, RVM (Scholz) an AA (Koerner), 19.4.1923. Anlage: Entwurf des Transitabkommens vom 14.12.1924. 48 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 86, Staatssekretär v. Maltzan, 18.9.1924, S. 201 ff.
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würde.49 Daraufhin beschloß man in Berlin, zunächst das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Polen und der UdSSR abzuwarten.50 In der Ausführung des Rigaer Friedensvertrags von 1921 wurden erst im April 1924 die Wirtschafts- und Verkehrsverhandlungen zwischen der UdSSR und Polen aufgenommen. Die Voraussetzung hierfür war durch die Ende 1923 erfolgte De-jure-Anerkennung der UdSSR durch Polen geschaffen worden. Dabei verpflichteten sich beide Staaten dazu, alle Bestimmungen des Rigaer Friedensvertrags unverzüglich zu erfüllen.51 Es wurde vereinbart, Ende März 1924 in Warschau in die Verkehrsverhandlungen und in Moskau in die Wirtschaftsverhandlungen zum Zwecke zum Abschluß von Konventionen einzutreten. Diese Nachricht erfreute die Königsberger Wirtschaft vor allem in der Hoffnung auf eine Normalisierung des Durchgangsverkehrs. Zugleich aber argwöhnte die Handelskammer, daß Polen versuchen werde, eine bilaterale Regelung mit der UdSSR zugunsten des polnischen Außenhandels auf Kosten Königsbergs herbeizuführen. Tatsächlich strebte die Freie Stadt Danzig an, auf der bevorstehenden polnisch-sowjetischen Eisenbahnkonferenz in Warschau die Anerkennung der Sowjetregierung zur Einführung direkter Gütertarife von Rußland über die sowjetisch-polnische Grenzübergangsstation Stolpce / Negorjeloje bis zum Hafen Danzig zu erreichen. Wenn solch ein Tarifabkommen zustande käme, sei es nicht zu vermeiden, daß die russischen Transitgüter, insbesondere die Hölzer aus Weißrußland, unter Umgehung des Königsberger Hafens nach dem Hafen Danzig gelenkt würden, obwohl die polnisch-sowjetische Grenzstation Stolpce / Negorjeloje dem Hafen Königsberg deutlich näher war als dem Hafen Danzig.52 So beantragte die Reichsbahndirektion Königsberg, vor allem auf Wunsch der Handelskammer, Mitte Februar 1924 bei der Deutschen Botschaft Moskau, die Sowjetregierung um die Erlaubnis zur Entsendung von Vertretern aus der Reichsbahndirektion Königsberg zu der sowjetisch-polnischen Eisenbahnkonferenz zu ersuchen. Die Botschaft kam dem nach, erhielt jedoch vom Moskauer Außenkommissariat die abschlägige Auskunft, daß die Frage der Einführung direkter Tarife bis zum Hafen Danzig nicht Gegenstand der Warschauer Konferenz sein werde und die Teilnahme der Reichsbahndirektion Königsberg daher nicht möglich sei.53 49 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 24, Ministerialdirektor v. Stockhammern, 12.8.1924, S. 55 ff. 50 Ebd. 51 „Rußlands Mühen um de-jure Anerkennung“, in: OEM, 4. Jg. / Heft 7, 1.1.1924, S. 10. 52 BA, R 901 / 64210, RVM an AA, 13.2.1924. 53 BA, R 901 / 64210, Deutsche Botschaft Moskau an AA, 27.3.1924. Deutsche Botschaft Moskau an AA, 7.4.1924. PA AA, R 31566, Deutsche Botschaft Moskau an AA, 27.3.1924.
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Die polnisch-sowjetische Eisenbahnkonferenz wurde am 3. April 1924 in Warschau eröffnet. Ihre Ergebnisse beschränkten sich lediglich auf die Regelung von Fragen des gegenseitigen Verkehrs, wobei kein Sondertarif abkommen über die Einführung direkter Tarife und Hafenausnahmetarife getroffen wurde. Ursprünglich war beabsichtigt gewesen, neben den Warschauer Eisenbahnverhandlungen gleichzeitig polnisch-sowjetische Handelsvertragsverhandlungen in Moskau zu führen. Ein Wirtschaftsvertrag kam jedoch nicht zustande.54 Der sowjetische Delegationsleiter Grigorij Bese dovskij, Gesandtschaftsrat in Warschau, teilte der deutschen Seite mit, daß die sowjetische Delegation versucht habe, in der abzuschließenden Eisenbahnkonvention die Transitfreiheit durch Polen festzusetzen. Der sowjetische Entwurf habe deshalb die Klausel enthalten, daß Polen sich dazu verpflichte, mit seinen Nachbarstaaten baldmöglichst Konventionen zur Regelung des sowjetischen Transitgüterverkehrs abzuschließen. Unmittelbar nach dem Verhandlungseintritt am 3. April erhob aber die polnische Delegation Einwand gegen den sowjetischen Antrag auf die Regelung des Durchgangsverkehrs. Sie lehnte es strikt ab, eine derartige Verpflichtung einzugehen. Als Kompromiß erklärte sich Polen bereit, ohne die von der sowjetischen Seite vorgeschlagene Klausel aufzunehmen, nach Möglichkeit mit den Nachbarstaaten zwecks Erleichterung des sowjetischen Transitgüterverkehrs in Verbindung zu treten. So wurde bei diesen Warschauer Verhandlungen schließlich keine Regelung des russischen Gütertransitverkehrs durch Polen erzielt.55 Am 24. April 1924 einigten sich die beiden Parteien zumindest darauf, die Konferenz zunächst mit der Unterzeichnung eines Eisenbahnabkommens abzuschließen.56 In dieser polnisch-sowjetischen Eisenbahnkonvention, die auf die allgemeine Regelung des Personen- und Güterverkehrs abgestellt war, wurde die Öffnung der polnisch-sowjetischen Grenzstationen57 sowie die für die direkte Abfertigung bestimmten Stationen festgesetzt.58 Bis zur künftigen Einführung direkter Tarife sollten zunächst die Frachten nach den Lokaltarifen der beteiligten Eisenbahnverwaltungen bis zu und ab den Staatsgrenzen berechnet werden. Die Umladung der Gü54 BA,
55 Ebd.
R 901 / 63971, Deutsche Gesandtschaft Warschau an AA, 17.4.1924.
56 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau), Abschrift: Abkommen zwischen der Union der Sozialistischen Räterepublik und der Polnischen Republik über einen direkten Eisenbahnverkehr für Personen und Güter vom 24. April 1924. 57 Die für den direkten Verkehr zwischen Polen und der UdSSR bestimmten Grenzstationen: Stolpce-Negorjeloje, Zdolbunowo-Szepietowka, PodwoloczyskaWolocszska, Mikaszewicze-Zytkowice und Zahacie-Farynowo. 58 Die für die direkte Abfertigung zugelassenen Stationen: Polnische Seite: Bialystok, Katowice, Krakau, Lemberg, Lodz, Posen, Warschau, Wilna und Danzig. Sowjetische Seite: Charkow, Kiew, Leningrad, Minsk, Moskau, Odessa und Tiflis.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
terwagen, die wegen der russischen Breitspurbahnen notwendig war, sollte an den Grenzstationen von den Bahnverwaltungen durchgeführt werden.59 4. Der Transitverkehr durch die baltischen Staaten Im deutsch-sowjetischen Bahnverkehr gab es nach dem Ersten Weltkrieg zwei mögliche Routen: 1. durch Litauen und Lettland bzw. Estland, 2. durch Polen. In letztgenanntem Fall handelte es sich um weitere zwei Linien: a) von der UdSSR durch Polen nach Ostpreußen, b) von der UdSSR durch Polen nach Schlesien. Für die baltische Linie sowie die Passage nach Ostpreußen war die Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.) zuständig. Hingegen fiel der Transitverkehr durch Polen nach Schlesien in die Kompetenz der Reichsbahndirektion Breslau. Die nachstehende Darstellung bezieht sich ausschließlich auf die Angelegenheiten der Reichsbahndirektion Königsberg (Pr), und zwar auf die Route durch das Baltikum.60 Im Gegensatz zum Verhältnis mit Polen gelang es dem Reich frühzeitig, die Mitwirkung der baltischen Staaten zur Öffnung des Transitverkehrs nach Rußland zu erreichen. Auf Grund des polnisch-litauischen Wilnastreits wurde der Eisenbahnverkehr zwischen Kowno und Wilna, der eine Teilstrecke der alten Hauptlinie zwischen Königsberg, Minsk und Moskau bildete, seit Oktober 1920 außer Betrieb gesetzt. Nicht zuletzt wurde der Hafen Königsberg daran gehindert, die Agrarprodukte auf der Südlinie (durch Polen) direkt aus der Ukraine über Grajewo / Prostken heranzuführen. Die Eisenbahndirektion Königsberg engagierte sich dafür, eine neue Umleitungslinie durch die baltischen Staaten nach Rußland herzustellen. Die Leihwagenpolitik der Reichsbahn sowie die finanzielle Unterstützung für die Bahnverwaltungen dieser Staaten spielten dabei eine große Rolle.61 Die Schwierigkeiten bei 59 „Durchgangverkehr zwischen Polen und Rußland“, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnen, Nr. 20, 64. Jg. / 1924, S. 376. 60 Regierungsrat Holtz (Eisenbahndirektion Königsberg) schrieb im Oktober 1923 über die Unmöglichkeit des Gütertransits von Rußland durch Polen nach Deutschland: „Dem Eisenbahngüterverkehr zwischen Deutschland und Rußland stehen in der Hauptsache zwei verschiedene Arten von Wegen zur Verfügung, nämlich einerseits der Weg über Lettland und Litauen (Strecke Dünaburg – Radzwillischki – Kowno – Eydtkuhnen) und andererseits die Wege über Polen (russisch-polnische Grenzübergänge Stolpce, Mikaschewischi und Zdolbunowo). Da die Verhandlungen über den Transitverkehr durch Polen leider noch sehr weit zurück sind, soll im folgenden nur von dem Wege über die baltischen Staaten gesprochen werden.“ Siehe Ludwig Holtz: „Die Tariflage für den Eisenbahntransitverkehr zwischen Ostpreußen und Rußland über die baltischen Staaten“, in: OEM, 4. Jg. / Heft 2, 15.10.1923, S. 2 ff. 61 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 100, Abschrift, RVM an das litauische Eisenbahnministerium, 20.4.1923. Am 5. April 1922 wurde zwischen der Reichsbahn und
III. Die Wünsche Königsbergs und die Eisenbahnfrage (1922–24)591
der Nordlinie wurden somit im Vergleich mit der Südostlinie (durch Polen) relativ schnell beseitigt. Litauen und Lettland zielten dennoch nicht auf die Wiederherstellung der Gleichstellung der Ostseehäfen, sondern nach Möglichkeit auf die Förderung der eigenen Ostseehäfen ab.62 In der Nachkriegszeit gab es auf der Nordlinie noch keine einheitliche Tarifregelung zwischen den betroffenen Staaten. Erst auf der Rigaer Eisenbahnkonferenz vom Juni 1922 einigte sich man darauf, direkte Frachtbriefe einzuführen.63 Das Abkommen über die Einführung direkter Frachtbriefe trat zunächst zwischen vier Staaten (Deutschland, Litauen, Lettland, Estland) am 1. Mai 1923 in Kraft.64 Die Einführung direkter Frachtbriefe war als erster Schritt zur Normalisierung des Transitverkehrs zu bezeichnen. Mit dem Inkrafttreten dieses Abkommens in der UdSSR am 1. Januar 1924 wurde die bisherige Umbehandlung der Transitgüter an der lettisch-sowjetischen Grenzstation durch die Einführung direkter Frachtbriefe abgeschafft.65 Die direkte Abfertigung trug zur Beschleunigung des Bahntransports zwischen Moskau und Königsberg bei. Diese Maßnahme bedeutete allerdings noch nicht die Einführung direkter Gütertarife. Die Tarife blieben im Ermessen jeder Bahnverwaltung und die Frachtkosten noch relativ hoch. Die Einführung direkter Fracht der litauischen Staatsbahn ein Abkommen über die Vermietung von Güterwaggons abgeschlossen. 62 PA AA, R 94551, RVM an AA, 28.2.1924. Das Reichsverkehrsministerium bat das Auswärtige Amt um die Genehmigung, Regierungsrat L. Holtz (Reichsbahndirektion Königsberg) nach Moskau zu entsenden, um im Interesse Königsbergs mit der sowjetischen Bahnverwaltung Fühlung zu nehmen und gemeinsam den Versuchen der Transitstaaten entgegenzutreten, die eigenen Häfen zu bevorzugen. 63 Deutsch-sowjetischer Eisenbahnverkehr, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, Nr. 37, 62. Jg. / 1922, S. 738. Diese Vereinbarung wurde auf der Königsberger Eisenbahnkonferenz vom 12. Dezember 1922 durch die beteiligten Bahnverwaltungen von Deutschland, Estland, Lettland sowie Litauen präzisiert. 64 Als lettische Grenzstationen gegen Rußland wurden bei diesem Transitverkehr drei Stationen bestimmt: 1. Ritupe an der Strecke Petersburg–Pskow–Dünaburg. 2. Silupe an der Strecke Moskau–Sebesh–Rjeschiza–Dünaburg bzw. Riga. 3. Indra an der Strecke Smolensk–Witebsk–Dünaburg. Als lettisch-litauische Grenzstationen wurden Griva / Abeliai sowie als litauisch-ostpreußische Grenzstationen Wirballen / Eydtkuhnen bestimmt. Im Fall der Absendung von Moskau über Sebesh nach Königsberg fuhren die Transitwaren insgesamt ca. 1382 km (ca. 640 km auf russischer Strecke (von Moskau über Sebesh), 188 km auf lettischer Strecke (von Silupe bis Griva), 400 km auf litauischer Strecke (von Abeliai bis Wirballen), 154 km auf ostpreußischer Strecke (von Eydtkuhnen bis Königsberg). Siehe Ludwig Holtz: Die Tariflage für den Eisenbahntransitverkehr Ostpreußen–Rußland über die baltischen Staaten, Königsberg 1923, S. 4 ff. Siehe auch Ludwig Holtz: „Die Tariflage für den Eisenbahntransitverkehr zwischen Ostpreußen und Rußland über die baltischen Staaten“, in: OEM, 4. Jg. / Heft 2, 15.10.1923, S. 2 ff. 65 „Der direkte Güterverkehr Ostpreußen-Rußland“, in: OEM, 4. Jg / Heft 7, 1.1. 1924, S. 15.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
briefe begrüßte die Königsberger Wirtschaft als ersten Schritt zur Normalisierung des deutsch-russischen Verkehrs: „Wir beglückwünschen die Königsberger Eisenbahndirektion zu diesem durch ihre energische Mitarbeit erzielten Erfolge.“66 Dennoch konnten diese Frachttarife, die noch keine direkte Transittarife darstellten, die Konkurrenzfähigkeit des Königsberger Hafens nicht wesentlich stärken.67 Die Bahnfrachten von Moskau bis Königsberg waren deutlich teurer als die Gesamtbeförderungskosten, die sich aus der Bahnfahrt von Moskau bis zum Hafen Petersburg und von dort ab aus der Schiffahrt bis zum Hafen Königsberg ergaben.68 Unter diesen Umständen wurde die weitere Senkung der Frachtkosten für notwendig erachtet. Hierzu waren die Einführung direkter Transittarife sowie die Abschaffung der Umladung an der lettisch-sowjetischen Grenzstation durch die Wagenumsetzung notwendig. 5. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen im Frühjahr 1924 a) Der Berliner Zwischenfall und Königsberg Während der ersten Phase der deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen vom Juni 1923 bis zu ihrer Unterbrechung im Mai 1924 wurden hinsichtlich der Einsenbahnfrage keine nennenswerten Ergebnisse erzielt. Die erste deutsch-sowjetische Delegationsbesprechung über die Schiffahrtsund Eisenbahnangelegenheiten fand im Rahmen der Handelsvertragsverhandlungen vom Ende Februar 1924 bis Mitte März 1924 in Berlin statt. Die deutsche Delegation bestand aus Paul v. Koerner, Geheimrat Scholz, Ministerialrat Sommer (Preußisches Handelsministerium) sowie Generalkonsul Schlesinger. Ursprünglich hatte die deutsche Delegation die Absicht, der sowjetischen Seite die vorläufige Fassung der Eisenbahnbestimmungen (Artikel 1, 2 und 3) mit Ausnahme der Bestimmungen über die Regelung des Häfenwettbewerbs (Artikel 4) als Diskussionsgrundlage zu übergeben und danach den ersten Meinungsaustausch zwischen beiden Delegationen stattfinden zu lassen. Die sowjetische Delegation hatte hingegen überhaupt nicht vor, die Eisenbahnangelegenheiten zu erörtern. In der Sitzung vom 15. März 1924 erklärte der sowjetische Delegationsvorsitzende, Bratman66 Ebd.
67 Ludwig Holtz: Die Tariflage für den Eisenbahntransitverkehr Ostpreußen–Rußland über die baltischen Staaten, Königsberg 1923, S. 8 ff. 68 In Wirklichkeit fanden die Transporte von Getreide, die in der Ausführung des deutsch-sowjetischen Getreideabkommens von 1923 durchgeführt wurden, ausschließlich über den Hafen Petersburg auf dem Seewege nach Deutschland statt. Der Hafen Königsberg wurde dadurch von dieser Exportoperation völlig ausgeschaltet.
III. Die Wünsche Königsbergs und die Eisenbahnfrage (1922–24)593
Brodovskij, daß seine Delegation infolge der Ermangelung einer entsprechenden Instruktion nicht in der Lage sei, zu den Einzelheiten des deutschen Entwurfs Stellung zu nehmen.69 Dennoch übergab die deutsche Delegation der sowjetischen Seite die vorläufige Fassung der ersten drei Artikel. Offenbar wollte Moskau vermeiden, vor Abschluß der polnisch-sowjetischen Eisenbahnkonferenz in Warschau, deren Eröffnung ursprünglich für Ende März 1924 vorgesehen war, in verbindliche Verhandlungen über den Transitverkehr mit Deutschland einzutreten. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen blieben durch den Anfang Mai 1924 eingetretenen Zwischenfall fast drei Monate lang unterbrochen. Den Anlaß dazu gab die polizeiliche Durchsuchung der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin.70 Am 3. Mai 1924 waren etwa 200 Polizisten ins Gebäude der Handelsvertretung eingedrungen. Die Suche nach einem flüchtigen Untersuchungsgefangenen blieb allerdings erfolglos. Die Aktion der Berliner Polizei, die anscheinend auf die Sicherstellung von Beweismaterial für die Vorbereitung der kommunistischen Revolution abzielte und gerade einen Tag vor den Wahlen zum Reichstag stattfand, unterbrach in der Folge nicht nur die Handelsvertragsverhandlungen, sondern unterband auch den gesamten Wirtschaftsverkehr zwischen Deutschland und der UdSSR. Die Sowjetregierung ordnete sogleich die Schließung aller Handelsvertretungen in Deutschland an und brach alle Handelsoperationen ab, vor allem unter Hinweis auf die Verletzung der Exterritorialität. Zur selben Zeit führte die Reichsregierung die Reparationsverhandlungen mit den Westmächten über den sog. Dawes-Plan. Es lag die Vermutung nahe, daß man in Berlin von diesem deutsch-sowjetischen Zwischenfall den Effekt erwartete, bei den Ententemächten den Eindruck einer Mißstimmung unter den Rapallo-Partnern zu erwecken und damit einen günstigen Abschluß der Londoner Verhandlungen herbeizuführen. In Berlin räumte man dem Zustandekommen des Dawes-Plans die Priorität ein, von dem man sich die Erleichterung der Reparationszahlungen sowie den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft mit Hilfe amerikanischer Industriekredite erhoffte. Hinter den Kulissen stieß die Tätigkeit der Königsberger Ostmesse auf Schwierigkeiten. Im Jahr 1924 wurden das Konsulat und die Handelsvertretung der UdSSR in Königsberg eröffnet. Außerdem wurde anläßlich des 200 Jahre-Jubiläums der Vereinigung der drei Städte (Altstadt, Löbenicht, 69 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, AA, Protokoll Nr. 23 (Eisenbahnabkommen) gez. v. Koerner sowie Bratman-Brodowski, 15.3.1924. Siehe auch das Schreiben von Bratman-Brodowski an das Volkskommissariat für die Auswärtigen Angelegenheiten der UdSSR vom 8.10.1924. Dessen deutsche Übersetzung in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 1, Dok. Nr. 224, S. 432 ff. 70 Kochan (1984), S. 96 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Kneiphof) am 13. Juni 1924 die Einweihung des neuen Königsberger Hafens feierlich vorgenommen.71 Obwohl Magistrat und Handelskammer schon frühzeitig bei den sowjetischen Behörden dafür geworben hatten, kam es nicht zu der ursprünglich erwarteten Teilnahme von Gästen aus Moskau und Petersburg. Die Schließung aller Handelsvertretungen in Deutschland verhinderte in der Folge die Beteiligung sowjetischer Delegationen an allen deutschen Ausstellungen und Messen. Erst nach drei Monaten wurde der Konflikt durch das Protokoll zwischen Stresemann und Bratman-Brodovskij am 29. Juli 1924 beigelegt.72 Der deutsch-sowjetische Zwischenfall vom Mai 1924 stellte offenbar den Rapallo-Vertrag in Frage und ließ die divergierenden Interessen zwischen Königsberg und Berlin von neuem zutage treten. Die Ostmesse sowie das Königsberger Wirtschaftsinstitut veröffentlichten unmittelbar nach der Berliner Razzia in ihrem „Vertraulichen Kaufmännischen Nachrichtendienst“ einen Artikel über den deutsch-sowjetischen Konflikt. Darin wurde die sowjetische Stellungnahme zustimmend kommentiert. Somit trat Königsberg offenkundig für den Standpunkt Moskaus in der Frage der Exterritorialität ein. Das Auswärtige Amt, das den Standpunkt vertrat, daß die Handelsvertretung nicht die Exterritorialität der Botschaft genieße, sah darin eine unerhörte Disziplinlosigkeit. In der Folge wurde das Königsberger Nachrichtenblatt zur Einstellung gezwungen.73 b) Die Auswirkung des Zwischenfalls auf die Transitverhandlungen in Moskau Der deutsch-sowjetische Konflikt blieb nicht ohne Einfluß auf die Transitverhandlungen in Nordosteuropa. Nach der erfolgreichen Einführung direkter Frachtbriefe für den Transitverkehr zwischen Deutschland, den baltischen Staaten und der UdSSR war als nächster Schritt zu erwarten, die Beschleunigung der Gütersendung durch folgende zwei Maßnahmen zu erreichen: 1. Die Abschaffung der Umladung zwischen den Breit- und Vollspurwagen an der Spurgrenze, vor allem an der lettisch-russischen Grenze. 2. Die Einführung direkter Transittarife zwischen Deutschland und der 71 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1924, S. 129. Siehe auch: Die Verwaltung der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Kriege. Festschrift des Magistrats (1924). 72 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 1, Dok. 209, Protokoll über die Beilegung des durch die Maßnahmen der deutschen Polizei gegen die Handelsvertretung der UdSSR in Deutschland hervorgerufenen Zwischenfalls, S. 411. 73 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2082, Vertraulicher Kaufmännischer Nachrichtendienst, Nr. 81, Zum russisch-deutschen Konflikt, 18.5.1924. Als Nachfolger des eingestellten Vertraulichen Kaufmännischen Nachrichtendienstes wurde 1925 der „Eil-Dienst-Osteuropa (EDO)“ gegründet.
III. Die Wünsche Königsbergs und die Eisenbahnfrage (1922–24)595
UdSSR durch die baltischen Staaten. Im Zusammenhang mit direkten Tarifen konnte die Wagenumsetzung durch die Auswechselung der Achsen zur Zeit- und Kosteneinsparung im Bahnverkehr zwischen West- und Osteuropa beitragen. An diesem Projekt war die deutsche Reichsbahn federführend beteiligt und führte bereits 1922 / 23 zu diesem Zweck Besprechungen mit den baltischen Bahnverwaltungen.74 Während die litauische Bahn den deutschen Vorschlägen frühzeitig zustimmte,75 verhielten sich Lettland und Estland zunächst zurückhaltend. Grund war offensichtlich die Befürchtung, daß die Wettbewerbsfähigkeit des Königsberger Hafens mit anderen Ostseehäfen durch die beantragten Maßnahmen gestärkt werden könnte. Unter diesen Umständen hielt es die Reichsbahn für notwendig, erst mit der sowjetischen Bahnverwaltung zu einer Verständigung zu kommen, weil Lettland und Estland sonst das Vorhaben durchkreuzen und Moskau ungünstig beeinflussen können. Mit Rücksicht auf ihre hochpolitische Bedeutung schlug Regierungsrat Ludwig Holtz (Reichsbahndirektion Königsberg) dem Auswärtigen Amt vor, anläßlich der deutsch-baltisch-sowjetischen Transitkonferenz in Moskau unmittelbar mit der sowjetischen Bahnverwaltung über diese Angelegenheiten zu verhandeln. Er bat das Amt um die Erlaubnis für seinen Moskauer Besuch.76 Die Lösung dieser Frage hing eng mit den deutschsowjetischen Handelsvertragsverhandlungen und dem Abschluß eines Eisenbahnabkommens zusammen. Holtz äußerte den Wunsch, ihm die Gelegenheit zu geben, unmittelbar mit den maßgebenden sowjetischen Stellen für die Transitangelegenheiten zu verhandeln, was sowohl in Berlin als auch in Moskau Beifall fand. So wurde eine Sonderbesprechung zwischen der deutschen Eisenbahndelegation und den sowjetischen Stellen im Haus der Moskauer Deutschen Botschaft in Aussicht genommen.77 Der Termin der Moskauer Konferenz wurde auf den 11. Mai 1924 festgesetzt, und das Verkehrskommissariat übersandte die Einladung an die Reichsbahndirektion.78 Kurz vor der geplanten Abreise ereignete sich jedoch der deutsch-sowjetische Zwischenfall um die Berliner Handelsvertretung der UdSSR am 3. Mai. Auf Anfrage der Reichsbahndirektion, ob die deutsch-sowjetischen Verkehrsverhandlungen ordentlich durchgeführt werden könnten,79 erwiderte 74 PA AA, R 94551, Reichsbahndirektion Königsberg Holtz an Konsul Richter (AA), 22.2.1924. PA AA, R 94551, RVM an AA, 28.2.1924. 75 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 100, Niederschrift über die Verhandlung vom 30. bis 31. Januar 1924 in Kowno über den deutsch-litauischen Wechselverkehr. 76 PA AA, R 94551, Reichsbahndirektion Königsberg Holtz an Konsul Richter (AA), 22.2.1924. 77 PA AA, R 94551, AA an die bevollmächtigte Vertretung (Botschaft) der UdSSR Berlin, 11.3.1924. 78 PA AA, R 94551, Holtz an Richter (AA), 12.4.1924. 79 PA AA, R 94551, Holtz an Richter (AA), 4.5.1924.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Moskau zunächst, daß der Streit in Berlin hoffentlich in wenigen Tagen bereinigt werde. Daher beschloß das Reichsverkehrsministerium, planmäßig seine Delegation nach Moskau zu entsenden. Die Eisenbahndelegation unter Leitung des Oberregierungsrats Simon traf am 11. Mai in Moskau ein. Obwohl das Verkehrskommissariat umgehend seine Bereitschaft zur Verhandlungsaufnahme äußerte, wurde diese aber durch das Außenkommissariat verhindert. Im Gegensatz zur anfänglich optimistischen Ansicht war die Sowjetregierung nun fest entschlossen, bis zur Entschädigung Berlins alle politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland zu unterbinden und keine Ausnahme zuzulassen. Das Verkehrskommissariat erhoffte dennoch die baldige Beilegung des Streits und bat die Delegation darum, noch nicht zurückzufahren. Das empfahl ihr auch Brockdorff-Rantzau.80 Inzwischen gelang es den Reichsbahnvertretern, der sowjetischen Bahnverwaltung wenigstens mitzuteilen, daß Deutschland ein einheitliches Vorgehen in der Frage des Transitverkehrs durch die baltischen Staaten für notwendig halte. Die sowjetische Bahnverwaltung brachte ihr Verständnis zum Ausdruck und versicherte, dem von Deutschland beantragten Projekt (der Abschaffung der Umladung und der Einführung direkter Tarife) entgegenkommen zu wollen.81 Allerdings hatte die Besprechung lediglich inoffiziellen Charakter. Während des zweiwöchigen Aufenthalts der Delegation änderte sich schließlich die politische Lage nicht. Im Einvernehmen mit dem Reichsverkehrsministerium instruierte Staatssekretär v. Maltzan den Botschafter, der Sowjetregierung mitzuteilen, daß die Delegation nach Berlin abreisen werde, falls die Verhandlungen nicht innerhalb von zwei Tagen aufgenommen werden könnten.82 Das Außenkommissariat bestand jedoch darauf, bis zur Beilegung des Zwischenfalls keine Verhandlungen aufzunehmen. Am 23. Mai trat die Delegation schließlich die Rückreise über Riga nach Berlin an.83 Auf der Rigaer Eisenbahnkonferenz vom Ende Mai 1924 gelang es dennoch der Reichsbahn, die Bereitschaft aller baltischen Bahnverwaltungen zur Mitwirkung am Wagenumsetzungsprojekt zu gewinnen.84 Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich die Eisenbahnspurgrenze an der Staatsgrenze zwischen Ostpreußen und Rußland befunden. Bis zu den ostpreußischen Grenzstationen waren die Eisenbahnen auf der Vollspur (1435 mm) gefahren. Von dort ab verkehrten hingegen die russischen Bahnen auf der Breit80 PA AA, R 94551, Telegramm, Brockdorff-Rantzau (Moskau) an AA, 13.5.1924. PA AA, R 94551, Telegramm, Brockdorff-Rantzau (Moskau) an AA, 21.5.1924. 81 „Deutsch-baltisch-russischer Eisenbahnverkehr“, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 64. Jg. / 1924, Nr. 26, 16.6.1924, S. 491. 82 PA AA, R 94551, Maltzan (AA) an die Deutsche Botschaft Moskau, 20.5.1924. 83 PA AA, R 94551, Telegramm, Brockdorff-Rantazu an AA, 22.5.1924. 84 Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 64 Jg. / 1924, S. 491.
III. Die Wünsche Königsbergs und die Eisenbahnfrage (1922–24)597
spur (1524 mm). Die Güter mußten an den Grenzstationen zwischen den Vollspur- und Breitspurwagen umgeladen werden. Das Russische Kaiserreich hatte außerdem im Kongreßpolen rechts der Weichsel die russische Breitespur und links der Weichsel die europäische Vollspur eingeführt.85 Infolge der deutschen Besatzung wurde während des Ersten Weltkriegs in ganz Litauen und Polen sowie in Lettland bis Düna die Normalspur eingeführt. Nach dem Krieg wurden die von der deutschen Besatzungsmacht eingeführten Vollspurstrecken sowohl von Polen als auch von Litauen und Lettland beibehalten. Die Spurgrenze verschob sich daher nach dem Krieg weit nach Nordosten. Die Eisenbahnen fuhren bis westlich von Düna sowie bis zur polnisch-sowjetischen Grenze auf der Vollspur.86 Die auf der Rigaer Konferenz vom Ende Mai 1924 erreichte Vereinbarung zwischen Deutschland und den baltischen Staaten über die Wagenumsetzungsmaßnahme wäre allerdings ohne Mitwirkung der sowjetischen Staatsbahnen bedeutungslos geblieben. Die Abschaffung der Umladung stand nicht nur im Handelsinteresse Deutschlands, sondern auch im Interesse Rußlands. Die Durchführung dieser Pläne konnte allerdings erst nach Beilegung des deutsch-sowjetischen Zwischenfalls vorgenommen werden.
85 Wyszomirski
(1964), S. 438–472. Holtz: „Wird die Verschiedenheit der Spurweiten der Eisenbahnnetze im Osten in Zukunft die Abwickelung des Verkehrs ebenso behindern wie vor dem Kriege?“, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 63. Jg. / 1923, Nr. 20, 15.5.1924, S. 328 f. 86 Ludwig
Kapitel IV
Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau im Dezember 1924 1. Zur Wiederaufnahme der deutsch-sowjetischen Verhandlungen im Herbst 1924 a) Die Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel (Artikel 2) Im ersten, vorläufigen Entwurf Deutschlands für das deutsch-sowjetische Eisenbahnabkommen vom März 1924 wurde die Gewährung der Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel als Standardrecht vorgesehen (Artikel 2). Dennoch ließ das Manuskript des Reichsverkehrsministeriums dessen Bedenken in der Polenfrage deutlich erkennen. So wies das Ministerium auf die Gefahr hin, daß Deutschland, ohne für sich die Parität auf polnischen Schienen zu erlangen, dem polnischen Verkehr auf deutschen Schienen die der UdSSR gewährte Parität einräumen müsse, wenn ein lediglich auf Meistbegünstigung beruhendes Abkommen zwischen Deutschland und Polen zustande käme. Polen hatte bis dahin den Wunsch Deutschlands, dem deutschen Verkehr die Parität einzuräumen, stets strikt abgelehnt. Daraus entstand die Notwendigkeit, daß Deutschland keinen Vertrag mit Rußland, der die Paritätsklausel enthielt, abschließen dürfe, bis Polen darauf eingegangen wäre, Deutschland seinerseits die Parität einzuräumen. Dennoch benötigte Deutschland unbedingt die Gewährung dieses Vorrechts auf russischen Schienen, da die UdSSR keine liberale Verkehrspolitik nach westeuropäischem Vorbild trieb und auch den internationalen Verkehrsabkommen nicht beitrat. So konnte die Gewährung der Meistbegünstigung ohne Parität auf russischen Schienen keine Sicherheit für den deutschen Verkehr darstellen. Mit Rücksicht auf diesen Fragekomplex suchte deshalb das Reichsverkehrsministerium einen Ausweg, um trotz des Abschlusses der Verträge mit der UdSSR und Polen dennoch die Gefahr zu vermeiden, daß Polen in den Genuß der der UdSSR eingeräumten Parität auf deutschen Schienen käme.1 In diesem Kontext hielt es das Reichsverkehrsministerium für erwägungswert, das deutsch-sowjetische Eisenbahnabkommen aus dem Handelsvertrag 1 GStA
PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, 30.3.1924.
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)599
herauszulösen und es statt dessen als selbständiges Abkommen zwischen den Bahnverwaltungen beider Staaten abzuschließen.2 Dieser Vorschlag fand aber weder beim Reichswirtschaftsministerium noch bei der Sowjet regierung Zustimmung. Seit der von Bismarck eingeleiteten Handelspolitik von 1879 wurde die Eisenbahntariffrage stets im Rahmen der deutschen Handelsverträge im Zusammenhang mit den Zolltariffragen geregelt.3 Anfang September 1924 legte das Reichsverkehrsministerium ein neues Verhandlungsprogramm für die wiederaufzunehmenden Handelsvertragsverhandlungen mit der UdSSR vor. Diesem wurde ein Gutachten über die Gewährung der Paritätsklausel (Artikel 2) beigefügt. Zu bemerken ist vor allem, daß selbst das Reichsverkehrsministerium in seinem Gutachten die Unmöglichkeit eines Auswegs feststellte: „Es ist vergeblich versucht worden, für den deutsch-russischen Handelsvertrag eine Fassung zu finden, die Parität und Meistbegünstigung in einen derart unlöslichen, sich gegenseitig bedingenden Zusammenfassung bringt, daß der einseitige Genuß der Parität für Polen trotz einer Polen zuzusichernden Meistbegünstigung ausgeschlossen werden kann. Ich glaube auch, daß der Versuch scheitern muß, weil die Gewährung der Meistbegünstigung doch lediglich auf die Tatsache, daß ein anderer eine Begünstigung genießt, gestützt wird.“4 Es lag bereits eine Reihe der von Deutschland mit anderen Staaten nach dem Kriege abgeschlossenen Handelsverträge vor, in denen die Parität für den Eisenbahnverkehr zugesichert war. In diesem Sinne hätte Polen im Fall des Abschlusses eines auf Meistbegünstigung beruhten Vertrags mit Deutschland unabhängig von der Gewährung der Parität zwischen Deutschland und der UdSSR die paritätische Behandlung auf deutschen Schienen genießen können, allerdings mit räumlicher Beschränkung (in derselben Richtung und auf derselben Strecke). Daraufhin schlug das Reichsverkehrsministerium folgende zwei Verhandlungsmöglichkeiten vor: 1. Die Verhandlungen mit der UdSSR über die Eisenbahnbestimmungen seien nur zögerlich fortzuführen, während man zugleich versuchen solle, die Zusage Polens für die Gewährung der gegenseitigen Parität im deutsch-polnischen Verkehr zu erhalten. 2. Deutschland solle überhaupt von Rußland nicht oder nur in beschränktem Maße Parität verlangen. Auf Grund dieser Prüfungsergebnisse des Reichsverkehrsministe2 BA, R 901 / 64210, RVM an AA, 13.2.1924. Das Schreiben von BratmanBrodowski an das Volkskommissariat für die Auswärtigen Angelegenheiten der UdSSR vom 8.10.1924. Eine deutsche Übersetzung in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 1, Dok. Nr. 224, S. 432 ff. 3 Wyszomirski (1925), S. 1172–1173. Siehe auch Curt Wyszomirski: Die Entwicklung des Deutschen Eisenbahn-Gütertarifs. Chronologische Darstellung mit Fundstellennachweis, in: Archiv für Eisenbahnwesen, 67. Jg. / 1957, S. 322–363. 4 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, 13.9.1924. BA, R 5 / 245, RVM, 13.9.1924. PA AA, R 23952 (Handakten von Koerner), RVM, 13.9.1924.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
riums zog man bei der am 7. Oktober im Auswärtigen Amt abgehaltenen internen Besprechung der Kommission V (Reichsverkehrsministerium, Reichswirtschaftsministerium, Auswärtiges Amt, Preußisches Handelsministerium) schließlich die Konsequenz: „Es bleibt nur übrig bei den Verhandlungen mit Polen die Parität durchzusetzen.“5 b) Die Gleichstellung der Ostseehäfen (Artikel 4) Einen anderen Schwerpunkt der deutsch-russischen Eisenbahnverhandlungen bildete die eisenbahntarifliche Gleichstellung der Ostseehäfen. In seinem Verhandlungsprogramm vom 13. September 1924 betonte das Reichsverkehrsministerium die Notwendigkeit, mit Rücksicht auf die ungünstigere Lage des Hafens Königsberg die Häfenwettbewerbsregelung zwischen den Häfen Danzig, Königsberg sowie Memel im Sinne des Schlußprotokolls zu Artikel 19 des alten deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894 wiederaufzunehmen. Die eisenbahntarifliche Gleichstellung von Häfen Danzig und Königsberg im russischen Transitgüterverkehr bedurfte allerdings nicht nur der Anerkennung Rußlands, sondern auch der Polens. Hierzu vertrat das Reichsverkehrsministerium den Standpunkt, daß Deutschland zuerst mit der UdSSR eine Einigung erreichen solle, da Polen bisher die Verhandlungsaufnahme über diese Angelegenheiten abgelehnt habe. Die zwischen Deutschland und der UdSSR erzielte vorherige Verständigung könne dann bei deutsch-polnischen Verhandlungen als Druckmittel ausgenutzt werden.6 Dieser von Ministerialrat Niemack vertretene Standpunkt wurde in der Kommission V insbesondere vom preußischen Handelsministerium, repräsentiert durch Ministerialrat Sommer, unterstützt.7 Was aber die Einbeziehung aller baltischen Ostseehäfen in die Regelung des Häfenwettbewerbs anbetraf, gingen die Meinungen selbst innerhalb der Kommission auseinander, da der Entwurf des Artikels 4 Rußland offenbar zu weitgehende Verpflichtungen auferlegte, sowohl in der Frage der Gleichstellung der Ostseehäfen als auch in der Frage direkter Tarife. Das Auswärtige Amt machte darauf aufmerksam, daß es fraglich sei, ob die UdSSR darauf eingehen werde, die baltischen Häfen in die Häfenwettbewerbsregelung zwischen Deutschland und Rußland einzuziehen. Daher vertrat das Amt den Standpunkt, daß Deutschland der sowjetischen Seite zunächst le5 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, PreußHM (Sommer), Vermerk über die Besprechung im Auswärtigen Amt am 7.10.1924. 6 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, 13.9.1924. BA, R 5 / 245, RVM, 13.9.1924. PA AA, R 23952 (Handakten v. Koerner), RVM, 13.9.1924. 7 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, Sommer (PreußHM) an Niemack (RVM), 8.10.1924.
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)601
diglich die Regelung zwischen den drei Häfen, Danzig, Königsberg sowie Memel, vorschlagen solle.8 Hingegen traten das Reichsverkehrsministerium sowie das preußische Handelsministerium ausdrücklich für den Antrag der Königsberger Handelskammer ein, dem zufolge nicht nur die Häfen an der Ostsee einschließlich des Hafens Petersburg / Leningrad, sondern auch die Häfen am Schwarzen Meer in die Regelung des Häfenwettbewerbs einbezogen werden sollten. Diese Forderung hatte die Königsberger Handelskammer erstmals schon 1918, vor Abschluß des Brest-Litowsker Vertrags mit Großrußland, erhoben.9 Die Einbeziehung des Hafens Petersburg in die Häfenwettbewerbsregelung war seinerzeit am Widerstand Rußlands gescheitert. Nach dem Ersten Weltkrieg gewann dieser Hafen für den sowjetischen Im- und Export zunehmend an Bedeutung, wozu besonders die Gewährung von Vorzugstarifen der sowjetischen Staatsbahnen beitrug.10 Das Auswärtige Amt sah die Erweiterung der Häfenwettbewerbsregelung auf die gesamten Häfen an der Ostsee sowie am Schwarzen Meer als völlig unrealistisch an, vor allem mit Rücksicht auf die neuen Grenzverhältnisse. Es empfahl deshalb, entsprechend den herrschenden politischen Verhältnissen die Ansprüche Königsbergs etwas zurückzunehmen.11 Die Frage direkter Tarife schien ebenso schwierig wie die Einbeziehung der sowjetischen Häfen in die Häfenwettbewerbsregelung. Ziffer 3 von Artikel 4 des Entwurfs sah vor, daß die UdSSR direkte Tarife zwischen den sowjetischen Stationen und den Häfen Reval, Riga, Windau, Libau, Memel oder Danzig nur dann herstellen dürfe, wenn die Staaten, denen die genannten Häfen und die dahin führenden Eisenbahnen gehörten, sich an der Bildung gleicher direkter Gütertarife auf den kürzesten Strecken zwischen dem Königsberger Hafen und den gleichen Stationen der UdSSR beteiligten. Für diesen Durchgangsverkehr zwischen Königsberg und der UdSSR 8 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, PreußHM (Sommer), Vermerk über die Besprechung im Auswärtigen Amt am 7.10.1924. 9 Dem genannten Verhandlungsprogramm des Reichsverkehrsministeriums vom 13. September 1924 wurde eine Empfehlung des Reichsverkehrsministeriums über Artikel 4 des Eisenbahnabkommens (die Regelung des Häfenwettbewerbs), die wesentlich einen Entwurf von Artikel 4 darstellte, als Anlage beigefügt. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Anlage 3 zum Schreiben vom 13.9.1924 (Anlage 3 zu E.F.V.g.53. Nr. 487, Wv.IIa. 4267). Vgl. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 103 ff. 10 „Petersburg, Riga, Reval als Konkurrenzhäfen“, in: OEM, 5. Jg. / Nr. 7, 1.1.1925, S. 16 f. Von der gesamten Ausfuhr der UdSSR zur See gingen im Jahre 1923 über Petersburg 27,59 % (nach Gewicht) und 28,29 % (nach Wert). Von der gesamten Einfuhr des Jahres 1923 zur See entfielen auf den Petersburger Hafen 69,93 % (nach Gewicht) und 77 % (nach Wert). 11 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, PreußHM (Sommer), Vermerk über die Besprechung im Auswärtigen Amt am 7.10.1924.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
dürften außerdem keine höheren Anteilsätze angewendet werden als für die direkten Tarife zwischen der UdSSR und den genannten nichtdeutschen Häfen. Die Bestimmung kam einer einseitigen Verpflichtung der sowjetischen Bahnverwaltung zur Wahrung der Stellung des Königsberger Hafens gleich. Es schien deshalb fraglich, ob die UdSSR diese Klausel annehmen würde. Für den Fall einer Ablehnung schlug das Reichsverkehrsministe rium vor, der sowjetischen Seite anzubieten, auf eine Bestimmung einzugehen, welche die Häfen der baltischen Staaten ausschloß, aber zumindest Danzig erfaßte. Die UdSSR sollte dann Deutschland gegenüber die Freiheit behalten, seine Beziehungen zu den baltischen Ländern im Einvernehmen mit diesen, also ohne Bindung durch den deutsch-sowjetischen Handelsvertrag, zu regeln. Dennoch müsse sich die UdSSR unbedingt vertraglich dazu verpflichten, keine Vereinbarungen mit Polen hinsichtlich der Aus- und Einfuhr über den Danziger Hafen zu treffen, ohne daß zuvor oder gleichzeitig der Häfenwettbewerb zwischen Königsberg und Danzig geregelt werde.12 So spielte die Polenfrage, ebenso wie bei der Paritätsfrage (Artikel 2), eine besondere Rolle. Der deutsche Entwurf des Eisenbahnabkommens sollte der sowjetischen Seite bei der bevorstehenden Wiederaufnahme der Handelsvertragsverhandlungen im November / Dezember 1924 in Moskau förmlich übergeben werden. Im Einvernehmen mit Ministerialrat Niemack wurde ferner beschlossen, die endgültige Abfassung des Entwurfs für Artikel 4 den Königsberger Wirtschaftskreisen, namentlich der Reichsbahndirektion Königsberg, dem Oberpräsidium sowie der Handelskammer, zu überlassen.13 c) Die Berliner und Königsberger Besprechungen im Oktober 1924 Mitte Oktober 1924 lud das Auswärtige Amt die Vertreter des Reichsrats sowie sämtlicher Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft zu einer außerordentlichen Sitzung nach Berlin ein, um deren Erwartungen an den Handelsvertrag mit der UdSSR anzuhören.14 Die Ergebnisse sollten bei der bevorstehenden Wiederaufnahme der deutsch-sowjetischen Delegationsverhandlungen in Moskau berücksichtigt werden. Die ostpreußische Wirtschaft 12 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, 13.9.1924. BA, R 5 / 245, RVM, 13.9.1924. PA AA, R 23952 (Handakten v. Koerner), RVM, 13.9.1924. 13 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, OPV an OPO, 8.10.1924. 14 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. Nr. 116, Protokoll der im AA am 14. Oktober 1924 stattgefundenen Besprechung mit den Vertretern der Länder und mit Interessenten, S. 284 ff. Siehe Vermerk über die Besprechung im AA vom 14. Oktober 1924, in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 1, Dok. 228, S. 438 ff.
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hatte den Wunsch, bei diesem Anlaß die beiden Kardinalfragen, zum einen die Eisenbahnfrage (die Gleichstellung der Ostseehäfen) und zum anderen die Freigabe der Memelflößerei, unmittelbar dem Auswärtigen Amt gegenüber zur Sprache zu bringen. Anfang Oktober 1924 hatte Vizepräsident Herbst (Oberpräsidium) wegen der litauischen Nichteinhaltung des deutschlitauischen Binnenschiffahrtsabkommens schriftlichen Protest gegen Litauen eingelegt und zugleich beim Auswärtigen Amt beantragt, diese Angelegenheit zum Gegenstand der deutsch-sowjetischen Verhandlungen zu machen.15 Die Königsberger Handelskammer hielt es für notwendig, die Hindernisse in der Memelflößerei durch das Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands zu beseitigen. Zu diesem Zwecke sollte in den abzuschließenden Handelsvertrag mit der UdSSR eine Klausel aufgenommen werden, durch die Litauen zur Freigabe der Transitflößerei gezwungen werden sollte.16 Auf Wunsch des Oberpräsidenten und der Handelskammer bat Ministerialrat Sommer (Preußisches Handelsministerium), der in der Kommission V stets den Wunsch Königsbergs nach der Wiederherstellung des Schlußprotokolls zu Artikel 19 unterstützt hatte, das Auswärtige Amt darum, die Teilnahme von mindestens drei Vertretern aus Ostpreußen zuzulassen. Am 14. Oktober 1924 eröffnete der Leiter der deutschen Delegation für die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen, Geheimrat Paul v. Koerner, die außerordentliche Sitzung in Berlin unter Teilnahme der Spitzenvertreter aus den Ländern und Wirtschaftsverbänden des Reichs. Zur ostpreußischen Delegation gehörten der Vizepräsident des Oberpräsidiums Herbst, der Ostpreußische Vertreter Frankenbach, der Vizepräsident der Handelskammer Königsberg Hans Litten, sowie der niederländische Konsul Porr (zweiter Vizepräsident der Handelskammer). Die Möglichkeiten der ostpreußischen Delegation, die Spezialwünsche der Provinz in der großen Sitzung zur Erörterung zu bringen, waren allerdings sehr beschränkt.17 Immerhin wurde ihr hinsichtlich der Eisenbahnfrage durch Ministerialrat Niemack eine gesonderte Anhörung im Haus des Reichsverkehrsministeriums angeboten. In der Besprechung des Reichsverkehrsministeriums vom 15. Oktober teilte Niemack den ostpreußischen Vertretern mit, daß es in Aussicht genommen worden sei, bei den kommenden Moskauer Verhandlungen mit der UdSSR eine Sonderbesprechung über die Eisenbahntariffrage herbeizufüh15 GStA PK, XX. HA, Rep. 2093 sowie BA, R 5 / 407, OPO (Herbst) an RVM, AA, RWiM, PreußHM, PreußMdI, OPV, 10.10.1924. 16 BA, R 5 / 407, Ebhardt (RVM), 17.10.1924. Vgl. auch BA, R 5 / 404, Wirtschaftsausschuß der deutschen Reederei an RVM, 1.12.1922. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, OPO an PreußHM, 30.12.1922. 17 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 90, OPV an OPO, 8.10.1924.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
ren. Er erläuterte die Verhandlungsziele der Kommission V und wies darauf hin, daß Deutschland nicht nur die Gewährung der Meistbegünstigungsklausel, sondern auch der Paritätsklausel anstreben wolle. Er fügte hinzu, daß die deutsche Delegation die Absicht habe, der sowjetischen Seite vorzuschlagen, zur Vermeidung einer möglichen Rückwirkung der Paritätsklausel auf Polen eine entsprechende deutsch-sowjetische Vereinbarung zu treffen. Dagegen brachte Konsul Porr seine Bedenken zum Ausdruck. Niemack erwiderte, daß die Paritätsfrage noch einer besonderen Erörterung durch die Kommission bedürfe.18 Was speziell die Frage der Wiederherstellung des alten Schlußprotokolls zu Artikel 19 anging, sicherte Niemack zu, diese Frage ebenfalls zur Verhandlung zu bringen. Hierzu erklärte er nachdrücklich, daß das Reichsverkehrsministerium bereit sei, vor der Übergabe des deutschen Entwurfs von Artikel 4 (die Häfenwettbewerbsregelung und Tariffrage) an die sowjetische Delegation die Königsberger Handelskammer nochmals anzuhören. Zu diesem Zweck schlug er vor, Ende Oktober 1924 in Königsberg eine vom Reichsverkehrsministerium zu leitende Sonderbesprechung unter Hinzuziehung der Fachreferenten der Reichsbahndirektion, der Königsberger Handelskammer sowie des Ostpreußischen Vertreters anzuberaumen.19 Einige Tage später legte der Reichsverkehrsminister Termin und Ort dieser Besprechung fest – den 24. Oktober 1924 im Haus der Reichsbahndirektion Königsberg – und ließ die Einladung an den Oberpräsidenten ergehen.20 In der Sitzung stellte das Reichsministerium den Vertretern von Handel und Industrie den folgenden Entwurf von Artikel 4 als Diskussionsgrundlage vor. Entwurf über Artikel 4 des Eisenbahnabkommens (Stand vom September 1924)21 1. Die Frachttarife auf den nach Königsberg (Pillau) führenden Eisenbahnlinien des S. S. S. R. sind für Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr nicht nach ungünstigeren Grundsätzen zu bilden, wie auf den nach irgend einem Seehafen des S. S. S. R. an der Ostsee und dem Schwarzen Meere sowie auf den nach und von den Häfen Reval, Riga, Windau, Libau, Memel und Danzig führenden Eisenbahnlinien des 18 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 99, Frankenbach, Anlage zum Schreiben vom 15.10.1924. 19 Ebd. 20 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 100, RVM an OPO, 18.10. 1924. 21 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM an AA, RWiM, PreußHM, 13.9.1924, Anlage 3 [zu E.F.g.53. Nr. 487 / Wv. IIa. 4267], Art. 4. Vgl. BA, R 9215, Nr. 481, RT III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551, AA an Reichstag, Entwurf eines Gesetzes über die deutsch-russischen Verträge vom 12. Oktober 1925. Vertraulich! Material zu den Vertragsverhandlungen zwischen dem Deutschen Reiche und der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken. Entwurf des Eisenbahnabkommens. Vom Oktober 1924, übergeben Ende 1924.
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)605 S. S. S. R. oder auf irgend einer nach der trockenen Grenze führenden Eisenbahnlinie des S. S. S. R. 2. Der S. S. S. R. einerseits und Deutschland andererseits werden direkte Gütertarife, entsprechend den Bedürfnissen des Handels, zwischen Königsberg (Pillau) und Stationen des S. S. S. R. aufstellen, sobald die Mitwirkung der in Betracht kommenden dritten Staaten (Polen, Litauen, Lettland, Estland) gesichert ist. Der S. S. S. R. stellt für diese direkten Tarife auf seinen Strecken keine höheren Anteilsätze zur Verfügung als diejenigen seiner jeweils geltenden Binnentarife, soweit seine Anteilsätze nicht nach Ziffer 1 geringer sind. Solche direkten Tarife sind besonders in der Richtung nach Königsberg (Pillau) für die im russischen Gütertarif zum Getreide gerechneten Waren sowie für Flachs, Hanf, Heede und Holz, in der Richtung nach dem S. S. S. R. für Heringe zu bilden. 3. Der S. S. S. R. wird direkte Frachttarife zwischen seinen Stationen einerseits und Reval, oder Riga, oder Windau, oder Libau oder Memel oder Danzig andererseits nur bilden, wenn und solange die anderen Staaten, denen diese Seehäfen oder die zu diesen Seehäfen führenden Eisenbahnen gehören, an der Bildung gleicher direkter Frachttarife auf den kürzesten Vollbahnlinien zwischen Königsberg (Pillau) und den gleichen Stationen des S. S. S. R., soweit sie hierfür als Durchgangsland in Betracht kommen, zu nicht ungünstigeren Bedingungen sich beteiligen, und insbesondere für diesen Durchgangsverkehr keine höheren Anteilsätze zur Verfügung stellen, als für die direkten Tarife zwischen dem S. S. S. R. und den genannten nichtdeutschen Häfen.
Hinsichtlich der Bestimmungen von Artikel 4 konzentrierte sich die Diskussion in Berlin und Königsberg auf folgende zwei Fragen: 1. auf die Einbeziehung der sowjetischen Häfen (Petersburg / Leningrad sowie Odessa) in die Regelung des Häfenwettbewerbs, 2. auf die Warengattungen, für die direkte Transittarife aufgestellt werden sollten. Im ersten Punkt unterstützte das Reichsverkehrsministerium den Antrag der Königsberger Handelskammer und vertrat den Standpunkt, daß trotz der ablehnenden Haltung des Auswärtigen Amts die Fassung des vorläufigen Entwurfs (die Einbeziehung der gesamten Häfen an der Ostsee sowie am Schwarzen Meer in die Regelung) unverändert bleiben solle. Trotz der Bedenken, daß die UdSSR nicht auf die Einbeziehung der sowjetischen Häfen eingehen werde, bestand zwischen den Mitgliedern der Kommission V, insbesondere Niemack (Reichsverkehrsministerium), Scholz (Reichsbahn) sowie Sommer (Preußisches Handelsministerium), Einigkeit darüber, diese Forderung dessen ungeachtet zu stellen.22 Hingegen waren in der zweiten Frage (der Anwendung direkter Gütertarife) die Meinungen selbst innerhalb der ostpreußischen Wirtschaft geteilt. Ein Teil der Königsberger Handelskammer hielt die Beibehaltung der Grundsätze des alten Handelsvertrags von 1894, der die 22 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, Niemack (RVM) an Sommer (PreußHM), 11.10.1924.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Aufstellung von Staffeltarifen lediglich auf die zum Getreide gerechneten Artikel sowie Flachs, Hanf, Hede und Holz in der Richtung nach Königsberg sowie auf Heringe in der Richtung nach Rußland beschränkt hatte, für geboten, da sie befürchteten, daß die baltischen Staaten im Fall der Erweiterung der Warengattungen die Einführung direkter Tarife von Rußland bis Königsberg nicht zulassen würden. Ein andere Fraktion hielt hingegen die Erweiterung der Warengattungen für wünschenswert und verlangte, die Anwendung direkter Tarife auf alle Bodenprodukte in der Richtung nach Königsberg und auf Industriewaren in der Richtung nach Rußland zu erweitern. Bei der Besprechung am 24. Oktober im Haus der Reichsbahndirektion Königsberg war diese Frage besonders umstritten und Gegenstand mehrerer Änderungsanträge.23 Die Versammlung beschloß schließlich im Einvernehmen mit der Reichsbahndirektion, der Handelskammer sowie dem Ostpreußischen Vertreter, die Anwendbarkeit direkter Tarife zu erweitern. Am 4. November übergab das Reichsverkehrsministerium dem Auswärtigen Amt seinen neuen Entwurf für Artikel 4 des Eisenbahnabkommens, der auf Grund der in der Königsberger Verhandlung erzielten Ergebnisse abgefaßt worden war.24 Nach einer letzten sprachlichen Redaktion seitens des Auswärtigen Amts wurde der Entwurf schließlich in der Dezember-Verhandlung in Moskau der sowjetischen Seite vorgelegt.25 Entwurf über Artikel 4 des Eisenbahnabkommens (Stand vom 4. November 1924)26 1. Die Frachttarife auf den nach Königsberg (Pillau) führenden Eisenbahnlinien des S. S. S. R. sind für Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr mindestens nach gleich günstigen Grundsätzen zu bilden, wie auf den nach irgend einem Seehafen des S. S. S. R. an der Ostsee und dem Schwarzen Meere sowie auf irgend einer nach der trockenen Grenze führenden Eisenbahnlinie des S. S. S. R. 2. Der S. S. S. R. einerseits und Deutschland andererseits werden direkte Gütertarife, entsprechend den Bedürfnissen des Handels, zwischen Königsberg (Pillau) 23 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 114, Heft 2, OPO an PreußHM, 25.3.1925. Ein Protokoll der geheimen Sitzung in Königsberg vom 24. Oktober 1924 existiert nicht. Hierzu siehe der Randvermerk Frankenbachs, GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 117, OPV an OPO, 1.5.1925. 24 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau), RVM an AA, 4.11.1924. 25 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau), AA an die Deutsche Delegation Moskau, 24.11.1924.Vgl. BA, R 9215, Nr. 481, RT III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551, AA an Reichstag, Entwurf eines Gesetzes über die deutsch-russischen Verträge vom 12. Oktober 1925. Vertraulich! Material zu den Vertragsverhandlungen zwischen dem Deutschen Reiche und der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken. Entwurf des Eisenbahnabkommens. Vom Oktober 1924, übergeben Ende 1924. 26 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau), RVM an AA, 4.11.1924, Anlage (Entwurf von Art. 4). Siehe auch GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM an AA, RWiM, PreußHM, 4.11.1924, Anlage (Entwurf von Art. 4).
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)607 und Stationen des S. S. S. R. aufstellen, sobald die Mitwirkung der in Betracht kommenden dritten Staaten (Polen, Litauen, Lettland, Estland) gesichert ist. Der S. S. S. R. stellt für diese direkten Tarife auf seinen Strecken keine höheren Anteilsätze zur Verfügung als diejenigen seiner jeweils geltenden Binnentarife, soweit seine Anteilsätze nicht nach Ziffer 1 geringer sind. Solche direkten Tarife sind besonders in der Richtung nach Königsberg (Pillau) für russische Bodenprodukte und daraus hergestellte Erzeugnisse sowie für tierische Produkte, in der Richtung nach dem S. S. S. R. für Heringe, Düngemittel, landwirtschaftliche Maschinen zu bilden. 3. Der S. S. S. R. wird direkte Frachttarife zwischen seinen Stationen einerseits und den nicht den Vertragsstaaten gehörenden Ostseehäfen andererseits nur bilden, wenn und solange die anderen Staaten, denen diese Seehäfen oder die zu diesen Seehäfen führenden Eisenbahnen gehören, an der Bildung gleicher direkter Frachttarife auf den kürzesten Vollbahnlinien zwischen Königsberg (Pillau) und den gleichen Stationen des S. S. S. R., soweit sie hierfür als Durchgangsland in Betracht kommen, zu nicht ungünstigeren Bedingungen sich beteiligen, und insbesondere für diesen Durchgangsverkehr keine höheren Anteilsätze zur Verfügung stellen als für die direkten Tarife zwischen dem S. S. S. R. und den oben bezeichneten nichtdeutschen Ostseehäfen.
Ende März 1925 beschwerte sich aber der Oberpräsident, daß der neue Entwurf, der auf Grundlage der Sitzungsergebnisse vom 24. Oktober 1924 abgefaßt worden war, ihm bisher nicht vorgelegt worden sei.27 Daraufhin übersandte ihm das Reichsverkehrsministerium erst Ende April 1925 die neuste Fassung des deutschen Entwurfs. Der Zusatz zu Artikel 4 ist nur in dieser Fassung vom April 1925 enthalten.28 Zusatz zu Artikel 429 Falls die U. d. S. S. R. mit irgendeinem zwischen Deutschland und der U. d. S. S. R. liegenden Staat Vereinbarungen hinsichtlich der Tarifgrundsätze trifft, die günstiger sind als die vorstehenden Bestimmungen, so wird die U. d. S. S. R. die gleichen Vergünstigungen auch für die Tarife von und nach Königsberg (Pillau) zugestehen.
27 GStA
PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 114, Heft 2, OPO an OPV, 25.3.1925. PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 114, Heft 2, RVM an OPV, 30.4.1925. Anlage: Entwurf eines Eisenbahnabkommens zwischen dem Deutschen Reich und der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 114, Heft 2, OPV an OPO, 1.5.1925. Siehe auch GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 118 ff., OPV an OPO, 1.5.1925. 29 Ebd. 28 GStA
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
d) Der deutsch-sowjetische Druck auf die Pufferstaaten. Die Frage der Binnenschiffahrt In der außerordentlichen Sitzung im Auswärtigen Amt am 14. Oktober 1924 beantragte die ostpreußische Delegation, die Freigabe der Memelflößerei zum Gegenstand der deutsch-sowjetischen Verhandlungen zu machen. Obwohl das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen bereits am 24. März 1924 in Kraft getreten war, wurde seine ordentliche Umsetzung infolge der litauischen Maßnahmen verhindert. Kownos Haltung verärgerte sowohl den Oberpräsidenten als auch die ostpreußische Holzindustrie außerordentlich. Unter diesen Umständen hielten sie die Mitwirkung Rußlands in dieser Angelegenheit für unerläßlich und hofften, die Freigabe der Transitflößerei auf der Memel im Zusammenwirken mit der UdSSR, vor allem durch Ausübung gemeinsamen diplomatischen Drucks auf Litauen, zu erreichen.30 Die Beteiligung Herbsts an der Sitzung ging auf seinen nachdrücklichen Antrag vom 10. Oktober zurück. Am gleichen Tag legte der Oberpräsident schriftlichen Protest beim litauischen Verkehrsministerium ein, um dieses zur Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen zu bewegen. Herbst und die Königsberger Handelskammer betrachteten die bevorstehende Berliner Versammlung als günstigsten Moment, das Auswärtige Amt auf die Notwendigkeit hinzuweisen, die litauische Frage im Zusammenhang mit den sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen zu lösen. Es stand außerdem die Teilnahme von Regierungsrat Ebhardt als Referent der Kommis sion V für die deutsch-sowjetischen Binnenschiffahrtsangelegenheiten in Aussicht. Als Vertreter der Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums hatte sich Ebhardt um das Zustandekommen des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens besonders verdient gemacht. Dazu sollte sich an dieser Sitzung Ministerialrat Sjöberg (Reichswirtschaftsministerium), der in den deutsch-litauischen Handelsvertragsverhandlungen stets der ostpreußischen Holzindustrie zur Seite stand, als Referent über den Entwurf des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsabkommens beteiligen. In der Sitzung vom 14. Oktober ergriff Konsul Porr unmittelbar nach Ebhardts Referat über den Entwurf des deutsch-sowjetischen Binnenschif�fahrtsabkommens das Wort und machte mit besonderem Nachdruck auf die Notlage der ostpreußischen Holzindustrie aufmerksam, die durch die Behinderung der Transitflößerei verursacht sei. Er beantragte beim Auswärtigen Amt, „bei den Verhandlungen mit den Russen diese zu veranlassen, ihrerseits auf Litauen einen Druck auszuüben, um diesem Übelstande abzuhelfen.“ Darauf erwiderte v. Koerner, daß diese Frage im Zusammenhang mit 30 BA, R 5 / 407, Vermerk von Ebhardt (RVM), 14.10.1924. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Protokoll von Herbst, 14.10.1924.
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dem im Rahmen des Handelsvertrags abzuschließenden deutsch-sowjetischen Binnenschiffahrtsabkommen berücksichtigt werden solle.31 Unmittelbar nach Sitzungsschluß führte Herbst eine interne Besprechung mit Koerner. Herbst brachte nochmals den Wunsch nach einer baldigen Lösung der Memelflößereifrage zum Ausdruck und bat ihn nachdrücklich darum, die Streitfrage zum Gegenstand der deutsch-sowjetischen Verhandlungen zu machen und die Sowjetregierung dazu zu drängen, sich für die Lösung der Memelschiffahrtsfrage einzusetzen. Als vertrauliche Information der ostpreußischen Holzindustrie teilte Herbst den Geheimrat ferner mit, daß die britische Regierung ebenfalls ein Interesse an der Freigabe der Memel habe.32 Am gleichen Tag fand in Berlin eine weitere Besprechung innerhalb eines kleinen Kreises zwischen Herbst, Frankenbach, Ebhardt und Sommer im Beisein von Legationsrat Crull statt. Crull war im Auswärtigen Amt für die litauischen Angelegenheiten zuständig. Nachdem der erste Protest Deutschlands gemäß Artikel 10 des deutsch-litauischen Binnenschif�fahrtsabkommens ohne Inanspruchnahme der diplomatischen Instanzen durch den Oberpräsidenten erhoben worden war, bestand zwischen den Versammelten Einigkeit darüber, daß man den zweiten Protest auf diplomatischem Wege übermitteln solle. Im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit wiesen sie Crull auf die Notwendigkeit hin, den Berliner Gesandten Litauens durch das Auswärtige Amt zur Einhaltung des Binnenschiffahrtsabkommens zu ermahnen.33 Es wurde auch vorgeschlagen, mit den an der Memelflößerei interessierten Staaten, England und der UdSSR, eine gemeinsame diplomatischen Demarche gegen Kowno zu unternehmen.34 In einer internen Besprechung des Auswärtigen Amts am 18. Oktober wurde auf Wunsch der Königsberger Handelskammer ein Notenwechsel mit der Sowjetregierung über ein gemeinsames Einwirken auf Litauen in Aussicht genommen. Nach einiger Überlegung beschloß aber das Auswärtige Amt, von dieser Möglichkeit zunächst abzusehen. In einer weiteren internen 31 PA AA, R 23936 (Handakten v. Koerner), Protokoll der im AA am 14. Oktober 1924 stattgefundenen Besprechung. ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 116, S. 284 ff. Vermerk über die Besprechung im AA vom 14. Oktober 1924, in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 1, Dok. 228, S. 438 ff. 32 GStA, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Protokoll von Herbst über die Besprechung vom 14.10.1924 im AA. 33 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Protokoll von Herbst über die Besprechung vom 14.10.1924 im Auswärtigen Amt. BA, R 5 / 407, Ebhardt (RVM), 14.10.1924.. 34 BA, R 5 / 407, Handschriftlicher Entwurf von Ebhardt (RVM) an AA, 17.10. 1924. Die Abschrift befindet sich auch in: GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 367, RVM an AA, 17.10.1924. PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122 (Holzflößerei), Abschrift, Aufzeichnung, Crull (AA), 16.10.1924.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Besprechung am 23. Oktober gab das Amt sowohl der Königsberger Handelskammer als auch der deutschen Delegation dennoch die Zusage, inoffiziell mit den Russen in dieser Richtung zu verhandeln.35 Tatsächlich jedoch gab es nur geringe Chancen, die Freigabe der Memelflößerei im Rahmen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags zu erreichen. Eine gemeinsame Ausübung von Druck seitens Deutschlands und Rußlands auf die Pufferstaaten zur Freigabe der Memel im Rahmen einer deutschsowjetischen Binnenschiffahrtsregelung als Teil des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags war kaum möglich, da das Reichsverkehrsministerium den Abschluß eines Binnenschiffahrtsabkommens mit der UdSSR überhaupt sehr skeptisch betrachtete.36 Die Vorbereitungen für das Binnenschiffahrtsabkommen wurden durch die Kommission V parallel mit dem Eisenbahnabkommen im Herbst 1922 in Angriff genommen, stießen aber von Anfang an auf Hindernisse. Bis zum Ersten Weltkrieg war der Verkehr auf der Weichsel, der Memel / Njemen sowie den beiden Nebenflüssen der Oder (die Netze und die Warthe) bilateralen Regelungen zwischen Deutschland und Rußland unterworfen gewesen, weil diese Flüsse jenseits der deutschen Grenze auch auf russischem Hoheitsgebiet schiffbar waren.37 Hingegen hatte der Verkehr auf der lediglich innerhalb des deutschen Hoheitsgebiets schiffbaren Oder ausschließlich einer innerdeutschen Regelung unterlegen. Nach dem Ersten Weltkrieg änderten sich die Verhältnisse der östlichen Wasserstraßen grundlegend. Im Versailler Vertrag wurde die Weichsel nicht für international erklärt, sondern als polnischer Nationalfluß betrachtet und ihre Verwaltung folglich ausschließlich Polen überlassen.38 Im Gegensatz dazu wurde zwar die Memel / Njemen im Versailler Vertrag für international erklärt, jedoch blieb die Einsetzung eines internationalen Ausschusses, dem die Verwaltung der Memelschiffahrt unterstellt werden sollte, der Beantragung durch einen Uferstaat vorbehalten. Durch die Bestimmung des Versailler Vertrags über die Schiffbarkeit der Memel, die von Grodno (Polen) ab abwärts beginnen sollte, wurde die UdSSR nicht als Uferstaat anerkannt, 35 PA AA, R 23941 (Handakten v. Koerner), 81. interne Besprechung in Berlin, 23.10.1924. 36 BA, R 5 / 407, Ebhardt (RVM), 14.10.1924. 37 Bodo Ebhardt: Internationalisierung der deutschen Ströme. Eine Rückblick, in: Nauticus. Jahrbuch für Seeinteressen und Weltwirtschaft, 18. Jg. / 1926, S. 146–157. 38 Bei der Unterzeichnung des Vertrags von Versailles vereinbarten die Alliierten mit Polen hinsichtlich der Verwaltung der Weichsel, daß die Republik Polen sich dazu verpflichten sollte, die Weichsel dem laut Artikel 23e der Völkerbundssatzung abzuschließenden Abkommen über die Rechtsstellung über die internationalen Flüsse zu unterwerfen und die Rechtssätze von Artikel 332 bis 337 VV auf die Weichsel anzuwenden. Die Weichsel wurde deshalb nicht, wie Donau, Rhein, Elbe, Oder, internationalisiert. Siehe Gerhard Giesecke: Die völkerrechtliche Stellung der internationalen Wasserläufe des deutschen Stromgebiets, Diss. Breslau 1936, S. 61.
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)611
obwohl die Flößerei aus Weißrußland möglich war. So waren nach dem Ersten Weltkrieg keine Wasserstraßen mehr vorhanden, deren Verkehr lediglich zwischen Deutschland und Rußland bilateral geregelt werden konnte. Kurz nachdem die Kommission V ihre Arbeit aufgenommen hatte, beantragte der Wirtschaftsausschuß der deutschen Reederei beim Reichsverkehrsministerium, eine Klausel in den abzuschließenden deutsch-sowjetischen Handelsvertrag aufzunehmen, durch welche die beiden Staaten sich dazu verpflichten sollten, zur Freigabe der Memelflößerei gemeinsam Druck auf Litauen auszuüben.39 Diese Forderung fand die Zustimmung sowohl des Reichsverkehrsministers als auch des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen.40 Die beiden Behörden kamen nach weiterer Prüfung des Sachverhalts dennoch zu dem Schluß, daß die einseitige Ausübung von Druck auf Litauen ohne vorherige Regelung der Polenfrage als sinnlos zu betrachten sei.41 Außerdem traten Berlin und Moskau außenpolitisch stets für Kownos Haltung ein, so daß keine Lösung der Wilnafrage zu erwarten war. So war eine deutsch-sowjetische Binnenschiffahrtsregelung erst nach Beseitigung der Transitsperre an der litauisch-polnischen Grenze möglich.42 Verkehrsrechtlich brachte die Binnenschiffahrtsregelung zwischen Deutschland und der UdSSR weitere Schwierigkeiten mit sich. Während das Reichsverkehrsministerium die Gewährung einer vollen Gleichberechtigung auf allen Wasserstraßen beider Staaten für notwendig hielt,43 war jedoch unter dem vom westeuropäischen Vorbild weit abweichenden Staatssystem der UdSSR kaum zu erwarten, daß die Sowjetregierung darauf eingehen werde. Schon das Russische Reich hatte die volle Gleichberechtigung auf den Binnengewässern nicht akzeptiert,44 und die UdSSR wollte offenbar vermeiden, im Wege der Meistbegünstigung anderen Staaten die Deutschland gewährte Gleichberechtigung einzuräumen. Im Fall einer Gewährung der gegenseitigen Meistbegünstigung ohne die Parität konnte aber der Zustand entstehen, daß der russische Verkehr auf allen Gewässern Deutschlands im Wege der Meistbegünstigung die Parität genießen würde,45 während die Rechte des deutschen Verkehrs auf den russischen Gewässern sich auf die Meistbegünstigung beschränkten, die keine wesentliche Begünstigung darstellten, weil die UdSSR nicht nur keine liberale Binnenwasserstra39 BA,
R 5 / 404, Wirtschaftsausschuß der deutschen Reederei an RVM, 1.12.1922. PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093, Bl. 52, Entwurf, OPO an RVM sowie PreußHM, 30.12.1922. 41 PA AA, R 31566, RVM an AA, 9.2.1923. 42 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM an AA, 31.10.1924. 43 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, 10.1.1923. AA, Protokoll über die interne Besprechung, 25.6.1924. 44 BA, R 5 / 1383, RVM, 11.2.1922. 45 Ebd. Siehe auch BA, R 5 / 245, RVM, Vermerk, 13.9.1924. 40 GStA
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
ßenpolitik betrieb, sondern auch weder den Versailler Vertrag noch das Barcelona-Transitabkommen unterzeichnet hatten.46 Das Reichsverkehrsministerium stellte auch fest, daß die erwartete Angleichung des sowjetischen verkehrsrechtlichen Systems an den internationalen Standard insbesondere auf den Binnenwasserstraßen bisher nicht erreicht worden sei. Unter diesen Umständen erschien es der deutschen Seite besonders bedenklich, für die Regelung des Binnenwasserstraßenverkehrs lediglich die Meistbegünstigung festzusetzen.47 Die handelspolitischen und verkehrsrechtlichen Bestimmungen des Versailler Vertrags sollten zunächst für 5 Jahre, also bis zum 10. Januar 1925, in Geltung bleiben, sofern der Völkerbund nicht ihre Verlängerung beantragte. Hingegen war der Binnenschiffahrtsregelung des Versailler Vertrags keine Frist gesetzt, da die deutschen Großschiffahrtsstraßen mit Ausnahme der Memel einer fortwährenden Kontrolle der Alliierten unterstellt wurden. Mit Rücksicht darauf hielt das Reichsverkehrsministerium es nicht für zweckmäßig, die Regelung der Schiffahrt auf den durch den Versailler Vertrag internationalisierten Wasserstraßen (Donau, Rhein, Elbe, Oder) im Rahmen des deutsch-sowjetischen Binnenschiffahrtsabkommens eingehend zu behandeln.48 Im Mai 1925 unterzog die Kommission V die Fragen, ob die westeuropäisch-angelsächsischen Verkehrsrechte auf den sowjetischen Standpunkt anwendbar seien und inwieweit überhaupt ein deutsches Interesse bestehe, freie Schiffahrts- und Flößereirechte auf anderen sowjetischen Wasserstraßen als der Memel / Njemen zu verlangen, einer letzten Prüfung.49 Aus diesen Prüfungsergebnissen zog das Reichsverkehrsministerium schließlich die Konsequenz, ein deutsch-sowjetisches Binnenschiffahrtsabkommen, soweit die Flößerei auf der Memel nicht freigegeben werde, sei bedeutungslos und könne für Deutschland infolge der vorherzusehenden rechtlichen Imparität sogar größere Nachteile mit sich bringen.50 Der seit dem Eintritt in die Handelsvertragsverhandlungen im Juni 1923 vorgesehene Abschluß eines deutsch-sowjetischen Binnenschiffahrtsabkommens wurde im Mai 1925 schließlich aufgegeben.51 Für den Personen- und Güterverkehr auf den Binnenwasserstraßen wurden als Rahmenbedingungen lediglich im Wirtschaftsabkommen (Artikel 42) des Handelsvertrags die Meistbegünstigung und 46 BA,
R 5 / 241, RWiM, 23.11.1922. PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM an AA, 3.6.1924. 48 BA, R 5 / 245, RVM, 8.5.1925. 49 PA AA, R 23948 (Handakten von Koerner), Deutsche Delegation Moskau an AA, 16.4.1925. 50 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM an AA, 31.10.1924. PA AA, R 23948 (Handakten v. Koerner), Abschrift, RVM an AA, 31.10.1924. 51 BA, R 5 / 245, RVM, 8.5.1925. 47 GStA
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)613
Gleichberechtigung gewährt, ohne jedoch die Einzelheiten des Binnenschif�fahrtsrechts zu regeln.52 So mußte die Möglichkeit, auf die Pufferstaaten zur Wiederherstellung des Königsberger Handels gemeinsamen Druck seitens Deutschlands und Rußlands auszuüben, nicht im gescheiterten Binnenschiffahrtsabkommen, sondern anderweitig im Rahmen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags gesucht werden. 2. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau im Dezember 1924 a) Zur Verhandlungseröffnung Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen, die durch den Berliner Zwischenfall im Mai 1924 unterbrochen worden waren, wurden am 15. November 1924 in Moskau wiederaufgenommen.53 Zur Bedeutung eines deutsch-sowjetischen Handelsvertrags führte der sowjetische Volkskommissar für Außenhandel, L. B. Krasin, in seiner Eröffnungsrede aus: „das Zustandekommen eines Handelsvertrages auf der Grundlage der Achtung vor den Interessen der Gegenseite und in erster Linie der aufrichtigen Anerkennung des Rechts der Gegenseite, ihr Wirtschaftssystem nach eigenem Ermessen aufzubauen, wird geeignet sein, das Zusammenarbeiten der Sowjetunion mit Deutschland zwecks Einwirkung auf die gesamteuropäische und die internationale Lage in erheblichem Maße zu erleichtern.“54 Hierauf erwiderte Botschafter Brockdorff-Rantzau mit dem Ausdruck seines festen Vertrauens in die friedliche Zusammenarbeit mit Rußland: „Als ich vor zwei Jahren den ehrenvollen Posten des deutschen Botschafters in Moskau über52 Artikel 42: „Güter, die aus dem oder durch das Gebiet des einen vertragschließenden Teils kommen oder dorthin oder zur Durchfuhr durch dasselbe bestimmt sind, sowie die Staatsangehörigen dieses Teils sollen auf den Wasserstraßen des anderen Teils als Fahrgäste oder Transportbegleiter auf derselben Verkehrsstrecke und in derselben Richtung hinsichtlich der Abfertigung, der Beförderung und der Beförderungspreise sowie der mit der Beförderung zusammenhängenden Steuern, öffentlichen Abgaben und Gebühren aller Art nicht ungünstiger behandelt werden als gleichartige Güter oder Personen des Inlands oder der meistbegünstigten Nation.“ Schlußprotokoll zu Artikel 42: „Für die Binnenschiffahrt gelten in bezug auf die Meistbegünstigung ausschließlich die Bestimmungen des Artikels 42.“ 53 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 1, Dok. 241 sowie 242, S. 454 ff. 54 PA AA, R 23936 (Deutsche Delegation Moskau. Handakten v. Koerner), Abschrift, Rede des Volkskommissars für Auswärtigen Handel L. B. Krasin in der Eröffnungssitzung der Konferenz zwischen der UdSSR und Deutschland, 15.11.1924. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 1, Dok. 241, 15.11.1924, S. 454 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
nahm, [habe ich] erklärt, daß niemand die friedliche Zusammenarbeit des deutschen Volkes und der Völker der Sowjetunion stören soll. Diese Auffassung vertrete ich noch heute.“55 Trotz dieser von beiden Seiten gehegten Hoffnung stießen die Verhandlungen auf Hindernisse, da die abweichenden Wirtschaftssysteme beider Staaten große Schwierigkeiten bereiteten. Zu Beginn der Verhandlungen in Moskau übergab die deutsche Delegation der russischen Seite die deutschen Entwürfe über die im Rahmen des Handelsvertrags abzuschließenden Abkommen. Der am 24. Oktober in der Reichsbahndirektion Königsberg festgesetzte deutsche Entwurf für Artikel 4 des Eisenbahnabkommens wurde ebenfalls übergeben. In den Verhandlungen vom November in Moskau kamen zunächst das Wirtschafts-, Niederlassung-, Konsular-, Nachlaß- sowie Rechtshilfeabkommen zur Erörterung. Während bei den letztgenannten drei Abkommen zwischen den beiden Delegationen meist Einigung erzielt werden konnte, blieben die Meinungsunterschiede vor allem im Wirtschaftsabkommen ungelöst.56 Hier waren insbesondere die Frage der Rechte Deutschlands im Transitverkehr durch die UdSSR, die Rechtsverhältnisse der Berliner Handelsvertretung der UdSSR, die Ausnahmebedingungen der Meistbegünstigung sowie die Kreditgewährung umstritten.57 Das Eisenbahnabkommen sowie die gewerbliche Rechtsschutzfrage wurden infolge der Ablehnung Rußlands zunächst von den Delegationsverhandlungen ausgenommen. Hierzu teilte die sowjetische Delegation der deutschen Seite mit, sie sei noch nicht in der Lage, sich mit den von Deutschland vorgelegten Entwürfen zu befassen. Sie halte es für möglich, erst nach der Weihnachtspause in die Verhandlung über die Eisenbahnfrage einzutreten. Daraufhin schlug die deutsche Delegation vor, das Eisenbahnabkommen anläßlich der Anwesenheit der deutschen Eisenbahnfachleute, die Mitte Dezember an der deutsch-sowjetischen Eisenbahnkonferenz in Moskau teilnehmen würden, zu behandeln.58 55 PA AA, R 23936 (Deutsche Delegation Moskau. Handakten v. Koerner), Telegramm aus Moskau vom 15.11.1924. PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 14 / 1 (Korrespondenz mit Čičerin), Entwurf, Brockdorff-Rantzau an Čičerin, 13.11.1924. Darin heißt es weiter: „Das deutsche Volk weiß, was ihm ein in Freundschaft freigehaltener Weg nach dem Osten bedeutet, und es ist entschlossen, ihn zu betreten: nicht als Bittsteller und nicht als Eindringling, sondern als ehrlicher, gleichberechtigter Freund. So wollen wir von Gleich zu Gleich verhandeln; denn eines ist sicher, wenn Rußland Deutschland unterstützt und Deutschland Rußland hilft, so bedeutet das für beide Länder Selbsthilfe.“ 56 PA AA, R 23931 (Deutsche Delegation Moskau. Handakten v. Koerner), Deutsche Delegation (Koerner) an AA, 17.12.1924. 57 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 256, Bericht über die Besprechung im AA, 12.1.1925, S. 488 f. 58 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 1, Dok. 248, Bericht des Vorsitzenden der Deutschen Delegation v. Koerner, 6.12.1924, S. 467 f. ADAP,
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)615
Zur Erleichterung des deutsch-russischen Transitverkehrs zielten das Reichsverkehrsministerium und die Reichsbahn auf die Einführung direkter Tarife und die Abschaffung der Umladung an der Spurgrenze ab. Zu diesem Zwecke war die Reichsbahn bestrebt, eine vorherige Anerkennung der UdSSR vor der Verhandlungsaufnahme mit den baltischen Staaten zu erreichen. Die Mitte Mai 1924 geplante deutsch-sowjetische Eisenbahnkonferenz in Moskau war jedoch infolge des unerwartet eingetretenen Berliner Zwischenfalls Anfang Mai abgesagt worden. Inzwischen gelang es der Reichsbahn, die Zustimmung Estlands, Lettlands sowie Litauens in diesen Punkten zu erlangen. Die baltischen Staaten vertraten allerdings den Standpunkt, daß die geplanten Maßnahmen ohne Mitwirkung Rußlands sinnlos seien und verlangten die baldige Wiederaufnahme der Verhandlungen mit den sowjetischen Staatsbahnen. Estland machte seinen endgültigen Beitritt zu diesem Transitprojekt sogar von der Hinzuziehung der sowjetischen Vertreter abhängig.59 Von den drei baltischen Ländern zeigte Litauen das größte Interesse an der Förderung des deutsch-baltisch-sowjetischen Transitverkehrs. Nach Beilegung des deutsch-sowjetischen Konflikts schlug Litauen deshalb im September 1924 der Reichsbahndirektion Königsberg vor, alle betroffene Bahnverwaltungen Ende Oktober nach Kowno einzuladen.60 Während die Reichsbahn der litauischen Einladung Folge zu leisten bereit war, teilte die Sowjetregierung gleich nach der Wiederaufnahme der deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen in Moskau Mitte November der deutschen Delegation mit, daß die sowjetische Bahnverwaltung es für zweckmäßig halte, nicht nach Kowno zu fahren, sondern die Verhandlungen nach Moskau zu verlegen, um die deutsch-sowjetische Verständigung in dieser Frage herbeizuführen und die Angelegenheiten im Zusammenhang mit den deutsch-sowjetischen Vertragsverhandlungen in Anwesenheit der deutschen Delegation in Moskau erledigen zu können. So schlug die sowjetische Bahnbehörde vor, die im Mai unterbrochenen Verhandlungen am 8. Dezember abermals in Moskau wiederaufzunehmen.61 Während der Leiter der deutschen Delegation, v. Koerner, den Sowjets zustimmte, lehnte die Reichsbahndirektion Königsberg dieses Angebot ab und machte umgehend den Gegenvorschlag, die sowjetische Bahnverwaltung nach Kowno und Königsberg einzuladen.62 Sie beschwerte sich, da sie schließlich als geSer. A, Bd. XI, Dok. 217, Leiter der deutschen Delegation für die deutsch-sowjetischen Vertragsverhandlungen v. Koerner, 6.12.1924, S. 528 ff. 59 PA AA, R 94551, Abschrift, Reichsbahndirektion Königsberg (Moeller) an die Deutsche Reichsbahn Hauptverwaltung, 26.9.1924. 60 PA AA, R 94551, Abschrift, Direktor der litauischen Eisenbahnen an die Reichsbahndirektion Königsberg, 23.9.1924. 61 PA AA, R 23952 (Handakten von Koerner), Telegramm aus Moskau (Koerner) an AA, 16.11.1924.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
schäftsführende Direktion des deutsch-baltisch-russischen Verbands berechtigt sei, die Verhandlungen in Königsberg stattfinden zu lassen. Dennoch kam das Auswärtige Amt schließlich Moskaus Wunsch nach. 62
b) Die Moskauer Sonderbesprechung mit den Königsberger Vertretern (Artikel 4) Am 7. Dezember 1924 fuhr die deutsche Eisenbahndelegation unter Leitung von Ministerialrat Niemack (Reichsverkehrsministerium) nach Moskau ab. Der Delegation gehörten Oberregierungsrat Herzbruch (Reichsbahn direktion Breslau), Regierungsrat Holtz (Reichsbahndirektion Königsberg) sowie weitere zwei Vertreter aus Königsberg an: Syndikus Alexander Berner (Handelskammer Königsberg) und Magistratsrat Marjan Schultz.63 Die Beteiligung der Handelskammer und des Magistrats aus Königsberg ging auf den Antrag des Königsberger Magistrats Anfang November 1924 bei Koerner zurück. In einer internen Sitzung des Auswärtigen Amts hatte der Vertreter des Königsberger Magistrats, Stadtbaurat Kutschke, der für die Hafenangelegenheiten zuständig war, die Hinzuziehung der Königsberger Vertreter zu den kommenden Moskauer Verhandlungen, insbesondere bei den die Stadt Königsberg betreffenden Fragen, beantragt. Nicht zuletzt hatte er die anwesenden deutschen Delegationsmitglieder nachdrücklich darum gebeten, die Flößereifrage auf der Memel ebenfalls zum Gegenstand der Verhandlungen zu machen. Geheimrat v. Koerner hatte Kuschke die Erfüllung seiner Wünsche zugesichert und war dabei durch Niemack und Sjöberg unterstützt worden.64 Das Auswärtige Amt akzeptierte die Teilnahme der Königsberger Vertreter unter Voraussetzung, daß „das Auswärtige Amt diese Sachverständige autorisiere.“65 Am 10. Dezember traf die deutsche Eisenbahndelegation in Moskau ein. Sie suchte umgehend die deutsche Handelsvertragsdelegation auf und besprach sich eingehend mit Koerner. Anschließend machte die Delegation 62 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau), AA an Deutsche Botschaft Moskau, 27.11.1924. Telegramm, Wallroth an Delegation Moskau, 28.11.1924. 63 PA AA, R 94551, AA an Deutsche Gesandtschaft Kowno, Riga und Reval, 7.12.1924. Auch siehe „Die Deutsch-russische Eisenbahnkonferenz“, in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Nr. 563, 16.12.1924. „Eisenbahnkonferenz in Königsberg“, in: OEM, 5. Jg. / 1925, Nr. 7, 1.1.1925, S. 28. Über die Beteiligung des Königsberger Magistratsvertreters an den Verhandlungen über den deutsch-sowjetischen Handelsvertrags siehe auch: Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1924, Königsberg 1925, S. 155. 64 PA AA, R 31566, AA, 4.11.1924. 65 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 114, Heft 2, Abschrift, Oberbürgermeister Königsberg (i. A. Goerdeler) an AA, 30.10.1924.
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)617
den Spitzenbeamten des sowjetischen Verkehrskommissariats ihre Aufwartung, namentlich dem Volkskommissar für das Verkehrswesen, J. E. Rudsutak, sowie dem Präsidenten der Zentralverwaltung der Staatsbahnen, O. O. Dreyer. Botschafter Brockdorff-Rantzau verschaffte den Delegierten außerdem die Gelegenheit, persönlich mit den sowjetischen maßgebenden Stellen Fühlung zu nehmen. Zu diesem Zwecke veranstaltete die Botschaft einen Empfang am 11. Dezember. Niemack nutzte diese Chance und es gelang ihm, den anwesenden Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, G. V. Čičerin, für das Kernanliegen der deutschen Eisenbahndelegation zu interessieren.66 Die deutsch-sowjetische Eisenbahnkonferenz begann am 10. Dezember. Aufgabe war es, zur Erleichterung des deutsch-baltisch-sowjetischen Transitverkehrs die Zustimmung Moskaus zur Einführung direkter Transittarife und der Ersetzung der Umladung an der Spurgrenze durch die Wagenumsetzung zu erzielen. Über die Wagenumsetzungsfrage war bereits auf den Eisenbahnkonferenzen von Riga und Reval 1924 zwischen der Reichsbahn und den baltischen Bahnverwaltungen prinzipiell Einigung erzielt worden. In der Moskauer Verhandlung erklärten die sowjetischen Staatsbahnen ihre Bereitschaft zur Mitwirkung an der Einführung und Herstellung umsetzbarer Waggons. Hingegen war die Frage der Einführung direkter Tarife von der UdSSR bis zum Hafen Königsberg selbst unter den baltischen Staaten noch umstritten. Die Schwierigkeiten ergaben sich vor allem daraus, daß sie ihre eigenen Ostseehäfen besaßen und ebenso wie Königberg die Absicht hatten, ihr Hafenumschlaggeschäft durch den Rußlandhandel zu fördern. Aus verhandlungstaktischen Gründen hielt man es in Deutschland deshalb für angezeigt, zuerst mit der UdSSR eine Einigung herbeizuführen, damit beide Staaten anschließend gemeinsam auf die baltischen Länder einwirken konnten. Die sowjetischen Staatsbahnen zeigten sich aber hinsichtlich der Einführung direkter Transittarife ziemlich zurückhaltend. Die deutsch-sowjetische Verständigung in der Wagenumsetzungsfrage sollte für die kommende osteuropäische Eisenbahnkonferenz von Königsberg im Februar 1925 den baltischen Bahnverwaltungen gegenüber ausgewertet werden.67 Unmittelbar nach Beginn der Moskauer Eisenbahnkonferenz traten die deutschen und sowjetischen Delegationen am 15. Dezember in Verhandlungen über das Eisenbahnabkommen des Handelsvertrags ein. An diesen Besprechungen, die drei Tage dauerten, nahmen neben der Eisenbahndelega tion auch Legationsrat Strube (Auswärtiges Amt) und Ministerialrat Sommer (Preußisches Handelsministerium, Kommission V) teil. Auf sowjetischer 66 PA
AA, R 23952 (Handakten v. Koerner), Niemack an RVM, 13.12.1924. in Königsberg“, in: OEM, 5. Jg. / 1925, Nr. 7, 1.1.1925,
67 „Eisenbahnkonferenz
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Seite waren der Präsident der Zentralverwaltung der Staatsbahnen, Dreyer, als der Verhandlungsvorsitzende, B. J. Stein als Vertreter des Volkskommissariats für die auswärtigen Angelegenheiten, Loškariov als Vertreter des Volkskommissariats für Außenhandel, sowie sechs Eisenbahnfachleute beteiligt.68 Bei der Sitzungseröffnung erklärte der deutsche Vorsitzende, Niemack, zur Kompetenzabgrenzung von der zuvor veranstalteten Eisenbahnkonferenz, daß die hier einzutretenden Verhandlungen einen Bestandteil der zur gleichen Zeit stattfindenden Handelsvertragsverhandlungen bilden sollten. In diesem Sinne sei die Sitzung als Beratung der Unterkommission über den deutschen Entwurf des Eisenbahnabkommens des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags zu betrachten. Die sowjetische Delegation stimmte diesem Vorschlag zu und äußerte ihre Bereitschaft, auf der Grundlage des deutschen Entwurfs zu verhandeln. Sie stellte jedoch klar, daß ihre Erklärungen in dieser Sitzung nicht als bindende, sondern als vorläufige Stellungnahmen aufzufassen seien, da sie bisher noch nicht ausreichend Zeit gehabt habe, den deutschen Entwurf eingehend zu untersuchen.69 Zu Artikel 1 des deutschen Entwurfs: Es handelte sich um die Frage der Bindung der UdSSR an internationale Übereinkommen. Die russische Eisenbahndelegation wies darauf hin, daß die UdSSR nicht zu den Staaten gehöre, die den internationalen Übereinkommen beigetreten seien. Ihre Anwendung auf den Verkehr zwischen Deutschland und der UdSSR solle dadurch zwar nicht beeinträchtigt werden, aber sie benötige eine gewisse Angleichung ihrer Bestimmungen, vor allem infolge des besonderen sowjetischen Staatssystems. Dieser Standpunkt Moskaus wurde von der deutschen Delegation akzeptiert. (Dieser Konsens wurde fast unverändert in Artikel 1 des Eisenbahnabkommens aufgenommen. Die bedingte Anwendung internationaler Übereinkommen auf den deutsch-sowjetischen Verkehr sollte allerdings für alle Transitstaaten einheitlich gelten. So wurde beim am 15. Juli 1926 in Kraft getretenen Tarifabkommen über den Transitverkehr zwischen Deutschland und der UdSSR über Estland, Lettland sowie Litauen z. B. die Anwendbarkeit des Berner Internationalen Übereinkommens festgelegt.)70 Zu Artikel 2 des deutschen Entwurfs: Deutschland forderte hierzu als Standardrecht des europäischen Bahnverkehrs die Gewährung der Meistbe68 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, Abschrift, RVM an AA, Anlage, 8.1.1925. 69 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau) sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Bericht über die Beratungen über den Entwurf eines Eisenbahnabkommens zwischen Deutschland und der UdSSR vom 15.–18.12.1924, 8.1.1925. 70 „Der direkte deutsch-russische Güterverkehr“, in: Berliner Börsenzeitung, Sonderbeilage, Nr. 14, 4.7.1925.
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günstigungs- und Paritätsklausel für den Verkehr zwischen beiden Staaten und für den Transitverkehr durch eine der vertragschließenden Parteien. Die sowjetische Eisenbahndelegation stimmte diesem Wunsch grundsätzlich zu. Sie merkte aber an, daß bei den Bestimmungen von Artikel 2 nicht nur die Regelung des gegenseitigen Bahnverkehrs zwischen Deutschland und der UdSSR durch Polen bzw. die baltischen Staaten, sondern auch die Regelung des Transitverkehrs durch die UdSSR bzw. durch Deutschland in Betracht käme. Mit Rücksicht auf die noch ungeklärten Verhältnisse des Transitrechts durch die UdSSR nach den ostasiatischen Staaten schlug die sowjetische Eisenbahndelegation vor, diese Frage im Zusammenhang mit der allgemeinen Transitregelung des Wirtschaftsabkommens zu behandeln.71 Zu Artikel 3 des deutschen Entwurfs äußerte die deutsche Delegation den Wunsch, bei den sog. kombinierten Eisenbahn- und Schiffahrtstarifen mit Rücksicht auf die Bestimmungen des Versailler Vertrags nicht die Parität, sondern lediglich die Meistbegünstigung zu gewähren. Die russische Delegation erwiderte, daß es sowohl in Rußland als auch in Deutschland gegenwärtig keine kombinierten Tarife gebe. Sie fragte daher, ob es überhaupt nötig sei, diesen Punkt in das Eisenbahnabkommen aufzunehmen. Die Bestimmungen von Artikel 3 wurden deshalb von der russischen Seite als unannehmbar bezeichnet.72 Die Sondersitzung über Artikel 4 des deutschen Entwurfs fand im Beisein der Königsberger Vertreter (Berner und Schultz) am letzten Tag der Verhandlungen am 18. Dezember 1924 statt.73 Mit besonderem Nachdruck bat Ministerialrat Niemack zuerst die sowjetische Delegation um die Geheimhaltung des deutschen Entwurfs von Artikel 4 sowie des Verhandlungsinhalts gegenüber den baltischen Staaten und Polen.74 Die Bestrebungen der Königsberger Vertreter, das alte Schlußprotokoll zu Artikel 19 in das deutschsowjetische Eisenbahnabkommen zu übernehmen und damit die Sonderstellung Königsbergs als Zentralhandelsplatz für Hülsenfrüchte wiederzubele71 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau) sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Bericht über die Beratungen über den Entwurf eines Eisenbahnabkommens zwischen Deutschland und der UdSSR vom 15.–18.12.1924, 8.1.1925. 72 Ebd. 73 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau) sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Äußerungen der deutschen Vertreter zum Artikel IV des Eisenbahnabkommens, Sitzung der Unterkommission vom 18. Dezember 1924. 74 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau) sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Bericht über die Beratungen über den Entwurf eines Eisenbahnabkommens zwischen Deutschland und der UdSSR, sowie dessen Anlage 2, Äußerungen der deutschen Vertreter zum Artikel IV des Eisenbahnabkommens, Sitzung der Unterkommission vom 18. Dezember 1924.
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ben, stießen auf Schwierigkeiten. Anders als bei den Verhandlungen über die ersten drei Artikel traten die Meinungsverschiedenheiten zwischen der deutschen und der sowjetischen Delegation über Artikel 4 deutlich zutage. Der deutsche Entwurf gliederte sich in folgende drei Teile. Absatz 1: Eisenbahntarifliche Gleichstellung des Königsberger Hafens mit allen Häfen an der Ostsee und am Schwarzen Meer. Absatz 2: Einführung direkter Tarife zwischen dem Hafen Königsberg und den sowjetischen Eisenbahnstationen, soweit die Mitwirkung aller beteiligten Staaten einschließlich der Transitstaaten erzielt wird. Absatz 3: Zusicherung der paritätischen Behandlung des Hafens Königsberg mit den nicht zur UdSSR gehörenden Ostseehäfen bei der Einführung direkter Tarife. Niemack führte der sowjetischen Delegation die besondere Bedeutung und Aufgabe von Artikel 4 des Eisenbahnabkommens vor Augen und betonte, daß die Förderung des Königsberger Rußlandgeschäfts im gemeinsamen Interesse Deutschlands und Rußlands stehe. Deutschland strebe nicht die Bevorzugung Königsbergs an, sondern lediglich seine Gleichstellung mit den anderen Ostseehäfen. Daher äußerte Niemack den Wunsch, die von den Randstaaten bereiteten Schwierigkeiten im Transitverkehr zwischen Königsberg und Rußland gemeinsam aus dem Weg zu räumen: „Beide Länder sollten sich vereint bemühen, auch die Randstaaten dahin zu beeinflussen, daß sie diesen Verkehr nicht erschwerten, sondern sich an ihm beteiligen, um nach Möglichkeit die Hindernisse zu beseitigen, die dem Handel durch die jetzigen politischen Grenzen bereitet würden.“75 Zu Artikel 4 Absatz 1: Die sowjetische Eisenbahndelegation monierte, daß der Entwurf außerordentlich weit gehe, indem er die UdSSR dazu zwinge, die ausländischen Häfen, vor allem Königsberg, gegenüber den eigenen zu bevorzugen. Vor allem hielt sie die Erweiterung der Häfenwettbewerbsregelung auf die im alten Schlußprotokoll zu Artikel 19 nicht genannten Häfen für unannehmbar. Sie bezeichnete die Einbeziehung der Häfen Leningrad / Petersburg sowie Odessa in die Regelung als inakzeptabel und lehnte diesen Antrag strikt ab. Zu Artikel 4 Absatz 2: In der Frage der Einführung direkter Tarife sowie durchgehender Staffeltarife bis zum Hafen Königsberg kam die Ambivalenz der sowjetischen Delegation deutlich zum Vorschein. Zwar widersprach sie prinzipiell der Wiederherstellung des alten Schlußprotokolls zu Artikel 19. Dennoch hatte sie ein Interesse an der Steigerung des sowjetischen Außenhandels mit der westlichen Welt. Einerseits lehnte sie prinzipiell die Einführung durchgehender Staffeltarife ab. Andererseits äußerte sie aber ihre Bereitschaft, dem deutschen Wunsch entgegenzukommen, falls die Aufstellung 75 Ebd.
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direkter Tarife auf alle in Frage kommenden Transitgüter erweitert würde. Gegen diesen Standpunkt der sowjetischen Delegation erhob Syndikus Berner umgehend Einwände und wies darauf hin, daß die Fassung von Artikel 4 Absatz 2 des deutschen Entwurfs prinzipiell auf die Wiederaufnahme der früheren Bestimmungen abziele, um zu beweisen, daß die Königsberger Handelskammer lediglich die Wiederherstellung der alten Verhältnisse wünsche. Die von Deutschland angebotene Erweiterung sei deshalb eingeschränkt auf alle Bodenprodukte und aus Bodenprodukten hergestellten Erzeugnisse sowie tierische Produkte in der Richtung nach Königsberg sowie auf Heringe, Düngemittel und landwirtschaftliche Maschinen in der Richtung nach der UdSSR. Berner äußerte Bedenken, daß eine Erweiterung auf andere Produkte den Widerstand der baltischen Häfen gegen die Bevorzugung Königsbergs zur Folge haben müsse. Daher bekräftigte er den deutschen Standpunkt, soweit möglich die alten Bestimmungen beizubehalten. Mit Recht wies aber die sowjetische Delegation darauf hin, daß der deutsche Entwurf bereits vorsah, für mehrere Waren, die in der Fassung von 1894 nicht aufgeführt worden waren, direkte Tarife aufzustellen. Damit rechtfertigte sie ihren Wunsch nach der Erweiterung des Warenspektrums auf alle Transitwaren zwischen Königsberg und der UdSSR.76 Die Einführung direkter Tarife brachte große Schwierigkeiten mit sich, da die Mitwirkung aller Transitstaaten erzielt werden mußte. Infolge der kriegsbedingten Grenzziehung war außerdem nicht mehr zu erwarten, daß die sowjetische Bahn von einer Einführung direkter Tarife wie in der Vorkriegszeit profitieren würde. Dadurch, daß sich die russische Westgrenze weit nach Osten verschoben hatte, änderten sich auch die Eisenbahnverhältnisse grundlegend. Die Güter, die in den russischen Stationen, wie z. B. Moskau, abgefertigt und für den Königsberger Hafen bestimmt waren, rollten nun länger auf ausländischen als auf sowjetischen Schienen. Obwohl die Belebung des deutsch-sowjetischen Transitverkehrs lediglich durch die Einführung direkter Transittarife zu erreichen war, hielt es die sowjetische Delegation für angebracht, keine Klausel über die Gewährung direkter Tarife in das Eisenbahnabkommen aufzunehmen, mit der Begründung, daß die Herstellung durchgehender Staffeltarife unter den veränderten Grenzverhältnissen lediglich der sowjetischen Bahnverwaltung finanziell zur Last fallen werde. Im Gegensatz zum Transport nach Königsberg konnte die Beförderung bis Leningrad / Petersburg und Odessa ausschließlich auf sowjetischen Schienen stattfinden, deren Tariferlöse ebenfalls allein auf die sowjetische 76 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau) sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Bericht über die Beratungen über den Entwurf eines Eisenbahnabkommens zwischen Deutschland und der UdSSR, sowie dessen Anlage 2, Äußerungen der deutschen Vertreter zum Artikel IV des Eisenbahnabkommens, Sitzung der Unterkommission vom 18. Dezember 1924.
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Bahnverwaltung entfielen. Die sowjetischen Vertreter erklärten daher, daß die UdSSR ohne finanzielle Kompensation seitens Deutschlands nicht auf die Wünsche Königsbergs nach Einführung durchgehender Staffeltarife eingehen könne.77 Syndikus Berner versuchte, die sowjetische Delegation von der hohen Profitabilität des Königsberger Rußlandgeschäfts zu überzeugen. Der Handel von Getreide und Hülsenfrüchte im Hafen Königsberg sei in der Vorkriegszeit von russischer Seite als vorteilhaft betrachtet worden. Der Hafen Königsberg bot für Rußland den kürzesten Weg nach Westeuropa. Die Qualitätsminderung der Hülsenfrüchte, die der längere Schiffstransport von Odessa nach Westeuropa nach sich ziehen mußte, konnte beim schnellen Bahntransport von Rußland und der Ukraine nach dem Hafen Königsberg vermieden werden. Hier hatte sich seit dem Bau der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert das europaweit beste Handelssystem für Hülsenfrüchte entwickelt. Der neue Industrie- und Handelshafen mit dem Freihafenbezirk wurde im Jahr 1924 eingeweiht. Er war mit den modernsten Maschinenanlagen, geräumigen Speichern (dem größten Silo in Europa von 55.000 t und zwei neuen Silospeichern von 40.000 t) sowie Güterbahnanschluß ausgestattet.78 Für seinen Bau hatten sowohl das Reich und Preußen als auch die Stadt und die Provinz trotz der Nachkriegsnotlage außerordentliche Finanzmittel aufgebracht. In Speichern sollten die Hülsenfrüchte veredelt werden, wofür nur in Königsberg die hochmodernisierte Maschinenanlage zur Verfügung stand. Für die Preisbildung an der Börse und den Verkauf in Westeuropa war die Veredlung von besonderer Wichtigkeit. Die Preise der russischen Hülsenfrüchte waren bis zum Ersten Weltkrieg mit Hilfe der besten Kenner des Spekulationsgeschäfts an der Königsberger Börse besonders günstig gesteigert worden. Außerdem hatten sich die Königsberger Banken sowohl beim Verkauf nach Westeuropa (Lombardkredit) als auch beim Ankauf in der Ukraine und Rußland (Vorschußzahlung) engagiert.79 Der Betrieb des neuen Hafens erfolgte durch die Stadt77 PA AA, R 23852 (Deutsche Delegation Moskau) sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Bericht über die Beratungen über den Entwurf eines Eisenbahnabkommens zwischen Deutschland und der UdSSR, sowie dessen Anlage 2, Äußerungen der deutschen Vertreter zum Artikel IV des Eisenbahnabkommens, Sitzung der Unterkommission vom 18. Dezember 1924. 78 Cornelius Kutschke (Stadtbaurat in Königsberg): Königsberg als Hafenstadt, Königsberg 1930, S. 46 f. 79 Krause (1911), S. 497–524 und S. 546–576. Siehe auch Benecke (1925), S. 63 ff sowie Daugilajcky (1922), S. 3–22. Über die Besonderheit des Königsberger Linsengeschäfts äußerte einmal die sowjetische Handelsvertretung: „[…] die außerordentliche Differenzierung in der Qualitäts- und Preisklassifikation. […] Das oben Gesagte vermittelt einen Begriff von der Sorgfalt, die die Klassifikation, die Sortie-
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verwaltung und die Handelskammer, welche gemeinsam die Hafenbetriebsgesellschaft m. b. H. leiteten. Bei der Außenhandelsfinanzierung sowie der Lagerung spielten die vom Magistrat gegründete Stadtbank Königsberg und die Hafenbetriebsgesellschaft eine besondere Rolle. Seit 1924 war die UdSSR mit Handelsvertretung und Konsulat in Königsberg vertreten. Vor diesem Hintergrund betonte Berner, daß die Stadt imstande sei, die Stellung eines Zentralplatzes der russischen Handelsoperationen an der Ostsee zu behaupten. Obwohl Berner bei seinen Ausführungen das gemeinsame Interesse an der Förderung des Königsberger Handels betonte, war nicht zu verkennen, daß die Häfen Petersburg und Odessa für die sowjetische Volkswirtschaft nach dem Krieg infolge der Grenzziehung stärker an Bedeutung gewannen. Die Forderung der sowjetischen Delegation nach etwaigen finanziellen Kompensationen durch Deutschland für die Herstellung durchgehender Staffeltarife bis zum Hafen Königsberg war deshalb nicht ganz ungerechtfertigt. Zu Artikel 4 Absatz 3: Die sowjetische Delegation hielt die Fassung dieses Absatzes für unannehmbar. Der deutsche Entwurf sah die paritätische Behandlung zwischen dem Königsberger Hafen einerseits und den nicht zur UdSSR gehörenden Ostseehäfen andererseits bei der Einführung direkter Tarife vor. Demnach sollte sich die sowjetische Bahnverwaltung dazu verpflichten, nur dann direkte Tarife bis zu jenen Häfen einzuführen, wenn dem Hafen Königsberg die gleiche tarifliche Begünstigung sowie die kürzeste Transitstrecke durch die UdSSR und die Transitstaaten gesichert würden. Diese Fassung erweckte bei der sowjetischen Delegation den Eindruck, daß es der UdSSR untersagt werden solle, nach eigenem Ermessen mit den Transitstaaten Vereinbarungen über den Bahnverkehr und die Tarife zu treffen. Außerdem sollte lediglich die sowjetische Bahnverwaltung an diese Bestimmung gebunden sein. Eine entsprechende Verpflichtung der deutschen Bahnverwaltung war nicht vorgesehen. Berner machte der sowjetischen Delegation den Kompromißvorschlag, daß sich die Reichsbahn ebenso wie die sowjetische Bahn dazu verpflichten solle, vom Hafen Königsberg bis zu den Stationen der zwischen Deutschland und der UdSSR gelegenen Staaten direkte Tarife aufzustellen, sofern sich die betroffenen Länder bereit erklärten, dem Transit vom Hafen Königsberg nach der UdSSR die kürzeste Transitstrecke zur Verfügung zu stellen und direkte Tarife zu gewährleisten. Zum Schluß betonte der Syndikus der Königsberger Handelskammer noch einmal die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens gegenüber rung und Kalkulation der Linsen erfordert. Selbst unter den Importeuren sind genaue Kenner des Linsengeschäftes keine allzuhäufige Erscheinung“, in: „Königsberg und das Russengeschäft“ in: OEM, 8. Jg / Nr. 1, 1.10.1927, S. 1 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
den Transitstaaten: „Wenn Rußland und Deutschland ein Interesse an direkten Tarifen haben, dann müßten sie auch gemeinsam dahin streben, das fehlende Zwischenglied dadurch herzustellen, daß sie direkte Tarife mit den Zwischenstaaten nur einführen unter der Voraussetzung, daß diese Staaten auch im Transit durch ihre Länder an der Einstellung direkter Tarife zwischen Rußland und Königsberg mitwirken. Darin sehe ich keine unbillige Bindung der beiden Vertragsteile, sondern ein wohlverstandenes Interesse, jede Gelegenheit zu benutzen, um zum Ziele eines billigen Tarifs zu kommen.“80 Vergleicht man den Entwurf mit dem Vertragstext des Eisenbahnabkommens vom 12. Oktober 1925, wird deutlich, wie stark sich die Ergebnisse dieser Sonderbesprechung vom Dezember 1924 auf die endgültige Fassung des Vertrags auswirkten. Zum einen wurde die Einbeziehung der Häfen der UdSSR in die Häfenwettbewerbsregelung auf Wunsch Rußlands gänzlich fallen gelassen (Artikel 4a der endgültigen Fassung). Zum anderen wurde Artikel 4 Absatz 3 aus dem Hauptvertrag des Eisenbahnabkommens gestrichen. Anstatt dessen wurde eine schriftliche Vereinbarung über die Zusicherung der paritätischen Behandlung des Königsberger Hafens mit den nicht der UdSSR angehörenden Ostseehäfen bei dem sowjetischen Transithandel, vor allem bei der Herstellung direkter Tarife, in den geheimen Notenwechsel Nr. 9 des Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 aufgenommen.81 Die Fassung der geheimen Note, die ein gemeinsames Vorgehen Deutschlands und Rußlands gegen den etwaigen Widerstand der baltischen Staaten und Polens vorsah, bezog sich offenbar auf die von Berner und Niemack in Moskau vorgebrachten Gedanken. 3. Die Königsberger Eisenbahnkonferenz im Januar / Februar 1925 „Nach mehrfachen Äußerungen der Konferenzteilnehmer verlaufen die Arbeiten der deutsch-baltisch-russischen Eisenbahnkonferenz in Königsberg unter der Bedingungen vollständiger Solidarität und vollen Verständnissen für die beiderseitigen Interessen der vertragschließenden Parteien. Diese Tatsache gibt Grund zur Annahme, daß die Arbeit der Konferenz zu erfolgreichem Abschluß gebracht werden wird. Die Ergebnisse der Konferenz 80 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35d, RVM, Bericht über die Beratungen über den Entwurf eines Eisenbahnabkommens zwischen Deutschland und der UdSSR, sowie Anlage 2, Äußerungen der deutschen Vertreter zum Artikel IV des Eisenbahnabkommens, Sitzung der Unterkommission vom 18. Dezember 1924. 81 Note Nr. 9 (vertraulich), siehe hierzu Anhang Abb. 13 Seite 872.
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werden das erste Glied in der Kette der Wiederherstellung des direkten Eisenbahnverkehrs der U. d. S. S. R. mit Westeuropa darstellen.“82 Vom 9. Januar bis 14. Februar 1925 wurde die erste Verbandkonferenz zwischen den Eisenbahnverwaltungen von Deutschland, der UdSSR, Lettland und Litauen nach Königsberg einberufen (siehe Anhang, Abb. 2, S. 856). Die Voraussetzung zur Normalisierung des Transitgüterverkehrs zwischen Westeuropa und Rußland wurde erst durch die am 10. Januar 1925 erfolgte Außerkraftsetzung der handelspolitischen Bestimmungen des Versailler Vertrags, insbesondere Artikel 365, gegeben. Die Verhandlungen wurden durchgängig in solidarischer Atmosphäre zwischen den beteiligten Staaten geführt. Die erfolgreiche Arbeit der Königsberger Eisenbahnkonferenz führte zum Abschluß von zwei Abkommen, durch die eine Verbesserung des deutschsowjetischen Transitgüterverkehrs in den folgenden drei Bereichen erzielt wurde: 1. Die Abschaffung der Umladung zwischen den russischen breitspurigen und europäischen vollspurigen Waggons an der russisch-lettischen Grenze. 2. Die Einführung direkter Transittarife zwischen Deutschland, Litauen und der UdSSR durch Litauen bzw. Estland. 3. Die Sicherstellung der tariflichen Konkurrenzfähigkeit des Eisenbahngüterverkehrs gegenüber der Seeschiffahrt.83 Das Tarifabkommen zwischen Deutschland, der UdSSR, Lettland und Litauen trat erst fünf Monate nach seiner Unterzeichnung, am 15. Juli 1925, in Kraft.84 In der Geschichte des europäischen Eisenbahnverkehrs war der Erfolg der Königsberger Eisenbahnkonferenz im Februar 1925 als ein historischer Moment zu bezeichnen. Die Abschaffung der Umladung durch die Einführung der Umsetzungsmaßnahme im Güterbahnverkehr zwischen Westeuropa und Rußland, deren Versuche schon auf die Kriegszeit zurückgingen, wurde zum ersten Mal formell zwischen Deutschland, der UdSSR und den baltischen Staaten auf der Königsberger Eisenbahnkonferenz 1925 anerkannt. Die russischen Waggons waren an der russisch-lettischen Grenzstation Dünaburg durch die lettische Eisenbahn auf die vollspurigen Achsen umzusetzen. Außerdem wurde in Aussicht gestellt, die russischen Waggons durch Lettland und Litauen über die ostpreußische Grenze hinaus bis zum Hafen Königsberg fahren zu lassen, ohne die Güter an den Grenzbahnhöfen zu entladen. Die Abschaffung der Umladung trug 82 „Königsberger
Eisenbahnkonferenz“, in: OEM, 5. Jg. / Nr. 10, 15.2.1925, S. 5. Ergebnisse der Königsberger Eisenbahnkonferenz“, in: OEM, 5. Jg. / Nr. 11, 1.3.1925, S. 7. 84 „Der direkte deutsch-russische Güterverkehr“, in: OEM, 5. Jg. / Nr. 19, 1.7.1925, S. 3 f. „Mit dem 15. Juli 1925 tritt ein neuer Eisenbahngütertarif für den Verkehr zwischen der Deutschen Reichsbahn – Direktionsbezirk Königsberg (Pr.), und den Bahnen der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken über Litauen, Lettland und Estland, sowie zwischen den litauischen Eisenbahnen und den Bahnen der UdSSR über Lettland und Estland in Kraft.“ 83 „Die
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
zur Verkürzung der Lieferfristen sowie zur Einsparung der Transportkosten bei. Die Umladung hatte bisher normalerweise ca. 8 Dollar pro Wagen gekostet. Die Verhandlungen über die Herstellung direkter ermäßigter Gütertarife für den Transitverkehr zwischen Deutschland und der UdSSR stießen hingegen auf Schwierigkeiten. Die sowjetische Delegation zeigte zunächst keine große Neigung, direkte Tarife einzuführen, und wies darauf hin, daß die Eisenbahnstrecken in der UdSSR nach den Häfen und nach der trockenen Grenze ungefähr gleich groß seien und Rußland daher an einer Ermäßigung der Frachten nach der trockenen Grenze kein Interesse habe. Damit brachte sie ihren Entschluß zum Ausdruck, daß die UdSSR nicht darauf eingehen werde, den ausländischen Häfen, wie Königsberg und Riga, die gleichen Wettbewerbsbedingungen mit den Häfen Leningrad und Odessa einzuräumen. Selbstverständlich lag aber der deutsch-sowjetische Transitverkehr, der durch die Tarifermäßigung gefördert werden sollte, nicht nur im Interesse Königsbergs, sondern auch Rußlands. Aus wirtschaftsstrategischen Gründen konnte die UdSSR auf den Außenhandel mit Deutschland nicht verzichten und hielt sogar dessen Intensivierung für notwendig. Mit Rücksicht darauf erwiderte die deutsche Delegation, daß die Reichsbahn Tarifermäßigungen nur unter der Voraussetzung bewilligen könne, daß die sowjetische Bahnverwaltung entsprechende Lasten übernehme. Keinesfalls könne allein der Reichsbahn die Hauptlast aufgebürdet werden. Diese Erklärung verfehlte nicht ihre Wirkung auf die sowjetische Delegation. Der sowjetische Delegationsleiter Kirsanov erklärte,85 daß er zwar der Meinung sei, daß in der Frage direkter Tarife keine politischen Gesichtspunkte geltend gemacht werden dürften. Er äußerte aber ganz offen seine Bedenken, daß man in Moskau diese Angelegenheit im Gegenteil als hochpolitisch ansah. Die endgültige Anerkennung der Einführung direkter ermäßigter Transittarife durch Rußland hänge daher ausschließlich von der Entscheidung der oberen politischen Stellen Moskaus ab.86 Das Tarifabkommen wurde zwar Mitte Februar 1925 auf der Königsberger Konferenz zwischen den beteiligten Bahnverwaltungen (Deutschland, Litauen, Lettland und UdSSR) unterzeichnet, benötigte aber bis zu seiner Inkraftsetzung die Bestätigung durch die Regierungen. Die Reichsbahndirektion Königsberg bat das Auswärtige Amt deshalb darum, Brockdorff-Rantzau damit zu beauftragen, die maßgebenden Moskauer Stellen, vor allem Volkskommissar Čičerin, mit dem der Botschafter enge persönliche Beziehungen hatte, in dieser 85 Kirsanov war Vertreter des Volkskommissariats für Verkehrswesen der UdSSR in der Berliner Handelsvertretung. 86 PA AA, R 94551, Abschrift, Reichsbahndirektion Königsberg an Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft Hauptverwaltung, 5.2.1925.
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Richtung zu beeinflussen, damit die Sowjetregierung die Einführung direkter Tarife bis zum Hafen Königsberg nicht behindern werde.87 Auf die Anfrage Brockdorff-Rantzaus erwiderte das Moskauer Verkehrskommissariat Mitte März, daß prinzipiell keine Bedenken gegen die Regierungsbestätigung des in Königsberg unterzeichneten Tarifabkommens bestünden. Der Botschafter versicherte auch dem Auswärtigen Amt, auf Čičerin einzuwirken und ihn auf das beiderseitige Interesse Deutschlands und Rußlands an der Aufstellung direkter Transittarife bis zum Hafen Königsberg hinzuweisen.88 Das in Königsberg unterzeichnete Tarifabkommen beschränkte sich lediglich auf den Transitverkehr zwischen der UdSSR und der Provinz Ostpreußen. Die Versuche Deutschlands, auch für den Transitverkehr zwischen der UdSSR und dem übrigen Reichsgebiet direkte Transittarife aufzustellen, scheiterten am Widerstand Polens, das sich gegen den direkten Verkehr zwischen der UdSSR und dem Reich durch den Korridor verwehrte.89 Die neuen Transitgütertarife waren speziell für den Transport aus den Gebieten von Mittel-, Südwest-, Südost- sowie Westrußland nach Ostpreußen bestimmt. Hinsichtlich der Gütersendungen aus Süd- und Westrußland wurde dadurch dem Königsberger Hafen die Konkurrenzfähigkeit mit dem Hafen Leningrad gesichert. Hingegen stellten diese Tarife für den Verkehr aus dem Gebiet von Nord-, Nordwest sowie Nordostrußland keine Begünstigung dar. Für den Güterverkehr aus dem nördlichen Gebiet war die Verschiffung vom Hafen Leningrad ins Ausland maßgebend.90 In die Tarifstationen wurden ca. 200 Eisenbahnstationen in Ostpreußen, Litauen sowie Rußland hineingezogen. In Ostpreußen beteiligten sich insgesamt 21 Stationen der Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.), vor allem Königsberg, Pillau, Tilsit, Allenstein, Insterburg, Elbing und Marienburg, an diesen Tarifen. Für den Königsberger Handel war das Tarifabkommen deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Verladestationen von Hülsenfrüchten, vor allem Saratow, Tambow, Kursk, Pensa sowie Charkow in diese direkten Tarife einbezogen wurden. Die Ermäßigung der Tarife sollte für Flachs, Getreide, Hülsenfrüchte, Hanf und Hede, welche als Spezialwaren des Königsberger Hafens zu betrachten waren, nur bei ihrem Versand aus der UdSSR gelten.91 Für den direkten 87 Ebd.
88 PA AA, R 94551, Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 18.3. 1925. 89 BA, R 901 / 64210, Scholz (RVM) an Zechlin (AA), 16.2.1925. 90 „Direkter deutsch-russischer Güterverkehr“, in: Zeitschrift des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen, 65. Jg. / 1925, Nr. 27, S. 767. 91 In Litauen wurden 12 Stationen (Kowno, Wirballen, Schaulen usw.) in den direkten Tarif einbezogen. In Rußland beteiligten sich ca. 180 Eisenbahnstationen, und zwar auf der Moskau-Weißrussisch-Baltischen Bahn 21 Stationen (darunter Moskau, Mogilew, Smolensk, Witebsk,), auf der Westbahn 7 Stationen (darunter
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Verkehr zwischen den ostpreußischen, litauischen und sowjetischen Stationen wurde die Ermäßigung der Frachtsätze für die verschiedenen Artikel vorgenommen (für ca. 140 Güter). Auf deutschen Strecken variierten die Ermäßigungssätze zwischen 10 und 50 %, in den überwiegenden Fällen betrug die Ermäßigung etwa 30 %. Auf russischen Stecken variierten die Ermäßigungssätze zwischen 5 und 30 %, so daß die durchschnittliche Ermäßigung etwa 10 % betrug. Für die litauischen und lettischen Strecken waren im Tarif feste Frachtsätze genannt, in welche die ermäßigten Tarife (Transittarife) eingerechnet wurden. Im allgemeinen wurden damit die Frachtkosten, abgesehen von dem Transport aus den nördlichen Gebiet Rußlands, fast mit den Seefrachten (von den russischen Eisenbahnversandstationen über die russischen Häfen nach Deutschland) gleichgestellt. Dadurch wurde die Konkurrenzfähigkeit des Eisenbahngüterverkehrs mit der Schiffahrt hergestellt. Nach Mitteilung der Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.) seien die Zugeständnisse Deutschlands, die bei der Tarifermäßigung gemacht worden seien, deutlich größer als die der russischen Bahnverwaltung.92 Die auf der Königsberger Konferenz erzielten Ergebnisse waren für den deutsch-sowjetischen Handel, zumal für die Wiederbelebung des Königsberger Rußlandgeschäfts, von herausragender Bedeutung. Zum Inkrafttreten dieses Gütertarifs vom 15. Juli 1925 brachte man deshalb die Hoffnung zum Ausdruck: „Durch den Tarif wird dem Königsberger Hafen die Möglichkeit gegeben, seine alte Stellung als Stapelplatz für gewisse Güter aus Rußland wieder
Minsk), auf der Moskau-Kursk Eisenbahn 7 Stationen (darunter Kursk, NishniNowgorodo, Oral), auf der Moskau-Kiew-Woronescher Bahn 2 Stationen, auf der Süd-Westeisenbahn 7 Stationen (darunter Kiew, Odessa), auf der Süd-Ost Eisenbahn 14 Stationen (darunter Woronesch), auf der Süd-Bahn 10 Stationen (darunter Charkow), auf der Donez-Eisenbahn 6 Stationen, auf der Jekaterinen-Eisenbahn 3 Stationen (darunter Jekaterinoslaw), auf der Nord-Kaukasischen Eisenbahn 4 Stationen (darunter Stalingrad / Zarizyn), auf der Transkaukasischen Eisenbahn 2 Stationen (Baku und Tiflis), auf der Oktober-Eisenbahn / Nikolai-Bahn 2 Stationen (darunter Twer), auf der Nord- Eisenbahn 8 Stationen (darunter Jaroslawi, Rybinsk, Tscherepowez, Wologda), auf der Nord-West Eisenbahn 12 Stationen (darunter Kingissepp / Jamburg, Leningrad / Petersburg), auf der Rjäsan-Uralsker Bahn 20 Stationen (Saratow, Tambow), auf der Moskau-Kasaner Eisenbahn 3 Stationen (darunter Kasan, Pensa), auf der Ssysra-Wjasma Eisenbahn 9 Stationen, auf der SamaraSlatoust-Eisenbahn 14 Stationen (darunter Samara, Tschelijabinsk, Ufa), auf der Taschkenter Eisenbahn 3 Stationen (darunter Orenburg und Taschkent), auf der Perm Eisenbahn 3 Stationen (Perm, Swerdlowsk / Jekaterinsburg, Wjatka), auf der Omsker Eisenbahn 7 Stationen (darunter Omsk, Tjumen), auf der Tomsker Eisenbahn 10 Stationen (Nowo-Nikolajewsk, Tomsk), auf der Transbaikal Bahn 3 Stationen. „Der direkte deutsch-russische Güterverkehr“, in: Berliner Börsenzeitung, Sonderbeilage, 4.7.1925. 92 „Die Ergebnisse der Königsberger Eisenbahnkonferenz“, in: OEM, 5. Jg. / 1925, Nr. 11, S. 7.
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)629
herzustellen.“93 Die neuen Transittarife gewährten zwar eine Ermäßigung, ihre Wirkung auf den Königsberger Handel blieb jedoch bescheiden, da sie keine durchgehenden Staffeltarife von den sowjetischen Verladestationen bis zum Hafen Königsberg darstellten und die Sätze noch deutlich höher lagen als die sog. „Durchrechnung russischer Tarife“. Die vertragliche Festlegung durchgehender Staffeltarife sollte zuerst im deutsch-sowjetischen Handelsvertrag geschehen, dessen Zustandekommen die Königsberger Handelskammer mit aller Kraft anstrebte. 4. Im Vertrauen auf Rapallo. Die Königsberger Ostmesse von 1925 „Die Königsberger Messe gehört zweifellos zu den wenigen deutschen Messen, die erfahrungsgemäß als wirksamer Faktor der weiteren Entwicklung und Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Sowjet union und Deutschland zu betrachten sind. Die in den letzten Jahren vom Meßamt Königsberg durchgeführte schöpferische Arbeit verspricht die Bedeutung Königsbergs für die Belebung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen zu heben. Ich möchte nur die Eröffnung des neuen Hafens, die Errichtung moderner Silospeicher und die Einladungsanlagen, sowie den Bau des Hauses der Technik erwähnen. Die Ratifizierung der deutsch-baltisch-russischen Eisenbahnkonvention eröffnet für Ostpreußen neue Aussichten für den Verkehr mit Rußland.“94 Auf der Königsberger Eisenbahnkonferenz vom Januar / Februar 1925 machte man zur Wiederherstellung des deutsch-sowjetischen Transitverkehrs einen bedeutenden Schritt nach vorn. Zur selben Zeit war der Königsberger Magistrat bemüht, die Ergebnisse der deutsch-baltisch-sowjetischen Zusammenarbeit zum Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags weiterzuentwickeln. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen, die nach sechsmonatiger Unterbrechung erst im November 1924 in Moskau wiederaufgenommen worden waren, kamen nach der Weihnachtspause wieder zum Stillstand. Auf der X. Königsberger Ostmesse, die unmittelbar nach der Eisenbahnkonferenz vom 17. bis 20. Februar 1925 stattfand, hoben 93 „Der direkte deutsch-russische Güterverkehr“, in: Berliner Börsenzeitung, Sonderbeilage, 4.7.1925. Auch schrieb OEM: „Unter anderem wird der neue Tarif dem Hafen Königsberg Pr. die Möglichkeit bieten, die Stellung wieder einzunehmen, die er vor dem Kriege für den deutsch-russischen Handel gehabt hat.“ Siehe „Die Bedeutung des neuen deutsch-baltisch-russischen Eisenbahn-Gütertarifs für den deutsch-russischen Handel“, in: OEM, 5. Jg / Nr. 22, 15.8.1925, S. 1 f. 94 Schneersohn (Leiter der Messe- und Ausstellungsabteilung der Handelsvertretung der UdSSR in Berlin): „Rußland auf der XI. Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 5. Jg / Nr. 19, 1.7.1925, S. 10.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Reichskanzler Luther und Reichswirtschaftsminister Neuhaus die unablässigen Bemühungen Königsbergs um die Wiederherstellung des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverkehrs hervor. Die Reichsregierung hatte offenbar die Absicht, auf diesem Wege der Sowjetregierung die deutsche Initiative zur deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit zu propagieren.95 Eine Woche nach dem Abschluß der X. Ostmesse kehrte die von Koerner geleitete deutsche Handelsvertragsdelegation am 27. Februar 1925 nach Moskau zurück, um die seit Ende Dezember 1924 unterbrochenen Wirtschaftsverhandlungen mit der UdSSR fortzusetzen. Zur Wiederaufnahme der Verhandlungen sprach der Moskauer Botschafter, Brockdorff-Rantzau, von der Aufgabe des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags, „im Geiste der Freundschaft und der Anerkennung der wirtschaftlichen Bedürfnisse der Sowjetunion eine wirk liche tragfähige Brücke zwischen den beiderseitigen so verschiedenartigen Wirtschaftssystem zu schaffen.“ Unter Hinweis auf Luthers Rede auf der Königsberger Ostmesse brachte er in vollem Vertrauen auf die Königsberger Arbeit seine Hoffnung zum Ausdruck: „Ich freue mich, die Gelegenheit zu haben zu betonen, daß der Reichskanzler und ich uns in voller Übereinstimmung bezüglich der Interessengemeinschaft Deutschlands und der Sowjet union befinden. Die Zukunft wird den Beweis erbringen, daß die Interessengemeinschaft nicht nur auf dem Papier und in Reden besteht, sondern in erfolgreicher friedlicher Zusammenarbeit ihren konkreten Ausdruck findet.“96 Die Bemühungen des Magistrats und der Handelskammer fanden auch bei der Sowjetregierung volle Anerkennung. Auf der Tagung des Zentralexekutivkomitees in Tiflis äußerte Außenkommissar Čičerin: „Besonders großes Interesse für die UdSSR zeigt in letzter Zeit Ostpreußen. Dieses fand seinen Ausdruck u. a. in der Entsendung einer Sonderdelegation nach Moskau zur Wiederaufnahme der früheren Beziehungen mit der UdSSR.“97 Während sich auf der Königsberger Ostmesse vom Februar 1925 infolge der ungünstigeren Konjunktur die erwarteten Umsätze weder im Inlands95 „Die Bedeutung der 10. Ostmesse“, in: OEM, 5. Jg / Nr. 11, 1.3.1925, S. 1 f. So erklärte Luther auf der 10. Ostmesse: „Der Sinn der Deutschen Ostmesse ist ein doppelter: einmal soll sie dazu dienen, innerhalb des gesamten deutschen Wirtschaftslebens die Bande immer fester und enger zu knüpfen in der vollen Erkenntnis, daß das deutsche Wirtschaftsleben sich untereinander durch regen Wechselverkehr so sehr, wie nur irgend möglich, stärken muß, zum anderen aber will Ostpreußen mit dieser Ostmesse seine alte Aufgabe weiter erfüllen, die immer nach dem Osten gewiesen hat. Ostpreußen will mit dieser Messe seine alte Pioniertätigkeit in den Formen der Gegenwart, in den Formen des Handelsverkehrs, in den Formen industrieller Möglichkeit mit aller Kraft ausgestalten.“ Vgl. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 261, S. 496. 96 „Die deutsch-russischen Verhandlungen in Moskau“, in: OEM, 5. Jg / Nr. 12, S. 2. 97 „Tschitscherin: Königsbergs Arbeit“, in: OEM, 5. Jg, / Nr. 12, S. 2.
IV. Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau (1924)631
noch im Auslandsgeschäft erzielen ließen, gelang es dem Meßamt dennoch, die XI. Ostmesse vom August 1925 außergewöhnlich erfolgreich abzuschließen. Hieran hatte die Beteiligung der sowjetischen Delegation besonderen Anteil. Anläßlich der Eröffnung der XI. Ostmesse am 16. August wurde das neue „Haus der Technik“ in Anwesenheit des preußischen Ministers für Handel und Gewerbe, Walther Schreiber (DDP), eingeweiht. Das von Architekt Hanns Hopp entworfene Gebäude war die größte Maschinenausstellungshalle in Deutschland (120 m lang, 48 m breit und 13 m hoch) und mit den neuesten elektrischen Anlagen ausgestattet. Dadurch wurden der Maschinenvorführung und -ausstellung besonders günstige Bedingungen verschafft; zudem wurde die Maschinenabteilung auf ca. 15.000 m2 erweitert. Die sowjetische Handelsvertretung in Berlin organisierte zur XI. Ostmesse die größte Delegation, die nicht nur aus der Berliner Vertretung, sondern auch aus den Wirtschaftsorganen in Leningrad, Moskau und Weißrußland bestand. Die Delegation war damit beauftragt, sich nicht nur an der Ausstellung der russischen Exportwaren zu beteiligen und die Exportverhandlungen zu führen, sondern auch Kaufverträge insbesondere für Landmaschinen abzuschließen. Die russische Exportausstellung wurde unter Leitung der Messe-und Ausstellungsabteilung der Berliner Handelsvertretung, Schneersohn, organisiert. Aus Leningrad erschien der Präsident der Handelskammer Nordwest Makowezki mit zahlreichen Kollegen. Aus Moskau waren der Präsident und die Ingenieure der Zentralverwaltung der staatlichen vereinigten Maschinenbauwerke Rußlands (Gomsa) vertreten. Außerdem besuchte der Vorsitzende der Aktiengesellschaft für Elektrifizierung der Landwirtschaft der UdSSR, Zjurupa, der mit dem Einkauf deutscher Landmaschinen beauftragt war, die Ostmesse.98 Zur Einweihung des Hauses der Technik am 16. August erschien die sowjetische Delegation unter Führung des Generalsekretärs der Handelsvertretung, J. A. Pieper, sowie des Konsuls der UdSSR in Königsberg, Kantor. Die sowjetische Exportausstellung, die sich mit Rücksicht auf die bevorstehende Wiederaufnahme der russischen Exportoperation im Königsberger Hafen auf eine Musterkollektion von Hülsenfrüchten und russischen Lebensmitteln konzentrierte, wurde so stark besucht, daß der Eintritt zeitweilig eingeschränkt werden mußte.99 Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen gerieten jedoch seit der Aufnahme der Sicherheitsverhandlungen zwischen der Reichsregierung und den Westmächten im Februar 1925 in eine Sackgasse. So war ein Abschluß eines deutsch-sowjetischen Handelsvertrags nicht mehr von rein wirtschaftlicher Bedeutung. Ihm kam vielmehr die politische Aufgabe zu, 98 „Rußland
auf der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 5. Jg. / Nr. 21, S. 4. der Stadt Königsberg für das Jahr 1925, S. 168 f.
99 Verwaltungsbericht
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
die Ost- und Westpolitik auszubalancieren. Unter diesen Umständen erhoffte man sich von den Königsberger Initiativen, die in den deutsch-sowjetischen Beziehungen eingetretenen Spannungen zu überwinden und einen endgültigen Abbruch der Handelsvertragsverhandlungen zu vermeiden. Außenminister Stresemann, der die Rückkehr des Reichs in den Kreis der westeuropäischen Großmächte anstrebte, hatte die Absicht, den deutsch-sowjetischen Handelsvertrag vor dem Abschluß des Westsicherheitspakts zustande zu bringen, um so der Entente vor Augen zu führen, daß das Reich auch im Kreis der Westmächte völlige Handlungsfreiheit in seiner Ostpolitik behalte. Hingegen setzte sich sein Vorgänger Brockdorff-Rantzau mit ganzer Kraft dafür ein, die Westorientierung des Reichs und seinen Beitritt zum Völkerbund zu verhindern. Die Rapallo-Partnerschaft, die seinerzeit als Gegenstück zu Versailles geschmiedet worden war, durfte seines Erachtens durch einen Kurswechsel der deutschen Außenpolitik nicht vereitelt werden. So hob der Moskauer Botschafter wiederholt die außerordentliche Bedeutung der Königsberger Arbeit hervor. Die Deutsche Ostmesse in Königsberg sei als ein „wesentliche[r] Faktor zur Vertiefung und Ausgestaltung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen“ zu bezeichnen.100
100 Brockdorff-Rantzau schickte zur Eröffnung der Augustmesse 1925 seinen Begrüßungsbrief an den Direktor des Messeamts. „Die Königsberger Ostmesse in russischem Urteil“, von Alexis Markow, in: Sonderbeilage der Berliner Börsen-Zeitung, 15.8.1925.
Kapitel V
Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen und die Präambelfrage (1924 / 25)1 Der Beitritt zum Völkerbund (1926) war zweifellos der wichtigste Meilenstein auf Deutschlands Weg zurück in den Kreis der europäischen Großmächte. Seit seinem Amtsantritt sah Stresemann dies als eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Außenpolitik an. Zwangsläufig stellten seine Bestrebungen um den deutschen Beitritt die Bedeutung des Vertrags von Rapallo von neuem in Frage. Der Vertrag von Rapallo war als Gegenstück zum Diktat von Versailles abgeschlossen worden. Deutschland und Sowjetrußland hatten sich von diesem bilateralen Vertrag erhofft, die Notlage der beiden aus dem Versailler Siegerkreis ausgeschlossenen Staaten in enger Zusammenarbeit zu überwinden. Gleich nach Abschluß des Vertrags hatte deshalb Čičerin zur Völkerbundsfrage Stellung genommen und auch dahingehend Bedenken geäußert, daß der Bundesbeitritt Deutschlands bei gleichzeitigem Fernbleiben Rußlands eine mit dem Geist von Rapallo unvereinbare Situation schaffen könne, vor allem im Falle der Beteiligung Deutschlands an einer von Polen, England sowie Frankreich zu leitenden wirtschaftlichen bzw. militärischen Bundesexekution gegen Sowjetrußland.2 In den ersten Nachkriegsjahren hatte die Frage des deutschen Bundesbeitritts noch keine hohe Dringlichkeit besessen. Seit Herbst 1924 beschleunigten sich aber die Verhandlungen zwischen Deutschland und den Westmächten erheblich.3 Am 10. Januar 1925 wurden die handelspolitischen Vorschriften des Versailler Vertrags außer Kraft gesetzt, da der Völkerbund beschloß, keine Verlängerung dieser Regelungen zu beantragen. Damit gelang es Deutschland, sich als gleichberechtigter Handelspartner am Welthandelssystem zu beteiligen. Die Wiederherstellung der normalen Beziehungen zwischen Deutschland 1 Zur einschlägigen Literatur siehe die in „Teil III Einführung“ der vorliegenden Arbeit angegebenen Beiträge. 2 ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 161, 25.7.1922, Aufzeichnung von Maltzan, S. 333 ff. 3 Zur Völkerbundsbeitrittsfrage siehe Joachim Wintzer: Deutschland und der Völkerbund 1918–1926, Paderborn 2006. Im September 1924 überreichte die Reichsregierung an den Völkerbundsrat ihre Note hinsichtlich der Völkerbundsbeitrittsbedingungen Deutschlands.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
und den Alliierten forcierte auch den Gedanken, die Unantastbarkeit der bestehenden Westgrenze Deutschlands zu garantieren,4 was schließlich zum Abschluß der Locarno-Verträge im Herbst 1925 führte. In diesem Zusammenhang gewann die Frage des deutschen Völkerbundsbeitritts zunehmend an Bedeutung. Der Rückzug der ausländischen Streitkräfte aus den besetzten Westgebieten, die Erledigung der Reparationsfrage und der Völkerbundsbeitritt stellten die wichtigsten Aufgaben der Außenpolitik Stresemanns dar. Selbstverständlich verfolgte die Sowjetregierung diese Bestrebungen Deutschlands mit großer Skepsis. Man vermutete in Moskau, daß der Eintritt Deutschlands in die Liga von Versailles einer Abkehr vom RapalloKurs gleichkomme. Unabhängig davon schien den Sowjets die Gefahr vor allem darin zu bestehen, daß das Reich als Bundesmitglied seine Mitwirkung an einer etwaigen Bundesexekution gegen die UdSSR nicht verweigern könne, insbesondere im Falle eines sowjetisch-polnischen Krieges. Die Bedenken Rußlands bezogen sich insbesondere auf Artikel 16 der Völkerbundssatzung (Durchmarschrecht der Bundesarmee durch Deutschland). Daher versuchte Moskau, den Bundesbeitritt Deutschlands mit allen Mitteln zu verhindern. Nachdem die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen Mitte November 1924 in Moskau wiederaufgenommen worden waren, zielte das sowjetische Außenkommissariat darauf ab, neben dem eigentlichen Handelsvertrag eine über den Rapallo-Vertrag hinausgehende politische Regelung zustande zu bringen. Zwangsläufig wurden die Handelsvertragsverhandlungen dadurch außerordentlich belastet, daß dem ab zuschließenden Vertrag nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine eminent politische Bedeutung beigemessen wurde. 1. Die sowjetische Dezember-Initiative Am 4. Dezember 1924 sprach Victor Kopp, Mitglied des sowjetischen Außenkommissariats, bei Brockdorff-Rantzau in Moskau vor. Er hatte offenbar die Absicht, die Haltung Deutschlands in der deutsch-sowjetischen Vertrauensfrage zu sondieren. Im Zentrum stand die Regelung der politischen Verhältnisse zwischen Deutschland und Rußland insbesondere in der Polenfrage. So gab Kopp zu bedenken: „Wenn Deutschland weder auf seine Ansprüche in Oberschlesien noch auf den Korridor verzichte, könnte ein gemeinsamer deutsch-russischer Druck auf Polen ausgeübt werden.“ Brockdorff-Rantzau erwiderte, daß die deutsche Regierung auf ihren Anspruch auf Grenzrevision gegenüber Polen niemals verzichten würde. Er betonte zugleich, daß die Möglichkeit eines militärischen Vorgehens ausgeschlossen 4 Gustav Stresemann: Vermächtnis, Bd. II, Berlin 1932, Das Memorandum, 9.2. 1925, S. 62.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen635
sei (wörtlich „mit Gewalt diese durchzusetzen, sei gegenwärtig aber völlig aussichtslos; ein derartiger Versuch wäre Wahnsinn“). Somit lehnte der deutsche Botschafter die gewaltsame Grenzrevision durch ein deutsch-sowjetisches Militärbündnis strikt ab. Selbstverständlich war auch die UdSSR mit ihrer Grenze gegen Polen unzufrieden. Infolge des polnisch-sowjetischen Kriegs war die Ostgrenze Polens weit östlich von der Curzon-Linie gezogen worden. Obwohl die Festlegung der polnisch-litauischen Grenze im Rahmen des polnisch-sowjetischen Rigaer Friedensvertrags von 1921 offengelassen worden war, setzte die Botschafterkonferenz der Alliierten 1923 die polnische Ostgrenze fest. Sie akzeptierte damit die polnische Souveränität über Wilna. Ihre Entschließung wurde außerdem durch den Völkerbund anerkannt. Die UdSSR stützte sich hingegen stets auf den sowjetisch-litauischen Moskauer Friedensvertrag von 1920, der das Wilnagebiet für litauisch erklärte. Vor diesem Hintergrund stellte Kopp dem deutschen Botschafter die Frage, ob die deutsche Regierung sich bereitfinden werde, durch den etwai gen Eintritt des Reichs in den Völkerbund die Unverletzlichkeit der durch den Versailler Vertrag geschaffenen Grenzverhältnisse voll anzuerkennen. Kopps Frage bezog sich unmittelbar auf die Ostgrenze Polens. BrockdorffRantzau stellte die Gegenfrage, ob die Sowjetregierung beabsichtige, die Westgrenze Polens entweder im Zusammenwirken mit Frankreich oder mit Polen bzw. mit diesen beiden Staaten zu garantieren. Kopp erwiderte, daß es den gemeinsamen Interessen Berlins und Moskaus entspräche, wenn die deutsche Regierung keine Garantie für die Ostgrenze Polens und die Sowjetregierung keine Garantie für die Westgrenze Polens abgäbe. Kopp machte dem deutschen Botschafter schließlich den Vorschlag, baldmöglichst in einen deutsch-sowjetischen Gedankenaustausch über diese Angelegenheiten einzutreten. Brockdorff-Rantzau brachte dafür seine Unterstützung zum Ausdruck.5 Unmittelbar nach dem Eingang der Mitteilung Brockdorff-Rantzaus aus Moskau ergriff in Berlin Staatssekretär v. Maltzan die Initiative und instruierte den Botschafter, „mit [der] Sowjetregierung in vertraulichen Meinungsaustausch über polnische Frage ein[zu]treten und dabei zum Ausdruck [zu] bringen, daß [die] deutsche Regierung es begrüßen würde, wenn Deutschland und Rußland über [die] polnische[n] Angelegenheiten dauernd vertrauensvolle Fühlung hielten.“6 Maltzan faßte dabei vor allem die Grenzfrage ins Auge. Die Grenzziehung von Versailles widersprach dem Prinzip der Selbstbestimmung der Völker. Folglich stand Polen nach dem Krieg mit allen Nachbarstaaten im Grenzstreit. Von diesem Stand5 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 212, Botschafter v. Brockdorff-Rantzau, 5.12.1924, S. 517 ff. 6 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 230, Staatssekretär v. Maltzan, 13.12.1924, S. 577 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
punkt aus brachte Maltzan in seiner Instruktion auch eine mögliche Zurückdrängung Polens auf seine ethnographische Grenze zur Sprache: „Ob schon jetzt anzudeuten ist, daß für Deutschland und Rußland [die] Lösung [der] polnische[n] Frage wohl in [der] Zurückdrängung Polens auf seine ethnographischen Grenzen läge, stelle ich dortigen Ermessen je nach Gang [der] Gespräche anheim.“7 Auf Grund dieser Instruktion führte am 20. Dezember 1924 der deutsche Botschafter ein Gespräch mit dem sowjetischen Außenkommissar in Moskau. Auf die Mitteilung von Maltzans Instruktion erwiderte Čičerin zunächst mit Bedauern, daß die deutsche Regierung jetzt von dauernder Fühlungnahme lediglich über die polnische Frage spreche, während die Sowjetregierung einen fortlaufenden deutsch-sowjetischen Gedankenaustausch über allgemeine politische Fragen angeregt habe. Obwohl Deutschland von Rußland verlange, daß Rußland in der Frage der polnischen Westgrenze den deutschen Standpunkt vertreten solle, beschränke sich das Angebot Deutschlands in der Völkerbundsfrage ausschließlich auf die Einhaltung der Neutralität gegenüber der UdSSR. Seine Darstellung stand offenbar im Widerspruch mit dem Vorschlag Kopps, der lediglich die Polenfrage ins Auge gefaßt hatte. Brockdorff-Rantzau entschloß sich, das heikelste Thema, das der Instruktion Maltzans zu entnehmen war, anzuschneiden, und äußerte, „daß die Lösung der polnischen Frage von Deutschland und Rußland wohl in einem Zurückdrängen Polens auf seine ethnographischen Grenzen liege.“ Diese Formulierung beeindruckte den sowjetischen Außenkommissar außerordentlich, indem er diesen Text Maltzans als „von besonderer Wichtigkeit“ bezeichnete.8 Diese Unterredung zwischen Brockdorff-Rantzau und Čičerin hinterläßt den Eindruck, als ob der Außenkommissar die erste Anregung Kopps bei Brockdorff-Rantzau überhaupt nicht gekannt habe. Merkwürdig war auch Čičerins Kenntnisstand bei der zweiten Unterredung mit dem deutschen Botschafter vom 25. / 26. Dezember 1924, die der Außenkommissar mit der Erklärung begann, daß die Sowjetregierung die freundschaftliche Offenheit der deutschen Regierung in der polnischen Frage aufrichtig begrüße. Damit stellte er die Geschehnisse so dar, als ob die erste Initiative zu dieser Unterredung von deutscher Seite – nämlich durch BrockdorffRantzau am 20. Dezember – ausgegangen wäre. Čičerin fügte hinzu, daß die Sowjetregierung nur dann bereit sei, in die Erörterung der von Berlin aufgeworfenen Regelung der Polenfrage einzutreten, wenn gleichzeitig die Regelung der allgemeinen politischen Verhältnisse beider Staaten, womit Čičerin die Völkerbundsfrage meinte, vorgenommen werde. Brockdorff7 Ebd.
8 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 258, Staatssekretär v. Schubert, 29.12.1924, dessen Anm. 2, S. 641 f.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen637
Rantzau war über diese Erklärung des Außenkommissars nicht wenig erstaunt. Er erinnerte daran, daß die erste Anregung über die Polenfrage doch von Kopp ausgegangen sei. Čičerin behauptete jedoch, daß Kopp sich nur als Privatmann geäußert habe.9 Nach dieser Erklärung des sowjetischen Außenkommissars ließ sich die Frage der ersten Initiative über die Polenfrage nicht mehr weiter diskutieren. Sie wurde aber am 1. Oktober 1925, kurz vor der Abreise Stresemanns nach Locarno, zwischen ihm und Čičerin erneut aufgeworfen. Bei diesen Unterredungen vom 25. / 26. Dezember 1924 gelang es dem sowjetischen Außenkommissar, die Frage des deutschen Völkerbundseintritts mit einer deutsch-sowjetischen Vertrauensfrage, also mit der Frage eines einheitlichen Vorgehens Deutschlands und Rußlands in der Polenfrage in Verbindung zu bringen. Čičerin wies zunächst auf das angespannte Verhältnis zwischen der UdSSR und Großbritannien hin. Er äußerte, „die Sowjetunion könne einen Weg, der, wie die Lösung der polnischen Frage, offensichtlich für sie Gefahren in sich berge, nur betreten, wenn sie sich vorher mit Deutschland über Fragen der allgemeinen Politik verständigt habe.“10 Daher schlug der Außenkommissar eine gegenseitige Verpflichtung Deutschlands und Rußlands vor. Deutschland dürfe keine Abmachungen mit Großbritannien treffen, die gegen Rußland gerichtet seien, Rußland hingegen dürfe keine Abmachungen mit Frankreich treffen, die gegen Deutschland gerichtet seien. Brockdorff-Rantzau, der diesen Vorschlag für zu weitgehend ansah, stellte die Frage, ob der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund in diesem Kontext zu begreifen sei. Darauf erwiderte der Außenkommissar lediglich, es wäre die ideale Lösung, den Beitritt Deutschlands und Rußlands zum Völkerbund gleichzeitig zu vollziehen. Der Kern der sowjetischen Vorschläge schien deshalb in der Verknüpfung der Völkerbundsfrage mit der deutsch-russischen Vertrauensfrage schlechthin zu bestehen. Čičerin betonte, „die Voraussetzung, die die hiesige Regierung vor gemeinsamer Behandlung der polnischen Frage vorschlage, sei, daß die deutsche und die russische Regierung sich verpflichteten, ihrerseits mit dritten Parteien in keine politischen oder wirtschaftlichen Bündnisse oder Verständigungen einzutreten, die gegen die andere gerichtet seien.“ Und zweitens, daß die Völkerbundsfrage zwischen beiden Staaten geregelt werden solle: „Deutschland und die Sowjetunion verpflichten sich, im weiteren Lauf der Ereignisse in der Frage des Beitritts zum Völkerbunde bzw. der Entsendung eines Beobachters ihre Aktionen zu koordinieren.“11 9 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 261, Brockdorff-Rantzau, 29.12.1924, dessen Anlage, S. 649. 10 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 261, Brockdorff-Rantzau, 29.12.1924, S. 646 ff. 11 Ebd., Anlage, S. 648 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Die deutsche Regierung zögerte, zu diesen sowjetischen Vorschlägen eindeutig Stellung zu beziehen. Währenddessen schritten die Verhandlungen zwischen Deutschland und den Westmächten über den Völkerbundsbeitritt weiter fort. Inzwischen beschloß Berlin außerdem, in den Gedankenaustausch mit den Westmächten über die Sicherheitsangelegenheiten einzutreten. Die neue Entwicklung in der Westfrage nahm Anfang 1925 von Vorschlägen der Reichsregierung gegenüber Frankreich und England ihren Ausgang.12 Hinsichtlich der Sicherheitsgarantie an der deutschen Westgrenze sah Berlin zwei Aufgaben: Zum einen war die Räumung der besetzten Kölner Zone zu erzielen, damit die Räumung des gesamten besetzten Westgebiets ins Rollen kommen könnte. Zum anderen sollte eine Verständigung mit den Westmächten über die Handlungsfreiheit Deutschlands in der Polenfrage als Gegenleistung für die deutsche Westgrenzengarantie erreicht werden.13 Stresemann hatte nicht die Absicht, für die Westorientierung die Beziehungen zu Rußland zu opfern, sondern legte vielmehr auf die Ausbalancierung der Ost- und Westpolitik großen Wert. Er ging aber davon aus, daß die Räumung der besetzten Westgebiete die dringlichste Aufgabe sei, deren Erledigung auf keinen Fall durch die Ostorientierung verhindert werden dürfe. In diesem Sinne hielt er eine stärkere Annäherung an Rußland einstweilen für unmöglich. Stresemann vertrat den Standpunkt, daß die Ostorientierung nur insofern von Bedeutung sei, als sie den Westmächten zeige, daß das Reich trotz der Rückkehr in den Kreis der Großmächte seine Außenpolitik nicht ohne weiteres deren Willen unterwerfen werde und seine Handlungsfreiheit in der Ostpolitik behalten wolle.14 2. Nach der Osterpause 1925 Die Reichsregierung unterließ es weiterhin, auf die sowjetischen Dezember-Vorschläge zu antworten. Zwangsläufig stießen damit auch die Wirtschaftsverhandlungen auf Schwierigkeiten. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen, die seit der Weihnachtspause Ende 1924 kurz zum Stillstand gekommen waren, wurden Anfang März 1925 in Moskau wiederaufgenommen.15 Ende Februar 1925 kehrten Koerner und seine Delegation nach Moskau zurück. Während ihrer Abwesenheit in Moskau hatte 12 Stresemann,
Bd. II (1932), Memorandum, 9.2.1925, S. 62 f. (1961), S. 809–848 (hier S. 820). Rosenfeld wies auf die Versuche Groß britanniens und Frankreichs hin, Deutschland in der Frage der Korridorrückgabe Zugeständnisse zu machen. Rosenfeld, Bd. II (1984). S. 144 f. 14 BA, R 43 I / 134, Bd. 5, Bl. 260 ff., Aufzeichnung über die Ministerbesprechung in der Reichskanzlei vom 24.6.1925. 15 PA AA, R 23931 (Handakten v. Koerner), Deutsche Delegation Moskau (v. Koerner) an AA, 19.3.1925. AA an v. Koerner, 19.3.1925. 13 Ruge
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen639
das sowjetische Außenkommissariat wiederholt versucht, unmittelbar auf Brockdorff-Rantzau einzuwirken. Mitte Januar 1925 hatte Litvinov dem deutschen Botschafter vorgeschlagen, vor der Wiederaufnahme der Delegationsverhandlungen in Moskau eine vertrauliche Besprechung in kleinem Kreis stattfinden zu lassen. Brockdorff-Rantzau hatte erwidert, daß die Ergebnisse der bisherigen Moskauer Verhandlungen erst innerhalb der Berliner Ressorts diskutiert werden müßten, womit er die Aussichtslosigkeit der von Litvinov gewünschten Besprechung andeutete. Ebenso wie Litvinov hatte Kopp versucht, Brockdorff-Rantzau von den Vorteilen einer vertraulichen Aussprache in kleinem Kreise zu überzeugen.16 Das Auswärtige Amt hielt es jedoch für geboten, sich gegenüber derartigen Vorschlägen, wie sie seit Dezember 1924 durch das Außenkommissariat wiederholt gemacht worden waren, äußerst vorsichtig zu verhalten. Anfang Februar 1925 beschloß Berlin, das Angebot Moskaus zu einer geheimen Besprechung über den Handelsvertrag zurückzuweisen und die gesamte Delegation unter Koerners Leitung wieder nach Moskau zu entsenden.17 Die Verhandlungen wurden daraufhin zwar Anfang März wiederaufgenommen. Nach der Osterpause traten aber die Meinungsunterschiede zwischen beiden Parteien deutlich zutage. Die Nebenabkommen (Konsular-, Rechtshilfe-, Nachlaß-, Niederlassungs- sowie Seeschiffahrtsabkommen) wurden bereits Mitte April annähernd abschließend formuliert.18 Hingegen wurde über das Eisenbahn-, Schiedsgerichts-, Übernahme- sowie Wirtschaftsabkommen, die den Kern des Handelsvertrags bildeten, noch keine Einigung erzielt.19 Außerdem hatten die Verhandlungen über das Binnenschiffahrts-, Steuer- sowie gewerbliche Rechtsschutzabkommen, deren Entwürfe von der deutschen Seite bereits vorgelegt worden waren, überhaupt noch nicht begonnen. Selbstverständlich blieb auch der Mantelvertrag, der die einzelnen Abkommen zu einem Handelsvertrag zusammenfassen sollte, noch offen.20 Ende April 1925 forderten die deutschen Handels- und Industrieverbände mit Rücksicht auf die bisher unerfüllten Wirtschaftswünsche Deutschlands, insbesondere in der Transit- und Meistbegünstigungsfrage, 16 PA AA, R 23933 (Handakten v. Koerner), Telegramm, Brockdorff-Rantzau an AA, 18.1.1925. 17 PA AA, R 23933 (Handakten v. Koerner), Telegramm, Brockdorff-Rantzau an AA, 16.2.1925. 18 PA AA, R 23931 (Handakten v. Koerner), Deutsche Delegation Moskau an Koerner (Berlin), 22.4.1925. 19 PA AA, R 23931 (Handakten v. Koerner), Deutsche Delegation Moskau an Wallroth (AA), 24.3.1925. 20 BA, R 43 I / 134, Bd. 5, Bl. 234 ff., Abschrift, Aufzeichnung betr. den Stand und die Fortsetzung der deutsch-russischen Verhandlungen, 15.4.1925. PA AA, R 23933 (Handakten v. Koerner), Aufzeichnung, 15.4.1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
die Verhandlungen von Moskau nach Berlin zu verlegen, damit Deutschland die Oberhand gewinnen könnte.21 In der Agrarfrage lehnte das Reichswirtschaftsministerium den sowjetischen Antrag auf Abschluß eines Getreidezolltarifabkommens mit Rücksicht auf andere meistbegünstigte Staaten strikt ab. Außerdem wandte sich die deutsche Agrarlobby durchgängig gegen die Ausweitung des russischen Viehexports. Reichsernährungsminister v. Kanitz stellte sich in dieser Frage selbstverständlich auf die Seite der Agrarier.22 Angesichts der divergierenden Interessenlage zwischen der deutschen und russischen Wirtschaft hielt Koerner eine Unterbrechung der gesamten Handelsvertragsverhandlungen für nicht unwahrscheinlich. Im Gegensatz dazu versuchte das Auswärtige Amt mit allen Mitteln, die Unterbrechung der Verhandlungen zu vermeiden. Die Verlegung der Verhandlung von Moskau nach Berlin sollte bei der sowjetischen Seite lediglich den Eindruck erwecken, daß in der deutschen Außenpolitik ein Kurswechsel eingetreten sei, infolge dessen sich Berlin mehr als bisher für seine Westpolitik einzusetzen beabsichtige. Seit der Aufnahme der Westsicherheitspaktsverhandlungen verstärkte sich der Argwohn der Sowjetregierung gegen die Haltung Berlins. Im Februar 1925 trat die Reichsregierung in Verhandlungen mit Frankreich und Großbritannien ein,23 obwohl diese zu Čičerins Dezember-Vorschlägen noch nicht Stellung bezogen hatte. Es war dem Auswärtigen Amt gänzlich unklar, worauf die Sowjetregierung überhaupt abzielte. Falls die Sowjets ein militärisches Bündnisabkommen mit Deutschland anstrebten, mußten alle Angebote Moskaus zurückgewiesen werden. Der deutsche Botschafter in Moskau lehnte aus diesem Grund den Abschluß eines Militärbündnisses mit Entschlossenheit ab. In dieser Frage bestand völlige Übereinstimmung zwischen Brockdorff-Rantzau und Stresemann. Der Außenminister war der Ansicht, daß lediglich der Abschluß eines Neutralitätsvertrags zwischen Deutschland und der UdSSR gegen alle militärischen Vorgehen in Betracht käme, vor allem mit Rücksicht auf den künftigen Beitritt des Reichs zum Völkerbund.24 Man war sich in Berlin bewußt, worum es sich eigentlich bei Moskaus Widerstand gegen den deutschen Völkerbundsbeitritt handelte. Die Sowjet21 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 9, Reichsverband der deutschen Industrie, 29.4.1925, S. 25 ff. 22 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 81, Reichsverband der Deutschen Industrie, 3.6.1925, sowie dessen Anlage, 27.5.1925, S. 211 ff. Vgl. Anderle (1967), S. 394 ff. 23 Wintzer (2006), S. 449 ff. 24 Helbig (1958), S. 169 ff. Siehe auch das Gespräch Brockdorff-Rantzaus mit Rykov, in: ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 115, Brockdorff-Rantzau, 24.2.1925, S. 280 ff.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen641
regierung hatte offenbar Bedenken dagegen, daß das Reich auf Grund der Völkerbundssatzung zur Durchführung etwaiger Sanktionen gegen die UdSSR verpflichtet sein würde, vor allem im Falle eines polnisch-russischen Kriegs.25 Es ging darum, ob der Durchmarsch der Völkerbundsmächte durch Deutschland nach der Kriegsfront zuzulassen sei. In dieser Frage war Stresemann fest entschlossen, die Völkerbundssatzung (Artikel 16: das Durchmarschrecht bei der Bundesexekution) auf keinen Fall vorbehaltlos anzunehmen. Die Reichsregierung versuchte deshalb, Zugeständnisse der Westmächte für eine Ausnahme Deutschlands von den Bestimmungen des Artikels 16 zu erzielen. Auf Anfrage der Reichsregierung teilte aber der Völkerbundsrat Mitte März 1925 mit, daß im Sinne der generellen Verpflichtungen eines jeden Bundesmitgliedes eine Ausnahmebehandlung Deutschlands nicht zuzulassen sei. Stresemanns Vorhaben, den Eintritt Deutschlands nur im Falle der Befreiung von der Verpflichtung von Artikel 16 zu vollziehen, stieß somit auf Schwierigkeiten. Die Westmächte hatten bereits ihre Zusage zur Aufnahme Deutschlands in den Völkerbundsrat gegeben. Ein weiteres Beharren auf die Ausnahme von den Verpflichtungen von Artikel 16 mußte die Verhandlungsposition Deutschlands schwächen. Unter diesen Umständen sah sich Stresemann genötigt, die Bedenken Rußlands gegen den Völkerbundsbeitritt, insbesondere gegen Artikel 16, zu zerstreuen und zugleich weiterhin zu versuchen, Zugeständnisse der Völkerbundsmächte in dieser Frage zu erreichen. Nachdem Čičerin und Litvinov wiederholt bei Brockdorff-Rantzau Auskunft über den Gang der Westverhandlungen sowie eine Antwort Deutschlands auf die sowjetischen Dezember-Vorschläge gefordert hatten,26 entschloß sich Stresemann Mitte März 1925, die Regelung der politischen Verhältnisse zwischen Deutschland und der UdSSR zu erörtern. Er beauftragte den Botschafter, die Sowjetregierung über den Westsicherheitspakt sowie den Völkerbundseintritt zu informieren, und übergab ihm diesbezüglich eine ausführliche Instruktion. Darin rechtfertigte Stresemann die Versuche Deutschlands zur Restaurierung der Beziehungen zu den Westmächten und bat die Sowjetregierung um Verständnis für die prekäre politische Lage Deutschlands, indem er die außerordentliche Wichtigkeit der Räumung der besetzten Westgebiete hervorhob. Um diese zu erreichen, sehe sich die Reichsregierung gezwungen, einen Garantiepakt für die Westgrenze abzuschließen und dem Völkerbund beizutreten. Hingegen sei die Einbeziehung 25 Über die Auslegung der Völkerbundssatzung vor allem hinsichtlich der Wirkung für Deutschland im Falle eines polnisch-sowjetischen Kriegs siehe: LocarnoKonferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, hg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1962, Dok. 12, Aufzeichnung über die Bedeutung des Artikels 16, Anfang April 1925, S. 91 ff. 26 ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 143, Brockdorff-Rantzau, 8.3.1925, S. 315 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
der Oststaaten, vor allem Polens, in diesen Garantiepakt, welchen Frankreich stark anstrebe, unbedingt zu verhindern. Das Reich sei lediglich bereit, mit Polen und Tschechoslowakei Schiedsverträge abzuschließen, die auf keinen Fall die Anerkennung der durch den Versailler Vertrag geschaffene Ostgrenzen Deutschlands darstellen dürften. Die Westmächte seien der Auffassung, daß Deutschland dem Völkerbund beitreten müsse, wenn der Garantiepakt sich lediglich auf die Westgrenze beschränken würde, um auf diesem Wege internationale Sicherheit für die deutsche Ostgrenze zu schaffen. Sie erachteten den deutschen Völkerbundsbeitritt auch als notwendige Vorbedingung für die Räumung des Rheinlands.27 Hinsichtlich der Bundesexekutionsfrage vertrat Stresemann den Standpunkt, daß die Verpflichtungen von Artikel 16 keine Hindernisse für den Ausbau der deutsch-sowjetischen Beziehungen darstellten, vor allem aus zweierlei Gründen: 1. Beim Beitritt zum Völkerbund solle Deutschland nach der Erklärung der Ratsmächte ein Sitz im Völkerbundsrat eingeräumt werden. Deutschland würde dann als Ratsmitglied stets in der Lage sein, eine etwaige Bundesexekution gemäß Artikel 16, der die Einstimmigkeit der Ratsmitglieder benötige, zu verhindern. 2. Sollte die Bundesexekution dennoch einstimmig beschlossen werden, bedeute dies noch nicht die Teilnahme Deutschlands an dieser Maßnahme. Ebenso wie den anderen Bundesmitgliedstaaten bliebe es dem Reich überlassen, ob es sich an der Aufstellung der Völkerbundsarmee beteiligen und dieser den Durchmarsch gewähren wolle. Lediglich im Falle wirtschaftlicher Sanktionen sei die Nichtmitwirkung Deutschlands unzulässig.28 Aus dieser Interpretation der Völkerbundssatzung zog Stresemann die Konsequenz, daß die Reichsregierung auch nach dem Bundesbeitritt keineswegs ihre Neutralität gegenüber der UdSSR aufgeben werde. Daher wies Stresemann im Sinne seiner Beantwortung der sowjetischen DezemberVorschläge auf die Möglichkeit hin, zunächst den Abschluß eines deutschsowjetischen Neutralitätsvertrags in Erwägung zu ziehen, wobei von einem offensiven bzw. defensiven Militärbündnisvertrag gegen dritte Mächte keine Rede sein konnte. So stellte Stresemann mit Rücksicht auf die seinerzeit von Kopp aufgeworfene Polenfrage fest: „Wenn ich mir z. B. den Fall vorstelle, daß Ereignisse eintreten, die eine Zurückdrängung Polens in seine 27 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 279, Schreiben von Stresemann, 19.3.1925, S. 532 ff. Vgl. Anderle (1967), S. 396. Walsdorff (1971), S. 87 ff. 28 Die Auslegung Deutschlands über die Völkerbundssatzung vor allem in Anbetracht eines möglichen polnisch-sowjetischen Kriegs siehe: ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 268, S. 705–709, zur Bedeutung von Artikel 16 der Völkerbundssatzung für Deutschland, S. 706 ff. In gekürzter Fassung siehe auch: Locarno-Konferenz 1925, Dok. 12, Aufzeichnung über die Bedeutung von Artikel 16, Anfang April 1925, S. 91 ff.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen643
ethnographischen Grenzen unmittelbar in den Bereich der Möglichkeit rücken, so wäre es sehr wohl denkbar, daß ein aktives Eingreifen Deutschlands durch seine Zugehörigkeit zum Völkerbunde stark gehemmt würde.“29 Somit lehnte er es ab, eine Revision der polnischen Grenze im militärischen Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands vorzunehmen. Hinsichtlich der Militärbündnisfrage stimmte Brockdorff-Rantzau zwar mit Stresemann überein. Auch er war von der Unmöglichkeit eines militärischen Vorgehens gegen Polen überzeugt;30 es erschien ihm aber unzulässig, der Sowjetregierung das Memorandum Stresemanns als die von ihr lange erwartete Antwort auf die sowjetischen Dezember-Vorschläge zu übergeben. Stresemanns Argumenten war deutlich zu entnehmen, daß die Reichsregierung es als ihr unverletzliches Recht ansah, über den Völkerbundsbeitritt unabhängig von Moskau zu entscheiden. Brockdorff-Rantzau war aber bewußt, daß Moskau beabsichtigte, den deutschen Völkerbundsbeitritt im Sinne der Rapallo-Partnerschaft von der Zustimmung der Sowjetregierung abhängig zu machen. Die Entschließung Stresemanns in der Frage des Völkerbunds widersprach deshalb dem Kernanliegen der DezemberVorschläge. Stresemann war lediglich bereit, die politischen Verhältnisse beider Seiten zu regeln, unter der Voraussetzung eines schon festgelegten Völkerbundsbeitritts des Reiches. Unter diesen Umständen sah sich der Moskauer Botschafter dazu gezwungen, zunächst die Übergabe von Stresemanns Ausführungen an die Sowjetregierung zu unterlassen. Er lehnte es ab, die Politik Berlins gegenüber der Sowjetregierung zu vertreten, und teilte dem Auswärtigen Amt mit: „Hiesige Regierung wird sich niemals davon überzeugen lassen, daß unser Eintritt, sofern er unter den in der Note Sir Eric Drummonds geforderten Bedingungen erfolgt, nicht eine völlige Abkehrung von unserer bisher im Osten geführten Politik bedeutet.“31 Brockdorff-Rantzaus Überzeugung, daß der Völkerbundsbeitritt die Fortführung des Rapallo-Kurses unmöglich mache, stimmte mit der Auffassung der Sowjetregierung überein. In dieser Kontroverse vertrat der deutsche Botschafter somit nicht die Politik der deutschen Regierung gegenüber Moskau, sondern die Politik der Sowjetregierung gegenüber Berlin.32 Der Eindruck eines Kurswechsels in der deutschen Außenpolitik wurde durch den Tod von Reichspräsident Friedrich Ebert Ende Februar 1925 noch 29 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 279, Schreiben von Stresemann, 19.3.1925, S. 532 ff. ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 182, Stresemann, 19.3.1925, S. 456 ff. 30 Helbig (1958), S. 169 ff. Walsdorff (1971), S. 225 ff. ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 115, Brockdorff-Rantzau, 24.2.1925, S. 280 ff. 31 ADAP, Ser. A, Dok. 208, Brockdorff-Rantzau, 28.3.1925, S. 530 ff. Sir J. E. Drummonds war der Generalsekretär des Völkerbunds. 32 Rosenfeld, Bd. II (1984), S. 137. Dirksen (1949), S. 66.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
verstärkt. Ebert hatte 1922 bei der Berufung Brockdorff-Rantzaus zum Moskauer Botschafter dessen Streit mit General v. Seeckt und Joseph Wirth geschlichtet und auf Wunsch des ehemaligen Außenministers diesem eine besondere Immediatstellung eingeräumt. Dies hatte es dem Moskauer Botschafter ermöglicht, sich ohne Vermittlung des jeweiligen Außenministers unmittelbar an den Reichspräsidenten zu wenden. Brockdorff-Rantzau erschien die Versetzung von Staatssekretär v. Maltzan aus der Ostabteilung des Auswärtigen Amts nach Washington als schwerer Verlust. Im Gegensatz zu Maltzan war sein Nachfolger, Staatssekretär Carl v. Schubert, einer aktiv östlich orientierten Politik gegenüber zurückhaltend.33 Unter diesen Umständen entschloß sich Brockdorff-Rantzau, nach Berlin zurückzukehren und dort unmittelbar mit den verantwortlichen Stellen zu verhandeln, um so die mögliche Abkehr Deutschlands vom Rapallo-Kurs zu verhindern. Walter Simon, der bis zum offiziellen Amtsantritt des Nachfolgers Eberts die Aufgaben des Reichspräsidenten wahrnahm, unterstützte diesen Vorstoß.34 Mit Simons’ Hilfe war Brockdorff-Rantzau bestrebt, auf den neu zu wählenden Reichspräsidenten in der Frage der deutschen Ostpolitik einzuwirken. Er zielte auch darauf ab, sich auch von diesem sein von Ebert eingeräumtes Sonderrecht bestätigen zu lassen. Anfang April 1925, kurz vor seiner Abreise nach Berlin, entschloß sich Brockdorff-Rantzau, auf das wiederholte Ersuchen Stresemanns einzugehen. Er hatte allerdings nicht die Absicht, die gegenwärtige politische Linie Berlins zu verteidigen. Es wurde ihm gestattet, der sowjetischen Seite die Instruktion Stresemanns ohne Kommentar vorzulesen. Damit sollte angedeutet werden, daß Brockdorff-Rantzau deren Inhalt nicht mittrage.35 Die Reaktion des Außenkommissariats auf die Instruktion war erwartungsgemäß außer ordentlich scharf. Stresemanns Absicht, die Bedenken Moskaus gegen Artikel 16 zu zerstreuen, verfehlte ihr Ziel vollständig. Litvinov stellte fest, daß man angesichts des deutschen Kurswechsels, durch den auch ein vorbehaltloser Völkerbundsbeitritt nicht ausgeschlossen sei, nicht mehr an eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Rußland denken könne. Unter Hinweis auf die noch ausstehende Stellungnahme Berlins zu den sowjetischen Dezember-Vorschlägen lenkte Litvinov Brockdorff-Rantzaus Aufmerksamkeit auf die Polenfrage. Litvinov betonte, daß die Sowjetregierung nach wie vor bereit sei, konkrete Vorschläge der Reichsregierung entgegenzunehmen. Die neue Außenpolitik Berlins mache es jedoch unmöglich, 33 Edgar Stern-Rubarth: Graf Brockdorff-Rantzau. Wanderer zwischen zwei Welten, Herford und Bonn 1968, S. 139. 34 Helbig (1958), S. 172 f. ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 186, Stellvertreter des Reichspräsidenten Simon, 20.3.1925, S. 471 f. 35 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 285, Litvinov, 8.4.1925, S. 560. Vgl. Ruge (1961), S. 809–848 (hier S. 825).
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen645
„beispielsweise in den wichtigsten Fragen, wie der Frage der ethnographischen Grenzen Polens, zu einem positiven Ergebnis zu gelangen.“36 Ebenso wie Litvinov verbarg Čičerin seine tiefe Enttäuschung über Stresemanns Standpunkt nicht: „Falls nach Ansicht Stresemanns die gegenwärtigen neuen Kombinationen keine Loslösung Deutschlands von der UdSSR bedeuten, dann möge er das mit der Annahme unseres Vorschlages über die Nichtteilnahme an feindlichen Kombinationen zeigen. Möge er uns konkret einen Vorschlag formulieren, und wir werden dann sehen, wie wir die in diesem Zusammenhang entstandene Lage einschätzen.“37 Seit BrockdorffRantzau den Moskauer Botschafterposten übernommen hatte, leitete ihn das Vertrauen in den Geist von Rapallo und der Glaube an die Aufgabe, die Nachkriegsnotlage in der Zusammenarbeit der beiden aus dem Versailler Siegerkreis ausgeschlossenen Staaten zu überwinden. In diesem Sinne durfte der Beitritt Deutschlands zur Liga der Siegermächte auf keinen Fall ohne Zustimmung seines Rapallo-Partners erfolgen. Brockdorff-Rantzaus außenpolitisches Konzept, „daß unsere Politik Rußland gegenüber einen Grundpfeiler unserer Gesamtpolitik bedeutet, und daß sie nicht in diese eingebaut werden soll, sondern daß die Gesamtpolitik auf ihr aufgebaut werden muß“38, wurde durch die von Stresemann eingeleitete Politik grundsätzlich in Frage gestellt. Er spürte, daß sein Einfluß auf die Außenpolitik des Reichs unter Stresemann mehr und mehr schwand. Er sah seine Stellung auf die eines gewöhnlichen Botschafters beschränkt. Angesichts dessen war Brockdorff-Rantzau entschlossen, dem Moskauer Außenkommissariat die zwischen ihm und Stresemann bestehende Kluft anzudeuten, um so einen bedingungslosen Völkerbundsbeitritt Deutschlands im Zusammenwirken mit Moskau zu verhindern.39 3. Die deutschen Präambelvorschläge Mitte April 1925 hatte der sowjetische Botschafter in Berlin, N. N. Krestinskij, ein Gespräch mit Stresemann, dem er vorwarf, daß die deutsche Regierung in Sicherheitsverhandlungen mit den Westmächten eingetreten sei, bevor sie auf die sowjetischen Dezember-Vorschläge geantwortet habe. 36 ADAP,
Ser. A, Bd. XII, Dok. 241, Brockdorff-Rantzau, 8.4.1925, S. 618 ff. Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 284, Aufzeichnung von Čičerin, 8.4.1925, S. 558 ff. 38 ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 192, Botschafter v. Brockdorff-Rantzau, 21.3.1925, S. 484 ff. (hier S. 489). 39 Rosenfeld, Bd. II (1984), S. 138. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922– 1925, Bd. 2, Dok. 284, Aufzeichnung von Čičerin, 8.4.1925, S. 558 ff. Dok. 285, Aufzeichnung von Litvinov, 8.4.1925, S. 560. 37 Deutsch-sowjetische
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Stresemann rechtfertigte sich damit, daß das Reich auf keinen Fall auf einen Abschluß eines Geheimvertrags, wie man ihn in Moskau zunächst ins Auge gefaßt hatte, eingehen könne. Mit Rücksicht auf die von Stresemann in seiner Instruktion angedeutete Möglichkeit, einen Neutralitätsvertrag mit der UdSSR abzuschließen, verlangte Krestinskij konkretere Vorschläge. Stresemann behielt sich hingegen seine Stellungnahme in dieser Angelegenheit bis zur Reichspräsidentenwahl Ende April vor.40 Am 25. April, einen Tag vor der Wahl Hindenburgs, suchte Krestinskij abermals Stresemann und Schubert im Auswärtigen Amt auf. Der sowjetische Botschafter hatte offenbar die Aufgabe, bis zu seiner für Ende April geplanten Abreise nach Moskau eine positive Antwort Berlins zu erhalten. Krestinskij drängte Stresemann zum baldigen Abschluß eines politischen Pakts mit Rußland. Dieser solle nicht nur die Aufrechterhaltung des Rapallo-Kurses schriftlich absichern, sondern auch ein Gegenstück zum Westgarantiepakt bilden: „Ein solches Gegenstück sei nach Ansicht der russischen Regierung unbedingt notwendig, um ein Gegengewicht gegen die westlichen Abmachungen und den Völkerbund herzustellen.“41 Bei dieser Unterredung übergab Schubert dem sowjetischen Botschafter die schriftliche Fassung der Instruktion Stresemanns, die von Brockdorff-Rantzau Anfang April bei Litvinov und Čičerin mündlich vorgetragen worden war, in der Form eines Memorandums der deutschen Regierung.42 Krestinskij verstand Stresemanns Absicht in der Weise, daß Deutschland auch im Falle des Scheiterns der Versuche, eine Ausnahme von den Bestimmungen des Artikels 16 zu erzielen, zum Eintritt in den Völkerbund entschlossen sei. Stresemann hielt es zwar für notwendig, die Zustimmung der Ratsmächte für eine solche Ausnahme zu erlangen, betrachtete aber die wiederholte Aufforderung der Sowjetregierung zur Regelung der deutschen Völkerbundsfrage als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Deutschlands. Als Kompromißvorschlag wies er Krestinskij auf die Möglichkeit hin, die Regelung der deutsch-sowjetischen politischen Verhältnisse nach dem Muster des sowjetisch-tschechoslowakischen Handelsvertrags vorzunehmen, dessen Präambel eine Neutralitätserklärung enthalte. So könne auch dem deutsch-sowjetischen Handelsvertrag eine politische Willenserklärung beigefügt werden.43 Auch 40 ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 258, Stresemann, 15.4.1925, S. 671 ff. Siehe auch PA AA, NL Gustav Stresemann, Bd. 25, Aufzeichnung von Stresemann, 10.6.1925. 41 ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 271, v. Schubert, 25.4.1925, S. 714 ff. 42 Das Memorandum Stresemanns wurde zuerst durch Th. Schieder veröffentlicht. Schieder (1956), S. 75 ff. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 291, Memorandum der Reichsregierung, 25.4.1925, S. 567 ff. 43 ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 272, Stresemann, 25.4.1925, S. 719 ff. Deutschsowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 292, Mitteilung von Krestinskij, 26.4.1925, S. 573 ff. Vgl. Walsdorff (1971), S. 96 ff.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen647
der eingehende Meinungsaustausch zwischen Krestinskij und den Spitzenstellen in Berlin vermochte die Bedenken der Sowjetregierung nicht auszuräumen. Das Auswärtige Amt war zwar bemüht, den sowjetischen Botschafter davon zu überzeugen, daß die Reichsregierung noch nicht endgültig zum Völkerbundsbeitritt entschlossen sei und deshalb die Frage noch offen bleibe.44 Dennoch erweckte Stresemanns Vorschlag bei Krestinskij den Eindruck, daß Berlin im Hinblick auf den bevorstehenden Beitritt die Neutralitätsvereinbarung mit der UdSSR lediglich auf die Präambel eines Wirtschaftsabkommens einzuschränken beabsichtigte. Zur selben Zeit setzte sich Brockdorff-Rantzau, der seit Mitte April in Berlin weilte, mit aller Kraft dafür ein, den Völkerbundsbeitritt Deutschlands zu verhindern. Zwangsläufig schlug sich er auf die Seite Rußlands. Litvinov hatte Brockdorff-Rantzau eine ernste Ermahnung mit auf den Weg gegeben: „Im übrigen würde der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund ohne vorherige Verständigung über ein Parallelvorgehen mit Rußland nicht dem Geist des Rapallovertrages entsprechen, der aus der Überzeugung geboren wäre, daß die vitalen Interessen Deutschlands und Rußlands durch das Diktat von Versailles in gleichem Maße verhöhnt worden seien.“45 Ende April traf Brockdorff-Rantzau in Berlin mit Krestinskij zusammen, der ihm die Ergebnisse seiner Unterredungen mit Stresemann und Schubert mitteilte. Brockdorff-Rantzau versicherte dem sowjetischen Botschafter seine feste Unterstützung und kündigte an, daß er nicht mehr auf den Moskauer Posten zurückkehren werde, „wenn es ihm [scil. Brockdorff-Rantzau] nicht gelingt, den Beitritt zum Völkerbund zu verhindern.“46 Er fügte hinzu, daß er beabsichtige, sowohl auf Walter Simons als auch auf den neu zu wählenden Reichspräsidenten, in dieser Richtung einzuwirken und die Zustimmung des neuen Reichspräsidenten für sein Ostpolitikkonzept zu gewinnen.47 Mit Blick auf seine Immediatstellung hatte der deutsche Botschafter natürlich ein großes Interesse an der bevorstehenden Reichspräsidentenwahl. Er hoffte auf die Wahl von Hindenburg, mit dem ihn eine enge persönliche Beziehung verband. Während Brockdorff-Rantzaus Abwesenheit von Moskau verschärften sich die Mißhelligkeiten zwischen Deutschland und Rußland sowohl in den politischen Angelegenheiten als auch in den Handelsvertragsverhandlungen 44 ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 271, v. Schubert, Richtlinien für die Unterredung mit dem Botschafter Krestinskij, 25.4.1925, S. 714 ff. (hier S. 717 f.). 45 ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 229, Brockdorff-Rantzau, 4.4.1925, S. 591 f. (hier S. 592). 46 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 292, Mitteilung von Krestinskij, 26.4.1925, S. 573 ff. (hier S. 578.) 47 Ebd.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
von neuem. Stresemanns mündlicher Vorschlag, die von Rußland gewünschte Neutralitätserklärung im Rahmen des Handelsvertrags, und zwar in dessen Präambel, vorzunehmen, stellte noch keine konkrete Stellungnahme Berlins zu den sowjetischen Dezember-Vorschlägen dar. Die langwierige Verzögerung hatte zur Folge, das Mißtrauen Moskaus zu verstärken. Čičerin warf in seiner Rätekongreßrede Mitte Mai 1925 der deutschen Regierung eine mit dem Geist von Rapallo unvereinbare Haltung vor.48 Er kritisierte Berlins Doppelstrategie, gleichzeitig über einen Sicherheitspakt mit den Westmächten zu verhandeln, Die Initiative dazu sei zumal von der britischen Regierung ausgegangen, die Herbst 1924 die Beziehungen zur UdSSR abgebrochen hatte.49 In diesem Kontext warf der Außenkommissar die Frage auf, ob die Aufrechterhaltung der deutsch-sowjetischen Beziehungen überhaupt noch möglich sei. Auf diese Angriffe reagierte die Reichsregierung umgehend mit der Erklärung, daß die Rapallo-Linie, anders als von Čičerin dargestellt, von deutscher Seite bisher konsequent eingehalten worden sei.50 Nichtsdestoweniger versuchte die Sowjetregierung, die in Moskau tagenden Handelsvertragsverhandlungen von den politischen Angelegenheiten abhängig zu machen. Zur Beschleunigung des Abschlusses der Handelsvertragsverhandlungen war Berlin bereit, bedeutende politische und wirtschaftliche Zugeständnisse zu machen.51 So sollte auch die bisher unterlassene schriftliche Beantwortung der sowjetischen Dezember-Vorschläge erfolgen. Ende Mai 1925 formulierte der Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts, Otto Gaus, mit Hilfe von Herbert v. Dirksen den deutschen Entwurf einer Präambel des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags. Darin sollte die von Rußland gewünschte Neutralitätserklärung indirekt zum Ausdruck gebracht werden. Gaus stand auf dem Standpunkt, daß das Reich mit Rücksicht auf die vorherzusehende Gegenwehr der Westmächte den Abschluß eines formellen Staatsvertrags über die deutsch-sowjetische Neutralität unbedingt vermeiden müsse. Aus taktischen Gründen hielt er es für angebracht, die in die Präambel des Handelsvertrags aufzunehmende Erklärung auf die Bestätigung des Geistes von Rapallo sowie auf die Freundschaftserklärung zu beschränken. Die Neutralität beider Staaten oder eine Zusicherung einheitlichen Vorgehens (wie z. B.: „Beide Regierung werden in allen die beiden Länder gemeinsam berührenden Fragen in dauernder Fühlungnahme blei48 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 294, Aus der Rede von Čičerin auf dem III. Sowjetkongreß, 14.5.1925, S. 586. 49 Zum Vorschlag Großbritanniens Ende 1924 siehe: Locarno-Konferenz 1925, Dok. 1, Erlaß des Staatssekretär v. Schubert, 19.1.1925, S. 47 ff. 50 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 54, Stresemann, 23.5.1925, S. 142 ff. 51 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 59, v. Dirksen, 25.5.1925, S. 155 ff.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen649
ben.“) solle hingegen nicht schriftlich, sondern lediglich mündlich abgegeben werden. Diese Vorschläge stimmten mit den Ansichten Stresemanns überein.52 4. Die Juni-Krise bei den Handelsvertragsverhandlungen. Die Polenfrage Die Übergabe des von Gaus und Dirksen formulierten Entwurfs an die Sowjetregierung unterblieb jedoch in der Folge. Zwangsläufig wuchs der Argwohn Moskaus. Die Handelsvertragsverhandlungen in Moskau gerieten Anfang Juni in eine Sackgasse, nachdem der ehemalige Leiter der Handelsvertretung in Berlin, Boris S. Stomonjakov,53 zur sowjetischen Delegation gestoßen war. Die sowjetischen Forderungen wurden zunehmend ener gischer,54 und es erschien der deutschen Delegation unmöglich, gemeinsame Anhaltspunkte zu finden.55 Daher erklärte die deutsche Delegation eingangs der Sitzung am 12. Juni, daß sie entschlossen sei, am 15. Juni nach Berlin abzureisen. Damit deutete sie die Unmöglichkeit der Unterzeichnung des Vertragstexts unter den gegenwärtigen Verhandlungsverhältnissen an. Die sowjetische Delegation erwiderte, daß die Unterbrechung der Verhandlungen als Scheitern der gesamten Handelsvertragsverhandlungen zu erachten sei, und forderte, die Verhandlungen unverzüglich zum Abschluß zu bringen. Zugleich lehnte sie es ab, vor Abschluß des heftig umstrittenen Wirtschaftsabkommens die bereits fertiggestellten Nebenabkommen zu unterzeichnen.56 Zwar gab sie sich unter Hinweis auf ihre Zugeständnisbereitschaft bemüht, das Scheitern des Handelsvertrags zu vermeiden.57 Ihre neuen Vorschläge für das Wirtschaftsabkommen kamen jedoch den deut52 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 296, Entwurf von Richtlinien für die Führung der weiteren politischen Besprechungen mit der UdSSR, 29.5.1925, S. 588 ff. (hier S. 589). ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 71, Gaus, 29.5.1925, S. 181 ff. (hier S. 183). 53 Mitglied des Kollegiums des sowjetischen Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten. 54 PA AA, R 23851 (Deutsche Delegation Moskau), Koerner an StS Schubert, 20.6.1925. 55 PA AA, R 23851 (Deutsche Delegation Moskau), Aufzeichnung von Schlesinger, 20.6.1925. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 97, Generalkonsul Schlesinger, 6.6.1925, S. 262 ff. 56 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 303, Telegramm von Koerner an AA, 12.6.1925, S. 603 ff. 57 PA AA, R 23851 (Deutsche Delegation Moskau), Der Vorsitzende der Sowjet-Delegation für die Verhandlungen mit Deutschland an den Vorsitzenden der Deutschen Delegation für die Verhandlungen über den Abschluß (Übersetzung), 20.6.1925.
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schen Wünschen kaum entgegen. Die sowjetische Delegation hielt prinzipiell an ihren bisherigen Anträgen fest und verlangte, daß alle Begünstigungen, die den Grenznachbarländern (mit Ausnahme von Rumänien) durch die UdSSR gewährt wurden oder noch zu gewähren seien, vom Gegenstand der in Artikel 4 des Rapallo-Vertrags bestimmten Meistbegünstigung ausgenommen werden sollten. Deutschland hingegen lehnte jede Einschränkung des Rapallo-Vertrags ab.58 Die Ausnahme der baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen) von der Meistbegünstigungsklausel war bereits im Rapallo-Vertrag anerkannt worden. Deutschland hatte deshalb keine Einwände gegen die Wiederaufnahme der baltischen Klausel. Hingegen hielt es das Auswärtige Amt für völlig inakzeptabel, daß die Sowjets nunmehr verlangten, alle Rechte, die sie Polen einräumten oder noch einräumen würden, vom Gegenstand der Meistbegünstigung auszunehmen.59 Mit dieser Forderung spielten in die Wirtschaftsverhandlungen nun politische Ambitionen hinein. Die Ausnahmebehandlung Polens bedeutete, daß das Reich auf dem Vertragswege die Tatsache akzeptieren sollte, daß zwischen der UdSSR und Polen besondere Wirtschafts- und Verkehrsbeziehungen herrschten, aus denen für das Reich keine Ansprüche im Wege der Meistbegünstigung erwuchsen. Dieser Wunsch der sowjetischen Delegation widersprach offenbar der bisherigen gemeinsamen Verhandlungsbasis, also dem Rapallo-Prinzip. Im Sinne des Geistes von Rapallo durften die Ansprüche Deutschlands nicht ungünstiger behandelt werden als die der Versailler Siegermächte, insbesondere die Ansprüche Polens. Das Auswärtige Amt war fest entschlossen, den Wunsch der Sowjetregierung nach einer Ausnahmebehandlung Polens auf alle Fälle abzulehnen. Unter Hinweis auf die Erklärung Maltzans,60 der seinerzeit an den Verhandlungen des Rapallo-Vertrags beteiligt gewesen war, instruierte Wallroth (Ostabteilung des Auswärtigen Amts) die deutsche Delegation, die Sowjets daran zu erinnern, daß „mehrfach vor Genua in Berlin Winter 1921 / 22 mit russischen Vertretern, wie Radek und in Genua in mündlichen Besprechungen Rathenaus, Simsons, Maltzans mit dortigen russischen Vertretern klar 58 PA AA, R 23850 (Deutsche Delegation Moskau), Deutsche Delegation an AA, 30.5.1925. 59 PA AA, R 23931 (Handakten v. Koerner), Aufzeichnung (Koerner), 12.6.1925. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 116, Schlesinger, 12.6.1925, S. 314 ff. 60 PA AA, R 28930 (Büro StS), Telegramm aus Washington (Maltzan) an AA, 2.6.1925. Maltzan wies darauf hin: „Passus beruht auf mündlichen Besprechungen, die ich im Winter 1921 auf 1922 mit Radek in Berlin gehabt habe. Aufzeichnungen über diese Besprechungen sind regelmäßig Reichsministern Wirth und Rathenau sowie Staatssekretär von Simson vorgelegt. Beabsichtigt war russischerseits Ausnahme von Meistbegünstigung lediglich für Randstaaten im engeren Sinne, darunter Estland, Lettland und Litauen.“
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen651
festgestellt wurde, daß Polen unter Ausnahme von Meistbegünstigung abzuschließenden nicht fällt [sic].“61 Als Gegenvorschlag erklärte die deutsche Delegation, daß die Ausnahmebehandlung von Polen, Finnland, der Türkei, China sowie Japan nicht zugelassen werden könne. Deutschland sei jedoch bereit, in bezug auf Afghanistan, Persien, Chinesisch Turkestan sowie die Mongolei auf die Meistbegünstigung zu verzichten, unter der Voraussetzung, daß Deutschland das Recht des freien Transitverkehrs durch die UdSSR nach Afghanistan und Persien eingeräumt werde. Hierzu verlangte die deutsche Delegation außerdem als Gegenleistung Rußlands, daß die UdSSR bewilligen sollte, alle Begünstigung, welche Österreich und Litauen durch Deutschland eingeräumt wurden oder einzuräumen seien, vom Gegenstand der Meistbegünstigung auszunehmen. Die sowjetische Delegation erwiderte, daß der freie Transit nach Afghanistan und Persien mit Blick auf Großbritannien nicht zugelassen werden könne.62 Die Meistbegünstigungs- und Transitfragen blieben folglich bis kurz vor Abschluß des Handelsvertrags heftig umstritten. Unmittelbar nach dieser Moskauer Sitzung zwischen der deutschen und sowjetischen Handelsvertragsdelegation besuchte Litvinov Mitte Juni Stresemann in Berlin.63 Litvinov wiederholte seine Bedenken gegen den deutschen Völkerbundsbeitritt. Stresemann erwiderte, daß er es dennoch für möglich halte, eine politische Verständigung zwischen Berlin und Moskau in der Richtung herbeizuführen, daß das Reich im Völkerbund keine antirussische Politik betreiben werde. Stresemanns Vorschlag konnte Litvinov nicht überzeugen. Dieser dachte offenbar an das sowjetische Memorandum, das Krestinskij am 2. Juni im Auftrag von Čičerin dem Auswärtigen Amt ausgehändigt hatte.64 In diesem Memorandum, das eigentlich als Antwort auf das dem sowjetischen Botschafter Mitte April übergebene Memorandum Stresemanns abgefaßt worden war, hatte die Sowjetregierung ihre Haltung gegen den deutschen Völkerbundsbeitritt deutlich gemacht, wobei sie ausschließlich auf die Entstehung des Rapallo-Vertrags abgehoben hatte. Der sowjetischen Auffassung zufolge war der Vertrag damals als Gegenstück gegen das Diktat von Versailles abgeschlossen worden. Deutschlands Ein61 PA AA, R 23933 (Handakten v. Koerner), Telegramm, Instruktion (Wallroth) an Koerner, 9.6.1925. 62 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 303, Telegramm des Vorsitzenden der deutschen Delegation, v. Koerner, 12.6.1925, S. 603 ff.; Dok. 304, Protokoll über die Vertragsverhandlungen, 12.6.1925, S. 606 ff. 63 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 118, Stresemann, 13.6.1925, S. 319 ff. Vgl. Stresemann, Bd. II (1932), S. 516 ff. 64 Das Memorandum der Sowjetregierung wurde zuerst durch Th. Schieder gedruckt. Schieder (1956), S. 82 ff. Locarno-Konferenz 1925, Dok. 13, Memorandum der Regierung der UdSSR, 2.6.1925, S. 94.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
tritt in den Völkerbund komme deshalb einer Anerkennung des Versailler Systems gleich.65 In diesem Kontext warf Moskau der Berliner Regierung vor, daß sie durch den Völkerbundsbeitritt endgültig vom Rapallo-Kurs abkomme. Unmittelbarer Anlaß für diese Kritik war der Umstand, daß die Reichsregierung mit den Westmächten über Sicherheitsverträge verhandele, während sie mit Rußland lediglich einen Handelsvertrag abschließen wolle. Litvinov stellte deshalb Stresemann vor die Alternative, entweder bei der Rapallo-Partnerschaft zu bleiben, oder sich endgültig auf die Seite des Versailler Siegerkreises zu schlagen, also auf die Seite des Völkerbunds, dessen Spitze gegen Rußland gerichtet sei. Da die britische Regierung, die auf die Völkerbundspolitik entscheidenden Einfluß ausübte, bereits im Herbst 1924 ihre Beziehungen zu Rußland unterbrochen hatte, vermutete man in Moskau, daß Deutschland dazu gezwungen sein werde, im Völkerbund eine antisowjetische Politik zu treiben. So argwöhnte Litvinov, daß nicht nur die Festlegung der deutschen Westgrenze gegen Frankreich und Belgien, sondern auch die Frage der deutschen Ostgrenze gegen Polen zwischen Deutschland und den Alliierten zur Sprache gekommen wäre. Er drohte nun Stresemann mit einem etwaigen Kurswechsel der sowjetischen Außenpolitik und machte darauf aufmerksam, „daß Polen versuchen werde, mit Rußland engere Fühlung zu nehmen.“ Deutschland werde Rußland eine solche Annäherung an Polen nicht übelnehmen können, wenn es sich selbst in das antirussische Lager begebe.66 Litvinovs Drohung, mit Polen zu einem Bündnis zu kommen, nahm Stresemann nicht ernst.67 Eine etwaige Annäherung zwischen Rußland und Polen schien jedoch nicht ganz unrealistisch zu sein. Zur selben Zeit schlug Čičerin der Warschauer Regierung den Abschluß eines sowjetisch-polnischen Nichtangriffspakts vor.68 Es liegt daher die Vermutung nahe, daß im Falle einer Verständigung Deutschlands mit einem der beiden im Rapallo-Vertrag ins Auge gefaßten Feinde, nämlich Frankreich, es nicht auszuschließen war, daß Rußland seinerseits mit dem anderen Kontrahenten, also Polen, wie von Litvinov angedeutet, zu einer Garantie der polnischen Ostgrenze kommen könnte.
65 Der erste Teil des Versailler Vertrags (Artikel 1 bis 26) war der Völkerbundssatzung gewidmet. RGBl. 1919, S. 687 ff. 66 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 118, Stresemann, 13.6.1925, S. 319 ff. 67 AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 110, Ministerbesprechung vom 24. Juni 1925, S. 356 ff. Siehe auch BA, R 43 I / 134, Bd. 5, Bl. 260 ff., Aufzeichnung über die Ministerbesprechung. 68 Rosenfeld, Bd. II (1984), S. 141 ff. ADAP, Ser. A, Dok. 165, Geschäftsträger in Moskau Hey, 26.6.1925, Allerdings lehnte Polen diesen Vorschlag Rußlands ab.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen653
5. Zur Überwindung der Krise. Brockdorff-Rantzau als Verhandlungsvorsitzender Bei der Unterredung mit Stresemann Mitte Juni stellte Litvinov außerdem die Frage der Handelsvertragsverhandlungen im politischen Kontext zur Debatte. Er kritisierte die Verhandlungsmethode des deutschen Delegationsvorsitzenden, v. Koerner, der sich den russischen Wünschen in der Frage der Agrarzölle und Veterinärfrage kompromißlos verweigert hatte. Sein Vorgehen erweckte in Moskau den Eindruck, daß Deutschland die Absicht habe, den deutsch-sowjetischen Handelsvertrag auf keinen Fall vor dem Zustandekommen des Westgarantiepaktes zum Abschluß zu bringen.69 Zur Beschleunigung der Handelsvertragsverhandlungen sollte ein neuer Anstoß gegeben werden. Unter diesen Umständen kam die sofortige Rückkehr des seit Mitte April 1925 in Berlin weilenden Botschafters Brockdorff-Rantzau nach Moskau in Betracht. Nach der Verhandlung in Moskau am 12. Juni 1925 trat die Diskrepanz zwischen den beiden Delegationen in der Frage des Wirtschaftsabkommens deutlich zutage. Die Hauptstreitpunkte betrafen vor allem die Exterritorialität der Handelsvertretung, die Meistbegünstigung, den Transit durch die UdSSR, die erleichterte Vieheinfuhr sowie die Getreidezollkonvention. Unter diesen Umständen machte die deutsche Delegation den Vermittlungsvorschlag, das Wirtschaftsabkommen vorläufig für die Dauer von 18 Monaten bei dreimonatiger Kündigungsfrist abzuschließen.70 Zugleich kündigte Koerner die Abreise der deutschen Delegation nach Berlin an und beantragte die Wiederaufnahme der Verhandlung nach zwei Monaten. Diese Entscheidung wurde deshalb getroffen, da die deutsche Delegation weder das Scheitern noch einen sofortigen Abschluß der Verhandlungen wünschte. Hingegen argwöhnte die Sowjetregierung, daß Berlin beabsichtige, den Handelsvertrag dilatorisch zu behandeln und ihm den Abschluß des Westsicherheitspakts vorzuziehen.71 Um diesen Verdacht zu entkräften, gab das Auswärtige Amt Koerner umgehend Anweisung, in Moskau zu bleiben und unbedingt die Unterbrechung der Verhandlungen in diesem Moment zu vermeiden.72 Am 19. Juni übergab Koerner der sowjetischen Delegation ein Memorandum, in dem er die Sowjetregierung um eine erneute Prüfung der 69 ADAP,
Ser. A, Bd. XIII, Dok. 118, Stresemann, 13.6.1925, S. 319 ff. Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 311, Koerner an den Vorsitzenden der Delegation der UdSSR Hanecki, 19.6.1925, S. 621 f. PA AA, R 23937 (Handakten von Koerner), Koerner an Hanetzki, 19.6.1925. 71 PA AA, R 23851 (Deutsche Delegation Moskau), Aufzeichnung, Schlesinger, 20.6.1925. 72 PA AA, R 23933 (Handakten von Koerner), Telegramm (v. Schubert) an Koerner, 14.6.1925. 70 Deutsch-sowjetische
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Sachlage bat und als Bilanz der bisherigen Verhandlungen eine Gegenüberstellung der Forderungen beider Seiten vornahm.73 Darauf erwiderte der sowjetische Delegationsleiter, J. S. Hanecki, daß die Vorschläge Deutschlands kein Eingehen auf die sowjetischen Wünsche erkennen und die bisher von der Sowjetregierung gemachten Zugeständnisse sowohl im Wirtschaftsabkommen als auch insbesondere im Eisenbahnabkommen völlig außer acht ließen.74 Am gleichen Tag wies S tresemann Koerner an, unbedingt den Abbruch der gesamten Vertragsverhandlungen zu vermeiden und dennoch einen Abschluß auf Grundlage des russischen Standpunktes abzulehnen. Er instruierte Koerner, die Sowjets dazu zu veranlassen, wenigstens die bereits fast fertiggestellten Nebenabkommen zum Abschluß zu bringen. Koerner solle in Moskau bleiben, wenigstens bis der noch in Berlin weilende Botschafter dorthin zurückgekehrt sei, der damit beauftragt sei, die infolge der Westsicherheitsverhandlungen eingetretenen politischen Mißhelligkeiten zwischen Berlin und Moskau zu beseitigen.75 Am 21. Juni hatte Stresemann ein Gespräch mit Brockdorff-Rantzau in Berlin. Er riet dem Botschafter, baldmöglichst nach Moskau zurückzufahren. Brockdorff-Rantzau erwiderte, ihm sei von Schubert vorgeworfen worden, daß er sich in dieser kritischen Zeit nicht in Moskau, sondern in Berlin aufhalte. Stresemann brachte sein festes Vertrauen zum Ausdruck, daß allein der Botschafter kraft seines starken persönlichen Einflusses im Osten in der Lage sei, die zwischen Berlin und Moskau eingetretene Krise zu überwinden. Mit dieser Vertrauenserklärung, die Brockdorff-Rantzau nicht wenig beeindruckte, gelang es Stresemann, den Botschafter zur baldigen Rückkehr zu überreden. Stresemann bot außerdem an, Generalkonsul Herbert v. Dirksen (Ostabteilung des Auswärtigen Amts) nach Moskau zu entsenden, was Brockdorff-Rantzau außerordentlich erfreute. Aufgabe sollte es sein, nicht nur die zum Stillstand gekommenen Handelsvertragsverhandlungen wieder in Bewegung zu setzen, sondern auch den sowjetischen Argwohn gegen die Westsicherheitsverhandlungen zu entkräften. Zu diesem Zwecke sollte nun endlich auch die schriftliche Beantwortung der sowjetischen DezemberVorschläge übermittelt werden. Stresemann bat den Botschafter darum, der sowjetischen Seite die deutschen Vorschläge für eine Präambel zu überge73 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 311, Koerner an den Vorsitzenden der Delegation der UdSSR Hanecki, 19.6.1925, S. 621 f. 74 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 312, Hanecki an Koerner, 20.6.1925, S. 623 f. PA AA, R 23851 (Deutsche Delegation Moskau), Übersetzung, Der Vorsitzende der Sowjet-Delegation für die Verhandlungen mit Deutschland an den Vorsitzenden der Deutschen Delegation, 20.6.1925. 75 PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Abschrift, Telegramm, Stresemann an Koerner (Moskau), 20.6.1925. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 135, Stresemann an Koerner, 20.6.1925, S. 357 f.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen655
ben und zunächst mit Čičerin zu sprechen, um so Moskaus Haltung zu sondieren.76 Nach der Auffassung Berlins sollte die Präambel in ein im Rahmen des Handelsvertrags abzuschließendes Abkommen eingefügt werden. Stresemann ermächtigte nun den Botschafter, diesen Vorschlag vorzubringen, sobald der geeignete Moment in den Verhandlungen gekommen sei. Der Zeitpunkt des endgültigen Abschlusses eines von der Präambel gekrönten Abkommens sei allerdings dem Reichskabinett vorzubehalten.77 Der erste Entwurf der Präambel, den Gaus und Dirksen Ende Mai abgefaßt hatten, war inzwischen weiter präzisiert worden. Der Inhalt des neuen Entwurfs, mit dessen Übergabe Brockdorff-Rantzau beauftragt wurde, war nach wie vor ganz allgemein gehalten, ohne daß von einer konkreten Neutralitätserklärung gesprochen wurde. Wenigstens wurde die anzustrebende enge Fühlungnahme Deutschlands und Rußlands in den beide Staaten gemeinsam berührenden wirtschaftlichen und politischen Fragen im Geist von Rapallo stärker als in der früheren Fassung hervorgehoben. So lautete der deutsche Entwurf: „Beide Regierungen sind von der Erkenntnis durchdrungen, daß das Wohl des deutschen und des russischen Volkes eine freundliche, friedliche Zusammenarbeit beider Länder erfordert. Sie sind deshalb entschlossen, die gegenseitigen Beziehungen im Geiste des Vertrages von Rapallo weiter zu pflegen und in allen die beiden Länder gemeinsam berührenden politischen und wirtschaftlichen Fragen in dauernder freundschaftlicher Fühlung gegenseitige Verständigung anzustreben, unter dem Gesichtspunkte, für den allgemeinen Frieden Europas zu wirken und sich von allen etwa hervortretenden Bestrebungen fernzuhalten, die diesen Frieden gefährden könnten.“78
76 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 139, Stresemann, 21.6.1925, S. 366 ff. Vgl. Stresemann, Bd. II (1932), Tagebuch Stresemanns, 21.6.1925, S. 518 ff. 77 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 157, v. Schubert, 25.6.1925, S. 415 ff. 78 Locarno-Konferenz 1925, Dok. 15, Richtlinien für die Fortsetzung der politischen Verhandlungen mit der UdSSR, Stresemann, 21.6.1925, S. 104 ff. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 157, v. Schubert, Anlage: Richtlinien für die Fortsetzung der politischen Verhandlungen mit Rußland, 21.6.1925, S. 416 ff. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 320, Vorschlag der Reichsregierung an die Regierung der UdSSR, 1.7.1925, S. 639. Die vorgesehene Fassung der mündlichen Vereinbarung über die Völkerbundsfrage: „a) Wenn Deutschland es im Hinblick auf seine besonderen politischen Interessen für notwendig halten sollte, in den Völkerbund einzutreten, wird es dabei an dem Grundgedanken festhalten, der seinen Vorbehalt wegen des Artikel 16 veranlaßt hat. Sollte sich eine formelle Befreiung von den Verpflichtungen aus Artikel 16 als nicht erreichbar erweisen, so wird Deutschland seinen Standpunkt in dieser Hinsicht nach außen hin unzweideutig zur Geltung bringen und wird als Mitglied des Völkerbunds und Völkerbundsrates diesem Standpunkt entsprechend handeln. b) Falls Rußland sich zum Eintritt in den Völkerbund einschließt, wird es Deutschland verständigen, bevor es anderen Mächten oder dem Völkerbund gegenüber irgendwelche dahin zielende Schritte tut. Als Mitglied des
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Mit Rücksicht auf die Westmächte wurde eine eindeutige Nichtangriffsund Neutralitätserklärung vermieden. Die Reichsregierung hielt es außerdem für angebracht, die gegenseitige Regelung der deutsch-sowjetischen Verhältnisse zum Völkerbund, die den Kern der Frage des sowjetischen Dezembervorschlags traf, nicht schriftlich zu fixieren, sondern lediglich zu verabreden, in der Weise, daß das Reich im Völkerbund keine gegen die UdSSR gerichtete Politik treiben werde (wie z. B. die Teilnahme an einer Bundesexeku tion gegen die UdSSR), falls es nicht gelinge, die Ausnahme von den Bestimmungen des Artikels 16 der Völkerbundssatzung zu erzielen. Die Sowjetregierung solle bei ihrem etwaigen Eintritt in den Völkerbund eine entsprechende Verpflichtung dem Reich gegenüber eingehen. Die beiden Staaten sollten sich sodann im Völkerbund gegenseitig freundlich verhalten. Zum Schluß des Gesprächs machte Stresemann den Botschafter darauf aufmerksam, daß der Abschluß eines Geheimvertrags ausgeschlossen sei.79 Der Außenminister erinnerte nachdrücklich daran, daß er bereits Krestinskij gegenüber wiederholt die Möglichkeit eines Geheimvertrags in bezug auf die deutsch-sowjetische Sicherheitsfrage abgelehnt habe. Die Reichsregierung hatte auf Anfrage der Westmächte bei den Westsicherheitsverhandlungen stets betont, daß zwischen Deutschland und Rußland keine Geheimverträge bestünden.80 Mit Rücksicht darauf komme der Abschluß eines Geheimvertrags, erst recht ein politischer Bündnisvertrag, keinesfalls in Betracht.81 Stresemann stand auf dem Standpunkt, daß ein Entgegenkommen Deutschlands hinsichtlich der politischen Wünsche Moskaus lediglich in diesem Rahmen, also in der Präambel des abzuschließenden Handelsvertrags, gemacht werden könne, indem „wir die wirtschaftlichen Vereinbarungen durch einen außenpolitischen Zusatz dahin verstärken, daß wir unter keinen Umständen eine antirussische Politik treiben würde“,82 wie er auf der Kabinettssitzung Ende Juni 1925 äußerte. Hingegen verhielt sich Brockdorff-Rantzau abwartend. Er betrachtete den Inhalt der deutschen Präambelvorschläge als völlig bedeutungslos. Die in der Präambel ausgeführte Vereinbarung, die sich auf allgemeine FreundschaftsVölkerbundes wird Rußland gegenüber Deutschland handeln, wie dies unter Ziffer a) für Deutschland gegenüber Rußland vorgesehen ist.“ 79 PA AA, NL Gustav Stresemann, Bd. 25, Aufzeichnung, Stresemann, 10.6.1925. 80 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 275, Schreiben von N. N. Krestinskij, 12.3.1925, S. 523 ff. 81 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 139, Stresemann, 21.6.1925, S. 366 ff. 82 AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 110, Ministerbesprechung vom 24. Juni 1925, S. 356 ff. (hier S. 363). Siehe auch BA, R 43 I / 134, Bd. 5, Bl. 260 ff., Aufzeichnung über die Ministerbesprechung. Auch siehe Deutsch-sowjetische Be ziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 309, Stellungnahme von Brockdorff-Rantzau, 14.6.1925, S. 618 f.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen657
bekundungen beschränke, könne der sowjetischen Seite nichts Wesentliches anbieten. Er äußerte ganz offen seinen Standpunkt, daß man mit diesem Vorschlag in der Tat in Moskau nichts anfangen könne.83 Im Gegensatz zu seinen Bedenken, mit denen er mehr oder weniger auf Moskaus Haltung Rücksicht nahm, legte Stresemann Wert darauf, daß die Bedeutung der Präambelvorschläge nicht in einem deutschen Entgegenkommen, sondern in erster Linie darin liege, daß das Reich mit der Präambel des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags der Weltöffentlichkeit verdeutlichen könnte, auch nach seinem etwaigen Völkerbundsbeitritt „nicht an den Rockschößen der Entente hängen zu wollen.“84 Deshalb durfte die Präambel nicht geheimgehalten werden, sondern mußte unbedingt veröffentlicht werden. Mit dieser Mission trafen Brockdorff-Rantzau und Dirksen Ende Juni 1925 über Riga in Moskau ein.85 Gleich nach seiner Ankunft suchte Brockdorff-Rantzau am 28. Juni den sowjetischen Außenkommissar auf. Er berichtete Čičerin zuerst von dem gegenwärtigen Stand der Völkerbundsfrage und sagte ihm unter Berufung auf Stresemann zu, daß die Reichsregierung ohne Vorbehalt gegenüber Artikel 16 keinesfalls dem Völkerbund beitreten werde. Dennoch äußerte Brockdorff-Rantzau ganz offen seine Skepsis gegen die Haltung Stresemanns und Schuberts, die beide erheblich der Westorientierung zuneigten. Im Gegensatz zu Stresemann, der die Ausbalancierung der Ost- und Westorientierung für notwendig hielt, glaubte BrockdorffRantzau, daß das Reich im Siegerkreis keine uneingeschränkte Handlungsfreiheit erlangen könne. Er betrachtete deshalb die Ostorientierung als notwendig. Er betonte außerdem die Rückendeckung, die der neue Reichspräsident ihm gebe und wies darauf hin, daß Hindenburg seine Zustimmung für Brockdorff-Rantzaus Ostpolitikkonzept gegeben habe. Der deutsche 83 Ruge
(1961), S. 809–848 (hier S. 830). Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 110, Ministerbesprechung vom 24. Juni 1925, S. 356 ff. (hier S. 364). Siehe auch BA, R 43 I / 134, Bd. 5, Bl. 260 ff., Aufzeichnung über die Ministerbesprechung. Mit Recht betrachtete auch die KPD Stresemanns Absicht zum Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrags und des Locarno-Westpakts in der Weise: „Während der ganzen Dauer der Wirtschaftsverhandlungen mit der Union machte sich dieses Schwanken bemerkbar. Und es ist sicher kein Zufall, daß der Abschluß des Vertrages mit dem Beginn der Paktverhandlungen zusammenfiel. Der Abschluß des neuen Vertrages war offenbar als ein Druckmittel auf die westlichen Mächte gedacht. Die Tatsache aber, daß die Stresemann-Regierung den Garantiepakt doch unterschrieben hat, beweist, daß die von der Kapitalnot diktierte West-Orientierung der deutschen Bourgeoisie die Oberhand über die Ost-Orientierung gewonnen hat.“ siehe E. Pawlowski: Locarno und der deutschrussische Wirtschaftsvertrag, in: Die Internationale. Zeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus, Jg. 8, Heft 11, 1.11.1925, S. 655–659 (S. 657). 85 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 316 sowie Dok. 317, Notizen des deutschen Botschafters v. Brockdorff-Rantzau für ein Gespräch mit Čičerin, 27.6.1925, S. 631 ff. Siehe auch Dirksen (1949), S. 67. 84 AdRK
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Botschafter teilte dem Volkskommissar die Bereitschaft seiner Regierung zur Regelung der Völkerbundsangelegenheiten mit und übergab ihm den deutschen Entwurf für die Präambel und die ihr beigelegten mündlichen Erklärungen als deutsche Antwort auf die sowjetischen Dezember-Vorschläge.86 Das erste Gespräch mit Čičerin machte auf Brockdorff-Rantzau den erfreulichen Eindruck, daß eine schnelle Klärung der noch offenen Fragen zu erwarten sei.87 Brockdorff-Rantzau war von der Notwendigkeit überzeugt, sich für den Fortgang der Wirtschaftsverhandlungen einzusetzen. Er bat umgehend Geheimrat v. Koerner, der nach Berlin zurückzukehren beabsichtigte, um die formelle Übertragung seines Amtes als Leiter der deutschen Delegation auf den Botschafter, was Koerner ohne weiteres bestätigte.88 Der Wechsel in der deutschen Delegationsleitung bedeutete eine neue Weichenstellung für die stagnierenden Handelsvertragsverhandlungen. Die von den deutschen Delegationsmitgliedern in Brockdorff-Rantzau gesetzten Hoffnungen waren um so größer, als der 72jährige Geheimrat auf der sowjetischen Seite keine hohe Wertschätzung genoß.89 Der Botschafter beauftragte Dirksen mit seiner Stellvertretung in den technischen Fragen der Handelsvertragsverhandlungen.90 Trotz dieser augenscheinlich sehr günstigen Ausgangslage stießen die deutsch-sowjetischen Verhandlungen sowohl in den politischen als auch wirtschaftlichen Angelegenheiten alsbald wieder auf Hindernisse. Zum einen erklärte Čičerin bei einem zweiten Gespräch mit Brockdorff-Rantzau am 1. Juli, daß die Fassung der deutschen Präambelvorschläge schwächer und unklarer sei als die der sowjetischen Dezember-Vorschläge, die ursprünglich auf einen Abschluß eines Neutralitäts- und Nichtangriffspakts abgezielt hatten. In diesem Sinne sollte, so verlangte Čičerin, wenigstens die gegenseitige Verpflichtung schriftlich festgehalten werden, keinem Abkommen wirtschaftlicher oder politischer Art, das gegen eine der vertragschließenden Parteien gerichtet sei, beizutreten. Mit Recht beurteilte der Außenkommissar die deutsche Präambel kritisch, die lediglich vage Freundschaftserklärungen enthielt: „Was geschehen solle, wenn eine solche Verständigung nicht erfolge, werde nicht gesagt. Der Hinweis auf Frieden und Ruhe, die Europa brauche, sei ebenso dankenswert wie berechtigt, aber 86 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 318, Aufzeichnung des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Čičerin, 28.6.1925, S. 633 ff. Siehe auch Rosenfeld, Bd. II, S. 142. 87 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 186, Brockdorff-Rantzau, 3.7.1925, S. 517 ff. 88 BA, R 9215 / 294, Telegramm (Entwurf), Brockdorff-Rantzau, 30.6.1925. 89 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 175, v. Dirksen, 29.6.1925, S. 463 ff. 90 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 187, Brockdorff-Rantzau, 4.7.1925, siehe dessen Anm. 2, S. 520.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen659
schließlich kein Vorschlag für einen Vertrag.“91 Čičerins Kritik traf offenbar den Kern der Sache, wozu Rußland überhaupt einen festen Bündnisvertrag mit Deutschland benötigte, der die Verhältnisse zwischen beiden Staaten strenger als der Rapallo-Vertrag regeln sollte. Der Außenkommissar äußerte ganz offen, daß er nicht glaube, daß eine ernsthafte Kriegsgefahr gegen die UdSSR bestünde. Ein Feldzug der Völkerbundsmächte gegen die UdSSR, wie im Fall von Artikel 16 der Völkerbundssatzung, scheine in absehbarer Zeit keine realistische Vorstellung zu sein. Die Sowjetregierung befürchte jedoch, daß der Völkerbund unter den federführenden Mächten, zumal Großbritannien, gegen die UdSSR gerichtete Maßnahmen, vor allem wirtschaftliche Sanktionen ergreifen könne. Als Bundesmitglied wäre Deutschland dann dazu gezwungen, an diesen Sanktionsmaßnahmen, wie z. B. einer Kredit- und Handelssperre, mitzuwirken. Das britisch-sowjetische Verhältnis war seit dem Kabinettswechsel im Oktober 1924 besonders angespannt. Die neue britische Regierung unter Baldwin und Chamberlain hatte die Ratifikation des im August 1924 unterzeichneten britisch-sowjetischen Handelsvertrags abgelehnt, vor allem mit Rücksicht auf die Ansprüche der Gläubigerlobby, die von der Sowjetregierung die Anerkennung der russischen Vorkriegsschulden sowie die Rückgabe des beschlagnahmten Privateigentums in Rußland verlangten.92 In diesem Kontext waren die Bedenken Čičerins als nicht ganz unbegründet zu bezeichnen. Der schriftliche Gegenvorschlag der Sowjetregierung wurde dem deutschen Botschafter Mitte Juli übergeben.93 Darin wurde nicht nur die enge Fühlungnahme beider Seiten in allen beide Staaten berührenden politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten bestimmt, sondern auch ausdrücklich eine Nichtangriffs- und Neutralitätserklärung formuliert. Die Sowjetregierung verlangte außerdem, die Regelung der Völkerbundsbeitrittsfrage nicht mündlich, wie es die deutsche Fassung vorsah, sondern schriftlich in der Präambel zu fixieren. Der sowjetische Gegenentwurf bezog sich offenbar auf die Dezember-Vorschläge. Obwohl Brockdorff-Rantzau davon überzeugt war, daß der Völkerbund dem Rapallo-Bündnis entgegenstehe, konnte er angesichts dieser sehr weitgehenden Forderungen Moskaus, die keine Rücksicht auf das Verhältnis Deutschlands zu den Westmächten nahmen, sein Erstaunen nicht verbergen.94 Bei einer Unterredung mit Čičerin Mitte Juli äußerte Brockdorff-Rantzau offen den Eindruck, daß er Abmachungen in dieser Form für nicht angängig halte. In Berlin war man sich klar bewußt, daß die Präam91 ADAP,
Ser. A, Bd. XIII, Dok. 186, Brockdorff-Rantzau, 3.7.1925, S. 517 ff. (1972), S. 150–212 (hier S. 182). 93 Der Abdruck des sowjetischen Gegenvorschlags, in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 324, Vorschlag der Regierung der UdSSR, 13.7.1925, S. 644. 94 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 205, Brockdorff-Rantzau, 15.7.1925, S. 564 ff. 92 Eichwede
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bel veröffentlicht werden sollte. Um den vorherzusehenden Einwänden der Westmächte zu begegnen, war das Auswärtige Amt deshalb bemüht, die Regelung der Völkerbundsbeitrittsfrage lediglich mündlich zu formulieren. In dieser Hinsicht war der russische Gegenvorschlag absolut ungeeignet, indem nicht nur die Völkerbundsfrage, sondern auch die Westgarantiepaktsverhandlungen dadurch vereitelt werden mußten. Čičerin erwiderte, daß die deutsche Fassung schöne Phrasen über die Freundschaft und den Frieden in Europa enthalte, aber keine konkreten vertraglichen Abmachungen über das Verhältnis beider Staaten gegen dritte Mächte. So verlangte er eine stärkere Bindung beider Staaten betreffend die Versailler Mächte, insbesondere gegen Frankreich und Polen: „Wir wären dadurch gebunden, uns unter keinen Umständen mit Frankreich oder Polen einzulassen.“95 Trotz der Übernahme der deutschen Delegationsleitung durch BrockdorffRantzau kamen die Mitte Juni unterbrochenen Handelsvertragsverhandlungen nicht sofort wieder in Gang. Zunächst blieben sie allein Besprechungen zwischen den beiden Spitzenbeamten (Dirksen und Hanecki) überlassen.96 Obwohl Krestinskij in einem Gespräch mit Brockdorff-Rantzau und Dirksen am 1. Juli angedeutet hatte, daß die Sowjetregierung nicht mehr auf die Ausnahme Polens und Finnlands von der Meistbegünstigungsklausel bestehe,97 kehrte die sowjetische Delegation wieder zu ihrem alten Standpunkt zurück. Die Sowjetregierung versuchte, die Ehrenerklärungsfrage im Kindermann-Wolscht-Prozeß davon abhängig zu machen, inwieweit Deutschland bei den Handelsvertragsverhandlungen auf die sowjetischen Wünsche eingehe.98 Die Auseinandersetzung zwischen der Reichs- und der Sowjet regierung um diesen Prozeß ging darauf zurück, daß 1924 die beiden deutschen Studenten Kindermann und Wolscht wegen angeblicher Pläne zur Ermordung der höchsten Staatsmänner Rußlands (Stalin und Trockij) inhaftiert worden waren. Dabei war ein Mitglied der deutschen Botschaft, Gustav Hilger, von sowjetischer Seite unbegründet der Teilnahme an diesem Komplott bezichtigt worden.99 Nachdem der Verdacht gegen Hilger im Prozeß 95 ADAP,
Ser. A, Bd. XIII, Dok. 218, Brockdorff-Rantzau, 20.7.1925, S. 600 ff. AA, R 35645 (Handakten Wallroth), Abschrift, Aufzeichnung über den Stand der Handelsvertragsverhandlungen auf Grund der Besprechungen des Generalkonsul von Dirksen mit Herrn Ganetzki am 14. und 15. Juli 1925. 97 PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Abschrift, Telegramm, BrockdorffRantzau (Moskau), an AA, 2.7.1925. 98 PA AA, R 35645 (Handakten Wallroth), Deutsche Delegation (Strube) an Wallroth, 11.7.1925. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 222, Brockdorff-Rantzau, 22.7. 1925, S. 611 ff. Scheidemann (1998), S. 665 f. 99 Gustav Hilger: Wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918– 1941. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten, Frankfurt am Main und Berlin 1956, S. 140 ff. 96 PA
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen661
ausgeräumt worden war, übermittelte die deutsche Botschaft der sowjetischen Seite eine zur Veröffentlichung in der Presse bestimmte Erklärung, die die Unschuld der Botschaft betraf. Die Sowjetregierung versuchte, ihre Veröffentlichung zu unterbinden.100 Während die Botschaft eine Ehrenerklärung für Hilger forderte, lehnte dies die Sowjetregierung strikt ab und wiegelte sogar die Öffentlichkeit durch eine Pressekampagne auf. Der Konflikt zwischen der deutschen Botschaft und der Sowjetregierung wurde Ende Juli noch einmal verschärft, als Čičerin dem Botschafter den Standpunkt der Moskauer Regierung mitteilte, daß dieser Terrorakt von den deutschen amtlichen Stellen, unter ihnen Hilger, unterstützt worden sei. Offenbar sah sich Čičerin aus innenpolitischen Gründen dazu gezwungen, diese Erklärung, die einer Verleumdung des deutschen Botschafters gleichkam, abzugeben. Unter diesen Umständen drohte Brockdorff-Rantzau, daß er „keinen Augenblick auf dem hiesigen Posten verbleiben würde, wenn nicht sofort Klarheit geschaffen werde.“101 Ohne vorherige Ehrenerklärung seitens der Sowjetregierung sei er nicht bereit, in weitere Verhandlungen über die Wirtschaftsangelegenheiten oder die Präambelfrage einzutreten.102 Er bat Čičerin darum, im Sinne des Geistes von Rapallo den Zwischenfall friedlich beizulegen, was der Außenkommissar auch zusicherte. Dennoch war die schwierige innenpolitische Stellung des Außenkommissars darin deutlich zu ersehen, daß die Moskauer Regierung die Lösung der Ehren erklärungsfrage davon abhängig machte, inwieweit Deutschland auf die sowjetischen Wünsche in den Handelsvertragsverhandlungen eingehen werde.103 Der deutsche Botschafter war keinesfalls dazu bereit, dieses Junktim zu akzeptieren. Nach einmonatigem Aufenthalt in Moskau beschloß er schon Ende Juli, wieder nach Berlin zurückzukehren und die gesamten Verhandlungen abzubrechen.104 Die Ursache der Schwierigkeiten bestand offenbar darin, daß die deutsche Regierung in Sicherheitsverhandlungen mit den Westmächten eingetreten war, bevor sie auf die Dezember-Vorschläge Moskaus reagiert hatte. Die lange Verzögerung der deutschen Antwort und die sehr eingeschränkte Kompromißbereitschaft der deutschen Wirtschaftsdelegation verstärkten in der Folge Moskaus Argwohn gegen Berlin. Die Sowjets übten jetzt gegen 100 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 318, dessen Anm. 5, S. 636. 101 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 205, Brockdorff-Rantzau, 15.7.1925, S. 564 ff. 102 PA AA, R 35645 (Handakten Wallroth), Deutsche Delegation (Strube) an Wallroth, 11.7.1925. 103 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 236, Brockdorff-Rantzau, 28.7.1925, S. 645 ff. 104 PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 25.7.1925. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 222, BrockdorffRantzau, 22.7.1925, S. 611 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Berlin Vergeltung. Unter diesen Umständen war die Klärung der offenen Fragen völlig aussichtslos. Der Wunsch des Botschafters, nach Berlin zurückzukehren, wurde gleichwohl von Stresemann ausdrücklich zurückgewiesen.105 Er instruierte den Botschafter, in Moskau zu bleiben und unbedingt einen Verhandlungsabbruch zu vermeiden, um so den Abschluß eines deutsch-sowjetischen Handelsvertrags noch vor der Unterzeichnung eines Westgarantiepaktes zu erzielen. Während der Botschafter der Prestigefrage die Priorität einräumte, schätzte Stresemann die Lage vielmehr so ein, daß die Sowjets unabhängig vom Streit um die Ehrenerklärung eigentlich darauf abzielten, seitens Deutschlands einen Kompromiß in den Handelsvertragsverhandlungen zu erzielen. Auch Reichskanzler Luther stimmte mit dieser Ansicht Stresemanns überein.106 Die deutsche Regierung war nunmehr bereit, den russischen Wünschen im Rahmen des Möglichen entgegenzukommen, um so die stagnierenden Handelsvertragsverhandlungen endlich wieder in Gang zu bringen. Die Entscheidung des Auswärtigen Amts wurde ausschließlich aus politischem Gründen getroffen, um auf diesem Wege den Abbruch der Handelsvertragsverhandlungen, die ein Gegengewicht gegen die Westsicherheitsverhandlungen bilden sollten, zu vermeiden. 6. Die Zugeständnisse Deutschlands bei den Wirtschaftsverhandlungen Der Vorschlag, ein vorläufiges Wirtschaftsabkommen abzuschließen, war der sowjetischen Seite bereits Mitte Juni unterbreitet worden.107 Die sowjetische Delegation hatte seinerzeit den deutschen Vermittlungsvorschlag abgelehnt und einen sofortigen Abschluß der Verhandlungen auf dem Stand der gegenwärtigen Entwürfe verlangt, was die deutsche Delegation allerdings als unmöglich zurückgewiesen hatte. An dem deutschen Vermittlungsvorschlag wurde auch nach Übernahme der Delegationsleitung durch Brockdorff-Rantzaus weiterhin festgehalten.108 Am 22. Juli 1925 beschloß das Reichskabinett, in der Frage des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags weitere Zugeständnisse zu machen, unter der Voraussetzung, ein befristetes Wirtschaftsabkommen (Vertragsdauer von 18 Monaten bei sechsmonatiger Kündigungsfrist) sowie die bisher fast fertiggestellten Nebenabkommen 105 Zur Haltung der deutschen Regierung gegen den Verhandlungsabbruch siehe Anderle (1962), S. 146 ff. 106 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 229, Stresemann, 25.7.1928, S. 629 ff. 107 PA AA, R 23937 (Handakten von Koerner), Koerner an Hanetzki, 19.6.1925. 108 BA, R 9215 / 294, Telegramm (Entwurf), Brockdorff-Rantzau, 30.6.1925. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 187, Brockdorff-Rantzau, 4.7.1925, S. 520 ff. PA AA, R 35645 (Handakten Wallroth), AA an StS, 13.7.1925. Anlage.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen663
gleichzeitig abzuschließen.109 Das Auswärtige Amt instruierte die deutsche Delegation in Moskau, den sowjetischen Wünschen vor allem in den Bereichen der Exterritorialität der Handelsvertretung, des Schweineeinfuhrkontingents sowie der Ausnahmeregelung der Meistbegünstigung mit gewissen Einschränkungen entgegenzukommen. Damit akzeptierte das Reich tatsächlich die Angliederung der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin an die dortige Botschaft, indem sie ihr Exterritorialität einzuräumen bereit war. Dagegen sollte das Reich unbedingt darauf bestehen, die von der sowjetischen Seite gewünschte Unverletzlichkeit der Archive der Hamburger Handelsvertretung sowie die Befreiung der Handelsvertretung von der deutschen Besteuerung abzulehnen.110 Während die Reichsregierung eine feste Zusage zur Gewährung von Industriekrediten für den Ankauf deutscher Industrieprodukte gab, zeigte sie in bezug auf den Import russischer Agrarprodukte mit Rücksicht auf die Ansprüche der Landwirte nach wie vor keine Kompromißbereitschaft. Dies betraf sowohl das zollfreie Getreideeinfuhrkontingent als auch die Erleichterung der Vieheinfuhr. Die Zugeständnisse Deutschlands im Agrarbereich beschränkten sich auf eine Kontingent von wöchentlich 800 Schweinen, unter der Voraussetzung, daß diese aus Rußland nach Deutschland ausschließlich auf dem Seewege zu transportieren seien.111 Die mit veterinärpolizeilichen Vorschriften begründete Einschränkung des Einfuhrweges wurde von deutscher Seite vorgenommen, um zu vermeiden, daß Polen sowie andere Agrarländer auf dem Wege der Meistbegünstigung die der UdSSR eingeräumte Schweineeinfuhrquote erlangen konnten. Mit dieser Einschränkung gelang es dem Reich, die Schweineeinfuhr aus den Oststaaten tatsächlich zu blockieren, da der Transport lebender Schweine per Schiff nicht ohne weiteres möglich war. Dementsprechend protestierte die UdSSR in der Folgezeit wiederholt, das eingeräumte Kontingent wegen des Schiffahrtsweges nicht ausnutzen zu können. In der Meistbegünstigungsfrage gingen die Meinungen beider Seiten stark auseinander. Besonders die Frage der möglichen Ausnahme erwies sich als schwierig zu klären. Die sowjetische Delegation forderte, alle Begünstigungen, die den Grenznachbarländern durch die UdSSR eingeräumt wurden, prinzipiell nicht als Gegenstand der Meistbegünstigung zu betrachten. Hierzu machte die deutsche Delegation folgende Gegenvorschläge: Die von 109 Zur Besprechung des Reichskabinetts über die Kompromißmöglichkeit siehe AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 133, Kabinettsitzung vom 22.7.1925, sowie dessen Anm. 1, S. 452 ff. 110 Ebd. 111 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 347, Deutscher Entwurf über die Hauptpunkte der Verhandlungen, 4.8.1925, S. 687 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Rußland gewünschte Ausnahmebehandlung Polens sowie Finnlands sei inakzeptabel. Die Reichsregierung sei dennoch bereit, die Ausnahmebehandlung von Afghanistan, Persien sowie Mongolei sowie Chinesisch Turkestan zuzubilligen. Als Gegenleistung verlangte das Reich von der UdSSR, alle Begünstigungen, die Österreich durch das Reich eingeräumt wurden, vom Gegenstand der Meistbegünstigung auszunehmen.112 Die Ausnahmebehandlung Litauens, die früher von der deutschen Delegation als Gegenleistung verlangt worden war, wurde somit fallengelassen. Die Reichsregierung stand allerdings auf dem Standpunkt, daß die Ausnahmebehandlung von China und der Türkei mit Rücksicht auf die Interessen des deutschen Osthandels prinzipiell nicht zu akzeptieren sei. Den sowjetischen Einwänden begegnete die deutsche Delegation mit dem Vorschlag, allein die Sonderbegünstigungen – wie z. B. die im Rahmen des kleinen Grenzverkehrsabkommens zu gewährende lizenzfreie Wareneinfuhr, die Rußland der Türkei sowie China eingeräumte – vom Gegenstand der Meistbegünstigung auszunehmen. Bei jedem Ausnahmefall sollte jedoch Deutschland der freie Transit nach diesen asiatischen Oststaaten auf dem Wege der privaten Konzessionsgesellschaften eingeräumt werden.113 Während die deutsche Delegation ihren Kompromißvorschlägen großen Wert beimaß, betrachteten die Sowjets sie als völlig unbedeutend. Am 3. August fand eine Besprechung zwischen den beiden Delegationsspitzen, Brockdorff-Rantzau sowie Schlesinger einerseits und Hanecki andererseits, im Beisein von Außenkommissar Čičerin statt.114 Obwohl die deutschen Zugeständnisse beachtlich waren, zeigte Čičerin dafür wenig Verständnis und versuchte, das Wirtschaftsgespräch auf politische Fragen zu lenken. Er erklärte: „Aus der heutigen Verhandlung hat sich erneut meine Auffassung bestärkt, daß die Deutsche Regierung infolge ihrer West-Pakt-Verhandlungen sich außerstande sieht, uns die notwendigsten Zugeständnisse zu machen, um zu einem Vertragsabschluß zu gelangen; ich kann nur feststellen, daß Deutschland seit Monaten seine Stellungnahme in den Verhandlungen ständig verschiebt und verschärft. Ich kann daher nur annehmen, daß Deutschland glaubt, im Westen besser seine Rechnung zu finden und es wäre doch viel richtiger, dieses offen zu erklären.“115 Nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen Čičerin und Schlesinger, der dem Außenkommissar die Nichtanerkennung der deutschen Kompromißvorschläge mit scharfen Wor112 AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 133, Kabinettsitzung vom 22.7. 1925, S. 452 ff. 113 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 338, Telegramm von Dirksen, 28.7.1925, S. 671 ff., sowie Dok. 339, 28.7.1925, S. 672 ff. 114 PA AA, R 23937, Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 4.8. 1925. 115 PA AA, R 23937, Schlesinger (Moskau) an Dirksen, 6.8.1925.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen665
ten vorwarf, ergriff Hanecki schließlich das Wort und erklärte sich bereit, mit einigen Ausnahmen auf die deutschen Vermittlungsvorschläge einzugehen. Dennoch wurden die Meinungsunterschiede zwischen beiden Seiten in den Fragen der Handelsvertretung, der Ausnahmen von der Meistbegünstigung sowie des Transithandels mit den asiatischen Oststaaten durch die UdSSR nicht völlig ausgeräumt. Der neue Vertragsentwurf des Wirtschaftsabkommens, den die deutsche Delegation auf Grund ihrer Kompromißvorschläge ausgearbeitet hatte,116 wurde am 14. August der sowjetischen Seite übergeben.117 Am 29. August übermittelte die sowjetische Delegation die Stellungnahme der Sowjetregierung zu den deutschen Vorschlägen. Sie erklärte zwar ihr Einverständnis, den neuen Vertragsentwurf anzunehmen, jedoch unter der Voraussetzung, daß Deutschland im Rahmen des Handelsvertrags auf den Abschluß einer Fischereikonvention sowie die Erteilung von Fischereikonzessionen in den nörd lichen Meeren verzichten solle. Nicht zuletzt verlangte sie von Deutschland, weitere Zugeständnisse in der Frage der Ausnahmebehandlung der Meistbegünstigung bezüglich von China und Türkei zu machen. Die Sowjetregierung akzeptierte zwar die Besteuerung ihrer Handelsvertretungen in Deutschland, lehnte es jedoch ab, ihre Bücher den deutschen Behörden vorzulegen. Sie machte deutlich, daß die deutschen Wünsche (insbesondere die Nichtaus nahmebehandlung der Polen und Finnland von der UdSSR eingeräumten Rechte vom Gegenstand der Meistbegünstigung, die Ausnahmebehandlung der Österreich durch Deutschland eingeräumten Rechte vom Gegenstand der Meistbegünstigung sowie der Nichtabschluß der Zollkonvention) lediglich angenommen werden könnten, wenn das Reich seinerseits auf die sowjetischen Gegenvorschläge einginge.118 Obwohl Krestinskij bereits kurz nach der Ankunft Brockdorff-Rantzaus in Moskau, am 1. Juli 1925, geäußert hatte, daß die Sowjetregierung nicht mehr auf die Ausnahmebehandlung Polens und Finnlands bestehen werde,119 mußte das Reich für die endgültige Bestätigung seitens der Sowjetregierung noch einen höheren Preis zahlen. 116 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 345, Telegramm von Stresemann, 11.8.1925, S. 683 ff. 117 BA, R 9215 / 481, Material zu den Vertragsverhandlungen (vertrauliche Anlage zu RT III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551), Deutscher Entwurf vom 14. August 1925. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 347, Deutscher Entwurf, 14.8.1925, S. 687 ff. 118 BA, R 9215 / 481, Material zu den Vertragsverhandlungen (vertrauliche Anlage zu RT III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551), Antwort der Delegation der UdSSR vom 29. August 1925. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 358, Antwort der Delegation der UdSSR, 29.8.1925, S. 708 ff. 119 PA AA, R 28930 (Büro StS), BA, R 9215 / 294, Telegramm (Entwurf), v. Brockdorff-Rantzau, 30.9.1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Mit Rücksicht auf die bereits gemachten Kompromisse erschien der deutschen Delegation ein weiteres Nachgeben als ein zu hohes Risiko, da der deutschen Wirtschaft aus diesem Vertragswerk überhaupt keine wesentlichen Vorteile mehr zu erwachsen drohten. Nicht zuletzt war für die Ausgestaltung des deutsch-russischen Handels die Gewährung enormer Kredite unerläßlich.120 Immerhin wurden die Handelsvertragsverhandlungen durch die Kompromißvorschläge Deutschlands wieder in Gang gesetzt. In diesem Sinne erwies sich die Entscheidung Stresemanns als richtig, der von Brockdorff-Rantzau ultimativ geforderten Ehrenerklärung weniger Wert beizumessen. Allerdings war die Beseitigung dieses Junktims, die mehrere Kompromisse Deutschlands in wirtschaftlichen Bereichen notwendig gemacht hatte, als politischer Akt zu betrachten. Für die Wahrung der deutschen Wirtschaftsinteressen verlor der Handelsvertrag mehr und mehr an Bedeutung. Die Durchbrechung des sowjetischen Außenhandelsmonopols, die das Reich ursprünglich angestrebt hatte, ließ sich schließlich nicht erzielen. Die Gleichberechtigung der Handelstätigkeit beider Staaten wurde durch die prinzipielle Anerkennung des sowjetischen Staatsprinzips schwer eingeschränkt. Darüber hinaus war der sowjetischen Handelsvertretung in Deutschland eine Sonderstellung einzuräumen. Das Reich mußte schließlich auf die enormen Kreditwünsche Rußlands eingehen, weil die deutschen Industrieprodukte nur unter dieser Voraussetzung verkäuflich waren. Mit Recht beschwerte sich Ministerialrat Sommer über diese Entscheidung des Auswärtigen Amts: „[W]enn man aber auch dem Abschluß irgendeines Abkommens aus außenpolitischen Gründen nur zustimmen muß, so muß man doch das m. E. schon jetzt mit dem klaren und bestimmten Vorbehalt tun, daß man später die Ratifikation verhindert oder ad infinitum verzögert und auch keinesfalls irgendwelche Teile des Abkommens vor Ratifikation in Geltung treten läßt.“121 Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen gerieten jedoch Ende August 1925 erneut in eine Sackgasse, da wirtschaftliche und politische Interessen aufeinanderprallten. 7. Die Zurückziehung der Präambelvorschläge Anfang August erfolgte die formelle Beilegung des Ehrenerklärungsstreits durch eine Presseerklärung der Sowjetregierung, für die sich BrockdorffRantzau nicht wenig eingesetzt hatte.122 Dadurch wurde die Möglichkeit eröffnet, die ins Stocken geratenen Handelsvertragsverhandlungen wieder in 120 ADAP,
Ser. A, Bd. XIII, Dok. 276, Dirksen, 13.8.1925, S. 756 ff. schriftliches Votum von Ministerialrat Sommer (PreußHM) vom 18.8. 1925 wurde veröffentlicht in: Anderle (1962), S. 148. 122 ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 264, Stresemann, 8.8.1925, S. 714 ff. 121 Ein
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen667
Gang zu setzen.123 Zugleich wurde die deutsche Regierung dadurch in die Lage versetzt, zum sowjetischen Gegenvorschlag hinsichtlich der Präambelfrage offiziell Stellung zu nehmen. Stresemann zweifelte daran, ob die Sowjetregierung wirklich daran denke, die dem Handelsvertrag voranzustellende Präambel zustande zu bringen. Die sowjetische Fassung der Präambel konnte jedenfalls nicht veröffentlicht werden, wenn die Reichsregierung ihre Ambitionen im Westen nicht kurz vor dem Ziel noch zerstören wollte. Die sowjetische Präambel, die offenbar darauf abzielte, das Reich deutlich enger als im Rapallo-Vertrag an Rußland zu binden, hätte die Stellung Deutschlands im Westen hoffnungslos kompromittiert. Stresemann ging zwar davon aus, daß eine Ausbalancierung zwischen der Ost- und West orientierung notwendig sei, damit Deutschland nicht der Verlierer von Versailles bleiben müsse. Das Reich benötigte jedoch seine besondere Beziehung zu Rußland, um den Westmächten zu beweisen, daß es in seiner Ostpolitik einschließlich der Polenpolitik völlige Handlungsfreiheit besitze. Vor der ganzen Welt eine einseitige Bindung Berlins an Moskaus zu propagieren, wäre hingegen kontraproduktiv gewesen. Der deutsche Außenminister glaubte, daß die Präambelverhandlungen scheitern müßten, wenn die Sowjetregierung die außenpolitische Lage des Reichs nicht würdige und es zu einer Entscheidung für oder gegen Moskau zwingen wolle. In diesem Falle müsse der deutsch-sowjetische Handelsvertrag ohne irgendeine politische Abrede lediglich als Wirtschaftsvertrag abgeschlossen werden. So verlangte Stresemann von der Sowjetregierung politische Zurückhaltung und stellte sie vor die Alternative, entweder die deutschen Vorschläge anzunehmen oder aber auf die Unterzeichnung einer politischen Präambel zum Abschluß des Handelsvertrags überhaupt zu verzichten.124 Seine Versuche, die Sowjetregierung davon zu überzeugen, daß die politische Bedeutung der deutschen Präambelvorschläge größer sei als die Sowjets glaubten, blieben aber ergebnislos. Mit Recht erwiderte Litvinov, daß die Präambel lediglich die Einleitung eines Handelsvertrags bzw. der in dessen Rahmen abzuschließenden Abkommen darstelle. Daher könnten die in der Präambel ausgeführten Abmachungen keineswegs ein Gegengewicht zum Westsicherheitspakt bilden, womit Litvinov die Ungleichheit der deutschen Ost- und Westpolitik andeutete. Nach den deutschen Vorschlägen war außerdem vorgesehen, die Regelung der Völkerbundsbeitrittsfrage, die den Kern der sowjetischen Wünsche ausmachte, nicht schriftlich zu fixieren. Die Moskauer Regierung hingegen hielt es für notwendig, die betreffenden Zusicherungen, sowohl über die Neutralitäts- und 123 PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Brockdorff-Rantzau an v. Koerner (Berlin), 8.8.1925. 124 ADAP, Ser. A, Bd. XVI, Dok. 2, Stresemann, 14.8.1925, S. 5 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Nichtangriffserklärung als auch in der Völkerbundsfrage, schriftlich festzuhalten. Angesichts der Nervosität Berlins in der Frage der Westverhandlungen hielt Litvinov es auch für möglich, ggf. die politische Abrede zwischen Deutschland und Rußland zunächst geheimzuhalten.125 Stresemann lehnte aber diesen Vorschlag ab und wünschte sogar, die vage formulierte Präambel zu veröffentlichen, um so den Westmächten die eigene Handlungsfreiheit vor Augen zu führen. Die Präambelfrage verlor für die Moskauer Regierung mehr und mehr an Bedeutung, weil die von ihr angestrebte politische Abrede, die ursprünglich über den Rapallo-Vertrag hinausgehen sollte, auf die Einleitung eines Wirtschaftsabkommens reduziert war. Außerdem blieb noch unklar, ob die Präambel in den Mantelvertrag des Handelsvertrags oder in eins der sieben Nebenabkommen aufgenommen werden sollte, wobei Čičerin ironisch äußerte, daß das Veterinärabkommen wohl nicht in Betracht komme.126 Ende August äußerte Litvinov dem deutschen Botschafter gegenüber, daß es eigentlich unzulässig sei, ein politisches Abkommen mit dem Handelsvertrag zu verbinden. Brockdorff-Rantzau schloß sich dieser Ansicht vollkommen an. Litvinov bekräftigte, daß die Sowjetregierung Wert darauf lege, nicht die Präambel des Handelsvertrags, sondern ein selbständiges politisches Abkommen abzuschließen. Das Interesse beider Seiten an der Präambel begann augenscheinlich zu schwinden. Durch einen Verzicht auf das Vorhaben konnte eine weitere Verschiebung der Unterzeichnung des Handelsvertrags vermieden werden.127 Schließlich stimmte auch Stresemann dieser Ansicht zu und gab Brockdorff-Rantzau seine Zusage, das Vertragswerk zunächst ohne politische Präambel zu unterzeichnen und gleichzeitig eine Vereinbarung über die spätere Zugabe der Präambel zu treffen, um so den Handelsvertrag baldmöglichst zum Abschluß zu bringen.128 Die Präambelfrage rückte nun in den Hintergrund der deutsch-sowjetischen Verhandlungen. Sie sollte erst wieder aufgeworfen werden, als Čičerin Stresemann in Berlin kurz vor seiner Abreise nach Locarno Anfang Oktober 1925 besuchte.
125 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 351, Aufzeichnung von Litvinov über eine Unterredung mit Brockdorff-Rantzau, 21.8.1925, S. 694 ff. Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 34, Brockdorff-Rantzau, 27.8.1925, S. 100 f. 126 ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 19, Stresemann, 22.8.1925, S. 50 ff. 127 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 351, Aufzeichnung von Litvinov, 21.8.1925, S. 694 ff.; Dok. 354, Aufzeichnung von Litvinov, 25.8.1925, S. 697 ff. ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 34, Brockdorff-Rantzau, 27.8. 1925, S. 100 ff. 128 ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 19, Stresemann, 22.8.1925, S. 50 ff.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen669
8. Die Abschlußverhandlungen des Handelsvertrags und die Locarnofrage Der Handelsvertrag zwischen Deutschland und der UdSSR sollte unbedingt vor dem Abschluß der Westsicherheitspaktsverhandlungen unterzeichnet werden. Es ging für Berlin darum, den Westmächten den festen Willen Deutschlands zu zeigen, sich trotz seiner Wiederaufnahme in den Kreis der Großmächte die volle Handlungsfreiheit in seiner Ostpolitik vorzubehalten. Auch Moskau verlangte den baldigen Abschluß des Handelsvertrags, da die Sowjets eine weitere Verzögerung mit der endgültigen Westorientierung Berlins gleichsetzten. Die von sowjetischer Seite dringend eingeforderte politische Verabredung im Rahmen der Unterzeichnung des Handelsvertrags wurde schließlich gänzlich fallengelassen. Folglich vermehrte sich in Moskau der Argwohn gegen die Westorientierung Berlins. Unter diesen Umständen war Brockdorff-Rantzau sich der Notwendigkeit bewußt, seinem Rapallo-Partner das unveränderte Vertrauen in den im Jahr 1922 gepflogenen Geist zum Ausdruck zu bringen, was lediglich durch die vorzeitige Unterzeichnung des Handelsvertrags vor dem Westgarantiepakt möglich erschien. Auch in Berlin bemühte sich Stresemann, das gesamte Vertragswerk zwischen Deutschland und der UdSSR als Gegenstück zum Westsicherheitspakt rechtzeitig zustande zu bringen.129 Die Sache schien umso dringlicher, als die Westmächte Ende August die Reichsregierung zur Londoner Juristenkonferenz sowie zu einer darauffolgenden Außenministerkonferenz (Frankreich, Großbritannien, Belgien, Deutschland) einluden.130 Unmittelbar nach Abschluß der Londoner Konferenz, am 15. September, schlug die Reichsregierung Frankreich vor, die vorgesehene Außenministerkonferenz Ende September bzw. spätestens Mitte Oktober stattfinden zu lassen, um so die bisher geführten Sicherheitsverhandlungen zum Abschluß zu bringen.131 Berlin beabsichtigte, einen Garantievertrag über die gegenwärtigen Westgrenzen Deutschlands zu unterzeichnen, was dem deutschen Verzicht auf Elsaß-Lothringen gleichkam, und als Gegenleistung die Räumung des Rheinlandes zu erzielen. Die deutschen Ostgrenzen durften hingegen keinesfalls in diesen Garantievertrag einbezogen werden. Die Zugeständnisse Deutschlands im Osten waren lediglich darauf zu beschränken, Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei, neben den Schiedsverträgen mit Frankreich und Belgien, abzuschließen, ohne jedoch territori129 AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 162, Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder, 25.9.1925, S. 574 ff. 130 AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 150, Ministerbesprechung vom 25.8.1925, S. 530 ff. Zur Londoner Konferenz siehe Wintzer (2006), S. 514 f. 131 Locarno-Konferenz 1925, Dok. 19, Note der französischen Regierung, 15.9. 1925, S. 119.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
ale Ansprüche Deutschlands preiszugeben und eine künftige Grenzrevision zu präjudizieren.132 Auf diese Weise wollte sich das Reich die Möglichkeit bewahren, eine Grenzrevision auf friedlichem Wege zu erreichen. Hinsichtlich der Garantiepaktsverhandlungen wurde im Reichskabinett bereits in diesem Sinne eine Einigung erzielt. Hingegen blieb die Frage des Völkerbundsbeitritts noch ungelöst. Mit Rücksicht auf die etwaigen Auswirkungen auf das deutsch-russische Verhältnis war diese Frage unter den Kabinettsmitgliedern sehr umstritten. Bei einer Besprechung zwischen dem Reichskabinett und den Länderregierungen am 25. September griff Reichskanzler Luther in die Angelegenheit ein und stellte fest, daß man eine Lösung in der Frage von Artikel 16 finden müsse, um „die Brücke nach Rußland nicht abzubrechen“. Man müsse bedenken, daß der Kern der Völkerbundsdebatte tatsächlich darin liege, „ob wir stärker drin oder draußen seien.“133 Luthers Argument, das offenbar auf einem juristischen Gutachten von Ministerialdirektor Gaus (Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts) beruhte,134 wich entschieden von dem Standpunkt ab, den der sowjetische Außenkommissar und der deutsche Botschafter in Moskau vertraten. Während sich Čičerin und Brockdorff-Rantzau stets auf den Geist des RapalloVertrags beriefen, der seinerzeit als Gegenstück zum Versailler Vertrag und deshalb gegen den Völkerbund abgeschlossen worden war, räumte Luther, ebenso wie Stresemann, der großen Europapolitik die Priorität ein. Daher zeigte er sich fest entschlossen, den Völkerbundsbeitritt zu vollziehen, auch unabhängig davon, ob das Reich ein Vorbehalt hinsichtlich Artikel 16 eingeräumt würde. Zum Sitzungsschluß erklärte Stresemann, daß sich er vom Völkerbundsbeitritt auch Vorteile bezüglich der Behandlung der deutschen Bevölkerung in den abgetrennten Gebieten (Memel, Danzig, Oberschlesien usw.) verspreche. Damit vertrat er ausdrücklich den Standpunkt des Reichskanzlers. Er erklärte nun, daß die Reichsregierung deshalb entschlossen sei, „den deutsch-russischen Handelsvertrag zum Abschluß zu bringen und den Russen mit aller Deutlichkeit zu zeigen, daß Deutschland nicht beabsichtige, sich einseitig nach Westen zu orientieren.“135 132 AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 161, Kabinettsrat beim Reichspräsidenten, 24.9.1925, S. 567 ff. 133 AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 162, Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder, 25.9.1925, S. 574 ff. 134 Gaus stellte fest: „Solange Deutschland nicht Mitglied des Völkerbundes ist, wird seine Rechtslage durch das Bestehen dieses Bundes der anderen Nationen nur ungünstig beeinflußt. Die Nichtmitglieder sind rechtlich sozusagen vogelfrei.“ siehe AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 162, Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder, 25.9.1925, S. 574 ff., dessen Anm. 14 (S. 577 f.). ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 108, Aufzeichnung von Gaus, S. 278 ff. 135 AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 162, Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder, 25.9.1925, S. 574 ff.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen671
Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen waren jedoch noch immer nicht abgeschlossen. Die sowjetische Delegation machte Ende August zum letzten Entwurf des Wirtschaftsabkommens ihre Gegenvorschläge, wodurch die Verhandlungen abermals zu scheitern drohten. Die Sowjets verlangten von Deutschland, auf den Abschluß der Fischereikonvention sowie die Meistbegünstigung für den Transit nach den asiatischen Oststaaten zu verzichten. Nicht zuletzt lehnte sie den deutschen Antrag ab, das Hamburger Archiv der sowjetischen Handelsvertretung von der Exterritorialität auszunehmen. Am 24. August entschloß sich die deutsche Delegation, in der Frage der Meistbegünstigung weitere Kompromisse zu machen. Das Reich war bereit, der UdSSR folgende Ausnahmen von der Meistbegünstigung zuzugestehen: Deutschland werde die von der UdSSR gegenüber Persien, Afghanistan und der Mongolei gewährten Vergünstigungen nicht in Anspruch nehmen. Es werde ferner auch die China und der Türkei im lokalen Verkehr gewährten Vergünstigungen nicht beanspruchen. Außerdem sollte die bereits im Rapallo-Vertrag festgeschriebene baltische Klausel (die Ausnahme der Estland, Lettland und Litauen durch die UdSSR eingeräumten Rechte) weiterhin beibehalten werden. Hingegen bestand das Reich lediglich auf die Sonderbehandlung Österreichs, so daß die UdSSR die Österreich eingeräumten Rechte nicht im Wege der Meistbegünstigung in Anspruch nehmen durfte.136 Am 29. August nahm die sowjetische Delegation dazu Stellung und erklärte sich schließlich bereit, auf die von Deutschland gewünschte Ausnahmebehandlung Österreichs und die Nichtausnahmebehandlung Polens und Finnlands von der Meistbegünstigung einzugehen. Hinsichtlich von Afghanistan, Persien sowie der Mongolei ließ die Sowjetregierung hingegen keinen Kompromiß zu und bestand auf der völligen Ausnahme von der Meistbegünstigungsklausel.137 Allerdings brachte die Ausnahmebehandlung Österreichs weitere Schwierigkeiten mit sich. Die Versuche zur Bildung einer Staats- oder Zollunion zwischen dem Deutschen Reich und der Republik (Deutsch-)Österreich waren schon 1919 am Widerstand der Siegermächte gescheitert. Seitdem hatten die Alliierten alle deutsch-österreichischen Annährungsversuche besonders kritisch beobachtet. Die Ausnahmebehandlung der von Deutschland Österreich zugestandenen Vergünstigungen vom Gegenstand der Meistbegünstigungsklausel war zuerst im Handelsvertrag zwischen Deutschland und Litauen vom 1. Juni 1923 gewährt worden,138 was zwangsläufig bei den 136 PA AA, R 31911, Die Deutsche Delegation drahtet aus Moskau unter Nr. 141 vom 24.8.1925. 137 PA AA, R 31911, Vertraulich, 29.8.1925. Siehe auch Deutsch-sowjetische Be ziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 358, Antwort der Delegation der UdSSR, 29.8.1925, S. 708 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Alliierten den Argwohn erregt hatte, daß zwischen Deutschland und Österreich besondere Beziehungen bestünden. Mit Rücksicht auf diese Tatsache hatte Österreich die Reichsregierung gebeten, von der Aufnahme dieser Klausel in weitere Handelsverträge abzusehen, um so die Stellung Österreichs gegenüber den Alliierten nicht zu kompromittieren. Dadurch wurde das Reich in eine schwierige Lage versetzt, da die deutsche Wirtschaft nicht auf die Ausnahmebehandlung der Österreich gewährten Rechte gegenüber der UdSSR verzichten konnte. In dieser Streitfrage zog nun das Auswärtige Amt die Konsequenz, daß diese Klausel nicht in den Hauptvertrag des Handelsvertrags, sondern lediglich in das nicht zur Veröffentlichung bestimmte geheime Schlußprotokoll aufgenommen werden solle. So instruierte Dirksen die deutsche Delegation in Moskau am 29. August: „Wir dürfen deshalb im Vertrag mit Rußland die entsprechende Klausel, die uns gleichwohl wichtig erscheint, da Rußland nicht dem Völkerbund angehört, nicht nach außen in die Erscheinung treten lassen. Bitte deshalb sie aus dem Vertrag und in die geheimen Sitzungsprotokollbestimmungen zu nehmen.“139 (Siehe Anhang, Abb. 8, S. 866). Dieser Antrag des Auswärtigen Amts wurde durch die sowjetische Delegation angenommen und die fragliche Klausel schließlich in der Form des vertraulichen Notenwechsels Nr. 8 Ziff. 1 zu Artikel 6 des Wirtschaftsabkommens am 12. Oktober 1925 festgesetzt.140 (vgl. Anhang, Abb. 9, S. 867). Trotz der beidseitigen Kompromisse blieben die Meinungsunterschiede in den Fragen der Handelsvertretung, der Meistbegünstigung (Türkei und China) sowie der Fischereikonvention weiterhin ungeklärt. Nach ihrer am 29. August gegebenen Stellungnahme war die sowjetische Delegation lediglich dazu bereit, den Abschluß einer Fischereikonvention zuzugestehen, unter der Voraussetzung, daß Berlin darauf verzichten werde, im Wege der Meistbegünstigung auf die von der UdSSR China und der Türkei eingeräumten Vergünstigungen Anspruch zu erheben, was wesentlich die Aushöhlung der im Rapallo-Vertrag gewährten Rechte Deutschlands darstellte.141 Im Gegensatz zur neuesten sowjetischen Forderung war aber eigentlich die 138
138 RGBl. 1924, II, S. 205 ff. Art. 10 Abs. 3 Ziff. 5. Die Klausel lautete: „Die vorstehenden Bestimmungen finden keine Anwendung: […] 5. auf die Begünstigungen, die Litauen einem der baltischen Staaten oder Deutschland der österreichischen Republik durch ein besonderes Abkommen einräumt, jedoch nur insolange, als diese Vergünstigungen nicht auch einem dritten Lande, mit Ausnahme der genannten Staaten, gewährt werden.“ 139 PA AA, R 23937, Telegramm aus Berlin, v. Dirksen an die deutsche Delegation, 29.8.1925. 140 Nr. 8 Ziff. 1 der vertraulichen Note: „Der Grundsatz der Meistbegünstigung findet auf diejenigen Begünstigungen keine Anwendung, die das Deutsche Reich der Republik Österreich gewährt oder gewähren wird.“ 141 PA AA, R 31911, Schlesinger (Moskau) an Dirksen, 30.8.1925.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen673
Fischereifrage schon in den bisherigen Verhandlungen erledigt worden. Obwohl die sowjetische Delegation wiederholt ihre Zusage für den Abschluß der Fischereikonvention gegeben hatte, nahm sie diese jetzt, offenbar aus taktischen Gründen, zurück.142 Außerdem zeigte die sowjetische Delegation in den die Handelsvertretung betreffenden Fragen keine weitere Kompromißbereitschaft. Unter diesen Umständen sah sich BrockdorffRantzau dazu veranlaßt, den Sowjets mit dem Scheitern der gesamten Verhandlungen zu drohen. Am 1. September erklärte der Botschafter mit aller Deutlichkeit gegenüber Litvinov, daß die letzte Forderung der sowjetischen Delegation das Scheitern der Verhandlung bedeute, und bat um Milderung der sowjetischen Wünsche, vor allem unter Hinweis auf die bisher von der deutschen Seite gemachten Kompromisse in der Frage der Exterritorialität der Berliner Handelsvertretung.143 Für den Fall, daß sich die Sowjetregierung nicht bis zum Wochenende bewege, drohte er mit der Abreise der deutschen Delegation.144 Litvinov äußerte seine Bereitschaft, hinsichtlich der Fischereikonvention sofort eine positive Lösung herbeizuführen.145 In der Meistbegünstigungs- und der Transitfrage hingegen ließ er keinen Kompromiß zu. Unter diesen Umständen hielt Brockdorff-Rantzau das Scheitern des Handelsvertrags für unvermeidlich: „Ich habe keinen Zweifel darüber gelassen, daß wir [den] bisher von [den] Russen eingenommenen Standpunkt nicht akzeptieren können.“146 Dennoch zeigte die Sowjetregierung schließlich ihre Kompromißbereitschaft und legte allergrößten Wert darauf, das gesamte Vertragswerk unbedingt zustande zu bringen. Daher schlug Litvinov Anfang September abermals vor, in der Meistbegünstigungsfrage 142 BA, R 9215 / 481, Material zu den Vertragsverhandlungen (vertrauliche Anlage zu RT, III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551), Deutsche Gegenüberstellung des Verhandlungsstandes vom 31. August 1925, S. 25 f. 143 PA AA, R 31911, Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 1.9.1925. PA AA, R 23937, Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 1.9.1925. 144 BA, R 9215 / 481, Material zu den Vertragsverhandlungen (vertrauliche Anlage zu RT, III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551), Schreiben des deutschen Botschafters vom 31. August 1925, S. 26. Siehe auch: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 358, Antwort der Delegation der UdSSR, 31.8.1925, S. 711. 145 BA, R 9215 / 481, Material zu den Vertragsverhandlungen (vertrauliche Anlage zu RT, III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551), Antwortschreiben des Stellvertreter des Volkskommissars des Auswärtigen vom 2. September 1925, S. 27. Vgl. Deutschsowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 361, Schreiben von Litvinov, 2.9.1925, S. 713. 146 BA, R 9215 / 481, Material zu den Vertragsverhandlungen (vertrauliche Anlage zu RT, III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551), Auszug aus einem Telegramm des deutschen Botschafters vom 5. September 1925, S. 27. Vgl. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 363, Antwort der Delegation der UdSSR, 5.9.1925, S. 717.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
(China und Türkei) sofort weitere Verhandlung aufzunehmen und vor allem in der Frage der Fischereikonvention den deutschen Wünschen völlig entgegenzukommen.147 Abgesehen von diesen noch ungeklärten Fragen des Wirtschaftsabkommens waren im ganzen die Meinungsunterschiede bezüglich des Handelsvertrags annähernd ausgeräumt. Ende August faßte Steresemann den Eintritt in die Abschlußverhandlungen für September ins Auge. Er ermächtigte Brockdorff-Rantzau, den Handelsvertrag in Moskau zu unterzeichen, unter der Voraussetzung, die Entwürfe vor ihrer Unterzeichnung dem Reichskabinett zur letzten Prüfung vorzulegen.148 Vor der letzten Verhandlung mit den Sowjets fragte Brockdorff-Rantzau in Berlin an, ob die Ministerien und Wirtschaftsverbände es für nötig hielten, ihre Sachverständigen nochmals nach Moskau zu entsenden.149 Der eigentliche Delegationsvorsitzende, Geheimrat v. Koerner, der sich seit Juni 1925 in Berlin aufhielt, zeigte nun Interesse daran, sich an den Abschlußverhandlungen zu beteiligen und den Vertrag selbst zu unterzeichnen. Hingegen vertraten Dirksen und Schlesinger einstimmig den Standpunkt, daß die erneute Beteiligung Koerners, der bei den Sowjets keinen guten Eindruck hinterlassen hatte, den Erfolg der Verhandlungen gefährden würde.150 Stresemann schloß sich dem an und bat Koerner darum, von seiner Abreise abzusehen und erst nach der Fertigstellung der Entwürfe zum Zwecke der Unterzeichnung nach Moskau zu fahren.151 Dirksen und Schlesinger hielten auch eine erneute Entsendung der Sachverständigen nach Moskau für ungünstig, da die im kleinen Kreis geführten Delegationsverhandlungen durch die Einmischung von Vertretern der Ministerien und Wirtschaftsverbände wieder verschleppt werden könnten.152 Anfang September meldeten jedoch der Reichsverkehrsminister und die Reichsbahngesellschaft den Anspruch auf Teilnahme ihrer Sachverständigen an den Abschlußverhandlungen an, weil die Fertigstellung des Eisenbahnabkommens noch weiterer spezieller Verhandlungen bedurfte.153 Diesem Antrag wurde durch Brockdorff-Rantzau Rechnung getragen und die Hinzuziehung der Verkehrssachverstän 147 PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Telegramm aus Leningrad, Brockdorff-Rantzau an AA, 7.9.1925. 148 PA AA, R 31911, Schlesinger an Dirksen, 22.8.1925. 149 PA AA, R 28930 (Büro StS), Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 24.8.1925. 150 PA AA, R 31912, Dirksen an die Botschaft Moskau, 12.9.1925. 151 PA AA, R 31912, Stresemann an Brockdorff-Rantzau, 9.9.1925. 152 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Dirksen an Martius (Moskau), 27.8.1925. 153 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Dirksen an die deutsche Delegation (Moskau), 4.9.1925.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen675
digen an den Abschlußverhandlungen über das Eisenbahnabkommen in Aussicht gestellt. Der Entwurf des Wirtschaftsabkommens wurde mit einigen Ausnahmen Mitte September 1925 fertiggestellt. Die deutsche Delegation hielt es für unerläßlich, diesen Entwurf vor der endgültigen Unterzeichnung beiden Regierungen vorzulegen und die Zustimmung des Kabinetts zu erhalten. Dies bewertete die sowjetische Delegation als Verzögerungstaktik. Moskau argwöhnte, daß Stresemann beabsichtige, die Handelsvertragsverhandlungen dilatorisch zu behandeln und den Westsicherheitspakt dem Abschluß des Handelsvertrags vorzuziehen. Diese Kritik war unbegründet, denn Stresemann und Brockdorff-Rantzau waren im Gegenteil bemüht, den Handelsvertrag vor der Locarno-Konferenz zum Abschluß zu bringen.154 Die deutsche Delegation in Moskau befürchtete für den Fall, daß der Entwurf des Wirtschaftsabkommens, der infolge der von deutscher Seite gemachten Kompromißvorschläge keine großen Vorteile mehr bot, am Widerstand der deutschen Wirtschaft sowie der Berliner Wirtschaftsinstanzen scheitern könnte.155 Am 17. September fand die Plenarsitzung unter Teilnahme beider Delegationen statt. Dabei erklärte der sowjetische Vorsitzende, Hanecki, dem deutschen Wunsch nach einer Beschleunigung der Verhandlungen entgegenkommen zu wollen, den Text des ganzen Vertragswerks jetzt fertig abzufassen und beiden Regierungen zur Erlangung ihrer formellen Zustimmung vorzulegen. Auf seinen Wunsch hin wurden zwei noch ungelöste Fragen, die Meistbegünstigung und die Besteuerung der Handelsvertretung, zur Debatte gestellt. Die sowjetische Delegation bestand auf ihren alten Standpunkten und zeigte keine große Kompromißbereitschaft, vor allem mit Rücksicht auf die Wirkung auf andere meistbegünstigte Staaten. Die Sowjetregierung lehnte es auch ab, dem deutschen Handel nach den asiatischen Oststaaten freie Transitrechte einzuräumen. Der deutsche Transithandel mit den asiatischen Oststaaten sollte lediglich durch die Organisation gemischter Gesellschaften (Rußland und Deutschland) erfolgen dürfen. Die Gewährung des freien Transithandels nach den asiatischen Oststaaten war von der deutschen Delegation ursprünglich als Gegenleistung Rußlands für die deutsche Anerkennung der Ausnahmebehandlung der Meistbegünstigung bei Afghanistan, Persien sowie der Mongolei beantragt worden. Angesicht der festen Entschlossenheit Rußlands mußte aber die deutsche Delegation schließlich nachgeben, unter der Voraussetzung, die Rechtsfrage des Transithandels durch die UdSSR im Wirtschaftsabkommen noch offenzulassen. Somit wurde die Regelung des Transithandels nach den asiatischen Oststaaten letztlich vom Vertragstext ausgenommen. Demnach sollte eine Erklärung über den 154 ADAP, 155 ADAP,
Ser. A, Bd. XIV, Dok. 68, Stresemann, 19.9.1925, S. 181. Ser. A, Bd. XIV, Dok. 50, Legationsrat v. Dirksen, 5.9.1925, S. 134 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Transithandel durch die UdSSR auf dem Konzessionswege, und zwar in der Form einer gemischten deutsch-sowjetischen Gesellschaft, im Rahmen des dem Vertrag beizufügenden Schlußprotokolls abgegeben werden.156 Hinsichtlich der Meistbegünstigungsfrage gegenüber China und der Türkei verlangte die sowjetische Delegation von Deutschland weitgehende Konzessionen, indem Deutschland auf die Meistbegünstigung für alle Begünstigungen, die von der UdSSR China und Türkei im Rahmen des sogenannten Grenzverkehrs eingeräumt werden, verzichten sollte. Tatsächlich bedeutete der vom Grenzverkehr zu erfassende Handelsverkehr fast den gesamten Außenhandel der UdSSR mit China und der Türkei. Diese Klausel kam deshalb einer völligen Ausklammerung von China und der Türkei aus der Meistbegünstigung gleich.157 Es gelang der deutschen Delegation lediglich, eine den deutschen Wirtschaftsinteressen entsprechende Liste von Waren, die von dieser Regelung ausgenommen werden sollten, zu vereinbaren. Mit Rücksicht auf andere meistbegünstigte Staaten wurde diese Warenliste allein im vertraulichen Notenwechsel Nr. 8 Anlage 1 aufgeführt.158 Hierzu ist noch folgende Sonderregelung anzumerken. Die Regelung über die Ausnahmebehandlung der Meistbegünstigungsklausel wurde zum Abschluß des Handelsvertrags in dessen Mantelvertrag (allgemeine Bestimmungen) aufgenommen. Artikel 6 des Mantelvertrags bestimmte, gegenseitig die im Rahmen des kleinen Grenzverkehrsabkommens gewährten Rechte (Art. 6 Ziff. 1) sowie die auf Grund der Zollunion eingeräumten Begünstigungen (Ziff. 2) und speziell die von der UdSSR Persien, Afghanistan und der Mongolei gewährten Rechte (Ziff. 3), sowie die von der UdSSR China und der Türkei im Rahmen des Grenzverkehrs gewährten Rechte (Ziff. 4) nicht als der Gegenstand der Meistbegünstigung zu betrachten. Im Schlußsatz des Artikel 6 wurde auch die Beibehaltung der im Rapallo-Vertrag gewährten Ausnahmeregelung für die UdSSR gesichert. Hingegen wurde die Klausel über die Ausnahmebehandlung aller durch Deutschland Österreich eingeräumten Begünstigungen vom Gegenstand der Meistbegünstigung lediglich im Rahmen der dem Handelsvertrag beigelegten vertraulichen Note Nr. 8 festgesetzt (Ziff. 1) (siehe Anhang, Abb. 9, S. 867). Ebenfalls wurde die ausdrückliche Formulierung für die Ausnahmebehandlung der 156 BA, R 9215 / 481, Material zu den Vertragsverhandlungen (vertrauliche Anlage zu RT, III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551), Protokoll der Plenarsitzung vom 17. September 1925, S. 27. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 371, S. 726 ff. 157 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 376, Schreiben von Litvinov, 19.9.1925, S. 733 f. 158 PA AA, R 23937 (Handakten von Koerner), Telegrammaus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 19.9.1925. Telegramm aus Moskau (Martius) an AA, 25.9. 1925.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen677
ehemaligen russischen Gebiete, die bereits im Rapallo-Vertrag gewährt worden war, allein im Rahmen dieser vertraulichen Note vorgenommen. Dabei wurde die Ausnahmebehandlung ausdrücklich auf die baltischen Staaten (Estland, Lettland, Litauen) beschränkt (Ziff. 3).159 In der zweiten Plenarsitzung vom 19. September wurde über die Besteuerung der sowjetischen Handelsvertretung verhandelt.160 Die sowjetische Delegation erklärte ihre grundlegende Bereitschaft, die Steuerpflicht der Handelsvertretung, die bisher keine Steuern in Deutschland gezahlt hatte, zu akzeptieren. Sie lehnte aber die Offenlegung der Bücher der Handelsvertretung strikt ab. Die sowjetische Delegation beantragte die Pauschalierung der Steuerbeträge, was der Vertreter des Reichsfinanzministeriums als unannehmbar zurückwies. So wurde die steuerliche Behandlung der Handelsvertretung zur einzigen Frage, über die noch keine Einigung im Rahmen des Wirtschaftsabkommens erzielt worden war.161 Die weitere Hinausschiebung des Vertragsabschlusses sollte im Interesse beider Staaten vermieden werden und das gesamte Vertragswerk unbedingt vor Beginn der Locarno-Konferenz zustande gebracht werden. Am 19. September bat Stresemann telegraphisch den Moskauer Botschafter dringend um die Beschleunigung der Verhandlungen. Spätestens bis zum 26. September seien die Vertragsentwürfe nach Berlin abzusenden, damit sie dem Kabinett noch vor der Abreise des Außenministers und Reichskanzlers nach Locarno vorgelegt werden könnten.162 Andernfalls könne die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags erst nach der Rückkehr der deutschen Delegation aus Locarno vom Kabinett beschlossen werden, wodurch jedoch die Bedeutung des Handelsvertrags als Gegenstück zum Westpakt erheblich vermindert würde.163 Der Entwurf des gesamten Vertragswerks wurde, mit Ausnahme einiger noch offengebliebener Fragen, rechtzeitig am 26. September fertiggestellt.164 Brockdorff-Rantzau ersuchte den Reichsfinanzminister mit aller Dringlich159 Notenwechsel (Vertraulich!) zwischen Brockdorff-Rantzau und Litvinov [Litwinoff] vom 12. Oktober 1925 (Reichsrat, 1925, Nr. 155, AA an Reichsrat, 6.11.1925, Entwurf eines Gesetzes über die deutsch-russischen Verträge vom 12. Oktober 1925, Vertrauliche Protokolle und vertraulicher Notenwechsel, BA, R 43 I / 134, AA an Staatssekretär in der Reichskanzlei, 30.10.1925; BA, R 9215 / 243; GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3). Vgl. dazu Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922– 1925, Bd. 2, Dok. 399, S. 816 ff. (hier S. 823 ff.). 160 PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 20.9.1925. 161 PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA und RFM, 11.9.1925. 162 PA AA, R 28930 (Büro StS), Stresemann an Brockdorff-Rantzau, 19.9.1925. 163 ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 68, Stresemann, 19.9.1925, S. 181. 164 PA AA, R 28930 (Büro StS), AA an sämtliche Reichs- und preußische Ministerien, 26.9.1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
keit um seine Zusage, dem russischen Wunsch in der Frage der Besteuerung der Handelsvertretung nachzugeben.165 In der Annahme, daß das Zugeständnis der Reichsministerien hierfür in der bevorstehenden Kabinettssitzung zu gewinnen sei, entschloß sich Stresemann, das Vertragswerk zum Abschluß zu bringen. Am 28. September legte er dem Sekretär der Reichskanzlei den Entwurf des Vertragswerks vor und beantragte, die Frage des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags auf die Tagesordnung der kommenden Kabinettssitzung vom 1. Oktober zu setzen.166 Stresemann war davon überzeugt, den möglichen Widerstand der Reichsministerien gegen den Vertragsentwurf in der Kabinettssitzung leicht überwinden zu können. Er beabsichtigte, allerspätestens am 1. Oktober, also einen Tag vor seiner Abreise nach Locarno, dem Moskauer Unterhändler die Abschlußvollmacht für das gesamte Vertragswerk im Stand der gegenwärtigen Entwürfe zu erteilen, und zwar einschließlich des eigentlich noch umstrittenen Eisenbahnabkommens. In seiner Denkschrift zur Kabinettsvorlage des Vertragsentwurfs vom 28. September vertrat Stresemann diesen Standpunkt und bat das Kabinett um seine Zustimmung für das gesamte Vertragswerk.167 Der Vertragsentwurf des Eisenbahnabkommens konnte nicht zur Kabinettsvorlage werden, da er noch nicht fertig war.168 Im Gegensatz zu dem sehr optimistischen Standpunkt Stresemanns war die deutsche Wirtschaft mit dem Handelsvertrag gänzlich unzufrieden. Die Vertreter der Wirtschaftsverbände gaben ein scharfes Votum gegen die Entscheidung des Auswärtigen Amts ab, das offenbar den politischen Fragen die Priorität einräumte.169 Stresemann wies diesen Vorwurf zurück und betonte, daß die Reichsregierung deshalb entschlossen sei, dem Wunsch Rußlands in der Frage der Meistbegünstigung und des Transits unter der Voraussetzung, ein kurzfristiges Wirtschaftsabkommen abzuschließen, nachzugeben, damit wenigstens die Nebenabkommen, die für die deutschen Inter essen sehr wertvoll seien, gerettet würden. In der Kabinettssitzung am 165 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 379, BrockdorffRantzau, 27.9.1925, S. 739 f. 166 ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 95, Staatssekretär v. Schubert, 28.9.1925, S. 243 ff. 167 AdRK Kabinette Luther I und II, Dok. 165, Aufzeichnung von Stresemann, 29.9.1925, S. 588 ff. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 380, 28.9.1925, S. 740 ff. 168 PA AA, R 28930 (Büro StS), AA an sämtliche Reichs- und preußische Ministerien, 26.9.1925. 169 ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 106, Protokoll zur Sitzung im Auswärtigen Amt vom 30.9.1925, sowie dessen Anlage, S. 267 ff. So äußerten die Vertreter der Wirtschaft: „Inwieweit zwingende Gründe nicht-wirtschaftlicher Natur den Abschluß dieses Handelsvertrags mit Rußland trotzdem der Regierung notwendig erscheinen lassen, entzieht sich unserer Beurteilung.“
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen679
1. Oktober erklärte der Außenminister in aller Deutlichkeit, „daß alles getan werden müsse, um das Zustandekommen des Vertrages zu ermöglichen“. Als noch offengebliebene Fragen nannte er die Behandlung der sowjetischen Handelsvertretung (Exterritorialität und Besteuerung) und bat das Kabinett um die Annahme der russischen Wünsche. Auf die verneinende Stimme des Reichsinnenministers gegen die Einräumung der Exterritorialität der Räumlichkeiten der Handelsvertretung erwiderte Stresemann, daß der Vertrag scheitere, wenn Rußland dieser Wunsch nicht zugestanden würde. Dadurch wurde Schiele dazu gezwungen, sein Votum zurückzuziehen. Somit gelang es Stresemann und Luther, genau einen Tag vor ihrer Abreise nach Locarno alle Hindernisse auszuräumen und die formelle Zustimmung des Kabinetts einzuholen.170 9. Die Unterredung zwischen Stresemann und Čičerin am 1. / 2. Oktober 1925 Ende September 1925 teilte Außenkommissar Čičerin dem deutschen Botschafter in Moskau seinen Reiseplan mit, der ihn über Warschau nach Berlin und Paris führen sollte.171 Er bat darum, anläßlich seines Aufenthalts in Berlin Stresemann und Hindenburg aufzuwarten. Obwohl Čičerin als Außenkommissar beurlaubt war und formell Litvinov mit seiner Stellvertretung beauftragt, beabsichtigte er dennoch, in diesen drei Hauptstädten mit den maßgebenden Staatsmännern zusammenzutreffen. Offenbar faßte er die Locarno-Konferenz ins Auge, zu der die Sowjetregierung nicht eingeladen worden war. Für das Auswärtige Amt waren aber Čičerins Absichten in Warschau und Paris völlig unklar. Es bahnten sich neue Annäherungsmöglichkeiten zwischen der UdSSR und Frankreich sowie zwischen der UdSSR und Polen an. In beiden Fällen kam die Garantiefrage der sowjetisch-polnischen Grenze in Betracht, wie bereits im sowjetischen Sicherheitspaktsangebot an Polen zu ersehen war. Dennoch hielt Brockdorff-Rantzau es für unwahrscheinlich, daß Čičerin die geplanten politischen Besprechungen in Warschau und Paris zur Herbeiführung einer gegen Deutschland gerichteten russisch-polnisch-französischen Verständigung nutzen werde. Vielmehr war er von Čičerins Loyalität zum Rapallo-Kurs überzeugt und hoffte, daß der Außenkommissar sich dafür einsetzen werde, „durch seinen Besuch in Berlin chauvinistische Hoffnungen unserer Feinde, bezüglich der Möglichkeit einer russisch-französischen Verständigung und einer daraus resultierenden 170 AdRK Kabinette Luther I und II, Dok. 167, Kabinettssitzung, 1.10.1925, S. 598 f. 171 PA AA, R 28930 (Büro StS), Botschaft Paris an AA, 16.9.1925. Bereits Mitte September erhielt das Auswärtige Amt aus Paris Kenntnis von Čičerins Reise.
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russisch-polnischen Annährung, den Boden zu entziehen“.172 BrockdorffRantzau glaubte weiterhin, daß die sowjetischen Dezember-Vorschläge zur Aufnahme eines Meinungsaustausches zwischen Berlin und Moskau hinsichtlich einer deutsch-sowjetischen Verständigung gegen Frankreich und Polen den aufrichtigen Willen Čičerins widerspiegelten.173 Während seines dreitägigen Aufenthalts in Warschau hielt Čičerin Gespräche mit dem polnischen Außenminister Skrzyński und bemühte sich, das Interesse Polens auf den Abschluß eines Sicherheitspakts mit Rußland zu lenken. Die Besprechung zwischen beiden Außenministern ging jedoch nicht über die Grenze einer Sondierung hinaus, indem Čičerin die Haltung Polens gegenüber den sowjetischen Randgebieten, vor allem den baltischen Staaten und Bessarabien in Erfahrung zu bringen versuchte. Die polnische Regierung stand weiterhin dem Sicherheitspaktsangebot Moskaus skeptisch gegenüber. Unter diesen Umständen konnte von einer sowjetisch-polnischen Verständigung über die Angelegenheiten der polnischen Ost- und Westgrenze noch keine Rede sein.174 Im Anschluß an den Aufenthalt in Warschau traf Čičerin am 1. Oktober in Berlin ein. Obwohl sein Gesundheitszustand sehr schlecht war, bemühte er sich, die bis zur Abfahrt der deutschen Delegation nach Locarno verbleibende kurze Zeit für den Meinungsaustausch mit Stresemann insbesondere zur Klärung der seit Mitte August zum Stillstand gekommenen Präambelfrage zu verwenden. Die Unterredung zwischen Stresemann und Čičerin, die der Forschung seit den 1950er Jahren bekannt ist, läßt sich wie folgt zusammenfassen:175 Die erste Besprechung begann im Beisein von Botschafter Krestinskij gegen 22.30 Uhr in der Nacht zum 2. Oktober. Stresemann berichtete zunächst 172 ADAP, 173 Ebd.
Ser. A, Bd. XIV, Dok. 94, Brockdorff-Rantzau, 28.9.1925, S. 241 f.
174 Rosenfeld, Bd. II (1984), S. 146 ff. Hierzu Hilger: „Es schien vielmehr, daß die gemeinsamen feindseligen Gefühle gegenüber Polen eines der festesten Bande zwischen Berlin und Moskau waren und daß in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen eine neue Teilung Polens das uneingestandene Ziel beider Regierungen war.“ Hilger (1956), S. 155. 175 BA, R 43 I / 134, Bl. 288 ff., Abschrift, Telegramm, Stresemann (2.10.1925), 6.10.1925. Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Bd. 109, Aufzeichnung von Stresemann, 30.9.1925, S. 284 ff., sowie Dok. 110, Aufzeichnung von Stresemann, 2.10.1925, S. 292 ff. Die letzten beiden Dokumente (ADAP) wurden zuerst von Erdmann veröffentlicht, siehe Karl Dietrich Erdmann: Das Problem der Ost- oder Westorientierung in der Locarno-Politik Stresemanns, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 6. Jg., Heft 3, 1955, S. 133–162. Die Datierung des ersten Gesprächs (am 2. Oktober) ist falsch. Sie fand in der Nacht vom 1. zum 2. Oktober statt, wie in der oben genannten Akte von BA, R 43 I / 134 richtig vermerkt wurde. Siehe Gustav Stresemann: Vermächtnis, Bd. II, Berlin 1932, Aufzeichnung Stresemanns, 30.9.1925, S. 523 ff. Siehe auch Walsdorff (1971), S. 133 ff.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen681
über die Ergebnisse der Kabinettssitzung und versicherte die feste Absicht seiner Regierung, den deutsch-sowjetischen Handelsvertrag abzuschließen. Nicht ohne Stolz erklärte Stresemann, daß der Widerstand der Reichsministerien gegen den Vertragsentwurf, vor allem in der Frage der Exterritorialität der Handelsvertretung, lediglich durch seinen energischen Einsatz sowie den des Reichskanzlers beseitigt worden sei.176 Der sowjetische Außenkommissar zeigte daran jedoch wenig Interesse und stellte fest, daß er jetzt beurlaubt und Litvinov dafür zuständig sei. Er fragte, ob die beiden Regierungen schon ihre Unterhändler anweisen könnten, den Vertrag zu unterzeichnen. Darauf antwortete Stresemann, daß allein die Frage der Besteuerung der Handelsvertretung noch geklärt werden müsse. Er bekräftigte aber nachdrücklich die an diesem Nachmittag getroffene Kabinettsentschließung. Stresemann war bemüht, Moskaus Argwohn gegen die einseitige Westorientierung des Reichs zu zerstreuen, und kündigte an, eine Meldung über die Fertigstellung des deutsch-sowjetischen Vertragswerks noch vor seiner Abreise nach Locarno an die Presse zu geben.177 Seine Zusicherungen hinterließen bei Čičerin zwar einen positiven Eindruck. Dennoch beschwerte er sich, daß die deutsche Regierung, ohne auf die Dezember-Vorschläge Moskaus zu antworten, zuerst in die Westpaktverhandlungen eingetreten sei. Somit warf er die Präambelfrage von neuem auf, deren Verhandlungen seit Ende August 1925 zum Stillstand gekommen waren. Überraschend wies Čičerin darauf hin, daß die Initiative zum Abschluß eines gegen Polen gerichteten deutsch-sowjetischen Bündnisvertrags ursprünglich von Deutschland ausgegangen sei, insbesondere von Brockdorff-Rantzau: „Im Dezember vorigen Jahres sei Graf Brockdorff-Rantzau bei ihm erschienen und habe ihm ein Zusammenwirken zwischen Rußland und Deutschland gegen Polen vorgeschlagen. Er habe dies als Ziel dieses russisch-deutschen Zusammenwirkens hingestellt, Polen auf seine ethnographischen Grenzen zurückzudrängen.“ Die Sowjetregierung, so äußerte Čičerin, habe deshalb den Vorschlag des deutschen Botschafters im Sinne eines militärischen Bündnisses verstanden, denn „das Wort „zurückdrängen“ sei doch gar nicht anders zu verstehen gewesen als ein militärisches Zusammenwirken gegenüber Polen, um das heutige Polen zu zertrümmern.“ Stresemann, der von den Plänen zur Aufteilung Polens durch ein deutsch-russisches Militärbündnis gar keine Kenntnisse hatte, war über diese Behauptung des Außenkommissars höchst erstaunt. Er fragte umgehend telephonisch bei Staatssekretär v. Schubert nach, der bestätigte, daß der erste Schritt zum Gedankenaustausch in der 176 AdRK Kabinette Luther I und II, Dok. 167, Kabinettssitzung, 1.10.1925, S. 598 f. 177 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 383, Mitteilung der Wolffschen Telegraphenagentur über den Beschluß der deutschen Regierung, 2.10.1925, S. 749 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Polenfrage vielmehr von russischer Seite, insbesondere von Viktor Kopp Anfang Dezember 1924 ausgegangen sei. Stresemann war es jedoch nicht möglich, noch in der gleichen Nacht die tatsächliche Abfolge der Dezembervorschläge mit ausreichenden Beweisen zu belegen. Stresemann bot Čičerin an, bis zur Abfahrt nach Locarno eine weitere Unterredung mit ihm zu führen. Der Gedankenaustausch über die Präambelvorschläge bzw. einen Neutralitätspakt wurde nun für den folgenden Tag anberaumt. Das erste Gespräch endetete gegen 1.30 Uhr morgens. Die zweite Unterredung zwischen Stresemann und Čičerin fand ebenfalls im Beisein von Krestinskij am Tag der Abreise der deutschen Delegation nach Locarno statt.178 Stresemann stellte zunächst unter Hinweis auf die Akten des deutschen Botschafters in Moskau vom 5. Dezember 1924 fest,179 daß zuerst Kopp dem deutschen Botschafter vorgeschlagen hatte, in einen Gedankenaustausch zwischen Berlin und Moskau über die Möglichkeit einer gemeinsamen Druckausübung auf Polen durch Deutschland und Rußland einzutreten. In dieser Streitfrage verhielt sich Stresemann besonders vorsichtig, weil Čičerin nicht zum ersten Mal an den Vorschlag Kopps erinnert werden mußte. Čičerin hatte bereits Ende Dezember 1924 BrockdorffRantzau gegenüber behauptet, daß er die Vorschläge Kopps nicht kenne und dieser ohne Auftrag der Regierung als Privatmann gesprochen habe.180 Auf Stresemanns kritische Bemerkung hin begann Čičerin, über die Instruktion des Staatssekretärs v. Maltzan an Brockdorff-Rantzau vom 13. Dezember 1924 zu sprechen. In dieser Instruktion war wörtlich von der Zurückdrängung Polens auf seine ethnographischen Grenzen die Rede gewesen. Der Abschluß eines militärischen Bündnisvertrags zum Zweck der neuerlichen Aufteilung Polens sei der sowjetischen Seite somit zuerst durch den von Berlin entsprechend instruierten deutschen Botschafter vorgeschlagen worden. Tatsächlich hatte aber Brockdorff-Rantzau bereits bei seiner ersten Unterredung mit Kopp am 5. Dezember auf dessen Andeutungen hinsichtlich eines möglichen militärischen Vorgehens umgehend erwidert, daß ein gewaltsames Vorgehen gegen Polen ausgeschlossen sei.181 Stresemann legte Wert auf die Feststellung, daß man in Berlin bei der Verwendung des fraglichen Ausdrucks (Zurückdrängung Polens auf seine ethnographischen Grenzen) nicht an ein militärisches Vorgehen gedacht habe. Es sei durchaus 178 BA, R 43 I / 134, Bl. 288 ff., Abschrift, Telegramm, Stresemann (2.10.1925), 6.10.1925. Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 109, Aufzeichnung von Stresemann, 30.9.1925, S. 284 ff., sowie Dok. 110, Aufzeichnung von Stresemann, 2.10.1925, S. 292 ff. 179 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 212, Brockdorff-Rantzau, 5.12.1924, S. 517 ff. 180 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 261, Anlage, Brockdorff-Rantzau, 29.12.1924, S. 648 ff. 181 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 212, Brockdorff-Rantzau, 5.12.1924, S. 517 ff.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen683
möglich, die Revisionsansprüche auf die deutsche Ostgrenze auf friedlichem Wege zu erheben.182 Auch der Völkerbundseintritt Deutschlands diene diesem Zweck. Die Reichsregierung habe nicht die Absicht, auf ihre Revi sionsansprüche sowohl auf Ostoberschlesien als auch auf den polnischen Korridor zu verzichten, auch wenn sie bereit war, auf der bevorstehenden Konferenz Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei abzuschließen. Čičerin erinnerte daran, daß Brockdorff-Rantzau bei der Moskauer Dezember-Besprechung eine Zeitlang gezögert habe, ob er ihm noch einen Satz aus der telegraphischen Instruktion von Maltzans mitteilen solle. Der deutsche Botschafter habe ihm schließlich, offenbar widerstrebend, auch diesen Satz mitgeteilt, und darin sei von der Zurückdrängung Polens auf seine ethnographischen Grenzen die Rede gewesen. Stresemann verwies auf den Bericht des Botschafters über diese Unterredung,183 in der hauptsächlich die Neutralitätsfrage im Zusammenhang mit der Frage des deutschen Völkerbundsbeitritts erörtert worden sei. Brockdorff-Rantzau habe lediglich Maltzans Instruktion ausgeführt und dem Außenkommissar den Text über ein Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands auf die Zurückdrängung Polens auf seine ethnographische Grenze gezeigt, jedoch ohne damit eine militärische Option zum Ausdruck zu bringen. Čičerin hatte damals auf diesen Text außerordentlichen Wert gelegt.184 Auf diese Gegenposition Stresemanns hin schwieg Čičerin und unterließ es, weiterhin darauf zu bestehen. Nachdem die Frage der Dezember-Vorschläge auf diese Weise geklärt worden war, räumte Stresemann dem Außenkommissar die Gelegenheit ein, die seit Mitte August 1925 ruhende Präambelfrage zur Erörterung zu bringen.185 Čičerin merkte kritisch an, daß die Reichsregierung darauf vorbereitet sein müsse, in den Völkerbund einzutreten, auch wenn die Ausnahmebe182 An dieser Auffassung hielt Stresemann auch in der Folgezeit fest. Als Litvinov ihn 1929 mit Rücksicht auf den litauisch-polnischen Konflikt fragte, ob es nicht möglich sei, gemeinsam die Grenze Litauens gegen einen etwaigen Angriff Polens zu garantieren, erwiderte Stresemann, „daß ihm eine militärische Garantie von Deutschland für die litauischen Integrität vollkommen ausgeschlossen erscheine, daß dazu aber auch gar keine Notwendigkeit vorhanden sei. Diplomatisch und politisch sei es selbstverständlich, daß man in einer Situation, die eine Bedrohung Litauens enthielte, jedes diplomatische Mittel anwenden würde, um eine solche Bedrohung zu verhindern.“ BA, N 2049 (Nachlaß Dirksen), Nr. 50, Aufzeichnung, 10.5.1929. 183 ADAP, Ser. A, Bd. XI, Dok. 258, Staatssekretär v. Schubert, 29.12.1924, siehe dessen Anm. 2 über die Unterredung zwischen Rantzau und Čičerin vom 20. Dezember 1924, S. 641. 184 Ebd. 185 BA, R 43 I / 134, Bl. 288 ff., Abschrift, Telegramm, Stresemann (2.10.1925), 6.10.1925. Vgl. ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 109, Aufzeichnung von Stresemann, 30.9.1925, S. 284 ff., sowie Dok. 110, Aufzeichnung von Stresemann, 2.10.1925, S. 292 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
handlung aus den von Artikel 16 ausgehenden Verpflichtungen sich nicht erzielen ließe. Stresemann sagte zu, daß der deutsche Beitritt mit Rücksicht auf die Beziehungen zu Rußland keinesfalls bedingungslos erfolgen werde. Er bot ferner an, daß das Reich im Fall seines Bundesbeitritts in seiner Stellung als Ratsmitglied stets einer gegen die UdSSR gerichteten Politik entgegentreten werde. So hob er die Bedeutung der deutschen Präambelvorschläge, die diesen deutschen Standpunkt mündlich erklären sollte, von neuem hervor.186 Čičerin blieb jedoch skeptisch, da die von Deutschland angebotene schriftliche Präambel sich auf eine allgemeine Freundschaftserklärung beschränke und keine konkrete politische Bindung Deutschlands an die UdSSR festlege. Nach Auffassung Stresemanns war die Präambel des Handelsvertrags auf alle Fälle zu veröffentlichen, um den Westmächten vor Augen zu stellen, daß das Reich sich volle Handlungsfreiheit in seiner Ostpolitik vorbehalte.187 Zur Realisierung seines außenpolitischen Konzepts mußte jeder Verdacht der Westmächte gegen ein deutsch-sowjetisches Militärbündnis vermieden werden. Stresemann lehnte es daher ab, die sowjetische Formel der Präambel, die ausdrücklich eine Nichtangriffs- und Neutralitätserklärung enthielt,188 anzunehmen, um die internationale Stellung des Reichs nicht zu präjudizieren. Čičerin kam nun auf den früheren Standpunkt Moskaus zurück, die Präambel, falls sie weitgehende politische Absprachen enthalte, mit Rücksicht auf die internationale Stellung Deutschlands zunächst geheimzuhalten.189 Auch dies lehnte Stresemann unter Hinweis auf die bekannte Haltung der Reichsregierung ab:190 „Aus diesem Grunde könnte ich auch jetzt nicht plötzlich über diesen Geheimvertrag mit Rußland verhandeln.“191 Er hielt es 186 Locarno-Konferenz 1925, Dok. 15, Richtlinien für die Fortsetzung der politischen Verhandlungen mit der UdSSR, Stresemann, 21.6.1925, S. 104 ff. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 157, v. Schubert, Anlage: Richtlinien für die Fortsetzung der politischen Verhandlungen mit Rußland, 21.6.1925, S. 416 ff. Siehe auch Deutschsowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 320, Vorschlag der Reichsregierung an die Regierung der UdSSR, 1.7.1925, S. 639. 187 AdRK Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Dok. 110, Ministerbesprechung vom 24. Juni 1925, S. 356 ff. (hier S. 364). Siehe auch BA, R 43 I / 134, Bd. 5, Bl. 260 ff., Aufzeichnung über die Ministerbesprechung. 188 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 324, Vorschlag der Regierung der UdSSR, 13.7.1925, S. 644. 189 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 351, Aufzeichnung von Litvinov über eine Unterredung mit Brockdorff-Rantzau, 21.8.1925, S. 694 ff. ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 34, Brockdorff-Rantzau, 27.8.1925, S. 100 f. 190 ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 258, Aufzeichnung von Stresemann über die Besprechung mit Krestinskij, 15.4.1925, S. 671 ff. (hier S. 672). 191 ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 110, Aufzeichnung von Stresemann, 2.10.1925, S. 292 ff. (hier S. 295).
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen685
jedoch für sinnvoll, die Verhandlungen über die Präambelfrage nach Abschluß des Handelsvertrags fortzuführen. Der Zeitpunkt der Abreise der deutschen Delegation rückte nun in greifbare Nähe, so daß Čičerin und Krestinskij sich verabschieden mußten. Das Vorhaben, eine vertragliche Regelung der politischen Verhältnisse zwischen Deutschland und der UdSSR gleichzeitig mit der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags bzw. vor der Unterzeichnung der Locarno-Verträge herbeizuführen, war damit endgültig gescheitert. Es bestand lediglich die Möglichkeit, nach der Rückkehr der deutschen Delegation aus Locarno die Verhandlungen fortzuführen und den Handelsvertrag nachträglich mit einer Präambel zu versehen oder aber ein selbständiges politisches Abkommen abzuschließen. Berlin und Moskau wählten schließlich den letzteren Weg, der zum Abschluß eines Neutralitätsvertrags vom April 1926 führte. Der Mantelvertrag des Handelsvertrags, dessen Entwurf am 1. Oktober durch das Reichskabinett einstimmig angenommen worden war, beschränkte sich lediglich auf die Bestätigung der Beibehaltung des Rapallo-Vertrags für die deutschsowjetischen Wirtschaftsbeziehungen, indem schließlich keine über diesen Vertrag hinausgehende Regelung aufgenommen wurde. Der Wunsch nach einer engen Fühlungnahme zwischen Deutschland und Rußland in den beide Staaten berührenden politischen und wirtschaftlichen Fragen, welche als Antwort auf die sowjetischen Dezembervorschläge zunächst von der deutschen Seite im Juli 1925 in der Form einer Präambel vorgeschlagen worden war, konnte nicht mehr im Handelsvertrag aufgenommen werden.192 10. Der Abschluß des Eisenbahnabkommens. Ein Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands gegen Polen und die baltischen Staaten Unmittelbar nach Abschluß der Königsberger Eisenbahnkonferenz sowie der Ostmesse Ende Februar 1925 kehrte die deutsche Delegation nach Moskau zurück. Die seit der Weihnachtspause unterbrochenen Handelsvertragsverhandlungen konnten somit Anfang März in Moskau wiederaufgenommen werden. Die Einführung direkter Transittarife wurde zwar auf der Königsberger Eisenbahnkonferenz Mitte Februar 1925 durch die Bahnverwaltungen von Deutschland, Litauen, Lettland sowie der UdSSR anerkannt. Die Inkraftsetzung des Tarifabkommens benötigte allerdings die Bestätigung durch 192 Locarno-Konferenz 1925, Dok. 15, Richtlinien für die Fortsetzung der politischen Verhandlungen mit der UdSSR, Stresemann, 21.6.1925, S. 104 ff. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 157, Staatssekretär v. Schubert, Anlage: Richtlinien für die Fortsetzung der politischen Verhandlungen mit Rußland, 21.6.1925, S. 416 ff. Deutschsowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 320, Vorschlag der Reichsregierung an die Regierung der UdSSR, 1.7.1925, S. 639.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
die Regierungen. Bereits auf der Konferenz gab der sowjetische Delega tionsleiter Kirsanov zu verstehen, daß dies ausschließlich von einer politischen Entscheidung der Moskauer Regierung abhänge, obwohl er als Eisenbahnsachverständiger die Einführung direkter Tarife für notwendig halte.193 Nach der Sondierung der Moskauer Verhältnisse durch die Königsberger Vertreter beantragte die Reichsbahndirektion Königsberg beim Auswärtigen Amt, über Brockdorff-Rantzau auf die maßgeblichen Stellen in Moskau, vor allem auf Außenkommissar Čičerin und Verkehrskommissar Rudsutak, Druck auszuüben.194 Auf Anfrage des Botschafters erwiderte das Verkehrskommissariat Ende März, daß die endgültige Entschließung der Sowjetregierung über die Einführung direkter ermäßigter Transittarife noch zwei oder drei Wochen benötigen werde. Das Verkehrskommissariat sei aber der Ansicht, daß die übergeordneten politischen Stellen keine Schwierigkeiten bereiten würden. Anschließend telegraphierte Brockdorff-Rantzau nach Berlin und sicherte zu, sich umgehend mit Čičerin ins Benehmen zu setzen und ihn auf das beiderseitige Interesse an der Förderung des Transitverkehrs zwischen dem Königsberger Hafen und der UdSSR hinzuweisen.195 Die Unterkommissionsverhandlungen über das deutsch-sowjetische Eisenbahnabkommen sollten im Rahmen der Hauptdelegationsverhandlungen Mitte April in Moskau stattfinden. Dabei wurde den Königsberger Vertretern abermals ihre Teilnahme an den Eisenbahnverhandlungen gestattet.196 Ebenso wie bei der Moskauer Dezember-Besprechung nahmen Syndikus Berner (Königsberger Handelskammer) und Magistratsrat Schultz (Stadtverwaltung) als Sachverständige teil. Diesmal übernahm Regierungsrat Holtz (Reichsbahndirektion Königsberg) die Leitung der deutschen Eisenbahnunterkommission. Am 22. April traten die beiden Eisenbahnkommissionen im Beisein der Vertreter der Hauptdelegationen in die Verhandlung ein. Zunächst fand keine eingehende Debatte über Artikel 4 statt, da Berner und Schultz erst an diesem Tag in Moskau eintrafen.197 Als Diskussionsgrundlage diente der deutsche Entwurf, der der sowjetischen Seite bei den Moskauer DezemberVerhandlungen übergeben worden war. Die sowjetischen Vertreter erklärten den deutschen Entwurf von Artikel 4 mit Ausnahme von Ziff. 2 (die Warengattungen, für die direkten ermäßigten Tarife bis zum Hafen Königsberg auf193 PA AA, R 94551, Abschrift, Deutsche Reichsbahngesellschaft Reichsbahndirektion Königsberg an die Hauptverwaltung Berlin, 5.2.1925. 194 Ebd. 195 PA AA, R 94551, Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 18.3. 1925. 196 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Koerner (z. Zt. in Berlin) an Deutsche Delegation, 9.4.1925. 197 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Martius, Aufzeichnung über die Sitzung der Unterkommission vom 22.4.1925.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen687
gestellt werden sollten) für unannehmbar.198 Dadurch wurde die deutsche Kommission dazu gezwungen, neue Vorschläge für Ziff. 1 (die Regelung des Häfenwettbewerbs) sowie Ziff. 3 (die Aufstellung direkter Tarife) zu machen. Sie übergab umgehend der sowjetischen Seite die neue Fassung mit einem Sitzungsprotokoll. Die Verhandlungen über Artikel 4 wurden somit vertagt. In der Sitzung vom 25. April nahm die sowjetische Kommission zuerst Stellung zu den deutschen Entwürfen des Eisenbahnabkommens. Gegen Artikel 1 (die Anwendung des Berner Internationalen Übereinkommens) wurden, wie schon in der Dezember-Besprechung, keine Einwände erhoben. Die sowjetische Delegation stimmte auch dem von deutscher Seite vorgelegten Entwurf für die Artikel 2 und 3 zu. Dieser bezog sich allerdings lediglich auf das allgemeine Meistbegünstigungs- und Paritätsprinzip, da die deutsche Delegation trotz der bestehenden Bedenken gegen den Einfluß der Paritätsklausel auf Polen diese Frage nicht zur Sprache gebracht hatte. Es war zwischen beiden Kommissionen umstritten, ob die von sowjetischer Seite gewünschte Ausnahmebehandlung der sowjetischen staatlichen Transporte zuzulassen sei, da man den Fall fürchtete, daß die Sowjetregierung künftig ihre gesamte Handelstätigkeit in diese Kategorie einordnen werde. Hierüber wurde keine Einigung erzielt. Hinsichtlich der Verhandlungen über Artikel 4 äußerten die sowjetischen Vertreter den Wunsch, diese Angelegenheiten zunächst in kleinem Kreis zu besprechen. Von deutscher Seite wurde diesem Vorschlag zugestimmt.199 Die neuesten deutschen Kompromißvorschläge zu Artikel 4 Ziff. 1 und 3 sahen nach wie vor weitgehende Verpflichtungen der sowjetischen Bahnverwaltung vor, allerdings nicht mehr die Einbeziehung der sowjetischen Häfen am Schwarzen Meer in die Häfenwettbewerbsregelung.200 Am 27. April 1925 traten die beiden Seiten in die vertrauliche Besprechung über Artikel 4 ein. Von deutscher Seite nahmen vier Vertreter – Holtz, Berner sowie die Mitglieder der Hauptdelegation, Legationsrat Martius (Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts) und Legationsrat Strube (Abtei198 PA AA, R 23931 (Handakten v. Koerner), Deutsche Delegation (Moskau) an Koerner (z. Zt. in Berlin), 22.4.1925. 199 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Martius, Aufzeichnung über die Sitzung der Unterkommission vom 25.4.1925, 26.4.1925. 200 Ziff. 3) Die U. d. S. S. R. wird direkte Tarife nach einem nicht den vertragschließenden Teilen angehörigen Ostseehafen nur vereinbaren, wenn das in Frage kommende Durchgangsland sich an Durchgangstarifen entsprechend der Ziffer 2 beteiligt. Sitzungsprotokoll: Falls die Tarife der U. d. S. S. R. nach einem nicht den vertragschließenden Teilen angehörenden Ostseehafen durchgerechnet werden, wird die U. d. S. S. R. sich an Verhandlungen über die Durchrechnung der Tarife auch nach Königsberg (Pillau) beteiligen. PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), 23.4.1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
lung IV des Auswärtigen Amts) – an der Besprechung teil. Auf sowjetischer Seite beteiligten sich hingegen nicht die Eisenbahnfachleute, sondern die drei Spitzen der Hauptdelegation, Boris J. Stein, A. Rapoport sowie J. Lengiel.201 Zu Ziff. 1 (die Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen) erklärte sich Stein bereit, die deutsche Fassung unter der Voraussetzung anzunehmen, daß der Hafen Leningrad von der Häfenwettbewerbsregelung ausgenommen werden solle. Dies kam der Weigerung gleich, die sowjetischen Häfen in die Regelung einzubeziehen. Die deutsche Fassung von Ziff. 3 bezeichnete die sowjetische Delegation als voll und ganz unannehmbar. Es handelte sich darum, daß die sowjetische Bahnverwaltung mit den betroffenen Staaten die Herstellung direkter Tarife zwischen den Ostseehäfen außer Königsberg und der UdSSR vereinbaren durfte, nachdem das in Frage kommende Transitland seine Beteiligung an Transittarifen zwischen dem Hafen Königsberg und der UdSSR zugesichert hatte. Die Selbständigkeit der sowjetischen Verkehrspolitik gegenüber Polen und den baltischen Staaten wäre durch diese Klausel stark eingeschränkt worden. So lautete Ziffer 3 der deutschen Fassung: „Die U. d. S. S. R. wird direkte Tarife nach einem nicht den vertragschließenden Teilen angehörigen Ostseehafen nur vereinbaren, wenn das in Frage kommende Durchgangsland sich an Durchgangstarifen entsprechend der Ziffer 2 beteiligt.“ Die Königsberger Handelskammer erwartete von dieser Klausel die gemeinsame Mitwirkung Deutschlands und Rußlands an der Sicherung des Königsberger Transithandels mit der UdSSR. Durch diese Klausel sollten beide Staaten in die Lage versetzt werden, zur Gewährung der kurzesten Transitstrecke und direkter Transittarife gemeinsam auf die Transitstaaten (die baltischen Staaten und Polen) einzuwirken. Angesichts der sowjetischen Zurückhaltung gegen die Annahme dieser Klausel versuchten Berner und Holtz, die sowjetische Delegation davon zu überzeugen, daß der sowjetische Export von Ölkuchen und Hülsenfrüchten über den Königsberger Hafen im beiderseitigen Interesse liege, so daß der Handel dieser Artikel durch eisenbahntarifliche Maßnahmen gefördert werden müsse. Lengiel erwiderte, daß die sowjetische Delegation zwar das beiderseitige Interesse am Königsberger Handel anerkenne, die in Ziff. 3 gewünschte Bindung der sowjetischen Bahnverwaltung aber für zu weitgehend halte. Dieser Ansicht schloß sich auch Stein an. Den Vorschlag einer gemeinsamen Druckausübung hielt die sowjetische Delegation dennoch für diskutabel, und sie erklärte sich bereit, ihn einer weiteren Prüfung zu unterziehen.202 Dabei machte sie aber darauf aufmerksam, daß der weitgehende 201 PA AA, R 23952 (Handakten von Koerner), Aufzeichnung über die vertrauliche Besprechung am 27. April 1925 über Artikel 4. 202 PA AA, R 31566, Abschrift, Deutsche Reichsbahngesellschaft Hauptverwaltung an RVM, 10.6.1925, Anlage: Erläuterungsbericht des Reichsbahnrats Dr. Holtz zu den Aufzeichnungen über die Sitzung der Unterkommission für das Eisenbahn-
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen689
Gedanke, das Pressionsmittel schon jetzt festzulegen, ungangbar sei, vor allem mit Rücksicht auf den Fall des Fehlschlages dieser Druckausübung.203 Der deutschen Fassung von Artikel 4 Ziff. 3 wurde noch ein Sitzungsprotokoll beigelegt. Es lautete: „Falls die Tarife der U. d. S. S. R. nach einem nicht den vertragschließenden Teilen angehörenden Ostseehafen durchgerechnet werden, wird die U. d. S. S. R. sich an Verhandlungen über die Durchrechnung der Tarife auch nach Königsberg (Pillau) beteiligen.“204 Gegen die Fassung des Sitzungsprotokolls wurden von der sowjetischen Seite keine Einwände erhoben. Sie forderte lediglich, dieser deutschen Fassung hinzufügen, daß die in Frage kommenden Verhandlungen zwischen den Bahnverwaltungen beider Staaten vorgenommen werden sollen, vor allem nach der Maßgabe des 1922 abgeschlossenen bahntechnischen Abkommens. Diesem Vorschlag wurde von deutscher Seite zugestimmt. Hierzu erklärte Stein, daß die Sowjetregierung den Wunsch habe, die Frachttarife, die den anderen Ostseehäfen nur gegen Kompensationen zugestanden wurden, auch Königsberg gegenüber nur in Anwendung zu bringen, wenn entsprechende Kompensationen seitens Deutschlands erfolgten. Somit verlangte die sowjetische Delegation für die Einführung ermäßigter Transittarife eine finanzielle Kompensation durch Deutschland.205 Zum Schluß der Sitzung erklärte Stein, daß die sowjetische Delegation das Eisenbahnabkommen als reif für die Plenarverhandlungen betrachte. Hingegen erwiderte die deutsche Delegation, daß sie Rücksprache mit Berlin halten müsse, und äußerte den Wunsch, etwaige Fassungsvorschläge sowie eine positive Stellungnahme der sowjetischen Delegation über die umstrittenen Bestimmungen (Art. 4 Ziff. 3) noch vor der Plenarberatung zu erhalten. Daraufhin äußerte Stein, daß ein nochmaliges Zusammentreten der Unterkommission vielleicht vor der Plenarsitzung zweckmäßig sei. Somit wurde die vertrauliche Sitzung über Artikel 4 am 27. April abgeschlossen.206 Am 3. und 4. Juni 1925 traten die beiden Delegationen in die 7. inoffizielle Plenarsitzung in Moskau ein. An den Verhandlungen waren lediglich die Mitglieder der Hauptdelegation, also keine Eisenbahnfachleute, beteiabkommen im Rahmen des deutsch-russischen Handelsvertrags vom 22., 25. und 27. April in Moskau. 203 PA AA, R 23952 (Handakten v. Koerner), Aufzeichnung über die vertrauliche Besprechung am 27. April 1925 über Artikel 4 des Eisenbahnabkommens. 204 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), 23.4.1925. 205 PA AA, R 23952 (Handakten v. Koerner), Aufzeichnung über die vertrauliche Besprechung am 27. April 1925 über Artikel 4 des Eisenbahnabkommens. PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Zusammenstellung des Ergebnisses der Besprechung der Unterkommission über das Eisenbahnabkommen, 28.4.1925. 206 PA AA, R 23952 (Handakten v. Koerner), Aufzeichnung über die vertrauliche Besprechung am 27. April 1925 über Artikel 4 des Eisenbahnabkommens.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
ligt.207 Auf dieser Sitzung wurde über alle Klauseln des Eisenbahnabkommens auf Grund der Ergebnisse der Unterkommissionsverhandlungen vom April durch beide Delegationen, allerdings vorbehaltlich der Genehmigung der deutschen Regierung, Einverständnis erzielt. Die in der April-Verhandlung ungelöste Frage, insbesondere hinsichtlich von Artikel 4 Ziff. 3, wurde schließlich aus dem Hauptvertragstext gestrichen und durch das folgende geheimzuhaltende Sitzungsprotokoll Nr. 3 ersetzt: „Sollte sich ein Einvernehmen über die paritätische Behandlung mit den anderen Ostseestaaten nicht erzielen lassen, so werden sich die beiden vertragschließenden Teile vor Gewährung direkter Tarife nach den in Frage kommenden Ostseehäfen miteinander über die zu ergreifenden Maßnahmen ins Benehmen setzen.“208 Diese Fassung bezog sich offenbar auf den Vorschlag der Königsberger Vertreter, die seit Oktober 1924 wiederholt die schriftliche Festlegung einer gemeinsamen Druckausübung auf die Randstaaten zum Zwecke zur Sicherstellung des Königsberger Rußlandgeschäfts gefordert hatten. Unmittelbar nach dem Abschluß der Moskauer Aprilverhandlungen hatte Holtz der Reichsbahnhauptverwaltung vorgeschlagen, die Fassung Ziff. 3 mit Rücksicht auf die ablehnende Haltung Rußlands in folgender Weise abzuändern: „Beide Vertragsteile erklären, daß sie ihr Möglichstes tun werden, die Mitwirkung der zwischen Deutschland und Rußland gelegenen Staaten an der Durchführung des … (Artikel 4 des Eisenbahnabkommens) … zu erreichen. Sollten diese Staaten ihre Mitwirkung versagen, so werden sich auch die Vertragsstaaten über die Wahl der anzuwendenden Mittel verständigen.“209 Zu bemerken ist vor allem die Tatsache, daß es die deutsche Delegation auch in dieser Plenarsitzung unterließ, die sowjetische Seite darauf hinzuweisen, daß die Paritätsklausel (Artikel 2 und 3) mit Rücksicht auf die etwaige Wirkung auf Polen eine Sonderbehandlung benötige. Die angenommenen Entwürfe zu Artikel 2 und 3 bezogen sich auf das allgemeine Meistbegünstigungs- und Paritätsprinzip, was zwangsläufig scharfe Gegen207 Die deutsche Delegation bestand aus Koerner, Strube, Martius, Schlesinger, Sjöberg, Bose, Müssemeier, Kühn sowie Hensel. Die sowjetische Delegation bestand aus Hanetzki, Stomonjakoff, Verga, Sabanin, Stein, Rapoport, Kaufmann, Orlow, Paluschkow. PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Aufzeichnung über die 7. inoffizielle Plenarsitzung vom 3. Juni 1925. 208 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Telegramm aus Moskau, Koerner an AA, 4.6.1925. 209 PA AA, R 31566, Abschrift, Deutsche Reichsbahngesellschaft Hauptverwaltung an RVM, 10.6.1925, Anlage: Erläuterungsbericht des Reichsbahnrats Dr. Holtz zu den Aufzeichnungen über die Sitzung der Unterkommission für das Eisenbahnabkommen im Rahmen des deutsch-russischen Handelsvertrags vom 22., 25. und 27. April in Moskau.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen691
wehr der Reichsbahngesellschaft gegen die Haltung der deutschen Delegation zur Folge hatte. Die Situation änderte sich Mitte Juni, als die bisher angebahnten deutsch-polnischen Handelsvertragsverhandlungen durch den Ausbruch des Zollkriegs unterbrochen wurden.210 Dadurch scheiterten alle bisherigen Versuche Deutschlands, einen deutsch-polnischen Handelsvertrag, der eine auf Meistbegünstigung- und Paritätsprinzip bezogene Eisenbahnregelung enthalten sollte, parallel zum deutsch-sowjetischen Handelsvertrag zustande zu bringen. Dadurch sah sich die Reichsbahn vor die Aufgabe gestellt, die Sonderbehandlung der Paritätsklausel beim Vertrag mit der UdSSR auf alle Fälle durchzusetzen. Ende Juni nahm die Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahngesellschaft zur Fassung von Artikel 2 und 3 Stellung und kritisierte die deutsche Delegation scharf. Ihre Kritik war dadurch begründet, daß die deutsche Delegation auf die Sonderbehandlung der Paritätsklausel keine Rücksicht genommen habe, obwohl die Reichsbahn wiederholt auf die „Polengefahr“ hingewiesen hatte. Polen könne in die Lage versetzt werden, die im deutsch-sowjetischen Vertrag gewährte Parität auf deutschen Schienen zu genießen, ohne jedoch Deutschland auf polnischen Schienen die gleiche Begünstigung einzuräumen, wenn ein auf Meistbegünstigung bezogener Vertrag zwischen Deutschland und Polen zustande käme. Um eine solche verkehrrechtliche Ungleichheit zwischen Deutschland und Polen zu vermeiden, verlangte die Reichsbahngesellschaft, eine Sondervereinbarung mit der Sowjetregierung darüber zu treffen, die Paritätsklausel bis zum Zustandekommen eines die Parität enthaltenden deutsch-polnischen Vertrags nicht in Kraft zu setzen: „Solange also im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen die Parität nicht gesichert ist, darf zu Vermeidung schwerer Nachteile für die deutsche Wirtschaft auch die in Artikel 2 und 3 des deutsch-russischen Handelsvertragsentwurfs enthaltene Paritätsabrede nicht in Kraft treten. Es bleibt daher zur Zeit nur übrig, sie aus dem Handelsvertrag herauszunehmen und durch ein besonderes, geheim zu behandelndes pactum de contrahendo zu ersetzen.“211 Im Gegensatz zur Stellungnahme der Reichsbahngesellschaft befürwortete die Königsberger Handelskammer die vereinbarte Fassung der Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel (Artikel 2 und 3) ausdrücklich. Sie erklärte sich auch mit der Fassung des geheimzuhaltenden Schlußprotokolls (die Zusicherung der gemeinsamen Druckausübung) trotz der notwendigen redaktionellen Abänderung prinzipiell einverstanden.212 Dennoch waren die 210 Zum deutsch-polnischen Wirtschaftskrieg 1925 siehe vor allem Puchert (1963). Gersdorff (1935). 211 PA AA, R 31566, Abschrift, Deutsche Reichsbahngesellschaft, Hauptverwaltung an RVM, 25.6.1925. 212 PA AA, R 31566, Abschrift, Reichsbahndirektion Königsberg (Präsident Moeller) an die Hauptverwaltung Berlin, 26.6.1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Handelskammer und die Reichsbahn einstimmig der Ansicht, daß es unerläßlich sei, zur Festsetzung der endgültigen Fassung eigene Vertreter zu den Schlußverhandlungen in Moskau zu entsenden. Mit Rücksicht auf die außerordentliche Tragweite der noch streitig gebliebenen Bestimmungen von Artikel 2 und 4 ersuchten sie den Reichsverkehrsminister darum, diesen Standpunkt beim Auswärtigen Amt und dem deutschen Delegationsvorsitzenden nachdrücklich zu vertreten.213 Diesem Antrag wurde vom Reichsverkehrsminister Rechnung getragen.214 Ende August fragte Brockdorff-Rantzau bei Berlin an, ob die zuständigen Ministerien und die Wirtschaftsverbände die Entsendung ihrer Sachverständigen nach Moskau zum Zwecke der Fertigstellung der gesamten Vertragstexte des Handelsvertrags für erforderlich hielten. Obwohl Dirksen, Schlesinger sowie Martius sich gegen die nochmalige Entsendung einer großen Anzahl von Sachverständigen wandten,215 da die bisher erreichten Ergebnisse dadurch erneut gefährdet werden könnten, setzte das Reichsverkehrsministerium seinen Wunsch durch.216 Am 23. September drahtete Brockdorff-Rantzau nach Berlin und bat um die sofortige Anreise der Eisenbahnsachverständigen, um so den Entwurf des Eisenbahnabkommens, der in den Schlußverhandlungen fertigzustellen war, zusammen mit den anderen Entwürfen des Handelsvertrags noch vor der Abreise des Außenministers nach Locarno bei der bevorstehenden Kabinettssitzung vom 1. Oktober 1925 vorlegen zu können.217 Zugleich erstellte die deutsche Delegation einen aus sechs Punkten bestehenden Fragebogen über die noch ungeklärten Fragen des Eisenbahnabkommens. Darin wurde insbesondere ausdrücklich die Klärung der Polenfrage bei einer Gewährung der Paritätsklausel verlangt.218 In den Plenarsitzungen vom 17. und 19. September 213 PA AA, R 31566, Abschrift, Deutsche Reichsbahngesellschaft, Hauptverwaltung an RVM, 25.6.1925. 214 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), AA (Wallroth) an Deutsche Delegation, 4.7.1925. 215 PA AA, R 31566, Martius an Dirksen, 22.8.1925. 216 PA AA, R 31566, RVM an AA, 9.9.1925. 217 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Telegramm, BrockdorffRantzau an AA, 23.9.1925. 218 Der Fragebogen zum Eisenbahnabkommen lautete: „1) Wie soll die Paritätsfrage geregelt werden mit Rücksicht auf die zwischen Deutschland und Polen noch schwebenden Verhandlungen? 2) Wie kann zweifelsfrei klargestellt werden, daß Transporte zur Bekämpfung eines vorübergehenden besonderen Notstands von der Bestimmung in Art. 2 ausgenommen sind? 3) Wie können die Worte ‚unter gleichen Bedingungen‘ in Art. 3 Buchstabe b erläutert werden? 4) Kann d. Schlußprotokoll Bestimmung zu Art. 3b materiell und formell weiter abgeschwächt werden? Gegenseitigkeit? Sitzungsprotokoll? 5) Kann das Sitzungsprotokoll zu Art. 4 (Durchrechnungsfrage) noch eingehender gefaßt werden? 6) Kann das an die Stelle des Art. 4
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen693
wurden die zwischen den beiden Parteien noch bestehenden Meinungsunterschiede schließlich ausgeräumt. Somit wurde der Entwurf des gesamten Vertragswerks mit einigen Ausnahmen annähernd fertiggestellt und rechtzeitig bis zum 26. September nach Berlin übersandt,219 allerdings ohne das Eisenbahnabkommen.220 In der Delegationssitzung vom 27. September verständigten sich die beiden Parteien darüber, daß die Verhandlungen der Unterkommission über das Eisenbahnabkommen im Laufe der nächsten Woche erfolgen sollten.221 Am 28. September frühmorgens flog Ministerialrat Niemack (Reichsverkehrsministerium) zusammen mit den Eisenbahnsachverständigen der Reichsbahn und zwei weiteren Königsberger Vertretern von Königsberg nach Moskau ab.222 Dirksen bat die deutsche Delegation in Moskau telegraphisch darum, mit den Sowjets einen Verhandlungstermin am 29. September zu vereinbaren, um so das Eisenbahnabkommen unbedingt vor der Berliner Kabinettssitzung fertigzustellen. Unerwartet verspätete sich aber der Flug der deutschen Eisenbahndelegation infolge des schlechten Wetters durch technisches Versagen.223 Daher traf die deutsche Eisenbahndelega tion erst einen Tag später als erwartet, am 29. September abends, in Moskau ein. Der Eintritt in die Verhandlungen über das Eisenbahnabkommen wurde schließlich auf den 30. September verschoben. Dadurch wurde die Vorlage der endgültigen Fassung des Eisenbahnabkommens bei der Kabinettssitzung vor der Abreise des Reichskanzlers und Außenministers nach Locarno unmöglich. Auf seiner um 16.30 Uhr begonnenen Sitzung am 1. Oktober beschloß das Reichskabinett einstimmig, den Antrag des Außenministers auf Abschluß des gesamten Vertragswerks auf dem Stand der gegenwärtigen Entwürfe Ziff. 3 getretene Sitzungsprotokoll folgenden 1. Satz erhalten: ‚Beide Vertragsteile erklären, daß sie ihr Möglichstes tun werden, die Mitwirkung der zwischen Deutschland und den UdSSR belegenen Staaten an der Durchführung des Art. 4 zu erreichen.‘ “ PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Martius an AA, RVM sowie Reichsbahngesellschaft, 23.9.1925. 219 PA AA, R 23937 (Handakten von Kerner), Telegramm, Martius an AA, 26.9. 1925. 220 PA AA, R 31912, AA an sämtliche Reichs- und preußische Ministerien, 26.9. 1925. 221 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Protokoll der Sitzung der Deutschen und der Sowjet-russischen Delegation zum Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrags. 27. September 1925. 222 PA AA, R 23937 (Handakten von Koerner), Telegramm aus Berlin, Dirksen an Deutsche Delegation, 28.9.1925. 223 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Bose (Deutsche Delegation) an Rappoport, 29.9.1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
anzunehmen. Gleichzeitig war aber in Moskau eines der sieben Nebenabkommen, das Eisenbahnabkommen, noch umstritten. Einen merkwürdigen Eindruck vermittelt sowohl die Denkschrift Stresemanns zur Kabinettsvorlage aller Vertragsentwürfe vom 28. September als auch die Erklärung des Leiters der Ostabteilung des Auswärtigen Amts, Wallroth. Stresemann kündigte schon Ende September in seiner Denkschrift ausdrücklich die Fertigstellung des Eisenbahnabkommens an. Am 30. September teilte Wallroth den Vertretern der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft mit: „Was die Frage des Eisenbahnabkommens anlangt, so liegen besondere deutsche Wünsche nicht mehr vor.“224 Seine Erklärung wurde im Beisein der aus Moskau bereits nach Berlin zurückgekehrten deutschen Delegationsmitglieder (v. Koerner, Posse, Sjöberg, Martius, Strube, Schlesinger usw.) abge geben. Ebenfalls irreführend war die Auffassung Stresemanns, „daß im wesentlichen nur die Frage der Handelsvertretung ausstände“, die er dem sowjetischen Außenkommissar in der Nacht vom 1. zur 2. Oktober gegenüber äußerte.225 Brockdorff-Rantzau drahtete aus Moskau in der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober an Berlin über die Ergebnisse der ersten Besprechung zwischen den Eisenbahndelegationen vom 30. September. Das Telegramm kam erst am 1. Oktober vormittag in Berlin an.226 Darin wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die deutsche Eisenbahndelegation um die Sonderbehandlung der Paritätsklausel gebeten habe, während sich die sowjetische Delegation mit Rücksicht auf die politische Bedeutung dieses neuen Antrags ihre Stellungnahme bis zur Entscheidung der Sowjetregierung vorbehalten habe. 224 ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 106, Protokoll zu der Sitzung vom 30.9.1925, S. 267 ff. 225 ADAP, Ser. A, Bd. XIV, Dok. 109, Aufzeichnung von Stresemann, 30.9.1925 (1.10.1925), S. 284 ff.. 226 PA AA, R 23853, Telegramm von Brockdorff-Rantzau (Moskau) an AA, 1.10.1925. Die Durchschläge des Telegramms befinden sich in PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 1.10.1925 sowie GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3, Bl. 144. Nach Angabe der Durchschläge sollte das Telegramm aus Moskau am „1. Oktober um 2 Uhr 48 Nm“ an Berlin gesendet worden sein und am „1. Oktober um 9 Uhr Vm“ in Berlin eingetroffen haben. Nach Untersuchung der beiliegenden anderen Telegramme aus Moskau am 1. und 2. Oktober läßt sich feststellen, daß die Zeitangabe der Durchschläge falsch ist. Offenbar kam das Telegramm am 1. Oktober vormittags in Berlin an. Auf dem Telegramm (PA AA, R 23853) ist eine handschriftliche Randbemerkung „1 / 10, 215 morgens“ zu lesen. Diese Randbemerkung weist auch darauf hin, daß die erste Sitzung der Eisenbahndelegationen nicht am 1. Oktober, sondern am 30. September 1925 (handschriftlich angekreuzt und extra datiert) stattgefunden hat (siehe Anhang, Abb. 10, S. 868).
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen695
In der Moskauer Sitzung vom 30. September äußerte die deutsche Eisenbahndelegation nunmehr den Wunsch, das Inkrafttreten der Paritätsklausel (Artikel 2 und 3 des Eisenbahnabkommens) bis zum Zustandekommen einer auf das Paritätsprinzip bezogenen Regelung des deutsch-polnischen Eisenbahnverkehrs zu verschieben, um so den Zustand zu vermeiden, daß Polen einseitig in den Genuß der dem sowjetischen Verkehr eingeräumten Parität auf deutschen Strecken komme. Hierbei legte aber die deutsche Delegation Wert darauf, daß der Eisenbahnverkehr Deutschlands und Rußlands trotz der formellen Verschiebung der Inkraftsetzung der Paritätsklausel wesentlich die gegenseitige paritätische Behandlung genießen könne. So schlug die deutsche Delegation folgende Alternative vor: „Von deutscher Seite wurde erklärt, daß an Grundsatz Parität festgehalten werden müsse, daß aber … x) Inkraftsetzung Bestimmungen vor deutsch-polnischer Regelung bedenklich sei. Daher werde vorgeschlagen entweder Beibehaltung bisherigen Textes und Vereinbarung durch Notenwechsel, daß Paritätsbestimmungen erst nach deutsch-polnischer Regelung in Kraft treten oder Herausnahme dieser Bestimmungen aus Vertragstext und Vereinbarung durch Noten, daß diese Bestimmungen nach deutsch-polnischer Regelung in den Vertrag eingeführt werden.“227 (Siehe Anhang, Abb. 10, S. 868). Auf diesen Antrag erwiderte die aus den Eisenbahnfachleuten bestehende sowjetische Delegation, daß der Wunsch Deutschlands eher von politischer Bedeutung sei. Die deutsche Eisenbahndelegation, die bisher ausschließlich im Sinne des europäischen Standardrechts auf Grund des Meistbegünstigungs- und Paritätsprinzips die Eisenbahnverhandlungen mit der sowjetischen Delegation geführt hatte, mußte mit großer Besorgnis die Antwort der Sowjetregierung abwarten. Sie rechnete hierbei auch mit dem negativen Ergebnis, daß Rußland die beiden deutschen Vorschläge ablehnen oder überhaupt die Streichung der Paritätsklausel verlangen könne. Während die deutsche Delegation der sowjetischen Seite zwei alternative Vorschläge machte, favorisierte sie eigentlich den ersten der beiden Vorschläge, nämlich eine Sondervereinbarung über die Paritätsklausel ohne Abänderung des bisher festgelegten Vertragstexts lediglich im Rahmen des Schlußprotokolls bzw. des Notenwechsels zu treffen. Zur Überraschung der deutschen Seite zeigte sich die sowjetische Eisenbahndelegation diesem deutschen Wunsch gegenüber wohlwollend. In der Sitzung vom 2. Oktober konnten nunmehr alle Meinungsunterschiede gänzlich ausgeräumt werden. Der Vertragstext des Eisenbahnabkommens wurde somit endgültig fertiggestellt, indem sich die beiden Eisenbahndelegationen auf die Formel einigten, die Sonderregelung über Artikel 2 und 3 (die Ver227 Ebd.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
schiebung der Inkraftsetzung der Paritätsklausel) sowie über Artikel 4 (die Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen) auf Grund der in der inoffiziellen Plenarsitzung vom 3. / 4. Juni erzielten Fassung im Rahmen eines geheimen Protokolls bzw. des geheimen Notenwechsels festzusetzen.228 In beiden Fällen kam ein Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands gegenüber Polen bzw. den baltischen Staaten in Betracht. Hinsichtlich der Paritätsklausel ging die sowjetische Delegation auf die erste deutsche Formel ein, so daß der bisher formulierte Vertragstext nicht grundlegend zu ändern war. Die sowjetische Eisenbahndelegation holte sodann die endgültige Zustimmung der Sowjetregierung zu dieser Vereinbarung ein. Diese Sondervereinbarungen wurden letztlich in der Form eines vertraulichen Notenwechsels zwischen Brockdorff-Rantzau und Litvinov vom 12. Oktober 1925 dem Handelsvertrag beigefügt. Schlußprotokoll zum Eisenbahnabkommen229 (siehe Anhang, Abb. 11, S. 870) Zu Artikel 2 und 3 Die im Artikel 3b sowie im Artikel 2 Abs. 2 durch die Worte „einheimische oder“ und in Artikel 3 Buchstabe a durch die Worte „Schiffen der U. d. S. S. R. oder“ vorgesehene paritätische Behandlung wird erst auf Grund einer besonderen Vereinbarung zwischen den Regierungen der vertragschließenden Teile in Kraft gesetzt werden.
Notenwechsel (Vertraulich) (siehe Anhang, Abb. 13, S. 872) Zu Artikel 2 und 3 Gegenwärtig machen die vertragschließenden Teile – abgesehen von den Fällen, in denen es sich um Transporte zu ermäßigten Preisen zur Bekämpfung eines vorübergehenden besonderen Notstandes oder um Transporte für staatliche oder für milde Zwecke handelt –, in derselben Richtung und auf derselben Verkehrsstrecke in bezug auf die Abfertigung und die Beförderung sowie hinsichtlich der Beförderungspreise oder der mit der Beförderung zusammenhängenden öffent lichen Abgaben keinen Unterschied danach, ob die Waren aus dem Inlande oder aus dem Gebiete des anderen vertragschließenden Teils kommen. Das gleiche gilt für die Fälle, die in Artikel 3 des Eisenbahnabkommens vorgesehen sind. Ohne in diesem Zustande irgendeine Änderung eintreten zu lassen, sind sich die vertragschließenden Teile darüber einig, daß als der in dem Schlußprotokoll erwähnte Zeitpunkt der Zeitpunkt des Inkrafttretens eines entsprechenden Abkommens zwischen dem Deutschen Reich und Polen schon jetzt vereinbart ist.
228 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3, Bl. 136 sowie 138, Entzifferung, Telegramm, Botschafter v. Brockdorff-Rantzau, 2.10.1925. 229 BA, R 5 / 244, AA, 2.11.1925, Anlage 2, Eisenbahnabkommen im Stand vom 4. Oktober 1925. Auch vgl. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925. Bd. 2, Dok. 399, Notenwechsel vom 12. Oktober 1925, S. 816 ff. (hier S. 825 f.).
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen697
Zu Artikel 4: In der Sitzung vom 30. September 1925 machte die sowjetische Eisenbahndelegation hinsichtlich der deutschen Formel der Sonderabrede, die in der inoffiziellen Plenarsitzung vom 3. / 4. Juni vereinbart worden war, noch weitere Änderungsvorschläge. Sie schlug vor, den ersten Satz der deutschen Fassung zu streichen. Statt dessen sollte folgender dritter Satz ergänzt werden: „Die Gewährung der direkten Tarife nach den in Frage kommenden Ostseeländern steht jedoch nicht in Abhängigkeit davon, daß das Benehmen der vertragschließenden Teile zu positiven Ergebnissen geführt hat.“ Am 2. Oktober einigten sich die beiden Delegationen schließlich darauf, die ursprüngliche deutsche Fassung als Ziffer 3 des Schlußprotokolls zu Artikel 4 ohne den von russischer Seite neu vorgeschlagenen Zusatz aufzunehmen. Bei dieser Sitzung vereinbarten beide Parteien noch einmal, diese Klausel geheimzuhalten, weil die Transitstaaten im Falle ihrer Veröffent lichung gegen sie Einwände erheben würden. Dadurch hätten alle Versuche zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit des Königsberger Hafens im Rußlandgeschäft vereitelt werden können.230 Am 3. Oktober teilte das Auswärtige Amt telegraphisch nach Moskau mit, daß es mit der Fassung des Eisenbahnabkommens, die im Telegramm Brockdorff-Rantzaus vom 2. Oktober übermittelt worden war, einverstanden sei.231 In der Plenarsitzung vom 5. Oktober 1925 wurde sodann die Sonderabrede für Artikel 4 in folgender Weise endgültig festgesetzt: Der erste Satz („Jeder der vertragschließenden Teile …“ usw.) wurde von der deutschen Seite als selbstverständlich zurückgezogen. Im Gegenzug wurde auch der Ergänzungsvorschlag der sowjetischen Delegation über den dritten Satz („Die Gewährung der direkten Tarife …“ usw.) zurückgezogen.232 Die Klausel über die Zusicherung eines Zusammenwirkens Deutschlands und Rußlands gegenüber Polen und den baltischen Staaten, deren Aufnahme bis zu dieser Plenarsitzung vom 5. Oktober in Ziff. 3 (vertraulich) des Schlußprotokolls zu Artikel 4 vorgesehen worden war,233 wurde letztlich zum Abschluß des deutschsowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 als vertraulicher No230 PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 2.10.1925. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3, Bl. 136, Abschrift, Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA., 2.10.1925. 231 PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), AA (Wallroth) an Niemack (Moskau), 3.10.1925. 232 BA, R 43 I / 134, Bl. 357, Vertraulich, Protokoll der Plenarsitzung vom 5. Oktober 1925. PA AA, R 23937 (Handakten v. Koerner), Telegramm aus Moskau, Brockdorff-Rantzau an AA, 6.10.1925. 233 PA AA, R 23853 (Deutsche Delegation Moskau), Protokoll der Plenarsitzung vom 5.10.1925. Auch vgl. BA, R 5 / 244, AA, 2.11.1925, Anlage 2, Eisenbahnabkommen im Stand vom 4. Oktober 1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
tenwechsel zwischen Brockdorff-Rantzau und Litvinov (Nr. 9 zu Artikel 4 des Eisenbahnabkommens) festgehalten. Zu Artikel 4 des Eisenbahnabkommens (Protokoll der Schlußsitzung vom 12. Oktober 1925) (siehe Anhang, Abb. 12, S. 872):234 1. Unter Bedingungen im Sinne des Buchstaben a des Artikels 4 sind lediglich solche Bedingungen zu verstehen, die auf verkehrstechnischem oder tarifarischem Gebiete liegen. 2. Falls die Tarife der UdSSR von oder nach einem nicht den vertragschließenden Teilen angehörenden Ostseehäfen durchgerechnet werden, wird die UdSSR sich an Verhandlungen über die Durchrechnung der Tarife auch von und nach Königsberg (Pillau) beteiligen. Diese Verhandlungen finden zwischen den Eisenbahnverwaltungen nach Maßgabe des von ihnen in dem Eisenbahnabkommen von 1922 vereinbarten Verfahren statt.
Zu Artikel 4 des Eisenbahnabkommens (Vertrauliche Note Nr. 9 vom 12. Oktober 1925) (siehe Anhang, Abb. 13, S. 872):235 Sollte sich ein Einvernehmen über die paritätische Behandlung von Königsberg (Pillau) mit den anderen Ostseestaaten nicht erzielen lassen, so werden sich die beiden vertragschließenden Teile vor Gewährung direkter Tarife nach den in Frage kommenden Ostseehäfen miteinander über die zu ergreifenden Maßnahmen ins Benehmen setzen.
11. Schlußbemerkung Am 12. Oktober 1925 wurde der deutsch-sowjetische Handelsvertrag in Moskau unterzeichnet.236 Dieser Vertrag bestand aus sieben Abkommen (Niederlassungs-, Wirtschafts-, Eisenbahn-, Seeschiffahrts-, Steuer-, Han234 Schlußsitzungsprotokoll (Reichsrat, 1925, Nr. 155, AA an Reichsrat, 6.11. 1925, Entwurf eines Gesetzes über die deutsch-russischen Verträge vom 12. Oktober 1925, Vertrauliche Protokolle und vertraulicher Notenwechsel, BA, R 43 I / 134, AA an Staatssekretär in der Reichskanzlei, 30.10.1925; BA, R 9215 / 243; GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3). Vgl. dazu Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925. Bd. 2, Dok. 403, Protokoll der Schlußsitzung vom 12. Oktober 1925, S. 852 ff. (hier S. 863). 235 Notenwechsel (Vertraulich!) zwischen Brockdorff-Rantzau und Litvinov [Litwinoff] vom 12. Oktober 1925, Note Nr. 9, (Reichsrat, 1925, Nr. 155, AA an Reichsrat, 6.11.1925, Entwurf eines Gesetzes über die deutsch-russischen Verträge vom 12. Oktober 1925, Vertrauliche Protokolle und vertraulicher Notenwechsel, BA, R 43 I / 134, AA an Staatssekretär in der Reichskanzlei, 30.10.1925; BA, R 9215 / 243; GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3). Vgl. dazu Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925. Bd. 2, Dok. 399, Notenwechsel vom 12. Oktober 1925, S. 816 ff. (hier S. 825 f.). 236 PA AA, R 28930 (Büro StS), Martius an AA, 11.10.1925.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen699
delsschiedsgerichts-, gewerbliche Rechtshilfeabkommen). Gleichzeitig wurden zwei weitere selbständige Abkommen (Konsularvertrag sowie Nachlaßabkommen) abgeschlossen. Am 30. Oktober legte Außenminister Stresemann dem Reichskabinett das gesamte Vertragswerk vor.237 Dagegen erhob keines der Kabinettsmitglieder Einwände, so daß die deutsch-sowjetischen Verträge in der Fassung vom 12. Oktober als Gesetzentwurfvorlage durch die Reichsregierung am 6. November genehmigt wurde.238 Das Zustandekommen dieses Vertragswerks war zwar positiv zu bewerten, insofern die über zwei Jahre lang geführten Verhandlungen endlich ihren Abschluß fanden. In Wirklichkeit verfehlte das Abkommen aber sowohl wirtschaftlich als auch politisch seine Wirkung. Stresemann hob die politische Bedeutung dieses Vertragswerks vor allem als Gegengewicht zu den Locarno-Verträgen hervor, indem der Beitrag der deutschen Diplomatie als die erfolgreiche Ausbalancierung zwischen Ost- und Westorientierung gelobt wurde. In Wirklichkeit machte die Reichsregierung aber zweifellos einen bedeutenden Schritt in Richtung Westen. Der Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags, der auf rein wirtschaftliche Regelungen beschränkt war, rückte weit in den Hintergrund der Sicherheitskonferenz von Locarno, wo Stresemann den Höhepunkt seiner politischen Karriere erreichte. Mit dem Verzicht auf die Präambel kam der deutsch-sowjetische Handelsvertrag letztlich ohne gleichzeitige politische Abrede zustande. Hierdurch scheiterten die Versuche, als Gegenstück zu Locarno eine vertragliche Regelung der politischen Verhältnisse zwischen Deutschland und Rußland noch vor der Unterzeichnung der Westverträge zustande zu bringen. Am 16. Oktober 1925 unterzeichnete die deutsche Delegation in Locarno sowohl die Westsicherheitsverträge (Frankreich, Belgien, England, Italien) als auch die Schiedsverträge (Frankreich, Belgien, Polen, Tschechoslowakei). Mit Recht urteilte Brockdorff-Rantzau, daß das auf ein Handelsabkommen beschränkte deutsch-sowjetische Vertragswerk kein echtes Gegenstück zu den großen politischen Verträgen von Locarno darstelle.239 Der Mantelvertrag des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags bezog sich lediglich auf die Beibehaltung des Rapallo-Vertrags, so daß keine über diesen Vertrag hinausgehende politische Abrede getroffen wurde, abgesehen davon, daß das Eisenbahnabkommen, vor allem dessen vertrauliche Note, ein Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands gegen dritte Mächte, insbesondere gegen Polen und die baltischen Staaten, vorsah. Der seit Dezember 1924 237 BA,
R 43 I / 134, AA an Staatssekretär in der Reichskanzlei, 30.10.1925. R 43 I / 134, Staatssekretär in der Reichskanzlei an Reichsminister des Auswärtigen, 6.11.1925. 239 Locarno-Konferenz 1925, Dok. 29, Aufzeichnung des deutschen Botschafters, Brockdorff-Rantzau, 7.11.1925, S. 220 ff. 238 BA,
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
zwischen Brockdorff-Rantzau und Čičerin verfolgte Gedanke, ein Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands zu sichern, ließ sich durch die Aufhebung der Präambelpläne nicht mehr im Handelsvertrag realisieren. Im Juni 1925 hatte die deutsche Regierung als Antwort auf die sowjetischen Dezember-Vorschläge diesen Gedanken in der Weise schriftlich formuliert: „Beide Regierungen sind von der Erkenntnis durchdrungen, daß das Wohl des deutschen und des russischen Volkes eine freundliche, friedliche Zusammenarbeit beider Länder erfordert. Sie sind deshalb entschlossen, die gegenseitigen Beziehungen im Geiste des Vertrages von Rapallo weiter zu pflegen und in allen die beiden Länder gemeinsam berührenden politischen und wirtschaftlichen Fragen in dauernder freundschaftlicher Fühlung gegenseitige Verständigung anzustreben, unter dem Gesichtspunkte, für den allgemeinen Frieden Europas zu wirken und sich von allen etwa hervortretenden Bestrebungen fernzuhalten, die diesen Frieden gefährden könnten.“240 Dies war der deutsche Präambelvorschlag gewesen. Nach dem erfolgreichen Abschluß der Locarno-Konferenz hatte die deutsche Regierung aber kein großes Interesse mehr daran, den bereits unterzeichneten deutsch-sowjetischen Handelsvertrag nachträglich mit einer politischen Präambel zu versehen. Man legte vielmehr Wert darauf, ein selbständiges politisches Abkommen unabhängig vom Handelsvertrag abzuschließen. Die von der Dezember-Initiative ausgegangenen politischen Verhandlungen zwischen Berlin und Moskau gelangten letztlich am 24. April 1926 zu einem Abschluß, der nunmehr einen Gegenstück zu dem Völkerbundsbeitritt Deutschlands bilden sollte. Der Freundschafts- und Neutralitätsvertrag zwischen Deutschland und der UdSSR (der sog. Berliner Vertrag) regelte die politischen Verhältnisse beider Staaten. Artikel 1 dieses Vertrags bestimmte die Beibehaltung des Rapallo-Vertrags als Grundlage der beiderseitigen Beziehungen. In diesem Sinne wurde wie schon in der deutschen Präambelformel erneut das enge Zusammenwirken beider Staaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht beschworen: Deutschland und Rußland „werden in freundschaftlicher Fühlung miteinander bleiben, um über alle ihre beiden Länder gemeinsam berührenden Fragen politischer und wirtschaftlicher Art eine Verständigung herbeizuführen“241. Dagegen enthielten Artikel 2 und 3 die Neutralitätserklärungen, die sicherlich auf die sowjetische Präambelformel zurückgingen. Außerdem regelte der Berliner Vertrag in ei240 Locarno-Konferenz 1925, Dok. 15, Richtlinien für die Fortsetzung der politischen Verhandlungen mit der UdSSR, Stresemann, 21.6.1925, S. 104 ff. ADAP, Ser. A, Bd. XIII, Dok. 157, v. Schubert, Anlage: Richtlinien für die Fortsetzung der politischen Verhandlungen mit Rußland, 21.6.1925, S. 416 ff. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925, Bd. 2, Dok. 320, Vorschlag der Reichsregierung an die Regierung der UdSSR, 1.7.1925, S. 639. 241 RGBl. 1926, II, S. 359 ff. Gesetz über den deutsch-russischen Vertrag vom 24. April 1926. Vom 19. Juni 1926.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen701
nem zugehörigen Notenwechsel die politischen Verhältnisse beider Staaten gegenüber dem Völkerbund. Die Besonderheit der vertraulichen Abrede über das Eisenbahnabkommen lag darin, daß diese Vereinbarung die einzige Bestimmung des Handelsvertrags darstellte, welche über die allgemeine Meistbegünstigung hinaus ein Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands, und zwar zur Wahrung der deutschen wirtschaftlichen Interessen, im Detail regelte. Die Abrede der vertraulichen Note Nr. 9 für Artikel 4 (die Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen) war wesentlich von wirtschaftlicher Bedeutung. In der Folgezeit forderte die Königsberger Wirtschaft deshalb das Reich und die UdSSR wiederholt zur Durchführung dieser Bestimmungen auf. Hingegen erscheint es fraglich, ob überhaupt die wirtschaftliche Notwendigkeit bestand, eine Sonderregelung über Artikel 2 und 3 (die Verschiebung der offiziellen Inkraftsetzung der Paritätsklausel) in den Handelsvertrag aufzunehmen. Der von der deutschen Seite befürchtete Fall, daß Polen in den Genuß der von Deutschland der UdSSR eingeräumten Parität kommen werde, ohne daß Deutschland das gleiche Vorrecht auf polnischen Schienen erhalte, trat in der Folgezeit nicht ein, und zwar unabhängig davon, daß die geheime Regelung im deutsch-sowjetischen Handelsvertrag aufgenommen worden war. Es stellt sich die Frage, ob diese Klausel überhaupt völkerrechtlich zu rechtfertigen war. Die formelle Inkraftsetzung der Paritätsklausel war dem Zustandekommen eines entsprechenden deutsch-polnischen Abkommens vorzubehalten, obwohl Deutschland und Rußland gegenseitig die paritätische Behandlung schon genießen konnten. Während die Frage der Sonderabrede über Artikel 4 bereits im Dezember 1924 sowie im Juni 1925 zwischen beiden Delegationen zur Erörterung gebracht worden war, äußerte die deutsche Eisenbahndelegation am 1. Oktober 1925 zum ersten Mal gegenüber der sowjetischen Seite den Wunsch, die Inkraftsetzung der Paritätsklausel zu verschieben. Diese Entschließung der deutschen Delegation wurde dadurch veranlaßt, daß die Reichsbahngesellschaft gegen die in der inoffiziellen Plenarsitzung vom Juni 1925 vereinbarte Fassung, die sich lediglich auf das allgemeine Meistbegünstigungs- und Paritätsprinzip bezog, Einspruch erhoben hatte. Sie hatte deshalb die deutsche Delegation dazu gezwungen, diese Klausel (die Verschiebung der offiziellen Inkraftsetzung der Paritätsklausel) geheimzuhalten. So war die Reichsbahngesellschaft der Auslöser der geheimen Note zu Artikel 2 und 3. Diese Note schien dennoch wirtschaftlich von geringer Bedeutung zu sein. Es ist ferner darauf hinzuweisen, daß die internationalen Verkehrsrechtsverhältnisse nicht allein durch bilaterale Staatsverträge zu regeln waren. Sowohl Deutschland als auch Polen waren dem Barcelona-Transitabkommen vom April 1921 sowie dem Genfer Übereinkommen über die Rechtsordnung des internationalen Eisenbahnverkehrs
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
vom Dezember 1923 beigetreten.242 Bei Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags war das Genfer Übereinkommen zwar noch nicht in Kraft getreten, es war aber zu erwarten, daß dies schon in nächster Zukunft erfolgen würde. Seit Mitte Juni 1925 befanden sich Deutschland und Polen im Wirtschaftskrieg, so daß auf absehbare Zeit keine Aussicht bestand, daß ein deutsch-polnischer Handelsvertrag mit dem Eisenbahnabkommen, das sich ohne die gegenseitige Paritätsgewährung lediglich auf die Meistbegünstigung beziehen sollte, zustande kommen würde. Der Völkerbundsempfehlung folgend, hinterlegte die Reichsregierung am 5. Dezember 1927 die Ratifikationsurkunde über das Genfer Übereinkommen beim Generalsekretär des Völkerbunds. Gemäß Artikel 6 des Übereinkommens trat es für Deutschland am 5. März 1928 in Kraft.243 Seine wichtigsten Nachbarn, Polen und die Niederlande, folgten diesem Beschluß nach. Das Genfer Übereinkommen wurde am 7. Januar 1928 durch Polen sowie die Freie Stadt Danzig, und am 2. Februar 1928 durch die Niederlande ratifiziert.244 Damit wurde tatsächlich der Zeitpunkt erreicht, den man im vertraulichen Notenwechsel zwischen Deutschland und der UdSSR vom 12. Oktober 1925 genannt hatte. Nun waren sowohl Polen als auch Deutschland völkerrechtlich dazu verpflichtet, alle Diskriminierung nicht nur beim Transitverkehr (Barcelona-Abkommen), sondern auch bei allem Hin- und Herkommen zu unterlassen und den Verkehr Deutschlands bzw. Polens auf eigenen Schienen paritätisch zu behandeln. Kurz nach dem Abschluß der Locarno-Verträge richtete BrockdorffRantzau ein kritisches Memorandum an Hindenburg. Im Gegensatz zu Stresemann, der die von der deutschen Diplomatie erzielte Ausbalancierung zwischen Ost- und Westpolitik hervorhob, sah der Moskauer Botschafter die wesentliche Bedeutung der Locarno-Diplomatie in einer ausgesprochenen Orientierung nach Westen.245 Das Verhältnis zwischen Brockdorff-Rantzau und Stresemann war nach dem Abschluß der Locarno-Verträge angespannt. 242 Die Bestimmungen des Genfer Übereinkommens waren dadurch gekennzeichnet, daß volle Gleichheit zwischen den Vertragsstaaten bei der Abfertigung, den Abgaben sowie den Beförderungspreisen im internationalen Eisenbahnverkehr gewährt wurde, ohne im Text ausdrücklich die Meistbegünstigungs- und Paritätsklausel zu erwähnen. Der Grundsatz stellte deshalb unter völliger Ausschaltung unterschiedlicher Behandlung zwischen den Vertragsstaaten sowie Untersagung der Diskriminierung wesentlich eine Kombination der Meistbegünstigung und der Parität dar (Artikel 4, Artikel 20 sowie Zeichnungsprotokoll). Vgl. Beckh (1930), S. 102 ff. Haustein (1954), S. 102 ff. 243 RGBl. 1927, II, S. 909 sowie RGBl. 1928, II, S. 14. 244 RGBl. 1928, II, S. 649. Bekanntmachung, betreffend weitere Ratifikationen des Übereinkommens und Statuts über die internationale Rechtsordnung der Eisenbahnen sowie des zugehörigen Zeichnungsprotokolls. Vom 20. Dezember 1928. 245 Locarno-Konferenz 1925, Dok. 29, Brockdorff-Rantzau, 7.11.1925, S. 220 ff.
V. Die deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen703
Brockdorff-Rantzau beschwerte sich bei Hindenburg, daß er über die Entschließung der Regierung in der Frage des Westpakts und Völkerbunds durch das Auswärtige Amt nicht ausreichend informiert worden sei. Hingegen kritisierten Stresemann und Schubert sowohl das Eintreten des Botschafters für die Sowjets in der Frage des Völkerbunds als auch seine Immediatstellung. Gleich nach der Bestätigung der Locarno-Verträge durch den Reichstag ersuchte Brockdorff-Rantzau Hindenburg um seine Amtsenthebung. Als ehemaliger Führer der deutschen Friedensdelegation in Versailles gab Brockdorff-Rantzau den Grund an: „[…] sind die Voraussetzungen, unter denen ich den Botschafterposten in Moskau übernommen habe, nicht mehr gegeben, und ich sehe nicht die Möglichkeit, die Politik, die ich seit drei Jahren in der Sowjetunion vertreten habe, unter den gegebenen Verhältnissen weiter mit Erfolg durchzuführen.“246 Der Streit zwischen Botschafter und Außenminister wurde durch die Vermittlung des Reichspräsidenten zunächst beseitigt. Hindenburg rechtfertigte das Verbleiben Brockdorff-Rantzaus in Moskau damit, daß die Abberufung des Botschafters bei der Sowjetregierung den Eindruck erwecken würde, daß ein Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik eingetreten sei. Um dies zu vermeiden, solle er weiterhin in Moskau bleiben. Der Reichspräsident kam auch dem Wunsch des Botschafters nach, seine Immediatstellung behalten zu dürfen.247 Brockdorff-Rantzau führte seine Amtstätigkeit in Moskau weitere drei Jahre fort, und es gelang ihm, den Abschluß des Berliner Vertrags vom April 1926 noch vor dem deutschen Bundesbeitritt zu erreichen. Er verstarb am 8. September 1928 in Berlin an Krebs.248 Im Gegensatz zur geheimen Abrede über Artikel 4 (Häfenwettbewerb), zu deren Durchführung die Königsberger Handelskammer seit dem Inkrafttreten des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags wiederholt Berlin und Moskau aufforderte, diskutierte man aber in der Folgezeit die Frage der geheimen Abrede über Artikel 2 und 3 (die Paritätsklausel) nicht mehr.
246 Helbig (1958), S. 139. Scheidemann (1998), S. 668 ff. Wintzer (2006), S. 534. Locarno-Konferenz 1925, Dok. 30, Schreiben des Botschafters v. Brockdorff-Rantzau, 28.11.1925, S. 223. 247 Locarno-Konferenz 1925, Dok. 31, Brockdorff-Rantzau, 28.11.1925, S. 224 f. Dok. 32, Schreiben des Reichspräsidenten Hindenburg, 28.11.1925, S. 226 f. Siehe auch Harald Zaun: Paul von Hindenburg und die deutsche Außenpolitik 1925–1934, Köln 1999, S. 409. 248 Edgar Stern-Rubarth: Graf Brockdorff-Rantzau, Wanderer zwischen zwei Welten. Ein Lebensbild, Berlin 1929, S. 163. Scheidemann (1998), S. 798.
Kapitel VI
Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens (1926–1931) 1. Die Stadtbank Königsberg a) Die Gründung Im Dezember 1920 wurde die Stadtbank Königsberg von der Stadtgemeinde Königsberg Pr. als städtische Anstalt ohne eigene Rechtsfähigkeit mit einem Stammkapital von 10 Millionen Mark gegründet. Ihre Gründung ging ursprünglich auf Oberbürgermeister Lohmeyer zurück. Die Abtrennung der Provinz durch den polnischen Korridor hatte die Heranziehung von Kapitalmitteln aus dem Westen nach Ostpreußen bedeutend erschwert, indem Kredite lediglich zu höheren – als Risikoprämie erhobenen – Zinssätzen gewährt wurden. Unter diesen Umständen setzte sich Lohmeyer dafür ein, zur Verbesserung der Kreditversorgung für Handel und Gewerbe in Königsberg eine neue Kommunalbank ins Leben zu rufen. Der damalige preußische Innenminister, der Demokrat Alexander Dominicus, früherer Oberbürgermeister von (Berlin-) Schöneberg und somit vormals Vorgesetzter und Parteikollege Lohmeyers, stellte sich ihm zur Seite.1 Sein Ministerium, das die Aufsicht über die Kommunalbanken führte, ging ohne weiteres auf das Vorhaben Königsbergs ein. Während des Ersten Weltkriegs, vor allem in den ersten Jahren der Nachkriegzeit wurden mehrere Kommunalbanken insbesondere in Preußen gegründet. Das rasche Aufkommen der Kommunalbanken ergab sich vor allem daraus, daß die Kommunen sich nicht nur die Befriedigung des Kreditbedarfs der Klein- und Mittelbetriebe zur Aufgabe machten, sondern sich auch Ertragsausschüttungen zugunsten der Gemeindehaushalte erhofften.2 Am 22. Dezember 1920 beschloß die Königsberger Stadtverordnetenversammlung, den vom Magistrat gestellten Antrag zur Gründung der Stadt1 Zur Gründung der Stadtbank Königsberg siehe vor allem GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105. 2 Günter Ashauer: Von der Ersparungscasse zur Sparkassen-Finanzgruppe. Die deutsche Sparkassenorganisation in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1991, S. 207 f.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens705
bank anzunehmen.3 Die nach dem Krieg für die öffentliche Energieversorgung sowie die Ostmesse gegründeten städtischen Sonderbetriebe Königsbergs hatten die Form von Gesellschaften mit beschränkter Haftung (G. m. b. H). Die Stadtbank wurde hingegen am 2. Mai 1921 als eigenes Institut der Stadt Königsberg, also als eine Abteilung der Stadtverwaltung ohne Rechtspersönlichkeit, mit unbeschränkter Haftung der Stadtgemeinde gegründet. Damit war die höchstmögliche Sicherheit gewährleistet. Die Stadtbank übernahm den gesamten städtischen Einnahmen- und Ausgabenverkehr, der bisher von der Stadthauptkasse getragen worden war. Sie wurde als gänzlich selbständiges Unternehmen unabhängig vom Beamtenapparat der Stadtverwaltung aufgebaut. Die Stadt sollte prinzipiell in ihrem gesamten Verkehr mit der Stadtbank wie jeder andere Privatkunde behandelt werden. Die Stadt hatte auf der Stadtbank ihr Hauptkonto, über das die etatmäßige Verwaltung der Stadt laufen sollte, sowie eine Reihe von Nebenkonten.4 Das gesamte Vermögen der städtischen Sonderbetriebe (städtische G. m. b. H.), unter ihnen die Königsberger Werke und Straßenbahn, das Meßamt (Ostmesse) u. a. m., wurde bei der Stadtbank angelegt. Die Stadtgemeinde durfte bei der Stadtbank allerdings selbst keine Kredite in Anspruch nehmen. Damit sollte vermieden werden, städtische Kreditbedürfnisse aus den privaten Einlagen der Stadtbank zu decken. Die städtischen Sonderbetriebe waren jedoch von dieser Regel nicht betroffen. Die Aufgabe der Königsberger Stadtbank erstreckte sich auf alle bankmäßige Geschäfte, jedoch waren ihr ebenso wie anderen Kommunalbanken Spekulationsgeschäfte in Geldsorten, Devisen und Wertpapieren jeder Art auf eigene Rechnung untersagt.5 Diese Regelung der preußischen Kommunalbanken traf die Königsberger Stadtbank besonders schwer. Obwohl der Bedarf an Devisen bei den Exporteuren und Importeuren im Hafen Königsberg besonders groß war, konnte die Stadtbank Devisen lediglich kommissionsweise handeln. Alle Aufträge zum An- und Verkauf von Devisen wurden zunächst durch die Berliner Bankverbindungen, die Preußische Zentralgenossenschaftskasse sowie die Deutsche Girozentrale abgewickelt. Dies erwies sich jedoch als ungünstig, weil die Beschaffung von Devisen an der Berliner Börse zuviel Zeit in Anspruch nahm. Die Stadtbank beantragte deshalb in der Folgezeit wiederholt bei der Aufsichtsbehörde die Zulassung des Devisengeschäfts. Der am 2. Mai 1921 aufgenommene Geschäftsbetrieb der Stadtbank entwickelte sich rasch, was die Lösung von zwei Problemen erforderlich mach3 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung 1920, Nr. 1217, Antrag des Magistrats von 16.12.1920, Beschluß von 22.12.1920. 4 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1921. 5 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Abschrift, Geschäftsanweisung für die Stadtbank Königsberg 1921.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
te, nämlich die Nutzung eines größeren Inkassonetzes im Reich und das zu kleine Stammkapital der Stadtbank. Am 1. Oktober 1921 wurde ein Vertrag zwischen der Stadtbank und der Girozentrale für Ost- und Westpreußen6 auf zehn Jahre abgeschlossen, wonach die Stadtbank ab diesem Tage das Geschäft der Girozentrale Königsberg (Geschäftsstelle Königsberg der Bankanstalt der kommunalen Spar- und Giroverbandes für Ost- und Westpreußen) übernahm und sich die Girozentrale Königsberg mit dem gleichen Stammkapital wie die Stadt, also mit 10 Millionen Mark, an der Stadtbank beteiligte.7 Das Verhältnis zwischen der Stadtbank und der Girozentrale Königsberg wurde in der Weise geregelt, daß die Girozentrale an Gewinn und Verlust der Stadtbank jeweils mit der Hälfte beteiligt war, während die Stadt die Personalhoheit behielt und Eigentümerin der Räume der Stadtbank blieb. Durch diesen Vertrag wurde die Stadtbank am 31. Dezember 1921 als offene Handelsgesellschaft eingetragen unter der Firmenbezeichnung „Stadtbank Königsberg i. Pr. zugleich Geschäftsstelle Königsberg der Girozentrale für die Ost- und Westpreußen“. Gesellschafter waren die Stadtgemeinde Königsberg Pr. sowie der Giroverband für Ost- und Westpreußen. Auf diese Weise wurde der Stadtbank nicht nur ein erhöhtes Stammkapital zur Verfügung gestellt, sondern auch die Nutzung des auf das ganze Reich ausgedehnten Inkassonetzes des Deutschen Giroverbandes gesichert. Als Inkassonetz stand der Stadtbank außerdem das Genossenschaftsnetz der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse zur Verfügung.8 Nach diesem Arbeitsgemeinschaftsvertrag waren die gemeinschaftlichen Geschäfte beider Organe von zwei Bankdirektoren zu leiten, von denen der eine durch die Stadtbank, der andere durch den Giroverband zu bestellen war (§ 6 des Vertrags). Die Leitung der gemeinschaftlichen Geschäfte lag in der Hand eines Ausschusses, der aus dem Verbandsvorsteher des Giroverbandes für Ost- und Westpreußen (später die Ostmark), dem Oberbürgermeister der Stadt Königsberg, dem Geschäftsführer des Giroverbandes und dem Kurator der Stadtbank bestand (§ 8 des Vertrags).9 Dazu wurde für die allgemeine Geschäftsaufsicht über die Stadtbank noch ein Verwaltungsrat eingesetzt, der aus drei vom Oberbürgermeister bestellten Magistratsmitgliedern, sechs von der 6 Der Giroverband für Ost- und Westpreußen wurde am 10.10.1925 gegründet. Die Geschäftsführung übernahm zunächst die Stadtsparkasse Königsberg. Am 1. Juli 1916 wurde die Girozentrale für Ost- und Westpreußen in Königsberg als Bankanstalt des Verbandes gegründet. 7 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, Abschrift, Vertrag zwischen der Stadtbank Königsberg und dem Giro-Verband für Ost- und Westpreußen (die Ostmark), 29.4.1921. 8 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1921, S. 50. 9 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, Abschrift, Vertrag zwischen der Stadtbank Königsberg und dem Giro-Verband für Ost- und Westpreußen (die Ostmark), 29.4.1921.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens707
Stadtverordnetenversammlung gewählten Bürgern sowie den Vertretern des Giroverbandes gebildet werden sollte.10 Obwohl sich die Zusammenarbeit zwischen der Stadtbank und der Girozentrale Königsberg in den ersten Jahren reibungslos entwickelte, traten in der Folge Interessenkonflikte zwischen beiden Organen in der Abwickelung des Kreditgeschäfts zutage. Der Grund dafür lag darin, daß der Magistrat unverhältnismäßig großen Einfluß auf die Entscheidung der Kreditverfahren ausüben konnte. Die dominante Stellung des Magistrats im oben genannten Ausschuß entstand dadurch, daß Hans Lohmeyer sowohl das Amt des Oberbürgermeisters als auch das Amt des Verbandsvorstehers des Giroverbandes für Ost- und Westpreußen innehatte. Kurator der Stadtbank war Stadtkämmerer Friedrich Lehmann (Amtszeit 1919–1932),11 dem ein unbeschränktes Vetorecht gegen die vom Bankdirektor entschiedenen Kreditbewilligungen oder -ablehnungen zustand.12 Die wiederholten Beschwerden der Girozentrale Königsberg über die Ungleichheit der Betriebsführung zwangen den Magistrat zu organisatorischen Änderungen im Bankbetrieb, vor allem dadurch, daß ein alleiniger Bankdirektor durch die Girozentrale bestellt wurde und die Stelle des Geschäftsführers der Girozentrale im Ausschuß wegfiel.13 Die Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Organen wurden dennoch nicht ausgeräumt. Nach wie vor gewährleistete diese Organisationsform dem Magistrat, insbesondere dem Oberbürgermeister, der als Vorsteher an der Spitze der Stadtbank und der Sparkasse stand, eine dominante Stellung in der Betriebsführung sowie bei der Entscheidung über die Kreditvergabe. Als Direktor der Stadtbank wurde durch die Girozentrale zuerst Ziegenhagen, sodann Wirtz bestellt. Trotz der territorialen Abtretungen trat nach dem Krieg zunächst keine strukturelle Änderung im kommunalen Spar- und Giroverband für Ost- und Westpreußen ein. Sowohl die Gemeinden im Freistaat Danzig als auch im Memelgebiet, welche durch den Friedensvertrag de jure aus dem deutschen Staatsverband und somit aus dem Giroverband ausgeschieden waren, blieben de facto Mitglieder des Giroverbands.14 Hinsichtlich der ehemaligen 10 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, Revisionsbericht über die Königsberger Stadtbank, 28.10.1925. Die Verwaltung der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Kriege. Festschrift des Magistrats (1924), S. 79 ff. 11 Zur Anstellung Lehmann. Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung von 1919, 15. Januar 1919, Nr. 4. 12 „Die Königsberger Stadtbank. Tagung des Deutschen Zentralen Giroverbandes.“, in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Beilage zur Abend-Ausgabe, 29.7.1922. 13 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Verbandsvorsteher des Kommunalen Spar- und Giroverbandes für die Ostmark, 11.11.1927. 14 Geschäftsbericht des Kommunalen Spar- und Giroverbandes für die Ostmark und seiner Bankanstalt der Giro-Zentrale (Kommunalbank) für die Ostmark in Königsberg Pr. über das Jahr 1926, S. 5 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Provinz Posen gelang es dem Giroverband für Ost- und Westpreußen, vor allem seinem Verbandvorstand Lohmeyer, sein Interessengebiet durch die Eingliederung des Restgebiets von Posen (der neuen Provinz Grenzmark) in den Giroverband für Ost- und Westpreußen zu erweitern. Obwohl dem Vorschlag Lohmeyers zur Eingliederung Posens bereits auf der Sitzung des Giroverbandes für Ost- und Westpreußen im Juni 1921 von den Mitgliedern zugestimmt worden war, wurde die tatsächliche Eingliederung infolge des Widerstands der Provinzen Brandenburg und Pommern bis November 1922 verschoben.15 Mit der Erweiterung des Interessengebiets erhielt der bisherige Giroverband für Ost- und Westpreußen die neue Bezeichnung „Kommunaler Spar- und Giroverband für die Ostmark“.16 Die Stadtbank gewann schnell großes Vertrauen unter den Privatkunden. Vom 31. Dezember 1921 bis zum 31. Dezember 1922 stieg die Zahl der Privatkonten von 302 auf 1850 (Depositen), sowie von 476 auf 879 (laufende Rechnung).17 Anzumerken ist, daß der Stadtbank die bereits bestehende Königsberger Stadtsparkasse angegliedert war, so daß der größte Teil der Stadtsparkasseneinlagen bei der Stadtbank eingelagert wurde. Die Zusammenarbeit zwischen der Stadtbank und der Stadtsparkasse wurde außerdem durch die Personalunion zwischen beiden Organen befestigt. Diese Personalunion erstreckte sich nicht nur auf die Direktorenstellen, sondern auf alle Angestellten, wodurch erhebliche Personalkosten eingespart wurden. Die Zusammenarbeit mit der Sparkasse brachte der Stadtbank gewisse Vorteile, da die Stadtbank auf diese Weise die Sparkasseneinlagen auf ihre Aktivseite buchen und somit für das Kreditgeschäft nutzen konnte. Im Magistrat rechnete man ursprünglich nicht nur damit, daß durch die gemeinsame Verwaltung ausgeschlossen werde, daß sich die beiden kommunalen Geldinstitute gegenseitige Konkurrenz machten. Man hoffte auch, daß eine Belebung des Sparkassenverkehrs durch die Stadtbank zu erzielen sei, weil der Gewinn der Stadtbank der Sparkasse als Reserve zur Verfügung gestellt werden sollte.18 Im Gegensatz zu diesen Idealvorstellungen des Magistrats 15 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Bd. 1, Giroverband der kommunalen Verbände der Provinz Brandenburg an den Giroverband für Ost- und Westpreußen, 29.9.1921. Aus dem Restteil der Provinzen Posen und Westpreußen wurde auf Grund des Gesetzes vom 21. Juli 1922 über die kommunale Verfassung und die Verwaltung die Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen neu gegründet. 16 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Bd. 1, Giroverband für Ost- und Westpreußen (Lohmeyer) an PreußMdI, 16.11.1921. Vgl. dazu Hans Gerhard: Der ostdeutsche Kapitalmarkt, Königsberg 1932, S. 77 ff. 17 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1922, S. 66. Dabei stieg der Umsatz der Stadtbank von 6.000.000.000 Mark (vom 1. Mai bis 31. Dezember 1921) auf 89.000.000.000 Mark (vom 1. Januar 1922 bis 31. Dezember 1922). Hierbei ist jedoch mit dem Einfluß der Inflation zu rechnen.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens709
war aber der Zusammenschluß zwischen Stadtbank und Sparkasse, der organisatorisch mit vielen Unklarheiten verbunden war, infolge der fehlenden finanziellen Transparenz in der Folgezeit scharfer Kritik seitens der Aufsichtsbehörden und des Bürgertums ausgesetzt.19 18
Obwohl sich die Stadtbank in der Zeit der Hyperinflation besonders um den Notgelddruck verdient machte,20 wurden die Rationalisierungsversuche Lohmeyers, die angesichts der damaligen Verhältnisse der Kommunalbanken als radikal anzusehen waren, in der Öffentlichkeit nicht immer mit Begeisterung aufgenommen. Die Strategie Lohmeyers, „die gesamten Kräfte der öffentlichen Kreditanstalten in ein Institut zusammenzufassen“,21 wie sie bei der Arbeitsgemeinschaft zwischen der Stadtbank und der Girozentrale Königsberg sowie beim Anschluß der Grenzmark Posen-Westpreußen deutlich wurde, stieß jedoch auf Schwierigkeiten. Die schweren Meinungsunterschiede zwischen Königsberg und Berlin traten zuerst 1925 bei der Liquiditätskrise der Girozentrale Königsberg zutage. Diese ging ursprünglich auf die Kreditnot im Freistaat Danzig zurück. Die Danziger Geschäftsstelle der Girozentrale für die Ostmark wurde trotz der Abtretung Danzigs aus dem deutschen Staatsverband zunächst beibehalten. Mit Rücksicht auf den gravierenden Mangel an Krediten für die Privatkunden, vor allem für Handel und Gewerbe im Danziger Hafen, überließ die Girozentrale für die Ostmark (Girozentrale Königsberg) der Danziger Geschäftsstelle ein Guthaben von 17.175.000 RM. Dieser Betrag, der für die Girozentrale Königsberg unverhältnismäßig hoch war und die Grenzen einer ordentlichen Kreditpolitik überschritt,22 wurde von der Danziger Girobank vollständig für Privat18 „Die Königsberger Stadtbank. Tagung des Deutschen Zentralen Giro ver bandes.“, in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Beilage zur Abend-Ausgabe, 29.7. 1922. 19 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Bericht über die in der Zeit vom 24.3.1933–13.4.1933 erfolgte Revision der Stadtbank Königsberg Pr., durch Girozentrale Oberbankrat Ziche sowie Preußische Staatsbank Bankrat Kramm sowie Rohloff. 20 Die Verwaltung der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Krieg. Festschrift des Magistrats (1924), S. 73. Nach der Währungsreform 1923 erfolgte bei der Stadtbank die Umstellung auf Goldmark. „In der Goldmark-Eröffnungsbilanz vom 1.1.1924 wies das Bankinstitut ein Eigenkapital von 1 Millionen GM aus, und zwar auf der Passivseite der Bilanz 5 Millionen GM Gesellschaftskapital und auf der Aktivseite als Wertberichtigungsposten ein Kapitalentwertungskonto in Höhe von 4 Millionen GM bei einer Bilanzsumme von 7,5 Millionen GM.“ Dazu siehe GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Bericht über die in der Zeit vom 24.3.1933–13.4.1933 erfolgte Revision der Stadtbank Königsberg Pr. 21 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1921, S. 51. 22 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, PreußMdI, Revisionsbericht über die Girozentrale Königsberg 1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
kreditzwecke benutzt. Der Kapitalmangel in Danzig und Ostpreußen, der infolge der Grenzziehung besonders gravierend war, erreichte mit dem Ausbruch der ostdeutschen Metallindustriekrise von 1925 einen Höhepunkt. Angesichts der ungünstigeren Wirtschaftsverhältnissen des Danziger Bezirks sowie der vielfach dubiosen Forderungen an polnische Gläubiger war das genannte Guthaben als gänzlich verloren anzusehen. Dagegen fielen in die Hand der Girozentrale allein die als Hypotheken aufgenommenen Grundstücke, welche auf Grund der schwebenden Rechtsverhältnissen im Danziger Gebiet keine Sicherheit darstellten. Dieser Fehlschlag der Girozentrale für die Ostmark bei der Hilfsaktion für das Danziger Gebiet rief stürmische Kritik der Deutschen Girozentrale Berlin an der Geschäftsführung der Girozentrale Königsberg hervor, wobei insbesondere die Kriterien der Kreditgewährung beanstandet wurden.23 In der Sitzung der Deutschen Girozentrale im November 1925, die zur Lösung dieser prekären Verhältnisse unter Teilnahme eines Vorstandsmitglieds des Giroverbandes für die Ostmark stattfand, wurden der Mißgriff der Danziger Girobank bei der riskanten Betätigung im Privatkreditgeschäft sowie die dadurch verursachte Illiquidität der Girozentrale Königsberg und deren erhöhte Verschuldung bei der Deutschen Girozentrale mit besonderer Härte kritisiert. Auch Vorwürfe gegen die Handhabung seitens des Verbandsvorstehers, Lohmeyer, waren nicht zu vermeiden. So stellte der Aufsichtsrat der Deutschen Girozentrale Berlin fest, daß er „nicht mehr das volle Vertrauen zu der Geschäftsleitung der Girozentrale für die Ostmark“ habe.24 Zur Sanierung der Institute von Danzig und Königsberg einigte man sich letztlich auf die Einleitung eines Hilfsprogramms, vor allem auf die Gewährung einer Sanierungsanleihe der Deutschen Girozentrale für die Girozentrale für die Ostmark von 10 Millionen RM zum Zinssatz von 6 % (seit 1927 aber 5 %), von deren Erlös 8 Millionen für die Sanierung der Danziger Girobank zu verwenden waren.25 Folge der Aufnahme dieser Sanierungsanleihe war es, daß die 23 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, PreußMdI, Revisionsbericht über die Girozentrale Königsberg 1925. 24 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, Aufsichtsrat der Deutschen Girozentrale, Sitzung Nr. 31, 14.11.1925. 25 „Um eine ruhige Abwicklung der Geschäfte der Danziger Girobank A. G. zu ermöglichen, hat der Verband im abgelaufenen Jahre mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde bei der Deutschen Girozentrale Berlin eine Anleihe in Höhe von 10 Millionen Reichsmark abgeschlossen. Der Erlös dieser Anleihe ist der Bankanstalt des Verbandes, der Giro-Zentrale (Kommunalbank) für die Ostmark, zur Verfügung gestellt worden, zu zahlen. Der Zinssatz betrug im Jahre 1926 6 %, seit dem 1. Januar 1927 5 %; die Tilgung beträgt 2 % vom 6. Jahre ab, doch ist dem Verband eine stärkere und frühere Tilgung anheimgestellt. Obschon die genaue Höhe der bei der Danziger Girobank entstandenen Verluste erst nach vollständiger Abwicklung der in Frage kommenden Engagements zahlenmäßig angegeben werden kann, hat die Giro-
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Aufsicht und Kontrolle der Deutschen Girozentrale Berlin über die Betriebsführung der Girozentrale für die Ostmark in Königsberg erheblich verstärkt wurde. Zum einen wurde der Girozentrale die Verpflichtung auferlegt, ihre Überschüsse vornehmlich für die Verzinsung und Tilgung dieser Anleihe zu verwenden. Zum anderen wurde ein Vertreter des Vorstands der Deutschen Girozentrale Berlin, Hermann Jursch,26 in den Vorstand sowie den Finanzausschuß der Girozentrale für die Ostmark entsandt,27 während der bisherige Geschäftsführer und gleichzeitig stellvertretende Verbandsvorsteher des Giroverbands für die Ostmark, Lohr, von diesen von Jursch übernommenen Ämtern zurücktrat.28 Interessant ist vor allem, daß die Girozentrale Königsberg bei diesem Anlaß die Aufmerksamkeit der Berliner Zentralstellen insbesondere auf die Problematik der Betriebsleitung in der Arbeitsgemeinschaft mit der Königsberger Stadtbank, vor allem auf die Ungleichheit im Kreditentscheidungsverfahren, zu lenken versuchte, obwohl die Stadtbank an dem Fehlschlag des Danziger Geschäfts nicht unmittelbar beteiligt war. Die Aufsichtsbehörde stellte bei der Sonderrevision von 1925, die im September vom Preußischen Ministerium des Innern sowie im November von der Zentralrevisionsstelle des Giroverbands durchgeführt wurde,29 als strukturelles Problem der Königsberger Arbeitsgemeinschaft fest, daß die Rechte der Girozentrale bei der Beteiligung an der Königsberger Stadtbank nicht ausreichend gewahrt seien. Vor allem wurde die dominante Stellung des Magistrats der Stadt Königsberg in der Kreditentscheidung scharf kritisiert.30 Daher empfahl die Aufsichtsbehörde, die Rechte der Girozentrale in der Betriebsführung der Stadtbank entsprechend ihrer KapiZentrale Königsberg vorsorglich von dem Erlös der Anleihe einen Betrag vom 8 Millionen RM zu Abschreibungen verwandt. […] Der über die 8 Millionen Reichsmark hinausgehende Anleihebetrag von 2 Millionen RM sollte zur Verstärkung der Betriebsmittel der Giro-Zentrale Königsberg dienen.“ Geschäftsbericht des Kommunalen Spar- und Giroverbandes für die Ostmark und seiner Bankanstalt der Giro-Zentrale (Kommunalbank) für die Ostmark in Königsberg Pr. über das Jahr 1926, S. 6. 26 Hermann Jursch (1867–1946) war der Geschäftsführer des Deutschen Zentral-Giroverbandes seit dessen Gründung von 1916, außerdem geschäftsführender Direktor der Deutschen Girozentrale (Deutschen Kommunalbank). Dazu siehe Ashauer (1991). 27 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Bd. 1, Niederschrift über die außerordentliche Sitzung des Ausschusses des Kommunalen Spar- und Giroverbandes für die Ostmark vom 2.10.1926. 28 Geschäftsbericht des Kommunalen Spar- und Giroverbandes für die Ostmark und seiner Bankanstalt der Giro-Zentrale (Kommunalbank) für die Ostmark in Königsberg Pr. über das Jahr 1926, S. 5. 29 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1925, S. 176. 30 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, PreußMdI. Revisionsbericht über die Girozentrale Königsberg 1925.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
talbeteiligung (50 %) zu stärken und der Girozentrale volle Einsicht in das Gesamtgeschäft der Stadtbank zu ermöglichen.31 Hierzu nannte der Revi sionsbericht als Lösungsmöglichkeit z. B. die Einsetzung eines Kreditausschusses anstelle des bisher vom Stadtkämmerer übernommenen Amt des Kurators, damit die Vertreter der Girozentrale in diesem Ausschuß von allen Geschäften der Stadtbank unterrichtet werden konnten. Nach dieser Krise erhob die Girozentrale Königsberg zunehmend Anspruch auf eine stärkere Mitwirkung am Kreditentscheidungsverfahren der Königsberger Stadtbank. Das Russenkreditgeschäft, das die Stadtbank als ihre wichtigste Aufgabe ansah, geriet dadurch zur Hauptstreitsache zwischen der Königsberger Stadtbank und der Girozentrale Königsberg, auf die wiederum die Deutsche Girozentrale Berlin ihren Einfluß verstärkte. b) Das Russenkreditgeschäft und die Bahntariffrage Nach dem Ersten Weltkrieg richteten der Magistrat und die Handelskammer alle Anstrengungen darauf, der Stadt Königsberg den Weg nach dem Osten zu ebnen, um so das einst blühende Rußlandgeschäft, welches das Rückgrat ihres Wirtschaftslebens bildete, wiederherzustellen. Das Hülsenfrüchtegeschäft, insbesondere der Linsenhandel, sollte wieder nach dem Hafen Königsberg herangezogen werden, um auf diesem Wege die Sonderstellung Königsbergs als größtem Hülsenfrüchtemarkt in Europa wieder zuerlangen. Selbstverständlich war dieser Handel traditionell eng mit der Kreditgewährung verbunden. So setzte man sich nach dem Krieg unter Führung des Magistrats für die Finanzierung des russischen Hülsenfrüchtehandels ein. Dies betrachtete die Stadtverwaltung zugleich als so zialpolitische Aufgabe, da man von der Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts im Hafen Königsberg Impulse für den Arbeitsmarkt sowie die Stadtwirtschaft insgesamt erwartete. Alle Initiativen des Magistrats und der Handelskammer, wie die Gründung der Ostmesse, die Beteiligung an der Moskauer Ausstellung von 1923, der Aufbau des Wirtschaftsinstituts, der Betrieb des Flughafens, die Errichtung des neuen Hafens usw., waren Bestandteile der Werbung für Königsberg, die den Getreide- und Hülsenfrüchtehandel wieder an diese Hafenstadt heranziehen sollte. Mit äußerster Anstrengung gelang es schließlich dem Magistrat und der Handelskammer, die Bestimmungen des alten deutsch-russischen Handelsvertrags von 1894, nämlich des Schlußprotokolls zu Artikel 19, das in jener Zeit dem Hafen Königsberg eine Sonderstellung als Exporthafen für russi31 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, PreußMdI, Revisionsbericht über die Stadtbank Königsberg 1925.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens713
sche Hülsenfrüchte gewährt hatte, im deutsch-sowjetischen Handelsvertrag von 1925 erneut zu verankern. Im Eisenbahnabkommen des Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 wurde die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen dem Hafen Königsberg und den nicht zur UdSSR gehörenden Ostseehäfen, also den Häfen von Polen bis Estland, im Eisenbahnverkehr mit der UdSSR gewährt. Nicht zuletzt wurde die Aufstellung direkter Tarife sowie durchgehender Staffeltarife von den sowjetischen Stationen bis zum Hafen Königsberg unter Voraussetzung der Mitwirkung der Transitstaaten vorgesehen. Dennoch unterschied sich die Bestimmung des Artikel 4 des neuen Eisenbahnabkommens von dem alten Schlußprotokoll zu Artikel 19 wesentlich dadurch, daß die Ostseehäfen außer Königsberg, also Danzig, Memel, Riga sowie Libau, welche früher zu Deutschland und Rußland gehört hatten, diesem bilateralen Vertrag zwischen Deutschland und der UdSSR nicht mehr unterworfen waren. Polen und die baltischen Staaten waren selbstverständlich nicht dazu verpflichtet, den Bestimmungen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags und des Eisenbahnabkommens beizutreten. Daher war es notwendig, zur Durchführung des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens weitere Verträge mit den Transitstaaten abzuschließen. Da diese selbst eigene Ostseehäfen besaßen, waren sie freilich nicht dazu bereit, dem Hafen Königsberg die Stellung eines russischen Exporthafens zuzusprechen. Die selbstständig gewordenen Oststaaten strebten ihrerseits an, sich in das Hafengeschäft mit der UdSSR an der Ostsee einzuschalten. Unter diesen Umständen war es eine besonders schwierige Aufgabe, die Transitstaaten zur Einführung durchgehender Staffeltarife von den sowjetischen Stationen bis zum Hafen Königsberg zu bewegen. Die Schwierigkeiten zur Wiederherstellung der eisenbahntariflichen Regelung des Häfenwettbewerbs ergaben sich aber nicht nur aus dem Widerstand der Transitstaaten, sondern auch aus den wirtschaftlichen bzw. fiskalischen Interessen Deutschlands und Rußlands selbst. Die UdSSR hatte es schon während der Eisenbahnverhandlungen stets abgelehnt, die Häfen Leningrad / Petersburg sowie Odessa in die Regelung des Häfenwettbewerbs einzubeziehen. Das Eisenbahnabkommen bot deshalb der UdSSR die Möglichkeit, die Häfen Leningrad und Odessa als Export- und Importhäfen der UdSSR mit Hilfe der Eisenbahntarifpolitik zu fördern. Die UdSSR war zwar in den ersten Jahren nach dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags darum bemüht, den Wünschen der Königsberger Handelskammer nachzukommen.32 Sie sah es aber als ihre volkswirtschaftliche 32 BA, R 5 / 321, Deutsches Generalkonsulat Memel an AA, 13.11.1926. Bei den litauisch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen lehnte Stomonjakov den Wunsch Litauens nach der Gleichbehandlung Memels mit Königsberg ab. Die sowjetische Delegation ließ lediglich zu, den Memeler Hafen mit den Häfen Riga, Libau und Reval gleichzustellen, nicht aber mit dem Königsberger Hafen.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Aufgabe an, das Im- und Exportgeschäft im Hafen Leningrad zu fördern. Sie engagierte sich deshalb für die Modernisierung der dortigen Hafenanlagen. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre trat die Bevorzugung des Hafens Leningrad auch in der sowjetischen Eisenbahntarifpolitik deutlich zutage. Der gesamte Umschlag im Hafen Leningrad / Petersburg war zwar nach dem Krieg außerordentlich gesunken und erreichte lediglich ca. 23 % (Jahresdurchschnitt von 1921–25) der Vorkriegszeit (1909–1913). Dennoch erholte er sich relativ schnell. Der Güterumsatz war 1925 schon um rund 276 % höher als 1921.33 Zwangsläufig war der Königsberger Hafen einer scharfen Konkurrenz nicht nur mit den Häfen von Danzig, Memel sowie Riga, sondern auch mit Leningrad ausgesetzt. Für Königsberg wurde die Herabsetzung der Frachtkosten im russischen Transithandel nun zur Lebensfrage. Um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, beantragte die Königsberger Handelskammer nach dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags wiederholt die Einführung von Staffeltarifen. Die Oststaaten nutzten hingegen die Zulassung oder Ablehnung des Transitverkehrs zwischen Königsberg und der UdSSR als stärkstes wirtschaftspolitisches Mittel gegen Deutschland und die UdSSR aus. Die Einführung durchgehender Staffeltarife wurde somit zu einer hochpolitischen Frage zwischen der UdSSR, den baltischen Staaten, Polen sowie Deutschland. Infolge der Grenzziehung und der Verselbständigung der russischen Randstaaten verminderten sich nach dem Krieg die wirtschaftlichen Vorteile der Einführung direkter Tarife für die sowjetische Bahnverwaltung erheblich.34 Außerdem war die UdSSR nicht mehr in der Lage, Getreide und Hülsenfrüchte in ausreichendem Maße zu exportieren. Sie versuchte gleichwohl, den Wettbewerb zwischen den Häfen Königsberg, Danzig, Riga sowie Rotterdam um die sowjetische Hülsenfrüchteausfuhr voll auszunutzen. Für die Zusicherung des Exports über den Hafen Königsberg verlangte deshalb die UdSSR die Übernahme finanzieller Kompensationen. Mindestbedingung hierfür war es, der sowjetischen Handelsvertretung die Vorschußzahlung, vor allem günstigere Kredite zu gewähren. Mit dem Abschluß des deutschsowjetischen Handelsvertrags waren deshalb der Magistrat der Stadt und die Handelskammer Königsberg vor die Aufgabe gestellt, die betroffenen Eisenbahnverwaltungen zur Einführung durchgehender Staffeltarife zu bewegen und zugleich die Kreditwünsche der UdSSR zu erfüllen. Nur so konnte der russische Getreide- und Hülsenfrüchteexport wieder nach Königsberg herangezogen und die einstige Spitzenstellung der Stadt auf diesem Gebiet wiedererlangt werden. 33 „Der
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Leningrader Handelshafen“, in: OEM, 6. Jg / Nr. 24, 15.9.1926, S. 1 ff. PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 146, Abschrift, AA, 16.5.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens715
Zur Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit mit den Nachbarhäfen nahm deshalb der Magistrat die Modernisierung und Vergrößerung des Königsberger Hafens in Angriff. Dieses Bauvorhaben hatte seinen Ursprung allerdings bereits in der Vorkriegszeit.35 Nach dem Krieg wurden für die abgetrennte Provinz neben den Mitteln der Stadt im Sinne der Wirtschaftsförderung auch Zuschüsse von Reich und Preußen eingesetzt. Die ursprünglich geplanten fünf Hafenbecken mußten allerdings auf drei reduziert werden. Die Bauarbeiten, die in der Notsituation der Nachkriegszeit durchgeführt wurden, konnten im Juni 1924 zum 200jährigen Jubiläum der vereinigten Stadt Königsberg vollendet werden. Der neue Königsberger Hafen, der damals als größte Bauleistung in Deutschland nach dem Krieg gepriesen wurde, bestand aus drei Hafenbecken (Handelshafen, Holzhafen sowie Freihafenbezirk) mit dem europaweit größten Getreidespeicher, hochmodernen elektronischen Maschinenanlagen usw. Der Hafen wies einen Gleisanschluß auf. Die bisher auf mehrere Stadtteile verstreute Großindustrie wurde einheitlich ins Hafengebiet umgesiedelt.36 Die kostspielige Hafenerweiterung (ca. 85 Millionen Goldmark) rentierte sich jedoch nur, wenn der Transitverkehr zwischen Königsberg und der UdSSR wiederhergestellt würde und die russischen Waren wieder wie früher nach Königsberg transportiert würden. In diesem Sinne sahen der Magistrat und die Stadtbank Königsberg die Finanzierung der Ein- und Ausfuhroperation der UdSSR als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an. In der Vorkriegszeit hatte die Stadt noch über einen kapitalkräftigen, absolut vertrauenswürdigen Kaufmannstand verfügt, der auf eigene Rechnung erhebliche Abschlüsse übernehmen konnte. Nach dem Krieg änderten sich aber die Verhältnisse der Königsberger Wirtschaftskreise durch die langjährige Einstellung der Lieferung von Getreide, Hülsenfrüchten und Holz in außergewöhnlichem Maße. Von den Konkursen der Getreide- bzw. Holzhandelsfirmen war fast täglich die Rede. Daher waren der Magistrat und sein Bankinstitut bereit, anstelle der Privatbanken und Getreidehändler die Finanzierung der Außenhandelsoperationen im Königsberger Hafen zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund war es verständlich, daß der Magistrat von Königsberg z. B. 1923 bei seiner Beteiligung an der Allrussischen Landwirtschaftsausstellung in Moskau seinen ganzen Pavillon ausschließlich der Vorstellung des neuen Hafens gewidmet hatte.37 Die mit der Werbung für 35 Kutschke (1930), S. 20 ff. Siehe auch Bericht über die Studienreise der HafenDeputation der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Westen und nach Rußland im Frühjahr 1914, im Auftrage der Hafen-Deputation verfaßt durch Stadtbaurat Kutschke, Königsberg 1914. 36 GStA PK, I. HA, Rep. 120, C VII, 1, Nr. 39. 37 „Die Deutsche Ostmesse auf der Moskauer Ausstellung“, in: OEM, 3. Jg. / Heft 21, 1.8.1923, S. 8 f. Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1923,
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
den Königsberger Hafen verbundenen Finanzierungsverhandlungen spielten auch beim Besuch der Delegation der Königsberger Stadtbank in Charkow im November 1924 eine wichtige Rolle. Die aus Stadtbankdirektor Wirtz sowie Bankkurator und Stadtkämmerer Lehmann u. a. vertretene Stadtbankdelegation sprach mit dem ukrainischen Außenkommissariat über die Möglichkeiten der Finanzierung ukrainischer Ausfuhren über den Hafen Königsberg.38 Auch bei der Verhandlung über Artikel 4 des Eisenbahnabkommens in den Jahren 1924 / 25 waren der Vertreter des Magistrats, Schultz, sowie der Handelskammervertreter, Syndikus Berner, stets darum bemüht, die UdSSR von den besonderen Vorteilen des Exports über den Hafen Königsberg zu überzeugen. Zur Förderung des Außenhandels über Königsberg benötigte die UdSSR Vorschußzahlungen für den Getreideexport sowie für den Ankauf der Agrarprodukte bei ihren Produzenten. Das am 15. Juli 1925 in Kraft getretene Tarifabkommen zwischen Ostpreußen, Lettland, Litauen sowie der UdSSR gewährte dem Transitverkehr zwischen Königsberg und der UdSSR eine durchschnittlich 25%ige Ermäßigung. Schon in den ersten 14 Tagen nach der Inkraftsetzung trafen ca. 100 Güterwaggons mit Hülsenfrüchten aus der UdSSR in Königsberg ein.39 Dennoch war die Wirkung dieser Ermäßigungstarife, die keine durchgehenden Staffeltarife darstellten, stark eingeschränkt. Zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit des Königsberger Hafens wurde deshalb die weitere Senkung der Frachtkosten und eine umfassendere Finanzierung des russischen Außenhandels als notwendig erachtet. Die schon lange vorbereiteten Kreditverhandlungen für die Ein- und Ausfuhroperationen der UdSSR in Königsberg wurden erst im August 1926, also für die erste Ernte nach dem Inkrafttreten des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags abgeschlossen. Das erste Getreidekreditabkommen zwischen der Stadtbank Königsberg und der Handelsvertretung der UdSSR zur Finanzierung der russischen Hülsenfrüchte, die über den Hafen Königsberg verfrachtet werden sollten, kam im August 1926 zustande. Hierbei räumte die Stadtbank der sowjetischen Handelsvertretung einen Lombardkredit vom 1,5 Millionen RM auf 8 % Zinsfuß ein. Dabei übernahm die Stadt Königsberg mit Zustimmung der Stadtverordnetenversammlung die selbstschuldnerische Bürgschaft. An diesem ersten, verhältnismäßig bescheidenen AbkomS. 86. Der Magistrat verteilte außerdem Karten und Prospekte des Königsberger Hafens an mehrere Schulen in der UdSSR. 38 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 85, Übersetzung von Iswestja vom 19.11.1924. Bl. 87, Deutsche Ostmesse Königsberg an OPO, Übersetzung aus der Ekon. Shisnj als Anlage, 26.11.1924. 39 „Der deutsch-russische Eisenbahnverkehr“ in: Königsberger Allgemeine Zeitung, Nr. 479, 13.10.1925.
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men waren keine anderen Kreditinstitute beteiligt.40 Neben diesem Lombardkredit wurde am 6. September 1926 ein Vertrag zwischen der Hafenbetriebsgesellschaft m. b. H., einem der städtischen Sonderbetriebe, und der sowjetischen Handelsvertretung zum Zweck zur Vermietung der Lagerräume und Speicheranlagen für die Dauer von drei Jahren abgeschlossen.41 Gleichzeitig wurde der bisherige Mietvertrag zwischen der Hafenbetriebsgesellschaft und der Internationalen Warenaustausch-Aktiengesellschaft (IWA) gekündigt,42 weil die Handelsvertretung der UdSSR, die sich gerade in einem prekären politischen Verhältnis zu Großbritannien befand, den Untermietervertrag mit der von englischen und französischen Unternehmern finanzierten IWA nicht verlängern wollte.43 Die schädliche Wirkung der IWA auf das Rußlandgeschäft wurde von seiten der Königsberger Importeure wiederholt beklagt.44 Aufgabe dieser von der Stadtverwaltung abgeschlossenen Verträge war es, das Rückgrat des Königsberger Rußlandgeschäfts, das Hülsenfrüchtegeschäft, schnell und stabil wiederaufzubauen. Seit Kriegsausbruch, also über zehn Jahre lang, war der Handel mit russischen und ukrainischen Hülsenfrüchten im Hafen Königsberg unterbunden gewesen, was der Wirtschaftslage der Stadt sehr abträglich war. Angesichts der scharfen Konkurrenz mit dem Hafen Rotterdam, der an den Export- und Importoperationen der russischen Hülsenfrüchte ebenfalls großes Interesse hatte, mußte der Magistrat erhebliche Opfer bringen.45 Dank der großzügigen Kreditbedingungen der Stadtbank (bis hin zur Ausgabe von Blankokrediten) gelang es der Königsberger Wirtschaft, wenigstens die Monopolstellung im russischen Linsenhandel wiederzuerlangen. Die Handelsvertretung der UdSSR bestätigte in der beim Abschluß des ersten Getreideabkommens mit der Stadtbank abgegebenen Presseerklärung, „daß kein Pfund russischer Linsen ohne Zustimmung des Königsberger Bevollmächtigten der Handelsvertretung der UdSSR verkauft werden soll.“46 Die Kreditgewährung für den Getreide- und Hülsenfrüchtehandel war selbstverständlich nicht neu, sondern hatte eine lange Tradition in diesem 40 „Der Königsberger Russenkredit. Eine Darstellung des Magistrats“ in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 400, 27.8.1926. 41 „Rußland mietet Speicher im Königsberger Hafen“, in: OEM, 6. Jg / Nr. 24, 15.9.1926, S. 6 f. 42 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1926, S. 164. 43 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 177, Abschrift, Magistrat Königsberg an RFM, 19.8.1926. 44 Rußland mietet Speicher im Königsberger Hafen“, in: OEM, 6. Jg. / Nr. 24, 15.9.1926, S. 6 f. 45 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7714, Abschrift, Magistrat Königsberg an RFM, 8.4.1930. 46 Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 420, 8.9.1926.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Geschäft, das immer schon auf Vorschußzahlungen basierte. Der Königsberger Kaufmann bevorschußte durch Kommissionäre die russischen Hülsenfrüchte, ließ sodann diese Waren verladen und nach Königsberg auf dem Bahnwege transportieren. In den mit hochmodernen Maschinenanlagen ausgestatteten Königsberger Hafenspeichern wurden die Hülsenfrüchte sortiert und veredelt. An der Königsberger Börse wurde der Preis gebildet und schließlich wurde die Ware nach dem Ausland verschifft. An diesem Geschäft waren mehrere Zwischenhändler (Kommissionäre, Makler, Exporteure), Bankinstitute, Transporteure, Reedereien, Mühlenfabrikanten, die Lebensmittelindustrie usw. beteiligt. Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich jedoch das Handelssystem in Rußland grundlegend. Der Außenhandel der UdSSR wurde unter dem Grundsatz des Außenhandelsmonopols staatlich kontrolliert und zentralisiert. Im Ausland wurden sowjetische Handelsvertretungen, die dem Außenhandelskommissariat (später Handelskommissariat) unterstanden, eingerichtet. Die ausländischen Firmen durften nur mit dieser Vertretung oder mit den unter Kontrolle der Handelsvertretung stehenden Genossenschaftsvertretungen (z. B. Zentrosojus) oder Handelsorganisationen (Holztrust usw.) Kaufverträge abschließen. Auf diese Weise waren die Handelsvertretungen der UdSSR selbst als Händler an allen maßgebenden Plätzen der Welt tätig. Die Vermittlung der Kommissionäre, die in Königsberg ausschließlich in der Hand jüdisch-russischer Händler gelegen hatte, wurde unter dem sowjetischen Handelssystem völlig ausgeschaltet. Für den Getreidehandel war nun Exportchleb in Moskau zuständig, das den gesamten Getreideexport der UdSSR kontrollierte. Exportchleb besaß Auslandsvertretungen, die normalerweise der Handelsvertretung als deren Getreideabteilung angegliedert waren. In Deutschland unterhielt es Filialen in Hamburg und Königsberg. Für das Getreide- und Hülsenfrüchtegeschäft mit Königsberg wurde unmittelbar nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags, am 15. Oktober 1925, das Königsberger Getreidekontor der UdSSR, also die Filiale von Exportchleb bei der sowjetischen Handelsvertretung in Königsberg eröffnet.47 Das 1924 gegründete Konsulat der UdSSR in Königsberg machte den ersten Schritt in dieser Richtung.48 Sowohl die Königsberger Geschäftsstelle der sowjetischen Handelsvertretung als auch 47 „Königsberg und das Russengeschäft“, in: OEM, 8. Jg. / Nr. 1, 1.10.1927, S. 1 f. 48 Im Zusammenhang mit der Ostmesse wurde seitens des Magistrats und der Handelskammer die Eröffnung des sowjetischen Konsulats sowie der Filiale der Berliner sowjetischen Handelsvertretung in Königsberg gewünscht. Es erschien besonders praktisch und sogar notwendig, in der von Berlin durch den Korridor abgetrennten Provinz diese sowjetischen Behörden anzusiedeln, um so im Handelsgeschäft zwischen Königsberg und Rußland keine unnötigen Störungen auftreten zu lassen. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 1, OPO an AA, 31.7.1922. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 1, Abschrift, Pieper (Generalsekretär der
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das Konsulat zogen zunächst in den Handelshof am Hansaring.49 Das Haus war ursprünglich durch den Magistrat für die Deutsche Ostmesse als städtischer Sonderbetrieb (Handelshof G. m. b. H.) eingerichtet worden. Im Jahr 1925 zog außerdem der größere Teil der Stadtverwaltung aus dem alten Rathaus hierhin um. Anläßlich des Amtsantritts des neuen Leiters der Königsberger sowjetischen Handelsvertretung, A. J. Jabin, im April 1926 verließen die beiden Geschäftsstellen (Konsulat und Handelsvertretung) den Handelshof und zogen in die Räume des neuen Stadtbankgebäudes in der Brotbankenstraße ein.50 Auf diese Weise wurde eine enge Fühlungnahme zwischen der Königsberger Stadtbank sowie dem Magistrat einerseits und der Handelsvertretung der UdSSR andererseits hergestellt. Das Linsengeschäft für das Erntejahr 1926 / 27 war dadurch zwar gesichert. Das war jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Oberbürgermeister Lohmeyer versuchte, neben diesem kleinen Kreditabkommen das Reichsfinanzministerium zur Finanzierung des russischen Getreidehandels im Hafen Königsberg zu veranlassen. Während des Besuchs des Reichsfinanzministers auf der Königsberger Ostmesse Mitte August 1926 beantragte der Magistrat, zu diesem Zweck der Stadtgemeinde Königsberg Pr. einen kurzfristigen Kredit von 8 Millionen RM auf die Dauer von mindestens 6 Monaten zum jeweiligen Reichsbankdiskontosatz gegen Schuldschein zu gewähren.51 Obwohl sich der Reichsfinanzminister für dieses Geschäft zunächst sehr interessiert hatte, teilte er schließlich mit, daß die Verwendung von Reichsmitteln unmöglich sei. Er wies den Magistrat jedoch auf die Möglichkeit hin, mit einem von der Reichskreditgesellschaft zu leitenden Bankenkonsortium zu verhandeln. Das aus der Reichskreditgesellschaft, der Preußischen Staatsbank sowie den zwei Privatbanken Mendelsohn Co. Berlin sowie M. M. Warburg & Co. Hamburg gebildete Konsortium erklärte sich zwar bereit, der Stadt Königsberg einen Kredit von 4 Millionen RM zum Zinssatz von 7,25 % zu gewähren. Hierzu stellte jedoch die Reichskreditgesellschaft als Konsortiumsführer zwei Bedingungen. Zum einen mußte der Wechsel zum Diskonto (Aussteller: Stadtgemeinde, Akzeptant: StadtHandelsvertretung der UdSSR) an OPO, 24.11.1923. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 1, OPO an PreußHM, 10.12.1923. 49 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 140, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten, Die amtlichen Organen der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken in Deutschland, 15.12.1925. 50 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 145, Bevollmächtigter Vertreter der Handelsvertretung der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken in Deutschland für Ostpreußen an OPO, 8.4.1926. Siehe auch Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1927, S. 196. 51 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 161, Lohmeyer an Frankenbach, 23.8.1926. Bl. 177, Abschrift, Lohmeyer an RFM, 19.8.1926.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
bank) eingereicht werden. Dies mußte aber infolge des Wechselstempels die Kredite verteuern, so daß der vorgesehene Zinssatz auf 7,65 % anstieg. Diese Bedingung erschien dem Magistrat besonders hart, weil er nur einen Kredit von 8 Millionen RM auf max. 6 % Zinsfuß für tragbar hielt. Der vom Konsortium vorgeschlagene Zinssatz von 7,65 % schien deshalb völlig unmöglich zu sein, weil die Stadtbank diesen Kredit auf max. 8 % Zinsfuß der sowjetischen Handelsvertretung weitergeben mußte. Die sowjetische Handelsvertretung gab der Stadtbank zu verstehen, daß ein Zinssatz über 8 % nicht akzeptabel sei. Mit Rücksicht auf die weiteren Kreditverwaltungskosten usw. hätte deshalb diese Kreditaufnahme der Stadtgemeinde beim Bankenkonsortium des Reichs ein Verlustgeschäft zur Folge haben müssen.52 Zum anderen ließ das Konsortium den Zweck der Weitergabe dieses Kredits darauf beschränken, daß der Kredit nur als Lombardkredit gegen Lagerscheine der sowjetischen Handelsvertretung weitergegeben werden dürfe. Diese Lagerscheine mußten außerdem dem Oberbürgermeister als Treuhändler des Konsortiums weiter verpfändet werden. Eine vorübergehende Rückzahlung sollte dann auf ein Sperrkonto eingezahlt werden. Diese Bedingungen brachten deshalb Schwierigkeiten mit sich, weil der Kreditbedarf des sowjetischen Getreidehandels sich nicht nur auf den reinen Lombardkredit beschränkte. Der größte Teil der Kredite im Rußlandgeschäft wurde auf die Vorschußzahlung für den angeblichen Getreideankauf des Sowjetstaats bei seinen Produzenten verwendet. Die sowjetische Handelsvertretung bestand darauf, keine Waren ohne Vorschußzahlung nach Königsberg zu schicken.53 In diesem Sinne war das erste Kreditabkommen der Stadtbank nicht als reiner Lombardkredit zu fassen. Der Betrag war ausgegeben worden, ehe die russischen Waren in Königsberg eintrafen. Mit Rücksicht auf diese Tatsachen war Oberbürgermeister Lohmeyer gezwungen, die Kreditbedingungen des Bankenkonsortiums zurückzuweisen. Er versuchte zuerst, mit Hilfe des Oberpräsidenten auf Reich und Preußen einzuwirken, um das Bankenkonsortium zur Ermäßigung des Zinssatzes sowie zur Aufhebung seiner strengen Lombardkriterien zu bewegen.54 Die Frage des Russenkreditgeschäfts in Königsberg stellte wesentlich eine Maßnahme zur Förderung der regionalen Wirtschaft dar und sollte deshalb nicht im Sinne eines reinen bankmäßigen Geschäfts betrachtet werden. Oberpräsident Siehr stimmte mit Lohmeyer vollkommen überein. Obwohl Siehr sowie der Ostpreußische Vertreter Frankenbach sich dafür einsetzten, hielten 52 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 187, Magistrat an OPO, 30.10.1926. 53 Ebd. 54 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 175, Magistrat an OPO, 25.9.1926. Bl. 178, OPO an PreußMdI, 7.10.1926.
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sich aber die Zentralministerien damit zurück, auf das Bankenkonsortium einzuwirken.55 Bei einer Besprechung zwischen Stadtkämmerer Lehmann und dem Bankenkonsortium Mitte Oktober 1926 lehnte es die Reichskreditgesellschaft strikt ab, den Zinsfuß herabzusetzen. Inzwischen rückte der Termin der vorgesehenen Kreditvergabe für das neue Wirtschaftsjahr der sowjetischen Landwirtschaft in greifbare Nahe. Unter diesen Umständen blieb dem Magistrat nichts anderes übrig, als sich zunächst mit den vom Konsortium gestellten Kreditbedingungen einverstanden zu erklären. Aus Sicht des Magistrats und der Stadtbank erschien vor allem der Ausgangszinssatz von 7,25 % im Hinblick auf den niedrigen Privatkontosatz (damals ca. 5 % sowohl bei der Reichskreditgesellschaft als auch bei der Preußischen Staatsbank)56 als ungerechtfertigt hoch. Bürgermeister Goerdeler beklagte sich, „daß derartige erschwerende Bedingungen keinem privaten Geldgeber seitens der Reichskredit AG zugemutet werden.“57 Aus diesem Gründen entschloß sich der Magistrat letztlich, die vorläufige Annahmeerklärung zurückzuziehen und das zweite Kreditabkommen mit der UdSSR wiederum aus eigener Kraft abzuschließen.58 Die Stadtbank räumte somit der sowjetischen Handelsvertretung, ohne Beteiligung anderer Kreditinstitute, für das neue Erntejahr 1926 / 27 einen Vorschußkredit von 4 Millionen RM für Futtermittel, vor allem Ölkuchen und Gerste (je 10.000 t), sowie einen Lombardkredit von 6 Millionen RM für die Hülsenfrüchte (40.000 t) ein.59 Die Steigerung der Getreidelieferung aus der UdSSR nach Königsberg war ausschließlich auf diese Kreditmaßnahme der Stadtbank zurückzuführen. Trotz dieser außerordentlichen Anstrengung des Magistrats ließ sich der alte Zustand (1913: 600.000 t) keineswegs wieder erreichen. Die Königsberger Wirtschaft sah sich deshalb gezwungen, die Frachtkosten von der UdSSR bis Königsberg weiter zu senken. Dazu kam in erster Linie die Einführung durchgehender Staffeltarife von der UdSSR über die baltischen Staaten bis Königsberg in Betracht, 55 GStA 56 GStA
PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 190, OPV, 1.12.1926. PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 178, OPO an PreußMdI,
7.10.1926. 57 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 187, Magistrat (Goerdeler) an OPO, 30.10.1926. 58 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 187, Magistrat an OPO, 30.10.1926. Bl. 198, Magistrat (durch die Hand des OPO) an AA, 5.5.1927. 59 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1926, S. 8 sowie 180. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5, PreußHM (Leeser), Vermerk über eine Besprechung mit dem Verband der ostpreußischen IHK in Königsberg am 21.2.1927. Darin berichtete die IHK, daß der Futtermittelhandel mit Rußland sich dank der Kreditgewährung der Stadt Königsberg in recht erfreulicher Weise entwickelt habe.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
deren Durchführung im deutsch-sowjetischen Handelsvertrag von 1925 in Aussicht gestellt worden war. Auf der Verkehrskonferenz in Moskau vom 4. Mai 1926, an der die Eisenbahnverwaltungen der UdSSR, Deutschlands, Estlands, Lettlands sowie Litauens beteiligt waren, beantragten die Vertreter der Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.), unter ihnen Präsident Moeller sowie Regierungsrat Holtz, die weitere Ermäßigung der Gütertarife von den sowjetischen Stationen bis zum Königsberger Hafen. Diesem Antrag setzte aber die sowjetische Eisenbahnverwaltung, die aus fiskalischen Gründen weitere Ermäßigungen sowie die Einführung von Staffeltarifen für untragbar hielt, harten Widerstand entgegen. Das sowjetische Außenkommissariat unterstützte die Haltung der sowjetischen Eisenbahnverwaltung und des Verkehrskommissariats und teilte der deutschen Seite mit, daß letzteres zwar die politische Bedeutung des Königsberger Antrags nicht verkenne, die Eisenbahnverwaltung jedoch finanziell nicht in der Lage sei, dem deutschen Wunsch nachzukommen.60 Seit diesem Mißerfolg auf der Moskauer Verkehrskonferenz wurde die Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.), die bisher stets der Königsberger Wirtschaft zur Seite gestanden hatte, schließlich dazu genötigt, sich im Hinblick auf die Haltung der Berliner Hauptverwaltung dem Königsberger Wunsch nach Tarifermäßigungen gegenüber zurückhaltend zu verhalten. Die Hauptverwaltung der Reichsbahngesellschaft, die sich selbst in einer außerordentlich schwierigen Finanzlage befand, sah keine Veranlassung, weitere Verlustgeschäfte einzugehen. Durch die Einführung durchgehender Staffeltarife hätten jedoch alle beteiligten Eisenbahnverwaltungen Einnahmeeinbußen erleiden müssen. Die Reichsbahngesellschaft lehnte nun im Hinblick auf die bisher stets vergeblich geführten Verhandlungen mit der sowjetischen Bahnverwaltung die Aufnahme neuer Gespräche in dieser Sache ab. Inzwischen gelang es aber dem Magistrat, sich unmittelbar mit dem Moskauer Handelskommissariat in Verbindung zu setzen. Anläßlich des Moskauer Besuchs von Stadtkämmerer Lehmann erklärte sich das Handelskommissariat bereit, im Fall der Übernahme weiterer Kompensationen seitens Deutschlands auf das sowjetische Verkehrskommissariat im Sinne einer Ermäßigung der Gütertarife einzuwirken. Im Mai 1927 ersuchte Oberbürgermeister Lohmeyer deshalb mit aller Dringlichkeit das Auswärtige Amt sowie das Reichswirtschaftsministerium um die Bereitstellung wirtschaftspolitischer Kompensationen für die UdSSR. Man war sich in Königsberg bewußt, daß die Durchführung der Bestimmungen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens von 1925, vor allem die Einführung durchgehender Staffeltarife, lediglich auf diesem Wege zu erzielen war.61 60 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 146, Abschrift, AA, 16.5.1926.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens723
Obwohl die Stadtbank die Kreditmittel zur Finanzierung der russischen Hülsenfrüchte für das neue Erntejahr dringend benötigte, weil die Vorschußkredite für die Hülsenfrüchte normalerweise bis zum Spätsommer bereitzustellen waren, kam die Erledigung der Angelegenheiten nur schleppend voran. Auf Anfrage des Reichswirtschaftsministeriums sowie des Preußischen Handelsministeriums, in welcher Richtung die UdSSR, insbesondere das Verkehrskommissariat, weitere wirtschaftspolitische Kompensationen Deutschlands verlangt habe, konnte selbst der Magistrat bis Ende 1927 keine konkrete Antwort geben. Angesicht der wenig aufgeschlossenen Haltung der Zentralministerien zur Kompensationsübernahme sowie zur Unterstützung des Königsberger Kreditgeschäfts entschlossen sich Magistrat und Stadtbank, weitere Opfer auf sich zu nehmen, um so die völlige Einstellung der sowjetischen Warenlieferungen nach dem Hafen Königsberg zu vermeiden. Die russische Warenzufuhr wurde bisher lediglich im Wege der Finanzierung der Stadtbank sichergestellt. Diese war zwar nicht so groß wie in der Vorkriegszeit. Die Verpflichtungen des Kreditabkommens wurden jedoch durch die UdSSR eingehalten. Die Rückzahlung fand ebenfalls korrekt statt. Aus diesen Gründen beschloß die Stadtbank, auch für das neue Erntejahr (1927 / 28) ohne die Hilfe von Reich und Preußen mit der sowjetischen Handelsvertretung ein selbständiges Kreditabkommen abzuschließen. Die Kredite, sowohl für die Vorschußzahlung als auch für den Lombard, wurden prinzipiell im gleichen Maße wie im vorangegangenen Jahre gewährt.62 Mit dieser großzügigen Kreditvergabe, deren größter Teil außerdem als Blankokredit ausgegeben wurde, erreichte die Stadtbank ihre Finanzgrenze. Ende 1927 befand sie sich mit der Sicherungsquote von 5,9 % (Gesellschaftskapitel von 1,8 Millionen RM bei einer Bilanzsumme von 30,5 Millionen RM) kurz vor der Überschuldung.63 Die Wirtschaftskrise in Ostpreußen, insbesondere aber der Kreditmangel, der in erster Linie durch die starke Verschuldung der Landwirtschaftsbetriebe verursacht wurde, trat in der zweiten Hälfte von 1927 mit besonderer Schärfe in Erscheinung. Die sog. Ostpreußenhilfe stand gerade zwischen Reich, Preußen und der Provinz zur Debatte. Man konnte nur mit den gegenüber dem Reich deutlich höheren Zinssätzen, die als Risikoprämie zu erheben waren, Kapitalmittel nach Ostpreußen heranziehen. Unter diesen Umständen blieb dem Magistrat und den Königsberger Wirtschaftsvertretern nichts anderes übrig, als die Reichsregierung wiederum zur Übernahme der Kompensation 61
61 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 198, Lohmeyer (durch die Hand des OPOs) an AA, 5.5.1927. 62 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1927, S. 38. 63 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Bericht über die in der Zeit vom 24.3.1933–13.4.1933 erfolgte Revision der Stadtbank Königsberg Pr.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
zu bewegen und damit auf die UdSSR zur Einführung von Staffeltarifen einwirken zu lassen. 2. Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen 1928 a) Die Berliner Frühlingsverhandlungen Anfang Januar 1928 versuchten der Magistrat sowie die Handelskammer wiederholt die Aufmerksamkeit der Reichsregierung darauf zu lenken, daß die Ursache des Niedergangs der Königsberger Wirtschaft ausschließlich auf die veränderten Verkehrsverhältnisse zurückzuführen sei.64 Der Hafen Königsberg befand sich eisenbahntariflich in einer weit ungünstigeren Lage als die Häfen Leningrad, Riga, Memel sowie Danzig.65 Nach Auffassung der Königsberger Wirtschaft konnten diese Nachteile lediglich im Wege der Einführung durchgehender Staffeltarife beseitigt werden. Allerdings standen die Zentralministerien sowie die Reichsbahngesellschaft diesem Wunsch Königsbergs skeptisch gegenüber; sie betonten die Bedeutung der bereits für Ostpreußen gewährten Ermäßigungstarife der Reichsbahn. Die Handelskammer argumentierte, daß die von der Reichsbahn gewährte Ermäßigung, die lediglich die deutschen Streckenanteile betraf, keine wesentliche Wirkung auf die gesamten Frachtkosten haben könne. Denn die deutsche Strecke bildete lediglich den letzten Teil des Weges von der UdSSR über die baltischen Staaten bis zum Hafen Königsberg. Nicht zuletzt konnten die am 15. Juli 1925 in Kraft getretenen Transittarife zwischen der UdSSR, den baltischen Staaten sowie Ostpreußen, die zwar direkte Gütertarife, aber keine durchgehende Staffeltarife darstellten, die Nachteile des Königsberger Hafens nach wie vor nicht ausgleichen.66 Die Einführung durchgehender Staffeltarifen, die im deutsch-sowjetischen Handelsvertrag in Aussicht gestellt worden war, setzte die Mitwirkung der Transitstaaten voraus, vor allem von Lettland und Litauen, ggf. auch von Estland und Polen. Um diese Mitwirkung auf dem Vertragswege festzusetzen, beantragte die Königsberger Handelskammer bei den 64 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 304, Magistrat (Goerdeler) an OPO, 5.1.1928. 65 Die Fracht von Tambow (Rußland) für 1 t von Hülsenfrüchten in US-Dollar: Bei dem gegenwärtigen Transitgütertarif: 6,47 bis Leningrad, 10,73 bis Riga, 10,64 bis Königsberg. Im Fall der Einführung von Staffeltarifen: 7,53 bis Königsberg. Die Fracht von Tambow (Rußland) für 1 t von Getreide (Roggen, Weizen, Gerste, Hafer) in US Dollar: Bei dem gegenwärtigen Transitgütertarife: 6,47 bis Leningrad, 9,94 bis Riga, 11,3 bis Königsberg. Im Fall der Einführung von Staffeltarifen: 8,3 bis Königsberg, siehe GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 307, Anlage zum Schreiben des Magistrats vom 5.1.1928. 66 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 309, Abschrift, IHK Königsberg an Magistrat, 11.11.1928.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens725
Handelsvertragsverhandlungen mit Litauen, Polen sowie Lettland stets, eine Klausel aufzunehmen, durch welche die eisenbahntarifliche Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen sowie die Mitwirkung zur Einführung durchgehender Staffeltarife von der UdSSR bis Königsberg zuzusichern war. Der Abschluß des zweiten Handelsvertrags zwischen Deutschland und Litauen, der Ende Januar 1928 zum Gegenstand politischer Gespräche zwischen Stresemann und Voldemaras gemacht wurde, wurde durch diesen Wunsch Königsbergs nicht unerheblich erschwert. Im Gegensatz zum Vertrag mit Litauen verhielt sich aber das Auswärtige Amt bei den deutsch-lettischen Handelsvertragsverhandlungen von Beginn an zurückhaltend, diesen Wunsch Königsbergs gegen den Widerstand Lettlands durchzusetzen. Demzufolge kam der deutsch-lettische Handelsvertrag ohne die Aufnahme der Königsberger Klausel zustande. Die unterschiedliche Behandlung Litauens und Lettlands war in der sowjetischen Handelspolitik ebenfalls zu erkennen. Einerseits wies das Außenhandelskommissariat bei den sowjetisch-litauischen Wirtschaftsverhandlungen von 1926 den Wunsch Litauens nach Bevorzugung des Memeler Hafens im Transitverkehr der UdSSR mit der Begründung strikt ab, daß die UdSSR dazu verpflichtet sei, den Hafen Königsberg nicht ungünstiger zu behandeln als andere Ostseehäfen. Andererseits war jedoch die UdSSR nach dem Abschluß des sowjetisch-lettischen Handelsvertrags,67 der die Gleichstellung der lettischen Häfen mit den anderen Ostseehäfen im Transitverkehr der UdSSR gewährte, offensichtlich darum bemüht, den Hafen Riga mehr als bisher auf Kosten des Königsberger Hafens in Anspruch zu nehmen. Hierbei spielte die Gewährung von Krediten eine wichtige Rolle. Mitte Januar 1928 gelang es der Königsberger Wirtschaft dank den Anstrengungen des Oberpräsidenten sowie des Preußischen Handelsministe riums, die Zusage des Auswärtigen Amts zu erhalten, daß man den Antrag Königsbergs auf Einführung durchgehender Staffeltarife sowie die Frage der damit zusammenhängenden Kompensationen zum Gegenstand der bevorstehenden deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen machen werde.68 Diese Zusage ließ sich jedoch infolge des inzwischen eingetretenen deutschsowjetischen Zwischenfalls zunächst nicht realisieren.69 Seitdem die britischsowjetischen Beziehungen im Mai 1927 abermals abgebrochen worden 67 „Der lettländisch-russische Wirtschaftsvertrag“, in: OEM, 8. Jg. / Nr. 4, 15.11. 1927, S. 71 ff. Bei diesem Handelsvertrag verpflichtete sich die UdSSR, die Häfen Lettlands beim sowjetischen Güterverkehr eisenbahntariflich nicht ungünstiger zu behandeln als andere nicht der UdSSR angehörende Ostseehäfen. 68 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 297, OPO an Magistrat Königsberg, 7.1.1928. GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 321, Magistrat Königsberg an OPO, 19.1.1928. 69 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 326, PreußHM an OPO, 7.12.1928.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
waren, geriet das Russenkreditgeschäft Deutschlands in eine äußerst prekäre Lage. Das Risiko der Kreditgewährung für die UdSSR ergab sich nicht nur aus der Unsicherheit der Rückzahlung. Da die deutsche Regierung auf die Revision des Dawes-Plans größten Wert legte, verhielt sie sich bei der Vergabe weiterer Kredite an die UdSSR zurückhaltend. Es lag die Vermutung nahe, daß eine erneute Kreditgewährung bei den Westmächten Argwohn erregen würde und die deutsche Absicht, die Reparationsfrage endgültig zu lösen, vereiteln könnte. Während Ministerialdirektor Wallroth (Auswärtiges Amt) die Einstellung des Russenkreditgeschäfts als unvermeidlich ansah, hielten der Moskauer Botschafter, Brockdorff-Rantzau, sowie Dirksen die Fortsetzung der Kreditvergabe für notwendig, um den völligen Stillstand der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR zu vermeiden. Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Auswärtigen Amts wurden durch die Entschließung des Außenministers Stresemann in der Weise geregelt, bei den aufzunehmenden neuen Wirtschaftsverhandlungen mit der UdSSR die Bewilligung der sowjetischen Kreditwünsche davon abhängig zu machen, daß die Sowjetregierung den Wünschen Deutschlands entgegenkomme. Bei diesen Wirtschaftsverhandlungen mußte Deutschland zunächst die Frage der Nichteinhaltung der im deutsch-sowjetischen Handelsvertrag von 1925 eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen auf die Tagesordnung setzen. Das Reich führte Beschwerde über die gegenwärtige Imparität der Wirtschaftsbeziehungen beider Staaten sowie die unzureichende Abwicklung der Kredite von 300 Millionen RM, die mit dem Abschluß des Handelsvertrags zum Zwecke der Abwicklung des Exports der deutschen Industriewaren der UdSSR gewährt worden waren. In Berlin hatte man daher kein großes Interesse daran, schon jetzt auf die Kreditwünsche der Sowjetregierung einzugehen. Zur gleichen Zeit bahnten sich Kreditverhandlungen zwischen Frankreich und der UdSSR an, bei denen die Frage der sowjetischen Anerkennung der Vorkriegsschulden Rußlands als Gegenleistung für die Kreditgewährung Frankreichs zur Diskussion gestellt wurde. Mit Rücksicht darauf hielt Deutschland es für angezeigt, bei den bevorstehendenWirtschaftsverhandlungen mit der UdSSR, wenigstens bis zum Abschluß der französisch-sowjetischen Verhandlungen, keine feste Vereinbarung über die Kreditfrage zu treffen, um so die deutschen Ansprüche auf die Vorkriegsschulden nicht aus der Hand zu geben.70 Anfang 1928 traf die sowjetische Delegation in Berlin ein, wodurch die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen eröffnet wurden.71 Die Lei70 ADAP, Ser. B, Bd. VIII, Dok. 72, Aufzeichnung des Ministerialdirektors Wallroth, 7.2.1928, S. 151 f. 71 Rosenfeld, Bd. II (1984), S. 314 ff. Zu den neuesten Forschungsergebnisse aus russischer Sicht über die deutsch-sowjetischen Kreditverhandlungen von 1928 siehe Kashirskikh (2006), S. 82 ff.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens727
tung der deutschen Delegation übernahm Wallroth, die der sowjetischen Schleifer, Mitglied des Kollegiums des Volkskommissariats für Handel.72 Obwohl die deutsche Regierung bereits Ende Januar 1928 eine Klageschrift über die Nichteinhaltung der vertraglichen Verpflichtungen an die sowjetische Botschaft eingereicht hatte,73 verhielt sich die sowjetische Delegation gänzlich abweisend und verlangte sogar die Gewährung neuer Kredite für Aufträge an deutsche Firmen im Rahmen des sowjetischen Industrie- sowie Eisenbahnbauplans in Sibirien sowie für die Warenlieferung usw. in Höhe von insgesamt 600 Millionen RM. Außerdem sollte die Kotierung der sowjetischen Staatsanleihe in Deutschland zugelassen werden. Die sowjetische Delegation rechtfertigte ihre außergewöhnlichen Finanzwünsche damit, daß der deutsche Wunsch nach einer Ausweitung des Handelsverkehrs mit der UdSSR nur auf dem Wege der Kreditgewährung zu erfüllen sei.74 Die sowjetische Delegation maß der Industrialisierung, vor allem den Bauprojekten der Schwerindustrie, großen Wert bei. Was den sowjetischen Agrarexport anging, der das Königsberger Kernanliegen war, sprach sie ganz offen von den Schwierigkeiten der in den letzten Jahren eingetretenen Getreidebeschaffung in der UdSSR. Sie stand auf dem Standpunkt, daß unter diesen Umständen nicht daran zu denken sei, den deutschrussischen Handelsverkehr wie in der Vorkriegszeit durch die Steigerung des russischen Getreideexports zu maximalisieren. Die sowjetischen Verhandlungsmethoden wurden von den deutschen Delegierten abgelehnt. Als besonders empörend empfanden sie die Aussage des an der Verhandlung beteiligten Volkskommissar für das Verkehrswesen, Y. E. Rudsutak, daß „Rußland jetzt mit verschiedenen Ländern auf einem Kreuzwege stehe. Die Beziehungen zu diesen Ländern würden wesentlich davon abhängen, wie Deutschland sich zu den russischen Vorschlägen stelle.“75 Unter diesen Umständen erschien es der deutschen Delegation als gänzlich unmöglich, die Königsberger Wünsche, vor allem die Einführung durchgehender Staf72 „Wirtschaftsverhandlungen Deutschland-Sowjetunion“, in: OEM, 8. Jg / Nr. 10, 15.2.1928, S. 185 f. Die deutsche Delegation bestand aus Wallroth (AA), Dirksen (AA), Eisenlohr (AA), Hahn (AA), Schlesinger (AA), Posse (RWiM) sowie Leeser (PreußHM), Kraemer (RDI), Michalski (Berliner Handelskammer), Schott (Frankfurter Metallgesellschaft), Fehrmann (Vereinigte Stahlwerke). Die sowjetische Delegation bestand aus Schleifer, Bratman-Brodowski (Berliner Botschaft), Begge (Berliner Handelsvertretung), Kaufmann (Moskauer Handelskommissariat), Rosenblum (Moskauer Handelskommissariat, Lengyel (Moskauer Handelskommissariat), Rappoport (Berliner Handelsvertretung). 73 ADAP, Ser. B, Bd. VIII, Dok. 39, Aufzeichnung des Staatssekretärs v. Schubert, 21.1.1928, sowie Abschrift von 20.1.1927 als Anlage, S. 75 ff. 74 ADAP, Ser. B, Bd. VIII, Dok. 67, Aufzeichnung des Ministerialdirektors Wallroth, 6.2.1928, S. 140 ff. 75 Ebd.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
feltarife für den Getreidetransport sowie deren finanzielle Kompensation, zur Erörterung zu bringen. Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen, an denen der sowjetische Verkehrskommissar persönlich beteiligt war, waren ursprünglich als günstigste Gelegenheit zur Unterbreitung der Eisenbahntariffrage angesehen worden. Infolge der unmäßigen Finanzwünsche der sowjetischen Delegation konnte aber diese Chance nicht genutzt werden. Die deutsche Delegation unterließ es deshalb, die Frage der Getreidefinanzierung im Königsberger Hafen anzuschneiden.76 Die Verhandlungen führten zu keinen nennenswerten Ergebnissen. Die Verhandlungslage änderte sich Mitte März dadurch, daß deutsche Staatsangehörige, die als AEG-Angestellte beim Industrieprojekt im Donezgebiet beschäftigt waren, mit der Begründung der angeblichen Sabotage sowie landesverräterischer Absichten inhaftiert wurden. Diesen Zwischenfall (die sog. Schachty-Affäre) nahm die deutsche Regierung zum Anlaß, die über fünf Wochen fortgeführten, aber fruchtlosen Verhandlungen zunächst zu beenden. Das Reichskabinett beschloß am 15. März 1928, die Wirtschaftsverhandlungen mit der Sowjetregierung bis zur Freilassung der Inhaftierten zu unterbrechen. Auch der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI), der stets größtes Interesse am deutschen Rußlandgeschäft hatte, forderte die sofortige Aussetzung der Verhandlungen mit der Sowjetregierung.77 Diese wurden daraufhin bis Ende November 1928, also fast acht Monate lang, unterbrochen.78 Folge dieser Verhandlungsaussetzung war es, daß die Königsberger Wirtschaft weder mit eisenbahntariflichen Verbesserungen noch mit staatlicher Hilfe für die Finanzierung der sowjetischen Ein- und Ausfuhroperation im Hafen Königsberg rechnen konnte. Im Jahr 1928 spitzte sich die Notlage Ostpreußens zu. Angesichts der steigenden Verschuldung der landwirtschaftlichen Betriebe wurden Reich und Preußen dazu gezwungen, eine Sonderkredithilfsmaßnahme für Ostpreußen einzuleiten. Bei dieser ersten Ostpreußenhilfe machte sich man die Besitzerhaltung der landwirtschaftlichen Betriebe zur Aufgabe. Die Umschuldungsaktion bildete deshalb den Kern der ersten Ostpreußenhilfe. Die hochverzinslichen kurzfristigen Privatschulden 76 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 326, PreußHM, OPO, 7.12.1928. 77 ADAP, Ser. B, Bd. VIII, Dok. 162, Niederschrift über die Sitzung des Reichs ministeriums, 15.3.1928, S. 334. Zur Haltung des Reichsverbands der Deutschen Industrie beim sog. Schachty-Prozeß vgl. Perrey (1985), S. 75 ff. Siehe auch „Zum Abbruch der deutsch-russischen Verhandlungen. Die Verhaftung der deutschen Ingenieure“, in: OEM, 8. Jg. / Nr. 13, 1.4.1928, S. 245 f. 78 Herbert v. Dirksen: Moskau, Tokio, London. Erinnerungen und Betrachtungen zu 20 Jahren deutscher Außenpolitik 1919–1939, Stuttgart 1949, S. 81 f. Vgl. dazu Rosenfeld, Bd. II (1984), S. 324.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens729
der landwirtschaftlichen Betriebe sollten durch die Vergabe langfristiger staatlicher Hypothekenkredite umgeschuldet werden, damit die Landwirtschaft von den enormen Zinszahlungen entlastet werden konnte. Hingegen fand die Notlage der nichtlandwirtschaftlichen Betriebe kaum Beachtung. Von den gesamten Hilfsgeldern der ersten Ostpreußenhilfe von 105 Millionen RM wurden lediglich 10 Millionen RM zum Ausgleich der sich aus dem Korridorverkehr ergebenden Frachtlasten bestimmt, während der Rest, also über 90 % der Hilfsgelder, ausschließlich für die Kredit- und Grundstückregulierung der Landwirtschaft verwendet wurde. Wenigstens die Frachterstattung sollte deshalb den nichtlandwirtschaftlichen Sektoren stärker als der Landwirtschaft zugute kommen, z. B. der Kohlenlieferung nach Ostpreußen. Die Anwendung des Frachtfonds auf den Auslandsverkehr, wie das Rußlandgeschäft, wurde selbstverständlich strikt untersagt. Die Frachterstattung entfaltete keine Wirkung auf die Verbesserung der Betriebslage bei Handel und Gewerbe in Ostpreußen. Während der Oberpräsident eigentlich ein Förderungsprogramm für die gesamte Wirtschaft Ostpreußens (Handel, Industrie und Landwirtschaft) beantragt hatte, blieb die Ostpreußenhilfe eine reine Agrarhilfe. In der Stadt Königsberg mehrten sich die Stimmen gegen die einseitige Hilfsaktion für die Landwirtschaft.79 Zum einen wurden die Umschuldungsgelder zunehmend zur Besitzerhaltung der Großbetriebe verwendet. Zum anderen wurden die landwirtschaftlichen Schulden bei den Genossenschaftskassen, die wesentlich mit der Preußischen Zentral-Genossenschaftskasse verbunden waren, gegenüber den Schulden bei den Privatgläubigern in Königsberg bevorzugt umgeschuldet. Wenn eine Sanierung dennoch durchgeführt wurde, mußte sie von den Privatgläubigern unter großen Opfern erkauft werden. Demzufolge blieb die erwartete Rückwirkung der Umschuldungsaktion auf die nichtlandwirtschaftlichen Sektoren, die nicht selten die Gläubiger der landwirtschaftlichen Betriebe waren, fast gänzlich aus.80 Die einseitige Agrarhilfe löste in Königsberg sogar eine Kettenreaktion aus, indem sich der Kapitalmangel der nichtlandwirtschaft lichen Betriebe, die Vertrauenskrise der Königsberger Bankeninstitute, die Konkurse sowie die Arbeitslosigkeit verschärften.81 Unter diesen Umständen mußte sich die Königsberger Stadtbank, die eigentlich zum Zwecke der Kreditversorgung für Handel und Gewerbe in Königsberg gegründet worden war, mehr als bisher für die Rettung ihrer Privatkunden einsetzen. Dadurch war die Stadtbank im Sommer 1928 nicht mehr in der Lage, die sowjetische Ein- und Ausfuhroperation allein durch 79 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1929, S. 65. 80 Ebd., S. 66 ff. 81 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1929, S. 90 f.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
eigene Mittel zu finanzieren. Im Sommer 1928 zögerte der Magistrat infolge der finanziellen Belastungen, für das kommende Erntejahr ein neues Kreditabkommen mit der UdSSR abzuschließen. Hingegen drängte die Königsberger Wirtschaft, vor allem die Getreidehändler, angesichts der unerwartet geringen Menge der in Königsberg eingetroffenen Linsen den Magistrat dringend zum Abschluß eines neuen Abkommens. Dieser Vorstoß ging auf die Tatsache zurück, daß Linsen durch die sowjetische Handelsvertretung nach den anderen auswärtigen Handelsplätzen, und zwar billiger als in Königsberg, ausgeboten wurden, obwohl im ersten Kreditabkommen dem Königsberger Hafen der Linsenhandel als Königsberger Spezialartikel vertraglich zugesichert worden war. Die Waren, die einmal auf Grund der billigeren Transportkosten nach den Nachbarhäfen befördert worden waren, mußten mit großen Anstrengungen der Königsberger Wirtschaft wieder nach dem Hafen Königsberg, wo der Vertrag zwischen der Stadtbank und der Handelsvertretung bestand, abtransportiert werden.82 Man wußte in Königsberg nunmehr, daß die UdSSR bereit war, Königsberg jederzeit zu verlassen, wenn andere Handelsplätze bessere Finanzmöglichkeiten anbieten würden. Aus sozialpolitischer Hinsicht erschien die Einstellung der russischen Warenlieferungen nach Königsberg als besonders bedenklich. Die weitere Erhöhung der Arbeitslosigkeit mußte unbedingt vermieden werden. Im Sommer 1928 sahen sich deshalb der Magistrat und die Stadtbank mit einer besonderen schwierigen Aufgabe konfrontiert. Nach langen Verhandlungen gelang es der Stadtbank, unter Heranziehung auswärtiger Mittel, vor allem niederländischer Banken, mit der sowjetischen Handelsvertretung ein Kreditabkommen für das neue Erntejahr abzuschließen. Mit der Vorschußzahlung der Stadtbank sollte die Zulieferung der Hülsenfrüchte von 50.000 t gesichert werden.83 Zugleich wurde die Finanzierung teilweise auf andere Hülsenfrüchte, Mohn sowie Zwiebeln erweitert.84 Auf Basis dieses Abkommens war für das neue Erntejahr 1928 / 29 zu erwarten, daß mehr Agrarprodukte aus der UdSSR als im Vorjahr angeliefert würden. Die Wiederherstellung des Königsberger Getreide- und Hülsenfrüchtegeschäfts war umso schwieriger, als die Sowjetwirtschaft selbst in diesem Jahr (1928) ihren Getreideerfassungsplan nicht mehr erfüllen konnte. Unter diesen Umständen war die sowjetische Handelsvertretung natürlich bestrebt, die Getreide exportoperation nach Westeuropa soweit wie möglich günstig zu gestalten. Hierzu sah man in der UdSSR die Ersparung der Frachtkosten und die Gewährung von Vorschußkrediten als unerläßlich an. Bei Kreditverhandlun82 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1928, S. 32. 83 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 327, Magistrat, 18.12.1928. 84 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1928, S. 136. Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1928, S. 48.
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gen sicherte die sowjetische Handelsvertretung dem Königsberger Magistrat zwar zu, sich nach besten Kräften zu bemühen, dem Wunsch Königsbergs entgegenzukommen und alle Zufuhren nach Königsberg zu dirigieren, soweit die Eisenbahntarife dies zuließen.85 Aber für die internationalen Eisenbahnangelegenheiten war nicht die Handelsvertretung, sondern das Verkehrskommissariat und seine Eisenbahnverwaltung zuständig. Letztlich hing die Einführung durchgehender Staffeltarife von der Entscheidung des Außenkommissariats sowie der Moskauer Regierung ab. Sie war als eine hochpolitische Frage zwischen der UdSSR, den baltischen Staaten und Deutschland zu betrachten. b) Die Moskauer Besprechung vom Dezember 1928. Die Ostpreußenfrage Die Mitte März 1928 infolge der Schachty-Affäre ausgesetzten Wirtschaftsverhandlungen zwischen Deutschland und der UdSSR wurden am 26. November 1928 in Moskau wiederaufgenommen.86 Die erste Verhandlungsrunde im Frühjahr hatte infolge der weit divergierenden Interessen beider Parteien in der Kreditfrage zu keinen nennenswerten Ergebnissen geführt. Daraufhin machte die Reichsregierung diesmal den Eintritt in neue Kreditverhandlungen von der ordentlichen Rückzahlung der bereits der UdSSR gewährten Kredite über 300 Millionen RM abhängig.87 Der Fehlschlag bei den Frühjahrsverhandlungen wurde auf sowjetischer Seite darauf zurückgeführt, daß der Verkehrskommissar die dringenden Kreditbedürfnisse Rußlands hervorgehoben hatte. Man hielt es in Moskau deshalb für zweckmäßig, diesmal die sowjetischen Kreditwünsche nicht in den Vordergrund der Verhandlungen zu stellen.88 Stattdessen konzentrierte man sich hauptsächlich auf die Präzisierung sowie Revision des Handelsvertrags von 1925. Neben der Beilegung der Meinungsverschiedenheiten um die Einzelheiten des Handelsvertrags wurde auf Vorschlag Deutschlands ein Abkommen über die Schlichtungsverfahren, dessen Abschluß bereits im Notenwechsel des Berliner Vertrags von 1926 vorgesehen worden war, getroffen. Die Unterzeichnung erfolgte am 25. Januar 1929.89 Die Moskauer Verhandlungen wurden somit bereits Mitte Dezember 1928 ohne große Störung zum vor85 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bl. 327, Magistrat (Goerdeler), 18.12. 1928. 86 PA AA, R 28935 (Büro StS: Deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen, Bd. 4), AA, 24.11.1928. 87 ADAP, Ser. B, Bd. XI, Dok. 16, Generalkonsul Schlesinger, 14.1.1929, S. 27 ff. 88 ADAP, Ser. B, Bd. XI, Dok. 171, Botschafters in Moskau v. Dirksen, 12.4. 1929, S. 388 ff. 89 Klein (1953), S. 168.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
läufigen Abschluß gebracht. Die noch ungelösten Fragen, vor allem die Zollrevision- sowie Kreditfrage, sollten unmittelbar durch die Moskauer sowie die Berliner Botschaft weiter verhandelt werden. Dennoch ließen sich 1929 keine befriedigenden Ergebnisse mehr erzielen. Zum einen war die Gewährung neuer deutscher Kredite für die UdSSR mit Rücksicht auf den bevorstehenden Beginn der Verhandlung mit den Westmächten über die Regelung der Reparationsfrage, die sog. Youngplan-Verhandlungen, streng einzuschränken. Zum anderen war Deutschland im Jahr 1929 überhaupt nicht in der Lage, den Zollermäßigungswünschen der UdSSR, vor allem im Bereich der landwirtschaftlichen Produkte, entgegenzukommen. Die fortschreitende Weltagrarkrise ließ der deutschen Handelspolitik keinen Spielraum, den russischen Produkten den Zugang zum deutschen Agrarmarkt zu erleichtern, was im Wege der Meistbegünstigung einen großen Zufluß ausländischer Produkte und damit einen katastrophalen Preissturz auf dem deutschen Agrarmarkt zur Folge haben mußte. Die Hindernisse, die der Erfüllung der Königsberger Wünsche (die Einführung von Staffeltarifen und die Kreditgewährung für die russischen Agrarprodukte) im Wege standen, gingen nicht nur auf die wirtschaftspolitischen Einschränkungen Deutschlands zurück. Sie ergaben sich ebenfalls aus den wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen unter den Sowjet behörden. Das vom A. I. Mikojan geleitete Handelskommissariat, das seit 1926 das Innen- und Außenhandelskommissariat vereinigte, zeigte stets Verständnis für die Königsberger Wünsche. Hingegen standen die sowjetische Eisenbahnverwaltung sowie das Verkehrskommissariat dem Wunsch Königsbergs nach Erweiterung des russischen Agrarexports über den Königsberger Hafen nur zögerlich gegenüber. Sie forderten stets finanzielle Kompensationen. In dieser Streitfrage war außerdem die Reichsbahngesellschaft, vor allem ihre Berliner Hauptverwaltung, der Auffassung, daß die Einführung durchgehender Staffeltarife nicht zuzulassen sei. Ihr zufolge mußte diese Frage gemeinsam mit allen beteiligten Eisenbahnverwaltungen ausgearbeitet werden. Die Reichsbahngesellschaft, die den etwaigen Ausfall von Tarifeinnahmen durch die Einführung durchgehender Staffelung als besonders bedenklich ansah, hatte aber überhaupt kein Interesse daran, auf die betreffenden Bahnverwaltungen des Auslands in dieser Richtung einzuwirken. Unter diesen Umständen ergriff die Königsberger Handelskammer selbst die Initiative zur Einführung durchgehender Staffeltarife. Mit Rücksicht auf die ablehnende Haltung der Reichsbahn sowie der sowjetischen Eisenbahnverwaltung schlug sie kurz vor dem Eintritt in die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen Mitte Januar 1928 vor, sich unmittelbar mit dem Moskauer Außenkommissariat in Verbindung zu setzen und die Verhandlungen über die Durchführung des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens zu-
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sammen mit anderen sowjetischen Kommissariaten zu führen.90 Die Tatsache, daß die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen bisher stets zwischen den Berliner und Moskauer Spitzenstellen ohne Teilnahme der Sachverständigen des Königsberger Hafens geführt worden waren, erschien den Königsberger Wirtschaftskreisen als besonders nachteilig, da die Interessen der Großbanken und -industrie so stets eine bestimmende Rolle spielten. Während die Königsberger Handelskreise in erster Linie auf die Erweiterung des Transithandels sowie Importgeschäfts aus der UdSSR abzielten, strebten die Großindustriellen die Stärkung des Industrieexports in die UdSSR an. In dieser Gegenüberstellung war es besonders schwer, die regionalen Anliegen Königsbergs durchzusetzen. Trotz dieser innerhalb der deutschen Wirtschaft bestehenden Interessenverschiedenheiten war die Reichsregierung dazu bereit, die Kreditgewährung für den Industrieexport in die UdSSR zu akzeptieren und das Risiko zu übernehmen. Infolgedessen stießen die Anträge Königsbergs auf staatliche Stützung des Getreidekreditgeschäfts mit der sowjetischen Handelsvertretung wiederum auf Ablehnung seitens des Reichs. Als die Wiederaufnahme der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen im November 1928 in Aussicht stand, erregte man sich in Königsberg über die Absicht des Reichswirtschaftsministeriums, keine Vertreter der preußischen Regierung zu den Verhandlungen in Moskau heranzuziehen. Das Preußische Handelsministerium erhob dagegen Protest und beantragte die Aufnahme eines eigenen Vertreters in die deutsche Delegation.91 Das Auswärtige Amt unterstützte diesen Antrag.92 Daraufhin wurde die Entsendung von Ministerialrat Leeser, der bereits an den Berliner Wirtschaftsverhandlungen im Frühling 1928 beteiligt war, zugestanden. Die deutsche Delegation wurde unter Leitung von Ministerialdirektor Posse (Reichswirtschaftsministerium) aus fünf Mitgliedern gebildet. Gegen das Vorgehen des Handelsministeriums verhielt sich Ministerpräsident Braun abweisend. Er vertrat sogar den Standpunkt, daß die Teilnahme preußischer Stellen an den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen, die wesentlich eine Sache des Reichs darstellten, nicht nötig sei.93 Während Braun auch die Entsendung des Königsberger Vertreters in Moskau skeptisch betrachtete, suchte Oberbürgermeister Lohmeyer mit ganzer Energie, Generalkonsul Moritz Schlesinger,94 der im Auswärtigen Amt für die deutsch-sowjetischen Wirt90 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 309, IHK Königsberg an Magistrat, 11.1.1928. 91 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 83, PreußHM, 8.11.1928. 92 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 4, Bl. 150, AA an PreußHM, 16.11.1928. 93 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 82, PreußMP, 14.11.1928. 94 Zur Person von Schlesinger siehe Moriz Schlesinger: Erinnerungen eines Außenseiters im diplomatischen Dienst. Aus dem Nachlaß herausgegeben und ein-
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
schaftsfragen zuständig war, schriftlich, mündlich und telegraphisch dazu zu bewegen, wenigstens einen Vertreter aus Ostpreußen nach Moskau zu entsenden.95 Das Auswärtige Amt begrüßte zwar die Beteiligung preußischer Stellen, hielt aber die unmittelbare Teilnahme eines ostpreußischen Interessenvertreters an der deutschen Delegation für bedenklich. Denn während man in Königsberg die Absicht hatte, die Finanzierungsfrage der sowjetischen Handelsoperation, also die Kreditgewährung für das Exportgeschäft aus der UdSSR sowie die Eisenbahntariffrage, zum Gegenstand der Delegationsverhandlungen zu machen, hatte die deutsche Delegation überhaupt nicht vor, die sowjetischen Kreditwünsche, abgesehen von einigen kleinen Konzession für den Exportkredit nach Rußland, zu erörtern. Die Erledigung der deutsch-sowjetischen Kreditfrage hielt man erst nach dem Abschluß der Reparationsverhandlungen, also den bevorstehenden Youngplan-Verhandlungen, für möglich. Das Auswärtige Amt beschloß dennoch mit Rücksicht auf die Dringlichkeit und Besonderheit der ostpreußischen Wünsche, die Teilnahme eines ostpreußischen Vertreters an den Wirtschaftsverhandlungen in Moskau zuzulassen. Dies sollte jedoch in der Weise erfolgen, daß dieser Vertreter als Sachverständiger außerhalb der Delegationsverhandlungen eine gesonderte Besprechung mit den sowjetischen Stellen, vor allem mit dem Außenkommissariat, führen sollte. Im Einvernehmen mit Oberbürgermeister Lohmeyer fiel die Wahl auf Wilhelm Dietrich Preyer, Ordinarius für Volkswirtschaft und Leiter des Instituts für Rußlandkunde an der Albertus-Universität sowie ostpreußischer DNVP-Reichstagsabgeordneter und zugleich Präsidiumsmitglied des Königsberger Wirtschaftsinstituts.96 Die Konsultationen Preyers sollten aber ausschließlich privaten Charakter tragen. Deshalb wurden ihm keine Reisekostenzuschüsse seitens der Regierung eingeräumt. Statt dessen wurde seine Moskauer Reise von der Königsberger Stadtbank finanziert.97
geleitet von Hubert Schneider, Köln 1977. Siehe auch Hartmut Unger: Zwischen Ideologie und Improvisation. Moritz Schlesinger und die Rußlandpolitik der SPD 1918–1922, Frankfurt am Main 1996. 95 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 4, Bl. 149, PreußHM, Vermerk, 14.11.1928. 96 Wilhelm Dietrich Preyer (1877–1959) kam während des Kriegs als Offizier nach Königsberg. Dort beteiligte er sich an der Gründung der DNVP Ostpreußens, deren erster Geschäftsführer er wurde. Er sprach fließend Russisch. Über ihn siehe Groeben (1988), S. 409 ff. 97 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, OPO an PreußHM, 2.5.1929. Die Auseinandersetzung um die Entsendung Preyers nach Moskau löste beim preußischen Staatsministerium im Zusammenhang mit Unklarheiten des Etats des Wirtschaftsinstituts den Verdacht aus, daß seine Reisekosten durch das Institut erstattet worden seien. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Frankenbach an OPO, 22.1.1929.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens735
Preyers Auftrag beschränkte sich nicht auf die Übermittlung der Eisenbahntarifwünsche des Königsberger Hafens. Er sollte mit den sowjetischen Stellen auch über die Möglichkeiten zur Ausweitung des gesamten Handelsverkehrs zwischen Ostpreußen und der UdSSR sprechen. So legte die Ostpreußische Landwirtschaftskammer auf die Ausfuhr ostpreußischer Zucht tiere sowie Pferde nach der UdSSR großen Wert. Die erste Besprechung zwischen Preyer und dem Vertreter des Moskauer Außenkommissariats, Nikolaj Rajvid, der bis kurz zuvor als Botschaftssekretär der sowjetischen Botschaft in Berlin tätig gewesen war, fand am 26. November 1928 im Moskauer Außenkommissariat statt.98 An demselben Tag traten auch die beiden Delegationen in die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen ein. Bei diesem ersten Gespräch wies Rajvid kritisch darauf hin, daß das Schweinekontingent (wöchentlich 800 Schweine nach Deutschland, jährlich über 40.000), das der UdSSR im Rahmen des Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925, vor allem Artikel 12 des Wirtschaftsabkommens (Anhang zu Artikel 12 sowie Anlage I), eingeräumt worden war,99 auf Grund der dabei auferlegten veterinärpolizeilichen Transporteinschränkungen nicht ausgeschöpft werden könne. Nach dieser Bestimmung durfte der Transport der Schweine lediglich auf dem Seeschiffahrtswege erfolgen (Anlage I, B von Artikel 12). Rajvid verlangte, für das Schweinekontingent auch den Eisenbahntransport nach bzw. über Ostpreußen zuzulassen. Diese unerwartet vorgetragene Forderung versetzte Preyer in Verlegenheit. Seitens der Reichsregierung war die Problematik der Schweinekontingentbestimmung des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags gut bekannt. Die Einschränkung des Transportwegs auf die Seeschiffahrt bezog sich prinzipiell auf die allgemeinen Transport- und Veterinärbestimmungen Deutschlands. Mit dieser Einschränkung gelang es Deutschland, die Schweineeinfuhr aus Ost- und Mitteleuropa, mit Ausnahme Litauens, zu blockieren,100 was auf den Wunsch der deutschen Agrarlobby zurückging. Trotz dieser Beschwerde der Sowjetregierung war Deutschland nicht in der Lage, die Schweineeinfuhr aus der UdSSR per Eisenbahn zuzulassen, weil dies zwangsläufig im Wege der Meistbegünstigung die Öffnung des deutschen Schweinemarkts zur Folge haben mußte. Dabei kam in erster Linie Polen in Betracht. Die Frage der 98 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 330 ff., Preyer an OPO, 10.1.1929. 99 RGBl. 1926, S. 1 ff. 100 PA AA, R 29238 (Büro StS: Deutsch-litauische Beziehungen, Bd. 6), Aufzeichnung über die Besprechung mit dem litauischen Ministerpräsidenten Woldemaras, 3.10.1927. Dabei klagte Voldemaras über die gegenüber dem ganzen Osten verhängte Sperre der Einfuhr von Vieh aller Art mit Ausnahme des Memelgebiets. Es gelang später, eine Ausnahmebehandlung im Zusammenhang mit der Memelfrage zu erlangen.
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Schweineeinfuhr bereitete auch bei den Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Polen Schwierigkeiten, da die deutsche Agrarlobby außerordentliche Gegenwehr leistete. Unter diesen Umständen war es völlig ausgeschlossen, der UdSSR eine Ausnahme zuzubilligen. Weil die Behandlung der Schweinekontingentsfrage seine Kompetenzen überschritt, vermied es Preyer, zu Rajvid Vorwürfen Stellung zu nehmen. Am Ende der ersten Besprechung bat Rajvid um die Übergabe der schriftlichen Fassung der ostpreußischen Wünsche. Am 30. November übergab Preyer hierzu der sowjetischen Seite eine Denkschrift über die Förderung des sowjetischen Transithandels über den Hafen Königsberg, die Eisenbahntariffrage, sowjetische Bestellungen bei der ostpreußischen Schiffbauindustrie, die bautechnische Mitwirkung Ostpreußens an der Melioration in Weißrußland, sowie die Ausfuhr ostpreußischer Tiere nach Rußland. Die zweite Besprechung zwischen Preyer und den sowjetischen Stellen fand am 12. Dezember statt. Obwohl die ostpreußischen Anliegen ausschließlich im wirtschaftlichen Bereich ausgehandelt werden sollten, versuchte Preyer im politischen Kontext, vor allem unter Bezugnahme auf die Polenfrage, das Moskauer Außenkommissariat zur Förderung des Königsberger Hafens zu bewegen. Zum einen kritisierte Preyer die Verlagerung des sowjetischen Transithandels nach den lettischen Häfen Riga und Windau. Diese Tendenz wurde nach Abschluß des sowjetisch-lettischen Handelsvertrags auf Kosten Königsbergs deutlich verstärkt. Unter Hinwies auf die Polen naheliegende Haltung Lettlands beschwerte sich Preyer über dieses Vorgehen Rußlands: „In den erwähnten Häfen sitzen Franzosen und Engländer, und einflußreiche Kreise Lettlands sind Anhänger einer polenfreundlichen Politik. Verwicklungen zwischen USSR und Deutschland sind aber, allem menschlichen Ermessen nach so gut wie ausgeschlossen. Infolge dessen sollte die USSR sich bemühen, einen möglichst großen Teil ihres Import- und Exporthandels über Königsberg zu leiten.“101 Die Kritik Preyers bezog sich offenbar auf das politische Moment des deutsch-sowjetischen Rapallo-Kurses. Aus denselben Gründen wurden sowohl die eisenbahntarifliche Begünstigung der Häfen Danzig und Gdingen im sowjetischen Transitverkehr als auch die sowjetische Bestellung bei der Danziger Schiffbauindustrie als unzulässig bezeichnet. Was die Eisenbahntariffrage anging, schlug Preyer ausdrücklich vor, zum Zwecke der Stärkung der Konkurrenzfähigkeit des Königsberger Hafens eine Vereinbarung über die Einführung durchgehender Staffeltarife herbeizuführen. Die Königsberger Wirtschaft hegte den Verdacht, daß die UdSSR im Eisenbahnverkehr mit der Tschechoslowakei bereits durchgehende Staffeltarife eingeführt hatte. Allerdings unterließ es Preyer, bei dieser 101 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 330 ff., Preyer an OPO, 10.1.1929.
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Besprechung auf die Einzelheiten der Eisenbahntariffrage einzugehen. Er regte lediglich an, die eisenbahntariflich sehr ungünstige Stellung des Hafens Königsberg wenigstens mit der des Danziger Hafens gleichzusetzen. Rajvid bestand nach wie vor auf die Öffnung der Schweineeinfuhr aus der UdSSR auf dem Schienenweg. Hierzu wies Preyer in der Schlußverhandlung vom 12. Dezember auf die schwierige Stellung Deutschlands mit Blick auf etwaige Ansprüche Polens hin. Er erinnerte daran, daß diese Angelegenheit, für die er nicht zuständig sei, zum Gegenstand der Verhandlungen beider Regierungen gemacht werden müßten. Während Preyer stets auf das gegen Polen gerichtete wirtschaftliche und politische Bündnis zwischen Deutschland und der UdSSR rekurrierte, revanchierte sich Rajvid mit derselben Methode, indem er den Holzankauf Ostpreußens aus Polen ansprach. Das Moskauer Außenkommissariat äußerte zunächst den Wunsch nach einer Ausweitung der Holzlieferungen nach Königsberg. Rajvid wies aber kritisch darauf hin, daß die Holzindustrie Ostpreußens bisher mehr Hölzer aus Polen, vor allem Papierholz, als aus der UdSSR bezogen hätte. Preyer erwiderte, daß man, die gleiche Qualität vorausgesetzt, selbstverständlich die preisgünstigeren Hölzer bevorzuge. Er erinnerte an die infolge des polnisch-litauischen Wilnakonflikts eingetretenen Transportschwierigkeiten sowie die Kostensteigerung, seit die Hölzer nicht mehr auf Wasserstraßen, sondern auf Eisenbahnen zu befördern waren. Die von der sowjetischen Seite aufgeworfene Holzlieferungsfrage, eine offensichtlich hoch politische Angelegenheit, gab Preyer den Anlaß, unter Hinweis auf die Notwendigkeit der Senkung der Transportkosten die Frage der Freigabe der Memel / Njemenflößerei zur Erörterung zu bringen. Er unterließ es allerdings, der sowjetischen Seite unmittelbar die Notwendigkeit einer Druckausübung im Wilnakonflikt vor Augen zu führen. Die Forderung des sowjetischen Außenkommissariats nach Erweiterung des Holzankaufsvertrags mit dem sowjetischen Holztrust erweckte aber in ihm die Überzeugung, es sei angezeigt, „daß von Deutschland ein diplomatischer Druck auf Rußland in der Richtung ausgeübt würde, daß Rußland Litauen zur Öffnung der Wasserwege veranlaßt.“102 Dieser Vorschlag Preyers, der nicht unmittelbar der sowjetischen Seite, sondern nach seiner Rückkehr beim Auswärtigen Amt in seinem Reiseberichte gemacht wurde, beschränkte sich auf seinen persönlichen Kenntnisstand. In Wirklichkeit war auf Litauen bereits wiederholt diplomatischer Druck sowohl von deutscher als auch von sowjetischer Seite ausgeübt worden. So hatte das sowjetische Außenkommissariat versucht, den litauischen Ministerpräsidenten Voldemaras dazu zu überreden, daß Litauen auf der polnisch-litauischen Konferenz in Königsberg 1928 auf die 102 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 330 ff., Preyer an OPO, 10.1.1929.
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Freigabe des Flößereiverkehrs eingehen solle.103 In der zweiten Hälfte der 20er Jahre, nach dem Inkrafttreten der Memelkonvention, bemühte sich die litauische Regierung, die in der Memelflößerei bestehenden Schwierigkeiten zu erleichtern. Nach der neuen Flößereiordnung Litauens von 1926 sollten gegen die Aufnahme der Transitflößerei an der Wilnagrenze prinzipiell keine Hindernisse seitens Litauens mehr bestehen. In verkehrspolitischer Hinsicht war es deshalb notwendig, nicht auf Litauen, sondern auf Polen in dieser Richtung einzuwirken. Tatsächlich weigerte sich Polen auf der Königsberger Konferenz strikt, auf den Wunsch Litauens nach Aufnahme der Flößereiverhandlungen einzugehen. Polen stellte die Bedingung, zuerst diplomatische Beziehungen sowie den direkten Eisenbahnverkehr zwischen Kowno und Wilna wiederherzustellen. An dieser Auseinandersetzung zwischen Polen und Litauen um die Transitfrage an der Wilnagrenze waren alle bisherigen Vermittlungsversuche des Völkerbunds, Deutschlands sowie der UdSSR gescheitert. Mit Rücksicht auf diese Tatsache forderten das Reichsverkehrsministerium sowie die ostpreußische Holzindustrie das Auswärtige Amt wiederholt dazu auf, Polen endlich zur Öffnung der Transitflößerei auf der Memel zu bewegen. Vor allem nachdem die zweite polnischlitauische Konferenz von Königsberg im November 1928 in dieser Streitfrage ohne Erfolg geblieben war, bestand zwischen der Wasserstraßenabteilung des Reichsverkehrsministeriums, dem Oberpräsidenten sowie der ostpreußischen Holzindustrie in dieser Frage völlige Einigkeit.104 Die Moskauer Besprechung zwischen Preyer und Rajvid wurde somit am 12. Dezember 1928 zum vorläufigen Abschluß gebracht. Das Moskauer Außenkommissariat gab zu den von Preyer vorgebrachten Wünschen Ostpreußens keine schriftliche Stellungnahme ab. Preyer und das sowjetische Außenkommissariat waren einstimmig der Auffassung, daß Ostpreußen und die Sowjetunion baldmöglichst in neue Verhandlungen eintreten sollten. Sein Besuch hatte bei Preyer den positiven Eindruck hinterlassen, daß die maßgebenden sowjetischen Kreise Ostpreußen gegenüber aufgeschlossen seien. Daher gelangte er zu der Schlußfolgerung, daß man diesen günstigen Moment nutzen solle, um zu positiven Ergebnissen zu gelangen.105
103 ADAP,
Ser. B, Bd. IX, Dok. 153, v. Schubert, 16.7.1928, S. 363 ff. R 5 / 1382, RVM, 25.10.1928. BA, R 5 / 1382, Abschrift, IHK Tilsit, 25.7.1927. BA, R 5 / 1382, RVM an AA, 19.9.1927. 105 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 330 ff., Preyer an OPO, 10.1.1929. 104 BA,
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3. Die Reise des Oberpräsidenten in die Sowjetunion im April 1929 Am 4. April 1929 trat der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen, Ernst Ludwig Siehr, als Delegationsvorsitzender zusammen mit Spitzenrepräsentanten der ostpreußischen Wirtschaftskreise eine Reise in die Sowjetunion an. Die Delegation bestand aus folgenden Personen: Oberbürgermeister Lohmeyer, Vizepräsident der Königsberger Handelskammer Litten (Getreide exportgeschäft), Vizepräsident der Landwirtschaftskammer Heumann (Rittergutsbesitzer), Vertreter der Landwirtschaftskammer Becker (Oberlandwirtschaftsrat), Vertreter des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten A. I. Markow, sowie Regierungsrat Lehmann aus dem Oberpräsi dium. Die Delegation besuchte Leningrad, Moskau, den Kaukasus sowie Charkow und kehrte nach drei Wochen, am 25. April, nach Königsberg zurück. Aufgabe dieser Rußlandreise war es, mit den maßgebenden sowjetischen Stellen über eine Ausweitung des Wirtschaftsverkehrs zwischen Ostpreußen und der UdSSR zu verhandeln. Man zielte darauf ab, der darniederliegenden Wirtschaft Ostpreußens neue Impulse zu geben. Zum einen sollte der sowjetische Außenhandel stärker als bisher über den Hafen Königsberg abgewickelt werden. Zum anderen war der Export ostpreußischer Agrargüter (Zuchtvieh, Pferde, Saaten usw.) in die UdSSR zu fördern.106 In diesem Sinne stellten die Verhandlungen zwischen der ostpreußischen Delegation und der Sowjetregierung die Fortführung des inoffiziellen Wirtschaftsgesprächs zwischen Preyer und Rajvid in Moskau Ende 1928 dar. Die Reise selbst sowie die Verhandlungstermine der ostpreußischen Delegation wurden seitens der deutschen Botschaft in Moskau, insbesondere Legationsrat Gustav Hilger sowie Botschafter Herbert v. Dirksen, mit großer Sorgfalt vorbereitet.107 Dirksen ebenso wie sein verstorbener Vorgänger, 106 Rußlandreise der Ostpreußen-Delegation“, in: OEM, 9. Jg. / Nr. 14, 15.4.1929, S. 216. „Zwischenstaatliche Beziehungen Deutschland – UdSSR“, in: Die Ostwirtschaft, Nr. 1, 1929, S. 14. „Die Hilfsmaßnahmen für Ostpreußen und ihre Bedeutung für das deutsche Rußlandgeschäft“, in: Die Ostwirtschaft, Nr. 5 / 6 (1929 / 30), S. 70 f. Siehe auch Anderle (1962), S. 220 f. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 135 ff., Bericht über die Reise nach Rußland, OPO, 12.5.1929. Die gleichen Akten auch in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 525. Siehe auch die unveröffentlichten Erinnerungen von Ernst Ludwig Siehr (Privatbesitz Dietrich Siehr). 107 BA, N 2049 (Nachlaß von Herbert v. Dirksen), Nr. 51, Botschafter v. Dirksen an Hey, 23.3.1929. Darin instruierte er die Botschaftsmitarbeiter wie folgt: „2) Die Königsberger Delegation trifft ja nun an 4. April in Leningrad und am 8. April in Moskau ein. Das Schreiben des Oberpräsidenten Siehr nebst der beigefügten Aufstellung über die Programmpunkte habe ich gestern Abend Herrn Schlesinger gegeben, der die Schriftstücke ebenfalls mit deutschem Kurier der Botschaft zugehen lassen wird. Mir scheinen die einzelnen Punkte ganz vernünftig, jedenfalls der Diskussion wert zu sein. Ich wäre sehr dankbar, wenn Herr Hilger seine vorbe-
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Brockdorff-Rantzau, hatten stets großes Verständnis für die Anliegen Königsbergs. Im Frühling 1929 herrschte in Europa kurzfristig die Atomsphäre einer politischen Entspannung zwischen der UdSSR, Polen sowie Litauen. Nachdem die Beitrittsverhandlungen über die vorzeitige Inkraftsetzung des Kellogg-Briand-Pakts zwischen der UdSSR, Polen, Lettland sowie Rumänien, das sog. Litvinov-Protokoll, am 9. Februar 1929 erfolgreich abgeschlossen worden waren, traten nun Litauen, die Türkei sowie Persien am 5. April 1929 diesem Protokoll bei. Die auf sowjetischer Initiative erreichte Friedensvereinbarung in Osteuropa war deshalb als der günstigste Moment zu betrachten. Die Erfüllung der ostpreußischen Wirtschaftswünsche, deren Kern in der Einführung durchgehender Staffeltarife sowie in der Freigabe der Memelflößerei bestand, war nach wie vor nicht ohne friedliche Mitwirkung aller beteiligten Staaten – der UdSSR, der baltischen Staaten, Polens sowie Deutschlands – zu erzielen. Der außenpolitische Erfolg der Sowjetregierung mit dem Litvinov-Protokoll weckte deshalb die Hoffnung auf eine Moskauer Initiative in dieser Richtung. Ein Besuch der ostpreußischen Spitzenrepräsentanten sollte außerdem in diesem Moment für die deutsche Außenpolitik von besonderer Bedeutung sein. In Paris führte zur selben Zeit die von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht geleitete deutsche Delegation die Youngplan-Verhandlungen. Die Lösung der Reparationsfrage, die die deutsche Regierung als wichtigste Aufgabe ihrer Außenpolitik ansah, hatte zwangsläufig zur Folge, den Handlungsspielraum Deutschlands in seiner Rußlandpolitik einzuschränken.108 Es war deshalb umso schwieriger, den sowjetischen Kreditwünschen nachzukommen, bevor die Reparationsverhandlungen mit den Westmächten abgeschlossen würden. Die YoungplanVerhandlungen stellten deshalb den Geist von Rapallo von neuem in Frage, unter dem in jener Zeit die deutsch-sowjetische Wirtschaftszusammenarbeit gegen die Versailler Siegermächte angebahnt worden war. Es war anzunehmen, daß das Zögern der Reichsregierung, die sowjetischen Kreditwünsche zu erfüllen, eine weitere Abkühlung der deutsch-sowjetischen Beziehungen zur Folge haben könnte. Die Westorientierung der deutschen Außenpolitik trat seit der Locarno-Konferenz sowie dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zunehmend in den Vordergrund. Dennoch wünschte man in Berlin weder den Rückgang des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverkehrs haltenen Arbeiten aufgrund dieses Programms fortsetzen wollte. 3) Ich werde mich mit Twardowski, der in der ersten Hälfte April den Generalkonsul in Leningrad vertreten sollte und etwa am 4. April dort eintreffen wollte, dahin verständigen, daß er einige Tage früher eintrifft und die ostpreußischen Herren bewillkommnen kann. Vorarbeiten müssen auf jeden Fall aber von dem Büro des Generalkonsulats geleistet werden; ich wäre sehr dankbar, wenn die Botschaft sich deswegen mit dem Generalkonsulat ins Benehmen setzen wollte.“ 108 Vgl. Hilger (1956), S. 229 ff.
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noch dessen völlige Unterbrechung. Dieser Widerspruch zwischen Politik und Wirtschaft spitzte sich in den Youngplan-Verhandlungen besonders zu. Die Sowjetregierung stand außerdem seit dem Tod von Brockdorff-Rantzau vom 8. September 1928 der Rußlandpolitik Deutschlands skeptisch gegenüber. Unter diesen Umständen erhoffte sich sein Nachfolger Dirksen vom Moskauer Besuch der ostpreußischen Delegation die Festigung der freundschaftlichen Zusammenarbeit beider Staaten.109 Dies war die politische Aufgabe, mit welcher Oberpräsident Siehr beauftragt worden war. a) Leningrad Die Reise der ostpreußischen Delegation begann am 4. April 1929. Sie fuhr mit der Eisenbahn über Kowno und Riga und traf am Abend des 5. April in Leningrad ein. Während die wichtigen wirtschaftspolitischen Verhandlungen ausschließlich in Moskau stattfinden sollten, hatte der Delegationsbesuch in Leningrad vielmehr den Charakter einer Freundschaftspflege zwischen Ostpreußen und der alten russischen Hauptstadt, vor allem in den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen. Während ihres zweitägigen Aufenthalts wurden die Delegationsmitglieder als Gäste des Gebietssowjets sowie der Leningrader Handelskammer (allrussische Handelskammer für den Westen, Sektion Deutschland) behandelt. Die besonders enge, freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Königsberger Wirtschaftskreisen und der Handelskammer Nord-West (Leningrad / Petersburg), die auf eine lange Tradition zurückging,110 war insbesondere während der Arbeit der Königsberger Ostmesse in den schwierigen Nachkriegsjahren entstanden. Die sowjetische Handelskammer von Nord-West organisierte seit der ersten Beteiligung der sowjetischen Delegation die russische Exportausstellung auf der Ostmesse.111 Bei der Rußlandreise wurden die Vertreter der ostpreußischen Delegation nicht nur in Leningrad, sondern prinzipiell in allen Besuchsstädten als Gäste behandelt. Die finanziellen Schwierigkeiten der Delegation wurden durch dieses Angebot der Sowjetregierung erheblich 109 Wilhelm Karl Raelinghoff (Pressebeirat der Deutschen Botschaft in Moskau): „Epilog zum Ostpreußenbesuch in Moskau“, in: Königsberger Allgemeine Zeitung, 17.4.1929. 110 OEM, 2. Jg. / Heft 14, 15.4.1922, S. 10. Allerdings war die Handelskammer von Nord-West (Petersburg) nach der Einführung der NEP im November 1921 von neuem ins Leben gerufen worden. Siehe auch Handbuch für Handel und Industrie der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken (Rußland, Ukraine, Transkau kasien, Weißrußland), hg. v. den Handelsvertretungen der Union der Sozialistischen Sowjet-Republik in Deutschland und Österreich, Berlin 1924, S. 98 ff. 111 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066, Abschrift, Übersetzung, Handelskammer des nordwestlichen Gebiets, Petrograd, 28.9.1922.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
erleichtert. Zum Empfang im Anschluß an den Opernbesuch112 erschienen nicht nur die Vertreter aus dem deutschen Generalkonsulat in Leningrad,113 sondern auch der aus Moskau angereiste Vorsitzende der Allrussischen Handelskammer. Am nächsten Tag besuchte die Delegation zuerst den Bevollmächtigten des Außenkommissariats für das Leningrader Gebiet sowie die Gebietsbehörde (Gebietssowjet). Der Bevollmächtigte des Außenkommissariats, Weinstein, brachte seine Hoffnung auf die Vertiefung der Beziehungen zwischen Ostpreußen und der UdSSR zum Ausdruck. Er betonte, „daß in der Union für die Bestrebungen Ostpreußens besondere große Sympathie vorhanden seien.“114 Die sowjetischen Stellen äußerten ihr lebhaftes Interesse an der Wiederherstellung der engen und traditionsreichen wirtschaft lichen sowie kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland, Königsberg sowie Leningrad. Die Reise der ostpreußischen Delegation suchten sowohl das deutsche Generalkonsulat als auch der Gebietssowjet für die Annährung der wirtschaftlichen und politischen Kreise beider Staaten zu nutzen. Während das deutsche Generalkonsulat am zweiten Abend einen großen Empfang gab, zu dem sowohl die in Leningrad tätigen deutschen Wirtschaftskreise als auch zahlreichen Vertreter der sowjetischen Behörden eingeladen waren, veranstaltete der Gebietssowjet am dritten Abend ein Bankett, an dem angeführt vom Vorsitzenden des Exekutiv-Komitees, zahlreiche Leningrader Spitzenpolitiker teilnahmen. Tagsüber besichtigte die Delegation zwei Institute für Agronomie sowie Botanik,115 eine Ausstellung über die wirtschaftliche Entwicklung der UdSSR, die Eremitage, eine Traktorfabrik116 sowie den Hafen. Infolge der Vereisung war zwar mit Ausnahme des Eisbrechers „Krasin“117 noch kein Schiffsverkehr zu sehen. Dennoch wurde die Delegation durch die extravagante und sehr moderne Anlage des Holzexporthafens, der auf einer Insel von 1 km Länge und Breite mitsamt einem elektrisch betriebenen Schienennetz eingerichtet worden war, sehr beeindruckt.118 Im Gegensatz dazu präsentierte sich das historische Zentrum der wurde Der Dämon von Anton Grigorjewitsch Rubinstein. deutsche Generalkonsul in Leningrad (1928–1933) war Erich Wilhelm Zechlin (1883–1954). 114 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 135 ff. Bericht über die Reise nach Rußland, OPO, 12.5.1929. 115 Smolny-Institut. 116 Putilow-Werke. Siehr berichtete folgendes: „Die Anlagen der Fabrik sind riesenhaft, besonders die Traktorenfabrik, in der zur Zeit jährlich 3000 Traktoren hergestellt werden. Man beabsichtigt, nach 2 Jahren jährlich 15000 Stück herzustellen.“ (Bericht des OPO vom 12.5.1929) 117 Über den Eisbrecher „Krasin“ siehe auch Kollontai (2003), S. 203. 118 Zum Hafen Leningrad siehe „Der Leningrader Handelshafen“, in: OEM, 6. Jg. / Nr. 24, 15.9.1926, S. 1 f. 112 Aufgeführt 113 Der
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens743
einst prächtigen Residenzstadt in verwahrlostem Zustand.119 Die Delegation verließ Leningrad kurz nach dem Bankett des dritten Abends, am 7. April, und fuhr mit dem Nachtzug nach Moskau, wo die eigentlichen Wirtschaftsverhandlungen mit der Sowjetregierung anstanden. b) Moskau: Die Sonderbesprechung zwischen Siehr und Stomonjakov Am 8. April frühmorgens kam die ostpreußische Delegation in Moskau an. Zum Empfang am Bahnhof erschienen Legationsrat Hilger sowie zahlreiche Vertreter der sowjetischen Behörden. Mossowjet übernahm zusammen mit der allrussischen Handelskammer die Rolle des Gastgebers und führte die Delegation zum Grandhotel.120 Die Delegation besuchte zuerst Dirksen bei der Deutschen Botschaft. Dieser führte zur Lage des deutschsowjetischen Verhältnisses aus, „daß sich seit der Beendigung des SchachtyProzesses121 die Situation erheblich gebessert habe, und daß z. Zt. für die von uns beabsichtigten Verhandlungen eine besonders gute Atmosphäre vorhanden sei.“ Hilger bestätigte dies und gab seinen in der Vorbereitungsarbeit gewonnenen Eindruck wieder, „daß überall besonderes freundliches Entgegenkommen und Verständnis für die Lage Ostpreußens vorhanden sei.“ Die ursprünglich geplante Besprechung zwischen dem Oberpräsidenten und dem stellvertretenden Außenkommissar Litvinov122 mußte ausfallen, da Litvinov einen Tag vor der Ankunft der Delegation in Moskau nach Genf abgereist war. An seiner Stelle übernahm Boris Stomonjakov die Begrüßung des Oberpräsidenten und der ostpreußischen Delegation. Die Sowjetregie119 Leningrad erweckte bei Siehr den Eindruck, „als ob gerade Leningrad unter den Folgen der Umwälzung in Rußland besonders gelitten hätte. Man sieht eine Unzahl wunderschöner Gebäude (Schlösser, Palais), aber das Gesamtbild der Stadt ist grau in grau und die Gebäude in einem geradezu entsetzlichen Zustande der Verwahrlosung.“ (Bericht des OPO vom 12.5.1929) 120 Jedem Mitglied der sechsköpfigen Delegation wurde ein mit mehreren Zimmern ausgestattetes prächtiges Appartement angeboten. Es stellte sich jedoch heraus, „daß in sämtlichen 5 Appartements die dazu gehörige loci (Ubornaja) zerschlagen, verstopft und übel beschmutzt waren“, mit Ausnahme von Siehrs Bad, so daß er seine Kollegen zu ihm einladen mußte. Siehe hierzu Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz). 121 Dirksen meinte die Beilegung des deutsch-sowjetischen Streits um die Inhaftierung der deutschen AEG-Angestellten in Donbass im März 1928, wodurch die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen zunächst unterbrochen worden. Zur Folge der Schachty-Affäre siehe vor allem Sütterlin (1994), S. 216 ff. 122 Seit 1923 war Litvinov stellv. Volkskommissar für Auswärtigen der UdSSR. Wegen der schweren Erkrankung seines Chefs, Čičerin, war er bereits Ende der 20er Jahre tatsächlich als sowjetischer Außenminister angesehen worden.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
rung sei, so Dirksen, aufrichtig bemüht, nicht nur die Reise angenehm und interessant zu gestalten, sondern auch der ostpreußischen Delegation Gelegenheit zu geben, mit den zuständigen Behörden eingehende Besprechungen zu führen. Auf diese erfreuliche Mitteilung erwiderte Siehr, daß er als Oberpräsident nicht die Absicht habe, auf seiner Reise Kaufverträge abzuschließen und den Besuch als Geschäftsreise zu gestalten. Er betonte, daß der Besuch vor allem dazu dienen solle, die beiderseitige Freundschaft zu vertiefen und die gegenseitigen Vorteile der Entfaltung des ostpreußischsowjetischen Wirtschaftsverkehrs vor Augen zu führen.123 Nach einer eingehenden Unterredung über die einzelnen Programmpunkte verließ die Delegation die deutsche Botschaft und besuchte Olga Kameneva124 von der Vereinigung für die kulturelle Verbindung zwischen der UdSSR und dem Ausland (VOKS).125 Während sich hier die Delegation stundenlang aufhielt, fuhr der Oberpräsident allein zum Außenkommissariat zur Verhandlung mit Stomonjakov.126 Die Besprechung zwischen Siehr und Stomonjakov konzentrierte sich ausschließlich auf Fragen von außenpolitischem Interesse und unterlag besonderer Geheimhaltung. Der Oberpräsident sprach zwei Verkehrsfragen an, die seit 1920 das Kernanliegen Ostpreußens ausmachten, nämlich die Freigabe der Memelflößerei sowie die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Hafens Königsberg, insbesondere die Einführung durchgehender Eisenbahnstaffeltarife. Siehr machte zuerst auf die Notlage der ostpreußischen Holzindustrie aufmerksam. Er bat Stomonjakov, „die UdSSR möge ihren Einfluß ausüben, um die z. Zt. bestehenden Schwierigkeiten, die namentlich auf Polen zurückzuführen seien, nach Möglichkeit zu beheben.“127 Im Vordergrund dieses Bittgesuchs standen die bisherigen Bemühungen des Oberprä123 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 125 ff., Abschrift, Deutsche Botschaft (Dirksen) an AA, 16.4.1929. Die gleiche Akte auch in GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 525. 124 Olga Kameneva war Schwester von L. D. Trockij und Frau von L. B. Kamenev. Zur selben Zeit bat Litvinov Deutschland um Trockijs Übernahme. Die Reichsregierung lehnte dieses Gesuch strikt ab. Vgl. ADAP, Ser. B, XI, Dok. 47, Pünder, 1.2.1929, S. 86 f.; Dok. 54, Stresemann, 6.2.1929, S. 101 f.; Dok. 56, v. Dirksen, 8.2.1929, S. 105 f.; Dok. 87, v. Schubert, 25.2.1929, S. 195 f.; Dok. 90, v. Dirksen, 25.2.1929, S. 202 f. 125 Über VOKS siehe vor allem Edgar Lerschi: Die auswärtige Kulturpolitik der Sowjetunion in ihren Auswirkungen auf Deutschland 1921–1929, Frankfurt am Main 1979. 126 Boris S. Stomonjakov war von 1921 bis 1925 als Handelsvertreter der UdSSR bei der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin tätig. Nach seiner Rückkehr in Moskau wurde er zum stellv. Volkskommissar für Außenhandel ernannt. 127 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 125 ff., Abschrift, Deutsche Botschaft (Dirksen) an AA, 16.4.1929.
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sidenten um die Rettung der einzigen bodenständigen Industrie Ostpreußens, der Holzindustrie, die infolge der Unterbindung der Memelflößerei in eine äußerst schwierige Lage gebracht worden war.128 Zu seinen Rettungsversuchen gehörte insbesondere der Abschluß des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens von 1923, das unter besonderem Einsatz des Oberpräsidenten zustande gekommen war. Die Wirksamkeit dieses Abkommens war allerdings durch die sehr angespannten Verhältnisse zwischen Polen und Litauen schwer eingeschränkt. Mit Rücksicht auf die ungünstige Lage der ostpreußischen Holzindustrie äußerte Stomonjakov, „daß auch die Regierung der U. d. S. S. R. Interesse daran habe, bessere Abtransportmöglichkeiten für das Holz aus den Weißrussischen Wäldern zu finden.“129 Zum anderen erhob der Oberpräsident Einspruch dagegen, daß die Frage der Staffeltarife bisher nur einseitig vom Standpunkt der Verkehrsressorts behandelt worden sei. Obwohl die Einführung direkter Tarife von den sowjetischen Stationen über die Transitstaaten bis zum Hafen Königsberg in Artikel 4 des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens in Aussicht gestellt worden war, war sie bisher nicht realisiert worden. Außerdem war dieser Klausel ein vertraulicher Notenwechsel (Nr. 9 zu Artikel 4) vom 12. Oktober 1925 beigelegt worden. Ihm zufolge sollte dem Reich das Recht zustehen, in Verhandlungen mit der UdSSR über die zu ergreifenden gemeinsamen Maßnahmen gegen die Transitstaaten einzutreten, falls der Königsberger Hafen eisenbahntariflich ungünstiger als die nicht zur UdSSR gehörenden Ostseehäfen behandelt würde.130 Diese Vereinbarung ging ursprünglich auf den Vorschlag der Königsberger Handelskammer bei den deutsch-sowjetischen Handelsvertragsverhandlungen in den Jahren 1924 / 25 zurück. Im Sinne des Notenwechsels bemerkte Siehr: „Es sei an der Zeit, 128 Hierzu berichtete die Handelskammer Königsberg im Jahr 1930 über die Not der Holzindustrie: „Einer der am schwersten ringenden ostpreußischen Wirtschaftszweige ist die Sägewerksindustrie. Die meisten Betriebe sind bereits zum Erliegen gekommen, und die noch verbleibende Produktion wird mit 20 Prozent ihres Vorkriegsumfanges wahrscheinlich noch zu hoch geschätzt sein. Die noch arbeitenden Betriebe haben Einschränkungen bis zu 50 Prozent vornehmen müssen und arbeiten fast durchweg mit Verlust.“ in: Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1930, S. 22. 129 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 125 ff., Abschrift, Deutsche Botschaft (Dirksen) an AA, 16.4.1929. 130 Entwurf eines Gesetzes über die deutsch-russischen Verträge vom 12. Oktober 1925, Vertrauliche Protokolle und vertraulicher Notenwechsel (Reichsrat, 1925, Nr. 155, AA an Reichsrat, 6.11.1925), BA, R 43 I / 134, AA an Staatssekretär in der Reichskanzlei, 30.10.1925; BA, R 9215 / 243; GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3. Abdruck in: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925. Vom Rapallovertrag bis zu den Verträgen vom 12. Oktober 1925, Berlin 1978, Dok. 399, S. 816 ff. (hier S. 825 f.).
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
auf die Eisenbahnverwaltungen einen Druck auszuüben, um diese zu veranlassen, auch ihrerseits durch Umgestaltung ihrer Tarife den Warenaustausch und Gütertransit mit und durch Ostpreußen zu erleichtern.“131 Der Widerstand Polens und Lettlands gegen die Aufstellung durchgehender Staffeltarife bis zum Hafen Königsberg war außerordentlich stark. Während die Gleichstellung zwischen den Häfen Memel und Königsberg sowie die Beteiligung der litauischen Eisenbahnverwaltung an Staffeltarifen von der UdSSR bis Ostpreußen im Rahmen des zweiten deutsch-litauischen Handelsvertrags vom 30. Oktober 1928 gesichert wurde,132 lehnten Lettland und Polen es ab, entsprechende Bedingungen in ihre Handelsverträge mit Deutschland aufzunehmen. Auf den Vorstoß des Oberpräsidenten erwiderte Stomonjakov, „daß die Regierung der U. d. S. S. R. gern zu einem Entgegenkommen bereit sei.“133 Er bemerkte aber, daß sich die Sowjetregierung im sowjetisch-lettischen Handelsvertrag verpflichtet habe, den Hafen Riga nicht ungünstiger als andere Ostseehäfen zu behandeln. Daher dürfe man von der Sowjetregierung keine Bevorzugung des Königsberger Hafens erwarten. Zum Schluß des Gesprächs einigte sich Siehr mit Stomonjakov darauf, daß die Erörterung dieser Angelegenheiten zunächst den deutschen und sowjetischen Bahnverwaltungen überlassen werden solle, bevor die Regierungen beider Staaten Entschließung darüber treffen könnten.134 Unmittelbar nach Abschluß dieser vertraulichen Unterredung im Außenkommissariat besuchte der Oberpräsident zusammen mit seiner Delegation den Präsidenten des Gebietssowjets (Mossowjet), Uchanov, der die Delegation mit einer freundlichen Rede über das System der Stadt- und Gouvernementsverwaltung im Moskauer Gebiet empfing. Siehr nahm sodann an der Pressekonferenz teil, zu der Vertreter der sowjetischen Presse, darunter der „Izvestija“,135 sowie auch deutscher Zeitungen aus Berlin, Hamburg und Königsberg erschienen waren.136 Bei dieser Gelegenheit versuchte Siehr, nicht nur die Vorteile der Entfaltung des ostpreußisch-sowjetischen Wirtschaftsverkehrs für die Sowjetwirtschaft zu propagieren, sondern auch den Geist von Rapallo zu beschwören und die Zusammenarbeit zwischen der durch den Korridor vom Reich abgetrennten Provinz Ostpreußen und Ruß131 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 125 ff., Abschrift, Deutsche Botschaft (Dirksen) an AA, 16.4.1929. 132 RGBl. 1929, II, S. 105 ff. 133 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 125 ff., Abschrift, Deutsche Botschaft (Dirksen) an AA, 16.4.1929. 134 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 219 ff., Reichsbahngesellschaft, Hauptverwaltung (Berlin) an PreußHM, 19.10.1929. 135 „Interview mit dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen Dr. Siehr“, in: Izvesitja, 10.4.1929. 136 Berliner Tageblatt, Hamburger Fremdenblatt, Vossische Zeitung usw.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens747
land in diesem Sinne zu verankern. So brachte Siehr die Sendung Ostpreußens mit den Worten zum Ausdruck: „Ostpreußen ist zur Brücke zwischen der UdSSR und Deutschland geworden“.137 Der Besuch der ostpreußischen Delegation in Moskau wurde sowohl von der sowjetischen als auch der deutschen Presse beachtet.138 Am Abend des ersten Tages in Moskau fand eine Sondersitzung der allrussischen Handelskammer für den Westen (Sektion Deutschland) unter Teilnahme der ostpreußischen Delegation sowie von Botschafter Dirksen statt. Die Sitzung wurde unter Vorsitz des Präsidenten der Handelskammer für den Westen und zugleich stellvertretenden Handelskommissars Chinčuk eröffnet. An der Sitzung beteiligten sich über hundert Personen aus den verschiedenen Kommissariaten, der allrussischen Handelskammer sowie dem sowjetischen Generalkonsulat Königsberg und der deutschen Botschaft in Moskau. In seiner Begrüßungsrede bezeichnete Chinčuk den Königsberger Hafen als das wichtigste Exportzentrum Rußlands. Anschließend wurde von der allrussischen Handelskammer ein großer Empfang im Grandhotel gegeben, zu dem alle Sitzungsteilnehmer eingeladen wurden, um so der ostpreußischen Delegation die Gelegenheit zu geben, die Vertreter der Behörden und Wirtschaftsorganisationen kennenzulernen. Der zweite Tag des Moskauer Aufenthalts (9. April) wurde ausschließlich auf die Stadtbesichtigung verwendet. Während Siehr und Lohmeyer zu einer Elektroindustriefabrik eingeladen wurden, besuchte Litten (Königsberger Handelskammer) das Moskauer Exportchleb (die Zentralstelle des Getreideexports der UdSSR). Zwei Vertreter der Landwirtschaftskammer (Heumann und Becker) besichtigten ein Düngemittelinstitut. Am Mittag traf die Delegation wieder bei der deutschen Botschaft ein und nahm zusammen mit Dirksen das Frühstück ein.139 Am Nachmittag nutzte die Delegation auf eigenen Wunsch die Zeit für die Besichtigung einer großen Wohnungsbaustelle.140 Am Abend besuchte sie auf Einladung den Kongreß des Sowjets des Moskauer Gebiets, was bei den ostpreußischen Reisenden einen bleibenden Eindruck hinterließ: „Das äußere Bild war außerordentlich interessant, insbesondere das Auditorium, das aus rund 1000 Abgeordneten bestand und durch seine verschiedenartige Kleidung und Haltung ein bewegtes Bild gab.“ Dabei wohnte die Delegation auch einer stürmisch beklatschten Rede 137 „Ostpreußen ist Brücke nach Rußland. Oberpräsident Siehr gibt der Izvestija ein Interview“ in: Königsberger Hartungsche Zeitung, 16.4.1929. 138 „Interview mit dem Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, Dr. Siehr“, in: Izvestija, 10.4.1929. 139 Dort begegnete die Ostpreußische Delegation dem Generalmusikdirektor der Berliner Krolloper, dem Dirigenten Otto Klemperer, der zufällig anwesend war. 140 Siehr erinnerte sich nach mehreren Jahren noch an die miserablen und katastrophalen Wohnverhältnisse in Moskau. Siehe hierzu Siehr: Erinnerung (Privat besitz).
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
von A. I. Rykov bei. Nach dem Kongreßbesuch wurde die Delegation zum Besuch eines Gewerkschaftstheaters eingeladen.141 Am dritten Tage des Moskauer Aufenthalts (10. April) besichtigte die ostpreußische Delegation am Vormittag zunächst die Kremlmuseen. Am Nachmittag traf sie mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare sowie Leiter des Gosplans der RSFSR,142 A. M. Ležava, zusammen, dem Vertreter Rykovs.143 Seit ihrer ersten Beteiligung an der Ostmesse von 1922 war die sowjetische Delegation Stammgast in Königsberg. Sowohl die Stadt Königsberg als auch die Handelskammer hatten sich stets darum bemüht, den Aufenthalt der sowjetischen Delegation bei der Ostmesse angenehm und nützlich zu gestalten. Außerdem wurden Regierungsvertreter aus dem Reich und den Oststaaten zur Ostmesse eingeladen, was sowohl zur Kontaktaufnahme als auch zum Eintritt in inoffizielle Verhandlungen beitrug. Beim Moskauer Besuch der ostpreußischen Delegation revanchierte sich die Sowjetregierung deshalb für die großzügige Behandlung der sowjetischen Teilnehmer an der Königsberger Ostmesse.144 Ležava versicherte seinen Gesprächspartnern, „daß die Regierung bereit sei, alle Bestrebungen zur Vertiefung der Beziehungen auf’s Wärmste zu unterstützen.“145 Er lobte mit besonderem Nachdruck die deutsche Kultur und Wissenschaft. Der Oberpräsident entschloß sich, diese günstige Gelegenheit zu nutzen, und bat den Spitzenpolitiker darum, auf die höheren sowjetischen Regierungsstellen einzuwirken, um die Bedeutung des Königsberger Hafens als wichtigstem Exporthafen Rußlands und dessen Vorteile für den Wiederaufbau der russischen Wirtschaft hervorzuheben. Siehr warf außerdem die Frage der Staffeltarife auf. Er erhob scharfe Vorwürfe gegen die gegenwärtige Verkehrspolitik Deutschlands und Rußlands, welche offenbar nur aus fiskalischen Gründen die Einführung durchgehender Staffeltarifen verzögere. Die Eisenbahnverwaltungen müßten ihre passive Verkehrspolitik ändern, um den Güterverkehr durch die Einführung durchgehender Tarife und die damit verbundene Senkung der Frachtkosten zu steigern und damit auch ihre Einnahmen zu vermehren. Während Ležava sich gern bereit erklärte, die Bedeutung des Königsberger Hafens bei seiwurde Aufstand [Meuterei] von Dmitrij Andreevič Furmanov. für die Wirtschaftsplanung der RSFSR mit der Aufgabe einer Erarbeitung des Fünfjahrplanes. 143 „Die Landwirtschaftsausstellung der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 3. Jg., Heft 19, 1.7.1923, S. 1 ff. 144 „Die Landwirtschaftsausstellung der Deutschen Ostmesse. Reichskanzler Cuno über die Bedeutung der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 3. Jg., Heft 19, 1.7.1923, S. 1 ff. 145 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 135 ff. Bericht über die Reise nach Rußland, OPO, 12.5.1929. 141 Aufgeführt 142 Komitee
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ner Regierung hervorzuheben, verhielt er sich in der Staffeltariffrage zurückhaltend. Ležava äußerte, daß er die Einberufung einer Verkehrskonferenz der beteiligten Bahnverwaltungen für notwendig halte. Seiner zögerlichen Antwort war der harte Widerstand der sowjetischen Verkehrsbehörden gegen die Einführung durchgehender Staffeltarife zu entnehmen, was Siehr nicht wenig enttäuschte. Ležava versprach jedoch, sich mit aller Kraft für die Einberufung dieser Verkehrskonferenz einzusetzen. Zum Schluß der Unterredung äußerte er wiederholt, „daß die Regierung alles tun würde, um diese Bestrebungen zu fördern.“146 Die ostpreußische Delegation verbrachte diesen Abend im Ballett.147 Der vierte Tag des Moskauer Aufenthalts (11. April) begann mit dem Besuch der Delegation beim Volkskommissar für Landwirtschaft. Im Gegensatz zu den anderen Gesprächspartnern verhielt sich der Landwirtschaftskommissar Kubjak den deutschen Besuchern gegenüber ziemlich kühl. Während der Vertreter der Landwirtschaftskammer, Rittergutbesitzer Heumann, zur besonderen klimatischen Anpassungsfähigkeit der ostpreußischen Zuchttiere sowie Saaten in der UdSSR vortrug, verhehlte Kubjak nicht seine Skepsis. Er selbst führte aus, daß die kommunistische Regierung die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft, die auf die schwere Erbschaft des Feudalismus zurückgehe, überwinden müsse. Die Sowjetunion könne jedoch den landwirtschaftlichen Aufbau aus eigener Kraft schaffen. „Viele Bourgeoisländer glaubten, es sei eine Gnade, wenn sie Rußland Ware anböten“, so Kubjak ironisch. Der Oberpräsident bemühte sich, die Bedeutung des Rapallo-Vertrags hervorzuheben. Die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Rußland gegen die Versailler Siegermächte sei eine Schicksalfrage. Siehr protestierte, „daß unter den Bourgeoisländern, die Rußland gegenüber eine Blockade ausgeübt hätten, das Deutsche Reich und insbesondere Ostpreußen doch wohl nicht gezählt werden können. Denn gerade das Deutsche Reich habe als erstes durch Abschluß des Vertrages von Rapallo dem Nachbar die Hand gereicht.“148 Daraufhin verliefen die Verhandlungen in freundlicherer Atmosphäre. Die Absicht der ostpreußischen Landwirtschaftskammer, Zuchttiere aller Art und Saaten nach der UdSSR zu exportieren, schien jedoch nicht aufzugehen. Während der Volkskommissar auf die Nachfrage des Militärs und der Landwirtschaft nach ostpreußischen Pferden hinwies, zeigte er für den Ankauf anderer Zuchttiere sowie Saaten kein Interesse. Hingegen re agierte Kubjak wohlwollend auf das Angebot der ostpreußischen Landwirt146 Ebd.
wurde La bayadèra von Lèon Minkus. PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 135 ff. Bericht über die Reise nach Rußland, OPO, 12.5.1929. 147 Aufgeführt 148 GStA
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
schaftskammer, der sowjetischen Landwirtschaft wissenschaftliche und technische Hilfe anzubieten. Bei diesem Besuch konnte selbstverständlich vom Abschluß der Kaufverträge keine Rede sein. Siehr bemerkte, daß man nicht gekommen sei, um etwas zu verkaufen, sondern um die gegenseitigen Beziehungen zu vertiefen. Im Anschluß an das Gespräch beim Landwirtschaftskommissariat besuchte die ostpreußische Delegation zunächst ein Institut für zootechnische Wissenschaft und sodann die weit außerhalb der Stadt gelegene Moskauer landwirtschaftliche Akademie. Hier wohnten 4000 Studenten und arbeiteten außerdem ca. 1000 Wissenschaftler und Beamte. Nach dem sehr herzlichen Empfang bei der Akademie kehrte die Delegation am Abend in die Stadt zurück. Die deutsche Botschaft gab an diesem Abend einen großen Empfang, an dem zahlreiche einflußreiche Vertreter der sowjetischen Regierung, wie Mikojan, Stomonjakov, Chinčuk teilnahmen. Diese Veranstaltung trug besonders dazu bei, daß die Delegationsmitglieder zur Klärung einzelner Verhandlungspunkte unmittelbar mit den Leitern der zuständigen sowjetischen Wirtschaftsbehörden persönliche Gespräche führen konnten. Am vierten Tage des Moskauer Aufenthalts (12. April) fand eine Sitzung des Handelskommissariats unter Teilnahme der ostpreußischen Delegation sowie der Vertreter der Berliner sowjetischen Handelsvertretung statt.149 Zur gleichen Zeit hielt der Vertreter der Landwirtschaftskammer, Heumann, auf russischen Wunsch einen Vortrag über die ostpreußischen Agrarprodukte bei der Allrussischen Handelskammer für den Westen. Bei der Sitzung des Handelskommissariats, die über drei Stunden dauerte, wurden die wirtschaftlichen Anliegen Ostpreußens und Rußlands, welche bereits als Denkschrift Ende Dezember 1928 zwischen Preyer und Rajvid ausgetauscht worden waren, eingehend diskutiert. Under anderen wurden folgende Fragen erörtert: 1. die Holzlieferung aus der UdSSR, 2. der Handel mit Hülsenfrüchten in Königsberg, 3. der australische Wollimport über Königsberg nach der UdSSR, 4. die Bestellungen bei ostpreußischen Werften.150 Die Verhandlungen wurden unter dem Sitzungsvorsitz von Kollegiumsmitglied Schleifer geführt, der als Wirtschaftsexperte der deutschen Seite gut bekannt war. Hierbei nahm die Kredit- und Eisenbahntariffrage eine besondere Stellung ein. Im Interesse des russischen Holzexports forderte das sowjetische Handelskommissariat die Einführung durchgehender Staffeltarife bis zum Hafen Königsberg. Hingegen wurde die Aufstellung von Staffeltarifen für andere Waren, wie Getreide und Hülsenfrüchte, von der sowjetischen Seite 149 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 136, Anlage zum Bericht des OPOs. Besprechung am 12. April 1929 im Außenhandelskommissariat. 150 Vgl. GStA PK, XX. HA. Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Bl. 298 ff., Union-Gießerei an OPO, 3.1.1928.
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nicht in Erwägung gezogen. Schleifer beschwerte sich über die Haltung Lettlands und Litauens, die in dieser Frage bisher keine Zugeständnisse gemacht hätten. Er äußerte sich auch kritisch über die Tarifpolitik der Reichsbahn. Diese offenbar aus verhandlungstaktischen Gründen erhobenen Vorwürfe zwangen den Oberpräsidenten dazu, als Vertreter Deutschlands die Reichsbahn zu verteidigen. Obwohl Siehr in Wirklichkeit mit der internationalen Tarifpolitik der Reichsbahn sehr unzufrieden war, bemühte er sich darum, die Bedeutung der bisher von der Reichsbahn gemachten Tarifermäßigungen zu betonen. Tatsächlich hatte diese Ermäßigungen, die lediglich für den kurzen deutschen Streckenabschnitt galten, keinen wesentlichen Einfluß auf die Frachtbildung von der UdSSR bis zum Hafen Königsberg. Eine wesentliche Erleichterung im Transitverkehr konnte lediglich durch das Zusammenwirken aller beteiligten Staaten erzielt werden. Siehr forderte deshalb, daß das sowjetische Handelskommissariat sich beim Verkehrskommissariat und der sowjetischen Eisenbahnverwaltung für die Aufstellung durchgehender Staffeltarife verwenden solle. Er schlug vor, die Eisenbahntariffrage nicht nur über die Holzlieferung, sondern auch über alle in Frage kommenden Waren zur Debatte zu stellen und dafür eine neue Verkehrskonferenz, wie von Ležava angeregt, einzuberufen. Was den Hülsenfrüchtehandel, vor allem das Linsengeschäft anging, verlangte die ostpreußische Delegation, den gesamten Linsenexport aus der UdSSR restlos nach dem Hafen Königsberg zu leiten. Der Oberpräsident begründete diesen Wunsch damit, daß die Preise für Linsen an der Königsberger Börse durch den von der UdSSR billiger als in Königsberg ausgebotenen Linsenverkauf auf auswärtigen Handelsplätzen erheblich gedrückt worden seien. Die ostpreußische Delegation legte dem Moskauer Handelskommissariat nahe, daß die Abwicklung des gesamten Linsenhandels über Königsberg höhere Preise verspreche. Das sowjetische Handelskommissariat erwiderte aber, daß es nicht in der Lage sei, diesem Wunsch Königsbergs nachzukommen. Gegenwärtig würden ca. 80 % der zum Export bestimmten russischen Linsen zuerst an den Hafen Königsberg geliefert. Die hundertprozentige Ablieferung wäre lediglich durch die Gewährung größerer Kredite möglich. Bei dieser Gelegenheit schnitt Schleifer die Kreditfrage an und bat Oberbürgermeister Lohmeyer um die Zinsenermäßigung der Kredite bei der Stadtbank. Als neues Projekt wurde seit 1928 die Möglichkeit zum Import australischer Wolle über Königsberg nach der UdSSR zur Diskussion gestellt. Zu seiner Verwirklichung verlangte der Handelskommissar die Zinsermäßigung des Lombardkredits für die Wolle bei der Königsberger Stadtbank, vor allem unter Hinweis auf die günstigeren Angebote amerikanischer Banken. In diesem Kontext machte Schleifer den Kompromißvorschlag, daß die UdSSR den gegenwärtig von der Stadtbank angebotenen Zinssatz annehmen würde, „wenn der Lombardkredit noch einige
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Monate nach Abtransport der Ware stehen bleiben könnte“.151 Auf diesen Vorschlag des Handelskommissariats, der mit dem Begriff eines normalen Lombardkredits kaum übereinstimmte, antwortete Lohmeyer vorsichtig, daß diese Frage den Spezialverhandlungen der Sachverständigen der Stadtbank überlassen werden müsse. Diese Angelegenheit, die augenscheinlich kaum von Bedeutung war, bereitete in der Folgezeit im Wirtschaftsverkehr zwischen Königsberg und der UdSSR außerordentliche Schwierigkeiten152 und hatte letztlich die Unterbrechung des gesamten Handelsverkehrs zwischen Königsberg und der UdSSR zur Folge. Hinsichtlich des Industrieexports aus Ostpreußen nach der UdSSR schlug das Handelskommissariat die Schiffsbestellung bei der ostpreußischen Industrie vor. Sowohl dieser sowjetische Vorschlag als auch die ostpreußischen Wünsche nach dem Verkauf von Maschinenanlagen machten weitere große Kredite nötig, deren Vergabe ausschließlich von der Entscheidung der Reichsregierung abhing. Trotz einiger Meinungsunterschiede wurde die Besprechung zwischen der ostpreußischen Delegation und dem Moskauer Handelskommissariat in sehr freundlicher Atmosphäre beendet. Zum Schluß der Sitzung sprach Siehr von gesundem Optimismus für die ostpreußisch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen. Schleifer stimmte ihm zu: „Optimismus plus Optimismus ist halber Sieg.“153 Nachdem die Delegation am Nachmittag im Grandhotel einem Konzert der von Frau Kameneva geleiteten VOKS beigewohnt hatte, wurde sie am Abend überraschenderweise noch einmal von Handelskommissar Mikojan empfangen. Mikojan, der auf die Delegierten einen ganz ausgezeichneten Eindruck machte, brachte mit großer Warmherzigkeit seine sichere Hoffnung auf die Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ostpreußen und der UdSSR zum Ausdruck. Mit diesem Tag hatte die Delegation ihr Ziel, mit den sowjetischen Stellen unmittelbare Wirtschaftsverhandlungen zu führen, tatsächlich erreicht. Die wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Aufgaben der Rußlandreise waren somit erledigt.154 Die noch verbleibenden zehn Tage sollten auf die Reise nach dem Kaukasus sowie in die Ukraine verwendet werden.
151 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 136, Anlage zum Bericht des OPOs. Besprechung am 12. April 1929 im Außenhandelskommissariat. 152 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 2, Stadtkämmerer Lehmann an AA, 30.1.1930. 153 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 135 ff. Bericht über die Reise nach Rußland, OPO, 12.5.1929. 154 Am Abend besuchte die ostpreußische Delegation ein sowjetisches Theater. Aufgeführt wurde Der rote Mohn von Reinhold Moritzewitsch Glière.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens753
c) Kaukasus Am letzten Tag des Moskauer Aufenthalts (13. April) besichtigte ein Teil der Delegation am Vormittag die Tretjakov-Galerie,155 während die Vertreter der Landwirtschaftskammer (Heumann und Becker) die landwirtschaftliche Importgesellschaft (Selchosimport) besuchten, um ein Gespräch über die Absatzmöglichkeiten für ostpreußische Agrarprodukte zu führen. Zur selben Zeit wurde Oberpräsident Siehr auf Wunsch der Sowjets zur Besichtigung des Moskauer Krematoriums eingeladen. Um 14 Uhr verließ die ostpreußische Delegation Moskau und reiste weiter nach Sotschi am Schwarzen Meer. Ziel dieser Kaukasusreise war es, die deutsche landwirtschaftliche Konzession (Deutsch-Russische Saatgutaktiengesellschaft / Drusag) zu besichtigen. Die Drusag, an der die Stadtbank Königsberg finanziell beteiligt war,156 engagierte sich insbesondere für die Akklimatisierung ostpreußischer Zuchttiere sowie Saaten. Die über 50 Stunden lange Bahnfahrt durch Rußland und die Ukraine bis in den Kaukasus hinterließ bei den ostpreußischen Reisenden einen unvergeßlichen Eindruck von den Naturschönheiten Rußlands. Zugleich beobachtete sie die ständige Überwachung der sowjetischen Geheimpolizei (GPU), die die Delegation die ganze Reise hindurch begleitete.157 Am 15. April kam die Delegation in Sotschi an, wo sie durch den Kurdirektor empfangen wurde, den der Volkskommissar für Gesundheitswesen telegraphisch instruiert hatte. Die Delegation wurde im Strandhotel Riviera untergebracht. Sie besuchte an den nächsten Tagen zusammen mit den Behördenvertretern und Ärzten den großen Kurort. Am 18. April fuhr die Delegation nach Kaukaskaya, wo sich die genannte deutsche Konzes sion befand. Die Besichtigung der Konzession sowie des benachbarten sow jetischen Staatsguts (Sowchos) fand am nächsten Tag statt. Die Delegation verbrachte fast den ganzen Tag mit der Besichtigung dieser enormen Güter. 155 Über das Tretjakov-Museum schrieb der Reichsinnenminister a. D. KochWeser: „Kluge Anordnung hat hier im Dienste der Sowjetpropaganda den Gang durch das Museum zu einem Weg durch die soziale Geschichte Rußlands gestaltet.“ Erich Koch-Weser: Rußland von heute. Das Reisetagebuch eines Politikers, Dresden 1928, S. 68. 156 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1928, S. 136. Siehe auch GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Bericht über die in der Zeit von 24.3.1933–13.4.1933 erfolgte Revision der Stadtbank Königsberg Pr. 157 Aus diesen Gründen fanden die Besprechungen mit den Vertretern der deutschen Kolonien in Riga, Leningrad, Moskau sowie Charkow ausschließlich in der deutschen Botschaft bzw. im deutschen Konsulat statt. Siehe hierzu Siehr: Erinnerungen (Privatbesitz). Später berichtete Auhagen, der mit dem Königsberger Wirtschaftsinstitut eng zusammengearbeitete, von der Notlage der Rußlanddeutschen. Otto Auhagen: Die Schicksalwende des rußlanddeutschen Bauerntums in den Jahren 1927–1930, Leipzig 1942.
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In der Drusag, die ca. 11.000 ha umfaßte, stellte die ostpreußische Delegation mit Begeisterung fest, daß die Zucht der aus Ostpreußen stammenden Tiere – Pferde, Schweine sowie Schafe – sich als durchweg erfolgreich erwies.158 Dem Direktor zufolge wurden die Güter der Drusag von sowjetischer Seite als mustergültig angesehen. Die sowjetischen Stellen besuchten deshalb sehr oft die Drusag, um Informationen über die landwirtschaftliche Technik einzuholen. Die erfreulichen Ergebnisse der Drusag hinterließ bei der ostpreußischen Delegation den Eindruck, daß ihre Arbeit, die unter Mitwirkung Königsbergs und Ostpreußens erfolgte, nicht nur von wirtschaftlicher, sondern sogar von nationalpolitischer Bedeutung sei. d) Charkow Am Spätabend vom 19. April verließ die Delegation den Kaukasus und reiste nach Charkow ab. Nach der über 20 Stunden langen Bahnfahrt kam die Delegation gegen 22 Uhr am 20. April in Charkow an. Zum Empfang am Bahnhof erschienen die zahlreichen Vertreter aus dem Außenkommissariat sowie der VOKS. Für den Aufenthalt in Charkow waren nur anderthalb Tage vorgesehen. Die Delegation bemühte sich dennoch, in dieser kurzen Zeit, soweit möglich, mehrere ukrainische Behörden zu besuchen. Am Vormittag des nächsten Tages traf die Delegation zuerst den Bevollmächtigten des Außenkommissars der UdSSR für die Ukraine, Kulik. Unmittelbar danach wurde die Delegation bei der VOKS von zahlreichen Vertretern der verschiedenen Volkskommissariate empfangen. Nach einer kurzen Besichtigung beim Veterinärinstitut, dem Landwirtschaftsinstitut sowie der Zentralstelle für die Saatenkontrolle besuchte die Delegation das deutsche Generalkonsulat. Generalkonsul Walther159 lud die Delegation sowie die maßgebenden sowjetischen Stellen von Charkow zum Frühstück ein. Am Abend dieses Tages veranstaltete VOKS ein großes Bankett, bei dem es weitere Gelegenheit gab, mit ukrainischen Politikern unmittelbare Fühlung nehmen zu können. Zu erwähnen ist vor allem die Einstellung der ukrainischen Spitzenpolitiker, die dem Oberpräsidenten ihre gegen Polen gerichtete Haltung offen erklärten. Kulik z. B. brachte die Vertiefung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Ostpreußen und der Ukraine in folgender Weise zum Ausdruck: „Dieser [scil. Kulik] zog einen Vergleich zwischen der Ukraine und Ostpreußen, die beide durch den Versailler Vertrag besonderes schwer gelitten hätten und beide von dem gemeinsamen Feinde, Polen, bedroht 158 Über die Deutsch-Russische Saatbau-Aktiengesellschaft, siehe auch „Auf den Gütern der Deutsch-russischen Staatsgut A.-G.“, in: OEM, 5. Jg / Nr. 8, 15.1.1925, S. 4. Vgl. auch Hilger (1956), S. 176. 159 Der deutsche Generalkonsul in Charkow, Carl Heinrich Walther.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens755
würden.“160 Das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft zwischen Ostpreußen und der Ukraine gegen Polen und den Versailler Vertrag, welches sich auf den Geist von Rapallo bezog, war nach dem Eindruck des Oberpräsidenten bei den ukrainischen Stellen überall zu finden. Am nächsten Tage (22. April) nutzte die Delegation die bis zur Abfahrt noch vorhandene kurze Zeit für Wirtschaftsbesprechungen mit den maßgebenden Stellen der Ukraine. Zuerst besuchte die Delegation den Vorsitzenden des Charkower Gebiets-Sowjets, Buzenko. Auf Nachfrage von Oberbürgermeister Lohmeyer gab er eingehende Informationen über die Gebietsverwaltung, wobei er auf die Bedeutung Deutschlands für die Stadt Charkow unter Hinweis auf die deutsche Bewohnerzahl von 360.000 hinwies. Anschließend fuhr die Delegation zum ukrainischen Volkskommissariat für die Landwirtschaft. Der stellvertretende Volkskommissar, Katschinsky, bemühte sich, diesen Besuch der Delegation zu Wirtschaftsbesprechung mit den Sachverständigen der ukrainischen Behörden zu nutzen. Der Landwirtschaftskammervertreter Heumann hielt zunächst einen Vortrag über die gute Akklimatisierung und Anpassungsfähigkeit der ostpreußischen Zuchttiere und Saaten in Rußland unter Hinweis auf die bei der Drusag festgestellten Ergebnisse. Die ukrainischen Stellen zeigten ein lebhaftes Interesse an den ostpreußischen Pferden, Milchkühen sowie Schafen. Das ukrainische Landwirtschaftskommissariat legte besonderen Wert darauf, die ostpreußische Landwirtschaftstechnik in die Ukraine einzuführen. Zu diesem Zwecke bat das Volkskommissariat die ostpreußische Delegation um die Entsendung deutscher Spezialisten nach der Ukraine sowie um die Möglichkeit von Studienaufenthalten ukrainischer Agronomen in Ostpreußen.161 Die Besprechung im Landwirtschaftskommissariat weckte bei der ostpreußischen Landwirtschaftskammer große Hoffnung auf die Zuchttierausfuhr nach der Ukraine, wo auf Grund des Fünfjahresplans große Nachfrage vorhanden zu sein schien. Anschließend machte die ostpreußische Delegation einen Besuch beim stellvertretenden Handelskommissar Popov. Obwohl dieser Besuch zeitlich sehr beschränkt war, setzte sich Siehr dafür ein, dem wichtigsten ukrainischen Wirtschaftsressort die Königsberger Kernanliegen vor Augen zu stellen. In Anbetracht der bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Moskauer Handelskommissar und dem Verkehrskommissariat bat ihn der Oberpräsident darum, sich für die Einführung durchgehender 160 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 135 ff. Bericht über die Reise nach Rußland, OPO, 12.5.1929. 161 Ein landwirtschaftlicher Studienaustausch wurde realisiert. GStA PK, I. HA, Rep. 84B, Nr. 399, Bl. 174, Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen, 13.10.1931. Siehe auch „Starker Erfolg der Deutschen Ostmesse in Königsberg“, in: OEM, 11 Jg. / Nr. 23, 1.9.1931.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Eisenbahnstaffeltarife bis zum Hafen Königsberg zu verwenden. Das ukrainische Außenhandelskommissariat erklärte sich dazu bereit. Alle Besprechungen, die mit den ukrainischen Stellen geführt wurden, überzeugten die ostpreußische Delegation von dem erfolgreichen Abschluß ihrer langen Verhandlungsreise in die UdSSR. Der Abfahrtstermin rückte nun in greifbare Nähe. Siehr und Lohmeyer besuchten kurz den Vertreter des Obersten Volkswirtschaftsrats sowie den Vorsitzenden des Gosplans. Zur gleichen Zeit führten die Vertreter der Landwirtschaftskammer, Heumann und Becker, eine Besprechung mit der Zentralgenossenschaft der Ukraine. Diese bat die ostpreußische Landwirtschaftskammer ausdrücklich um ihre Hilfe sowohl im Tierzuchtbereich als auch beim Wiederaufbau der ukrainischen Landwirtschaft.162 Allerdings waren der ostpreußischen Seite die Vertreibung der Kulaken sowie die Zerstörung des Viehbestandes sehr gut bekannt. Nachdem alle geplanten Besuche absolviert waren, traf die Delegation noch einmal im deutschen Generalkonsulat ein. Nach dem Frühstück beim Generalkonsul fuhr die Delegation zum Bahnhof, wo zum Abschied mehrere Behördenvertreter, unter ihnen Kulik, warteten. Um 13 Uhr 40 fuhr der Zug mit der ostpreußischen Delegation nach Moskau ab. Die Rückreise nach Königsberg führte trotz des großen Umwegs über Moskau, damit die ostpreußische Delegation nicht durch Polen fahren mußte. Am Vormittag des 23. Aprils kam die Delegation in Moskau an. Die noch vorhandene Zeit bis zur um 21 Uhr vorgesehenen Abfahrt nach Königsberg nutzte sie zum Abschiedsbesuch bei Stomonjakov, Kameneva163 sowie bei der Gosbank.164 Am späten Nachmittag traf die Delegation bei der deutschen Botschaft ein und führte mit Dirksen noch eine letzte Besprechung über die Ergebnisse ihrer Verhandlungsreise. Mit dem Nachtzug fuhr die Delegation, wie auf der Hinfahrt, über Riga und Kowno nach Königsberg zurück, wo sie am Vormittag des 25. Aprils anlangte. Die durchgängig freundliche Haltung aller sowjetischen Stellen, die bei den ostpreußischen Reisenden einen unvergeßlichen Eindruck hinterließ, überzeugte den Oberpräsidenten vom Erfolg des Unternehmens. So schloß er seinen Reisebericht mit den Worten ab: „Für die Beziehungen zwischen der Provinz Ostpreußen und der Sowjet-Union glaube ich aber den bestimmten Eindruck gewonnen 162 Nach diesen Verhandlungen entwickelte sich tatsächlich ein Tierexportgeschäft Ostpreußens mit der UdSSR. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7714, Bl. 19, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten an PreußHM, 14.8.1929. Ebd., Bl. 42, Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen an PreußLM, 30.8.1929. 163 Die außerordentliche Freundlichkeit von Frau Kameneva prägte sich Siehr tief ins Gedächtnis ein. Zum Abschied wurde der Delegation außerdem eine Mappe mit Fotographien ihres Moskauer Aufenthalts geschenkt. 164 Staatsbank der UdSSR.
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zu haben, daß wir auf dem Wege des Fortschreitens dieser Beziehungen uns befinden, daß ich für die Entwicklung der Wirtschaft der Provinz auf diesem Wege berechtigten Hoffnungen mich hingeben darf und daß die Reise für die Förderung dieser Entwicklung recht wertvoll gewesen ist.“165 Der erhoffte Aufschwung des Wirtschaftsverkehrs zwischen Ostpreußen und der UdSSR blieb jedoch in der Folgezeit völlig aus. Die Verhandlungen über den Export ostpreußischer Tiere nach der UdSSR wurden ebenfalls nur langsam in Gang gesetzt. In Königsberg wußte man nun, wie schwierig es war, die einheitliche Mitwirkungsbereitschaft aller beteiligten Staaten für die Einführung durchgehender Staffeltarife zu erlangen. 4. Die Kritik der Reichsbahn an der Initiative des Oberpräsidenten a) Kompetenzüberschreitung? Trotz der vielseitigen Bemühungen des Oberpräsidenten in der Sowjet union blieben die erwarteten Schritte zur Einführung durchgehender Staffeltarife von seiten der Reichsbahn weiterhin aus. Im Gegenteil kritisierte die Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahngesellschaft, daß der Oberpräsident in Moskau ohne vorherige Rücksprache mit der Reichsbahn selbständig mit den sowjetischen politischen Stellen über die Eisenbahntariffrage, insbesondere über die Durchrechnung russischer Tarife (durchgehende Staffeltarife) verhandelt und dieses „selbständige Vorgehen“ seine Kompetenzen überschritten habe: „Sonderverhandlungen nichtberuflicher, nicht sachverständiger und nicht genügend unterrichteter Regierungsstellen in Verkehrsangelegenheiten […] können daher die sachliche wie auch die taktische Behandlung schwebender und oft sehr heikler Tariffragen gerade beim Neuaufbau der Verkehrsverhältnisse im Osten leicht stören und die Stellung deutscher Reichsbahndirektionen gegenüber den ausländischen Eisenbahnverwaltungen unliebsam und empfindlich erschweren“.166 Die Zuständigkeiten des Oberpräsidenten wurden infolge ihrer unklaren Abgrenzung, die auf die Leitsätze des Ostpreußenprogramms von 1922 zurückging, erneut in Frage gestellt. Den unmittelbaren Anstoß zu diesem Vorwurf der Reichsbahn gegen den Oberpräsidenten schienen dessen kritische Bemerkungen zur Tarifpolitik der Reichsbahngesellschaft gegenüber der „Izvestija“ gegeben zu haben: „Es müsse erreicht werden, daß sich die Eisenbahnverwaltungen beider Länder den wirtschaftlichen Zwecken vollständig zur Verfü165 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Bl. 135 ff. Bericht über die Reise nach Rußland, OPO, 12.5.1929. 166 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 219, Hauptverwaltung der Reichsbahngesellschaft an PreußHM, 19.10.1929.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
gung stellen und nicht rein fiskalische Ziele verfolgen.“167 In dem von der Reichsbahn übersetzten Text des Artikels vom 10. April 1929 wurden allerdings die fiskalischen Ziele deutlich stärker als im Originaltext betont.168 Merkwürdigerweise erhob die Reichsbahn ihre Vorwürfe erst sechs Monate nach Rückkehr der Delegation aus Moskau, also erst Mitte Oktober 1929, obwohl die umfangreichen Reiseberichte des Oberpräsidenten dem Auswärtigen Amt sowie den preußischen Zentralstellen unmittelbar nach seiner Rückkunft überreicht worden waren. Siehr hatte außerdem bereits Mitte Juni 1929 einen Sonderbericht über die Moskauer Verhandlung betreffend die durchgehenden Staffeltarife erstattet, der durch das preußische Handelsministerium Ende Juli an das Reichsverkehrsministerium und auch die Reichsbahngesellschaft weitergeleitet worden war.169 b) Die Haltung der Reichsbahn gegenüber dem deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommen Im Vordergrund der geschilderten Kritik an Siehrs Vorgehen stand die Entschließung der Reichsbahngesellschaft über die internationale Tarifpolitik. Sie hatte sich durchgängig dem Wunsch Königsbergs nach Einführung durchgehender Staffeltarife widersetzt, obwohl deren Einführung im deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommen von 1925 vorgesehen worden war. Nachdem der Antrag der Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.) auf Einführung durchgehender Staffeltarife auf der Moskauer Eisenbahnkonferenz vom Mai 1926 von der sowjetischen Bahnverwaltung zurückgewiesen worden war, hielt es die Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn für geboten, daß Deutschland von seiner Seite aus diese Frage nicht mehr anschneiden dürfe. Nach diesem Fehlschlag auf der Moskauer Verkehrskonferenz wurde die Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.), die bis dahin stets den Königsberger Wirtschaftskreisen zur Seite stand, dazu gezwungen, sich zurückhaltend gegenüber der Wahrnehmung der Königsberger Interessen zu verhalten.170 Die sowjetische Bahnverwaltung sah keine besonderen Vorteile in der Einführung durchgehender Staffeltarife. Die Hauptverwaltung der 167 Ebd.
168 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713, Die deutsche Botschaft in Moskau übersetzte den gleichen Text in einer milderen Form. Die Botschaft Moskau an AA, Izwestija vom 10.4.1929. „Zu diesem Zweck muß vor allem die Frage aufgerollt werden, daß die Eisenbahnverwaltungen der beiden Länder sich dieser Sache in vollen Maße zur Verfügung stellen und nicht ausschließlich fiskalische Aufgaben zu erfüllen haben.“ 169 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7714, Bl. 40 ff., Abschrift, OPO, 14.6.1929, sowie Bl. 39, PreußHM an RVM und Reichsbahngesellschaft u. a. m., 31.7.1929. 170 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2084, Bd. 3, Abschrift, AA, 16.5.1926.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens759
Reichsbahn stand diesem Wunsch Königsbergs ebenfalls kritisch gegenüber, vor allem mit Rücksicht auf den absehbaren Ausfall der Tarifeinnahme. Nicht zuletzt verlangten die sowjetischen Stellen finanzielle Kompensa tionen. In diesem Sinne war Siehrs kritische Anregung im Interview mit „Izvestija“ als nicht ganz unzutreffend zu bezeichnen. Die Beschwerde der Reichsbahn über den Oberpräsidenten verdeutlichte die Haltung der Reichsbahngesellschaft in der Frage der Ausführung des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens. In ihrem Schreiben vom 19. Oktober 1929 gab sie für die Unmöglichkeit der Durchrechnung russischer Tarife lediglich den Grund an, daß Polen und Lettland dagegen Widerstand geleistet hätten. Die Berliner Hauptverwaltung vertrat den Standpunkt, daß die Frage von Staffeltarifen den Sowjets gegenüber nicht angeschnitten werden dürfe, bis die Anerkennung Polens erzielt sei. Damit machte sie die Einführung durchgehender Staffeltarife zwischen der UdSSR und Deutschland ausschließlich von Polen abhängig, obwohl dessen Mitwirkung hinsichtlich des Transitverkehrs auf der baltischen Linie (die UdSSR, Lettland, Litauen und Ostpreußen) nicht erforderlich war. Dies rechtfertigte die Reichsbahn mit der Einheitlichkeit der Verkehrspolitik Deutschlands. Hierbei legte man in Berlin offenbar Wert auf den Ausgleich der unterschiedlichen regionalen Interessen der deutschen Häfen – Stettin, Hamburg usw. –, die ebenso wie der Hafen Königsberg Interesse am Umschlaggeschäft mit der UdSSR, der Tschechoslowakei und Polen hatten.171 Diese Haltung der Reichsbahn kam dem deutschen Verzicht auf die Durchführung der Bestimmungen von Artikel 4 des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens sowie von dessen vertraulichen Notenwechsel Nr. 9 gleich, worin lediglich die Stellung des Königsberger Hafens ins Auge gefaßt worden war. Bekanntlich war Polen gegen die Regelung des Häfenwettbewerbs an der Ostsee eingestellt. Der Durchgangsverkehr zwischen der UdSSR und Deutschland durch Polen wurde in den 20er Jahren trotz des Beitritts Polens zum Barcelona-Transitabkommen niemals auf liberale Weise geregelt, so daß die Abwicklung des ostpreußisch-sowjetischen Handelsverkehrs durch die polnische Verkehrspolitik stark behindert wurde.172 171 Während die Königsberger Handelskammer die Einbeziehung des Hafens Stettin in eine etwaige Regelung des Häfenwettbewerbs im abzuschließenden Handelsvertrag mit Polen für notwendig hielt, lehnten die Reichsbahn sowie die Handelsvertreter in Stettin diesen Wunsch strikt ab. Die deutschen Entwürfe über die Eisenbahnbestimmungen für den deutsch-polnischen Handelsvertrag zeugten von diesem Streit. Die Regelung des Häfenwettbewerbs kam letztlich nicht im Rahmen des deutsch-polnischen Handelsvertrags zustande, der bis zum Ende der Weimarer Republik nicht ratifiziert wurde. 172 Ludwig Holtz: Ostpreußens Anteil an den Verkehrswegen Osteuropas, in: OEM, 10. Jg / Nr. 1, 1.10.1930, S. 19–21.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Das Reichsverkehrsministerium kündigte das mögliche Scheitern aller Königsberger Versuche zur Einführung durchgehender Staffeltarife an, unter Hinweis darauf, daß die polnische Regierung in den deutsch-polnischen Handelsvertragsverhandlungen, deren Abschluß bevorstand, ihre Bereitschaft zur Mitwirkung bei der Einführung durchgehender Staffeltarife von der UdSSR bis zum Hafen Königsberg sowie die Gewährung der eisenbahntariflichen Gleichstellung zwischen den Ostseehäfen strikt abgelehnt habe. Tatsächlich ließ sich diese Klausel in den neuen deutsch-polnischen Handelsvertrag, der nach dem langjährigen Wirtschaftskrieg im März 1930 letztlich unterzeichnet wurde,173 nicht aufnehmen.174 Dieser Handelsvertrag bildete in bezug auf die Eisenbahnregelung einen scharfen Gegensatz zum zweiten deutsch-litauischen Handelsvertrag, der sich in erster Linie auf die Ausführung des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens von 1925 richtete. Das Reichsverkehrsministerium stand in dieser Frage fest hinter der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahngesellschaft, die nach wie vor kein großes Interesse an der Umsetzung von Artikel 4 des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens hatte. Mit Rücksicht auf den bevorstehenden Abschluß des deutsch-polnischen Handelsvertrags hielt es das Reichsverkehrsministerium für angezeigt, die vorherzusehende Kritik der Königsberger Wirtschaft von vornherein abzuweisen: „Bei der großen Enttäuschung, die ein solcher Fehlschlag in den Kreisen der Königsberger Kaufmannschaft hervorrufen wird, besteht die Gefahr, daß diese dann, gestützt auf die Äußerungen des Herrn Oberpräsidenten das Reichsverkehrsministerium und die Reichsbahnhauptverwaltung für das Scheitern verantwortlich macht, während umgekehrt der Herr Oberpräsident seine stete Fürsorge für die Provinz Ostpreußen durch seine Äußerungen erwiesen habe.“175 Im Gegensatz zur Kritik der Reichsbahngesellschaft am eigenmächtigen Vorgehen des Oberpräsidenten hatte Siehr in Wirklichkeit mehrmals mit der Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.) Fühlung genommen. Diese hatte bei den Besprechungen mit Magistrat und Handelskammer wiederholt ihre Bereitwilligkeit betont, die Frage durchgehender Staffeltarife zu gegebener Zeit zu prüfen. Dabei, so die Berliner Hauptverwaltung, habe die Reichs173 RT. IV. Wahlperiode 1928 / 30, Bd. 442, Anlage Nr. 2138. Entwurf eines Gesetzes über das deutsch-polnische Wirtschaftsabkommen und über den Beitritt der Freien Stadt Danzig zu diesem Abkommen vom 17.3.1930. (Vorlage am 13.6.1930). Die Ratifizierung des deutsch-polnischen Handelsvertrags, die zunächst infolge des Widerstands der deutschen Agrarlobby durch den Reichspräsidenten Hindenburg abgelehnt wurde, erfolgte erst 1934. 174 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1930, S. 64 ff. Siehe auch Cremer (1931), S. 146. 175 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7714, RVM an AA, Reichsbahngesellschaft, PreußHM u. a. m., 11.11.1929.
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bahndirektion Königsberg (Pr.) die Verantwortlichen in Königsberg deshalb auf die Notwendigkeit hingewiesen, die sowjetische Handelsvertretung in Königsberg und das Außenhandelskommissariat davon zu überzeugen, daß der Transithandel über den Königsberger Hafen in erster Linie im Interesse Rußlands liege, um jede erste Anregung Deutschlands zur Einführung durchgehender Staffeltarife zu vermeiden. Die Berliner Hauptverwaltung kritisierte in diesem Punkte auch das Vorgehen der ostpreußischen Delegation: „Nur wenn auf diesem Wege auch das Handelskommissariat Moskau überzeugt werde, sei mit Entgegenkommen der russischen Eisenbahnen zu rechnen. Soweit wir unterrichtet sind, sind Schritte in dieser Richtung von den ostpreußischen Wirtschaftskreisen jedoch nicht getan worden.“176 Dieser Vorwurf war, wie der Ablauf der Reise zeigt, durchaus unzutreffend. Die ostpreußischen Vertreter waren bemüht, im Sinne der beiderseitigen Interessen Deutschlands und Rußlands die Frage durchgehender Staffeltarife zur Debatte zu stellen. Die Vorstellung der Reichsbahn, daß die ostpreußische Delegation die Russen zur Durchführung der Vereinbarung des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens hätte bewegen sollen, ohne die Tariffrage anzudeuten, war unrealistisch. c) Das Urteil Preußens. Die Kompetenzfrage hinsichtlich des Ostpreußenprogramms 1922 Im Gegensatz zu den Verkehrsinstanzen vertraten die preußischen Stellen, sowohl das Handelsministerium als auch das Staatsministerium, den Standpunkt, daß der ostpreußische Oberpräsident durchaus berechtigt sei, sich um die Tariffrage zu kümmern, auch Wünsche aus dem Innern entgegenzunehmen und sie mit Nachdruck den zuständigen Stellen gegenüber zu vertreten.177 Dieses Recht war ihm zuerst durch den Kabinettsbeschluß über die Leitsätze des Ostpreußenprogramms von 1922 eingeräumt worden. In der Folgezeit blieben seine Kompetenzen in Bahntarifangelegenheiten dennoch stets umstritten. Bereits im Sommer 1924 stellte Geheimrat Scholz (Reichsbahn-Gesellschaft) die Rechtsgültigkeit des Ostpreußenprogramms in Frage. Daher bat er Frankenbach, ihm das Sitzungsprotokoll des Reichskabinetts zur Anerkennung des Ostpreußenprogramms von 1922 vorzulegen. Auf Anfrage Frankenbachs erwiderte das Reichskabinett jedoch, daß die Verhandlungen über das Ostpreußenprogramm damals nicht protokolliert worden seien. Es existiere lediglich die Beschlußfassung über die Annahme der 176 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 219, Hauptverwaltung der Reichsbahngesellschaft an PreußHM, 19.10.1929. 177 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 227, Vermerk, PreußStM, 6.12.1929.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Leitsätze des Ostpreußenprogramms.178 Die Mißhelligkeiten zwischen dem Oberpräsidenten und der Reichsbahngesellschaft kamen deutlich vor allem in der Durchführung der Ostpreußenhilfe zum Vorschein. In einer Ressortbesprechung von Reich und Preußen am 15. August 1929 erhob die Reichsbahn, vor allem Geheimrat Scholz, von neuem Vorwürfe gegen den Oberpräsidenten. Siehr habe, so kritisierte Scholz, ohne vorherige Fühlungnahme mit der Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.) auf Wunsch der ostpreußischen Handelskammern einen Antrag auf Tarifermäßigungen für den Holztransport zum Zwecke zur Rettung der Sägewerkindustrie abgefaßt. Dieser Vorwurf bezog sich nach wie vor auf den Kern der Leitsätze des Ostpreußenprogramms. Seit Kriegsende hatte sich Scholz speziell für die Regelung der Verkehrsangelegenheiten zwischen Ostpreußen und den Oststaaten engagiert, indem er als Vertreter der Reichsbahn an fast allen Handelsvertragsverhandlungen mit den Oststaaten beteiligt war. Er behauptete nun: „Der Oberpräsident habe nach Beendigung des Krieges gebeten, daß die ihm nicht unterstellten Provinzialverwaltungen, insbesondere die Eisenbahndirektion auch über die allgemein bestehenden Vorschriften hinaus sich mehr wie bis dahin in ständiger Fühlung mit ihm halten sollten. Dies sei ihm vom Reichsverkehrsministerium zugesagt und auch gehalten worden. Jetzt verhandele der Oberpräsident ohne Zuziehung der Reichsbahn mit den Interessenten über Angelegenheiten, die zur Zuständigkeit der Reichsbahndirektion gehörten. Die Reichsbahn könne sich mit diesem Vorgehen, das dem Ansehen der Reichsbahndirektion und ihres Präsidenten schade, nicht einverstanden erklären.“179 Abgesehen davon, ob das Ansehen der Verkehrsinstanzen durch die Tarif ermäßigungsanträge des Oberpräsidenten wirklich geschädigt wurde, faßte die Reichsbahngesellschaft offenbar das Vorgehen der ostpreußischen Delegation in Moskau ins Auge. In dieser Ressortbesprechung gelangte hingegen das preußische Handelsministerium letztlich zu der Schlußfolgerung, daß die Tariffrage eine Aufgabe des ostpreußischen Oberpräsidenten darstelle, der nicht zuletzt seit der Einleitung der Ostpreußenhilfe von 1928 zugleich die Leitung der Frachterstattungsstelle für den Korridorverkehr übernommen hatte. Die preußischen Stellen teilten einstimmig diese Ansicht. Was aber die Kritik der Reichsbahngesellschaft am Vorgehen des Oberpräsidenten in Moskau betraf, so akzeptierten die preußischen Ministerien die Beschwerde der Reichsbahn, daß Siehr im Gespräch mit „Izvestija“ ungebührlich kritische Bemerkungen über die Verkehrspolitik der Reichsbahngesell178 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 3529, Vol. 2, Bl. 186, OPV Frankenbach an OPO, 21.4.1925. 179 GStA PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1094, Aktenvermerk über die Ressortbesprechung am 15.8.1929.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens763
schaft gemacht hatte. Daraus zog das Preußische Staatsministerium die Konsequenz, die Kritik der Reichsbahn als berechtigt anzusehen, daß die Einheitlichkeit der deutschen Verkehrspolitik gegenüber dem Auslande, für welche allein die Reichsbahn zuständig sei, durch ein selbständiges Vorgehen nicht gestört werden dürfe.180 Trotz der Beilegungsversuche seitens Preußens eskalierten die Unstimmigkeiten zwischen dem Oberpräsidenten und der Reichsbahn. Im Juni 1930 legte die Reichsbahngesellschaft von neuem beim Oberpräsidenten Protest ein. Ihr zufolge habe der Oberpräsident ohne Zustimmung der Reichsbahn den ostpreußischen Handelskammern den Entwurf ihrer Denkschrift weitergeleitet.181 Die Denkschrift war ursprünglich zur Vorbereitung der Völkerbundsverhandlung hinsichtlich des polnisch-litauischen Transitstreits im Auftrag des Reichsverkehrsministeriums durch die Reichsbahndirektion Königsberg (Pr.) ausgearbeitet worden.182 Die Reichsbahn hatte lediglich aus rein eisenbahntarifpolitischem Standpunkt die Einflüsse der Absperrung der Wilnagrenze auf den internationalen Transitverkehr untersucht. Nachdem die Memelflößerei aufgrund des polnisch-litauischen Konflikts eingestellt worden war, wurden die Hölzer ersatzweise auf Schienen befördert. In ihrer statistischen Analyse zog jedoch die Reichsbahn die nüchterne Konsequenz, daß die Öffnung der Wilnagrenze zur Verminderung der Tarifeinnahmen der Reichsbahn führen solle, was in Ostpreußen stürmische Gegenwehr hervorrief. Der Oberpräsident und die Handelskammern kritisierten einstimmig, daß die Reichsbahn der Freigabe der Memelflößerei ihre Tariferträge vorziehen wolle.183 Die Reichsbahn warf hingegen dem Oberpräsidenten wiederum seine Kompetenzüberschreitung vor und beschwerte sich von neuem über den seit dem Ostpreußenprogramm 1922 eingetretenen Umstand, „daß die Reichsbahndirektion Königsberg entsprechend den Wünschen der preußischen Regierung das Oberpräsidium fortgesetzt über alle Eisenbahnfragen, die für die ostpreußische Volkswirtschaft von Bedeutung sind, unterrichtet, auch dem Oberpräsidium Gelegenheit zur 180 GStA
PK, I. HA, Rep. 90A, Nr. 1076, Bl. 227, Vermerk, PreußStM, 6.12.1929. PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 565, Bl. 190, Deutsche Reichsbahngesellschaft an PreußHM, 20.6.1930. 182 Auf Grund der Resolution vom 14. Dezember 1928 beauftragte der Völkerbundsrat die Verkehrs- und Transitkommission mit der Aufstellung eines Berichts über den Einfluß der Unterbrechung des direkten Verkehrs zwischen Polen und Litauen auf den internationalen Transithandel. Siehe Die Tätigkeit des Völkerbundes, Bd. X (1930), Nr. 3, S. 111. 183 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7, Abschrift, IHK Königsberg an OPO, 12.11.1929. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7, Abschrift, IHK Tilsit an OPO, 14.11.1929. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7, OPO an PreußHM, 8.4.1930. 181 GStA
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Teilnahme an den Vorarbeiten gibt“.184 Die Reichsbahn hielt sich zwar zurück, dem Oberpräsidenten die Aufhebung seiner besonderen Auskunftsbefugnisse abzuverlangen. Dennoch wies sie ausdrücklich auf die Schwierigkeiten der Bahnpolitik für Ostpreußen hin, die durch die Kompetenzerweiterung des Oberpräsidenten verursacht wurden: „Wenn das Oberpräsidium auch weiterhin in Eisenbahnfragen der Stellung der Reichsbahndirektion gegenüber der ostpreußischen Wirtschaft so wenig Rechnung trägt, ist es für die Reichsbahn eine außerordentliche Belastung, dem Ersuchen der preußischen Regierung auf ständige Unterrichtung des Herrn Oberpräsidenten zu entsprechen.“185 Im Gegensatz zur Reaktion der Reichsbahn und des Reichsverkehrsministeriums186 betrachtete allerdings das Preußische Handelsministerium das Vorgehen des Oberpräsidenten als ordnungsmäßig. Ihm zufolge sollten dem Oberpräsidenten das Recht zustehen, Denkschriften der Reichsbahn, die keinen Vertraulichkeitsvermerk trügen, den Handelskammern zur vertraulichen Kenntnisnahme zuzusenden.187 5. Die Krise des Königsberger Rußlandgeschäfts a) Der Streit zwischen der Stadtbank und der sowjetischen Handelsvertretung Es spielte sich darüber hinaus ein Finanzstreit zwischen der sowjetischen Handelsvertretung, der Reichsbahngesellschaft und der Königsberger Stadtbank ab. Im Frühsommer 1929 kam neben der Getreide- und Hülsenfrüchtefinanzierung zum ersten Mal ein Lombardgeschäft der Königsberger Stadtbank für den Import australischer Wolle nach der UdSSR über den Hafen Königsberg zustande. Der Abschluß dieses neuen Kreditabkommens, dessen Verhandlungen zwischen der Stadtbank und der sowjetischen Handelsvertretung seit 1928 vorbereitet wurden, verdankte sich dem Besuch der ostpreußischen Delegation in Moskau, insbesondere den Verhandlungen in der Sitzung des Außenhandelskommissariats im April 1929. Infolge der seit 1928 eingetretenen Notlage Ostpreußens war die Königsberger Stadtbank eigentlich nicht mehr in der Lage, diesen Geldbedarf allein decken zu können. Daraufhin suchte die Stadtbank weitere Finanzierungsquellen. Es gelang ihr, ein niederländisches Bankinstitut als Geldgeber zu gewin184 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 565, Bl. 190, Reichsbahngesellschaft an PreußHM, 20.6.1930. 185 Ebd. 186 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 565, Bl. 196, RVM an PreußHM, 23.5.1930. 187 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 565, Bl. 193, PreußHM an RVM, 18.7.1930.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens765
nen, das der Königsberger Stadtbank 7 Millionen RM zur Verfügung stellte. Das Lombardgeschäft für die Wolleinfuhr, die zunächst gut gelaufen war, geriet aber in Schwierigkeiten. Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 war auch bei Wolle ein Preissturz zu beobachten.188 Der niederländische Geldgeber verlangte von der sowjetischen Seite eine Nachschußzahlung. Die sowjetische Handelsvertretung weigerte sich, dieser Forderung nachzukommen, obwohl Nachschußzahlungen beim Lombardgeschäft in solchen Fällen üblich war. Inzwischen stieg der Differenzbetrag auf 65000 £. Nachdem die sowjetische Handelsvertretung schließlich den Nachschuß geleistet hatte, mußte die Stadtbank dieses Lombardgeschäft zu Ende bringen, weil die niederländische Bank den Vertrag nicht verlängern wollte. Völlig überraschend erklärte die sowjetische Handelsvertretung nun, nicht mehr mit der Königsberger Stadtbank zusammenzuarbeiten. Anstatt dessen schloß sie ein neues Kreditabkommen mit der Dresdner Bank über den Wollelombard ab, obwohl die Kreditbedingungen bei der Dresdner Bank ungünstiger waren. Während die Stadtbank die Wolle mit 95 % belieh, beschränkte sich der Lombard bei der Dresdner Bank auf 75 %. Das Lombardlager blieb wie bisher im Lagerraum der Königsberger Hafenbetriebsgesellschaft, die zu den Sonderbetrieben der Stadtverwaltung gehörte. Diese Maßnahme der Sowjets sollte offenbar andeuten, daß sie bereit waren, ihre Im- und Exportoperationen komplett vom Hafen Königsberg nach dem Hafen Rotterdam sowie anderen westeuropäischen Häfen zu verlegen. Auch die beim Abschluß des Lombardvertrags der sowjetischen Seite in sozialpolitischer Hinsicht gestellte Bedingung, die Königsberger Fabriken, vor allem die Wollwäschereien, mit der ersten Bearbeitung der Wolle zu beauftragen, wurde von der sowjetischen Handelsvertretung nicht eingehalten, obwohl sie bereits von Oberbürgermeister Lohmeyer in der Sitzung des Moskauer Außenhandelskommissariats nachdrücklich vorgetragen worden war.189 Die Auseinandersetzungen zwischen der Stadbank und der sowjetischen Handelsvertretung betrafen aber nicht allein das Wollelombardgeschäft. Zur Erneuerung des Kreditabkommens für die sowjetischen Agrarprodukte (Getreide, Hülsenfrüchte usw.) traten die beiden Parteien im Spätsommer 1929 in die Verhandlungen ein. Auf Wunsch Rußlands wurde zu diesem Zweck ein Blankokredit über 3,5 Millionen RM sowie ein Lombardkredit über 3 Millionen RM bereitgestellt. Geldgeber für den Lombard war wie beim Wollegeschäft ein niederländisches Bankinstitut, während der Blankokredit 188 Karl Erich Born: Die deutsche Bankenkrise 1931. Finanzen und Politik, München 1967, S. 33. 189 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 2, Stadtkämmerer Lehmann an AA, 30.1.1930.
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durch die Königsberger Stadtbank (1,5 Mill. RM) sowie die Verkehrskreditbank (2 Mill. RM) ausgegeben wurde. Die Beteiligung der Verkehrskreditbank am Kreditabkommen mit der UdSSR war auf Empfehlung der Reichsbahngesellschaft erfolgt, weil die Stadtbank nicht in der Lage war, die Mittel aus alleiniger Kraft bereitstellen zu können. Die Reichsbahngesellschaft hatte aber die Kreditgewährung mit einem Transportabkommen gekoppelt, das die Eisenbahnbeförderung auf der neuen Nordlinie (über Tilsit und Dünaburg) voraussetzte, um ihr Tarifaufkommen auf diesem Wege zu sichern. Für diese Kreditgewährung sollten sämtliche sowjetischen Agrarprodukte von 60.000 t nach dem Hafen Königsberg transportiert werden. Im Hinblick auf den gerade eingetretenen Konflikt um die Wolle war die sowjetische Handelsvertretung aber nicht geneigt, diesem Wunsch der Reichsbahn nachzukommen, und versuchte, die Güter soweit wie möglich per Schiff zu befördern. Die Frachten auf dem Seewege waren günstiger als auf dem Bahnwege. Nach langem Streit einigten sich die beiden Parteien schließlich darauf, 55.000 t auf dem Bahnwege und 5.000 t auf dem Seewege zu transportieren. Dennoch war die sowjetische Handelsvertretung bestrebt, alle Waren, die nicht für die Bahnbeförderung geeignet waren, auf die erste Transportgruppe (55.000 t) zu verlegen.190 Mit diesem harten Widerstand revanchierte sich Rußland offenbar für eine ähnliche Maßnahme der Reichsregierung beim Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags von 1925, als die UdSSR das Schweineeinfuhrkontingent nicht ausnutzen konnte, weil der Transport nach Deutschland allein auf dem Seewege stattfinden sollte. Die Kreditverhandlungen zwischen der Stadtbank, der Reichsbahn sowie den sowjetischen Stellen gelangten zwar zum Abschluß,191 die Meinungsunterschiede wurden jedoch nicht völlig ausgeräumt. Die Differenz zwischen den in Königsberg angekommenen Produkten und dem letzten Transportabkommen betrug 16.000 t, eine Fehlmenge, die zu akzeptieren die sowjetische Handelsvertretung sich weigerte. Angesichts dessen lehnte es die Reichsbahn ab, ein neues Kredit- und Transportabkommen mit den Sowjets abzuschließen. Die Stadtverwaltung hatte zwar das auf Wunsch der Reichsbahn an das Kreditabkommen angelehnte Transportabkommen als volkswirtschaftliche Rechtfertigung für die Vergabe des riskanten Blankokredits angenommen. Während die Reichsbahngesellschaft die Einführung durchgehender Staffeltarife von der UdSSR bis zum Hafen Königsberg ablehnte, bemühte sie sich aber zugleich, ihr Tarifaufkommen durch die Bin190 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 2, Stadtkämmerer Lehmann an AA, 30.1.1930. 191 Vgl. Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1929, S. 61: „Die finanziellen Verpflichtungen aus dem Abkommen sind von der Handelsvertretung in der bisherigen Weise korrekt erfüllt worden.“ Diese Aussage war unzutreffend.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens767
dung Rußlands an die Eisenbahnbeförderung zu garantieren. Die Königsberger Handelskammer hielt die Einführung durchgehender Staffeltarife für unerläßlich. Außerdem ging sie davon aus, daß die Bahnverwaltungen aller beteiligten Staaten durch ihre Einführung eine Senkung der Frachtkosten herbeiführen, den Transitverkehr zwischen der UdSSR, den baltischen Staaten und Ostpreußen erhöhen und damit ihr Tarifaufkommen steigern würden. Daß die Reichsbahngesellschaft sich desinteressiert zeigte, hielt der Magistrat für ungebührlich. Das Königsberger Rußlandgeschäft stand Anfang 1930 kurz vor dem Zusammenbruch. Im Laufe der Getreidekreditverhandlungen drohten die Sowjets dem Magistrat damit, die sowjetische Handelsvertretung in Königsberg aufzulösen und den Linsenhandel nach Rotterdam zu verlegen. Die sowjetischen Stellen machten diese Frage ausschließlich von der Finanzierung abhängig, indem sie von der Stadtbank verlangten, für die laufende Saison einen Lombardkredit von 1,5 Millionen RM sowie für die nächste Saison eine Vorschußzahlung von 4 bzw. 5 Millionen RM für ca. 15.000 t Linsen bereitzustellen. Dies kam der Forderung nach einer 100 %igen Vorschußzahlung gleich, die im Getreide- und Hülsefrüchtehandel völlig unüblich war. Die Unhaltbarkeit der sowjetischen Forderung ergab sich schon daraus, daß die sowjetischen Stellen dem Königsberger Hafen ein Monopol des Linsenhandels mit einem Umfang von lediglich 15.000 t gewähren wollten. Unter diesen Umständen sah sich der Magistrat Königsberg vor die schwierige Entscheidung gestellt, ob er ohne Hilfe der Reichsbahngesellschaft, nämlich ohne die Teilbeteiligung der Verkehrskreditbank sowie ohne das Transportabkommen, auf eigene Initiative oder mit Hilfe Dritter das Getreidekreditabkommen weiter fortsetzen sollte. In der Tat wurde dem Magistrat durch die sowjetischen Stellen angedeutet, daß die sowjetische Handelsvertretung bereit sei, auf die normale, also ca. 25 %ige Vorschußzahlung einzugehen, wenn das Transportabkommen mit der Reichsbahn fallengelassen würde.192 Der Magistrat entschloß sich, diesen Weg einzuschlagen. Als Ersatz der von der Reichsbahn empfohlenen Verkehrskreditbank wandte sich der Magistrat zuerst an die Reichskreditbank. Diese wies das Gesuch jedoch ab.193 Nach Anlaufen der Ostpreußenhilfe konnte man die Berliner Stellen nur schwer zu weiteren Finanzhilfen für die Provinz bewegen. Die Garantieübernahme durch Reich oder Preußen, auf die der Magistrat seine letzte Hoffnung setzte, kam daher nicht zustande. Der Wunsch Königsbergs wurde vor allem unter Hinweis darauf abgelehnt, daß Garantien der Reichsregierung im Rußlandge192 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 2, Stadtkämmerer Lehmann an AA, 30.1.1930. 193 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 2, Frankenbach an Lehmann, 17.2. 1930.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
schäft lediglich für den Export nach der UdSSR zu gewähren seien.194 Im Sommer 1930 gelang es den Königsberger Wirtschaftskreisen dennoch, die völlige Unterbrechung der Finanzierung für die sowjetische Agrarprodukte gerade noch zu vermeiden, indem sich erstmals einzelne Privatbanken zusammen mit der Stadtbank an diesem Getreidekreditgeschäft mit der sowjetischen Handelsvertretung beteiligten.195 b) Die Kritik an der Rußlandpolitik des Magistrats Die Import- und Exportmaßnahmen der UdSSR im Hafen Königsberg hingen wesentlich von der Kreditgewährung durch die Stadtbank ab. Die sowjetische Handelsvertretung drohte Königsberg wiederholt damit, ihre Handelsoperationen andernfalls auf andere westeuropäischen Häfen zu verlegen. Die Wirtschaftskrise Deutschlands spitzte sich im Jahr 1931 zu. Die Arbeitslosenzahl stieg auf 6,3 Millionen, welche 25 % der Arbeitsfähigen und 10 % der Gesamtbevölkerung im Deutschen Reich ausmachten. Das gleiche Verhältnis traf ebenfalls auf die Stadt Königsberg zu. Die Landwirtschaft Ostpreußens befand sich in einer schwereren Notlage und die Zwangsversteigerungen nahmen trotz der Umschuldungsaktion der Ostpreußenhilfe zu. Die 1928 eingeleitete Ostpreußenhilfe wurde im Jahr 1930, nach der Regierungsübernahme durch Heinrich Brüning, auf dem Wege der Notverordnung des Reichspräsidenten auf alle Ostprovinzen erweitert. Doch infolge der schlechten Ernte im Jahr 1931 konnten staatliche Stützungsmaßnahmen, sowohl die Osthilfe als auch die Erhöhung der Agrarzölle, den weiteren Niedergang der Landwirtschaft nicht verhindern. Viele nichtlandwirtschaftliche Betriebe in Ostpreußen gerieten ebenfalls in die Krise, nachdem die größte Werft in Ostpreußen, die Union-Gießerei, in Konkurs gegangen war.196 Die Königsberger Stadtbank, die sich in erster Linie die Kreditversorgung für die nichtlandwirtschaftlichen Sektoren in Ostpreußen zur Aufgabe machte, überstand diese Krisenzeit dennoch gut. Sie überdauerte auch die deutsche Bankenkrise vom Juli 1931, die von dem Konkurs der von der Danatbank finanzierten Nordwolle A.-G. ausgelöst worden war. Seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 wurden erhebliche ausländische Mittel aus dem deutschen Kapitalmarkt abgezogen. Insbesondere die amerikanischen Gläubiger kündigten Einlagen und kurzfristige Kredite in Deutschland. Der Kündigungsansturm wurde außerdem mit der 194 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7714, Bl. 83, OPO an PreußHM, Bl. 85, Stadtkämmerer Lehmann an RFM, 8.4.1930; Bl. 86, PreußLM, 7.6.1930. 195 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1930, S. 79. 196 Richter (1988), S. 343 ff.
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österreichischen Bankenkrise vom Mai 1931 sowie der Nordwollekrise auf die Spitze getrieben, was letztlich zur Zahlungsunfähigkeit der deutschen Großbanken führte. Die Liquiditätskrise konnte durch Stützungs- und Sanierungsmaßnahmen des Reichs, die rund eine Milliarde RM erreichten, zunächst beruhigt werden. Nach dieser Vertrauenskrise im Juli 1931, als die Reichsregierung zwei außerordentliche Bankfeiertage anordnen mußte, durfte die Kreditvergabe nur unter besonderen scharfen Kriterien erfolgen.197 Die Königsberger Stadtbank, die zwar die Zahl ihrer Privatkonten in diesem Krisenjahr um 200 auf 12.400 erhöhte, mußte dennoch im Sinne der Wahrung der Liquidität ihr Bankgeschäft strikt einschränken.198 Tatsächlich schloß die Stadtbank in den Jahren von 1929 und 1931 mit großen Verlusten ab.199 In diesen Krisenjahren, insbesondere nach der Bankenkrise, durften neue Kredite nur sehr zurückhaltend gewährt werden. Unter diesen Umständen war es eine Selbstverständlichkeit, daß die Stadtbank wegen ihres Kreditgeschäfts mit der sowjetischen Handelsvertretung, das bisher unter gelockerten Bedingungen geführt worden war, in der Öffentlichkeit angegriffen wurde. Die Rußlandpolitik des Königsberger Magistrats, die in erster Linie auf die Förderung der Königsberger Wirtschaft abzielte, fand nicht bei allen Schichten des Königsberger Bürgertums Unterstützung. Häufig wurde kritisiert, daß sich der Magistrat übermäßig für das Auslandsgeschäft, wie das Rußlandgeschäft in der Ostmesse, engagiere und die Aufgaben einer Kommunalverwaltung verkenne.200 Seit der enorm kostspieligen Errichtung des Hauses der Technik an der Ostmesse 1925, der größten Maschinenausstellungshalle in Deutschland, verstärkte sich die Kritik an der Stadtverwaltung. Seit 1928 wurden die bisherigen Frühlings- und Herbstmessen aus finanziellen Gründen zu einer großen Jahresmesse zusammengelegt. Die Besucherzahl der Ostmesse überstieg seit dieser Umstellung stets 60.000. Die ausländischen Besucher gewannen zunehmend an Bedeutung, und auch die Beteiligung der sowjetischen Delegation hatte sich bereits seit der Augustmesse 1927 außerordentlich verstärkt. Die UdSSR hatte offenbar die Absicht, zum Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft sich die notwendige technische und wissenschaftliche Hilfe in Ostpreußen zu holen. Diese Aufgabe war vor allem in der Zusammensetzung der Delegationsmitglieder deutlich zu ersehen. Die Sowjetregierung sandte die Spitzenvertreter der Landwirtschaftskommissariate von Rußland, der Ukraine, Weißrußland soBankenkrise siehe Born (1967) sowie Mottek (1977), S. 294. der Stadt Königsberg für das Jahr 1931, S. 119. 199 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Bericht über die in der Zeit vom 24.3.1933–13.4.1933 erfolgte Revision der Stadtbank Königsberg Pr. 200 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1925, S. 6. 197 Zur
198 Verwaltungsbericht
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
wie der deutschen Wolgarepublik. Der Magistrat berichtete: „Noch nie hatte Rußland ein so starkes Aufgebot von einflußreichen Verwaltungsbeamten, Professoren und landwirtschaftlichen Praktikern nach Königsberg entsandt.“201 Währenddessen rückte die Teilnahme der Leningrader Wirtschaftskreise, die bisher stets die erste Stelle der sowjetischen Delegation eingenommen hatten, in den Hintergrund. Die russische Exportausstellung wurde nun nicht mehr von der Handelskammer für Nord-West, sondern seit 1926 ausschließlich vom Moskauer Gostrog (dem Moskauer staatlichen Import- und Exportkontor) organisiert.202 Zur Sommermesse 1928 erschienen der preußische Ministerpräsident Otto Braun sowie der Reichswirtschaftsminister, Curtius, zur moralischen Unterstützung der darniederliegenden Landwirtschaft Ostpreußens. Große Aufmerksamkeit schenkten die sowjetischen Vertreter insbesondere der Landmaschinen-Exportschau, die unter Leitung des Landmaschineninstituts der Albertina-Universität von den nicht zum deutschen Landmaschinenverband gehörenden Fabrikanten organisiert wurde. Die Landwirtschaftskammer bemühte sich mit ihrer Spezialausstellung darum, den Export von Agrartechnik sowie Zuchttieren nach der
201 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1927, S. 191. Aus der UdSSR beteiligten sich z. B. folgende Vertreter: Mitglied des Rates des Moskauer Landwirtschaftskommissariats zugleich des Kollegiums des Moskauer Ackerbaukommissariats Sawtschenko als Leiter der sowjetischen Delegation. Ackerbaukommissar der Weißrussischen Sowjetrepublik D. F. Prischtschopow. Stellv. Ackerbaukommissar der deutschen Wolgarepublik Gottlieb Schneider. Mitglied des ZentralExekutiv-Komitees der wolgadeutschen Republik Graf. Volkskommissar für soziale Fürsorge der wolgadeutschen Republik Romanow. Stellv. Mitglied des Präsidiums des Moskauer Sowjets Sorokin. Mitglied des Präsidiums des Moskauer Sowjets Mitrofanow. Professor vom landwirtschaftlichen Akademie in Moskau Demontowitsch. Direktor des landwirtschaftlichen Forschungsinstituts Minsk Gorezki. Leiter der Meliorationsabteilung des Ackerbaukommissariats Weißrußland Leiwikow. Leiter der Tierzuchtabteilung beim Ackerbaukommissariats der Ukraine Joffe. Stellv. Handelsleiter Berlin Bittker. Professor am Landwirtschaftsinstitut Kiew. Leiter der Veterinärverwaltung des Ackerbaukommissariats der Ukraine. Direktor der staatlichen Naturschutzgebiete der Ukraine. Vorsitzender der landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften der Ukraine. Vorsitzender des weißrussischen Landwirtschaftsverbands. Vorsitzender des Dorfsowjets von Bulowo. Daneben beteiligten sich mehrere Professoren der Landwirtschaftlichen Akademie Moskau, aus der Ukraine sowie Weißrußland. Direktor des staatlichen Instituts für landwirtschaftliches Versuchswesen Leningrad. Leiter des Landmaschinenlagers für das Moskauer Gouvernement. Leiter der landwirtschaftlichen Kreisabteilung in Moskau u. a. m. Vgl. „Die 15. Deutsche Ostmesse – Die Agrarmesse des Ostens“ in: OEM, 7. Jg / Nr. 22, 15.8.1927, S. 201. „Die Königsberger Ostmesse und die Sowjetunion“, in: OEM, 7. Jg / Nr. 24, 15.9.1927, S. 250. „Weißrußland und Ostpreußen. Eine Unterredung mit Volkskommissar für Landwirtschaft Prischtschepow“, in: OEM, 8. Jg / Nr. 1, 1.10.1927, S. 1. 202 „Ostmesse und Ostgeschäft. Ergebnisse der Königsberger Frühjahrsmesse (14.– 17. Februar)“, in: OEM, 6. Jg / Nr. 11, 1.3.1926, S. 1 f.
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UdSSR auszuweiten.203 Die betreffenden Verhandlungen wurden während der Messetage durch zahlreiche Besprechungen zwischen der Landwirtschaftskammer und sowjetischen Vertretern erfolgreich fortgeführt.204 Im Gegensatz zum äußerlichen Erfolg, der insbesondere durch die Teilnahme der größten sowjetischen Delegation gekennzeichnet wurde, veränderte die Ostmesse ihren Charakter und wurde zur Agrarmesse des deutschen Ostens, bei der die von der Landwirtschaftskammer organisierte Ausstellung der Agrarprodukte und -technik neben der Landmaschinenabteilung die wichtigste Stellung einnahm.205 Diese Tendenz hielt bis zum Ende der Weimarer Republik an. Nach der Einleitung der Ostpreußenhilfe stießen die Versuche des Magistrats zur Förderung der Messe auf Hindernisse. Im Jahr 1928 erteilte der deutsche Landmaschinenhersteller- und händlerverband seinen Mitgliedern ein Teilnahmeverbot an Messen, um sich ausschließlich auf die DLG-Ausstellung (Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft) zu konzentrieren. Diese Maßnahme richtete sich wesentlich gegen die Ostmesse, wo neben der DLG-Ausstellung die größte Landmaschinenausstellung in Deutschland stattfand. Damit machten die mittel- und westdeutschen Fabrikanten ihren Protest gegen die Bevorzugung Ostpreußens geltend, da der größte Teil der Hilfsgelder der Ostpreußenhilfe scheinbar auf die Besitzwahrung der Großbetriebe verwendet wurde.206 Die Landmaschinenindustrie beklagte sich auch, daß die Messebeteiligung sehr kostspielig sei und sie nicht in der Lage sei, an mehreren Ausstellungen teilzunehmen.207 Tatsächlich versuchte der Verband, auf der DLG-Ausstellung das Geschäft mit der UdSSR auszuweiten.208 Das Teilnahmeverbot des Landmaschinenindustrieverbands bedeutete für das Königsberger Rußlandgeschäft einen schweren Schlag. Nach dem wiederholten Ausfall der Landmaschinenschau teilte die Sowjetregie203 „Starker Erfolg der Deutschen Ostmesse in Königsberg“, in: OEM, 11 Jg. / Nr. 23, 1.9.1931, S. 1 f. 204 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 399, Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen, 13.10.1931. 205 „Die Deutsche Ostmesse. Der Brückenpfeiler zwischen Reich und Osteuropa“, in: OEM, 8. Jg / Nr. 23, 1.9.1928, S. 433 f. Dabei sprach Curtius mit Rücksicht auf die Handelsvertragsverhandlungen mit Polen und Litauen: „Reich und Preußen seien sich darin einig, daß Ostpreußen im Rahmen der Reichs- und Staatsaktionen als vom Mutterlande abgetrenntes Land eine Sonderstellung einnehme und daß daher auch die Reichsregierung bei den Handelsvertragsverhandlungen bestrebt sei, die Lebensinteressen Ostpreußens zu wahren.“ 206 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1929, S. 88. 207 PA AA, R 94387, Sitzungsbericht im AA, 23.6.1931. 208 PA AA, R 94387, Abschrift, Rußlandausschuß der deutschen Wirtschaft an den Verband der deutschen Landmaschinenindustrie, 24.5.1929. PA AA, R 94387, Abschrift, Aufzeichnung über die Besprechung vom 23.6.1931 im AA.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
rung mit, daß sie unter diesen Umständen keine Notwendigkeit mehr sehe, eine Delegation zur Ostmesse zu entsenden. Mit Rücksicht auf die Auseinandersetzungen zwischen der Stadtbank und der sowjetischen Handelsvertretung um die Handelskredite drohte Moskau bei diesem Anlaß auch damit, seinen Handelsvertreter aus Königsberg endgültig zurückzuziehen. In einer Besprechung vom Juni 1931 im Auswärtigen Amt verlangten Generalkonsul Schlesinger sowie Präsident Kraemer (Rußlandausschuß) vom Landmaschinenverband sowie den DLG-Vertretern die sofortige Aufhebung des Teilnahmeverbots, unter Hinweis darauf, daß die Sowjetregierung außerordentliches Interesse am Handel mit Königsberg, nicht aber mit anderen deutschen Städten habe. Die Bedeutung der besonderen Verbindungen zwischen Königsberg und der Sowjetregierung wurde auch durch das Reichswirtschaftsministerium, das Preußische Handelsministerium sowie das Preußische Landwirtschaftsministerium bestätigt. Dennoch bestand der Landmaschinenverband auf seiner Haltung und erklärte, er glaube nicht, daß das Verbot schon in diesem Jahr aufgehoben werde.209 Diese Sperrmaßnahme des deutschen Landmaschinenverbands wurde trotz wiederholter Gesuche des Königsberger Meßamts und des Reichsverbands der deutschen Industrie schließlich erst 1932 aufgehoben.210 Dadurch wurde die Landmaschinenausstellung der Königsberger Ostmesse schwer beeinträchtigt, da nun die Ostmesse lediglich auf die Mitwirkung des Landmaschineninstituts der Universität Albertina sowie einiger Nichtmitglieder des Landmaschinenverbands zählen konnte.211 Dank der außerordentlichen Anstrengungen des Meßamts wurde dennoch die Teilnahme der sowjetischen Delegation an der Ostmesse im August 1931 erreicht, indem die Sowjetregierung neben einer großen Anzahl von Studenten auch drei stellvertretende Landwirtschaftskommissare der UdSSR, RSFSR sowie der Ukraine nach Königsberg entsandte.212 Das deutsche Messe- und Ausstellungswesen wurde in dieser Krisenzeit auch von der Rationalisierungsbewegung der deutschen Wirtschaft erfaßt. 209 PA AA,
R 94387, Sitzungsbericht im AA, 23.6.1931. I. HA, Rep. 87B, Nr. 400, Abschrift, Meßamt an den Verband der Deutschen Landmaschinen-Industrie, 23.1.1932. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 400, Meßamt an PreußLM, 27.1.1932. Zu den Ergebnissen der Ostmesse von 1932 siehe GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 400, Bl. 42, LK Ostpreußen an PreußLM, 28.9.1932. 211 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1930, S. 107. 212 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1931, S. 114 ff. GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 399, Bl. 174, Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen, 13.10.1931. Zu den Teilnehmern zählten vor allem Stellv. Volkskommissar für Landwirtschaft der UdSSR J. Birn, Stellv. Volkskommissar für Landwirtschaft der RSFSR W. G. Feigin, Stellv. Volkskommissar für Landwirtschaft der Ukraine S. O. Siderski, Prof. P. J. Gouroff (Moskauer Agrar-Pädagogisches Institut), GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 399, Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen, 13.10.1931. PA AA, R 94387, Deutsche Botschaft an AA, 24.8.1931. 210 GStA PK,
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens773
Zahlreiche Messen, die in der Nachkriegszeit zum Zwecke der regionalen Wirtschaftsförderung gegründet worden waren, mußten schließen. Die Zentralisierung des deutschen Messewesens sowie die Konzentration der deutschen Wirtschaftskräfte auf eine einzige Jahresmesse, die der Propaganda für die deutsche Industrie dienen sollte, stand seit 1926 beim Reichswirtschaftsministerium zur Diskussion, was auf die Anregung des Reichsverbands der Deutschen Industrie (RDI) zurückging.213 In der ersten Konzeption der RDI wurde die Königsberger Ostmesse nicht als die reichswichtige Messe betrachtet und sollte gestrichen werden. Mit großen Anstrengungen gelang es dem Königsberger Messeamt, den Fortbestand der Ostmesse zu sichern. Infolge des Rationalisierungsprozesses sowie der generellen Sparmaßnahmen, unter denen der bisherige Reichszuschuß für die Messeveranstaltung Königsbergs seit 1929 gänzlich ausfiel, kam im Jahr 1931 ein Arbeitsgemeinschaftsvertrag zwischen der Ostmesse und der Leipziger Messe zustande. Dabei zielte man in erster Linie auf eine Arbeitsteilung zwischen den beiden konkurrierenden internationalen Jahresmessen ab. Die Königsberger Ostmesse prägte nun ihren Charakter als Schaufenster der deutschen Agrartechnik nach dem Osten stärker aus.214 Die Rußlandpolitik des Magistrats wurde seit Ende der 20er Jahre sowohl von Innen wie auch von Außen kritisiert. Die Unzufriedenheit des Bürgertums entzündete sich offenbar an der fehlenden Transparenz. Nachdem die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei 1928 einen Sitz in der Königsberger Stadtverordnetenversammlung gewonnen hatte, versuchte sie, die Aufmerksamkeit des Bürgertums insbesondere auf die Problematik der Auslandspolitik des Magistrats (die Ostmesse, das Wirtschaftsinstitut sowie die Stadtbank) zu lenken. In der Stadtverordnetenversammlung vom 19. März 1930 verlangte der nationalsozialistische Stadtverordnete Erich Koch vom Magistrat, eine Erklärung über das Gesamtdiensteinkommen der Magistratsmitglieder, der städtischen Betriebe sowie insbesondere der Stadtbank und des Meßamtes abzugeben.215 Kochs Antrag fand die Unterstützung aller Parteien, auch seitens der KPD-Fraktion.216 Die hohen Kosten der Ostmesse und die fehlende Transparenz der Kreditpolitik der Stadtbank, die mutmaßlich seit 1929 Verluste machte, wurden auch von der Deutschnationalen Volkspartei angeprangert. Ihre Fraktion verlangte im Oktober 1930 213 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 384, Denkschrift vom Ausstellung- und Messeamt der deutschen Industrie vom Dezember 1926. Vgl. Rudolf Haake: Das städtische Messe- und Ausstellungswesen, Stuttgart und Berlin, S. 27 f. 214 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1931, S. 114 f. 215 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Königsberg Pr., Antrag der NSDAP-Fraktion, Koch, 19.3.1930. 216 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Königsberg Pr., Antrag der KPD-Fraktion, Schütz u. Genossen, 25.6.1930.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
die Ausarbeitung eines Sparprogramms der Stadtverwaltung. Zugleich forderte sie die Stärkung der Kontrolle und die Reform der Stadtbankführung unter Einsetzung eines bürgerlichen Ausschusses: „Einsetzung eines Ausschusses, bestehend aus je einem Mitglied jeder Fraktion als besonderes Organ der Stadtbank und der Sparkasse mit der Aufgabe, allmonatlich eine genaue Prüfung der bewilligten Kredite pp. vorzunehmen, die Ursachen etwaiger eingetretener Verluste festzustellen und die gesamte Geschäftslage beider Kreditinstitute fortgesetzt zu kontrollieren und zu prüfen.“217 Im März 1931 stellte die NSDAP abermals kritische Anträge bezüglich der Kreditpolitik der Stadtbank: „Die Stadtverordnetenversammlung beschließt, den Magistrat zu ersuchen, 1. sofort alle Kredite der Stadtbank und Sparkasse auf ihre mögliche Gefährdung zu überprüfen und im Falle einer solchen Gefährdung die Kündigung dieser Kredite auszusprechen, 2. neue Kredite nur bis zu einer Höhe von 10.000 RM und nur an unbedingt zuverlässige deutsche Bewohner der Stadt zu bewilligen.“218 Im Juni 1931 beschloß die Stadtverordnetenversammlung, den ersten Antrag anzunehmen, während der zweite Antrag, der sich offenbar gegen das Auslandsgeschäft der Stadtbank, aber insbesondere gegen das Kreditgeschäft mit der sowjetischen Handelsvertretung richtete, mit der Mehrheit der Stadtverordneten zurückgewiesen wurde.219 Die Kritik der NSDAP an der Kreditpolitik der Stadtbank war allerdings nicht ganz unbegründet. Das Risiko des Kreditgeschäfts mit der UdSSR ergab sich vor allem daraus, daß die sowjetische Handelsvertretung beim Abschluß des Kreditabkommens bisher stets die Bedingung machte, die Hälfte der Kredite als Blankokredit zu vergeben. Aufgrund des oben genannten Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung wurde im Sommer 1931 der Verwaltungsrat der Stadtbank, der aus Vertretern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung bestand, zu dem Entscheid gezwungen, daß die Stadtbank keinen Blankokredit mehr vergeben dürfe.220 In diesem Sommer konnte die Getreidefinanzierung der Stadtbank infolge der im Juli eingetretenen Bankenkrise lediglich in sehr beschränktem Maße fortgesetzt werden. Bei diesem Kreditabkommen für das neue Erntejahr wurde auf Wunsch der sowjetischen Handelsvertretung dennoch abermals ein Blankokredit vergeben. Der Verwaltungsrat der Stadtbank ordnete daraufhin gemäß der neuen Richtlinie an, von der sowjetischen Seite 217 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Königsberg Pr., Antrag der DNVP-Fraktion, Weiß und Genossen, 29.10.1930. 218 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Königsberg Pr., Antrag der Stadtverordnetenfraktion der NSDAP, Großherr, 25.3.1931. 219 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Königsberg Pr., 24.6.1931. 220 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7715, Bl. 43, Abschrift, Oberbürgermeister Lohmeyer an AA, 4.11.1931.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens775
zu verlangen, nachträglich Sicherungen beizubringen. Durch diese Aufforderung der Stadtbank fühlte sich die sowjetische Handelsvertretung jedoch nicht dazu verpflichtet, mit dem Magistrat und der Stadtbank über diese Angelegenheiten Fühlung zu nehmen. Hingegen forderte sie im Gegenzug die Lagerscheine der Waren, die bereits im Lagerraum der Königsberger Hafenbetriebsgesellschaft eingelagert worden waren, heraus und buchte die vorhandenen Guthabenbeträge ab. Nicht zuletzt drohte die UdSSR mit der Auflösung ihrer Handelsvertretung in Königsberg, was zwangsläufig die völlige Stillegung der sowjetischen Import- und Exportoperationen im Hafen Königsberg sowie die Aufhebung der in letzter Zeit angebahnten Exportverträge der ostpreußischen Agrarprodukte (Pferde, Saaten usw.) nach der UdSSR zur Folge gehabt hätte.221 Dieser Streit zwischen der Stadt Königsberg und der sowjetischen Handelsvertretung, in dessen Verlauf die Stadt bereits Arrest beantragt hatte,222 wurde letztlich durch den Einsatz des Auswärtigen Amts beendet. Zu diesem Zweck machte es die Angelegenheit zum Gegenstand der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen Anfang 1932.223 c) Der Kampf zwischen dem Königsberger Wirtschaftsinstitut und dem Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft224 Mit dem Ende der Hyperinflation war die deutsche Wirtschaft in eine neue Phase eingetreten. Die in der Sonderkonjunktur außerordentlich ausgeweitete Wirtschaftstätigkeit verkleinerte sich entsprechend der realen Leistungsfähigkeit. Zahlreiche Unternehmen, die in der Inflationszeit gegründet worden waren, mußten nun liquidiert werden. Das Rationalisierungsbedürfnis erstreckte sich dabei nicht nur auf die Privatwirtschaft, sondern auch auf staatliche Verwaltungsapparate, die in der Kriegswirtschaft außerordentlich ausgebaut worden waren. Die Rationalisierung- und Zentralisierungsbewegung prägte diese Epoche der deutschen Gesellschaft, vor allem in der Zeit der sog. relativen Stabilisierung der Republik (1924–28).225 Sowohl das 221 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7715, Bl. 44, PreußLM, 8.1.1932; Bl. 46, PreußHM an AA, 6.1.1932. 222 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7715, Bl. 43, Abschrift, Oberbürgermeister Lohmeyer an AA, 4.11.1931. 223 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7715, Bl. 42, Abschrift, AA an Oberbürgermeister der Stadt Königberg, 2.12.1931. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 113, Heft 2, OPV an OPO, 17.3.1932. 224 Über die Gründung des Königsberger Wirtschaftsinstituts siehe Teil III Kapitel II der vorliegenden Arbeit. 225 Wolfram Fischer: Deutsche Wirtschaftspolitik 1918–1945, 3. Aufl., Opladen 1968, S. 31 ff. Mottek (1977), Bd. III, S. 266 ff.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Rußlandgeschäft als auch das Messewesen waren von dieser Strömung nicht ausgenommen. Zur Zentralisierung des Rußlandgeschäfts wurde im Herbst 1928 der Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft unter Mitwirkung des Reichsverbands der Deutschen Industrie (RDI) sowie des Auswärtigen Amts einberufen. Aufgabe dieses überregionalen Ausschusses war es, alle am Rußlandgeschäft beteiligten Wirtschaftskreise Deutschlands zu einem Interessenverband zu vereinigen, um so die Imparität des deutsch-sowjetischen Handelsverkehrs zu beseitigen.226 Die Außenwirtschaftstätigkeit der UdSSR war unter dem Außenhandelsmonopol strikt zentralisiert worden. In Deutschland hingegen gab es keine zentralisierte Wirtschaftsvertretung, die z. B. mit den sowjetischen Handelsvertretungen vergleichbar war. Durch die Organisierung der privatwirtschaftlichen Akteure sollte die Verhandlungsposition der deutschen Wirtschaft gegenüber der UdSSR gestärkt werden. Die Zentralisierungsbestrebungen hatten freilich die Rationalisierung zur Folge. Die Konzentrationsbestrebungen, die von der Initiative der Großbetriebe ausgingen, stießen nicht selten auf den Widerstand der mittleren und kleinen Betriebe, die sich in ihrer Existenz bedroht sahen.227 Die in der Nachkriegszeit aufgekommenen zahlreichen Agentur- und Informationsdienste für den Osthandel sollten nach der Auffassung des RDI und des Auswärtigen Amts zu einem Zentralorgan zusammengeschlossen werden. Das Königsberger Wirtschaftsinstitut, das in diesem Bereich eine führende Stellung innehatte, trat diesem Standpunkt Berlins bei und erhoffte sich, als stärkstes Zentralorgan seine Konkurrenten übernehmen und seine Selbständigkeit im Rußlandgeschäft beibehalten zu können. Dieser Wunsch stimmte aber nicht ohne weiteres mit der Strategie des RDI überein. Als Vertretung der Großindustrie und -banken zielte der RDI darauf ab, unter Ausschaltung der reRußlandausschuß siehe vor allem Perrey (1985). der Zielsetzung des Rußlandausschusses wies Perrey die Auffassung der DDR-Historiker, daß der Ausschuß als ein Organ des Monopolkapitals auf den Durchbruch des sowjetischen Außenhandelsmonopols abgezielt habe, strikt zurück. Perrey lehnte damals (1985) die Geschichtsschreibung der DDR-Historiker mit der Begründung ab: „Doch ähnlich wie in anderen Arbeiten der sowjetmarxistischen Forschung werden auch hier der Rußlandausschuß und seine Bedeutung für die Gestaltung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen in ideologisch-doktrinärer Einseitigkeit interpretiert.“ (Perry, 1985, S. 14) Dagegen scheint der Hinweis von F. Klein (1953) auf die Doppelstrategie des Rußlandausschusses besonders bemerkenswert, daß der Ausschuß als Vertreter der Großindustrie und -banken sich nicht nur gegen die UdSSR, sondern auch gegen die Interessen der kleineren, selbständigen Unternehmen richtete. Der Kampf zwischen dem Königsberger Institut und dem Ausschuß ist dafür ein Beispiel. „Die so geschaffene Front hatte eine zweifache Stoßrichtung: sie richtete sich erstens gegen die Sowjetunion, sie richtete sich zweitens aber auch gegen die kleineren, selbständigen Unternehmer, die im Rußlandausschuß nach der Linie der monopolisierten Großindustrie ausgerichtet werden sollten.“ Klein (1953), S. 158 f. 226 Zum
227 Hinsichtlich
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens777
gionalen Ansprüche das gesamte Rußlandgeschäft unter seiner Führung zu zentralisieren. Die gegensätzliche Position zwischen dem Königsberger Institut und dem RDI in der Frage der Fusionierung der Agentur- und Informationsdienste für das Rußlandgeschäft hatte eine tiefgreifende Auseinandersetzung zwischen beiden Seiten zur Folge. In den am Osthandel interessierten Wirtschaftskreisen fanden die Veröffentlichungen des Königsberger Meßamts großen Beifall. Vor allem der Erfolg seiner Zeitschrift „Der Ost-Europa-Markt (OEM)“, die in zwei Sprachen (deutsch und russisch) erschien, verschaffte dem Königsberger Wirtschaftsinstitut einen beträchtlichen Vorsprung vor seinen Konkurrenten. Die Redak tionsarbeiten dieser Zeitschrift wurden prinzipiell vom Wirtschaftsinstitut geleistet. Die Verlagsabteilung der Ostmesse gab neben der OEM noch weitere Zeitungen und Zeitschriften heraus, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Oststaaten und der UdSSR zahlreiche Abonnenten hatten. Der Erfolg beim Osteuropa-Informationsdienst veranlaßte das Königsberger Meßamt, seine Verlagsabteilung zu verselbständigen. Daraufhin wurde im März 1925 der „Ost-Europa-Verlag GmbH Königsberg“ unter Verwendung des Mantels der Export-Vereinigung Ostpreußen G. m. b. H. gegründet.228 Die besonderen Vorteile des Königsberger Wirtschaftsinstituts im Informationsdienst lagen darin, daß es ihm gelang, durch die Arbeit der Königsberger Ostmesse ein enges Personennetzwerk mit sowjetischen und osteuropäischen Behörden aufzubauen. Das Königsberger Institut strebte an, den Ostinforma tionsdienst in Deutschland bei sich zu zentralisieren. Zu diesem Zweck ging es Anfang 1925 eine Arbeitsgemeinschaft mit der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas e. V. Berlin ein, der größten wissenschaftlichen Ostforschungsanstalt. In Königsberg erhoffte man sich von dieser wissenschaftlichen Zusammenarbeit, die „Zersplitterung geistiger Werte“ sowie die doppelte Ausgabe von Forschungsgeldern zu vermeiden. Die Berliner Geschäftsstelle des Königsberger Instituts und der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas richtete eine gemeinsame Geschäftsstelle in der Berliner Friedrichstraße ein, deren Leitung dem Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft, Hans Jonas, übertragen wurde.229 Die Gründung der Zeitschrift „Osteuropa“, die Otto Hoetzsch seit zehn Jahren geplant hatte,230 wurde auf diesem Wege verwirklicht, indem der Ost-Europa-Verlag Königsberg sowie der Königsberger Ostmesse-Komplex ihren Druck übernahmen.231 Allerdings 228 Verwaltungsbericht
der Stadt Königsberg für das Jahr 1925, S. 170. Mitteilungen des Wirtschaftsinstituts“, OEM, 5. Jg. / Nr. 12, 15.3.1925, S. 1. Siehe auch Voigt (1978), S. 195 ff. 230 Vgl. Fritz T. Epstein: Otto Hoetzsch und sein „Osteuropa“ 1925–1930, in: 50 Jahre Osteuropa. Osteuropa, 25. Jg., Heft 8. / 9., 1975, S. 540–554. 231 Vgl. Unser (1975), S. 555–602 (hier S. 556) sowie Liszkowski (1988), S. 513. 229 „Offizielle
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
gingen die Fusionsbestrebungen nicht allein vom Königsberger Wirtschaftsinstitut aus. Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) und das Auswärtige Amt hatten ebenfalls die Absicht, das gesamte Rußlandgeschäft sowie die Agentur- und Informationsdienste unter ihrer Führung zu organisieren. Der RDI und das Auswärtige Amt hatten offenbar ein Interesse daran, nicht nur die Information über die UdSSR in Deutschland, sondern insbesondere die Propagandaarbeit der deutschen Wirtschaft und Technik in der UdSSR einheitlich ihrer Kontrolle zu unterstellen.232 Im Jahr 1927 nahm das Königsberger Wirtschaftsinstitut den ersten Fusionskampf auf. Das Auswärtige Amt und der RDI äußerten den Wunsch, die Veröffentlichungsarbeit des Königsberger Instituts und seines Verlags ihrem Rationalisierungsvorhaben entsprechend zu reorganisieren. Zum einen sollte der tägliche Nachrichtendienst des Ost-Europa-Verlags Königsberg, „EilDienst Osteuropa (EDO)“, mit dem „Ost-Expreß“ fusioniert werden. Der letztere, der ebenfalls einen täglichen Nachrichtendienst umfaßte, wurde durch den dem Auswärtigen Amt und dem RDI nahestehenden OstweltVerlag Berlin veröffentlicht. Zum anderen zielten das Auswärtige Amt und der RDI darauf ab, einen Zentralverlag für die Propagandazeitschriften der deutschen Technik in der UdSSR zu schaffen. Hierzu wurde eine Zusammenlegung zwischen der dem Auswärtigen Amt und dem RDI nahestehenden Auslandverlag GmbH Berlin und dem Ost-Europa Verlag Königsberg vorgeschlagen. Aufgabe dieser Fusion war es, die Beteiligung des RDI und des Auswärtigen Amts an der Veröffentlichung der russischsprachigen Zeitschriften des Königsberger Verlags, die in der UdSSR viele Abonnenten hatten, zu erreichen. Beide Fusionen hätten den Ausfall der Zeitschriftenerlöse sowie Einschränkungen der Arbeitstätigkeit des Königsberger Instituts zur Folge gehabt. Auf Drängen des RDI machte das Königsberger Institut den Gegenvorschlag, daß es bereit sei, lediglich im Fall der Garantieübernahme des Defizits durch den RDI auf die Fusion einzugehen. Hingegen lehnte es der RDI ab, das absehbare Defizit allein zu übernehmen. Er wandte sich an das Auswärtige Amt und bat um die Teilübernahme des Garantiebetrags.233 Obwohl die Veröffentlichungen des Königsberger Instituts nicht nur in Deutschland, sondern auch in der UdSSR große Nachfrage fanden, konnte es allein mit dem Erlös seiner Zeitungsabonnements die Betriebsausgaben nicht decken. Die Erwerbung sowjetischer Konzessionen sowie die Geschäftsreisen nach Rußland belasteten seinen Haushalt erheblich, so daß das Institut seit 1927 mit Verlusten abschließen mußte. Nach 232 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, Sitzung des Rußland-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft am 17. Januar 1929. 233 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten e. V. Königsberg an Frankenbach, 14.2.1927.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens779
über sechs Monate dauernden Verhandlungen stellte man in Königsberg den Widerstand ein und beschloß, auf die Rationalisierungswünsche Berlins einzugehen.234 Zum einen wurde der Königsberger EDO mit dem Berliner „Ost-Expreß“ verschmolzen und der EDO eingestellt. Zum anderen beteiligte sich zum 1. Oktober 1927 die Auslandverlag GmbH Berlin am Königsberger Ost-Europa-Verlag.235 Zum Zwecke der gemeinsamen Herausgabe der bisher von Königsberg veröffentlichten russischsprachigen Zeitschriften wurde eine Untergesellschaft (je 50 % von Königsberger Ost-Europa-Verlag und Auslandverlag Berlin) gegründet. Als Entschädigung für diese Fusionen übernahm der RDI die Finanzierung des Verlags in Höhe von 40.000 RM für zwei Jahre, während das Auswärtige Amt in gleicher Höhe Pflichtabonnements für die Zeitschriften des Königsberger Verlags übernahm. Indem 500 Exemplare des OEM im Rahmen seiner Pflichtabonnements vom Auswärtigen Amt übernommen wurden, gelang es dem Königsberger Institut, seiner Zeitschrift „Der Ost-Europa-Markt (OEM)“ amtlichen Charakter zu geben.236 Nach dieser Fusion wurde der Verlag zum 1. Oktober 1927 in „Ost-Europa-Verlag GmbH Berlin / Königsberg Pr.“ umbenannt. Allerdings verbesserte sich die Finanzlage des Königsberger Wirtschaftsinstituts durch die Beteiligung des RDI sowie des Auswärtigen Amts nicht wesentlich. Der Betrieb des Instituts wurde bis Oktober 1927, also bis zur Fusion zwischen dem Auslandverlag und dem Königsberger Ost-EuropaVerlag, aus den Mitgliederbeiträgen, der Zeitungsredaktionsarbeit sowie Mitteln Ostpreußens, vor allem der Stadtgemeinde Königsberg, der Ostmesse sowie der Handelskammern, finanziert.237 Anläßlich der Fusion der Verlagsabteilungen erklärte sich das Auswärtige Amt dazu bereit, neben der Übernahme von Pflichtabonnements auch direkte Beihilfen für das Königsberger Wirtschaftsinstitut zu leisten. Seit dem 1. Oktober 1927 erhielt das Institut eine jährliche Subvention seitens des Auswärtigen Amts in Höhe von 12.000 RM, vor allem zum Zweck der Redaktionsarbeit für die Zeitschrift „Der Ost-Europa-Markt“.238 Dennoch ließen sich die Unkosten, die 234 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten e. V. Königsberg an die Mitglieder, 28.6.1927. 235 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Ostpreußische Vertretung beim Reichsund Staatsministerium (Frankenbach) an OPO, 2.7.1927. 236 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Ostpreußischer Vertreter (Frankenbach) an OPO, 2.7.1927. 237 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten an OPO, 13.2.1929. 238 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Bericht der Präsidialsitzung des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten, 7.6.1929. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, Abschrift, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten an Frankenbach, 13.3.1928.
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seit 1927 außergewöhnlich stiegen, durch diese Beihilfe nicht ausgleichen. Zum Zwecke der Exportverhandlungen der ostpreußischen Agrarprodukte nach der UdSSR (Pferde, Vieh, Saaten) sowie zur Förderung der sowjetischen Exportoperationen über den Hafen Königsberg wurde das Institut zu ständigen kostspieligen Geschäftsreisen nach Rußland gezwungen. Außerdem mußte der im Jahr 1925 erlangte Konzessionsvertrag der Moskauer Hauptgeschäftsstelle seit 1927 jährlich verlängert werden. Nachdem der RDI im Jahr 1928 beschlossen hatte, das deutsche Rußlandgeschäft unter Berufung eines Rußlandausschusses zu zentralisieren, sah sich das Königsberger Institut vor die Aufgabe gestellt, seine Selbständigkeit gegenüber diesen Konzentrationsbestrebungen zu wahren und seine Besonderheit im Verkehr zwischen Ostpreußen und der sowjetischen Behörden zu stärken. Natürlich konnten die besonderen Anliegen der ostpreußischen Handelsund Landwirtschaftskreise, die nicht mit denen der Großindustrie vereinbar waren, im überregionalen Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft lediglich am Rande behandelt werden, wie bereits die vom RDI vertretenen deutsch-sowjetischen Wirtschaftsverhandlungen erwiesen hatten. Während der RDI vom Königsberger Institut dessen Aufgehen in dem neu einzurichtenden Rußlandausschuß verlangte, lehnte man in Königsberg dieses Ansinnen ab und war vielmehr bestrebt, seine Geschäftstätigkeit in der UdSSR zu erweitern, was allerdings weitere Finanzmittel erforderte. Die Konzentrationsbestrebungen des RDI führten Anfang September 1928 zu einer endgültigen Regelung. Auf der konstituierenden Sitzung vom 4. September wurde der Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft, der hauptsächlich aus dem bisherigen Fachausschuß des RDI (des DeutschRussischen Ausschusses) hervorging, unter Hans Kraemer (dem Leiter des alten Deutsch-Russischen Ausschusses des RDI und zugleich stellvertretenden Vorsitzenden des Präsidiums des Königsberger Wirtschaftsinstituts) ins Leben gerufen.239 Dadurch wurde dem Wunsch des RDI, alle Agentur- und Beratungsarbeit unter seiner Ägide zu zentralisieren, Folge geleistet. Die Fortsetzung der kleineren und regionalen Agenturdienste, die finanziell keine feste Grundlage hatten, war nun nicht mehr möglich, da der Rußlandausschuß Privatfirmen wie Wirtschaftsverbände dazu aufforderte, ihre bisherige Mitgliedschaft bei den verschiedenen Agenturvereinen zu kündigen. Der Deutsch-Russische Verein, der im Jahr 1899 gegründet worden war und dem zahlreiche Handelskammern und Wirtschaftsverbände angehörten,240 wurde auf Grund der im September sowie Dezember 1928 getroffenen Vereinbarungen letztlich Ende 1929 aufgelöst. Seine Mitglieder und bisherigen Arbeitsergebnisse wurden ausschließlich auf den Rußlandausschuß übertra239 Perrey
(1985), S. 74 ff. (1994), S. 481 f.
240 Kloosterhuis
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gen.241 Nach schwerem Kampf mit dem Rußlandausschuß mußte man schließlich in Königsberg diese Niederlage akzeptieren.242 Am 20. November 1928 ging das Präsidium des Königsberger Wirtschaftsinstituts darauf ein, ein Arbeitsgemeinschaftsabkommen mit dem Rußlandausschuß abzuschließen.243 Das Institut wurde nunmehr dazu gezwungen, seine sämtlichen Agenturtätigkeiten zugunsten des Rußlandausschusses aufzugeben. Die Arbeitstätigkeit des Königsberger Instituts war von nun an lediglich auf den wissenschaftlichen Forschungsbereich eingeschränkt. Demnach durfte das Institut weder Mitgliedsbeiträge erheben, noch deutsche Firmen und Verbände als neue Mitglieder werben. Die bisherigen Mitglieder in Mittel- und Westdeutschland traten mit dem Inkrafttreten dieses Vertrags zum 1. Januar 1929 aus dem Königsberger Institut aus, damit sie nicht mehr an andere Agenturen außer dem Rußlandausschuß Mitgliedsgebühren zahlen mußten. Zwangsläufig wurden die Geschäftsstellen des Königsberger Wirtschaftsinstituts in Essen und Dresden aufgelöst. Allerdings blieb der Widerstand Königsbergs nicht ohne Erfolg. Es gelang dem Institut, dem Rußlandausschuß die Zusage abzuringen, daß weiterhin alle bisherigen Geschäftstätigkeiten über die Angelegenheiten Ostpreußens dem Königsberger Institut vorbehalten bleiben sollten (§ 6 des Vertrags). Hierzu faßte man die Besonderheit des Königsberger Instituts ins Auge: „[…] Das Wirtschaftsinstitut behält vornehmlich zu diesem Zwecke die bisherige Pflege persönlicher Beziehungen mit Vertretern der russischen Wirtschaft bezw. russischen Behörden bei.“ (§ 6) Daraufhin wurde die unmittelbare Eingliederung des Instituts in den Rußlandausschuß vermieden, indem seine Selbständigkeit ausdrücklich im Vertrag formuliert wurde: „Das Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten besteht selbständig neben dem Rußlandausschuß weiter ohne Eingliederung in ihn“ (§ 2).244 Auf diese Weise wurde dem Königsberger Institut weiterhin die Fortsetzung seiner Agenturdienste für die Angelegenheiten zwischen Ostpreußen und der UdSSR zugestanden. 241 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, Sitzung des Rußland-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft am 17. Januar 1929. „Der Deutsch-Russische Verein in Liquidation. Die Außerordentliche Mitgliederversammlung des DeutschRussischen Vereins zur Pflege und Förderung der gegenseitigen Handelsbeziehungen E. V., die am 29. November 1929 in Berlin stattgefunden hat, beschloß die Auflösung des im März 1899 gegründeten Vereins“, in: Die Ostwirtschaft, Jg. 1930, Nr. 1, Januar 1930, S. 3. 242 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Frankenbach an OPO, Januar 1929. 243 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1928, S. 134 f. 244 GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2082, Abschrift, Vereinbarung zwischen dem Rußlandausschuß der deutschen Wirtschaft und dem Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten Königsberg, 20.11.1928.
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Obwohl die Selbständigkeit des Königsberger Wirtschaftsinstituts damit anerkannt wurde, blieben seine Finanzprobleme jedoch ungelöst. Der RDI akzeptierte die Übernahme der Entschädigung für den Ausfall der Mitgliedsbeiträge, der aus dem Austritt der mittel- und westdeutschen Firmen und Verbände aus dem Königsberger Institut resultierte, sowie für den Verzicht des Königsberger Instituts auf die Werbung neuer Mitglieder. Hierzu ging der RDI auf die Zahlung einer Ausfallbürgschaft in Höhe von jährlich 36.000 RM ein. Dadurch befestigte der Rußlandausschuß zugleich seine Beteiligung an dem Königsberger Wirtschaftsinstitut, während es dessen finanzielle Abhängigkeit von dem Ausschuß verstärkte. Zwangsläufig mußte das Institut weitere Einschränkungen seiner Handlungsfreiheit hinnehmen. Zum einen entsandte der Rußlandausschuß, unabhängig von den bereits zum Präsidium gehörenden Vertretern des RDI, zwei weitere Vertreter ins Präsidium des Wirtschaftsinstituts. Im Gegenzug delegierte das Königsberger Institut zwei Vertreter in den Rußlandausschuß. Zum anderen durften alle Buchveröffentlichungen sowie Vorträge des Königsberger Wirtschaftsinstituts lediglich im vorherigen Einvernehmen mit dem Rußlandausschuß erfolgen.245 Abgesehen von den Angelegenheiten zwischen Ostpreußen und der UdSSR wurde nach diesem Arbeitsgemeinschaftsvertrag, der zunächst für drei Jahre gelten sollte, die Arbeitsteilung so vorgenommen, daß der Rußlandausschuß alle grundsätzlichen und Einzelfragen der Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsbeziehungen bearbeitete, während das Wirtschaftsinstitut die volkswirtschaftliche Erforschung des Ostens übernahm. Demnach sollte es Aufgabe des Instituts sein, dem Rußlandausschuß seine Forschungsergebnisse sowie das gesammelte Material über die Sowjetwirtschaft zur Verfügung zu stellen, um es in Veröffentlichungen wie „Der Ost-Europa-Markt“ zu verwerten, und die Propagandaarbeit der deutschen Technik und Landwirtschaft in der UdSSR durch die Herausgabe russischsprachiger Zeitschriften (Osteuropäische Landwirtschafts-Zeitung / Восточно-Европейский Земледелец sowie Zeitschrift der deutschen Technik / Германская Техника) zu leisten.246 Hierzu erhoffte sich der RDI von der Propagandaarbeit des Wirtschaftsinstituts bessere Absatzmöglichkeiten sowie eine erhöhte Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auf dem sowjetischen Markt, wo ein harter Wettbewerb mit amerikanischen Firmen herrschte. In diesem Rahmen übermittelte das Königsberger Institut z. B. im Jahr 1930 dem Rußlandausschuß insgesamt 266 Denkschriften im Zusammenhang mit dem sowjetischen Fünfjahresplan.247 245 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, Streng vertraulich, Anhang zum Vertrag zwischen dem Rußlandausschuß der deutschen Wirtschaft und dem Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten Königsberg. 246 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1928, S. 134 f. 247 Ebd., für das Jahr 1930, S. 109.
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Der Entschädigungsbeitrag des RDI reichte freilich nicht aus, um die Betriebskosten des Instituts zu decken. Es befand sich nach 1929 in der schwierigen Lage, daß ihm alle Möglichkeiten fehlten, neue Mitglieder zu werben und sich selbständig neue Einnahmequellen zu verschaffen. Mit außerordentlicher Scharfe erfaßte die Wirtschaftskrise im Jahr 1928 / 29 Ostpreußen. Die erste durchgreifende Agrarkredithilfe, die Ostpreußenhilfe, wurde von Reich und Preußen zu diesem Zeitpunkt gerade in Gang gesetzt. Die Veranstaltung der Ostmesse stieß ebenfalls auf Hindernisse. Im Sommer 1929 fiel der Reichsmessezuschuß für die Ostmesse gänzlich aus. Nicht zuletzt entschied der Landmaschinenhersteller- und -händlerverband im Jahr 1929, seinen Mitgliedern ein Teilnahmeverbot an den Messen und Ausstellungen außer der Wanderausstellung der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (DLG) zu erteilen.248 Unter diesem Umständen, da sich sowohl die Ostmesse als auch die Stadt und Provinz mit der außerordentlichen Wirtschaftskrise konfrontiert sahen, war nicht zu erwarten, weitere Beiträge aus Mitteln Ostpreußens für die Stützung des Wirtschaftsinstituts einzuwerben. Das Institut, der Magistrat und der Oberpräsident wandten sich wiederholt an die Reichs- und preußischen Zentralbehörden, um die Erhaltung des wichtigsten Förderorgans für den ostpreußischen Rußlandhandel zu sichern. Im Jahr 1929 hatte das Königsberger Wirtschaftsinstitut außerdem vor, zur Erweiterung seiner Geschäftstätigkeit in der UdSSR die Niederlassungen in Moskau und Leningrad auszubauen, was allerdings weitere Mittel benötigte.249 Die Meinungen der Zentralbehörden um die Beibehaltung des Wirtschaftsinstituts gingen stark auseinander. Die Berliner Wirtschaftsinstanzen, vor allem das Reichswirtschaftsministerium, sahen keinen Anlaß, den Anschluß des Königsberger Instituts an den Rußlandausschuß zu verhindern. Lediglich der preußische Ministerpräsident Braun und das Auswärtige Amt traten für die Unterstützung des Königsberger Instituts ein. Vor allem Braun schätzte die Förderarbeit des Königsberger Instituts für das Exportgeschäft der ostpreußischen Agrarprodukte (Pferde und Saaten) sehr. In der Annahme, daß die Exportverhandlungen, die gerade durch den Moskauer Besuch des Oberpräsidenten im April 1929 angebahnt wurden, lediglich durch weitere Vermittlung des Königsberger Wirtschaftsinstituts zum Erfolg geführt werden können, setzte er durch, dem Königsberger Institut die gewünschte Beihilfe in Höhe von 12.000 RM, die allerdings keineswegs hoch war, zuzubilligen. Die Entscheidung der preußischen Regierung wurde kurz nach der Verabschiedung des Ostpreußenhilfsgesetzes getroffen.250 Auch das 248 Ebd.,
für das Jahr 1929, S. 88. PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten an OPO, 13.2.1929. 250 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 298, Ostpreußische Vertretung (Frankenbach) an OPO, 3.7.1929. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, PreußMP an 249 GStA
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
Auswärtige Amt legte großen Wert auf die Ergebnisse der Ostpreußischen Delegationsreise nach Moskau, die auf Vermittlung des Königsberger Instituts zustande kam. Tatsächlich gelang es dem Meßamt und dem Wirtschaftsinstitut, trotz aller denkbaren schwierigen Situationen die Beteiligung der großen sowjetischen Delegationen, die aus Vertretern des Gosplans sowie der Landwirtschaftskommissariate bestanden, an der Sommermesse von 1929 zu erzielen. Das Auswärtige Amt kam dem Wunsch des Königsberger Instituts nach, indem es seine bisherige Beihilfe von 12.000 RM auf 24.000 RM verdoppelte.251 Obwohl es dem Wirtschaftsinstitut auf diese Weise im Jahr 1929 gelang, die Auflösungskrise gerade noch zu überwinden, wurde es schon Ende des Jahres dazu gezwungen, für den neuen Haushalt von 1930 Zuschußanträge in gleicher Höhe beim Reich und Preußen zu stellen. Es wurde deutlich, daß sich das Institut zum reinen Zuschußbetrieb wandelte, da ihm infolge der Monopolisierung des Rußlandsagenturgeschäfts unter dem Rußlandausschuß keine neuen Geschäftsmöglichkeiten eröffnet wurden. Die Selbständigkeit des Königsberger Instituts war lediglich durch Beihilfen der öffentlichen Stellen zu wahren. Die Zentralministerien zögerten jedoch, die laufende Unterstützung des Wirtschaftsinstituts zu übernehmen und neigten sogar zur Angliederung des Instituts an den Rußlandausschuß. Lediglich Ministerpräsident Braun und das Auswärtige Amt stellten sich dem Institut zur Seite. Man sah sich in Königsberg vor die Entscheidung gestellt, entweder das Aufgehen des Instituts im Rußlandausschuß hinzunehmen, oder aber zur Erhaltung der Unabhängigkeit seinen öffentlichen Nutzen deutlich in den Vordergrund zu stellen, vor allem mit Rücksicht auf den Umstand, daß das Institut, abgesehen von der Entschädigungszahlung des RDI, hundertprozentig auf Zuschüsse öffentlicher Stellen angewiesen war. So wurde z. B. an den Beitritt von Vertretern des Landes Preußen zum Präsidium des Königsberger Instituts gedacht. Dieser Vorschlag fand aber keine Zustimmung seitens der preußischen Ministerien, mit der Begründung, daß Ministerialrat Frankenbach (der Ostpreußische Vertreter) bereits als Vertretung Preußens einen Sitz im Präsidium besitze.252 Danach war man in Königsberg bestrebt, den Beitritt des Oberpräsidenten Siehr, der bis zur ersten Satzungsänderung von 1925 zum Verwaltungsrat des Instituts gehört hatte, zum Präsidium zu erreichen. Auf die dringliche Bitte des Messedirektors und zugleich Hauptgeschäftsführenden des Instituts, Konsul Wiegand, hin erklärte Siehr seine PreußHM, 14.5.1929. GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, PreußHM, 14.6.1929. 251 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Wiegand an Frankenbach, 15.11.1929. 252 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 298, Ostpreußische Vertretung (Frankenbach) an OPO, 3.7.1929.
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Bereitschaft dazu.253 Von dieser potentiellen Stärkung des öffentlichen Charakters des Instituts erhoffte man sich, die laufenden Zuschüsse des Reichs und Preußens zu sichern und zugleich den Einfluß des vom RDI vertretenen Rußlandausschusses auf die Betriebsleitung des Instituts abzuwehren. Im November 1929 legte das Königsberger Wirtschaftsinstitut im Einvernehmen mit dem Magistrat sowohl dem Reich als auch dem Land Preußen einen Satzungsänderungsplan vor. Dieser ließ den Widerstand des Königsberger Magistrats und des Instituts selbst gegen die Einmischungen des Rußlandsausschusses deutlich erkennen. Danach waren folgende zwei große Änderungen in der Organisation des Instituts vorzunehmen. Zum einen schlug man vor, die Mitgliedschaft des Instituts lediglich öffentlichen Körperschaften einzuräumen. Als Stammitglieder kamen hierzu die Stadt Königsberg, der Provinzialkommunalverband Ostpreußen, die Landwirtschaftskammer Ostpreußen, die Handelskammern Königsberg und Elbing sowie die Reichsbahngesellschaft in Betracht. Die Reichsbahn, die ein Interesse an der Abwicklung des ostpreußisch-sowjetischen Verkehrs hatte, wie man in Königsberg annahm, sollte mit der Zahlung des Mitgliedsbeitrags die Arbeit des Wirtschaftsinstituts stützen. Zum anderen sollte ein Kuratorium gegründet werden, das als oberstes Exekutivorgan noch über dem Präsidium stehen sollte. Die Mitglieder des Kuratoriums sollten lediglich aus Vertretern des Reichs, des Landes Preußen sowie aus den eigenen Institutsmitgliedern, also ohne Teilnahme des RDI und seines Rußlandausschusses, bestehen. Das Kuratorium wählte aus seiner Mitte auf zwei Jahre einen Vorsitzenden und ein geschäftsführendes Mitglied. Außerdem sollte der Vorsitzende dem Präsidium vorstehen. Der minimal veranschlagte Haushalt von 1930 mit 120.000 RM sollte finanziert werden aus dem Mitgliederbeitrag der genannten öffentlichen Körperschaften Ostpreußens in Höhe von 36.000 RM (davon die Stadt Königsberg allein 24.000 RM) sowie aus den Zuschüssen des Reichs und Preußen mit je 24.000 RM. Der Restbetrag (36.000 RM) sollte durch die Entschädigungszahlung des RDI ausgeglichen werden. In diesem Sinne hoffte man, daß die Betriebsleitung und die oberste Entscheidungsbefugnis in der Hand der Stadt Königsberg blieben.254 In Wirklichkeit wurde aber dieser Satzungsänderungsplan dem Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg zufolge bis zum Ende der Weimarer Republik nicht mehr realisiert. Der Haushalt von 1930 wurde nach der weiteren Herabsetzung des Kostenvoranschlags, wie im Vorjahr, ohne Schaffung des geplanten Kuratoriums 253 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Frankenbach an Konsul (Wiegand), 26.11. 1929. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, Wiegand an Frankenbach, 28.11.1929. GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 141, OPO an Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten, 28.12.1929. 254 GStA PK, I. HA, Rep. 120, CXIII, 1, Nr. 186, Wirtschaftsinstitut an PreußStM, 26.11.1929. Wirtschaftsinstitut an AA, 6.11.1929.
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auf dem Wege der Zuschüsse finanziert. Der im November 1928 abgeschlossene Arbeitsgemeinschaftsvertrag zwischen dem Rußlandausschuß und dem Königsberger Wirtschaftsinstitut, der auf die Dauer von drei Jahre begrenzt war, lief am 31. Dezember 1931 ab und wurde dann um weitere zwei Jahre verlängert.255 Dies deutet darauf hin, daß es Anfang der 30er Jahre dem Königsberger Wirtschaftsinstitut gelang, trotz aller denkbaren Schwierigkeiten seine Selbständigkeit zu bewahren. Somit leistete es im Bereich der Wirtschaftsverhandlungen zwischen Ostpreußen und der UdSSR weiterhin unersetzliche Arbeit. Dazu gehörten die Einladung der sowjetischen Delegation zur Ostmesse, die Vermittlung und Verhandlung über den Export von ostpreußischen Pferde und Zuchtvieh nach der UdSSR sowie über die sowjetische Handelsoperation über den Hafen Königsberg.256 Im Jahr 1931 gelang es dem Meßamt Königsberg außerdem, den seit der Fusion von 1927 im Besitz des Auslandverlag GmbH Berlin befindlichen Anteil der Ost-Europa-Verlags GmbH Berlin / Königsberg Pr. zu günstigen Bedingungen zurückzuerwerben. Damit gelangten die Rechte für die in russischer Sprache veröffentlichte Agrartechnische Zeitung (Osteuropäische Landwirtschaftszeitung „Восточно-Европейский Земледелец“) wieder in den alleinigen Besitz des Königsberger Meßamts. Hingegen wurde die Zeitschrift der deutschen Technik („Германская Техника“), die ursprünglich im Rahmen der Ostmessearbeit durch das Meßamt und das Wirtschaftsinstitut Anfang 20er Jahre ins Leben gerufen worden war, völlig aus dem Königsberger Verlag herausgelöst. Sie wurde seit 1927 unter der Leitung des RDI zur Werbung für deutsche Technik und Maschinen in der UdSSR genutzt. Das Wirtschaftsinstitut konnte lediglich unter seiner Beteiligung am Progressus-Verlag zusammen mit dem Verein Deutscher Ingenieure die Redaktionsarbeit leisten.257 Einen weiteren Schlag gegen die Arbeit des Meßamts und des Wirtschaftsinstituts bedeutete außerdem die Umstellung der Zeitschrift „Der Ost-Europa-Markt“. Unter Leitung des Messedirektors Wiegand wurde der OEM seit dem 1. Oktober 1920 in zwei Sprachen (deutsch und russisch) zweimal monatlich veröffentlicht. Nach seiner Gründung 1922 hatte das Königsberger Wirtschaftsinstitut die Redaktionsarbeit der Zeitschrift übernommen. Von 1920 bis Ende 1930 hatte sich Wiegand als Chefredakteur stets dafür engagiert, der deutschen und osteuropäischen Leserschaft aktuelle, korrekte und eingehende Informationen über Wirtschaft, Politik und Verkehr der Oststaaten und der UdSSR anzubieten. Nach dem schweren Kampf mit dem RDI verließ Wiegand Ende 1930 seine bisherigen Posten in Königsberg (Leiter der Ostmesse und des Wirtschaftsinstituts, 255 Verwaltungsbericht 256 Ebd.,
S. 118. 257 Ebd., S. 116.
der Stadt Königsberg für das Jahr 1931, S. 118.
VI. Die Folgen des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens787
Chefredakteur des OEM).258 Danach wurde der OEM zur Umstellung gezwungen, was auf den Wunsch des Rußlandausschusses nach Zentralisierung der Informationsdienste zurückging. Ab 1. Januar 1932 erschien die Zeitschrift nur noch monatlich und statt im Zeitungsformat im handlichen A4-Format.259 Durch diese Umstellung verlor der OEM seine Bedeutung als aktuelles Informationsblatt, indem wissenschaftliche Aufsätze anstatt der bisherigen wirtschaftlichen Nachrichten an die erste Stelle traten. Im Zuge der Rationalisierungsarbeit des Rußlandausschusses wurde die Wirtschaftsnachrichtenarbeit auf die Zeitschrift „Die Ostwirtschaft“ konzentriert. Sie wurde ursprünglich vom Deutsch-Russischen Verein als Mitteilungsblatt veröffentlicht. Nach dem Aufgehen des Vereins im Rußlandausschuß wurde ihre Herausgabe von diesem Ausschuß übernommen. Die Vorbereitung der Umstellung der Königsberger Zeitschrift „Der Ost-Europa-Markt (OEM)“ wurde unter dem nach Wiegands Abschied neu berufenen Messedirektor und Herausgeber, Hans Jonas,260 Anfang 1931 in Angriff genommen. Jonas war bis dahin als Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und seit 1925 zugleich als Leiter der Berliner Geschäftsstelle des Königsberger Wirtschaftsinstituts tätig gewesen. Anläßlich der Übernahme der Königsberger Direktorenstelle gab er seine Stelle in der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas auf. Er blieb bis 1944 Chef des Königsberger Instituts und Herausgeber von OEM bei der Königsberger Ostmesse. Nach dem Austritt aller Messegründer, wie Wiegand, Lohmeyer, Schaefer, Markow, änderte sich der Charakter der Königsberger Ostmesse grundlegend. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, vor allem unter Gauleiter und Oberpräsident Erich Koch wurde sie als „die nationalsozialistische Ostmesse“ stark erweitert, wobei Hermann Göring die Schirmherrschaft übernahm. Man vertraute der nationalsozialistischen Ostmesse die Aufgabe an, Propagandaarbeit für die Realisierung des deutschen Lebensraumsgedankens im Osten zu leisten. Daraufhin gewann die erweiterte Teilnahme der ausländischen Delegationen von Osteuropa bis zum Fernen Osten besondere Wichtigkeit. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trugen Jonas und seine Zeitschrift OEM dazu bei, die politischen Ziele des nationalsozialistischen Reichs und der mit ihm verbündeten und befreundeten Staaten, unter ihnen nicht nur die Oststaaten im alten Sinne, sondern auch Japan, die Mandschurei, die Türkei und Persien usw., in wirtschaft 258 „Wechsel in der Leitung der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 11. Jg / Nr. 7, 1.1.1931, S. 99. 259 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1931, S. 117 f. „An unsere Leser!“, in: OEM, 12. Jg / Heft 1, Januar 1932, S. 1. 260 Otto Hoetzsch berichtete, daß Jonas „die Nachfolge von Herrn Dr. Wiegand in Königsberg zu sehr günstigen Bedingungen angeboten worden“ sei. BA, N 2049 (Nachlaß von Herbert v. Dirksen), Nr. 7, Hoetzsch an v. Dirksen, 7.11.1930.
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3. Teil: Königsberg und die Sowjetunion
licher Hinsicht zu stützen.261 Die letzte Ostmesse fand im Jahr 1941 statt. Die Zeitschrift „Der Ost-Europa-Markt“ wurde im Sommer 1944 eingestellt. Die sowjetische Delegation, die vornehmlich aus Landmaschinenspezialisten bestand, war auch nach der Machtergreifung Hitlers bis 1935 an der Messe beteiligt.262 Im Jahr 1936 wurde das sowjetische Generalkonsulat in Königsberg geschlossen. Seitdem unterließ es die UdSSR, ihre Delegationen zur Messe zu entsenden. Kurz vor dem Abschluß des Hitler-Stalin-Pakts Mitte August 1939 flog Außenminister Ribbentrop von Königsberg ab, wo gerade die Ostmesse stattfand. Zur Sommermesse 1940 reiste letztmalig auch wieder eine sowjetische Delegation an.263 d) Die Krise der Königsberger Stadtbank im Untergang der Weimarer Republik Unter der zugespitzten Wirtschaftskrise in der Endphase der Weimarer Republik war das Russenkreditgeschäft der Königsberger Stadtbank, die ursprünglich zur Förderung der Königsberger Wirtschaft eingeleitet wurde, paradoxerweise einer scharfen Kritik des Bürgertums ausgesetzt. Nicht zuletzt standen das Preußische Innenministerium sowie die Girozentrale dem Russenkreditgeschäft der Stadtbank stets skeptisch gegenüber, denn das Auslandsgeschäft der Kommunalbanken war damals noch ein umstrittener 261 Eingehende Messeberichte in den Jahren von 1938 bis 1940 befinden sich in PA AA, Gesandtschaft Kowno 122. (wie z. B., Nachrichtendienst der Deutschen Ostmesse Königsberg (Pr), 20.–23. August 1939, Mandschukuos Erzeugnisse auf der Ostmesse, 12. August 1939) Siehe auch die Veröffentlichungen; Mandschukuo. Ein Überblick über die wirtschaftlichen Grundlagen des Landes, anläßlich der Mandschukuo-Ausstellung auf der 24. Deutschen Ostmesse Königsberg (Pr) vom 23. bis 26. August 1936, hg. v. Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten, Königsberg 1936. „Das Ausland auf der 27. Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 19. Jg / Heft 6, Juni 1939, S. 398 ff. „Böhmen und Mähren zum ersten Male auf der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 20. Jg / Heft 7 / 8, Jul / Aug. 1940, S. 181 ff. „Der Balkan“, in: OEM, 20. Jg / Heft 7 / 8, Jul / Aug. 1940, S. 183 ff. „Die Türkische Republik und das Kaiserreich Iran als Wirtschaftspartner“, in: OEM, 20. Jg / Heft 7 / 8, Jul / Aug. 1940, S. 188 ff. „Die Entwicklung der deutsch-mandschurischen Handelsbeziehungen“, in: OEM, 20. Jg / Heft 7 / 8, Jul / Aug. 1940, S. 193 ff. 262 An der Messe von 1933 waren z. B. folgende Vertreter beteiligt: Präsident der Vereinigung des Landmaschinenbaues der UdSSR, Direktor des Forschungsinstituts für Maschinenbau, Direktor des Forschungsinstituts für Kraftwagen und Schlepperbau, Chef der Handelsverwaltung der Vereinigung für Landmaschinenbau, Chef des Amts für die Mechanisierung der Landwirtschaft, Bevollmächtigte des Volkskommissariats für Staatsgüter für die Krim, Direktor für Getreidetrusts der Krim usw. In: OEM, 13. Jg., Heft 8 / 9, Aug. / Sept. 1933, S. 377. Die Rede von Generalkonsul der UdSSR Smetanitsch wurde abgedruckt, in: Königsberger Messe-Zeitung, 21.8.1933, 13. Jg. / 2 Messe-Nr., S. 3. 263 Die UdSSR auf der 28. Deutschen Ostmesse 1940, Königsberg 1940.
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Geschäftsbereich. Die Meinungsunterschiede zwischen der Königsberger Stadtbank und den Berliner Stellen kamen zuerst im Jahr 1926 deutlich zum Vorschein. Der unmittelbare Anlaß für diese Auseinandersetzung ergab sich vor allem daraus, daß die Stadtbank in der Londoner „Financial Times“ ein Inserat geschaltet hatte, welches mehr als doppelt so groß wie das der anderen deutschen Großbanken war. In diesem Inserat wurde vor allem die Garantie des Depositums durch die Stadtgemeinde und die Girozentrale Königsberg, welche seit 1921 mit 50 % am Grundkapitel der Stadtbank beteiligt war, hervorgehoben.264 Im Gegensatz zur ursprünglichen Absicht der Stadtbank, das Vertrauen der ausländischen Kreditgeber in das Importgeschäft von England über Königsberg nach Rußland zu stärken, hatte das Inserat in Deutschland scharfe Kritik ausgelöst: „Die Königsberger Stadtbank bedient sich also im Wettbewerb mit den deutschen und ausländischen Großbanken des Hinweises auf die Garantie der Königsberger Steuerzahler für ihre Einlagen.“265 Zwangsläufig sah sich das Preußische Innenministe rium als oberste Aufsichtsbehörde der Kommunalbanken aufgefordert, die Königsberger Stadtbank zu ermahnen. Das Innenministerium stellte fest, daß das Auslandsgeschäft außerhalb des Aufgabenkreises einer kommunalen Kreditanstalt liege.266 Demnach sollte die Stadtbank sowohl die Unterhaltung von Guthaben bei den ausländischen Banken als auch das Rembourgeschäft, das eine Kreditoperation beim Importgeschäft in Übersee darstellte und die Aufstellung des Akzepts durch die Bank erforderte, strikt unterlassen.267 Im Vordergrund dieser Ermahnung standen die Geschäftsvorschriften der allgemeinen Kommunalbanken in Preußen, wonach die Betätigung im Wechselgeschäft auf An- und Verkauf, Beleihung und Indossierung von Wechseln beschränkt und die Eingehung von Wechselverbindlichkeiten als Aussteller oder Akzeptant, welche für das von der Königsberger Stadtbank betriebene Rembourgeschäft notwendig war, ausnahmslos verboten war.268 Das Innenministerium warnte davor, daß die selbständige Betätigung der Königsberger Stadtbank die Abgrenzung der Aufgabenkreise zwischen den Privat- und Kommunalbanken gefährden könne. Die Königsberger Stadtbank vertrat hingegen den Standpunkt, daß das genannte Auslandsgeschäft 264 Das deutsche Inserat der Stadtbank vom Jahr 1927 wies z. B. darauf hin: „Für alle Einlagen bei der Stadtbank haften unbeschränkt die Stadtgemeinde Königsberg i. Pr. und der kommunale Spar- und Giroverband für die Ostmark“, in: OEM, 8. Jg / Nr. 2, 15.10.1927, S. 26. 265 GStA PK, I. HA, Rep. 120, A. X. Nr. 44, Auszug aus: Vertrauliche Mitteilungen über wirtschaftliche und politische Tagesfragen, 17.3.1926. 266 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, PreußMdI, 24.2.1927. 267 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, PreußMdI, 17.2.1927. 268 GStA PK, I. HA, Rep 77, Tit. 1130, Nr. 105, PreußMdI an Regierungspräsidenten Königsberg, 14.3.1927.
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nach ihrer eigenen Satzung nicht verboten sei. Angesichts des harten Widerstands der Stadtbank ersuchte nun das Innenministerium, das auf die Einhaltung der Einheitlichkeit der Kommunalbankenpolitik großen Wert legte, den Regierungspräsidenten Königsberg darum, auf die Stadtbank und den Magistrat einzuwirken, um so das selbständige Vorgehen der Königsberger Stadtbank im Interesse der Gesamtheit der kommunalen Kreditinstitute einzustellen.269 Es lag auf der Hand, daß die Zulassung der Stadtbank Königsberg für das Rembourgeschäft sofort weitere Ansprüche anderer Kommunalbanken in den Hafenstädten, wie z. B. Stettin, Hamburg sowie Bremen, zur Folge haben mußte. Im Gegensatz zu den Erwartungen des preußischen Innenministeriums standen aber sowohl der Regierungspräsident Königsberg als auch der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen dem Königsberger Magistrat zur Seite. Die beiden Spitzen der ostpreußischen Verwaltung unterstützten ausdrücklich die Haltung von Oberbürgermeister Lohmeyer. Die Kreditversorgung in Ostpreußen hatte sich infolge der Abtrennung durch den Korridor sehr verschlechtert. Die Stadtbank Königsberg, die ursprünglich zum Zweck zur Verbesserung der Kreditversorgung für die nichtlandwirtschaftlichen Sektoren Ende 1920 gegründet worden war, entwickelte sich schnell zur größten Handelsbank in Königsberg. Als federführendes Bankinstitut in der Hafenstadt sah es die Stadtbank als ihre wichtigste Aufgabe an, den Importeuren und Exporteuren günstigere Bedingungen im Auslandsverkehr zu verschaffen, was sowohl den Devisenhandel als auch die Aufstellung des Akzepts sowie das Rembourgeschäft notwendig machte. So hob der Regierungspräsident die besondere Stellung der Königsberger Stadtbank in der abgetrennten Provinz hervor: „ihr Geschäftsbetrieb muß daher anders gewertet werden, als der Geschäftsbetrieb irgend einer Stadtbank im Innern des Reichs.“270 Daraus zog der Regierungspräsident als Aufsichtsbehörde für die Kommunalbank seiner Regierungsbezirks die Schlußfolgerung, daß er gegen das Vorgehen der Stadtbank nichts einzuwenden habe, weil das in Frage kommende Geschäft offenbar auf einwandfreier und gedeckter Basis betrieben werde. Während der Oberpräsident den Standpunkt des Regierungspräsidenten teilte, reagierte das preußische Innenministerium mit einer neuerlichen Mahnung an den Königsberger Magistrat. Ende Juni 1927 lud der Regierungspräsident auf das wiederholte Ersuchen des Innenministeriums die betroffenen Stellen (die Vertreter des Oberpräsidiums, der Reichsbankstelle in Königsberg, des Magistrats sowie des Spar- und Giroverbands) zur Besprechung ein, um über die Angelegenheiten des Auslandsgeschäfts 269 Ebd.
270 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Regierungspräsident Königsberg an PreußMdI, 16.8.1926.
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der Stadtbank Klarheit zu erlangen. Überraschenderweise boykottierte aber Oberbürgermeister Lohmeyer, der von der Rechtmäßigkeit der Betätigung der Stadtbank im Auslandsgeschäft fest überzeugt war, diese Besprechung, indem keine Vertreter seitens des Magistrats sowie des Sparkassen- und Giroverbandes, an dessen Spitze Lohmeyer stand, teilnahmen. Angesichts dieser harten Entschlossenheit Lohmeyers gegen die Aufhebung des Auslandsgeschäfts der Königsberger Stadtbank konnte der Regierungspräsident lediglich diesen Standpunkt des Oberbürgermeisters, der zugleich das Amt des Vorstands der Stadtbank sowie des Vorsitzenden des Giroverbands für die Ostmark innehatte, nach Berlin übermitteln.271 Diese Haltung des Magistrats wurde durch den Oberpräsidenten in Schutz genommen, weil die Beibehaltung des Rembourgeschäfts als einer der wichtigen Faktoren des Königsberger Transitgeschäfts nach Rußland anzusehen war.272 Der Magistrat führte zur Begründung an, daß die Königsberger Importeure, die englische Waren ein- und nach der UdSSR ausführten, ausschließlich auf die Stadtbank angewiesen seien, weil nur der Magistrat und die Stadtbank mit der sowjetischen Handelsvertretung enge Beziehungen pflegten.273 Dies war in Königsberg allgemein bekannt. Die enge Fühlungnahme zwischen dem Magistrat und der Handelsvertretung der UdSSR wurde in vielfältiger Weise gepflegt, auch dadurch, daß, wie bereits dargestellt, die Stadtbank der sowjetischen Handelsvertretung die Räume des oberen Stockwerks ihres Bankgebäudes als Geschäftsstelle zur Verfügung stellte.274 Der Streit zwischen der Königsberger Stadtbank und dem preußischen Innenministerium um das Rembourgeschäft wurde dennoch letztlich im Sinne des preußischen Innenministeriums geregelt. Die Stadtbank führte aber ihren hartnäckigen Kampf gegen die Einmischung des Innenministeriums fort. Sie erhöhte ihre Beteiligung an der Ostdeutschen Warenkreditbank A.-G., um so dieses Organ das Rembourgeschäft der Stadtbank fortführen zu lassen. Dies hatte aber später ein großes Verlustgeschäft zur Folge.275 Das selbständige Vorgehen Lohmeyers, das sowohl im Streit um das Rembourgeschäft als auch in seinem Entscheidungsverfahren beim Rußlandkreditgeschäft zum Vorschein kam, erweckte sowohl bei den Aufsichtsbehörden als auch den Kapitalbeteiligten Zweifel an der Stadtbankführung. Das preu271 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Regierungspräsident Königsberg an PreußMdI, 30.6.1927. 272 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, OPO an PreußMdI, 19.7.1927. 273 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Abschrift, Stadtbank Königsberg, 24.3.1927. 274 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1927, S. 196. 275 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1928, S. 137. Siehe auch GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Bericht über die in der Zeit vom 24.3.1933–13.4.1933 erfolgte Revision der Stadtbank Königsberg Pr.
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ßische Handelsministerium vermutete, daß die Stadtbank bereits beim Osthandel Verluste erlitten habe. Seit der Gründung der Königsberger Ostmesse waren der Magistrat und die Stadtbank bemüht, den Kreditbedarf beim Export nach den Oststaaten aus eigenen Mitteln zu finanzieren.276 Die meisten Kredite, die die Stadt zu diesem Zweck vergeben hatte, waren wahrscheinlich illiquide geworden. Die Stadtbank sei deshalb, so glaubte das Handelsministerium, dazu gezwungen, Wechsel zu akzeptieren, um sich auf diesem Wege weitere Mittel zu verschaffen.277 Der Arbeitsgemeinschaftsvertrag zwischen der Stadtbank und der Girozentrale Königsberg war 1921 zustande gekommen.278 Seitdem verschärfte sich der Streit beider Organe um die Bankführung, insbesondere um das Kreditentscheidungsverfahren. Mit diesem Arbeitsgemeinschaftsvertrag gelang es der Stadtbank, ihr Stammkapitel von 10 Millionen auf 20 Millionen RM zu erhöhen. Während die Girozentrale, die mit 50 % an der Stadtbank beteiligt war, die Gleichheit beider Organe in der Leitung der Stadtbank verlangte, wurde dieses Prinzip seitens des Magistrats nicht eingehalten. Zunächst wurde satzungsmäßig neben dem eigenen Direktor ein zweiter Bankdirektor der Stadtbank seitens der Girozentrale bestellt.279 Die tatsächliche Bankleitung oblag aber einem Ausschuß, der aus dem Verbandsvorsteher der Girozentrale für die Ostmark, dem Oberbürgermeister, dem Stadtbankkurator sowie dem Geschäftsführer des Giroverbandes bestand. Problematisch war vor allem, daß dem Magistrat Königsberg in der Bankleitung die dominante Stellung gesichert wurde, indem die Stimmenmehrheit des genannten Ausschusses durch Oberbürgermeister Lohmeyer, der gleichzeitig Verbandsvorsteher der Girozentrale für die Ostmark war, sowie Stadtkämmerer Lehmann, der gleichzeitig der Stadtbankkurator war, gehalten wurde. Nicht zuletzt wurde eine organisatorische Änderung in der Bankleitung vorgenommen und der Sitz der Girozentrale in diesem Ausschuß gestrichen, während der alleinige Bankdirektor durch die Girozentrale zu bestellen war.280 Dieser Bankdirektor konnte jedoch keinen großen Einfluß auf die Bankführung ausüben. Dieses Strukturproblem der Stadtbank wurde auch seitens der Aufsichtsbehörde festgestellt, die bemerkte, daß die Rechte der Girozentrale nicht ausreichend gewahrt seien. So wies das preußische Innenministerium kritisch darauf hin: „Wenn auch Kredite gemäß den internen Bestimmungen durch die Gesellschafter der Stadtbank, d. h. durch einen 276 Verwaltungsbericht
der Stadt Königsberg für das Jahr 1923, S. 87. PK, I. HA, Rep. 120, A. X. Nr. 44b, PreußHM an PreußMdI, 12.4.1927. 278 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1921, S. 50. 279 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Vertrag zwischen der Stadtbank Königsberg und der Girozentrale für die Ostmark vom 29.4.1921. Siehe dessen § 6. 280 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Der Verbandsvorsteher des Kommunalen Spar- und Giroverbandes für die Ostmark, Lohmeyer, 11.11.1927. 277 GStA
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Vertreter der Stadt und einen solchen der Giro-Zentrale, genehmigt werden sollten, so besteht durchaus die Möglichkeit weiter, daß der Oberbürgermeister sowohl die Stadt als auch gleichzeitig die Giro-Zentrale als deren Verbandvorsteher vertreten kann.“281 Daher empfahl die Aufsichtsbehörde, die Rechte der Girozentrale in der Betriebsführung der Stadtbank entsprechend ihrer Kapitalbeteiligung (50 %) zu stärken und der Girozentrale volle Einsicht in das Gesamtgeschäft der Stadtbank zu verschaffen.282 Diese scharfe Kritik wurde erst bei der Sonderrevision vom Herbst 1925 erhoben, als die Girozentrale für die Ostmark infolge des Mißerfolgs ihrer Rettungsaktion für die Danziger Girozentrale in die Liquiditätskrise geraten war. Diese Krise der Girozentrale, welche die Einleitung von Hilfsmaßnahme seitens der Deutschen Girozentrale Berlin mit ihrer Sanierungsanleihe von 10 Millionen RM notwendig machte, stärkte zwangsläufig die Kontrolle und Aufsicht durch die Deutschen Girozentrale. Anfang 1926 wurde ein Vertreter des Vorstehers der Berliner Girozentrale, Hermann Jursch, in den Vorstand sowie den Finanzausschuß der Girozentrale für die Ostmark entsandt.283 Das Russenkreditgeschäft, vor allem die Finanzierung der russischen Getreide- und Hülsenfrüchte, wurde erstmals im Sommer 1926 durch die Stadtbank Königsberg in Angriff genommen. Das Ausmaß dieser Kreditmaßnahme (ca. 10 Millionen RM) war unverhältnismäßig groß, vor allem im Vergleich mit der bisherigen Kreditgewährung für den Warenexport nach den Oststaaten. Die Girozentrale Königsberg, über welche die Deutsche Girozentrale Berlin nunmehr Aufsicht führte, setzte dem risikoreichen Russengeschäft der Königsberger Stadtbank Widerstand entgegen. Sie lehnte es im Interesse der Mitglieder des Sparkassen- und Giroverbandes ab, die Verantwortung für dieses riskante Geschäft zu übernehmen.284 Die Auseinandersetzung zwischen dem Magistrat und der Girozentrale wurde dadurch auf die Spitze getrieben, was letztlich zur Auflösung der Arbeitsgemeinschaft zwischen der Stadtbank und der Girozentrale Ende 1927 führte. Nach Angaben des Oberbürgermeisters Lohmeyer hatte die Girozentrale in diesem gemeinsamen Betrieb bisher keinen Gewinn gebracht, obwohl der von der Stadtbank erzielten Gewinn satzungsgemäß auf beide Organisationen verteilt worden sei. Die Beteiligung der Girozentrale, die zunächst zur Erhöhung des Stammkapitels beigetragen hatte, wurde dadurch zu einer Last für 281 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, PreußMdI. Revisionsbericht über die Girozentrale Königsberg 1925. 282 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Beiheft II, PreußMdI, Revisionsbericht über die Stadtbank Königsberg 1925. 283 Geschäftsbericht des kommunalen Spar- und Giroverbandes für die Ostmark, 1926, S. 5. 284 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 69, Bd. 2, Giro-Zentrale für die Ostmark, Direktion, 20.4.1933.
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die Stadtbank. In diesem Sinne war die Tätigkeit der Girozentrale im Betrieb der Stadtbank lediglich auf die Mitwirkung zum Kreditentscheidungsverfahren beschränkt, was die Politik des Magistrats nur behindert hatte. So warf Lohmeyer der Girozentrale vor, „daß die Stadt durch die Stellungnahme des von der Girozentralle bestellten Direktors in dem für sie und die ganze Provinz besonders wichtigen Russengeschäft lahmgelegt worden wäre“, wenn nicht der Verbandsvorsteher selbst, also Lohmeyer, in die Angelegenheiten eingegriffen hätte.285 Das Eigenkapitel der Königsberger Stadtbank war während der Inflationszeit im Gegensatz zur Entwicklung der übrigen deutschen Kreditinstitute verdoppelt worden. In der Goldbilanz vom 1. Januar 1924 nach der Währungsreform war das Stammkapital nunmehr mit 1 Million GM ausgewiesen.286 Das Eigenkapitel, das in der Golderöffnungsbilanz noch ein Anteilsverhältnis von 28,4 % zur Summe sämtlicher Betriebs- und Anlagewerte betrug, blieb aber in den folgenden Jahren weit hinter der stark anwachsenden Bilanzsumme zurück. Ende 1927 bot das Gesellschaftskapitel von 1,8 Millionen RM bei einer Bilanzsumme von 30,5 Millionen RM nur noch eine Sicherungsquote (Eigenkapitalquote) von 5,9 % gegen Überschuldung. An diesem Tag schied die Girozentrale Königsberg aus der Arbeitsgemeinschaft mit der Stadtbank aus.287 Am 1. Januar 1928 wurde die Gesellschaftsform der Stadtbank Königsberg von der bisherigen offenen Handelsgesellschaft in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt, und zwar unter Erhöhung des Gesellschaftskapitels von 1,8 Millionen auf 5,0 Millionen RM. Als Kommanditist trat die Königsberger Werke und Straßenbahn G. m. b. H. hinzu, der als städtischem Sonderbetrieb alle Energieversorgungsbetriebe (Elektrizitätswerk und Straßenbahn, Kanalisationswerk, Wasserwerk sowie Gaswerk) einheitlich unterstellt waren.288 Die Haftung der Königsberger Werke war allerdings auf den Betrag ihrer Kommanditeinlage von 20.000 RM beschränkt. Die Aufbringung der Mittel für die Kapitalerhöhung erfolgte hauptsächlich dadurch, daß die Stadtgemeinde Königsberg im Wege des Übertrages aus ihrem Kontoguthaben ca. 3,1 Millionen RM zur Verfügung stellte. In diesem Jahr wurde die höchste Bilanzsumme (39,5 Millionen RM) erreicht. Seit 1929 sank die Bilanzsumme schnell ab und fiel 1931 auf 22 Millionen RM.289 Dagegen blieb der Umsatz noch bis 1930 auf dem 285 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Der Verbandsvorsteher des Kommunalen Spar- und Giroverbandes für die Ostmark, Lohmeyer, 11.11.1927. 286 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1924, S. 151. 287 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Bericht über die in der Zeit vom 24.3.1933–13.4.1933 erfolgte Revision der Stadtbank Königsberg Pr. 288 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg für das Jahr 1928, S. 136. 289 Die Bilanzsumme: 1928: 39,5 Mill. RM. 1929: 28,8 Mill. RM. 1930: 31,7 Mill. RM. 1931: ca. 22 Mill. RM.
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höchsten Niveau.290 Infolge des seit 1929 eingetretenen hohen Verlusts wurde die Stadtbank dazu gezwungen, gegen den Abschreibungsbedarf, der nicht mehr aus den Rückstellungsmitteln zu decken war, auf Grund des Beschlusses des Verwaltungsrats der Stadtbank vom 2. Mai 1932 die Herabsetzung des Gesellschaftskapitels mit Wirkung vom 31. Dezember 1931 um die Hälfte (2,5 Millionen RM) vorzunehmen.291 In der Sonderrevision der Königsberger Stadtbank vom Ende März bis zur Mitte April 1933, die unmittelbar nach der von den Nationalsozialisten eingeleiteten Amtsenthebung Lohmeyers durchgeführt wurde,292 stellte die Aufsichtsbehörde die außerordentliche ungünstige Betriebslage der Königsberger Stadtbank fest. Dem Revisionsbericht zufolge hatte die Stadtbank seit 1929 stets mit großen Fehlbeträgen abgeschlossen und die Öffentlichkeit über ihre wahre Geschäftslage im unklaren gelassen.293 Der Gesamtverlust von 9 Betriebsjahren (von der Goldbilanzeröffnung 1924 bis 1933) betrug ca. 7,5 Millionen RM, die abzuschreiben waren.294 Davon belief sich der Fehlbetrag des Betriebsjahrs 1932 / 33 auf 3.190.000 RM, der auch mit der Abschreibung des noch übriggebliebenen Stammkapitels (2,5 Millionen RM) nicht mehr auszugleichen war. Der Sonderrevisionsbericht beurteilte die bisherige Bilanzierung der Bankleitung und des Magistrats als Manipulation. Er nannte für die außerordentlich schlechte Betriebslage der Stadtbank u. a. folgende Ursachen: Zum einen habe die Bankleitung insbesondere in ihrem Aktivgeschäft, nämlich in ihrem Kreditgeschäft, die Aufgabe einer Kommunalbank völlig verkannt. Zum anderen sei die Einflußnahme des Magistrats auf die Geschäftsführung der Stadtbank verhängnisvoll gewesen und habe die Unabhängigkeit der Bankleitung vom Magistrat untergraben. Die unklare Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen dem Magistrat und der Bankleitung in der Geschäftsführung der Stadtbank, wo letztlich der Magistrat die dominante Stellung innehatte, habe lediglich dazu gedient, das Kreditinstitut für wirtschaftspolitische Zwecke auszunutzen. In dem Sonderrevisionsbericht wurde auch die Frage des unklaren Zusammen290 Die Umsätze: 1928: 1,7 Milliarde RM, 1929: 1,9 Milliarde RM. 1930: 1,7 Milliarde RM. 1931: 1,3 Milliarde RM. 291 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Bericht über die in der Zeit vom 24.3.1933–13.4.1933 erfolgte Revision der Stadtbank Königsberg Pr. 292 Die Revision wurde durch Oberbankrat Ziche zusammen mit den Bankräten der Preußischen Staatsbank Kramm sowie Rohloff durchgeführt. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Ziche, Minister für Wirtschaft und Arbeit, 22.4.1933. 293 Aus den Verwaltungsberichten der Stadt Königsberg von 1929 bis 1931 ist keine Angabe über den Fehlbetrag bzw. Verlustabschluß der Stadtbank zu ersehen. 294 Der Fehlbetrag: 12.200,– RM (1924). 124.860,24 RM (1925). 244.104,95 RM (1926). 13.663,92 RM (1927). 55.695,85 RM (1928). 1.059.448,55 RM (1929). 195.883,34 RM (1930). 1.998.338,96 RM (1931). 591.171,11 RM (1932). 3.190.000,– RM (1933).
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schlusses zwischen der Stadtbank und der Stadtsparkasse aufgeworfen. Der große Teil der Sparkasseeinlagen sei in die Stadtbank eingelagert worden und für deren Kreditgeschäft verwendet worden. Nicht zuletzt habe die Stadtbank 1932 satzungswidrig der Stadtgemeinde einen Kredit gewährt, was eigentlich der Genehmigung durch die Aufsichtsbehörde bedurft hätte. Aus diesen Gründen zog der Revisionsbericht die Konsequenz: „Dem Magistrat, der die unmittelbare Aufsichtfunktion über seine Bankanstalt ausübte, fällt neben der Verschweigung der tatsächlichen Verhältnisse weiterhin zur Last, daß er seine Pflicht als Aufsichtsinstanz, die eine solche Entwicklung duldete, verletzt hat.“295 Angesicht der drohenden Liquiditätskrise betonte der Bericht die Notwendigkeit zur Ergreifung von Sofortmaßnahmen. Demnach sollte eine grundlegende organisatorische Änderung der Stadtbank vorgenommen werden, wie z. B. ihre Umgestaltung in eine sparkassenmäßige Anstalt. Deren Bankleitung sollte aber vom Magistrat völlig unabhängig sein und zugleich der Staatsaufsicht unterworfen werden.296 Da keine Gegenerklärung des Magistrats vorliegt, läßt sich schwer beurteilen, ob der Befund der Sonderrevision von März / April 1933 zu rechtfertigen ist. Was außerdem die seit 1926 eingeleitete Getreide- und Hülsenfrüchtefinanzierung für die sowjetische Handelsvertretung anbetraf, enthält dieser Bericht keinen substantiellen Inhalt. Ebenfalls bleibt unklar, weshalb überhaupt die Stadtbank seit 1929 große Verluste erlitten hatte. Dem Bericht zufolge beliefen sich die Schulden des Magistrats mitsamt des OstmesseBetriebs bei der Stadtbank auf über 1,5 Millionen RM. Über die Finanzlage der Stadt Königsberg am Ende der Weimarer Republik schrieb Fritz Gause: „Weder Lohmeyer noch der Stadtkämmerer Dr. Ulrich hatten Schuld daran, aber die Lage war so, daß die Stadtbank und die Stadtsparkasse vor der Gefahr der Einstellung ihrer Zahlungen standen.“297 Als die Nationalsozia295 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1130, Nr. 105, Bericht über die in der Zeit vom 24.3.1933–13.4.1933 erfolgte Revision der Stadtbank Königsberg Pr. 296 Infolge der von der Reichsregierung angestrebten Vereinheitlichung und Vereinfachung der öffentlichen Verwaltung wurde die Stadtbank Königsberg im Januar 1934 mit der Stadtsparkasse vereinigt. Dementsprechend wurde die Stadtsparkasse in die Lage versetzt, auf Grund ihrer neuen Satzung einen großen Teil der ihr früher verschlossenen Kreditgeschäfte selbst zu tätigen. Außerdem übernahm die Landesbank der Provinz Ostpreußen auf Grund eines Geschäftsabkommens mit der Stadtsparkasse die Kredite, soweit sie in den Rahmen der Stadtsparkasse nicht hineinpaßten. Somit war das weitere Bestehen der Stadtbank nicht mehr notwendig, so daß die Königsberger Stadtbank Anfang 1934 liquidiert werden konnte. Sämtliche Kreditoren und Depots der Stadtbank wurden auf die Stadtsparkasse überführt. Der Hauptsitz der neuen Stadtsparkasse wurde ins bisherige Stadtbankgebäude verlegt. Siehe hierzu Bericht über die Verwaltung der Stadt Königsberg im Jahre 1933, S. 123 f. 297 Gause, Bd. III (1996), S. 119.
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listen an die Macht gelangten, waren die wichtigen Mitarbeiter Lohmeyers, die sich seit dem Kriegsende stets für die Förderung des Rußlandgeschäfts sowie die Gründung der Ostmesse engagiert hatten, bereits aus Königsberg fortgegangen. Bürgermeister Carl Friedrich Goedeler war im Frühling 1930 ins Amt des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig berufen worden.298 Als sein Nachfolger wurde Kurt Weber gewählt.299 Der Messedirektor, Geschäftsführer des Wirtschaftsinstituts sowie Gründer und Herausgeber der Zeitschrift „Der Ost-Europa-Markt“, Erich Wiegand, war Ende 1930 von seinen Ämtern in Königsberg zurückgetreten. An die Stelle Wiegands trat Hans Jonas, der bisherige Leiter der Berliner Geschäftsstelle des Königsberger Wirtschaftsinstituts und zugleich Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas.300 Der Stadtkämmerer und zugleich Kurator der Stadtbank, Friedrich Lehmann, schied Anfang 1932 aus dem Dienst der Königsberger Stadtverwaltung aus, da er ins Amt des Stadtkämmerers von Frankfurt am Main berufen wurde. Unmittelbar vor dem Ablauf seiner zwölfjährigen Amtsdauer wurde Hans Lohmeyer durch die Stadtverordnetenversammlung am 8. Oktober 1930 von neuem zum Oberbürgermeister für die Dauer von zwölf Jahren gewählt. Gegen die Wiederwahl Lohmeyers beantragte die Fraktion der NSDAP umgehend die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung, mit der Begründung, daß die gegenwärtige Zusammensetzung nicht mehr dem Willen der Bürgerschaft entspreche.301 Der Antrag wurde allerdings nicht angenommen. An die Auseinandersetzung mit dem ersten NS-Stadtabgeordneten, Erich Koch, dem späteren Gauleiter Ostpreußens, erinnerte sich Lohmeyer nach dem Zweiten Weltkrieg: „Als ich ihn einmal sehr energisch zurückwies, rief er mir zu: Wenn wir zur Macht kommen, sind Sie der erste, der fliegt!“302 Nach der Stadtverordnetenwahl vom 5. März 1933, bei der die NSDAP in Königsberg zum ersten Mal die absolute Mehrheit (54 % der gesamten Stimmenzahl, 36 Mandate von 64) gewann, wurde Lohmeyer seines Oberbürgermeisteramts enthoben.303 Einen 298 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung Königsberg Pr. von 1930, 30. April 1930. 299 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung Königsberg Pr. von 1930, 25. Juni 1930. 300 „Wechsel in der Leitung der Deutschen Ostmesse“, in: OEM, 11. Jg / Nr. 7, 1.1.1931, S. 99. 301 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung Königsberg Pr. von 1930, 8. Oktober 1930. 302 „Meine Lebensarbeit habe ich Königsberg gewidmet“, in: Das Ostpreußenblatt, 19. Jg / Folge 11, 16.3.1968, S. 5 f. 303 Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung Königsberg Pr. von 1933. Bekanntmachung vom 24. März 1933 von Weber. Beschluß vom 29.3.1933, Wahl des Vorstandes. Gewählt werden als Vorsitzender: Stadtverordneter Dr. Vollmer (NSDAP).
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Tag vor dieser Stadtverordnetenwahl und zugleich einen Tag vor den Reichstagswahlen, am 4. März 1933, kam Reichskanzler Adolf Hitler nach Königsberg und hielt im Haus der Technik auf dem Messegelände304 eine letzte Wahlveranstaltung ab.305 Das Amt des Oberbürgermeisters übernahm Hellmuth Will, da man sich von diesem Finanzfachmann die Bewältigung der Stadtbank- und Stadtsparkassenkrise erwartete.306 Gegen Lohmeyer wurde außerdem ein Disziplinarverfahren eingeleitet, welches nach langen Ermittlungen schließlich eingestellt wurde. Lohmeyer verließ Königsberg und nahm seinen Wohnsitz in Berlin,307 wo er nach dem Zweiten Weltkrieg an der Arbeit des Deutschen Städtetags sowie an der Gründung und Leitung des Vereins zur Pflege kommunalwissenschaftlicher Aufgaben e. V. (seit 1963 Verein für Kommunalwissenschaften e. V.) im Ernst-Reuter-Haus federführend beteiligt war. Er starb am 28. Februar 1968 in Berlin-Charlottenburg.
304 Gegen die Verordnung des preußischen Innenministers über das Verbot der Vermietung der städtischen Anstalten und Säle an politischen Parteien vom 29. November 1931 stellte die NS-Fraktion der Königsberger Stadtverordnetenversammlung im Jahr 1932 wiederholt Anträge, die Räume der Stadthalle sowie des Hauses der Technik sämtlichen Parteien zur Verfügung zu stellen. Vgl. Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung, Nr. 27, Einspruch der NS-Fraktion (Großherr), 3. Februar 1932. Dieser Antrag der NS-Fraktion wurde letztlich Ende Mai 1932 durch die Stadtverordnetenversammlung angenommen. Sie faßte den Beschluß, den Magistrat zu ersuchen, nachstehende Entschließung über die Aufhebung dieser Verbotsmaßnahme an den Herrn Preußischen Innenminister zu richten, vor allem mit der Begründung, „da die Stadt Königsberg Pr. nicht in der Lage ist, den ihr durch ein solches Verbot entstehenden Ausfall an Mieten und Pacht zu tragen. Sollte der Herr Preußischer Innenminister nicht geneigt sein, einer Aufhebung dieser Verordnung zuzustimmen, so müßte die Stadtgemeinde Königsberg Pr. durch ihre Städteorganisation Klage auf Aufhebung dieser Verordnung beim Reichsgericht führen.“ Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung, 25. Mai 1932. 305 Joseph Goebbels: Tagebücher, Bd. 2: 1930–1934, hg. v. Ralf Georg Reuth, München 1992, S. 771 f. 306 Gause, Bd. 3 (1996), S. 119. 307 Nach seiner Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten im März 1933 mußte Lohmeyer auf die Ausübung aller politischen Tätigkeiten verzichten. Er widmete sich historischen Studien. Vgl. Hans Lohmeyer: Die Politik des zweiten Reiches 1870–1918, Berlin 1939.
Schluß Die regionalen Initiativen und ihre Folgen Unsere Untersuchung der Wirtschaft und Politik Ostpreußens in der Weimarer Republik ist damit an ihrem Ende angelangt. Es war die Aufgabe der vorliegenden Studie, detailliert darzulegen, auf welche Weise die Provinz und ihre Hauptstadt ihre regionalen Interessen in der Politik der Zwischenkriegszeit zur Geltung brachten. Ihr Schwerpunkt lag daher zum einen auf den Handlungen des Oberpräsidenten, der von der republikanischen Regierung bestellt war und zugleich als Repräsentant der Provinz fungierte, zum anderen auf den Gegensätzen zwischen den städtischen Wirtschaftskreisen und den Großagrariern. Insgesamt konnte festgestellt werden, daß Wirtschaft und Gesellschaft der Provinz nicht einheitlich im Kontext des Agrarkonservatismus aufzufassen sind. Daher sollte die Geschichte Ostpreußens in der Weimarer Republik nicht leichtfertig einer Theorie des deutschen Sonderwegs subsumiert und auf diese Weise die antidemokratischen und agrarischen Züge einseitig betont werden. Unsere Untersuchung hat demgegenüber die Vielseitigkeit und Verschiedenheit der Gesellschaft in Ostpreußen vor Augen geführt. Gerade Oberpräsident Siehr, der aus einer alten ostpreußischen Familie stammte, setzte sich mit voller Kraft für die Wahrung der Weimarer Demokratie ein. Die Bedeutung der Landwirtschaft, in der über 55 % der Erwerbstätigen beschäftigt waren, erkannte er voll und ganz an. Deshalb befürwortete er keine drastische Änderung der Grundbesitzstruktur, wie sie die weit linksstehenden Berliner Republikaner in der Krisenzeit für unvermeidlich hielten. Dennoch lehnte er es strikt ab, die Landwirtschaft bevorzugt zu behandeln, da auf Grund seiner Einschätzung der wirtschaft lichen Lage die Erhaltung Ostpreußens eher von der Wirtschaftskraft der nichtlandwirtschaftlichen Sektoren abhing. In der Endphase der Weimarer Republik gerieten alle Bestrebungen der ostpreußischen Wirtschaftskreise sowohl um die Wiederaufnahme der Memelflößerei als auch um die Wiederherstellung des Getreide- und Hülsenfrüchtehandels in eine Sackgasse. Die Ursachen hierfür gingen freilich nicht unmittelbar auf die agrarische Interessenpolitik zurück. Die Einflußnahme der regionalen Vertretungen auf die Staatspolitik und die Folgen ihrer Initiativen ließen sich vor allem in den Wirtschaftsverhandlungen mit Litauen und der UdSSR deutlich erkennen. Das deutsch-litauische Binnenschif�fahrtsabkommen wurde zwar erfolgreich abgeschlossen, was auf den nach-
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haltigen Einsatz des Oberpräsidenten zurückging. Selbstverständlich stand aber die Lösung des litauisch-polnischen Territorialkonflikts um Wilna außerhalb der Reichweite der regionalen Initiativen Ostpreußens. Im Sinne der Stärkung der Rivalität gegen Polen setzte sich die Reichsregierung, sowohl unter Außenminister Stresemann als auch Curtius, stets für die Wahrung der Unantastbarkeit der litauischen Souveränität ein. In dieser Ansicht stimmte Berlin außerdem mit Moskau vollständig überein. Das schränkte die Möglichkeiten der deutschen Außenpolitik ein, sowohl gegen die Litauisierungspolitik im Memelgebiet als auch gegen die Unterbindung des Transitverkehrs an der polnisch-litauischen Grenze einschneidende Maßnahmen zu treffen. Dies änderte sich zuerst unter Brüning, der es wagte, mit Rücksicht auf die Nichteinhaltung der Memelautonomie die politischen und Handelsbeziehungen zu Litauen abzubrechen. Darunter litt die Wirtschaft Ostpreußens wiederum schwer. In Ostpreußen hoffte man natürlich, die ehemaligen preußischen Gebiete, vor allem Memel und Danzig, zurückzugewinnen. Tatsächlich aber wurde der Häfenwettbewerb zwischen Memel, Königsberg und Danzig nach dem Krieg durch die Handels- und Verkehrspolitik Litauens, Deutschlands und Polens auf die Spitze getrieben, wobei auch die deutschen Wirtschaftskreise in Memel und Danzig nicht wenig von dieser Handelsstrategie Litauens und Polens gegen Königsberg profitierten. Diese klagten weiterhin über die Bevorzugung des Hafens Königsbergs im deutsch-russischen Verkehr. Die Geschichte des Wettbewerbs zwischen diesen drei Ostseehäfen beweist, wie angesichts der Existenzkrise der ökonomische Pragmatismus gegenüber dem Nationalgefühl stärker in den Vordergrund trat. Ebenso wie beim Fragenkomplex von Wilna und Memel stießen die Königsberger Bestrebungen um die Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts auf Schwierigkeiten. Auch nach dem Abschluß des Rapallo-Vertrags 1922 entwickelte sich die Rußlandpolitik nicht zu einem Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik. Das außenpolitische Konzept Brockdorff-Rantzaus, „daß unsere Politik Rußland gegenüber einen Grundpfeiler unserer Gesamtpolitik bedeutet und daß sie nicht in diese eingebaut werden soll, sondern daß die Gesamtpolitik Deutschlands auf ihr aufgebaut werden muß“,1 scheiterte offenbar an der Strategie Stresemanns, die im Gegenteil die Westpolitik zur Priorität der deutschen Außenpolitik machte. Obwohl die Ausbalancierung zwischen der Ost- und Westorientierung im außenpolitischen Konzept Stresemanns verkörpert war, kam seiner Ostpolitik primär die Aufgabe zu, die Stellung Deutschlands im Kreise der westlichen Großmächte zu stärken. So stellte Deutschland bei den Locarno-Verhandlungen den Westmächten seine feste Entschlossenheit vor Augen, daß sich das Reich trotz 1 ADAP, Ser. A, Bd. XII, Dok. 192, Brockdorff-Rantzau an Schubert, 21.3.1925, S. 484 ff. (hier S. 489).
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der Wiederherstellung seiner Beziehungen zu den westlichen Mächten und seines Beitritts zum Siegerkreis von Versailles weiterhin volle Handlungsfreiheit in seiner Ostpolitik vorbehalten wollte. Die Richtigkeit der Entscheidung Stresemanns für den Beitritt zum Völkerbund erwies sich vor allem dadurch, daß sich das Reich als Ratsmitglied seit September 1926 auf gleicher Ebene mit den westlichen Großmächten federführend an der Weltpolitik beteiligen konnte. Im Gegenzug regelte der deutsch-sowjetische Berliner Vertrag vom April 1926 die freundliche Fühlungnahme beider Staaten für die Angelegenheiten, die im gemeinsamen Interessen standen, sowie die Verhältnisse beider Staaten zum Völkerbund. Diese deutsch-sowjetische Regelung schien tatsächlich bei der Behandlung des litauischpolnischen Territorialstreits im Völkerbund Früchte zu tragen, wie sich im regen Meinungsaustausch zwischen dem Auswärtigen Amt und dem sowjetischen Außenkommissariat über die Wilnafrage zeigen sollte, der sich hinter den Kulissen des Völkerbunds abspielte. Hingegen wurde die Arbeit Königsbergs zur Ausgestaltung von Rapallo mehr und mehr in den Schatten gedrängt, nachdem der Moskauer Botschafter, Brockdorff-Rantzau, seit dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925, seinen Einfluß auf die deutsche Außenpolitik verlor. Der Handelsvertrag rückte weit in den Hintergrund der Locarno-Sicherheitsverträge. Der Wunsch Königsbergs nach Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts stimmte mit der ursprünglichen Zielsetzung Brockdorff-Rantzaus überein. Bei seiner Amtsübernahme des Moskauer Botschafterpostens im Herbst 1922 erklärte er, „der wirtschaftliche Wiederaufbau“ sei „das nächste Ziel“ der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit.2 Die außenpolitische und wirtschaftliche Notlage sollte im Zusammenwirken der beiden aus dem Versailler Siegerkreis ausgeschlossenen Staaten überwunden werden. Die Rivalität Deutschlands gegen die Westmächte sollte auf diesem Wege gestärkt werden. Die Zielsetzung der von Brockdorff-Rantzau betriebenen Rapallopolitik entsprach den außenpolitischen Wünschen Ostpreußens, wie sie in der Denkschrift des Oberpräsidenten über das Ostpreußenprogramm vom 18. April 1922 zum Ausdruck kamen. In der Rußlandpolitik des neuen Botschafters wurde deshalb die Königsberger Arbeit zur Wiederherstellung des Rußlandgeschäfts mit dem Geist von Rapallo beschworen. Die Erfüllung der Königsberger Wünsche wurde aber seit 1925 immer schwieriger. Obwohl das Getreidekreditabkommen zwischen der Königs berger Stadtbank und der sowjetischen Handelsvertretung auf Basis des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens von 1925 abgeschlossen und seitdem jährlich erneuert wurde, blieb die Einfuhr aus der UdSSR weit 2 ADAP, Ser. A, Bd. VI, Dok. 171, Aufzeichnung von Brockdorff-Rantzau, 3.8.1922, S. 355 ff.
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unter dem Vorkriegsstand. Die UdSSR schränkte ihren Agrarexport nach dem Krieg erheblich ein. Außerdem verschärfte sich der Wettbewerb zwischen den Ostseehäfen um den russischen Transithandel außerordentlich. Zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit war für den Hafen Königsberg deshalb die Senkung der Frachtkosten notwendig. Die von Königsberg gewünschte Einführung durchgehender Staffeltarife war zwar im deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommen von 1925 vorgesehen, die Durchführung dieser Tarifabrede stieß aber auf Hindernisse, die sich nicht allein aus dem Widerstand der Transitstaaten ergaben. Zum einen verlangte die UdSSR von Deutschland finanzielle Kompensationen, zum anderen verhielt sich die Reichsbahn ebenfalls zurückhaltend, dem Wunsch Königsbergs nachzukommen. Da ihr durch den Dawes-Plan ein Defizithaushalt streng verboten war, lehnte sie es ab, weitere finanzielle Risiken, die durch die Einführung von Staffeltarifen entstehen konnten, auf sich zu nehmen. Die Reichsbahn legte sogar Wert auf den Interessenausgleich zwischen allen am Osthandel interessierten deutschen Seehäfen, wie Stettin und Hamburg. In diesem Sinne durfte es nicht zu einer Bevorzugung Königsbergs durch die Einführung durchgehender Staffeltarife auf der baltischen Linie kommen. So verneinte sie schließlich nach der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Handelsvertrags im März 1930 die mögliche Einführung durchgehender Staffeltarife mit der Begründung, daß Polen die Regelung dieser Angelegenheiten sowie die Regelung des Häfenwettbewerbs zwischen Danzig und Königsberg abgelehnt habe. Im Jahr 1930 gewährte die Reichsregierung unter Brüning Industrieexportkredite nach Rußland in Höhe von 300 Millionen RM. Diese stellten eine Kompensation für das Zugeständnis der deutschen Industrie dar, die bisherige Aufbringungsumlage für die Reparation, die mit der Auflösung des Dawes-Plans durch den Young-Plan entfiel, zur Finanzierung der landwirtschaftlichen Osthilfe zu verwenden. Obwohl sich die deutsch-sowjetischen Beziehungen seit Brünings Amtsantritt deutlich abkühlten, stieg der deutsche Export in die UdSSR mit Hilfe dieser Industriekredite in den Jahren 1931 / 32 kräftig an, was vom Fünfjahresplan und der landwirtschaftlichen Kollektivierung in der UdSSR begünstigt wurde. Hingegen blieb der Königsberger Wunsch nach staatlicher Unterstützung für die Finanzierung des Transits sowie des Imports von Agrarprodukten aus der UdSSR unerfüllt. Nicht zuletzt war der Reichsverband der deutschen Industrie und vor allem dessen Rußlandausschuß bestrebt, den gesamten Rußlandhandel sowie dessen Agenturgeschäft unter der eigenen Leitung zu zentralisieren, so daß regionalen Initiativen kein Spielraum mehr blieb. Infolge der fortschreitenden Wirtschaftskrise kam die Stadtbank Königsberg Anfang der 30er Jahre an die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten. Somit gerieten alle Versuche des Magistrats zur Förderung des Rußlandhan-
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dels in eine Sackgasse. Dies bot den Nationalsozialisten genügenden Anlaß, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die fehlende Transparenz der Stadtbank sowie der Ostmesse zu lenken. Lohmeyer hatte zwar zur Wiedergesundung der Königsberger Wirtschaft zuerst die Förderung des Rußlandhandels in Angriff genommen. Die außerordentliche Entwicklung der Ostmesse seit 1925 löste aber im Bürgertum nicht selten die Kritik aus, daß der Magistrat die Aufgabe der Kommunalpolitik verkenne. Die Hypothese, daß die Rußlandpolitik Lohmeyers einen Erfolg hätte erzielen können, wenn der Transitverkehr und die außenpolitischen Verhältnisse zwischen Ostpreußen, Polen, den baltischen Staaten und der UdSSR noch früher normalisiert worden wäre, läßt sich allerdings weder nachweisen noch widerlegen. Tatsächlich hatte die Stadt für die Förderung des Rußlandgeschäfts außerordentliche Arbeit geleistet und in erheblichem Umfang Steuergelder investiert. Zwar war ihre Initiative nicht ganz ohne Erfolg geblieben, aber der Umschlag der russischen Waren im Hafen Königsberg konnte dennoch das Vorkriegsniveau nicht wieder erreichen. Der höchste Stand der russischen Warenlieferung nach Königsberg nach dem Ersten Weltkrieg (1930 / 31) machte lediglich ca. 20 % des höchsten Vorkriegsstands (1912) aus. Alle Versuche erreichten tatsächlich ihre Grenze, schon bevor die Nationalsozialisten an die Macht gelangten. Dennoch bleiben die Verdienste Lohmeyers zu würdigen. Wenn er weder die wirtschaftliche Annährung an die UdSSR durch die Ostmesse noch die Kreditgewährung für die sowjetische Handelsvertretung durchgesetzt hätte, wären vermutlich nicht einmal 10 % des alten Rußlandhandels wieder nach Königsberg gezogen worden. So ist der Ausgangspunkt seiner Rußlandpolitik und seine Hauptaufgabe als Kommunalpolitiker noch einmal vor Augen zu führen: „Durchdrungen von dem Geist der Zusammengehörigkeit hat man in Ostpreussen alles drangesetzt, um trotz der Abschnürung vom Mutterlande weiter leben zu können. Insbesondere in der Provinzialhauptstadt Königsberg brach sich die Erkenntnis hiervon sehr bald durch, dass alle Kräfte angespannt werden müssten, um der Stadt die alte ihr gebührende Stellung als Handelsplatz neu zu schaffen und die alten Handelsbeziehungen zu Russland, die durch den Krieg zerrissen waren, neu anzuknüpfen. Aus diesem Gedanken heraus entstand die Deutsche Ostmesse, der Büropalast „Der Handelshof“, wurde der Flugplatz mit der Flugverbindung Berlin-Königsberg einerseits und Königsberg-Moskau andererseits geschaffen, und ihm entspringt der Ausbau des neuen Handels- und Industriehafens und der Umbau der veralteten Königsberger Bahnanlagen. So ist die Grundlage gelegt, auf der trotz der Ungunst der Zeiten die alte Ordens- und Hansastadt Königsberg neu aufblühen kann und seine treudeutschen Bewohner an grossen Aufgaben sittlich und wirtschaftlich erstarken werden.“ (Hans Lohmeyer 1924)3 3 Hans Lohmeyer: Einleitung, in: Königsberg in Preussen. Werden und Wesen der östlichsten deutschen Grossstadt, hg. v. Magistrat der Stadt Königsberg i. Pr., Königsberg 1924, S. 7 f.
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Seine innovative Politik, die er gerade in der Notlage Ostpreußens entfaltete,4 kam ebenfalls in der Wiederherstellung der Stadtfinanzen zum Vorschein. So machte die Verselbständigung der Energieversorgungsabteilung der Stadtverwaltung als städtischem Sonderbetrieb, welche Lohmeyer zum ersten Mal durchführte, als „Königsberger System“ rasch Schule. Die Erweiterung der Selbständigkeit der Kommunen und der Verwaltungsabbau durch die Schaffung der Reichsprovinzen (-länder) unter Beseitigung des Hegemonialstaats Preußen stand im Kern seines Reich-Länderreformgedankens. Ein deutscher Einheitsstaat mit „dezentralisierter Selbstverwaltung“, den Lohmeyer als dezentralisierter Selbstverwaltungsstaat vor Augen hatte, sollte organisch von unten nach oben aufgebaut werden.5 Es läßt sich vermuten, daß Lohmeyer im Sinne der weitgehenden Selbständigkeit der Stadtgemeinde die Einführung des marktwirtschaftlichen Prinzips in die Stadtverwaltung als ideal ansah6 und dies gerade in seiner Rußlandpolitik (Ostmesse, Hafenbetriebsgesellschaft, Stadtbank) probeweise zu realisieren versuchte. Er trat allerdings strikt dafür ein, die Kompetenz der auswärtigen Politik einheitlich dem Reich vorzubehalten. Innerhalb der diplomatischen Rahmenbedingungen sollte allerdings den Kommunen, vor allem den Großstädten, eine weitgehende Handlungsfreiheit in Fragen des Innen- und Außenhandels eingeräumt werden, wie sie auch den privatwirtschaftlichen Akteuren zustand. Seine Entscheidung für die Gründung der Ostmesse und die Einladung der baltischen und sowjetischen Staatsvertreter zu einer Zeit, als noch keine formellen diplomatischen Beziehungen bestanden, bewies Schöpfergeist und Voraussicht. Er war sich seiner Verantwortung für Königsberg bewußt, indem er alle Angebote für Reichsministerposten oder Oberbürgermeisterposten anderer Großstädte zurückwies, um so seine Aufgabe in dieser östlichsten Großstadt zu erfüllen. „Meine Lebensarbeit habe 4 Nach 1928 spitzte sich die Notlage Ostpreußens zu. Im Gegensatz zur agrarischen Ostpreußenhilfe wurde aber auf die Notlage der Städte keine ausreichende Rücksicht seitens des Staates genommen. Lohmeyer ging stets davon aus, daß die Provinz nicht nur auf die Hilfe des Staates angewiesen sein dürfe, sondern auch Selbsthilfe zu leisten habe. Zu diesen Versuchen Lohmeyers zählte auch die Gründung des „Wirtschaftsverbands Ostpreußischer Städte und Kommunalverbände“, der auf seinen Vorschlag hin auf dem 37. ostpreußischen Städtetage von 1928 in Allenstein als eine Einrichtung des ostpreußischen Städtetags einberufen wurde. Der Verband hatte die Aufgabe, auf dem Wege der Selbsthilfe der ostpreußischen Kommunalwirtschaft zu helfen. Siehe hierzu: Bericht über die Verhandlungen des 37. Ostpreußischen Städtetages am 29. und 30. Juni 1928 in Allenstein, S. 5. Bericht über die Verhandlungen des 38. Ostpreußischen Städtetages am 21. und 22. Juni 1929 in Insterburg, S. 4. 5 Hans Lohmeyer: Zentralismus oder Selbstverwaltung. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Verwaltungsreform, Berlin 1928, S. 40. Hans Lohmeyer: Zur Verwaltungsreform, in: Preußisches Verwaltungsblatt, Jg. 45 (1924), Nr. 11. 6 Lohmeyer (1928), S. 52. Vgl. dazu Jeserich (1991), S. 382.
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ich Königsberg gewidmet“, resümierte er einige Tage vor seinem Tod im Februar 1968.7 Die Handelswünsche Ostpreußens scheiterten offenbar an der Politik der Großmächte, an den Interessen der Nachbarstaaten und schließlich an der Außenpolitik Deutschlands selbst. Die Stellung des ostpreußischen Oberpräsidenten in der Endphase der Weimarer Republik, vor allem von 1930 bis 1933, bleibt allerdings noch ungeklärt. Es ist lediglich darauf hinzuweisen, daß der sozialdemokratische Regierungspräsident in Lüneburg, Christian Herbst, der bis zum Sommer 1928 als Vizepräsident beim Oberpräsidium der Provinz Ostpreußen tätig gewesen war, einen Tag nach dem Staatsstreich in Preußen, am 21. Juli 1932, durch Reichskanzler Papen und Reichs innenminister Freiherr v. Gayl abgelöst wurde.8 Gayl war eben jener poli tische Erbfeind, gegen den Herbst und Siehr seit 1920 im Rahmen der Demokratisierung Ostpreußens gekämpft hatten. Im September 1932 schied Oberpräsident Siehr ebenfalls aus seinem Amt. Tatsächlich hatte Siehr schon seit dem Übergang von der Ostpreußenhilfe zur Osthilfe von 1930 weder Autorität noch politische Macht in der Provinz inne. Denn die Mißhelligkeiten zwischen Siehr und der preußischen Zentralregierung hatten zur Folge, daß zur Durchführung und Aufsicht der Ostpreußenhilfe ein preußischer Staatskommissar nach Königsberg entsandt wurde. Mit dem Austritt Preußens aus der Finanzierung und Verwaltung der Osthilfe 1931 war der Autoritätsverlust des Oberpräsidenten vollständig. Zwangsläufig mußte er die Steuerung des größten Wirtschaftszweigs der Provinz, der Landwirtschaft, aus der Hand geben. Als Nachfolger Siehrs übernahm im Oktober 1932 Wilhelm Kutscher, der als weit konservativer anzusehen war, das Amt des ostpreußischen Oberpräsidenten. Er blieb lediglich kurzzeitig in diesem Amt, bis er im Juni 1933 durch Gauleiter Erich Koch abgelöst wurde. Nach seinem Amtsabschied kehrte Siehr in seinen eigentlichen Beruf, den des Rechtsanwalts, zurück. Die Untersuchung seiner Politik als oberster Beamter der Provinz in der Krisenzeit vermittelt einen Eindruck davon, wie tief in ihm das Streben nach öffentlicher Gerechtigkeit verwurzelt war. Im November 1945 verstarb er in Bergen auf Rügen, wohin er sich nach der Zerstörung seines Königsberger Hauses zurückgezogen hatte.9
7 Hans Lohmeyer (1881–1968). Über das letzte Interview mit Lohmeyer, in: Ostpreußenblatt, 16.3.1968, Jg. 19, Folge 11, S. 5 f. 8 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Personalakten, Nr. 1118, Abschrift, Staatstelegramm, Reichskanzler als Reichskommissar für das Land Preußen (gez. Papen), 21.7.1932. 9 Vgl. Klaus von der Groeben: Ernst Siehr (1869–1945), in: Persönlichkeiten der Verwaltung, hg. v. Kurt G. A. Jeserich und Helmut Neuhaus, Stuttgart 1991, S. 312– 317.
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Reichskanzlei (R 43) I / 134 I / 1378 I / 1796 I / 1850 I / 1851
Akten des Auswärtigen Amtes (R 901) BA, R 901 / 63920 BA, R 901 / 63971 BA, R 901 / 64210 BA, R 901 / 65657 Akten des Reichsinnenministeriums (R 1501) BA, R 1501 PA Nr. 6372 (Friedrich Wilhelm Frankenbach) BA, R 1501 PA Nr. 6373 (Friedrich Wilhelm Frankenbach) Akten des Reichswirtschaftsministeriums (R 3101) BA, R 3101 / 2513 BA, R 3101 / 2840-1 BA, R 3101 / 7421 BA, R 3101 / 7568 BA, R 3101 / 8109 BA, R 3101 / 8133 BA, R 3101 / 8134 Akten der Deutschen Botschaft Moskau (R 9215, heute PA AA Moskau 2) BA, R 9215 / 243 BA, R 9215 / 294 BA, R 9215 / 481
Quellenverzeichnis807 Nachlaß Herbert v. Dirksen (N 2049) BA, N 2049 (Nachlaß Herbert v. Dirksen), Nr. 7 BA, N 2049 (Nachlaß Herbert v. Dirksen), Nr. 50 BA, N 2049 (Nachlaß Herbert v. Dirksen), Nr. 51 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (GStA PK): Akten des GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK,
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Akten des Preußischen Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten (I. HA, Rep. 87B) GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 384 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 399 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 400 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7710 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7713 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7714 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7715 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 7734 GStA PK, I. HA, Rep. 87B, Nr. 19384 Akten des GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK, GStA PK,
Preußischen Staatsministeriums (I. HA, Rep. 90A) I. HA, Rep. 90A, Nr. 682 I. HA, Rep. 90A, Nr. 940 I. HA, Rep. 90A, Nr. 1032 I. HA, Rep. 90A, Nr. 1066 I. HA, Rep. 90A, Nr. 1067 I. HA, Rep. 90A, Nr. 1068 / 1 I. HA, Rep. 90A, Nr. 1068 / 2 I. HA, Rep. 90A, Nr. 1069 I. HA, Rep. 90A, Nr. 1070
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Nr. 1071 Nr. 1072 Nr. 1073 Nr. 1076 Nr. 1077 Nr. 1094 Nr. 1098 Nr. 1111 Nr. 1123 Nr. 2238 Nr. 2434 Nr. 2435 Nr. 2436 Nr. 2438 Nr. 2442 Nr. 2608
Preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe (I. HA, Rep. 120) I. HA, Rep. 120, A. X. Nr. 44 I. HA, Rep. 120, A. X. Nr. 44b I. HA, Rep. 120, CIX 2, Nr. 45, Bd. 3 I. HA, Rep. 120, CXIII. 1, Nr. 186 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 3 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6a 35a, Bd. 4 I. HA, Rep. 120. CXIII, 6a 35d I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 1 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 2 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 3 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 4 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 5 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 6 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Bd. 7 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 56, Adh. 2 I. HA, Rep. 120, CXIII, 6b 72, Bd. 1 I. HA, Rep. 120, CXVII, 2, 47b I. HA, Rep. 120, E, XVI, 5, Nr. 15
Akten der Ostpreußischen Vertretung beim Reichs- und Staatsministerium (I. HA, Rep. 203) GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 1 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 2 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 4 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 43, Heft 1 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 50 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 56, Heft 1 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 68, Heft 2 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 72, Heft 1 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 87, Heft 1 GStA PK, I. HA, Rep. 203, Nr. 88
Quellenverzeichnis809 GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA
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Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203, Rep. 203,
Nr. 96 Nr. 113, Nr. 114 Nr. 117, Nr. 117, Nr. 118, Nr. 120 Nr. 121, Nr. 122, Nr. 123 Nr. 126 Nr. 127, Nr. 127, Nr. 132, Nr. 132, Nr. 135 Nr. 140, Nr. 141 Nr. 156, Nr. 165, Nr. 166, Nr. 167, Nr. 169, Nr. 175, Nr. 175, Nr. 176, Nr. 177, Nr. 178, Nr. 180, Nr. 184 Nr. 185 Nr. 186 Nr. 187 Nr. 193 Nr. 283 Nr. 298, Nr. 393 Nr. 411, Nr. 415 Nr. 431
Heft 2 Heft 1 Heft 2 Heft 2 Heft 1 Heft 2 Heft Heft Heft Heft
1 u. 2 3 1 2
Heft 2 Heft Heft Heft Heft Heft Heft Heft Heft Heft Heft Heft
1 1 2 1 2 1 2 2 3 1 2
Heft 1 Heft 3
Oberpräsidiums der Provinz Ostpreußen (XX. HA, Rep. 2II) XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1564, Bd. 8 XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1575 XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1577 XX. HA, Rep. 2II, Nr. 1580 XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2055 XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2066
810 Quellenverzeichnis GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA GStA
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XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX. XX.
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Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II, Rep. 2II,
Nr. 2067 Nr. 2078 Nr. 2081 Nr. 2082 Nr. 2084, Nr. 2084, Nr. 2089 Nr. 2091, Nr. 2093 Nr. 2430, Nr. 2496 Nr. 2499 Nr. 2875 Nr. 3006, Nr. 3006, Nr. 3528, Nr. 3528, Nr. 3529, Nr. 3529, Nr. 3536, Nr. 3536, Nr. 4165 Nr. 4171 Nr. 4199
Bd. 2 Bd. 3 Bd. 1 Bd. 1
Bd. 1 Bd. 2 Bd. 1 Bd. 2 Vol. 1 Vol. 2 Vol. 1 Vol. 2
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Berlin (PA AA): PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA,
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23850 23851 23852 23853 23931 23933 23936 23937 23941 23948 23952 25705 28300 28421 28645 28930 28935
(Deutsche Delegation Moskau) (Deutsche Delegation Moskau) (Deutsche Delegation Moskau) (Deutsche Delegation Moskau) (Deutsche Delegation Moskau. Handakten von Koerner) (Deutsche Delegation Moskau. Handakten von Koerner) (Deutsche Delegation Moskau. Handakten von Koerner) (Deutsche Delegation Moskau. Handakten von Koerner) (Deutsche Delegation Moskau. Handakten von Koerner) (Deutsche Delegation Moskau. Handakten von Koerner) (Deutsche Delegation Moskau. Handakten von Koerner) (Handakten von Seeliger) (Büro Reichsminister: Rußland, Bd. 21) (Büro Reichsminister: Völkerbund, Bd. 22) (Büro Reichsminister) (Büro Staatssekretär) (Büro Staatssekretär: Deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen, Bd. 4) PA AA, R 29238 (Büro Staatssekretär. Deutsch-litauische Beziehungen, Bd. 6) PA AA, R 29239 (Büro Staatssekretär) PA AA, R 31566
Quellenverzeichnis811 PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA, PA AA,
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31911 31912 35645 (Handakten von Wallroth) 35868 (Handakten von Trautmann). 81486 81487 94387 94551 94557 124360 (Schiffahrtsreferat).
Akten der Gesandtschaft Kowno: PA AA, Gesandtschaft Kowno, 100 PA AA, Gesandtschaft Kowno, 101 (Deutsch-litauische Verträge) PA AA, Gesandtschaft Kowno, 122 (Holzflößerei) PA AA, Gesandtschaft Kowno, 130 (Grenz- und Binnenschiffahrtsfragen) Nachlässe (NL): PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 7 / 6 (Erneuerung des Waffenstillstandes) PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 7 / 8 (Friedensverhandlungen) PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 8 / 1 (Versailles I) PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 8 / 2 (Versailles II) PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 14 / 1 PA AA, NL Brockdorff-Rantzau, 14 / 2 PA AA, NL Franz v. Olshausen (Lebenserinnerungen, Bd. 2) PA AA, NL Gustav Stresemann, Bd. 25 PA AA, NL Gustav Stresemann, Bd. 64 Privatbesitz Dietrich Siehr, Berlin: Ernst Ludwig Siehr: Erinnerungen
Literaturverzeichnis Aktenpublikationen und Dokumentensammlungen Acta Borussica. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934 / 38, Bd. 11 / I und II: 14. November 1918 bis 31. März 1925, bearbeitet von Gerhard Schulze, Hildesheim / Zürich / New York 2002 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, herausgegeben für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von Karl Dietrich Erdmann und für das Bundesarchiv von Wolfgang Mommsen, Boppard am Rhein 1968 ff. Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945; – Serie A, hg. v. Walter Bußmann, Göttingen 1982 ff. – Serie B, hg. v. Hans Rothfels und Walter Bußmann, Göttingen 1966 ff. Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte. Vollständiger amtlicher Text, Berlin 1919 British Documents on Foreign Affairs. Reports and Papers from the Foreign Office Confidential Print, Part II (From the First to the Second World War), Series F (Europe, 1919–1939), vol. 59 (Scandinavia and Baltic States, January 1919–December 1922); vol. 60 (January 1923–December 1926); vol. 61 (January 1927– December 1930); vol. 62 (January 1931–December 1933), Editors: John Hiden and Patrick Salmon, Frederick Maryland 1996 Cour Permanente de Justice internationale, Série C, Plaidoiries, exposés oraux et documents, XXIIme Session 1931, N° 54, Trafic ferroviaire entre la Lithuanie et la Pologne, Avis consultatif du 15 octobre 1931, Leiden 1932 (= Permanent Court of International Justice, Series C, Pleadings, Oral Statements and Documents, XXIInd Session 1931, No. 54, Railway traffic between Lithuania and Poland, Advisory opinion of October 15th, 1931, Leiden 1932) Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages. Bd. 1: Dokumentensammlung 1917–1918, hg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Berlin 1967 [zitiert als: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1917–1918] Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallovertrages. Bd. 2: Dokumentensammlung 1919–1922, hg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Berlin 1971 [zitiert als: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1919–1922]
Literaturverzeichnis813 Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925. Vom Rapallovertrag bis zu den Verträgen vom 12. Oktober 1925, hg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Bd. 1 und 2, Berlin 1978 [zitiert als: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925] Die deutschen Gegenvorschläge zu den Friedensbedingungen der Alliierten und Assoziierten Mächte (Der Notenkampf um den Frieden, Teil III). Im Auftrag des Auswärtigen Amts, Charlottenburg 1919 Documents diplomatiques. Question de Memel, Ministère des Affaires Étrangères, 1er Volume, République de Lithuanie, Kaunas 1923; 2ème Volume, République de Lithuanie, Kaunas 1924 [zitiert als: Documents diplomatiques. Question de Memel] Documents diplomatiques. Relations Polono-Lithuaniennes. Conférence de Koenigsberg, Warschau 1928 [zitiert als: Documents diplomatiques. Conférence de Koenigsberg] Dokumente und Gedanken um Versailles, hg. v. Graf Brockdorff-Rantzau, Berlin 1925 Dokumenty vnesnej politiki SSSR, Ministerstvo Inostrannych Del SSSR, Bd. IV ff., Moskau 1960 ff. Der europäische Osten. Dokumente zur Weltpolitik der Nachkriegszeit. Eine Quellensammlung für den akademischen Unterricht und die politische Praxis in Gemeinschaft mit W. Bertram herausgegeben von Otto Hoetzsch, Leipzig / Berlin 1933 Die Gegenvorschläge der Deutschen Regierung zu den Friedensbedingungen. Vollständiger amtlicher Text, Berlin 1919 Der Kampf der Sowjet-Union um den Frieden. Eine Dokumentensammlung enthaltend die Friedens- und Abrüstungsvorschläge der Sowjetregierung an die Regierungen der Länder Europas, Amerikas u. Asiens 1917–1929, hg. von dem Bund der Freunde der Sowjet-Union, Berlin 1929 [zitiert als: Der Kampf der SowjetUnion um den Frieden 1917–1929] Latvian-Russian Relations. Documents, hg. v. Alfred Bilmanis, Washington, D. C. 1944 (2. Aufl., 1978) Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, hg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1962 Niederschrift über ein Wirtschaftsabkommen zwischen dem Ukrainischen Staate einerseits sowie Deutschland und Österreich-Ungarn andererseits für das Wirtschaftsjahr 1918 / 19, Berlin 1918 Quellen zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917–1945, hg. v. Horst Günther Linke, Darmstadt 1998 Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Dritte Reihe. Die Weimarer Republik, hg. v. Karl Dietrich Bracher, Erich Matthias und Rudolf Morsey, Bd. 5: Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staats-
814 Literaturverzeichnis partei 1918–1933, bearbeitet von Konstanze Wegner in Verbindung mit Lothar Albertin, Düsseldorf 1980 Question de Vilna. Consultations de MM. A. de Lapradelle, Louis Le Fur et André N. Mandelstam, concernant la force obligatoire de la décision de la Conférence des Ambassadeurs du 15 mars 1923, Paris 1928 The Question of Memel. Diplomatic and other documents from the Versailles Peace Conference till the Reference of the Question by the Conference of Anbassadors to the Council of the League of Nations (1919–1923), Lithuanian Ministry for Foreign Affairs, London 1924 Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender, hg. v. Ulrich Thürauf, N. F. 38 (1922), bearbeitet von Gustav Roloff, München 1927 Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hg. v. Herbert Michaelis und Ernst Schraepler unter Mitwirkung von Günter Scheel, Dritter Band: Der Weg in die Weimarer Republik, Berlin 1958 Der Waffenstillstand 1918–1919, Bd. I: Der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne und seine Verlängerungen nebst den finanziellen Bestimmungen, Berlin 1928 World Court Reports. A collection of the judgments, orders and opinions of the Permanent Court of International Justice, hg. v. Manley O. Hudson, vol. II (1927–1932), Washington, D. C. 1935
Gesetzessammlungen Amtsblatt des Memelgebietes, hg. v. Landesdirektorium (Amtsblattverwaltung), Memel 1923 ff., [Klaipėdos Kraszto Waldžios Žinios, Kraszto Direktorija (Waldžios Žinių Administracija), Klaipėda 1923 ff.] Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes Lietuvos sutartys, su svetimomis valstybemis (Recueil des Traités, conclus par la Lithuanie avec les Pays Étrangers) Tomas I: 1919–1929, Kaunas 1930 Preußische Gesetzsammlung, hg. v. Königlichen Gesetzsammlungsamt Recueil des traités et des engagements Internationaux enregistrés par le Secrétariat de la Sociéte des Nations, Genf 1920 ff. [= Treaty Series and International Engagements registered with the Secretariat of the League of Nations] Reichsgesetzblatt, hg. v. Reichsministerium des Innern
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Gesetzeskommentare Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 12. Aufl., Berlin 1930 Berber, Fritz: Das Diktat von Versailles. Entstehung–Inhalt–Zerfall. Eine Darstellung in Dokumenten, Essen 1939 Cleinow, Georg: Die Deutsch-Russischen Rechts- und Wirtschaftsverträge nebst Konsularvertrag vom 12. Oktober 1925, Berlin 1925 Die Eisenbahnen im deutschen öffentlichen Recht, hg. v. Werner Haustein, Frankfurt am Main 1960 Der Friedensvertrag mit der Ukraine vom 9. Februar 1918, der Zusatzvertrag und der deutsch-ukrainische Handelsvertrag nebst der amtlichen Denkschrift. Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine, hg. v. M. Busemann, Berlin 1918 Fritsch, Konstantin: Handbuch der Eisenbahngesetzgebung im Deutschen Reiche und in Preußen, 3. Aufl., Berlin 1930 Gusy, Christoph: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997 Handels- und Wirtschaftsvertrag zwischen der Union der Sozialistischen SowjetRepubliken und dem Deutschen Reich vom 12. Oktober 1925 nebst Konsularvertrag, erläutert von den Mitgliedern der Sowjetdelegation Dr. A. Rapoport und B. Stein, hg. v. Handelsvertretung der UdSSR in Deutschland, Berlin 1926 Internationales Eisenbahnrecht. Quellensammlung, hg. v. Werner Haustein und Willibald Pschirrer, Bd. I und II, Frankfurt am Main 1956 Kloessel, Hans: Der Deutsch-Russische Handelsvertrag. Geographie und Volkswirtschaft Rußlands. Gesetzte und Tarife des Deutschen und Russischen Zollwesens für die Ausfuhr deutscher Waren nach Rußland und die Einfuhr russischer Waren nach Deutschland, Leipzig 1895 Nánássy, Béla von: Das Internationale Eisenbahnfrachtrecht. Erläuterungen zum Internationalen Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr vom 23. November 1933, Leipzig 1943 Poetzsch, Fritz: Handausgabe der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Berlin 1919 Robinson, Jacob: Tabelle der bis Ende 1932 von Litauen abgeschlossenen Staatsverträge in chronologischer Reihenfolge, in: Zeitschrift für Ostrecht 7 (1933), S. 789–813 Robinson, Jacob: Kommentar der Konvention über das Memelgebiet vom 8. Mai 1924, Bd. I und II, Kaunas 1934 Rogge, Albrecht: Die Verfassung des Memelgebiets. Ein Kommentar zur Memelkonvention, Berlin 1928 Rußlands Friedens- und Handelsverträge 1918 / 1923. Auf Grund amtlichen Materials aus dem Russischen übertragen von Heinrich Freund mit einer Einleitung von Paul Heilborn, Leipzig / Berlin 1924
816 Literaturverzeichnis Die Verordnungen zur Vereinfachung der preußischen Verwaltung vom 3. Sept. 1932 u. 17. März 1933 mit den dazugehörigen Durchführungs-und Ausführungsbestimmungen, Erläutert von Ernst Froelich, Berlin 1933 Wehberg, Hans: Die Völkerbundsatzung, erläutert unter Berücksichtigung der Verträge von Locarno, des Kriegsächtungspaktes usw., Berlin 1929 Zoll- und Handelsvertrag zwischen Oesterreich und dem Zollverein, nebst den gegenseitigen Einfuhrtarifen für die neue Handels-Vereins-Periode vom 1. Juli 1865 an, Berlin 1865
Veröffentlichungen der Kaufmannschaft zu Königsberg bzw. Handelskammer zu Königsberg Contag, Max / Simon, Fritz: Königsbergs Großschiffahrtswege nach Litauen, der Ukraine und Polen, im Auftrage des Magistrats der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Königsberg i. Pr. und Handelskammer zu Königsberg i. Pr., Königsberg 1918 Handelskammer zu Königsberg i. Pr.: Denkschrift für den Haushaltsausschuß des Abgeordnetenhauses über die Wünsche des Königsberger Handels, 24. August 1918 Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg i. Pr. von 1864 bis 1932; – 1864 bis 1913: Bericht des Vorsteheramtes der Kaufmannschaft zu Königsberg in Preußen – 1924 bis 1931: Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. – 1932: Statistischer Jahresbericht der ehemaligen Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1931, hg. v. Industrie- und Handelskammer für Ost- und Westpreußen, Königsberg Pr. 1932 Korporation der Kaufmannschaft von Königsberg: Zum fünfzigjährigen Jubiläum der Korporation der Kaufmannschaft von Königsberg, Königsberg 1873 Ostpreußen und die Staffeltarife der Deutschen Reichsbahn, hg. v. der Industrie- und Handelskammer Königsberg i. Pr., Königsberg 1927 Vorsteheramt der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr.: Antrag betr. die Umwandlung der Korporation der Kaufmannschaft in eine Handelskammer, an die Hauptversammlung der Korporation der Kaufmannschaft zu Königsberg, 26. November 1917 Vorsteheramt der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr.: Geschäftsordnung der Handelskammer zu Königsberg i. Pr., Königsberg 1918 Vorsteheramt der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr.: Petition betr. Getreideeinfuhrscheine, Königsberg 1911 Vorsteheramt der Kaufmannschaft zu Königsberg i. Pr.: Satzung der Handelskammer zu Königsberg i. Pr., Königsberg 1917
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Veröffentlichungen des Magistrats Königsberg Bericht über die Studienreise der Hafen-Deputation der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Westen und nach Rußland im Frühjahr 1914, im Auftrage der Hafen-Deputation verfaßt durch Stadtbaurat Kutschke, Königsberg 1914 Königsberg. Ein Führer durch die Wirtschaft der östlichsten deutschen Großstadt, hg. v. Städtischen Verkehrsamt Königsberg, Königsberg 1928 Königsberg in Preußen. Werden und Wesen der östlichsten deutschen Großstadt, hg. v. Magistrat, Königsberg 1924 Königsberg i. Pr., hg. v. Magistrat Königsberg, bearbeitet v. Hans Heymuth, Berlin 1926 Die Verwaltung der Stadt Königsberg i. Pr. nach dem Kriege. Festschrift des Magistrats der Stadt Königsberg i. Pr. anläßlich der 200-Jahrfeier der Vereinigung der drei Städte Altstadt, Löbenicht, Kneiphof, Königsberg 1924 Verwaltungsbericht der Stadt Königsberg, Königsberg 1919 ff.
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818 Literaturverzeichnis
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820 Literaturverzeichnis
Zeitungen und Zeitschriften Berliner Börsen-Zeitung Berliner Volks-Zeitung Deutsche Allgemeine Zeitung Isvestija Königsberger Allgemeine Zeitung Königsberger Hartungsche Zeitung Königsberger Messe-Zeitung. Amtliches Organ der Deutschen Ostmesse Königsberg Pr. Die Landmaschinen Memeler Dampfboot Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer Allenstein für die Regierungsbezirk Alleinstein Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer zu Insterburg Neue Zürcher Zeitung Der Ost-Europa-Markt [zitiert als: OEM] Der osteuropäische Holz-Markt Das Ostpreußenblatt Ostpreußische Wirtschafts-Zeitung für Industrie, Handel und Gewerbe. Amtliche Monatsschrift der Handelskammern Allenstein und Elbing Die Ostwirtschaft Der Parteifreund, hg. v. der Deutschnationalen Volkspartei, Landesverband Ostpreußen Preußisches Verwaltungs-Blatt Tannenberg! The Times Vossische Zeitung Wirtschaftliche Nachrichten der Industrie- und Handelskammer zu Tilsit für das Stromgebiet der Memel Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen
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Anhang Bilder Abb. 1: Oberpräsident Ernst Ludwig Siehr, Oberbürgermeister Hans Lohmeyer, Präsident der Landwirtschaftskammer Ernst Brandes, Präsident der Industrie- und Handelskammer Felix Heumann (aus der Berliner Morgenpost sowie aus Königsberg. Ein Führer durch die Wirtschaft der östlichsten Deutschen Großstadt, hg. v. Städtischen Verkehrsamt 1928) Abb. 2: Die Königsberger Eisenbahnkonferenz im Februar 1925 (OEM, 5. Jg. / Nr. 9, 1. Februar 1925)
Dokumente Zum deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommen von 1923 Abb. 3: Vollmacht zum Abschluß des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens. Reichsverkehrsminister Oeser an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, 15. September 1923 (GStA PK, XX. HA. Rep. 2II, Nr. 2093) Abb. 4: Das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen vom 28. September / 1382, RVM Ebhardt, 29.9.1923; GStA PK, XX. HA, 1923 (BA, R 5 Rep. 2II, Nr. 2093) Abb. 5: Das Endblatt des Abkommens (Durchschlag) handschriftlich unterzeichnet von den beiden Bevollmächtigten, Herbst und Skardinskas am 28. September 1923 (GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093) Abb. 6: Ratifikationsurkunde des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens, ausgestellt vom litauischen Außenministerium am 26. März 1924 (PA AA, Kowno, 130) Abb. 7: Übersetzung der Ratifikationsurkunde durch das Auswärtige Amt (PA AA, Kowno, 130) Zum deutsch-sowjetischen Handelsvertrag von 1925 Abb. 8: Telegramm von Dirksen vom 28. August 1925 über die Österreich-Frage (PA AA, R 23937) Abb. 9: Abdruck der vertraulichen Note Nr. 8 des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925, Ziff. 1, die Österreich-Frage (Vertraulich! Notenwechsel zwischen Brockdorff-Rantzau und Litvinov vom 12. Oktober 1925, Reichsrat, Nr. 155, 6.11.1925)
854 Anhang Abb. 10: Telegramm von Brockdorff-Rantzau vom 1. Oktober 1925 zum deutschsowjetischen Eisenbahnabkommen (PA AA, R 23853) Abb. 11: Abdruck des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens und Schlußprotokolls im Rahmen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 (RGBl. 1926 II, S. 2 ff., hier S. 32 ff. sowie S. 49 ff.) Abb. 12: Abdruck des Schlußsitzungsprotokolls zum Eisenbahnabkommen (RT III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551, AA an Reichstag, Entwurf eines Gesetzes über die deutsch-russischen Verträge vom 12. Oktober 1925) Abb. 13: Abdruck der vertraulichen Note Nr. 9 des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 zum Eisenbahnabkommen (Vertraulich! Notenwechsel zwischen Brockdorff-Rantzau und Litvinov vom 12. Oktober 1925, Reichsrat, Nr. 155, 6.11.1925)
Karten Abb. 14: Ostpreußen vor und nach dem Ersten Weltkrieg (aus: Kutschke: Königsberg als Hafenstadt, Königsberg 1930, S. 66 f.) Abb. 15: Eisenbahnen im Nordosteuropa (P.C.I.J., Ser. C, No. 54) Abb. 16: Wasserstraßen im Nordosteuropa (P.C.I.J., Ser. C, No. 54)
Statistiken Abb. 17: Getreide- und Hülsenfrüchtehandel im Hafen Königsberg (R. Shindo) Abb. 18: Sozialstruktur Königsbergs (R. Shindo)
Anhang855
Ernst Ludwig Siehr
Hans Lohmeyer
Ernst Brandes
Felix Heumann
Abb. 1: Oberpräsident Ernst Ludwig Siehr, Oberbürgermeister Hans Lohmeyer, Präsident der Landwirtschaftskammer Ernst Brandes, Präsident der Industrie- und Handelskammer Felix Heumann (aus der Berliner Morgenpost sowie aus Königsberg. Ein Führer durch die Wirtschaft der östlichsten Deutschen Großstadt, hg. v. Städtischen Verkehrsamt 1928)
Abb. 2: Die Königsberger Eisenbahnkonferenz im Februar 1925 (OEM, 5. Jg. / Nr. 9, 1. Februar 1925)
856 Anhang
Anhang
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Abb. 3: Vollmacht zum Abschluß des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens. Reichsverkehrsminister Oeser an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, 15. September 1923 (GStA PK, XX. HA. Rep. 2II, Nr. 2093)
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Anhang
Abb. 4: Das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen vom 28. September 1923 (BA, R 5 / 1382, RVM Ebhardt, 29.9.1923; GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093)
Anhang
Abb. 4 (Fortsetzung)
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Abb. 4: Das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen vom 28. September 1923 (Fortsetzung)
Anhang
Abb. 4 (Fortsetzung)
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Abb. 4: Das deutsch-litauische Binnenschiffahrtsabkommen vom 28. September 1923 (Fortsetzung)
Anhang
Abb. 4 (Fortsetzung)
Abb. 5: Das Endblatt des Abkommens (Durchschlag) handschriftlich unterzeichnet von den beiden Bevollmächtigten, Herbst und Skardinskas am 28. September 1923 (GStA PK, XX. HA, Rep. 2II, Nr. 2093)
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Abb. 6: Ratifikationsurkunde des deutsch-litauischen Binnenschiffahrtsabkommens, ausgestellt vom litauischen Außenministerium am 26. März 1924 (PA AA, Kowno, 130)
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Abb. 7: Übersetzung der Ratifikationsurkunde durch das Auswärtige Amt (PA AA, Kowno, 130)
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Abb. 8: Telegramm von Dirksen vom 28. August 1925 über die Österreich-Frage (PA AA, R 23937)
Anhang
Abb. 9: Abdruck der vertraulichen Note Nr. 8 des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925, Ziff. 1, die Österreich-Frage (Vertraulich! Notenwechsel zwischen Brockdorff-Rantzau und Litvinov vom 12. Oktober 1925, Reichsrat, Nr. 155, 6.11.1925)
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Abb. 10: Telegramm von Brockdorff-Rantzau vom 1. Oktober 1925 zum deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommen (PA AA, R 23853)
Anhang
Abb. 10 (Fortsetzung)
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Anhang
Abb. 11: Abdruck des deutsch-sowjetischen Eisenbahnabkommens und Schlußprotokolls im Rahmen des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 (RGBl. 1926 II, S. 2 ff., hier S. 32 ff. sowie S. 49 ff.)
Anhang
Abb. 11 (Fortsetzung)
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Abb. 12: Abdruck des Schlußsitzungsprotokolls zum Eisenbahnabkommen (RT III. Wahlperiode 1924 / 25, Nr. 1551, AA an Reichstag, Entwurf eines Gesetzes über die deutsch-russischen Verträge vom 12. Oktober 1925)
Abb. 13: Abdruck der vertraulichen Note Nr. 9 des deutsch-sowjetischen Handelsvertrags vom 12. Oktober 1925 zum Eisenbahnabkommen (Vertraulich! Notenwechsel zwischen Brockdorff-Rantzau und Litvinov vom 12. Oktober 1925, Reichsrat, Nr. 155, 6.11.1925)
872 Anhang
Abb. 14: Ostpreußen vor und nach dem Ersten Weltkrieg (aus: Kutschke: Königsberg als Hafenstadt, Königsberg 1930, S. 66 f.)
Anhang873
874 Anhang
Abb. 15: Eisenbahnen im Nordosteuropa (P.C.I.J., Ser. C, No. 54)
Anhang875
Abb. 16: Wasserstraßen im Nordosteuropa (P.C.I.J., Ser. C, No. 54)
1000 t
0
100
200
300
400
500
Einfuhr von Getreide und Hülsenfrüchten in Königsberg und Pillau
1897
1894
1930
1927
1924
1921
1918
1912
1909
1906
1903
1900
1891
1888
1885
1882
1879
1876
1873
1870
1867
1864
1861
1858
Abb. 17: Getreide- und Hülsenfrüchtehandel im Hafen Königsberg (R. Shindo)
Quellen: 1. Bis 1913: Friedrich Benecke: Die Königsberger Börse, Jena 1925, S. 79 ff. 2. Von 1914 bis 1924: Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg i. Pr. für 1924 nebst einer statistischen Übersicht über die Jahre von 1913 bis 1924. 3. 1925 ff: Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer zu Königsberg Pr. für 1925 ff.
Jahr
1915
600
aus dem Inland
aus dem Ausland
876 Anhang
1 130 191
1 859 625
46,21 %
31 411
0,78 %
41,31 %
23,03 % 16,92 %
10 561 941
32 615
Verwaltung, Heerwesen, Kirche, freie Berufe 5,06 %
3 156 735
5,12 %
1 951 989
8,28 %
333 081
5,79 %
130 721
11,65 %
1,55 %
964 705
1,53 %
584 071
2,57 %
103 274
1,17 %
26 461
3,14 %
8801
Gesundheitswesen und hygienische Gewerbe, Wohlfahrtspflege
Abb. 18: Sozialstruktur Königsbergs (R. Shindo)
25 781 281
17,45 %
41,29 %
22,00 %
14 373 256
6 653 547
15 738 912
8 387 047
28,09 %
12,87 %
19,62 %
45,36 %
290 352
442 785
1 023 502
95 013 33,94 %
88874
31,75 %
Industrie- und Handwerk
2607
Handel und Verkehr
0,93 %
Landwirtschaft, Gärtnerei und Tierzucht, Forstwirtschaft und Fischerei
Quelle: StDR, Bd. 403 u. 406 (Stand 1925)
Deutsches Reich
Preußen
Stadt Berlin
Provinz Ostpreußen
Stadt Königsberg
Berufsgruppen
12 609
Häusliche Dienste und Erwerbstätigkeit ohne feste Stellung oder Angabe der Betriebszugehörigkeit 3,06 %
1 910 257
3,40 %
1 295 116
4,46 %
179 604
3,45 %
77 810
4,50 %
39 407
Ohne Beruf und Berufs angabe 9,07 %
5 662 444
9,21 %
3 509 491
9,62 %
386 979
11,73 %
264 718
14,80 %
279 926
Wohnbevölkerung 100,00 %
62 410 619
100,00 %
38 120 173
100,00 %
4 024 165
100,00 %
22 56 349
100,00 %
Anhang877
Summary East Prussia, Lithuanian, and the Soviet Union during the Weimar Republic In the Peace Treaty of Versailles in 1919 Germany was compelled to relinquish a number of its territories. In this way, many regions in the eastern part of Prussia were annexed by neighboring countries which had been restored at the end of World War I. A newly created Polish territory (the so-called Polish Corridor) divided Germany into two, so that the province of East Prussia (Provinz Ostpreußen) was separated from the mainland of Germany and subsequently became an exclave. East Prussia now bordered Poland in the South-West, Lithuania in the North-East, the Free City of Danzig administered by the League of Nations in the West, and the Territory of Memel placed under the control of the Allied Great-Powers in the North. This external change was regarded by Germans in the region as creating an unprecedented state of distress („beispiellose Notlage“). These circumstances raise the question about the ways in which East Prussia tried to overcome the political and economic difficulties arising from a situation in which it was surrounded on all sides by foreign countries during 1920’s. For this question, the present book firstly highlights the fact that the Oberpräsident of East Prussia, the highest authority of the province, desired to extend his powers beyond those necessary for domestic political events, so as to also address a potential crisis in the foreign affairs of the province. Regarding East Prussia during 1920’s as a historical problem, many previous studies have taken the view that after World War I the province was continually seeking financial support from the central government in Berlin (the Reich and Prussia), so that the action of particular interest groups mainly associated with the agrarian and Junker classes represented by the Reich’s President Paul von Hindenburg, contributed to the destruction of Weimar democracy. In contrast to those views which are based on a unilateral study in domestic policy and focused on the behavior of non-democratic parties and the conservative, reactionary aristocracy (the so-called Ost elbien), this book attempts to show how the republican authorities of the province tried on their own initiative to emerge from economic difficulties after the war caused by the external incidents like the new national demar-
Summary879
cations and an end to trade with Russia. It is particularly remarkable that the democrat Ernst Ludwig Siehr (1920–1932) who had held the office of the Oberpräsident since the collapse of the Kapp-Putsch in 1920, took greater account of the interests of non-agrarian parties (industrial and commercial sectors) located in the capital Königsberg. The main aim of this trade center on the eastern shore of the Baltic Sea was the re-establishment of trade-relationships with Russia which had been prohibited since 1914. Economic survival depended exclusively upon these relationships. Therefore, in this study, the domestic political events will be discussed in connection with those of foreign affairs. For this reason, special consideration is given to the foreign strategy of the Oberpräsident and the municipal administration’s policy on Russia by the Lord Mayor of Königsberg, Hans Lohmeyer (1919–1933). The first part of this book deals with domestic political problems. The main purpose of this section is to study the Oberpräsident’s efforts to extend his power in order to address a potential emergency situation in East Prussia. In this context, it is necessary to clarify his political struggle with the central governments in Berlin (the Reich and Prussia) on the one hand and his political opponents, particularly the conservative camp (DNVP and DVP) in East Prussia, on the other hand. The following two parts of this volume analyze how the Oberpräsident achieved, in practice, his extended authority in the foreign affairs of East Prussia. It is important to clarify how far the Oberpräsident was able to exert his influences over the foreign policy of Germany (Reich) and in which way the Königsberg Chamber of Industry and Commerce represented its interests in the negotiations with foreign countries. For this purpose, Germany’s contractual relationships with Lithuania and the USSR during the 1920’s, especially trade and traffic agreements, are studied as far as they concern the events of East Prussia. In the second part of this book, German-Lithuanian relations are described with account being taken of the political conflict between Poland and Lithuania over the Territory of Vilnius and the Territory of Memel. A study of the German-Lithuanian convention concerning waterway traffic, which was signed in Kaunas in September 1923 as an administrative agreement between the German Ministry of Traffic (Reichsverkehrsministerium) represented by the Oberpräsident of East Prussia and the Lithuanian Ministry of Traffic, is accorded a special position in this section of the book. It must be pointed out that since its conclusion in 1923 this agreement had been kept secret until its repeal in 1928 (it was initially published in a collection of Law of the Lithuanian Foreign Ministry in 1930), because the both countries had aimed to avoid the influence of this agreement over Poland.
880 Summary
The third part of this book deals with German-Soviet relations (1918– 1932), especially Königsberg’s policy on Russia / the USSR for the purpose of re-establishing a trade relation based on rail transport between the port of Königsberg and the USSR through the Baltic States and Poland. The principal theme of this section is therefore a history of a German-Russian railway traffic agreement, which had first been signed in 1894 and had given a special priority to trade between Russia and the port of Königsberg. However, it was repealed in 1914. After World War I, Lord Mayor Loh meyer and the chamber of commerce considered re-establishing this agreement so vital to Königsbergs’s economic existence, so that they attempted to establish direct contacts with the Soviets. The railway traffic agreement was restored as part of the German-Soviet trade agreement signed in Moscow in October 1925 which included two secret notes concerning Königsberg’s interest, but their realization ran into obstacles. In addition to a study of the 1925 German-Soviet economic treaty (addressed as a special issue in this section), negotiations between Siehr and Lohmeyer on the one hand and the representatives of the government of the USSR on the other during their visit in Moscow in 1929 aimed to realize the advantages of the railway traffic agreement will be examined. The various aspects of these negotiations are analyzed in Chapter 6 in greater detail.
Personenregister (Namen in Fußnoten werden nicht verzeichnet. In Klammern angegebene Amts titel dienen der Auffindung von Personen, die im Text nicht mit ihrem Namen angeführt sind.) Adachi, Mineichiro 244 Altenberg, Arthur 68 Auwers, Walter Gottfried v. 122 Baden, Maximilian Prinz v. 54 Bahrfeldt, Max v. (Regierungspräsident Königsberg) 790 f. Baldwin, Stanley 357, 461, 659 Balutis, Bronius Kazys 333 Bansi, Gustav 138 Batocki-Friebe, Adolf Tortilowicz v. 20, 42, 53–58, 68 f., 72–74, 76, 78–81, 83, 91, 116 f., 120, 123–125, 161, 189, 218, 382, 563, 565 Baudissin, Theodor Graf v. 134, 142 Bauer, Gustav Adolf 21, 79, 81, 89, 91 f. Becker, Gustav 739, 747, 753, 756 Becker, Johann (Reichswirtschaftsminister) 285 Beelaerts van Blokland, Jonkheer Frans 423, 431–434, 442–444, 459 Begge, K. M. 547 Behrend, Hans-Karl 42 Berg, Friedrich v. 134 Berner, Alexander 565, 616, 619, 621–624, 686–688, 716 Besedovskij, Grigorij Z. 589 Bismarck, Otto Fürst v. 28, 37, 509, 519, 599 Blunk, Paul (Landeshauptmann) 189, 201 f., 205–207, 216 f., 221–224 Boockmann, Hartmut 44, 46
Borowski, Albert 68, 88, 90, 96, 100, 130 f., 538 Böttcher, Otto 245, 400, 458 Bracher, Karl Dietrich 25 Brandes, Ernst 165, 168 f., 189, 565, 855 Branting, Karl Hjalmar 330 Bratman-Brodovskij, S. I. [BratmanBrodowski] 548, 578, 592–594 Braun, Julius Frhr. v. 122 Braun, Magnus Frhr. v. 96, 98, 227 Braun, Otto (Ministerpräsident) 42, 81, 91, 95 f., 111–114, 128, 134 f., 151, 153 f., 156, 164 f., 172, 174, 176–178, 181–183, 207 f., 210, 213, 215, 220 f., 224, 227, 733, 770, 783 f. Bray, Joseph 506 Brecht, Arnold 178, 180 Brentano, Lujo 37 Briand, Aristide (Außenminister Frankreichs) 359, 361 f., 424, 430, 433 f., 436–439, 442, 464, 740 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf v. 19–21, 23, 57, 59 f., 62–68, 70–72, 75–79, 326 f., 359, 425 f., 429, 479, 480, 492, 501, 561 f., 578, 596, 613, 617, 626 f., 630, 632, 634–637, 639–641, 643–647, 653–662, 664–666, 668–670, 673–675, 677, 679– 683, 686, 692, 694, 696–700, 702 f., 726, 740 f., 800 f., 867, 868, 872 Brüning, Heinrich 24 f., 114, 151, 223–225, 227, 245, 768, 800, 802
882 Personenregister Brünneck, Manfred Graf v. (Landeshauptmann) 89, 105, 154, 168, 170 f., 189, 543 Buchta, Bruno 24 Bülow, Bernhard v. 38, 518 Bülow, Friedrich v. (Regierungspräsident Posen) 69 Buzenko 755 Caprivi, Georg Leo Graf v. 37, 511, 518, Chamberlain, Sir Joseph Austen 238, 352, 356–358, 360 f., 422–424, 427, 461, 659 Chinčuk, L. M. [Chintchuk] 545, 747, 750 Čičerin, Georgij V. [Tschitscherin] 279, 326 f., 358–560, 617, 626 f., 630, 633, 636 f., 640 f., 645 f., 648, 651 f., 655, 657–661, 664, 668, 670, 679–686, 694, 700 Cleinow, Georg 56, 73, 78, 80 Clemenceau, Georges 19, 65, 257, 265, 276 Conger, Arthur Latham 67 f. Conze, Werner 25 Crull, Wilhelm 232, 280, 291, 609 Cuno, Wilhelm 558 Curtius, Julius (Reichswirtschaftsminister) 197, 243 f., 447, 451, 457, 459, 461, 473, 770, 800 Curzon of Kedleston, Lord George Nathaniel 582, 635 Cushendun, Lord Ronald John McNeill 430, 433 Czudowski 421 Dammann, Bruno 164, 175, 184 f. Daniševskij [Danischewski], K. J. 555 Dassel, Johannes v. (Generalleutnant, Wehrkreiskommando I.) 136 David, Eduard (Reichsinnenminister) 92 Davis, Norman Hezekiah 332 f.
Dawes, Charles Gates 191, 593, 726, 802 Decken, Carl Claus von der 569 Dietrich, Hermann (Reichsernährungsminister) 200, 212, 216–218 Dietrich, Hermann Adolf Christian 190 Dirksen, Herbert v. 380, 437, 449, 558, 648 f., 654 f., 657 f., 660, 672, 674, 692 f., 726, 739, 741, 743 f., 747, 756, 866 Dominicus, Alexander 538, 704 Dorpmüller, Julius 191 Dreyer, O. O. 617 f. Dreyfus, Silvain 463, 466 Drews, Wilhelm Arnold [Bill] 116, 118–121 Drummond, Sir James Eric 431, 643 Ebert, Friedrich (Reichspräsident) 54, 61, 63, 68, 72, 78, 128 f., 135, 309, 542, 578, 643 f. Ebhardt, Bodo 275, 281 f., 284, 292, 297, 307 f., 312–314, 316, 320, 345 f., 393, 608 f., 858 Ehni, Hans-Peter 42 Eichelbaum 124 Eimers, Enno 42 Eisenlohr, Ernst 414, 417 Erzberger, Matthias 62 f., 67 f., 70, 75–78, 539 Estorff, Ludwig v. 95 Eulenburg-Prassen, Friedrich (Fritz) Graf v. 106, 124, 189, 382 Eysinga, Jonkheer Willem Jan Marie van 446, 462 Fehrenbach, Constantin (Reichskanzler) 137 Fischer, Fritz 25, 29 Forstreuter, Kurt 46, 266 Frankenbach, Friedrich Wilhelm 106–110, 112–114, 160, 174, 176–179, 181, 195, 203, 224, 281 f., 284, 292, 294 f., 297, 307, 313, 320, 339, 340, 345, 370, 380, 387 f., 416,
Personenregister883 566, 568, 574, 583, 603, 606, 609, 720, 761, 784 Freundt, Ernst Alfred v. 298 Friedensburg, Ferdinand 98, 125, 127 Friedrich II. (Friedrich der Große; König von Preußen) 28 Friedrich Wilhelm III. (König von Preußen) 157 Galvanauskas, Ernestas 237, 263, 279, 295 f., 300 f., 304 f., 314 f., 321, 324–328, 330, 333 f., 336 f., 346, 465, 864 f. Gaus, Friedrich Wilhelm Otto 648 f., 655, 670 Gause, Fritz 35, 44, 796 Gayl, Wilhelm Moritz Frhr. v. 56, 88 f., 105, 107 f., 110, 126 f., 134, 140, 143 f., 154, 165, 169, 178, 217, 227, 382, 805 Geßler, Otto Karl 128 Gessner, Dieter 26 Glinski, Gerhard v. 34 Goerdeler, Carl Friedrich 140, 539, 721, 797 Goltz, Frhr. von der 190 Göring, Hermann Wilhelm 787 Gottheiner, Georg 175 f., 178 f., 181 Graap, Karl 555 Groeben, Klaus von der 32, 44 Groener, Wilhelm (OHL; Reichsverkehrsminister) 63, 77, 285, 292, 295, 586, 611 Grzesinski, Albert 168, 175, 180, 210 Grzimek, Günther 98, 105, 131 Guerrero, José Gustavo 445, 462 Hackmann, Jörg 28 Haller von Hallenburg, Jozéf 64 Hanecki, J. S. [Hanetzki; Ganetzki] 479, 576, 654, 660, 664 f., 675 Hardenberg, Karl August Fürst v. 40 Haslinger, Oswald 283, 313, 553, 565 Hasse, Arnold 69, 100 f.
Hassell, Karl Adolf Johannes v. 86, 96, 126 Heilmann, Ernst 180 Heine, Wolfgang 64, 69 f., 73, 75, 77, 81–84, 88–90, 92, 95 Henderson, Arthur 459–461 Hentschel, Louis 292–295, 297, 345, 395 f., 398 Herbst, Christian 88, 99–114, 117, 131, 134, 138–140, 143–145, 147, 182 f., 227 f., 234, 298 f., 306 f., 309–313, 316, 322 f., 338 f., 345, 347–350, 373, 603, 608 f., 805, 857, 863 Herold, R. 444, 473 Hertz-Eichenrode, Dieter 23, 44 Herzbruch 616 Hesse, Albert 71 Heumann, Felix 107, 158, 160, 192 f., 474, 543, 565, 855 Heumann (Rittergutsbesitzer) 739, 747, 749 f., 753, 755 f. Hildebrand, Daniel 33 Hildebrand, Klaus 28 Hilferding, Rudolf (Reichsfinanz minister) 212, 217 Hilger, Gustav 660 f., 739, 743 Hillgruber, Andreas 28 Hindenburg, Paul v. (Generalfeldmarschall; Reichspräsident) 24, 53, 79, 126–128, 151, 168, 170, 173, 175, 181, 183, 187, 196, 200, 213 f., 218 f., 223, 225–227, 646 f., 657, 679, 702 f., 768, 878 Hinz 298, 307, 345 Hippel, Walter v. 124, 165, 189, 202 Hirsch, Paul (Preuß. Ministerpräsident) 69, 80, 84, 89, 92 f., 95 Hirtsiefer, Heinrich 225 Hitler, Adolf 28, 246, 788, 798 Hoetzsch, Otto 565, 567 f., 777 Hoffmann, Fritz 574 Hołówko, Tadeusz 373, 430 Holtz, Ludwig 297, 556, 595, 616, 686–689, 722, 856
884 Personenregister Höpker-Aschoff, Hermann 207, 215 Hopp, Hanns 560, 631 Hörnell 332 Hörsing, Otto 69, 77, 79 Hubatsch, Walther 46 Hugenberg, Alfred 189 Hymans, Paul 262, 352, 465 Immisch, Kurt [Curt] 283 Jabin, A. J. 719 Jagow, Ernst v. (Oberpräsident der Provinz Westpreußen) 109 Jähnig, Bernhart 46 Jonas, Hans 569, 777–797 Jursch, Hermann 711, 793 Kadgiehn, Otto 450 Kameneva, Olga D. 744, 752, 756 Kanitz, Gerhard Graf v. (Reichs ernährungsminister) 138, 640 Kantor 631 Kapp, Wolfgang 42, 86, 88 f., 93–99, 120 f., 126, 130, 151, 227 Katschinsky 755 Kaufmann, Walter 565 Kellogg, Frank Billings 430, 436–439, 462, 464, 740 Kersand 298 Keudell, Walter v. 113, 169, 174 f., 178–180, 200 Kiebeler, Alwin 247 Kindermann, Karl 660 Kirsanov 626, 686, 856 Klatt, Rudolf 43 Klepper, Otto 203, 206 f., 211, 215, 222 Klimas, Petras 300, 305, 333, 336 Klinckowström, Graf v. [Klinckow stroem] 161 Koch, Erich 773, 787, 797, 805 Koch, Wilhelm (Reichsverkehrs minister) 197
Koch-Weser, Erich (Reichsinnenminister) 91 f., 100, 116–118 Köhler, Heinrich (Reichsfinanzminister) 175, 197 Koenigs, Gustav 446 Koerner, Paul Ernst v. 351, 479, 578, 592, 603, 608 f., 615 f., 630, 638–640, 653 f., 658, 674, 694 Kopp, Viktor L. 325–327, 544, 634– 637, 639, 642, 682 Kopylov, I. 558 Körte, Siegfried 537 Kossert, Andreas 33 Köster, Adolf 128 Kraemer, Hans 567, 772, 780 Krasin, Leonid B. [Krassin] 555, 560, 613, 742 Kraus, Joseph 277, 314 Krell 120 Krestinskij, Nikolaj N. [Krestinski] 548, 555, 645–647, 651, 656, 660, 665, 680, 682, 685 Krohne, Rudolf (Reichsverkehrsminister) 604, 674, 692 Krolle, A. G. 332 Krüger, Arthur 513 Kubjak, Nikolaj A. 749 Kulik 754, 756 Külz, Wilhelm 154 Kurganowitsch 307 Kutscher, Wilhelm 227, 805 Kutschke, Cornelius 68, 616 Laaser, Eugen 283, 297, 339 Lambsdorff, Georg Franz Wilhelm Graf v. 258 f., 296, 307, 311, 314 f., 384 Lansing, Robert 66 Lazis 560 Leeser, Hans 733 Lehmann, Friedrich 539, 707, 716, 721 f., 792 Lehmann (Regierungsrat bei OPO) 739, 797 Lengiel, Julius [Lengyel] 688
Personenregister885 Lenin, Vladimir I. (Uljanov) 30 f., 46 Ležava, Andrej M. 558, 748 f., 751 Lindsay, Sir Ronald (Britischer Botschafter in Berlin) 366, 385, 425 Lisauskis, A. 297–299 Litten, Hans 107, 603, 739, 747 Litvinov, Maksim M. 238, 277, 352–354, 359, 362, 429, 437, 440 f., 458, 479 f., 492, 639, 641, 644–646, 651–653, 667 f., 673, 679, 681, 696, 698, 740, 743, 867, 872 Lloyd George, David 257, 530 Loehrs, Edgar Georg 75 f., 134, 138, 176 Lohmeyer, Hans (Oberbürgermeister) 23, 39 f., 50, 85, 87, 89, 125, 137, 139, 165, 170 f., 504, 537, 538 f., 541, 543, 545, 558, 565–568, 704, 706–710, 719 f., 722 f., 734, 739, 747, 751 f., 755 f., 765, 787, 790–798, 803–805, 855, 879 f. Lohr 711 Loškariov [Loschkarioff] 618 Łossowski, Piotr 250 Ludendorff, Erich 126, 127 Luther, Hans (Reichskanzler) 558, 630, 662, 670, 677, 679, 681, 693 Lüttwitz, Walther Frhr. v. 95 MacDonald, Ramsay 357, 461 Makowezki 631 Malinowski, Stephan 32 Maltzan, Adolf Georg Otto v. 306, 326, 336, 596, 635 f., 644, 650, 682 f. Mandelstam, André N. 463, 466 Markow, Alexis I. [Markov] 546 f., 555, 565, 570, 739, 787 Martius, Georg Feodor Albert 687, 692, 694 Marx, Karl 30 f., 46 Marx, Wilhelm (Reichskanzler) 117, 125 f., 151, 164 f., 168–171, 173–175, 183, 197 f., 200, 217 Matull, Wilhelm 33 Meinecke, Friedrich 26
Meissner, Otto 175 Mendelssohn, Franz v. 170 Merkys, Antanas 450 Mikojan, Anastas I. 732, 750, 752 Minnigerode, Wilhelm Frhr. v. 124 Mirbach, Werner Frhr. v. 106 Mirbach-Harff, Wilhelm Graf v. 570 Moeller, Bruno 194, 471, 722, 856 Möller, Horst 42 f. Mommsen, Hans 26 Moraht, Hans Ludwig 354, 355, 427 f., 430, 446 f., 451 Mrozowski, Jan 463, 466 Müller, Hermann (Reichskanzler) 21, 81, 197, 200, 202, 212, 217, 223 Mussehl, Fritz 225 Nadolny, Rudolf 56, 69, 73 Neugebauer, Wolfgang 33 Neuhaus, Albert (Reichswirtschaftsminister) 630 Niemack 579, 600, 602–605, 616–620, 624, 693 Noske, Gustav 77, 79 f. Odry, Dominique 258, 260, 296, 315, 384 Oeser, Rudolf (Reichsverkehrsminister) 234 f., 238, 309–312, 316, 320, 337 f., 346, 349, 857 Oldenburg-Januschau, Elard v. 98, 124, 127, 170, 219 Olshausen, Franz v. 237, 270, 295, 300, 305, 315 f., 321 f., 326–328, 336 f., 864 f. Olszowski, Zygmunt Kazimierz 373, 585 Oppen, Matthias v. 120, 140 Oppermann 308 f. Orlopp 85 Osipov, O. [Ossipow] 560 Ostermeyer, Willy 190 Ottokar II. (König von Böhmen) 35
886 Personenregister Paderewski, Ignacy Jan 62 Pahlke 209 Papen, Franz v. 96, 227, 805 Parmoor, Lord Charles Alfred Cripps 333 Paul-Boncour, Joseph 424 Peters, Wilhelm 82 f., 92 Petisné, Gabriel 276 Philipp, Felix 69 Pieper, Joachim A. 544, 631 Pikart, Eberhard 42 Piłsudski, Józef K. 352, 354, 358, 360, 362–364, 373, 380, 428–430 Plehwe, Karl v. 106 Pohl, Eldor 68 Poincaré, Raymond 304 f., 329, 332 Popov 755 Porr, Ludwig 165, 603 f., 608 Posse, Hans Ernst 281 f., 694, 733 Preuß, Hugo 115–117 Preyer, Wilhelm Dietrich 734–739, 750 Puhle, Hans-Jürgen 26 Quiñones de Léon, José 459 Radek, Karl 577, 650 Rajvid, Nikolaj [Raiwid] 735–739, 750 Rapoport, A. J. [Rappoport] 688 Rathenau, Walther 41, 121, 129, 134, 263, 585, 650 Raumer, Hans v. (Reichswirtschafts minister) 568 Redlhammer, Hans 390 Reichelt 142 Reif, Heinz 31 Reinhardt, Walther 77 Reinhold, Peter (Reichsfinanzminister) 719 Reisgys, Martin 450–452, 458 Ribbentrop, Joachim v. 245, 788 Richter, Ernst v. 110 Richter, Friedrich 33 Roedern, Siegfried Graf v. 116
Rohde, Herbert 195, 298, 306–308, 316, 345 Rohrer, Christian 33 Rönneburg, Heinrich 218–224, 227 Rosencrantz, Otto (Regierungspräsident Gumbinnen) 98, 243 Rosenfeld, Günter 45 Rostworowski, Michał Jan Graf 462, 467 Rubinčik 552 Rudsutak, J. E. 617, 686, 727 f., 731 Runge, Wolfgang 42 Rutenberg, Gregor 252 Rykov, Alexej I. 748 Saemisch, Friedrich 110 Sahm, Heinrich 69 Šaulys, Jurgis [Schaulis] 231, 285, 291 Savel’jev, M. A. [Saweljew] 550 Schacht, Hjalmar 211, 740 Schack, Eckhard v. 387 Schaefer, Martin 543, 552, 565, 787 Schauen, Kurt 160, 162 Scheidemann, Philipp 21, 63, 75 f., 78, 88 Schiele, Martin (Reichsinnenminister; Reichsernährungsminister) 169, 181, 200, 223, 679 Schlange-Schöningen, Hans 179 f., 226 Schleicher, Kurt v. 128 Schleifer, E. 727, 750–752 Schlesinger, Moritz 592, 664, 674, 692, 694, 733, 772 Schlieben, Otto v. (Reichsfinanzminister) 677 Schmidt-Ott, Friedrich 568 Schnackenburg, Bernhard (Oberpräsident der Provinz Westpreußen) 79 Schneersohn 631 Scholz, Ernst (Reichswirtschaftsminister) 137, 164, 260, 605 Scholz, Karl 198 f., 415, 576, 579, 583 f., 592, 761 f.
Personenregister887 Schreiber, Walther (Preuß. Handels minister) 195, 631 Schubert, Carl v. 353, 355, 366, 380, 385, 423 f., 433–435, 437, 447, 644, 646 f., 654, 657, 681, 703 Schulenburg, Friedrich-Werner Graf von der 326 Schüler-Springorum, Stefanie 33 Schultz, Marjan 616, 619, 686, 716 Schulz, Gerhard 24, 43 Schulze, Hagen 42 f. Schulze Wessel, Martin 27 Schumacher, Bruno 44 Schumacher, Rainer 43 Seeckt, Hans v. 58, 64 f., 77, 324 f., 578, 644 Seeliger, Arthur 444, 455 Seiler, Ferdinand 323 f. Semper, Carl Ferdinand 203 Senn, Alfred Erich 250 Severing, Carl Wilhelm (Preuß. Innenminister) 95 f., 127 f., 130, 134, 227 Sidzikauskas, Vaclovas (Litauischer Gesandter in Berlin) 232, 300, 305 f., 315, 322 f., 333, 336, 340, 353 f., 361, 366, 370, 373, 378, 384 f., 387–389, 411 f., 414, 417, 421, 431, 447, 449, 455, 463, 465 f., 609 Siehr, Dietrich 48 Siehr, Ernst Ludwig (Oberpräsident) 23, 38 f., 42 f., 48–50, 68, 88, 90, 93, 95, 97–101, 103–107, 109, 112 f., 116 f., 119 f., 123, 126–131, 133, 136 f., 139, 143–156, 159–165, 168, 170–178, 182–190, 192–199, 201–210, 213–224, 226–228, 236, 243, 260, 262, 271, 282 f., 291–295, 300, 306, 309, 311, 320 f., 338, 340, 342–346, 349 f., 370, 380, 389, 394, 398, 434, 441, 471, 502, 504, 542 f., 549, 552, 558 f., 564 f., 573–576, 603 f., 607–609, 611, 720, 725, 729, 738 f., 741, 743–753, 755–764, 783 f., 790 f., 799–801, 805, 855, 879 f.
Siering, Wilhelm (Preuß. Handels minister) 107 Simon (Oberregierungsrat, RVM) 596, 856 Simon, Fritz 161, 513, 584 Simon, Walter 127, 644, 647 Simson, Ernst v. 650 Sjöberg, Frederik 271, 281 f., 608, 616, 694 Skardinskas 234, 306 f., 310 f., 316, 321–323, 338 f., 345, 347 f., 863 Skirmunt, Konstantin 333, 585 Skrzyński, Aleksander Józef Graf (Außenminister Polens) 301, 680 Sommer, Robert 592, 600, 603, 605, 609, 617, 666 Stalin, Iosif V. (Džugašvili) 28, 246, 660, 788 Stang, Joachim 43 Stašinskas 462 Steiger, Heinrich (Preuß. Landwirtschaftsminister) 208, 213, 216 Stein, Boris J. 618, 688 f. Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum 40 Steiner, Franz 570 Stockhammern, Karl v. 231, 271 f., 274, 280 f., 285, 291, 585, 586 Stolberg-Wernigerode, Graf zu 106 Stomonjakov, Boris S. 425–427, 429 f., 449 f., 458, 530, 649, 743–746, 750, 756 Strasburger 307, 316 Straubel, Rolf 34 Stresemann, Gustav 171 f., 238 f., 251, 309, 353–356, 359, 361 f., 364–367, 369 f., 380, 385 f., 388–391, 393, 395, 424 f., 479 f., 501, 578, 632–634, 637 f., 640–649, 651–657, 662, 667–670, 674 f., 677–684, 692–694, 699, 702 f., 725 f., 800 f. Strousberg, Bethel Henry 506 Strube, Leopold 617, 687, 694 Südekum, Albert 64, 82, 89
888 Personenregister Tauber, Joachim 252 f. Treviranus, Gottfried Reinhold 225 Trockij, Lev D. (Bronštejn) [Trotzki] 660 Tschirner, Georg 250 Uchanov, K. V. 746 Ulrich [Ullrich] 796 Urach, Karl Herzog v. (Mindaugas II.) 59 Urbšys, Juozas 245 de Vasconcelos, Augusto 444 f., 448 Vojkov, P. L. 358 Voldemaras, Augustinas [Woldemaras] 239, 251, 352–357, 360–371, 373–376, 380 f., 385–390, 395, 413, 422–428, 430, 432, 434 f., 445 f., 465 f., 725, 737 Wagner, Patrick 32 Wallroth, Wilhelm Theodor Erich 339 f., 380, 558, 573–575, 578, 650, 694, 726 f. Walsdorff, Martin 251 Walther, Carl Heinrich (Generalkonsul in Charkow) 754, 756 Weber, Kurt 797 Weber, Max 29 Wedel, Erhard Graf v. 558 Wehler, Hans-Ulrich 25 Weichmann, Herbert 113 f., 224 Weinstein 742 Wendorff, Hugo (Preuß. Landwirtschaftsminister) 147 Wessling, Wolfgang 24, 44 Westenberger, Hans 546, 565, 569
Wiegand, Erich 543 f., 551, 565, 569, 784, 786 f., 797 Wiehler, Bernhard 190 Wilhelm II. (König von Preußen; deutscher Kaiser) 513 Will, Hellmuth 798 Willoweit, Gerhard 247 f. Wilson, Thomas Woodrow 19, 20, 66–70, 257, 332 Windheim, Ludwig v. 53 f. Winkler, Heinrich August 26 Winnig, August (Reichskommissar; Oberpräsident) 42, 57–59, 61, 64 f., 69, 73–75, 78, 79–92, 94–96, 130, 143, 534 Wirth, Joseph (Reichskanzler) 77, 134, 148, 164, 568, 585, 644 Wirtz 707, 716 Wolff 387 f. Wolscht, Theodor 660 Young, Owen D. 732, 734, 740 f., 802 Zaleski, August (Außenminister Polens) 363, 365, 368–370, 373, 375 f., 426, 430, 432, 434–437, 459, 461, 466 Zaunius, Dovas (Außenminister Litauens) 243 f., 373, 399, 445–447, 449, 451 f., 457, 459–461 Zechlin, Erich Wilhelm (Generalkonsul in Leningrad) 742 Żeligowski, Lucjan 235, 262, 358 f., 368, 371, 375 f., 404, 420, 443 f., 459 Zernack, Klaus 27 Ziegenhagen 707 Zimmerle, Ludwig 60 Zjurupa 631