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German Pages 396 Year 2020
Sebastian-Manès Sprute Weltzeit im Kolonialstaat
Global- und Kolonialgeschichte | Band 1
Sebastian-Manès Sprute, geb. 1979, arbeitet an der Technischen Universität zu Berlin und erforscht die Provenienz von ethnologischen Museumsbeständen aus den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika. Der Ethnologe und Afrikawissenschaftler promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Mitglied im DFG-Forschungsprojekt 955 »Akteure kultureller Globalisierung«. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kolonialgeschichte, Provenienzforschung und »Ethnologie der Zeit«.
Sebastian-Manès Sprute
Weltzeit im Kolonialstaat Kolonialismus, Globalisierung und die Implementierung der europäischen Zeitkultur in Senegal, 1880-1920
Zugleich Dissertation unter dem Titel »Die Ordnung der Zeit im Kolonialstaat: Die Implementierung der Weltzeitordnung und der Stellenwert von exakten zeitlichen Standards, zeitspezifischen Ordnungspolitiken und europäischer Zeitkultur unter Bedingungen kolonialer Herrschaft in Senegal, ca. 18801920«, Humboldt-Universität zu Berlin, Kultur-, Sozial-, und Bildungswissenschaftliche Fakultät, 2015. Die Dissertation ist im Rahmen eines DFG geförderten Projektes entstanden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Das Covermotiv entspringt einem kolonialen Blickregime und spiegelt rassistische und diskriminierende Stereotype, die der Einführung von europäischen Zeitnormen in afrikanischen Gesellschaften vor allem im Zusammenhang mit der sogenannten ›Zivilisierungsmission‹ zugeschrieben wurden. Das Motiv ist dem Bildarchiv der Deutschen Kolonialgesellschaft in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main entnommen (Bildnummer 0250303-27). Neben Angaben zur regionalen und gesellschaftsspezifischen Klassifikation (Afrika, Afrikaner) und einer kurzen Bildbeschreibung (N*knabe mit Armbanduhr), sind keine weiteren Informationen zum Entstehungskontext, zum abgebildeten Jungen, zu Ort und Zeit der Aufnahme festgehalten worden. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5192-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5192-2 https://doi.org/10.14361/9783839451922 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
I. Einleitung ..............................................................................13 1. Themenvorstellung und Problembereich .................................................................. 13 2. Zeit als Gegenstand der Kulturwissenschaften .........................................................28 2.1. Zeitordnungen und Aspekte von sozialer Disziplinierung ................................... 29 2.2. Die Entwicklung von Zeitordnungen im Zuge von Industrialisierung und Globalisierung...................................................................................................... 34 3. Untersuchungsmethodik und zentrale Fragestellungen ............................................. 39 4. Quellen............................................................................................................ 43 5. Aufbau der Arbeit...............................................................................................46 II. Zeitnormen der Kolonialideologie ..................................................... 49 1. Fortschrittsdenken, Zeitnormen und Kolonialideologie................................................ 49 2. Zeitnormen im Konzept von mission civilisatrice und mise en valeur .............................52 3. Die Zeiten der mission civilisatrice .........................................................................60 3.1. Der europäische Blick auf die Zeit außereuropäischer Gesellschaften .................60 3.2. Einheimische Infantilität und kolonialer Paternalismus .................................... 67 3.3. Der Mythos vom ›Faulen Neger‹ .................................................................. 71 3.4. Der weiße Kreuzzug gegen den schwarzen Müßiggang ..................................... 77 3.5. Travailler comme un nègre? ........................................................................ 81 4. Zeitnormen und kulturelle Differenz ....................................................................... 87 III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge ............................ 91 1. Die zeitliche Kompartmentalisierung der Welt........................................................... 91 1.1. Die Etablierung von Weltzeitnormal und Weltzeitzonensystem............................. 92 1.2. Frankreichs Angliederung an das Weltzeitzonensystem .................................... 94 1.3. Die Standardisierung der Zeit im französischen Kolonialimperium ......................98 1.4. Zeitzonen des französischen Kolonialimperiums ............................................104 2. Zeit und Raum der kolonialen Herrschaft in Afrika ................................................... 107 2.1. Kolonialismus und die Standardisierung von Zeit und Raum............................. 108 2.2. Die Ungleichzeitigkeit der französischen Kolonialherrschaft in Westafrika ........... 111
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge ............................................ 119 1. Zentralismus und kolonialer Diffusionismus ............................................................ 122 1.1. Die zentralistische Struktur der kolonialstaatlichen Territorialorganisation ......... 130 2. Räumliche und zeitliche Strukturen der wirtschaftlichen Entwicklungspolitik ............... 135 2.1. Handelsökonomie und prinzipielle Strukturen der Wirtschafts- und Arbeitsorganisation .................................................................................................. 136 2.2. Die ökonomischen Infrastrukturen der industrialisierten Welt........................... 145 3. Räumliche und zeitliche Strukturen der gesellschaftlichen Entwicklungspolitik ............ 153 3.1. Die Politik der Assimilation und zivilrechtliche Zeitstatuten ..............................155 3.2. Die Politik der Assimilation und kommunalrechtliche Ordnungspolitiken der Zeit..160 3.3. Assimilation, Assoziation und die Divergenz der Lebenswelten in der Kolonie ......166 3.4. Die Politik der Assoziation und militärrechtliche Ordnungspolitiken der Zeit ........ 173 V. Weltzeitnorm und uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften ...................... 187 1. Verfügbarkeit exakter Zeitstandards...................................................................... 187 2. Uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften und Nutzen exakter Zeitstandards............ 193 VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates ................ 205 1. Saisonale Arbeitsmigration als Grundlage der zeitlichen Organisation des Arbeitssektors 208 1.1. Saisonale Arbeitsmigration und die Vorrangigkeit informeller Lohnarbeitsverhältnisse ..................................................................................................... 211 2. Zeitspezifische Ordnungspolitiken im kolonialstaatlichen Lohnarbeitssektor ................. 221 2.1. Projekt zur Einführung eines wöchentlichen Ruhetages .................................. 224 2.2. Gesetz zur Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages .................................. 230 2.3. Die erste Arbeitsgesetzgebung der Föderation Französisch-Westafrikas ........... 237 2.4. Der Fortbestand von willkürlichen Arbeitsbedingungen, Zeit- und Arbeitszwang .. 254 VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft 261 1. Die urbane Bevölkerung der vier Kommunen .......................................................... 264 1.1. Die Gesellschaft der Kolonisierenden ........................................................... 265 1.2. Die elitäre einheimische Gesellschaft.......................................................... 267 1.3. Die Gesellschaft der Kolonisierten ............................................................... 271 1.4. Die interne Gliederung der urbanen Gesellschaft ........................................... 274 2. Uhrzeitspezifische Ordnungspolitiken zur Rhythmisierung des Gesellschaftslebens ....... 277 2.1. Religiöse zeitliche Handlungspraxen im laizistischen Kolonialstaat ................... 278 2.2. Die Zeitzählung im senegalesischen ›Kolonialkalender‹ ................................. 286 2.3. Der heterogene Festkalender der urbanen Gesellschaft.................................. 294 2.4. Ordnungspolitiken zur Rhythmisierung des gesellschaftlichen Alltaglebens ........ 302 2.5. Zeitliche Rhythmen der muslimischen Gemeinschaft der Kommunen ................. 310 3. Zeitkultur und zeitspezifische Handlungspraxen der urbanen Kolonialgesellschaft ........ 320 3.1. Die Isolation der französischen Zeitkultur in den Kommunen ........................... 322
3.2. Temporär begrenzte Aufenthalte in der Kolonie ............................................ 327 3.3. Alltags- und Freizeitkultur nach französischem Vorbild.................................. 332 3.4. Familiäre und bürgerliche Aspekte der kolonialgesellschaftlichen Zeitkultur ...... 335 3.5. Kulturelle und zeitspezifische Provinzialität................................................. 340 3.6. Aufrechterhaltung und Verlust erlernter Zeitnormen und Handlungspraxen ........ 345 VIII. Abschließende Bemerkungen ..................................................... 355 IX. Anhang ............................................................................. 369 X. Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................... 371 A. Archivmaterial – Archives Nationales du Sénégal (ANS)............................................. 371 B. Bildmaterial .................................................................................................... 372 C. Gedruckte Quellen ............................................................................................ 372 1. Amtliche Veröffentlichungen........................................................................ 372 2. Primärliteratur ......................................................................................... 373 3. Zeitungen................................................................................................ 375 D. Literaturverzeichnis ......................................................................................... 375
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1 – Weltzeitzonen und Territorien des französischen Kolonialimperiums (1911)...... 101 Abbildung 2 – Die Föderation Französisch-Westafrikas (ca. 1917 ). ................................... 113 Abbildung 3 – Die administrative Gliederung des kolonialen Senegal (1925). ..................... 132 Abbildung 4 – Erdnussanbauflächen in der Kolonie (1925)..............................................140 Abbildung 5 – Stationsuhr vor dem Post- und Telegraphenamt in Saint-Louis (1900-1920). ... 191 Abbildung 6 – Post- und Telegraphenverbindungen der Kolonie (1907).............................. 192 Abbildung 7 – Eisenbahnverbindungen und Straßenverkehrswege (1931). .......................... 194 Abbildung 8 –Verortung lokaler Bevölkerungsgruppen und präkolonialer Königreiche ........ 273 Abbildung 9 – Kalenderblatt aus dem Annuaire du Sénégal et Dépendances (1/1861)............ 291 Abbildung 10 – Tageszeiten für die Ausrichtung der fünf Gebete. .................................... 314 Abbildung 11 – Uhreninstallation an der Moschee in Rufisque (1900-1920). .........................318 Abbildung 12 – Uhreninstallation an der Moschee in Saint-Louis (1900-1920)...................... 319 Tabelle 1 – Beschäftigungszyklus und Rhythmen der saisonalen Arbeitsmigration (1922-1924).219 Tabelle 2 – Ergebnisse der Abstimmung zur Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages (1919). ................................................................................................................ 232 Tabelle 3 – Bevölkerungsentwicklung in den vier Kommunen (1865-1930). ....................... 270 Tabelle 4 – Anteil von Kreolen und Franzosen an der Bevölkerung der Kommunen (1908-1930).270 Tabelle 5 – ›Ethnische‹ Affiliationen der einheimischen Bürgerschaft der Kommunen (1914). 271 Tabelle 6 – Gliederung und Hierarchie der urbanen Gesellschaft. ................................... 275 Tabelle 7 – Ablaufplan der Feierlichkeiten am französischen Nationalfeiertag in Dakar (1914).301 A. Tabelle: Vergleichende Übersicht der Namen der Wochentage in Arabisch, Französisch, Serer und Wolof-Lebu und Tukulor .......................................................................... 369
Für Hans Sprute und Agbokli André »Foo« Togbonou
Niemand ist das, was er ist, nur durch sich allein. In diesem Sinne möchte ich an dieser Stelle meinem Doktorvater Prof. Dr. Andreas Eckert besonderen Dank aussprechen, da diese Arbeit ohne seine Hilfe nicht zustande gekommen wäre. Für fachliche Diskussionen, Anregungen und Kritik bedanke ich mich weiterhin bei Prof. Dr. Babacar Fall, Prof. Dr. Roman Loimeier, Dr. Omar Gueye, Dr. Fatoumata Cisse Diarra, Dr. Babacar Ndiaye, Prof. Dr. Sabine Broeck und allen Mitgliedern der DFG Forschergruppe 955. Darüber hinaus möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Archives Nationales du Sénégal in Dakar, dem Centre des Archives d’Outre-Mer in Aix-en-Provence und den zahlreichen hilfreichen Geistern wie Aissatou, Wolf, Oumar und Ibrahima für die Förderung und Unterstützung des der vorliegenden Arbeit zugrundeliegenden Forschungsprojektes danken. Während ich in verzehrendem inneren Widerstreit suchte, mit Worten des ringenden Geistes Bahnen nachzuzeichnen, standen mir nicht zuletzt meine Familie und meine Freunde auf die eine oder andere Weise mit Rat und Tat beiseite, um zur Vollendung der vorliegenden Arbeit beizutragen. Auch ihnen gilt daher meine allergrößte Dankbarkeit.
I. Einleitung 1. Themenvorstellung und Problembereich In der großen senegalesischen Tageszeitung Wal Fadjri erschien am 28.09.2005 ein Artikel, der sich unter der Überschrift La notion du temps et du futur au Sénégal et en Afrique mit dem Stellenwert von Zeit in der lokalen Gesellschaft auseinandersetzte und den bekannten senegalesischen Journalisten Cheikh Yérim Seck zu Wort kommen ließ: »Ayant toujours du mal à entrer dans une culture de la production, l’Afrique n’attache aucune valeur au temps… Des comportements irrationnels, laxistes et amateurismes sont justifiés par une référence à ce qu’il est convenu d’appeler l’heure africaine. Ce qui doit être fait à 10 h en temps réel, va être fait à midi, heure africaine. En d’autres termes, les Africains ont choisi d’être les plus grands retardataires de l’humanité et de rester éternellement à la traîne […] [, ils] sont, sur la planète, les plus pauvres, les moins développés et plus réticents au travail.«1 Was Seck hier in drastischen Worten äußert, entbehrt zwar jedweden wissenschaftlichen Bezugs, verdeutlicht jedoch auf unmissverständliche Art und Weise die im populärkulturellen Kontext nach wie vor vorherrschende Perspektive auf Ordnung und Ökonomisierung der Zeit in afrikanischen Gesellschaften. Angesichts der offensichtlich nicht empirischen, geradezu ordinären Ausdrucksweise Secks, die das überkommene Klischee vom ›Faulen Neger‹2 geradezu zu beschwören scheint, muss es insofern umso mehr verwundern, dass vergleichbare Einlassungen überdies auch im gegenwärtigen wissenschaftlichen Kontext immer wieder Resonanz finden. Die Diagnose, dass die Ordnung und Ökonomisierung der Zeit in vielen afrikanischen Gesellschaften nicht mit der Weltzeitordnung synchronisiert sei und
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Wal Fadjri, 28.09.2005. Trigger-Warnung! Diese Arbeit enthält rassistische und diskriminierende Sprache! Das NWort wird hier und an anderer Stelle in unveränderter Form wiedergegeben. Zur historischen Kontextualisierung und Problematisierung des Stereotyps des ›Faulen Negers‹ siehe im folgenden Kapitel II.3.3.
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Weltzeit im Kolonialstaat
deshalb gewissermaßen aus dieser herausfalle, stellt insbesondere im Zusammenhang mit entwicklungspolitischen und theoretischen Debatten, die sich mit der ›Unterentwicklung‹ und ›Rückständigkeit‹ der sogenannten ›Dritten Welt‹ in Afrika auseinandersetzen, eine immer wiederkehrende Thematik dar.3 Die in dieser Hinsicht nachhaltigste und sehr kontrovers diskutierte Abhandlung neuesten Datums stammt sicherlich von der studierten Ökonomin Axelle Kabou, die ihre Erfahrungen aus ihrer Tätigkeit im Entwicklungshilfesektor 1991 in dem Werk Et si l’Afrique refusait le développement? der Öffentlichkeit zugänglich machte. In ihrer nur als Streitschrift zu begreifenden Abrechnung mit den Mechanismen und Rahmenbedingungen der gegenwärtigen Entwicklungspolitik gelangt sie zu Schlussfolgerungen über die in afrikanischen Gesellschaften vorherrschenden zeitspezifischen Verhaltensweisen und korrespondierende Zeitkonzeptionen, die Secks Äußerungen gar nicht so unähnlich sind. Kabou zufolge ist Afrika nicht nur eine »grande gaspilleuse de temps, d’argent, de talents [et] d’énergie. Momifiée à l’extrême, incapable de se mouvoir à la vitesse des exigences de sa situation catastrophique«4 , sondern lebe zudem in psychologischer Hinsicht noch gänzlich im »Moyen Age.«5 Afrikaner hätten darüber hinaus ein defizitäres Geschichtsverständnis : »[…] ayant expulsé définitivement la notion de ‹processus› de leurs catégories discursives […].«6 Des Weiteren sei der Kontinent eine Art von »cul-de-sac, de terminus, de voie de garage où aucun espoir de mobilité ascendante n’est permis. Tout paraît y être voué à la dégradation, à la détérioration, à l’inertie.«7 Kabous Abhandlung, die seit ihrer erstmaligen Veröffentlichung nicht nur Kritik, sondern auch zahlreiche Fürsprecher gefunden hat, beruft sich auf ein Verständnis zeitlicher Normen, das aus einem unilinearen Entwicklungsmodell hervorgeht. In Letzterem operieren die zeitspezifischen Verhaltensweisen und Zeitkonzeptionen, zu der die europäische Gesellschaftsentwicklung geführt hat, als Entwicklungsideale.8 Zeit und die ›richtige‹ Ordnung der Zeit äußern sich in diesem Zusammenhang als zentrale Kriterien zur Auszeichnung kultureller Differenz. Die Angliederung an die aus der europäischen Gesellschaftsgeschichte hervorgegangene Weltzeitordnung bzw. die Anpassung an den mit dieser Ordnung ver3 4 5 6 7 8
Siehe dazu Diagne/Kimmerle 1998. Vgl. Kabou 1991: 24. Vgl. ebd.: 139. Hinsichtlich des laut Kabou defizitären und durch idealisierte Vorstellungswelten geprägten Geschichtsverständnisses siehe auch ebd.: 111. Vgl. ebd.: 98. Vgl. ebd.: 14. Kabous und Secks kontroverse Thesen sollen hier vorerst nicht weiter diskutiert werden. Die sich in ihren Worten spiegelnden Haltungen werden im Verlauf der vorliegenden Arbeit jedoch auf ihre kolonialen Ursprünge zurückgeführt und im Kontext zeitgenössischer kolonialer Erscheinungsformen diskutiert. Zu einer umfangreichen Diskussion von Zeitnormen im Rahmen gegenwärtiger Entwicklungstheorie und -politik siehe Diagne/Kimmerle 1998.
I. Einleitung
bundenen Umgang mit Zeit dient dabei als Indikator, mit dessen Hilfe menschliche Gesellschaften in verschiedene Grade der Ordnung und Ökonomisierung von Zeit unterschieden werden können. Vor allem die strikte alltägliche Orientierung an einer abstrakten und gleichförmig verlaufenden linearen zeitlichen Ordnung, die sich im jeweiligen gesellschaftlichen Umgang mit der Uhr – dem Signum der Weltzeitordnung – spiegelt, stellt dabei das entscheidende Differenzkriterium und zugleich das Entwicklungsideal dar: »Die Uhr war und ist nicht nur Voraussetzung und Mittel des zunächst typisch europäischen, dann allgemein industriegesellschaftlichen Umgangs mit der Alltagszeit; sie ist auch das Symbol für den Vorgang der europäischen Modernisierung bzw. für die Beschreibung der Erfahrung von Mentalitätsdifferenzen zwischen der alteuropäischen und der modernen Welt, zwischen den europäischen, nordamerikanischen und japanischen Gesellschaften und der sogenannten Dritten Welt. Umgang mit der Alltagszeit, Uhrenbesitz und Uhrenbenutzung sind Indikatoren von Modernität.«9 Die Erfolgsgeschichte der Uhr und der dadurch gewährleisteten gleichförmigen Zeitbemessung reicht bis zur ca. um 1300 erfolgten Erfindung der Räderuhr mit mechanischer Hemmung zurück.10 In der darauffolgenden europäischen Gesellschaftsentwicklung wurde Uhren zeitweise eine Bedeutung zugesprochen, die ihnen den Rang eines Modells für die Welt verlieh. Sie galten als Symbole der »göttlichen Ordnung«, welches das »Funktionieren der Welt nach festen Gesetzen« bzw. das »Funktionieren der Weltmaschine« repräsentierten und als herausragendes Zeugnis der »Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes« angesehen wurden.11 Gemeinsam mit dem sich seit der Kalenderreform von 1582 immer weiter ausbreitenden gregorianischen Kalender diente die durch Uhren verkündete mechanische Zeit als Grundlage für die Entwicklung des kulturellen Zeitbemessungssystems und der zeitlichen Ordnung in den europäischen Gesellschaften in Neuzeit und Moderne.12 Die überragende Bedeutung der Uhr für die europäische Gesellschaftsentwicklung führte den Historiker Lewis Mumford schon 1934 zu der berühmten Feststel-
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Dohrn-van Rossum (1995) zit. in Muri 2004: 79. Vgl. Jenzen 1989: 11-14; Drascek 2001: 395-396. Dazu auch Glasemann 1989: 219: »Die mechanische Hemmung ist die Erfindung, die die Entwicklung der Räderuhr in Gang gesetzt hat, sie zum Leitmotiv der technischen Entwicklung und zum Modell für die Welt machte. Sie machte die Uhr zu einer Maschine, die, unabhängig von äußeren Einflüssen und astronomischen Gegebenheiten, nur den Gesetzen der Physik folgend, den Ablauf der Zeit in gleichmäßige Stücke zerhackt.« Jenzen 1989: 99. Maurer 1997: 32-33.
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Weltzeit im Kolonialstaat
lung, dass nicht etwa die Dampfmaschine, sondern vielmehr die Uhr als wichtigste Maschine des Industriezeitalters anzusehen sei:13 »The first characteristic of modern machine civilization is its temporal regularity. The clock made possible a temporal environment that is spatial, quantitative, fast paced, efficient and predictable. It promoted a quantitative view of time which involved a definition of time as an entity which was segmented in various quantities of duration, and therefore was countable and measurable. A dial at hand translated the movement of time into movement through space. It made time into something divisible and concrete. It made it possible for people to schedule effectively and to measure periods of time with precision. By supplanting nature and God with clocks and watches, mechanical time replaced religious and natural authorities for dividing up the day.«14 Die durch Uhren gleichförmig bemessene Zeit, das mit dieser Verfahrensweise verbundene kulturelle Zeitbemessungssystem und die damit einhergehende gesellschaftliche Ordnung der Zeit gelangten jedoch erst nach Erreichen einer bis dahin unbekannten messtechnischen Präzision, die es ermöglichte, ein standardisiertes referentielles Zeitnormal festzulegen, zu weltumspannender Verbreitung. Neben der Erfindung immer präziserer Uhren wird daher die 1884 mit der Durchsetzung der Greenwich Mean Time erreichte Etablierung einer weltweit gültigen Referenzzeit als bedeutendstes Element der historischen Entwicklung der ›modernen‹ Zeitordnung angesehen: »The most momentous development in the history of uniform, public time since the invention of the mechanical clock in the fourteenth century was the introduction of standard time at the end of the nineteenth century.«15 Die sich wandelnde Bedeutung von Uhren und dem, was sie repräsentieren – eine in immer größerem Maße standardisierte und genormte Zeit –, ist ins Zentrum der wissenschaftlichen Untersuchung der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 200 Jahre gerückt. Zeitliche Standards entwickelten sich zu axiomatischen Elementen in kulturwissenschaftlichen Debatten der gesellschaftlichen Wand-
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Vgl. Mumford 1934: 14. Einige der Textpassagen im folgenden Kapitelabschnitt beruhen auf Ausführungen, die in veränderter Form bereits in einem anderen Zusammenhang veröffentlicht wurden. Siehe Sprute, Sebastian: U(h)reigene Zeiten. Grenzen der Implementierung von europäischen Zeitnormen in Senegal, 1890-1930, in: Katja Patzel-Mattern u. Albrecht Franz (Hg.): Der Faktor Zeit. Perspektiven kulturwissenschaftlicher Zeitforschung. Stuttgart 2015, S. 77-105. Ebd.: 269. Vgl. Kern 2003: 11.
I. Einleitung
lungsprozesse im Zuge von Industrialisierung und Globalisierung.16 Basierend auf einem Modell der »time-space compression«17 haben besonders gewagte Theorien in diesem Zusammenhang sogar die »Vernichtung des Raumes durch die Zeit« postuliert und diese Entwicklung »zum zentralen Kennzeichen […] [von] Globalisierungsprozessen stilisiert.«18 Die Standardisierung, Homogenisierung und Synchronisierung von Zeitordnungen und das damit zusammenhängende Phänomen der Erfahrung einer ›allumfassenden‹ gesellschaftlichen Beschleunigung19 sind heutzutage aus den Diskussionen um Industrialisierung und Globalisierung nicht mehr wegzudenken. Mit dem Ende des 19. Jh., in einer Epoche, die im Allgemeinen mit einem intensiven interkulturellen Austausch von Kulturelementen und der Entwicklung von weltweit verbindlichen Normierungen und Standards in Verbindung gebracht wird, wurde die Einführung der Weltzeitordnung auch Teil der kolonialen Anstrengungen in Afrika.20 Prozesse zu dieser Kolonisierung der Zeit traten hier interessanterweise in Koinzidenz zu Prozessen der Kolonisierung des Raumes, da im selben Jahr, in dem die Greenwich Mean Time zum Weltzeitnormal erkoren wurde, auch »der imperialistische ›Wettlauf um Afrika‹ mit der Berliner ›Kongo-Konferenz‹ seinen Höhepunkt erreichte.«21 Die Vereinheitlichung räumlicher und zeitlicher Referenzsysteme beförderte die kolonialen Projekte der europäischen Nationen und vereinfachte die Einverleibung der eroberten afrikanischen Territorien insgesamt. Die Ordnung der Zeit nach westlichem Vorbilde verbesserte dabei insbesondere die organisatorischen Koordinationsmöglichkeiten der Kolonialherrschaft und diente darüber hinaus als Mittel zur Steigerung der Effizienz von kolonialwirtschaftlichen Abläufen und transnationalen Handelsbeziehungen: »Die Einführung des Gregorianischen Kalenders, von christlichen Feiertagen, einem arbeitsfreien Sonntag sowie die Transition von lokalen Zeiten zur europäischen Leitzeit markierten das Bemühen der Kolonialherren, die Zeit unter ihre Kontrolle zu bringen. Die wachsende Verbreitung von Uhren und Kalendern sollte die Kolonisierten daran erinnern, daß die Zeit nicht mehr ihre eigene war. Die […] Versuche der Kolonialherren, in Afrika die Zeit in Ordnung zu bringen, [waren] oft nicht sehr erfolgreich […] und dennoch folgenreich […].«22
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Siehe dazu Howse 1997; Kern 2003; Landes 2000; Thompson 1973; Glennie/Thrift 1996, 2002, 2009. Vgl. Harvey 1989: 240ff., 267, 284ff., 305ff. Rosa 2005: 140. Siehe dazu ebd. Vgl. Eckert 2000: 61. Ebd.: 61. Ebd.: 61-62.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Stellte sich die Durchsetzung der Weltzeitordnung in den europäischen Gesellschaften vornehmlich als Problematik dar, die sich um die Frage drehte, welche der führenden europäischen Nationen das Prestige zugesprochen bekommen würde, den eigenen nationalen Meridian zum weltweit anerkannten Leitmeridian zu erheben23 , so gestaltete sich die Einführung der Weltzeitordnung in den afrikanischen Kolonialterritorien und die Einbindung der lokalen Bevölkerung ins System der Weltzeitzonen als weitaus anspruchsvollere Aufgabe. Der Prozess der Standardisierung der Zeit orientierte sich dabei auch im kolonialen Kontext grundsätzlich am Beispiel der Entwicklungen in den europäischen Gesellschaften, verlief dabei im Allgemeinen jedoch nicht gradlinig, kontinuierlich und widerstandslos, sondern stellte sich vielmehr als sehr konfliktreich heraus. Die Probleme waren überaus vielfältig, vor allem, da die Weltzeitordnung und das ihr zugrundeliegende europäische Zeitbemessungssystem hier auf lokale Bevölkerungen traf, deren Gesellschaftsentwicklung bisher einen weitgehend anderen Verlauf genommen hatte und daher auch in zeitspezifischer Hinsicht gänzlich andere Prämissen verfolgte als diejenigen, die nun im Zuge der europäischen Fremdherrschaft etabliert werden sollten. In den westafrikanischen Kolonialterritorien der Franzosen sah sich die im Kolonialstaat für zeitliche Verordnungen zuständige Instanz der Kolonialadministration – ein schwerfälliger und ineffizienter Apparat – dabei mit einem sehr heterogenen Geflecht von unterschiedlichen ›ethnisch‹, sozialhistorisch, politisch und territorial definierten Einheiten konfrontiert, welche generell nur schwer in standardisierte bürokratische Abläufe einzubinden waren24 und eigenständige Zeitkonzeptionen und Zeitordnungssysteme verfolgten.25 Trotz der in vielerlei Hinsicht definitiv bestehenden Überlegenheit der europäischen Kolonisatoren zeigten sich die die Maßnahmen zur Standardisierung der Zeit begleitenden kulturellen Interaktionen über Temporalität daher nicht einseitig durch die Kolonialherren definiert, sondern vielmehr als durch »häufig gewollte ›strategische‹ Mißverständnisse«26 gekennzeichnete Aushandlungsprozesse. Letztere eröffneten allen Beteiligten Möglichkeiten, politische, soziale und ökonomische Interessen zu verwirklichen: »Auf Seiten der Kolonialherren fügte sich die Strategie in ein übergeordnetes Konzept, das bestimmte Maßstäbe für Modernität, Fortschritt und Zivilisation wie eben Pünktlichkeit und eine spezifische Zeitordnung setzt und dann konstatieren kann, daß die Afrikaner noch lange nicht diesen Stand der Zivilisation erreichen werden. Auf Seiten der Afrikaner ermöglicht das Beharren auf bestimmten, von
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Siehe dazu im folgenden Kapitel III.1.1. Vgl. Spittler 1981: 107. Siehe dazu im Folgenden. Eckert 2000: 63.
I. Einleitung
kolonialer Seite als ›traditionell‹ und ›rückständig‹ charakterisierten Zeitvorstellungen die Möglichkeit Handlungsspielräume zu erweitern und eigene Interessen zu verfolgen. Wurden Taktiken der Verweigerung kolonialer Ansprüche durch die Übernahme kolonialer Stereotype auch oft nicht als solche erkannt, war den Kolonialherren der Widerspruch zwischen zugeschriebener Rückständigkeit und geforderter Anpassung durchaus bewußt.«27 Auch ohne sich mit diesen wenig fruchtbaren und kaum zielführenden zeitspezifischen Aushandlungsprozessen der kolonialen Situation auseinandersetzen, erscheint es angesichts der im Kontext des Eingangszitates grobmaschig konturierten gegenwärtigen Situation in vielen afrikanischen Gesellschaften aus heutiger Perspektive offenkundig, dass das koloniale ›Zeit-Projekt‹ gescheitert ist. Unter den Bedingungen kolonialer Herrschaft ist es zu keiner umfassenderen Transformation des lokalen gesellschaftlichen Raum-Zeit-Gefüges nach europäischem Vorbild gekommen und koloniale Zeitregimes konnten sich vielmehr immer nur partiell durchsetzen. Nach dem Ende der Kolonialzeit gingen viele afrikanische Gesellschaften wieder zu einem selbstbestimmten Umgang mit der Zeit über, der die zuvor eingeführten europäischen Zeit- und Ordnungsvorstellungen zwar nicht gänzlich verwarf, jedoch vielerorts größtenteils zur Makulatur verkommen ließ. Im gegenwärtigen Senegal werden von offizieller Seite so z.B. ein gregorianisches Kalendermodell und eine christliche Arbeitswoche verfolgt. Letzteres findet in der zu 94 % muslimischen Bevölkerung28 jedoch nur bedingt Widerhall, da deren alltägliche gesellschaftliche Lebenswelt vor allem durch zeitliche Ordnungsstrukturen geprägt ist, die der muslimischen Glaubenslehre entspringen. Die staatliche Orientierung an den Zeit- und Ordnungsvorstellungen, die durch die Weltzeitordnung vorgegeben werden, wirkt auf den Betrachter entsprechend wie eine leere ›Zeithülle‹, die auf lokaler Ebene durch eigene zeitspezifische Inhalte gefüllt und vertreten wird. Aber auch wenn in afrikanischen Gesellschaften heutzutage oftmals eigenständige zeitliche Orientierungen verfolgt werden, es offensichtlich erscheint, dass Gewaltherrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung generell keine optimalen Voraussetzungen für erfolgreiche Kulturtransfers darstellen, das koloniale ›Zeit-Projekt‹ insofern durch eine heute kaum mehr verständliche Hybris geprägt war und strategisches gegenseitiges Missverstehen in diesem Zusammenhang eine gewichtige Rolle spielte, sind die genauen Umstände der Implementierung der Weltzeitordnung und die Gründe für das Scheitern kolonialer Zeitregimes in Afrika aus wissenschaftlicher Perspektive dennoch größtenteils unerforscht geblieben.
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Ebd.: 64. Horwath 2006: 606.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Prozesse zur Standardisierung und Kolonisierung der Zeit in afrikanischen Gesellschaften stellen zwar einen großen, bisher jedoch nur allzu marginal erforschten Bereich dar. Ein Umstand, der jedoch nicht weiter verwunderlich ist angesichts der Tatsache, dass selbst die eingangs zitierte These Mumfords über die zentrale Bedeutung der Uhr für das Industriezeitalter aus wissenschaftlicher Perspektive bisher weitgehend unqualifiziert geblieben ist.29 Die Thematik der Zeit ist dabei in den Kulturwissenschaften auch im Generellen über lange Zeit größtenteils unbeachtet geblieben. Selbst in den Geschichtswissenschaften – sicherlich eine der wissenschaftlichen Fachdisziplinen, die der Untersuchung von Temporalität besonders verpflichtet ist – hat die Untersuchungsebene der soziokulturellen Relevanz von Zeit bislang mehrheitlich nur periphere Berücksichtigung gefunden und wurde selten als eigenständiger Untersuchungsgegenstand analysiert.30 In den Kulturund Geisteswissenschaften zeichnet sich jedoch auch darüber hinaus erst seit Beginn der 1990er Jahre eine intensivierte Auseinandersetzung mit der Thematik ab, im Zuge derer über Studien zur Zeitbudgetforschung sowie ordnungs- und systemtheoretischen Betrachtungen von Zeit hinaus zahlreiche weitere Forschungsfelder und Problemstellungen erarbeitet werden konnten, die die soziokulturellen Dimensionen zeitlicher Phänomene diskutieren.31 In der heutigen Zeit widmet sich nun jede Fachdisziplin der Auseinandersetzung mit Zeit oder Aspekten von Zeit32 , wobei die Debatten in zunehmendem Maße auf interdisziplinärer Ebene geführt werden.33 Trotz dieser intensivierten Auseinandersetzung gründet sich die Erforschung der Entstehung und Entwicklung von neuen Zeitordnungen im Kontext von Industrialisierung und Globalisierung jedoch noch immer auf nur einige wenige zentrale Werke.34 Untersuchungen darüber, wie sich die Einführung dieser innerhalb Europas konstituierten Zeitordnungen in außereuropäischen Gesellschaften gestaltete, sind noch weitaus seltener. Die Diskussion des Scheiterns kolonialer Zeitregimes in afrikanischen Gesellschaften und der Grenzen ihrer Implementierung kann sich daher bisher auf nur wenige Perspektiven stützen. Während der Kolonialperiode war der Themenbereich der soziokulturellen Zeit in afrikanischen Gesellschaften dabei in erster Linie durch stereotype Betrach29 30 31 32 33 34
Vgl. Whipp 1987: 213. Vgl. ebd.: 210, 213. Vgl. Muri 2004: 21-23. Eine Übersicht über die zahlreichen unterschiedlichen Herangehensweisen in den Kulturund Geisteswissenschaften bietet Munn 1992. Vgl. Muri 2004: 22. Einen Überblick über die Veränderung der gesellschaftlichen Zeitordnung im Zuge dieser Prozesse bietet: Kern 2003. Hinsichtlich der technologiegeschichtlichen Aspekte der Entwicklungen siehe Landes 2000; Howse 1997. Theoretische Auseinandersetzungen mit der Entwicklung von Zeitordnungen im Kontext der Industrialisierung bieten hingegen Thompson 1973; Whipp 1987; Glennie/Thrift 1996, 2002, 2009.
I. Einleitung
tungsweisen – wie der, die in der geflügelten Phrase vom ›Faulen Neger‹ Ausdruck findet – geprägt. Diesen vor allem populärkulturellen Vorstellungswelten standen auf wissenschaftlicher Seite empirisch ebensowenig belastbare Theorienbildungen gegenüber. Die in den Reihen der Kolonialherren zur Standardlektüre zu zählenden Schriften des einflussreichen französischen Intellektuellen Lucien Lévy-Bruhl und die darin vermittelten Überlegungen zur defizitären Zeitlichkeit afrikanischer Gesellschaften können in letztgenannter Hinsicht als repräsentativ angesehen werden.35 In Lévy-Bruhls Werk La mentalité primitive aus dem Jahre 1922 heißt es entsprechend: »Mais nous savons que le temps n’est pas représenté dans leur esprit tout à fait comme dans le nôtre. Ils ne voient pas s’étendre indéfiniment devant leur imagination cette sorte de ligne droite, toujours semblable à elle-même, sur laquelle se situeront les événements, où la prévision peut les ranger d’avance en une série unilinéaire et irréversible, où ils se disposent nécessairement les uns après les autres. Le temps n’est pas pour le primitif, comme il l’est pour nous, une sorte d’intuition intellectualisée, un ›ordre de successions‹.«36 Mit seinem für die Wissenschaft der Kolonialperiode typischen Postulat, demzufolge nicht nur afrikanischen, sondern letztlich auch allen anderen aus europäischer Perspektive als ›primitiv‹ wahrgenommenen Gesellschaften eine intellektuelle Unfähigkeit zu umfassenderem Denken in rationalen zeitlichen Dimensionen unterstellt wurde, griff Lévy-Bruhl jedoch lediglich eine Idee auf, deren Ursprung auf die Gedankengänge des deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückzuführen ist und von diesem bereits zu Beginn des 19. Jh. in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte geäußert wurde:37 »Was wir eigentlich unter Afrika verstehen, das ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist.«38 Lucien Lévy-Bruhls Überlegungen überführten Hegels Vorstellung vom defizitären Zeitverständnis afrikanischer Gesellschaften und ihrer Geschichtslosigkeit insofern in die wissenschaftliche Debatte des 20. Jh. Wie Wirz diesbezüglich anmerkt, kennzeichnen die sich bereits in Hegels Äußerungen manifestierenden
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Zur Bedeutung der Werke Lucien Lévy-Bruhls für die koloniale Praxis siehe im folgenden Kapitel II.3.2. Lévy-Bruhl 1922: 126. In den Schlussfolgerungen seines Werkes wird diese intellektuelle Unfähigkeit der ›primitiven‹ afrikanischen Bevölkerungen von Lévy-Bruhl noch einmal betont, wenn er feststellt: »La représentation du temps, surtout qualitative, reste vague: presque toutes les langues primitives sont aussi pauvres en moyens de rendre les rapports de temps que riches pour exprimer les relations spatiales.« (Vgl. ebd.: 520) Vgl. Wirz 1983: 100. Hegel (1837) zit. in Wirz 1983: 100.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Denkmuster ein eingängiges »Konstrukt«39 , das die wissenschaftliche Beschäftigung mit Afrika nicht nur über die Kolonialperiode hinweg, sondern auch noch darüber hinaus zu prägen vermochte.40 Dass unter gegebenen Bedingungen weder angemessene Auseinandersetzungen mit den Grenzen der Implementierung europäischer Zeitregimes in Afrika geführt werden konnten, noch fundierte Aussagen über die Konstitution der Zeit in afrikanischen Gesellschaften entstanden sind und letztendlich immer die zeitspezifischen Unzulänglichkeiten der ›Anderen‹ hinsichtlich eines in Europa formulierten Maßstabes im Vordergrund standen, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Ein veränderter Blick auf die Zeit in afrikanischen Gesellschaften begann sich letztendlich dennoch bereits innerhalb der Kolonialperiode auszubilden. Die bereits 1940 erschienene Studie The Nuer: A Description of the Modes of Livelihood and Political Institutions of a Nilotic People von Edward E. Evans-Pritchard, in der sich dieser erstmals dezidiert und methodisch mit der Zeitlichkeit lokaler Gesellschaften auseinandersetzte, stellte angesichts des damals vorherrschenden wissenschaftlichen Kanons eine Ausnahme dar. Evans-Pritchards Werk wird daher auch als Ausgangspunkt einer fundierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der soziokulturellen Zeit in afrikanischen Gesellschaften angesehen. Paul Bohannans Studie Concepts of Time among the Tiv of Nigeria aus dem Jahre 1953 kann als weiteres Beispiel für eine frühe wissenschaftliche Auseinandersetzung genannt werden, die den lokalen Gesellschaften erstmals ein eigenständiges und elaboriertes Zeitverständnis attestierte.41 Trotz ihrer in vielerlei Hinsicht bahnbrechenden Studien blieben Evans-Pritchard wie auch Bohannan weiterhin in der These von einem defizitären historischen Geschichtsbewusstsein innerhalb der lokalen Gesellschaften verhaftet.42 Wie bereits durch die Äußerungen von Wirz hinsichtlich des Fortbestehens des Gedankens der Geschichtslosigkeit afrikanischer Gesellschaften angedeutet, prägen durch die koloniale Ethnologie formulierte Perspektiven auf die Zeit afrikanischer Gesellschaften die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit denselben bis in die heutige Zeit hinein.43 Ein Umstand, an dem auch die intensivierte Erforschung der Zeitkonzeptionen afrikanischer Gesellschaften im Anschluss an die Kolonialperiode nur wenig geändert hat. Innerhalb des nach wie vor sehr kleinen Korpus an Studien zum Themenbereich finden sich daher weiterhin zahlreiche Arbeiten, die in stereotypen Betrachtungsweisen verhaftet sind und sich in erster Linie durch »misconceptions, generalities, and vagaries« auszeichnen.44 39 40 41 42 43 44
Wirz 1983: 101. Vgl. ebd. Vgl. Adjaye 1994: 4. Vgl. ebd.: 5. Vgl. Diaw 1998: 227; Ngoma-Binda 1998: 103, 107, 111. Vgl. Adjaye 1994: 8.
I. Einleitung
Neben der Vorstellung von Geschichtslosigkeit finden entsprechend auch zahlreiche andere Zuschreibungen Anwendung, die afrikanische Gesellschaften mit Begriffen zeitspezifischer Mängel zu belegen suchen bzw. eine in vielerlei Hinsicht durch zeitspezifische Rückständigkeit geprägte Repräsentation afrikanischer Gesellschaften vornehmen und suggerieren, dass diese gewissermaßen aus der global dominanten Ordnung der Zeit herausfielen.45 Aus einer evolutionistischen Perspektive getätigte Ratschläge und Lösungsansätze, die, ähnlich des eingangs erwähnten Pamphletes von Kabou, zur Notwendigkeit einer »requalification effective du temps«46 nach europäischem Maßstab aufrufen, erweisen sich darüber hinaus als ebenso persistente Faktoren der Debatte um die Ordnung der Zeit in afrikanischen Gesellschaften. Die im Anschluss an die Kolonialperiode entstandenen Studien über die Zeit afrikanischer Gesellschaften gründen sich dabei prinzipiell in einer Vielzahl von Fachdisziplinen und Forschungsthematiken (darunter bspw. sprachwissenschaftliche, ordnungstheoretische, alltagskulturelle, entwicklungspolitische, philosophische sowie religions-, wirtschafts- und sozialethnologische Betrachtungen)47 und 45
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Vgl. Diaw 1998: 225-227; Hoffmann 1998: 307; Ngoma-Binda 1998: 103, 107, 111. Kulturelle Differenzen werden in diesem Zusammenhang zumeist als Konsequenz einer grundsätzlichen Unterschiedenheit von ›afrikanischen‹ und ›europäischen‹ Zeitkonzeptionen dargestellt und in einem korrespondierenden System von essentiellen Dichotomien repräsentiert. Zeitspezifische ›Kulturmerkmale‹ finden dabei bspw. in binären Oppositionen wie alt/neu, traditionell/modern, statisch/dynamisch oder zyklisch/linear Ausdruck. Die Grundgedanken dieser dichotomen Auffassung werden auf idealtypische Art und Weise in der von Lévi-Strauss entwickelten dualistischen Theorie von den ›warmen‹ und den ›kalten‹ Gesellschaften verkörpert. Lévi-Strauss stellt darin den ›warmen‹ und geschichtlichen Gesellschaften die ›kalten‹, auf den Mythos konzentrierten und geschichtslosen Gesellschaften gegenüber, welche das historische Werden leugnen und stattdessen eher zyklisch strukturiert sind. (Vgl. 1972: 33f.) Auch wenn diese Theorie nicht explizit auf afrikanische Gesellschaften bezogen ist, so beansprucht sie doch, generalisierende Aussagen über sogenannte ›primitive‹ Gesellschaften an sich zu tätigen. Und trotz vielfältiger theoretischer Neu- und Weiterentwicklungen finden sich noch in sehr differenzierten kulturwissenschaftlichen Studien neueren Datums nach wie vor Ansätze, die diese dichotomische Sichtweise reproduzieren. Vgl. Mbolokala 1998: 296. Zu analogen Argumentationen hinsichtlich der angesichts der zeitspezifischen Misere zu ergreifenden Maßnahmen siehe auch die Beiträge im Sammelband von Diagne/Kimmerle 1998. In regionalspezifisch auf Westafrika bezogener Hinsicht können neben einigen der Beiträge in den Sammelbänden von Adjaye 1994 und Diagne/Kimmerle 1998 u.a. folgende empirische Zeit-Studien angeführt werden: Augé, Marc u. Etienne, Pierre et al.: Temps et développement: quatre sociétés en Côte d’Ivoire, in: Cahiers ORSTOM, Série Science humaines, Bd. 5 (3 – 1968); Ayoade, J.A.A.: Time in Yoruba Thought, in: R.A. Wright (Hg.): African Philosophy. An Introduction. Washington, DC 1979, S. 71-90; Bonté, Pierre u. Echard, Nichole : Histoire et Histoires. Conception du passé chez les Haussa et les Twareg Kel Gress de l’Ader (République du Niger), in : Cahiers d’études africaines, Bd. XVI (61/62 – 1976); Erny, Pierre : La perception de l’espace et du temps dans l’Afrique Noire, Revue de Psychologie des peuples, Bd. 1 (1970), S. 66-
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Weltzeit im Kolonialstaat
lassen sich hinsichtlich der zum Tragen kommenden Forschungsansätze und Themenbereiche nur schwer innerhalb eines einheitlichen Schemas zusammenführen. Der breite und inhaltlich bisweilen sehr spezifische Charakter der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Zeit in afrikanischen Gesellschaften kann anhand zweier herausragender neuerer Studien zum Themenbereich verdeutlicht werden. So diskutiert Ivor Wilks in seiner 1992 erschienenen Studie On mentally mapping Greater Asante: A Study of Time and Motion bspw. die anhand von anthropometrischen Geschwindigkeitsmessungen vorgenommene gesellschaftliche Ordnung der Zeit im präkolonialen Königreich der Asante in Ghana. Heike Behrend hingegen widmet sich in ihrer Arbeit Die Zeit geht krumme Wege. Raum, Zeit und Ritual bei den Tugen in Kenia aus dem Jahre 1987 u.a. der Untersuchung einer überlieferten Form der gesellschaftlichen Ordnung der Zeit, die primär über die Zugehörigkeit zu bestimmten Altersklassen sowie damit verbundenen sozialen Identitäten, Rechten und Pflichten realisiert wird. Ein zeitgenössischer und fundierter Versuch zur Systematisierung und Kategorisierung der verschiedenen Forschungsansätze zum Themenbereich findet sich in dem 1994 erschienenen Sammelband Time in the Black Experience von Joseph K. Adjaye.48 Letzterer gesteht dabei jedoch auch selbst ein, dass die von ihm vorgeschlagene Systematisierung nur experimentellen Charakter aufweist und sich in weitgehend idealtypischen Einteilungen ergeht.49
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74; Etienne, Pierre : L’individu et le temps chez les Baoulé, in : Cahiers d’études africaines, Bd. XIII (52 – 1973), S. 631-648; Guerry, Vincent : La vie quotidienne dans un village baoulé, Abidjan 1970; Gyekye, Kwame : An essay on African Philosophical Thought. The Akan Conceptual Scheme. Cambridge 1987; Lovell, Nadia: Locality and Belonging, London u.a. 1998; McCaskie, Tom: Time and the Calendar in Nineteenth Century Asante: An Exploratory Essay, in: History in Africa, Bd. 7 (1980), S. 179-200; Niangoran-Bouah, Georges: La division du temps et le calendrier rituel des peuples lagunaires de Côte d’Ivoire. Paris 1964; N’Sougan Agblemagnon, F. : Du temps dans la culture Ewe, in : Présence Africaine, Bd. 14/15 (1957), S. 222-232; Thomas, Louis-V. u. Saphir, David : Le Diola et le temps, in : Bulletin de l’IFAN, Série B : Sciences Humaines, Bd. XXIX (1967), S. 331-423; Wilks, Igor: On mentally mapping Greater Asante: A study of time and motion, in: Journal of African History, Bd. 33 (1992), S. 175-190. Ein weiterer sehr gehaltvoller Überblick über verschiedene Perspektiven auf die Ordnung der Zeit mit einer Reihe von Beispielen aus unterschiedlichen Gesellschaften des afrikanischen Kontinents, jedoch ohne den Anspruch zur Systematisierung und Klassifizierung derselben, findet sich im Sammelband von Diagne/Kimmerle 1998. Adjaye entwirft ein dreiteiliges Schema der Klassifizierung von wissenschaftlichen Ansätzen, die sich der Untersuchung der Zeit in afrikanischen Gesellschaften verschrieben haben. Erstens Studien, deren Fokus auf der Betrachtung von Zeit hinsichtlich ihrer sozialanthropologisch und kulturellen Implikationen liegt, zweitens Arbeiten, die sich vielmehr der Analyse der sozialen und politischen Implikationen widmen und drittens Werke, die ihr Hauptaugenmerk philosophischen und/oder theologischen Dimensionen von Zeit widmen. (Vgl. Adjaye 1994: 5-7) Der wohl bekannteste, jedoch wenig fundierte und stark kritisierte Versuch zu einer umfassenden Klassifizierung der Zeit in afrikanischen Gesellschaften wurde von John
I. Einleitung
Trotz seines insgesamt nur geringen Umfanges ist das Spektrum der kulturund geisteswissenschaftlichen Untersuchung von Zeit in afrikanischen Gesellschaften dennoch durch eine breite methodische und thematische Fächerung gekennzeichnet und beinhaltet unterschiedlichste Forschungsansätze und –inhalte, die eine Vielzahl von Aspekten oder aber auch nur Teilaspekten der zeitlichen Phänomene und Dimensionen afrikanischer Gesellschaften diskutieren. Die Übersicht über den Themenbereich wird darüber hinaus dadurch erschwert, dass sich die relevanten Fallstudien über alle Regionen des Kontinents sowie auch über verschiedene Epochen verteilen und auch in dieser Hinsicht nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen.50 Umfassendere oder vergleichende Betrachtungen sind angesichts dieser Umstände nur schwer zu realisieren.51 Die sich in den bisherigen Erläuterungen abzeichnende vermeintliche Mannigfaltigkeit der gegenwärtigen Untersuchung von Zeit in afrikanischen Gesellschaften darf entsprechend nicht über den fragmentarischen Charakter jedweder diesbezüglicher Daten und darüber, wie wenig zu diesem Themenbereich bisher geforscht wurde, hinwegtäuschen.52 Die vorliegende Arbeit zur Implementierung kolonialer Zeitregimes in Afrika kann letztlich in den Kontext einiger weniger Studien gegliedert werden, die sich in erster Linie der historischen Untersuchung des Aufeinandertreffens von europäischen und afrikanischen Zeitkonzeptionen im Rahmen kolonialer Herrschaft verschrieben haben. Anders als im Falle der Mehrzahl der in diesem Sinne bisher erstellten Studien, steht in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht der im Rahmen von Arbeitsprozessen geleistete Widerstand gegen die Durchsetzung europäischer
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S. Mbiti in seinem Werk: African Religions and Philosophy bereits im Jahre 1969 unternommen. Das in zeitspezifischer Hinsicht weitreichendste Postulat Mbitis besteht dabei darin, auf wenig fundierte Art und Weise zu konstatieren, dass »[t]he linear concept of time in western thought, with an indefinite past, present and indefinite future, is practically foreign to African thinking.« (Mbiti 1969: 17). Eine gute und umfassende Kritik Mbitis findet sich bspw. bei Gyekye, Kwame: An Essay on African Philosophical Thought: The Akan Conceptual Scheme. Cambridge 1987. Adjaye erweitert diese Vielfalt noch darüber hinaus, indem er erstmals auch Zeiten von afrikanischen Gemeinschaften in der Diaspora in die Debatte über die Zeit afrikanischer Gesellschaften miteinzubeziehen sucht. Wobei an dieser Stelle keineswegs für die Erarbeitung einer ›universellen afrikanischen Zeitkonzeption‹ argumentiert werden soll. Der Themenbereich der Zeit in afrikanischen Gesellschaften sollte vielmehr in sinnvoller und angemessener Weise differenziert werden, denn, wie Adjaye es formuliert: »[M]onolithic constructions of time cannot be depicted for all of Africa in view of the enormous range of diversity that exists in thought and belief systems, political structures, economic systems, and language forms that undoubtedly influence and shape the development of temporal perceptions and demarcations, even though some degree of congruence may be found among some systems.« (1994: 8) Vgl. Adjaye 1994: 7.
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Zeit- und Ordnungsvorstellungen bzw. die diesbezügliche African Agency im Zentrum der zeitspezifischen Betrachtungen.53 Der in den angesprochenen Studien umgesetzte Fokus auf die Seite der Kolonisierten verdient zwar grundsätzlich große Anerkennung, da diesbezüglich immer noch Nachholbedarf besteht und die im Verlauf der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung grundsätzlich nur wenig beachteten lokalen Perspektiven auf Zeit und Zeitordnungen so immer deutlicher herausgestellt werden konnten. Es sollte dennoch nicht unbeachtet bleiben, dass die für die Analyse des Aufeinandertreffens von Zeitordnungen in der kolonialen Situation, aber auch für alle weitergehenden zeitspezifischen Entwicklungen, Interaktionen und Transformationsprozesse vor Ort bedeutsame Konstitution der durch die Europäer in die afrikanischen Gesellschaften hineingetragenen Zeitordnungen bislang ebenfalls größtenteils unbestimmt und vage geblieben ist. Die für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit lokalen Zeitordnungen als Maßstab und als Reflexionsebene dienende importierte Zeitordnung, welche vermittels des ihr zugrundeliegenden Zeitbemessungssystems, aber auch durch ihre Repräsentation als abstrakte Weltzeitordnung einen vermeintlich objektiven, absoluten und gleichförmigen Charakter aufweist, zeigt sich hier entsprechend als unsichtbare und unhinterfragte Norm.54
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Zu einer eher generellen Auseinandersetzung mit der Implementierung von europäischen Zeitnormen im Kontext von kolonialer Herrschaft in Afrika siehe Eckert 2000; Spittler 1981; Trotha 1994; Loimeier 2007, 2012. Zur African Agency und Widerständigkeit gegenüber der Einführung europäischer Zeitnormen im Kontext kolonialer Arbeitsprozesse siehe Austin, Gareth: Labour, Land and Capital in Ghana. From Slavery to Free Labour in Asante, Rochester 2005; Atkins, Keletso E.: The moon is dead! Give us our money! The cultural origins of an African work ethic 1843-1900, Portsmouth 1993; Brown, Carolin: We were all slaves: African miners, culture, and resistance at the Enugu government colliery, Portsmouth 2003; Cooper, Frederick: On the African waterfront. Urban disorder and the transformation of work in colonial Mombasa, New Haven u.a. 1987; Martin, Phyllis M.: Leisure and society in colonial Brazzaville, Cambridge 2002. Die Vorstellung, dass die Zeit einen absoluten, gleichmäßigen und linearen Charakter hat, erfreut sich bis in die heutige Zeit hinein einer weiten Verbreitung. Sie basiert auf den Gedankengängen Isaac Newtons, der bereits im Jahre 1687 definierte: »Absolute, true, and mathematical time, of itself, and from its own nature, flows equally without relation to anything external“ (Newton (1687) zit. in Kern 2003:11). Dieser naturwissenschaftlich definierte Zeitbegriff wurde zu Beginn des 20. Jh. durch ein auf den Theorien Einsteins beruhendes Verständnis der Relativität von Zeit abgelöst: »Vom 17. bis 19. Jahrhundert ging die klassische Physik Newtons noch von einer absoluten Zeit des Universums aus, auf die alle Uhren im Prinzip mit absoluter Gleichzeitigkeit eingestellt werden könnten. […] Nach Einstein gibt es jedoch nur die relative Eigenzeit der physikalischen Bezugssysteme, für die wegen der Endlichkeit jeder Signalübertragung keine absolute Gleichzeitigkeit bestimmt werden kann. Die Annahme einer universalen Zeit erweist sich als Illusion.« (Mainzer 2002: 121; vgl. Kern 2003: 19). Trotz seiner Revidierung wird das durch den auf Newton zurückzuführenden Zeitbegriff etablierte Verständnis absoluter Zeit auf soziokultureller Ebene vor allem durch das
I. Einleitung
Dass auch die Weltzeitordnung eine soziokulturelle Konstruktion darstellt, die vielmehr immer heterogene Züge trägt, im konkreten historischen Verwendungskontext eine jeweils situationsspezifische Form annahm und insofern nur in Abhängigkeit von den sie propagierenden und vertretenden Akteuren in die Untersuchung mit einbezogen werden sollte, wird angesichts ihrer scheinbar unbestreitbaren Objektivität jedoch zumeist nicht angemessen berücksichtigt. Die zeitspezifischen Orientierungen, Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der eigentlich normsetzenden europäischen Subjekte blieben somit bisher weitgehend unerforscht. Vor diesem Hintergrund versucht die vorliegende Arbeit, das bestehende Forschungsdefizit etwas weiter zu schließen und einen Beitrag zur Untersuchung der Implementierung der Weltzeitordnung und der Kolonisierung der Zeit in afrikanischen Gesellschaften zu leisten. Die Analyse widmet sich dabei den diesbezüglichen Entwicklungen in Senegal, der ältesten französischen Kolonie vor Ort, und konzentriert sich auf die Periode zwischen 1890 und 1920. In diesem, in einer frühen Hochphase in der Vernetzung der Welt situierten Zeitabschnitt, der unmittelbar an die Durchsetzung des Weltzeitnormals der GMT und die Etablierung des Weltzeitzonensystems im Jahre 1884 anschließt, ist eine generelle Zunahme der Entwicklung von weltweit verbindlichen Normen und Standards zu konstatieren, die auch das koloniale Senegal erfasste. Die gewählte Untersuchungsperiode fällt hier zudem mit dem ungefähren Beginn der administrativen Erschließung der überwiegenden Mehrheit der Territorien der Kolonie zusammen und stellt somit einen idealen Ausgangspunkt für die Untersuchung der Implementierung der Weltzeitordnung und der Kolonisierung von Zeit im Rahmen von Prozessen der kolonialen Staatsbildung dar. Da sich einige der diesbezüglich relevanten Entwicklungen jedoch über die Grenzen des gewählten Zeitabschnittes hinaus erstrecken, wird im entsprechenden Falle in zeitlicher Hinsicht auch vor- und zurückgegriffen, um die jeweiligen Themenbereiche in angemessener Weise erläutern zu können. In Ergänzung zum Bestand an bereits existierenden Studien zum Themenbereich widmet sich die vorliegende Arbeit vornehmlich der Auseinandersetzung mit den in der kolonialen Situation normsetzenden europäischen Kolonialherren. Die von ihnen implementierten zeitspezifischen Ordnungspolitiken und das dabei verwirklichte Maß an zeitlicher Standardisierung und Präzision, aber auch die zeit-
im 19. Jh. auf globalem Niveau etablierte Zeitbemessungssystem, bestehend aus astronomisch berechneter Zeit, Weltzeitnormal, Uhren und gregorianischem Kalender und die darin begründete Weltzeitordnung weiterhin befördert. Die in diesem System integrierten zeitlichen Abstimmungs- und Synchronisationsmechanismen (bspw. Zonenzeiten und Schaltjahr) ermöglichen die Wiedergabe einer gesellschaftlichen Zeit, die scheinbar gleichförmig und unveränderlich vor sich hin läuft.
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spezifischen Orientierungen und Handlungspraxen der kolonialen Akteure selbst und deren Normkonformität, d.h. der Grad, in dem sie sich selbst an ihre zeitlichen Vorgaben hielten und die Bedeutung dessen für die Prozesse der Kolonisierung der Zeit und auch die Grenzen der Implementierung der Weltzeitordnung, stehen hier als zentrale Untersuchungsebene im Fokus der Betrachtungen. Im Folgenden wird demnach die primäre Zielsetzung verfolgt, die im Anschluss an die einseitige koloniale Betrachtungsweise und eine zeitweise wissenschaftliche Missachtung zu Recht prädominant verfolgte Perspektive auf die Kolonisierten gewissermaßen umzukehren und den Umgang der europäischen Kolonialherren mit den von ihnen propagierten Zeitnormen zu untersuchen, d.h. in erster Linie zu hinterfragen, wie standardisiert die implementierten Zeitordnungen tatsächlich waren und inwiefern sich die europäischen Kolonialbeamten selbst an den von ihnen eingeführten Zeitordnungen orientierten. Diese Herangehensweise dient vornehmlich dazu, eine solide Darstellung der Grundlagen der Implementierung der Weltzeitordnung in der kolonialen Situation zu erarbeiten, auf Basis dessen sollen dann aber auch weiterführende Aussagen über den Transfer und die Rezeption der Weltzeitordnung auf Seiten der lokalen afrikanischen Gesellschaften ermöglicht werden. Die mit der eben erläuterten primären Zielsetzung korrespondierenden zentralen Fragestellungen, die in der vorliegenden Arbeit verfolgt werden sollen, orientieren sich an theoretischen Betrachtungen des Untersuchungsgegenstandes der soziokulturellen Zeit, die aus der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Durchsetzung von neuen Zeitordnungen im Zuge der jüngeren europäischen Gesellschaftsentwicklung hervorgegangen sind. Sie werden im Folgenden in den Kontext eines ausgewählten Kanons an diesbezüglichen zeittheoretischen Betrachtungen gestellt und im Zusammenhang mit der angewandten Untersuchungsmethodik eingehender erläutert.
2. Zeit als Gegenstand der Kulturwissenschaften Die für die Bearbeitung des komplexen Themenbereiches der vorliegenden Arbeit herangezogene Untersuchungsmethodik orientiert sich an einem Kanon theoretischer Grundlagen, der sich für die kulturwissenschaftliche Analyse der Entstehung des ›modernen‹ Umgangs mit der Zeit und die Durchsetzung der Weltzeitordnung in europäischen Gesellschaften als richtungsweisend erwiesen hat. Der kulturwissenschaftlichen Erforschung zeitspezifischer Phänomene wurde, wie erwähnt, jedoch erst in jüngerer Zeit größere Beachtung geschenkt, weshalb sie zumeist auch noch nicht als eigenständiger Forschungsbereich angesehen wird. Trotz einiger richtungsweisender und disziplinenübergreifend anerkannter Werke zeigt sich die kulturwissenschaftliche Zeitforschung daher bis in die heutige
I. Einleitung
Zeit hinein durch eine große Vielfalt an z.T. sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Herangehensweisen an die Thematik geprägt. Die absolut kontextsensitive und oftmals wenig intelligible Natur zeitspezifischer Phänomene und die daraus resultierende zwingende Notwendigkeit, unterschiedlichste soziokulturelle Bezüge heranzuziehen, um ebendiese zeitlichen Phänomene zu diskutieren, behindert nach wie vor in den allermeisten Fällen jedwede eingängige wissenschaftliche Analyse. Entsprechend zeigt sich, gerade in Hinsicht auf die der Untersuchung zeitlicher Phänomene zugrundeliegenden theoretischen Orientierungen, eine große Variabilität und Unübersichtlichkeit, welche die Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand zusätzlich erschwert. Um den damit verbundenen Unwägbarkeiten zu entgehen, wird der inhaltlichen Diskussion des Themenbereiches der vorliegenden Arbeit im Folgenden eine einleitende Erörterung zentraler Aspekte des gegenwärtigen Entwicklungsstandes der kulturwissenschaftlichen Zeitforschung vorangestellt. Die theoretischen Grundlagen, die zur Anwendung gebrachte Untersuchungsmethodik und die Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit werden somit in unmissverständlicher Art und Weise im gegenwärtigen Kontext der kulturwissenschaftlichen Zeitforschung verortet. Für die Bearbeitung des Themenbereiches der vorliegenden Arbeit sind dabei insbesondere zwei theoretische Perspektiven von zentraler Bedeutung, d.h. einerseits Theorien, die soziokulturellen Zeitordnungen als Instrumente der sozialen Disziplinierung diskutieren und andererseits Theorien, die sich mit der für die globale Verbreitung der Weltzeitordnung maßgeblichen Entwicklung von Zeitordnungen im industriellen Zeitalter auseinandersetzen.
2.1. Zeitordnungen und Aspekte von sozialer Disziplinierung In Abgrenzung zu einem naturwissenschaftlich definierten Zeitbegriff basiert die Untersuchung von Zeit im Rahmen dieser Arbeit auf einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung des Phänomens. Zeit, Zeitkonzeptionen, Zeitordnungen etc. werden in diesem Sinne als vom Menschen – von der Gesellschaft – kollektiv geformte und konditionierte kulturelle Konstruktionen diskutiert.55 Der diesem kulturwissenschaftlichen Verständnis zugrundeliegende soziologische Zeitbegriff ist letztendlich auf die bereits zu Beginn des 20. Jh. formulierten Werke Émile Durkheims zurückzuführen. Vermittels des in diesem Zusammenhang angesprochenen Begriffsverständnisses wird eine Auffassung von temporaler Heterogenität repräsentiert bzw. eine qualitative Heterogenität von Zeit postuliert, die sich in multiplen Ebenen oder Formen soziokultureller Zeit ausdrückt:
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Vgl. Eckert 2000: 61; Loimeier 2012: 14; Munn 1992: 95; Muri 2004: 27; Whipp 1987: 211. Zur Unterscheidung natur- und kulturwissenschaftlicher Zeitbegriffe siehe Mainzer 2002: 7.
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»In […] [its] paradigm, social time consists of ›collective representations‹ or ›categories‹ that derive from and reflect the groupings and varied ›rhythms‹ of social life.«56 Zeitkonzeptionen und daraus hervorgehende Zeitordnungen können in diesem Sinne als kulturelle Repräsentationen verstanden werden, die, als genuine Mittel zur Erstellung temporaler Deutungszusammenhänge, vor allem zentrale Ordnungsmuster zur Organisation und Synchronisation der alltäglichen gesellschaftlichen Lebenswelt darstellen:57 »Die Koordination zwischen dem kontinuierlichen Kreislauf sozialer Tätigkeiten und dem kontinuierlichen Kreislauf in der nicht-menschlichen Natur ist dabei das zentrale Synchronisierungsproblem, das kulturell unterschiedlich bewältigt wird. Kalender werden aus dieser Perspektive kognitive Orientierungsmittel zur Synchronisation von Periodizitäten, die u.a. astronomisch bedingt sind. Uhren sind technische Instrumente, die in erster Linie der Synchronisierung individueller mit gesellschaftlichen Tätigkeitsabfolgen und dieser mit nicht-menschlichen Naturereignissen dienen.«58 Zeitordnungen und Kalender, aber auch Uhren sind aus der Perspektive des soziokulturellen Zeitverständnisses somit als »objektivierte Zeitformen« anzusehen, durch die verschiedene naturgegebene und gesellschaftliche Zeitrhythmen untereinander abgestimmt werden.59 Veränderungen der gesellschaftlichen Zeit- und Ordnungsvorstellungen wie die Etablierung der abstrakten Weltzeitordnung resultieren dabei jedoch nicht allein aus Innovationen der »naturwissenschaftlich-technischen Zählung oder Messung von Zeit mittels Uhren und Kalendern.«60 Die Aushandlung der zeitlichen Abstimmung von naturgegebenen Rhythmen, soziokulturellen Tätigkeitsabfolgen und gesellschaftlichen Ereignissen war in der ›abendländischen‹ Geschichte vielmehr immer auch eine »Machtfrage, die über Festlegung von Zeitbestimmungsformen«, d.h. über die obrigkeitliche Festsetzung und Legitimierung von Verfahren zur Messung und Mitteln zur Darstellung der ›rechten‹ Zeit (bspw. die Messung der Zeit per Uhr und die Darstellung der Zeit anhand von Kalendern) ausgetragen wurde.61 Die durch ein bestimmtes kulturelles Zeitbemessungssystem ermöglich-
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Munn 1992: 95. Vgl. Loimeier 2012: 14; Maurer 1997: 30; Munn 1992: 94f. Muri 2004: 37. Ebd.: 50. Härter 2007: 188. Maurer 1997: 32. Maurer verweist das Weiteren auf die in den europäischen Gesellschaften besonders stark ausgeprägte machtpolitische Dimension der Entwicklung von Zeitordnungen: »In keiner anderen Kultur läßt sich eine solche eigenständige Zeitmacht beobachten und wurden solche abstrakten, ausdifferenzierten Formen der Zeitbestimmung entwickelt, wie in Europa.« (Ebd.)
I. Einleitung
ten und sich in einer bestimmten Zeitordnung niederschlagenden zeitlichen Ordnungsmuster waren insofern immer auch Ergebnis herrschaftsbestimmter normativer Konstruktion. Zu den wohl einflussreichsten und aussagekräftigsten Autoren, die sich der Debatte um die historische Entwicklung der europäischen Zeitordnung aus Perspektive der dabei zum Tragen kommenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse nähern und Aspekte von sozialer Disziplinierung sowie zugleich auch die »gegenseitige Bedingtheit von strukturellen Entwicklungen und mentalen Voraussetzungen«62 thematisieren, zählen unzweifelhaft Max Weber, Norbert Elias und Michel Foucault. Zusammengenommen betrachtet, bilden ihre Hypothesen eine vielzitierte und über die Grenzen der einzelnen kulturwissenschaftlichen Fachdisziplinen hinweg geachtete theoretische Basis, auf die auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit zurückgegriffen wird.63 Webers Arbeiten betonen dabei zunächst die mentalen Voraussetzungen, die mit der lebensweltlichen Ausprägung von zeitspezifischen Handlungspraxen einhergehen64 und stellen die puritanische Ethik mit ihrer Disziplin und Methodik in diesem Zusammenhang als bedeutendstes Element der »Entwicklung rationaler Formen der Arbeitsorganisation und Lebensführung«65 heraus. Als Grundlage für die Entstehung des Geistes des Kapitalismus und somit auch als Wiege des ›modernen‹ Wirtschaftsmenschen66 hat das »protestantische Zeitmuster«67 der puritanischen Arbeitsethik zur Etablierung eines negativen Zeitbegriffes beigetragen, der Zeitverschwendung als Sünde brandmarkte und sich aufgrund des »methodische[n] Totalitätsanspruch[es]«68 der Doktrin auf alle gesellschaftlichen Zeitebenen gleichermaßen erstreckte.69 Die sich darin ausdrückende »verfestigte zeitliche Orientierung« kann dabei als eine Art von zeitlichem Habitus beschrieben werden.70
62 63
64 65 66 67 68 69 70
Muri 2004: 45. Die weithin bekannten Hypothesen der drei genannten Autoren sollen hier nicht noch einmal im Detail erläutert werden, ihre Diskussion erfolgt hier vielmehr nur kursorisch. Die jeweils sehr umfangreichen Werke der Autoren und ihre Aussagen zur Entwicklung von Zeitverständnis und Zeitkonzeption können hier insofern nicht vollständig ausgeleuchtet werden, noch die durchaus bestehenden Widersprüchlichkeiten und möglichen Einwände erläutert werden. Für eine weitergehende Auseinandersetzung mit den zeitspezifischen Aussagen dieser drei Autoren siehe bspw. den Artikel von Muri aus dem Jahre 2004, auf dem auch die folgende, zusammengefasste Darstellung der für diese Arbeit bedeutendsten zeittheoretischen Gedankengänge beruht. Vgl. ebd. 2004: 42. Ebd.: 43. Vgl. ebd. 2004: 44. Ebd.: 45. Ebd.: 46. Vgl. ebd.: 46. Ebd.: 47.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Im Zusammenhang mit diesen mentalen Prädispositionen können Zeitordnungen entsprechend Elias als mitunter wirkmächtigste Institutionen sozialer Kontrolle angesehen werden, da sie darauf ausgelegt sind, individuelle und kollektive zeitspezifische Handlungspraxen mit obrigkeitlichen Interessen bzw. den Bedingungen von Herrschaftsverhältnissen zeitlich abzustimmen.71 Die Veränderung der soziokulturellen Zeitorganisation wurde insofern durch ein Wechselspiel zwischen technologischen Innovationen, zeitspezifischen Handlungspraxen bzw. zeitlichem Habitus und obrigkeitlicher Normierung erwirkt. Erst in Verbindung mit einer obrigkeitlichen Reaktion auf technologische Innovationen und veränderte zeitspezifische Handlungspraxen in der Gesellschaft kam es letztendlich zur »Etablierung, Normierung und Ausbreitung neuer, abstrakter, linearer Zeitordnungen«.72 Die Etablierung von neuen zeitlichen Ordnungen kann dabei in Anlehnung an Elias wiederum primär als Prozess verstanden werden, der »sowohl über die räumliche Ausdehnung als auch über eine strikte Zeitplanung in spezifisch dafür entwickelten Institutionen«73 realisiert wurde. Foucault liefert letztlich die wohl eindringlichste Darstellung, wie sich diese zunächst räumlich fixierte zeitliche Disziplinierung, ausgehend von den Vorgaben zur regelmäßigen Lebensführung in den Klöstern des 17. Jh. bis zur Arbeitsdisziplin in den Fabriken des 19. Jh. weiterentwickelte.74 Im Rahmen eines zunehmend umfassenderen gesellschaftlichen Prozesses zur Standardisierung und Reglementierung, der insgesamt darauf abzielte, das »Normale […] als Zwangsprinzip«75 zu etablieren, nahmen entsprechend Foucault in zeitlicher Hinsicht insbesondere die »normend, normierend [und] normalisierend«76 wirkenden und von ihm als Hauptaspekte der sozialen Disziplinierung identifizierten Elemente der »Festsetzung von Rhythmen, […] [des] Zwang[es] zu bestimmten Tätigkeiten und […] [der] Regelung von Wiederholungszyklen« eine zentrale Rolle ein: »Genauigkeit, Aufmerksamkeit und Regelmäßigkeit waren [wiederum] die wichtigsten Tugenden der Zeitdisziplin«.77 Die sich in den Theorien von Weber, Elias und Foucault abzeichnende intensive Verquickung von Zeit und Macht begann sich innerhalb der europäischen Gesellschaftsentwicklung im Verlauf der Neuzeit zu konkretisieren, als im Zuge der Weiterentwicklung des europäischen Zeitbemessungssystems auch Uhren und gleichförmige mechanische Zeit zu herrschaftlichen Insignien geformt wurden, welche
71 72 73 74 75 76 77
Ebd.: 36-37. Härter 2007: 188. Muri 2004: 38. Foucault (1976) zit. in Muri 2004: 38-39. Muri 2004: 40. Foucault (1976) zit. in Muri 2004: 40. Muri 2004: 39.
I. Einleitung
die obrigkeitliche Verfügungsmacht über die gesellschaftliche Ordnung der Zeit kennzeichneten. Vom Obrigkeitsstaat formulierte Ordnungspolitiken »setzten […] die gleichförmige, lineare, mechanisierte (Uhr-)Zeit [in zunehmendem Maße] als Steuerungsinstrument ein und konstruierten bzw. kommunizierten neue Zeitordnungen, die in zahlreichen Tätigkeitsfeldern obrigkeitlicher Herrschaft und Verwaltung, aber auch in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Bereichen implementiert wurden. Zahlreiche Policeynormen enthielten temporale bzw. auf eine als einheitlich und gleichförmig gedachte Zeit bezogene Normierungen (zeitorganisatorische Regeln), die menschliches Handeln bestimmen sollten und insofern zur Disziplinierung, Reglementierung und Fragmentierung von Zeit beitrugen. Diese Zeitordnungen stellten ein Instrument sozialer Regulierung und sozialer Kontrolle dar und bildeten eine Ressource, um Macht und Herrschaft auszuüben.«78 Die vermittels zeitspezifischer Ordnungspolitiken und zeitorganisatorischer Regeln in vermehrtem Maße durch die Obrigkeit bestimmte Ordnung soziokultureller Zeitsysteme führte mit der Zeit zu einer immer weiter gesteigerten Normierung dessen, was als die akzeptierte gesellschaftliche Zeitordnung angesehen wurde. Ein wesentliches Moment der obrigkeitlichen Ordnung der Zeit und der Ausübung von Verfügungsmacht über die Zeit bildete in diesem Zusammenhang die normative Zuschreibung von Devianz bzw. die »Differenzierung zwischen gebotenen Zeiten und Unzeiten und die damit einhergehende Kriminalisierung und Sanktionierung spezifischer Handlungen. Bei der gebotenen Zeit sollten oder mußten bestimmte Handlungen zu bestimmten Zeitpunkten bzw. innerhalb bestimmter Fristen erfolgen; Verspätungen oder Überziehen konnte mit Sanktionen belegt werden. Mittels ›Unzeiten‹ wurden ›Zeitverbrechen‹ generiert: Bestimmte Handlungen wurden für spezifische Zeiten als deviant bzw. strafbar festgeschrieben […].«79 Angesichts des über die Zeit ansteigenden Grades der gesellschaftlichen Komplexität und der zu synchronisierenden Handlungsabläufe führte die in zunehmendem Maße durch die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse bestimmte zeitspezifische Verfügungsmacht dazu, dass »Zeitzwänge und die Zeit als bestimmender Faktor für die Art, wie wir unser Leben und unsere sozialen Handlungen organisieren«80 , zu immer bedeutsameren Aspekten der alltäglichen Lebenswelt wurden. Als Ergänzung dieser Überlegungen kann in Anlehnung an Albert Wirz auch die Implementierung der Weltzeitordnung in der kolonialen Situation als
78 79 80
Härter 2007: 190. Ebd.: 191. Muri 2004: 41.
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ein durch obrigkeitliche Normierung und Zeitzwänge dominierter Aushandlungsprozess charakterisiert werden, der sich in erster Linie im Kontext von Zivilisierungsmission, sozialen Disziplinierungsprozessen und kolonialer Subjektbildung verwirklichte. Muster temporaler Disziplinierungsprozesse werden in der vorliegenden Untersuchung der kolonialen Situation folglich als Teil der Einschreibung von kolonialstaatlicher Macht in »Körper-, Zeit- und Raumvorstellungen [angesehen], welche die Handlungsspielräume der einzelnen (und der Gruppen) definierten.«81
2.2. Die Entwicklung von Zeitordnungen im Zuge von Industrialisierung und Globalisierung Die Ordnungsmechanismen soziokultureller Zeit und der Ordnungscharakter von Zeitordnungen sind auch für die wissenschaftliche Debatte über die Entstehung von neuen Zeitordnungen im Kontext von Industrialisierung und Globalisierung von zentraler Bedeutung. Nicht zuletzt, da die Zeit im Zuge ihrer im Fahrwasser dieser Prozesse rasant anwachsenden Bedeutsamkeit aus dem Kanon der verschiedenen Prinzipien sozialer Ordnung, die innerhalb der Gesellschaft zur Anwendung kamen, heraustrat und eine Eigendynamik entwickelte, die ihr von nun an den Charakter eines bestimmenden und von anderen klar unterscheidbaren gesellschaftlichen Ordnungsmechanismus verlieh.82 Die Zunahme gesellschaftlicher Komplexität und die gesellschaftlichen Umbrüche, die mit den Prozessen der industriellen Revolution verbunden waren, gingen in zeitlicher Hinsicht in erster Linie mit einer Verdichtung von sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen und der Notwendigkeit zur gesteigerten Synchronisation aller Arten von gesellschaftlichen Handlungsabläufen einher. Die durch die Industrialisierung ausgelösten tiefgreifenden und umfassenden soziokulturellen Wandlungsprozesse mündeten dabei letztlich in einer regelrechten Transformation des gesellschaftlichen Raum-Zeit-Gefüges83 , die sich in zeitspezifischer Hinsicht durch eine noch weiter intensivierte soziale Disziplinierung sowie den Verlust der Autonomie über die individuelle Zeitverfügung auszeichnete.84 Aus der Perspektive von Zeitgenossen manifestierten sich diese Entwicklungen in der Erfahrung einer allumfassenden gesellschaftlichen Beschleunigung.85 Die auch vermittels des Begriffes der ›Industrialisierung der Zeit’’86 fassbaren Transformationsvorgänge hatten eine anhand von immer kleinteiligeren zeitlichen Sequenzen getak81 82 83 84 85 86
Vgl. Wirz 2003: 9. Vgl. ferner Muri 2004: 29. Vgl. Schivelbusch 1977: 38. Vgl. Muri 2004: 77. Vgl. Kern 2003: 35; Rosa 2005: 71-88. Siehe dazu Merle 1989; Schivelbusch 1977.
I. Einleitung
tete Arbeits- und Lebenswelt zur Folge, welche eine zunehmende Rationalisierung der Lebenszeit und eine gesteigerte zeitliche Selbstdisziplinierung einforderte87 und letztendlich »das Zeitempfinden der gesamten Gesellschaft [veränderte]«.88 Die kulturwissenschaftliche Diskussion des Ordnungsmechanismus Zeit konzentriert sich auch im Zusammenhang mit Industrialisierung und Globalisierung vor allem auf die die gesellschaftliche Zeitordnung maßgeblich beeinflussenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse und auf Divergenzen zwischen »statuierten«, d.h. per Gesetz oder Anordnung vorgegebenen und »habituellen«, d.h. durch Gewöhnung herausgebildeten Zeitordnungen und Handlungspraxen.89 Das Spannungsverhältnis zwischen statuierten und habituellen Zeitordnungen und Handlungspraxen drückt sich dabei in idealtypischer Weise in den seit dem Übergang zur industriellen Produktion zutage tretenden Kämpfen um Arbeitszeiten aus90 , im Zuge derer »die Fabrikuhr und ihr Signal […] zum Mittel und Symbol der Ausbeutung von Menschen durch industrielle Herrschaft«91 stilisiert wurden. Der Kontrast zwischen selbst- und fremdbestimmter Zeitverfügung spiegelt sich dabei nicht zuletzt auch in den Gedankengängen von Marx, der unzweifelhaft zu den diesbezüglich wohl einflussreichsten Theoretikern gezählt werden kann und demzufolge »[der] Normalarbeitstag in eine entfremdete Zeit der Mehrwertproduktion für den kapitalistischen Unternehmer und in eine Zeit der notwendigen Reproduktion der Arbeitskraft auf[geteilt wurde]«.92 Der von Edward P. Thompson 1967 veröffentlichte Artikel mit dem Titel Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism93 , dessen »overwhelming dominance […] for many seemed to have provided the definitive historical account beyond which there was no need to go«94 , kann als mitunter einflussreichster Beitrag angesehen werden, der die Entwicklung von neuen Zeitordnungen im Kontext der Industrialisierung diskutiert und die tragende Rolle von industriellen Arbeitsbedingungen und -prozessen für die soziale Disziplinierung herausstellt. In seinem viel beachteten Werk entwickelte Thompson die These, dass sich die Zeitordnung in europäischen Gesellschaften durch neue Arbeitsgewohnheiten infolge der Industrialisierung seit dem 18. Jh. grundlegend verändert habe und von einer auf Aufgaben und Ereignisse fixierten zeitlichen Ordnung zu einer, die sich
87 88 89
90 91 92 93 94
Vgl. Merle 1989: 163-165. Ebd.: 161. Vgl. Schöps (1980) zit. in Muri 2004: 32-33. Die begriffliche Unterscheidung zwischen statuierten und habituellen Zeitordnungen wird hier von Schöps entlehnt, bei ihr findet diese jedoch in einem anderen Zusammenhang Verwendung. Vgl. Muri 2004: 78. Ebd.: 79. Ebd. Hier anhand der dt. Übersetzung von 1973 zitiert. Glennie/Thrift 2002: 152.
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an exakten Uhrzeiten orientiere, übergegangen sei.95 Der »Übergang zur Industriegesellschaft« brachte demnach »einschneidende Umstrukturierungen der Arbeitsgewohnheiten« mit sich, die wiederum mit »Wandlungen des Zeiterlebnisses«96 einhergingen und in der Herausbildung von Fabrikarbeitsdisziplin und einer neuen gesellschaftlichen Zeitordnung resultierten.97 Thompsons Aufsatz ist jedoch nicht mehr zeitgemäß, in Teilen widerlegt und kann die gegenwärtigen Entwicklungen der kulturwissenschaftlichen ›Zeitdebatte‹ nicht in angemessener Weise berücksichtigen.98 Entgegen dieser Lesart soll hier deshalb in Anlehnung an Paul Glennie und Nigel Thrift (1996, 2002, 2009) argumentiert werden, welche die durch Thompsons Ansatz repräsentierte unilineare Evolutionsgeschichte der ›modernen‹ europäischen Zeitordnung zurückweisen und versuchen, dieser eine auf der Vielfalt und Gleichzeitigkeit von Zeitordnungen basierende alternative Formulierung entgegensetzen.99 Trotz einer in Teilen folgenreichen Korrektur des von Thompson etablierten Deutungsmodells werden dessen paradigmatische Überlegungen zum Themenbereich in diesem Zusammenhang nicht vollständig verworfen. Die temporale Komplexität westlicher Gesellschaften soll insofern genauso wenig verneint werden100 wie die disziplinierende Funktion von temporalen Technologien (Uhren) und neuen Arbeitsgewohnheiten (Fabrikarbeit).101 Die von Glennie und Thrift entworfene alternative Entwicklungsgeschichte der Zeitordnungen der europäischen Gesellschaften versucht vielmehr diese zentralen, jedoch monokausal interpretierten Merkmale unter Einbezug neuester Forschungsergebnisse differenzierter zu beurteilen, um heterogene und fragmentarisierende Tendenzen in der Entstehung der ›modernen‹ Zeitordnung mit einbeziehen zu können und die diesbezüglichen Entwicklungen hinsichtlich der sie konstituierenden sozialen Praktiken neu zu bewerten:102
95 96 97 98 99
Siehe Thompson 1973. Ebd.: 82. Vgl. ebd.: 99. Vgl. Glennie/Thrift 1996, 2002, 2009; Whipp 1987. In ihrer detaillierten und kritischen thematischen Aufarbeitung der historischen Entwicklung der Zeitmessung in England und Wales zwischen dem 13. und 18. Jh. versuchen Glennie und Thrift, die von einer Reihe von Autoren geäußerte Kritik am durch Thompson etablierten eindimensionalen Entwicklungsmodell der ›modernen‹ industriekapitalistischen Zeitordnung in einem Ansatz zusammenzuführen. (Vgl. ebd. 2009) 100 Vgl. ebd. 1996: 292. 101 Vgl. ebd.: 285, 288. 102 Vgl. ebd. 1996: 292-293; 2002: 151-152; 2009: 9, 28. Die umfangreiche Kritik an Thompson und die den beiden Autoren eigene zeittheoretische Konzeptualisierung können hier jedoch nicht in ihrer Gesamtheit wiedergegeben werden. Zur Kritik an Thompson siehe ebd. 1996 u. 2002, zu deren eigener zeittheoretischen Konzeptualisierung siehe ebd. 2009.
I. Einleitung
»In the process we leave behind the simple and sometimes glib ideas of linear progression from untimed to timed cultures, via intermediate stages in which the untimed and the timed coexisted, with the inexorable undermining of the former as a singular modern ›industrial time consciousness‹ through society and across space. Our alternative account is rather about the degree and type of interaction and mutual construction among several coexisting time-senses.«103 Die mit dem heterogenen soziokulturellen Zeitbegriff konforme Modifizierung der Gedankengänge Thompsons äußert sich dabei insbesondere in der darin vertretenen, überarbeiteten Definition von Zeitdisziplin, die hier nicht als singuläres Konzept, sondern als eine Kombination von zeitlicher Standardisierung, Regelmäßigkeit und Koordination verstanden wird: »By standardization we mean the degree to which people’s time-space paths are disciplined to be the same as one another’s. By regularity we mean the degree to which people’s time-space paths involve repetitive routine. By coordination we mean the degree to which people’s time-space paths are disciplined to smoothly connect with one another’s.«104 Entsprechend muss auch die Ausbildung neuer Formen von Zeitdisziplin im Zuge der Industrialisierung nicht mehr ausschließlich im Sinne des von Thompson im Rahmen von Fabrikarbeitsprozessen diskutierten Modells von zeitlicher Disziplin interpretiert werden. Vielmehr stellt Thompsons industriekapitalistische Zeitdisziplin nur mehr eine mögliche Variante dar, die sich durch die Kombination eines jeweils sehr hohen Grades der Eigenschaften von Standardisierung, Regelmäßigkeit und Koordination auszeichnet.105 Andere mit disziplinärer Verfügungsmacht ausgestattete Institutionen und obrigkeitliche Instanzen als die der Fabrik konnten insofern statuierte Zeitordnungen vertreten und temporale soziale Disziplinierungsprozesse initiieren, die sich auf andere Formen von Zeitdisziplin beriefen bzw. eine Zeitdisziplin einforderten, der eine anders gewichtete Kombination der drei charakteristischen Eigenschaften zugrunde lag. Neben dem sich hier äußernden Verständnis der Entwicklung von neuen Zeitordnungen im Zuge der Industrialisierung, welches die grundsätzliche Heterogenität von soziokultureller Zeit, Zeitdisziplin etc. impliziert, kann die Feststellung, dass die zeitliche Strukturierung industrialisierter Lebenswelten und die Zeitdisziplin ihrer Bewohner nicht allein aufgrund von neuen Technologien und Arbeitsgewohnheiten bzw. Fabrikarbeitsprozessen entstanden sind, als weitreichendste Korrektur des von Thompson etablierten Deutungsmodells angesehen werden.106 103 104 105 106
Ebd. 1996: 292, Hervorhebungen im Original. Ebd.: 285. Vgl. ebd. 1996: 287. Vgl. ebd. 1996: 283-285, 288-289.
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Zeitspezifische Handlungspraxen in Alltags- und Freizeitkultur bzw. in erster Linie habituelle Zeitordnungen erwiesen sich insofern ebenso bedeutsam für die Entwicklung neuer gesellschaftlicher Ordnungsmechanismen der Zeit und die Internalisierung neuer Formen von Zeitdisziplin, wie auch die zumeist rigiden statuierten Zeitordnungen unterliegenden industriellen Arbeitsprozesse: »The particular forms [of standardized temporal practices] have been contingent on societal practices and everyday sociality, as well as the familiar imperatives of technological and social disciplinary influences.«107 Die Anwendung neu erworbener zeitspezifischer Orientierungen und Kompetenzen beschränkte sich insofern auch nicht auf die ökonomischen und kulturellen Kontexte, in denen sie entstanden waren, wie bspw. Fabriken, Märkte oder Klöster, sondern entwickelte, nachdem sie in Alltagskultur und Alltagshandeln Eingang gefunden hatten, vielmehr ein Eigenleben, welches sie von ihrem Ursprungskontext in zunehmendem Maße unabhängig werden ließ, so dass sie auch über die Grenzen dessen hinaus Wirkmächtigkeit erlangen konnten.108 Entsprechend dem in diesem Kapitel kurz vorgestellten Kanon an theoretischen Überlegungen wird der Untersuchungsgegenstand der Weltzeitordnung hier als abstrakte und vielschichtige soziokulturelle Konstruktion angesehen, die auf einem kulturellen Zeitbemessungssystem basiert, das präzise und astronomisch gemessene Zeit für die Ordnung der Gesellschaft verfügbar macht und in der alltäglichen Lebenswelt primär durch Uhren und Kalender repräsentiert wird. Die Durchsetzung der Weltzeitordnung wird in erster Linie als Ergebnis herrschaftsbestimmter normativer Konstruktion betrachtet, welche in obrigkeitlich verfügten zeitspezifischen Ordnungspolitiken und korrespondierenden sozialen Disziplinierungsprozessen Ausdruck fand, darüber hinaus jedoch auch durch die Veränderung von zeitspezifischen Handlungspraxen in der alltäglichen Lebenswelt bzw. der Freizeit der Akteure begleitet und beeinflusst wurde. Die Weltzeitordnung, Uhrzeiten und damit einhergehende Vorstellungen von zeitlicher Präzision und Disziplin werden dabei als kontextsensitive und situationsbedingte kulturelle Konventionen betrachtet, deren jeweilige Ausprägung, entsprechend der jeweiligen zeitspezifischen Strukturierung der Lebenswelt (bzw. der jeweiligen Kombination aus zugrundeliegenden temporal-technologischen Infrastrukturen, konstituierenden zeitspezifischen Handlungsgesellschaften und Handlungspraxen und Bedingungen der obrigkeitlichen zeitspezifischen Verfügungsmacht) variieren kann.109
107 Ebd. 2009: 28; Hinsichtlich der großen Bedeutung von Alltagspraktiken für die Internalisierung von Zeitdisziplin siehe auch ebd. 1996: 283, 288-289; 2002: 152-153, 165; 2009: 65. 108 Vgl. ebd. 1996: 288-289. 109 Vgl. ebd. 2002: 166-167.
I. Einleitung
3. Untersuchungsmethodik und zentrale Fragestellungen Die sich in den zuvor dargestellten zeittheoretischen Überlegungen äußernden zentralen Charakteristika der Entwicklung der Weltzeitordnung und des ›modernen‹ Umganges mit der Zeit können, dem universellen Geltungsanspruch der Weltzeitordnung entsprechend, gewissermaßen als ›essentielle‹ Voraussetzungen ausgezeichnet werden, die für eine erfolgreiche Implementierung der Weltzeitordnung auch außerhalb europäischer Gesellschaften bzw. ihres kulturellen Entstehungskontextes von entscheidender Bedeutsamkeit waren. Vor dem skizzierten theoretischen Hintergrund wird daher auch die Untersuchung der Implementierung der Weltzeitordnung im kolonialen Senegal als Prozess angesehen, der in erster Linie durch eine wechselseitige Interaktion zwischen Maßnahmen zur technologischen Innovation, etablierten zeitspezifischen Handlungspraxen bzw. habituellen Zeitordnungen und der obrigkeitlichen Normierung von Zeit- und Ordnungsvorstellungen bzw. statuierten Zeitordnungen bedingt war. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich demzufolge auf die Analyse der folgenden drei zentralen Forschungsfelder •
• •
Die Etablierung des der Weltzeitordnung zugrundeliegenden technologischen Zeitbestimmungssystems bzw. von zeitspezifischen Infrastrukturen und die darauf basierende Verfügbarkeit von präzisen zeitlichen Standards Die Kodifizierung obrigkeitlich definierter zeitspezifischer Ordnungspolitiken bzw. statuierter Zeitordnungen Die Konstitution von Handlungsgesellschaften, die präzise zeitliche Standards nutzten und deren habituelle Zeitordnungen bzw. deren in unterschiedlichem Grade an statuierten Zeitordnungen ausgerichtete zeitspezifische Handlungspraxen.
Trotz der aus der europäischen Gesellschaftsentwicklung und hier insbesondere den Prozessen zur Industrialisierung abgeleiteten Untersuchungskriterien und Forschungsfelder werden die veränderten Ausgangsbedingungen für die Implementierung der Weltzeitordnung in der kolonialen Situation im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht außer Acht gelassen. Ohne an dieser Stelle auf kulturelle Differenzen zwischen den Entwicklungen in Europa und Afrika verweisen zu wollen110 , erscheint es dennoch offensichtlich, dass die Implementierung der Weltzeitordnung als Resultat der europäischen Gesellschaftsentwicklung und insbesondere der Prozesse der Industrialisierung in den kolonisierten afrikanischen Gesellschaften einen anderen Entwicklungsgang nehmen musste als im europäischen Entstehungskontext. 110
Siehe dazu im Folgenden.
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Angesichts der identifizierten primären Forschungsfelder und für die im Rahmen dieser Untersuchung verfolgten Perspektive wird dabei jedoch nur den Bedingungen der kolonialen Herrschaft eine Bedeutung zugesprochen, welche die Untersuchungssituation auf spezifische Art und Weise von anderen außer- oder innereuropäischen Kontexten, in denen sich neue Formen der Ordnung der Zeit etablierten, abgrenzt. Entsprechend gilt es hervorzuheben, dass die im Kontext eines transnationalen Kulturtransfers stattfindenden Prozesse zur Implementierung der Weltzeitordnung aufgrund der extrem asymmetrischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse der kolonialen Situation einem außergewöhnlich rigiden obrigkeitsstaatlichen Diktat unterworfen waren, im Kontext dessen Gewaltanwendung ein anerkanntes und weitverbreitetes Instrument zur Durchsetzung herrschaftlicher Interessen und Zielsetzungen darstellte. Der Prozess der Durchsetzung von Zeit- und Ordnungsvorstellungen gründete sich unter Bedingungen der kolonialen Herrschaft demzufolge in besonderem Maße auf obrigkeitlich verfügten zeitspezifischen Ordnungspolitiken und korrespondierenden sozialen Disziplinierungsprozessen. Ein Umstand, dem in der folgenden Bearbeitung der Thematik Rechnung getragen wird, indem der Implementierung zeitspezifischer Ordnungspolitiken und statuierter Zeitordnungen eine besondere Berücksichtigung zugesprochen wird. Im Zusammenhang mit den identifizierten Forschungsfeldern, den eben geäußerten Überlegungen zu deren Gewichtung in der kolonialen Situation und aus der zuvor erläuterten primären Zielsetzung, die zeitlichen Orientierungen, Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der kolonialen Akteure vordergründig zu betrachten, ergeben sich für die vorliegende Arbeit die folgenden zentralen Fragenkomplexe. Entsprechend dem auf die koloniale Perspektive konzentrierten Forschungsfokus steht die Aufgabe, die zeitspezifischen mentalen Prädispositionen der kolonialherrschaftlichen Akteure näher zu bestimmen und zu klären, mit welchen zeitlichen Normen und Ordnungsvorstellungen die Weltzeitordnung im ihrem Denken verknüpft war, an erster Stelle. Welchen Stellenwert hatten Zeit- und Ordnungsvorstellungen insofern in der Kolonialideologie und in welchem Maße waren die Kolonialherren von diesen Vorstellungen geprägt? In einem weiteren Schritt ist vor allem die Diskussion der technologischen Voraussetzungen für die Umsetzung exakter Zeitordnungen in der Kolonie von Bedeutung. Dies ist einerseits mit der Frage verbunden, wie sich die Implementierung der materiellen temporalen Infrastrukturen gestaltete, die für die Etablierung der Weltzeitordnung erforderlich waren. Andererseits gilt es zu ermitteln, welche Verbreitung und Verfügbarkeit der Weltzeitstandard vor Ort letztendlich erreichte. Im Anschluss an diese technologiegeschichtlichen Betrachtungen folgt schließlich die Auseinandersetzung mit der generellen Beschaffenheit des lokalen kolonialstaatlichen Raum-Zeit-Gefüges. Zentrale Fragestellungen stellen sich hier
I. Einleitung
hinsichtlich der zur Strukturierung des Kolonialstaates herangezogenen zeitlichen Ordnungen und hinsichtlich des Stellenwertes, den die Weltzeitordnung und präzise zeitliche Standards dabei zugesprochen bekamen. Als Fragenkomplex, der sich insbesondere mit der Organisation des Kolonialstaates auseinandersetzt, wird hier in erster Linie nach den kolonialherrschaftlich verfügten zeitspezifischen Ordnungspolitiken, d.h. den statuierten Zeitordnungen gefragt, bzw. danach, wie Zeit- und Ordnungsvorstellungen legislativ kodifiziert wurden. In einem nächsten Schritt gilt es dann die tatsächlich gepflegten zeitspezifischen Handlungspraxen, d.h. die habituellen Zeitordnungen der Kolonialherren näher zu bestimmen bzw. das Verhältnis zwischen statuierten und habituellen Zeitordnungen und die diesbezügliche Normkonformität der kolonialen Protagonisten auszuleuchten. Welche zeitspezifischen Handlungsgesellschaften und Handlungspraxen, die auf präzise zeitliche Standards zurückgriffen, prägten insofern die kolonialgesellschaftliche Organisation und Alltagskultur? Bei allen diesen Fragen steht darüber hinaus diejenige nach der lokalen Koexistenz verschiedener zeitlicher Ordnungssysteme und den Umständen des Scheiterns kolonialer Zeitregimes im Hintergrund. Wie gestaltete sich demnach die Abstimmung zwischen Weltzeitordnung, kolonialstaatlichem Raum-Zeit-Gefüge, kolonialgesellschaftlicher Zeitkultur und anderen lokalen zeitlichen Ordnungssystemen? In diesem Zusammenhang wird dann auch die Frage danach, wie die Kolonialherrschaft eigene Zeit- und Ordnungsvorstellungen gegenüber anderen durchzusetzen versuchte, angesprochen. Mit diesem letzten, übergeordneten Fragenkomplex wird entsprechend auch die für kulturwissenschaftliche Studien aller Fachdisziplinen, insbesondere jedoch im Kontext von außereuropäischen Forschungsvorhaben gewichtige Debatte um die Existenz von kultureller Differenz explizit thematisiert.111 Kern dieser interdisziplinären Debatte ist die Thematik des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹ bzw. inwiefern diese dichotomische Kategorisierung Sinn macht. Anders gesagt, »[k]ann es eine nicht an die Werturteile der eigenen Kultur gebundene und ihre Kategorien nicht aus der eigenen gesellschaftlichen Erfahrung beziehende Sicht der Dinge überhaupt geben? Oder sind kulturelle Differenzen lediglich Phänomene, die auf einer allen Menschen gemeinsamen Rationalität aufbauen?«112 In der Begrifflichkeit dieser Debatte spiegeln sich demzufolge auch Fragestellungen, die die Durchsetzung der Weltzeitordnung, den transnationalen Transfer von
111
112
Vgl. Eckert 2000: 63f.; Eckert/Krüger 1999: 30-31. Die Debatte um kulturelle Differenz ist u.a. konstitutiv für die Entstehung der wissenschaftlichen Fachdisziplin der Ethnologie, als wesentlicher Bestandteil ethnozentrischer Kritik verfügt sie zudem auch in allen anderen kulturübergreifend arbeitenden Fachdisziplinen über axiomatischen Charakter. Eckert/Krüger 1999: 30; siehe auch Eckert 2000: 63.
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zeitspezifischen Kulturelementen und das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Zeitordnungssystemen diskutieren, als Fragen nach den Unterschieden der Konstitution von ›eigener‹ und ›fremder‹ Zeitordnung. Die Bearbeitung und Beantwortung der aus dieser Debatte hervorgehenden Fragestellungen ist jedoch nicht Bestandteil der vorliegenden Arbeit. Von einer vertieften Diskussion des theoretischen Verhältnisses zwischen ›eigener‹ und ›fremder‹ Zeitordnung wird hier entsprechend abgesehen. Hinsichtlich der dichotomen Betrachtungsweise, die mit der in der Debatte repräsentierten Problemstellung einhergeht und der theoretischen Unwägbarkeiten, die daraus resultieren, wird im Folgenden der Standpunkt eingenommen, dass der in dieser Arbeit thematisierten kolonialen Situation bereits zahlreiche interkulturelle Interaktionen vorangegangen waren, die einer Unterscheidung von Kulturmerkmalen in binäre Oppositionspaare entgegenstehen. Gegen ein ›essentialistisches‹ Verständnis der Differenzen zwischen vermeintlich unvereinbaren kulturellen Werten und Normen spricht in diesem Zusammenhang auch, dass das Aufeinandertreffen der Wertehaltungen von Kolonisierenden und Kolonisierten in der konkreten Situation der Interaktion nicht nur durch Unverständnis geprägt war, sondern sich, wie bereits erwähnt, vielmehr auch durch intendiertes gegenseitiges Missverstehen auszeichnete: »Seit spätestens dem 19. Jahrhundert sind in Afrika europäische und lokale Gesellschaften in einer Weise miteinander verflochten, daß ein simpler Dualismus des Eigenen und des Fremden hier nicht greift. Vielmehr fand das Aufeinandertreffen afrikanischer und europäischer Konzepte nicht in einem Rahmen kultureller Mißverständnisse statt, welcher das gegenseitige Verstehen unmöglich machte, sondern, […] es zeigen sich häufig gewollte, ›strategische‹ Mißverständnisse, die für beide Seiten Räume eröffneten, um politische, soziale und ökonomische Interessen durchzusetzen.«113 Eine derartige Perspektive auf kulturelle Differenz erlaubt es, die problematischsten methodischen Unwägbarkeiten zu umgehen und trägt zugleich der konkreten kolonialen Situation Rechnung, in welcher schwerlich davon abgesehen werden kann, dass »tatsächlich unterschiedliche und manchmal entgegengesetzte Konzepte, etwa von Körper, Raum und Zeit sowie von Herrschaft und Ehre, von Geschichte und Identität aufeinandertrafen.«114 Es bleibt noch darauf zu verweisen, dass trotz der aus der europäischen Gesellschaftsentwicklung abgeleiteten Forschungsfelder und der dadurch beeinflussten Fragestellungen in dieser Untersuchung keine eurozentristische Haltung gegenüber lokalen afrikanischen Zeitordnungen vertreten wird. Die Weltzeitordnung, 113 114
Eckert/Krüger 1999: 30-31; siehe auch Eckert 2000: 63f. Eckert/Krüger 1999: 30.
I. Einleitung
die sich vermittels ihres ›universellen Geltungsanspruches‹ und ihres als zeitspezifisches Maß zur Beurteilung nicht- europäischer Gesellschaften dienenden Charakters selbst als zutiefst eurozentristische Konstruktion offenbart, soll vielmehr in ihrer heterogenen und wenig universellen Dimension dargestellt werden. In ihrer konkreten Ausgestaltung zeigt sie sich vielmehr, darauf verweisen auch die zuvor geäußerten Gedankengänge zur kulturellen Differenz, gerade auch in der durch extrem asymmetrische Macht- und Herrschaftsverhältnisse geprägten kolonialen Situation, als Ergebnis wechselseitiger (inter)kultureller Aushandlungsprozesse, das sich durch europäische und nicht-europäische Einflüsse gleichermaßen gezeichnet sah. Letztendlich sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass die vorliegende Arbeit ein bisher kaum erforschtes Kapitel der kolonialen Vergangenheit diskutiert. Das große, bislang nur wenig bearbeitete Forschungsfeld und die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes lassen oft nur schlaglichtartige Betrachtungen einiger ausgewählter Aspekte zu, weshalb hier keine vollständige und erschöpfende Diskussion angestrebt wird.115 Es wird vielmehr erhofft, einige Grundlagen zu erarbeiten, die weiterführende Forschungen zum Themenbereich anregen.
4. Quellen Die Quellenlage zur kolonialen Geschichte Senegals gilt gegenüber derjenigen vieler anderer ehemaliger französischer Kolonien Westafrikas zwar als vergleichsweise elaboriert und gut erarbeitet, das Auffinden der relevanten Quellenbestände unterlag dennoch den für historische Forschungsvorhaben über die Kolonialperiode in Afrika typischen Problematiken. Darunter in erster Linie der über Archive und Bibliotheken in mehreren Kontinenten verstreute Quellenkorpus und die auf afrikanischer Seite oft nicht benutzerfreundliche, wenig systematische Archivierung der Bestände, welche den Zugang zur Thematik erschwerten. Insbesondere die mit dem Beginn der administrativen Erschließung der Kolonie früh ansetzende Untersuchungsperiode resul115
Als mitunter wichtigster Untersuchungsbereich, der aus diesem Grund im Rahmen dieser Untersuchung keine Berücksichtigung gefunden hat, ist der als zentrales Forum für kolonialstaatliche soziale Disziplinierungsprozesse dienende koloniale Erziehungs- und Bildungsbereich anzuführen. (Siehe dazu Wirz 2003) Der Fokus der vorliegenden Arbeit ist jedoch auf die kolonialen Protagonisten gerichtet und setzt sich vornehmlich damit auseinander, wie jene Zeitnormen im gesellschaftlichen Alltag zu implementieren suchten. Die Untersuchung konzentriert sich insofern auf alltagskulturelle soziale Disziplinierungsprozesse. Die im Rahmen des kolonialstaatlichen Bildungswesens gewährleisteten sozialen Disziplinierungsprozesse stellen nach Ansicht des Autors darüber hinaus einen sehr breiten Themenbereich dar, dem eine eigenständige Untersuchung gewidmet werden sollte.
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tierte in diesem Zusammenhang oftmals darin, dass Bestände konsultiert werden sollten, von denen ein Teil im Laufe der Zeit verlorengegangen ist, entwendet wurde oder bereits zu stark in altersbedingte Mitleidenschaft gezogen worden war, als dass sie noch hätten ausgewertet werden können. Ein Teil der Bestände, der noch in früheren kulturwissenschaftlichen Studien Verwendung gefunden hatte, konnte entsprechend nicht mehr eingesehen werden. Neben der delikaten archivarischen Situation erwiesen sich auch die Schwierigkeiten, die mit der Untersuchung eines sich der Intelligibilität oftmals entziehenden Phänomens wie der Zeit verbunden sind, ein Phänomen, das einerseits, aus Sicht der Praxis – der Erfahrungs- oder Lebenswelt – allesdurchdringend und omnipräsent, andererseits jedoch, aus theoretischer Perspektive, transparent und nicht greifbar ist, als immens.116 Die absolut kontextabhängige Natur von Zeit, Zeitordnungen und zeitspezifischen Handlungspraxen konfrontiert kulturwissenschaftliche Forschungsvorhaben über Zeit dementsprechend mit einer »empirical uncertainty«, die sich im Kontext historischer Untersuchungen insbesondere dadurch bemerkbar macht, dass »temporal behaviour and attitudes were frequently implicit rather than explicit and so do not enter the historical record.«117 Im Zusammenhang mit dem dieser Arbeit zugrundeliegenden außereuropäischen und kolonialen Untersuchungskontext kam der Umstand dieser ›impliziten Omnipräsenz‹ jedoch besonders schwer zur Geltung, da unter den gegebenen Bedingungen der kolonialen Herrschaft und innerhalb der gewählten Untersuchungsperiode von vorneherein nur mit einem situationsbedingt sehr verengten Quellenkorpus gearbeitet werden konnte. Letzterer setzt sich, in erster Linie aufgrund der weitgehend fehlenden Schriftlichkeit der lokalen Gesellschaften, fast ausschließlich aus den Hinterlassenschaften der französischen Kolonialbeamten zusammen und bietet demzufolge keinen repräsentativen Spiegel der tatsächlichen Gegebenheiten. Die Quellenbestände zeichnen sich darüber hinaus nicht nur durch die einseitige Wiedergabe der europäischen Perspektive aus, sondern unterlagen zusätzlich den auf die Repräsentation herrschaftsrelevanter Informationen ausgerichteten zeit- und situationsgemäßen kolonialen Bedingungen, welche die Produktion wirklichkeitsferner, verschleiernder und sogar rein fiktiver Elemente begünstigte.118 Entsprechend den Strukturen der zeitgenössischen französischen Kolonialherrschaft und im Bestreben, die Organisation des Kolonialstaates vermittels der zentralisierten obrigkeitsstaatlichen Regulierung aller Aspekte des gesellschaftlichen Lebens zu bewältigen begründet, sind die verfügbaren Aktenbestände im Allgemeinen durch ein überbordendes offizielles administratives Berichtswesen
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Vgl. Munn 1992: 93. Glennie/Thrift 2009: 54. Siehe dazu Spittler 1981: 61; Bergmann 2000: 94-96.
I. Einleitung
und ein Übergewicht an gesetzlichen Verordnungen, politischen Programmen, administrativen Projekten, Statistiken etc. gekennzeichnet. Zwar alltägliche und omnipräsente, aber in erster Linie implizite Themenbereiche wie derjenige der Zeit, fanden hier nur in seltenen Fällen Berücksichtigung. Wissenschaftliche Studien dieser Epoche und Region, die alltagskulturelle Betrachtungen der Gegebenheiten vornehmen, finden sich daher auch über den Untersuchungsbereich der soziokulturellen Zeit hinaus bisher kaum. Die Natur des Untersuchungsgegenstandes der Zeit, aber auch der Untersuchungsbereich des kolonialen Westafrika und die gewählte Untersuchungsperiode gehen insofern mit einem grundsätzlichen Fehlen von Materialien und Aufzeichnungen über das individuelle und kollektive Erleben und Gestalten von Zeit einher. Der nur schwer zugängliche und sehr umfangreiche Themenbereich sowie die unausgereiften und sehr verengten Quellenbestände haben dabei zur Folge, dass sich die vorliegende Arbeit auf der Basis von Quellen nur einer schlaglichtartigen Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes widmen kann und sich darüber hinaus auf einen umfangreichen Korpus an zugezogener Sekundärliteratur stützt. Unter den in die vorliegende Arbeit eingebundenen Quellenbeständen finden sich in erster Linie zeitspezifische Ordnungspolitiken und Regelwerke, die von den kolonialherrschaftlichen Vertretern zur zeitlichen Organisation von gesellschaftlichem Alltag, Gemeinwesen, Arbeit, Strafrecht, Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik formuliert wurden. Darüber hinaus sind auch verschiedene Korrespondenzen und ein Teil des umfangreichen administrativen Berichtswesens in die Arbeit mit eingeflossen. Im Rahmen der verwendeten Primärliteratur wird zudem auf einige der frühesten literarischen Beschreibungen der Region zurückgegriffen. Ferner wurden in diesem Zusammenhang auch zahlreiche zeitgenössische koloniale Ratgeber und Werke der Kolonialliteratur konsultiert, die auf den Erfahrungen der Protagonisten vor Ort beruhen und z.T. autobiographischen Charakter aufweisen. Die überwiegende Mehrheit der verwendeten Quellen und Primärliteratur entstammt dabei den Archives Nationales du Sénégal in Dakar und dem Centre d’Archives d’OutreMer in Aix-en-Provence. Die Erörterungen zur Quellenlage verdeutlichen, dass das Auffinden relevanter Primärquellenbestände mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden war und sich in vielerlei Hinsicht als nahezu unlösbare Aufgabe gestaltete. Die Erarbeitung des Themenbereiches ging insofern auch mit der Sichtung zahlreicher Quellenbestände und Materialen einher, die sich letztendlich als nicht aussagekräftig erwiesen haben und daher nicht oder nur partiell in die vorliegende Arbeit mit eingeflossen sind. Ein vergleichbares Forschungsvorhaben ist für die gewählte Region und die gewählte Untersuchungsperiode zudem so noch nicht unternommen worden, weshalb an dieser Stelle noch einmal betont werden soll, dass die vorliegende Arbeit in vielerlei Hinsicht eine Pionierleistung darstellt.
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5. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Untersuchung der Implementierung der Weltzeitordnung und der Kolonisierung der Zeit in Senegal zwischen 1890 und 1920 folgt im Wesentlichen der durch die identifizierten Forschungsfelder und korrespondierenden Fragestellungen vorgezeichneten Struktur. Entscheidende Gliederungsmomente ergeben sich entsprechend aus dem für die Durchsetzung der Weltzeitordnung richtungsweisenden Wechselspiel zwischen der Implementierung von temporalen technologischen Infrastrukturen, der kolonialherrschaftlichen Verfügung von statuierten Zeitordnungen und den tatsächlich gelebten habituellen Zeitordnungen. Die mit diesen Forschungsfeldern einhergehende Grundstruktur ist jedoch idealtypisch und statisch, im Verlauf der Diskussion kommt es insofern auch zu thematischen Überschneidungen und Abweichungen von diesem grundsätzlichen Schema der Darstellung. Die Abfolge der Kapitel folgt in inhaltlichem Sinne dennoch dieser Grundstruktur und versucht darüber hinaus den Weg des Transfers und der Implementierung der Weltzeitordnung aus dem zeitgenössischen französischen Nationalstaat in die Kolonie Senegal hinein auf räumlichem Wege nachzuzeichnen. Der interne Aufbau der einzelnen Kapitel ist dabei jeweils chronologisch angelegt. In dem auf diese Einleitung folgenden zweiten Kapitel werden zunächst die in der zeitgenössischen französischen Gesellschaft mit der Ordnung der Zeit und der Weltzeitordnung assoziierten Bedeutungsinhalte sowie der Stellenwert von Zeitnormen in der Kolonialideologie diskutiert und kritisch hinterfragt. Die für den französischen Kolonialismus in Westafrika zentralen entwicklungspolitischen Doktrinen von mission civilisatrice und mise en valeur waren von wirkmächtigen zeitspezifischen Stereotypenbildern unterwandert und geformt worden, die legitimierenden Charakter besaßen und die ideologischen Perspektiven der Kolonialherren vor Ort wie auch die ihrer Zeitgenossen innerhalb der französischen Gesellschaften prägten. Als omnipräsente Elemente von zeitgenössischen Diskursen über die Zeitlichkeit afrikanischer Gesellschaften kennzeichneten sie die mentalen Prädispositionen der kolonialen Protagonisten und deren Handeln in der kolonialen Situation auf zahlreiche explizite und implizite Arten und Weisen. Anschließend an diese Betrachtung der zeitgenössischen intellektuellen Perspektive auf die gesellschaftliche Ordnung der Zeit in afrikanischen Gesellschaften wird im dritten Kapitel zunächst die Etablierung des Weltzeitnormals der Greenwich Mean Time, die Angliederung des französischen Kolonialimperiums an diesen zeitlichen Standard und die Bedeutung dessen für das koloniale Projekt in Afrika erörtert. Auf diese Betrachtung des Raum-Zeit-Gefüges des französischen Kolonialimperiums folgt im darauffolgenden vierten Kapitel dann eine Auseinandersetzung mit den Strukturen des Raum-Zeit-Gefüges des senegalesischen Kolonialstaates.
I. Einleitung
Die damit einhergehende und als Erweiterung des imperialen Raum-Zeit-Gefüges zu betrachtende Differenzierung und Hierarchisierung des Kolonialstaates äußerte sich in der Auszeichnung von verschiedenen Ebenen der zeitlichen Strukturierung, die mit unterschiedlichen administrativ-organisatorischen, wirtschaftspolitischen und entwicklungspolitischen Rahmenbedingungen korrespondierte. Die Kolonialherrschaft verfügte in diesem Zusammenhang verschiedene zeitspezifische Ordnungspolitiken und zeitorganisatorische Regelwerke, die zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten differenzierten und letztendlich das Spektrum, zugleich aber auch die Grenzen für die Implementierung von Weltzeitordnung und präzisen zeitlichen Standards markierten. Im darauffolgenden fünften Kapitel folgt eine wiederum in erster Linie technologiegeschichtliche Betrachtung, die das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge hinsichtlich der vor Ort implementierten zeitspezifischen Infrastrukturen untersucht. Die Angliederung der Kolonie an das der Weltzeitordnung zugrundeliegende kulturelle Zeitbemessungssystem, das Vorhandensein entsprechender maschineller Ensembles der industrialisierten Welt und die davon abhängige Verbreitung von standardisierten Zeitsignalen in der Kolonie erlaubt es, die konkrete Verfügbarkeit und die Möglichkeiten zur Nutzung präziser zeitlicher Standards in der Kolonie auszuloten. Das sechste Kapitel ist der Diskussion der zeitspezifischen Ordnungspolitiken, die von den Kolonialherren für den Arbeitssektor der Kolonie verfügt wurden, gewidmet. Die auf die zeitlichen Dimensionen der kolonialstaatlichen Arbeitsorganisation ausgerichtete Betrachtung diskutiert die lokale Arbeitsgesetzgebung und entsprechende Arbeitszeiten und bietet eine exemplarisches Beispiel dafür, wie die Kolonialherren versuchten, ihre Zeit- und Ordnungsvorstellungen an die lokalen Gesellschaften heranzutragen. Neben den ökonomischen Imperativen, die in erster Linie auch mit dem Bestreben zur globalen Durchsetzung der Weltzeitordnung und den zeitgenössischen imperialen und kolonialen Rahmenbedingungen verknüpft waren, zeigen sich in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Grenzen, die von den Kolonialherren für die Implementierung von präzisen zeitlichen Standards gesetzt wurden. Im siebten Kapitel wird schließlich die zeitliche Strukturierung der kolonialgesellschaftlichen Alltagskultur hinsichtlich des darin zur Anwendung kommenden Umganges mit der Zeit untersucht. Die akteurszentrierte Betrachtung berücksichtigt dabei präzise uhrzeitspezifische und weniger exakte zeitspezifische Ordnungspolitiken, darunter Kolonial- und Festkalender, aber auch zeitorganisatorische Regelwerke des Kommunalwesens, die zur Rhythmisierung des Gesellschaftslebens herangezogen wurden. Zugleich werden jedoch auch markante zeitspezifische Handlungsgesellschaften und charakteristische zeitspezifische Handlungspraxen der Mitglieder der Kolonialgesellschaft, die sich in unterschiedlichem Grade auf präzise zeitliche Maßstäbe beriefen, exemplarisch veranschaulicht.
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Das abschließende achte Kapitel dient dazu, die Hauptargumentationslinien der vorliegenden Arbeit noch einmal nachzuvollziehen, die Untersuchungsergebnisse zusammenzuführen und das Gesamtergebnis zu präzisieren.
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
1. Fortschrittsdenken, Zeitnormen und Kolonialideologie Der Prozess der Standardisierung der Zeit und die Implementierung der Weltzeitordnung in den afrikanischen Kolonialgebieten fällt in eine Epoche, in der sich in den europäischen Gesellschaften bereits ein rationales und progressives Verständnis von Zeit herausgebildet hatte.1 Auseinandersetzungen um Zeitordnungen und Zeitnormen waren für das die Weltanschauung der beginnenden westlichen Moderne prägende zeitgenössische Fortschrittsdenken von zentraler Bedeutung. In Fortschrittsdenken und Fortschrittsbegriff spiegelte sich wiederum das zeitgenössische Zeitverständnis. Die bereits durch die philosophischen Denker der Aufklärung begründete fortschrittstheoretische Geschichtsdeutung zählte dabei mitunter zu den bedeutendsten kulturellen Repräsentationen eines rational-progressiven, linearen Zeit- und Geschichtsverständnisses. Darüber hinaus stützten jedoch auch die noch sehr einflussreiche christliche Ideologie, welche Zeit und Geschichte in Hinsicht eines erlösenden Endzieles konzipierte und die im Verlauf des 19. Jh. auf wissenschaftlicher Ebene proklamierten Evolutionstheorien, welche Zeit und Geschichte mit Evolution bzw. Fortschritt gleichsetzten, die Vorstellung fortschrittsorientierter temporaler Rationalität und Linearität.2 Im Kontext fortschrittstheoretischer Betrachtungen und unter Einfluss der Prozesse von Industrialisierung sowie von Transport- und Kommunikationsrevolution entwickelte sich dann in der zweiten Hälfte des 19. Jh. ein Verständnis von Fortschritt, in dem die durch diese Phänomene hervorgerufenen soziokulturellen Wandlungsprozesse vor allem hinsichtlich ihrer zeitspezifisch verkürzenden bzw. beschleunigenden Auswirkungen charakterisiert wurden. Dieser wahlweise als
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Entsprechend Fabian führte der Prozess der Säkularisierung der Zeit in den europäischen Gesellschaften des 18. und 19. Jh. zur ›Naturalisierung‹ der herrschenden Zeitvorstellungen und zur Universalisierung temporaler Kategorien. Zeit wurde demnach als universelles, der Natur immanentes Prinzip angesehen. (Vgl. ebd. 1983: 11-12) Einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte des ›modernen‹ Umganges mit der Zeit bieten Glennie und Thrift 2009: 35, 43, 408.
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Beschleunigung des individuellen Lebenstempos3 , als Veränderung des gesellschaftlichen Raum-Zeit-Gefüges4 oder als Zeit-Raum-Kompression5 beschriebene Sachverhalt kennzeichnet insofern das Zeit- und Geschichtsverständnis des zeitgenössischen, neuzeitlich-aufklärerischen Fortschrittsoptimismus zu Ende des 19. Jh. Die intensive Auseinandersetzung mit der Kategorie Zeit in den europäischen Gesellschaften bedingte die Beförderung eines zutiefst rationalen Verständnisses von Zeitordnungen und Zeitnormen, welches diese vor allem anhand von leistungsorientierten ökonomischen Prämissen zu definieren suchte. Die Tugenden der maschinengestützten Industriearbeit, d.h. Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit und die rigorose Einhaltung von Arbeitszeitdisziplin, anders gesagt, die zeitspezifischen Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise, standen insofern an der Basis des zeitgenössischen Verständnisses von Zeit und Zeitnormen.6 Die von Fortschrittsdenken, linearem Zeit- und Geschichtsverständnis und kapitalistischer Produktionsweise abgeleiteten rationalen Zeitnormen waren auch für die französische Kolonialideologie von zentraler Bedeutung. Kolonialideologische Auseinandersetzungen mit dem Stellenwert von Zeit und Zeitnormen sahen sich dabei grundsätzlich stark von den politischen und gesellschaftlichen Debatten dieser Epoche beeinflusst und spiegelten das breite Spektrum der intellektuellen und ideologischen Entwicklungen in der Metropole. Stereotype Betrachtungsweisen der soziokulturellen Andersartigkeit nicht-europäischer Gesellschaften stellten dabei ein generelles Charakteristikum kultureller Repräsentation in dieser Epoche dar undbildeten, auch in Hinsicht auf die Repräsentation der Zeitlichkeit afrikanischer Gesellschaften, ein sehr bedeutsames Elemente der Kolonialideologie.7 Die französische Kolonialideologie, die darin transportierten Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Europa und anderen Weltregionen, über das Dasein nicht-europäischer Gesellschaften und über die Zeitlichkeit dieser Gesellschaften, basierte dabei auf einem Prozess der Schaffung von Wissen über außereuropäische Gesellschaften, welcher sich noch zu Beginn des 19. Jh. aus einem breiten Fundus von Abenteuer- und Reiseberichten speiste, deren Ausgestaltung erst mit der Zeit einen in zunehmendem Maße wissenschaftlichen Charakter annahm.8 Im Verlauf des 19. Jh. fand dann eine umfangreiche wissenschaftliche Institutionalisierung und Kompartmentalisierung der Prozesse zur Erfassung von Wissen über 3
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Vgl. Rosa 2005: 79; Kern 2003: 16. Zur Transformation des Verständnisses von Raum und Zeit in dieser Epoche siehe Kern 2003: 11-36; zum Phänomen der Beschleunigung in den zeitgenössischen europäischen Gesellschaften siehe Rosa 2005: 75-85. Vgl. Schivelbusch 1977: 38. Vgl. Rosa 2005: 79. Siehe Thompson 1973; Glennie/Thrift 1996, 2002, 2009. Vgl. Alatas 1977: 29, 215. Vgl. Fabian 1983: 8.
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
außereuropäische Gesellschaften statt, der von einer intensiven Zunahme wissenschaftlicher Beobachtungsprojekte zum Sammeln, Klassifizieren und Beschreiben kultureller Phänomene und der Herausbildung spezifischer wissenschaftlicher Disziplinen und theoretischer Schulen begleitet wurde.9 Die oft auf Basis von unzuverlässigen Quellen gewonnenen, zumeist diskriminierenden Repräsentationen nicht-europäischer Gesellschaften fanden dann spätestens gegen Ende des 19. Jh. infolge eines breit angelegten, staatlich forcierten Propagandafeldzugs zur Verteidigung und Verbreitung der kolonialen Idee in Frankreich zu allumfassender gesellschaftlicher Verbreitung.10 Giradet beschreibt diese Wiederbelebung und Erneuerung der französischen Kolonialpolitik der Dritten Republik als gesamtgesellschaftliches Projekt: »›C’est à la fois‹, dit R. Giradet, ›sur un milieu d’affaires traditionnellement tourné vers l’Outre-mer et sur certains milieux parisiens, politique, journalistique et intellectuel que semble s’appuyer, sur le plan parlementaire, la défense de la politique d’expansion coloniale‹.«11 Die Erneuerung des kolonialen Gedankens ging mit der Gründung der französischen Dependancen der ›Kolonialwissenschaft‹ Ethnologie und der Etablierung kolonialer Interessengruppen einher, wie bspw. dem Comité de l’Afrique Française und der sehr einflussreichen Union Coloniale Française, die sich in der Folge einem intensiven, das koloniale Projekt befördernden Propagandafeldzug widmeten.12 Wörterbücher, Enzyklopädien und Monographien machten die in wissenschaftlichen Kontexten gewonnenen Theorien und Terminologien für die französische Allgemeinheit zugänglich.13 Auf Ebene der Populärkultur sowie in zunehmendem Maße auch im Bereich des Bildungswesens sorgte die verwissenschaftlichte Abenteuerund Reiseliteratur für eine intensive Verbreitung kolonialideologischen Wissens.14
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Vgl. Liauzu 1999: 47-51. Vgl. ebd.: 63-67; Pruneddu 1980: 223. Giradet (1972) zit. in Pruneddu 1980 : 223. Pruneddu 1980: 223. Zur Entstehung der Kolonialwissenschaft der Ethnologie und der damit verbundenen inhaltlichen Kompartmentalisierung siehe ferner Liauzu 1999: 47, 51. Vgl. ebd.: 64. Allein das Wirken der Union Coloniale Française umfasste dabei ein umfangreiches Repertoire an Instrumenten zur Verbreitung der kolonialen Idee, darunter: Presseartikel, diverse Publikationen, Propagandabroschüren und Schriften zur allgemeinen Verbreitung der Idee, aber auch die Gründung eigenständiger Bibliotheken, die Erstellung von speziellen Unterrichtsprogrammen und die Organisation einer Vielzahl von Konferenzen zur Thematik, die mit der Schirmherrschaft bekannter Vertreter des kolonialen Gedankens, wie bspw. Paul Leroy-Beaulieu, beworben wurden. (Vgl. Pruneddu 1980: 223) Vgl. ebd.: 224-225. Die stereotypen Betrachtungsweisen, die in den Schulbüchern reproduziert wurden, waren dabei insgesamt sehr homogen und unterschieden sich im Grundsatz kaum von der Art und Weise, wie sie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen rezipiert wurden. Insbesondere die in der Abenteuer- und Reiseliteratur vertretenen Motive fan-
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Darüber hinaus zeichneten sich insbesondere auch die Erzeugnisse von zeitgenössischer Presse und bildender Kunst (Malerei, Photographie und Comic-Kunst) an der Verallgemeinerung kolonialideologischen Wissens beteiligt.15 Repräsentationen von zeitspezifisch-diskriminierenden Stereotypen über die Zeitlichkeit afrikanischer Gesellschaften prägten insofern bereits vom Kindesalter an alle Bereiche der theoretischen Auseinandersetzung mit Afrika in Frankreich und führten zur Herausbildung einer Generation, deren kulturelles Selbstverständnis als französische Bürger intrinsisch mit der kolonialen Idee verbunden war.16 Der in diesem Zusammenhang etablierte Modus der Produktion von kolonialideologischem Wissen und das daraus resultierende Bild von nicht-europäischen Gesellschaften äußerte sich, in den Worten Alatas, entsprechend im Sinne einer »total ideological campaign«17 , jedoch ohne einen einheitlichen oder reflektierten Plan zu verfolgen. Die Entwicklung zumeist negativ geprägter Vorstellungen über nicht-europäische Gesellschaften muss demnach vielmehr als »collective reaction of a group moved by a common outlook and consciousness of interest«18 angesehen werden, die von Mitgliedern aus allen Bereichen der französischen Gesellschaft getragen wurde. Der Kern der zeitspezifischen Perspektiven der Kolonialideologie lässt sich trotz der Mannigfaltigkeit der Ursprungskontexte und der bisweilen sehr großen Variabilität der Zuschreibungen dennoch im Kontext der Formierung eines fortschrittstheoretischen, evolutionistischen Zivilisationskonzeptes und der Diskussionen um die verschiedenen Auslegungen der französischen Zivilisierungsmission verorten. Letztere erscheint in dieser Hinsicht vor allem als ein »Projekt zur Auflösung fortschrittsresistenter Sonderwelten«.19
2. Zeitnormen im Konzept von mission civilisatrice und mise en valeur Der Stellenwert von Zeitnormen im französischen Kolonialismus spiegelte sich im Rahmen der zeitgenössischen Kolonialideologie insbesondere im Konzept der so-
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den dabei zumeist unverändert Eingang ins französische Bildungswesen. (Vgl. ebd.: 230-233) Auch die Absolventen der École Coloniale, der seit 1889 bestehenden zentralen Ausbildungsstätte für französische Kolonialadministratoren, sahen sich in starkem Maße von den Motiven und Inhalten der Schriften des Exotismus und der Kolonialliteratur geprägt. (Vgl. Cohen 1971: 52-53) Vgl. Liauzu 1999: 64-66. Vgl. Pruneddu 1980: 234. Siehe ferner Cohen 1971: 37-57, hier vor allem: 51-52. Alatas 1977: 217. Ebd.: 217. Osterhammel 2005: 367.
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
genannten Zivilisierungsmission20 , welches spätestens seit der Gründung der Föderation Französisch-Westafrikas (Afrique Occidentale Française, A.O.F.) im Jahre 1895 als offiziell sanktionierte Ideologie des französischen Kolonialsystems diente.21 Die Idee der Zivilisierungsmission, die noch im 17. Jh. vor allem im Sinne der Christianisierung barbarischer Gesellschaften verstanden wurde, hatte sich in der darauffolgenden Epoche zu einem Konzept entwickelt, welches primär in Hinsicht auf die Verbreitung weltlicher Normen, staatlicher Institutionen und materieller Kultur interpretiert wurde und sich in politischen und wissenschaftlichen Diskussionen hinsichtlich des kulturellen Selbstverständnisses des französischen Nationalstaates spiegelte.22 Das Konzept der Zivilisierungsmission sollte dabei jedoch nicht als genuin europäische Erfindung verstanden werden und war auch nicht auf die Anwendung in außereuropäischen Gesellschaften beschränkt.23 Die Zivilisierungsmission verkörperte dabei den Anspruch, die Kolonialterritorien im Sinne des zeitgenössischen Fortschrittsdenkens weiterzuentwickeln und repräsentierte eine als Ideal angesehene Form des Kolonialismus, wie dem Kommentar eines Kolonialbeamten, der im frühen 20. Jh. im Zentralgouvernement in Dakar angestellt gewesen war, zu entnehmen ist: »Colonization is the propagation of the highest form of civilization yet conceived and realized, the perpetuation of the most talented race, the progressive organization of humanity, the scientific mise en valeur of the planet.«24 Die Idee der Zivilisierungsmission stellte dabei ein zentrales Element von kolonialer Herrschaft und kolonialer Praxis im 19. und 20. Jh. dar, welches entsprechend Osterhammel vor allem auf zwei zentralen Grundannahmen beruhte, einerseits »der Überzeugung des Zivilisators von der eigenen Überlegenheit, aus der sich die Selbstermächtigung zur Intervention in die Lebensumstände Anderer ableiten lässt,« und andererseits »der Erwartung einer gewissen Rezeptivität auf Seiten der zu Zivilisierenden.«25 Der Gedanke, kolonisierten Völkern die ›Zivilisation‹ zu bringen, wurde zwar grundsätzlich von allen europäischen Kolonialnationen ver-
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Zum Begriff siehe Barth/Osterhammel 2005: 7-13, zur Bedeutung der Zivilisierungsmission in Französisch-Westafrika siehe Conklin 1997. Conklin 1997: 11. Vgl. Cohen 2003: 175. Die Notwendigkeit zur Zivilisierung des eigenen Volkes äußerte sich innerhalb des französischen Nationalstaates erstmals zur Zeit der Julirevolution von 1830 und erreichte in der Periode der Pariser Kommune von 1871 einen ersten Höhepunkt: »Die Commune wurde als Einbruch von ›la sauvagerie‹ in eine sich sicher wähnende Zivilisiertheit verstanden und während der berüchtigten ›Blutwoche‹ (21. bis 28. Mai) mit […] Brutalität unterdrückt […].« (Ebd. 2005: 368) Deherme (1908) zit. in Conklin 1997: 55, Hervorhebungen im Original. Osterhammel 2005: 365.
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treten, erlangte jedoch nur in Frankreich den Status einer offiziell sanktionierten imperialen Doktrin:26 »From about 1870 […] French publicists, and subsequently politicians, declared that their government alone among the Western states had a special mission to civilize the indigenous peoples now coming under its control – what the French called their mission civilisatrice.« 27 Entgegen den Perspektiven und Begründungen in anderen europäischen Nationen verbanden die französischen Kolonialherren ihre Zivilisierungsmission mit einer speziellen nationalen Berufung, die sich nicht nur aus der Überzeugung der eigenen kulturellen und technologischen Überlegenheit speiste, sondern vor allem auch aus der revolutionären französischen Vergangenheit und den daraus entstandenen ideellen und moralischen Verpflichtungen ableitete: »The notion of the civilizing mission rested upon certain fundamental assumptions about the superiority of French culture and the perfectibility of humankind. It implied that the French were particularly suited, by temperament and by virtue of both their revolutionary past and their current industrial strength, to carry out this task. Last but not least, it assumed that the Third Republic had a duty and a right to remake ›primitive‹ cultures along lines inspired by the cultural, political and economic development of France.«28 Die Zivilisierungsmission diente als ideologische Grundlage für den gesamtgesellschaftlichen Um- und Ausbau der Kolonialgebiete und stellte insofern eine Art Agenda für deren langfristige Entwicklung dar. Als zentrale Entwicklungsrichtlinie für einen kontrollierten Prozess kulturellen Wandels bot sie den ideologischen Überbau für die kolonialpolitischen Doktrinen, diente als Legitimation des französischen Wirkens in Übersee und bestimmte nicht zuletzt auch das Selbstverständnis der französischen Kolonialbeamten vor Ort: »Administrators – vastly outnumbered, and equipped only with little more than their prejudices – relied upon the familiar categories of ›civilization‹ and its inevitable opposite ›barbarism‹, to justify and maintain hegemony overseas.«29 Der in Frankreich unter Einfluss von liberalem republikanischen Gedankengut geformte ideologische Gehalt der Zivilisierungsmission war dabei grundsätzlich
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Vgl. Conklin 1997: 1. Zu unterschiedlichen nationalstaatlichen Auslegungen der Zivilisierungsmission siehe Osterhammel 2005: 68ff. Conklin 1997: 1, Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd.: 1-2. Zur Verbindung von Französischer Revolution und Zivilisierungsgedanken siehe auch Liauzu 1999: 41-42. Conklin 1997: 2.
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
nicht statisch und klar abgegrenzt, sondern spiegelte vielmehr die Multidimensionalität und Wandlungsfähigkeit, die das breite intellektuelle Spektrum des zeitgenössischen französischen Republikanismus auszeichnete.30 Conklin hat darüber hinaus aufgezeigt, dass, selbst innerhalb des Zentralgouvernements in Dakar, mit dem Begriff der Zivilisierungsmission zahlreiche Themen repräsentiert und diskutiert wurden, die mit dem offiziell sanktionierten Sinnzusammenhang kaum Übereinstimmungen aufwiesen.31 Interpretation und Auslegung des Konzeptes der Zivilisierungsmission befanden sich insofern in einem kontinuierlichen Wandlungsprozess, der von Modifikationen der kolonialen Situation sowie ideologischen und politischen Veränderungen im metropolitanen Frankreich beeinflusst wurde.32 Die letztendliche Umsetzung der zivilisatorischen Ideale in den Kolonien, das ist ein weiteres Kennzeichen der französischen mission civilisatrice, blieb jedoch allein den Kolonialverwaltern in Übersee vorenthalten.33 Ihnen wurde die Befähigung und auch die Berechtigung zur Transformation der lokalen Lebenswelten zugeschrieben, ihr Beruf, ihre Tätigkeiten und Handlungen waren insofern Ausdruck zivilisatorischen Wirkens per se.34 Trotz der generellen Unbestimmtheit und Wandelbarkeit des Konzeptes, trotz Multidimensionalität und Polyvokalität der Interpretation der Inhalte der Zivilisierungsmission, kann, entsprechend Conklin, dennoch ein Kern von Grundannahmen herauskristallisiert werden, der von allen Vertretern des französischen Republikanismus im Zeitraum von 1895 bis 1930 geteilt wurde: »[…] an emancipatory and universalistic impulse that resisted tyranny; an ideal of self-help and mutualism that included a sanctioning of state assistance to the indigenes when necessary; anticlericalism; and its attendant faith in reason, science and progress; an ardent patriotism founded on the creation of a loyal, disciplined, and enlightened citizenry; and a strong respect for the individual, private property, and morality. All these ideas were embedded in the very terms mission and civilisatrice and influenced French policy making in West Africa.«35 Der sehr breite ideologische Gehalt der Zivilisierungsmission sowie auch die darin inkorporierten Zeitvorstellungen verdichtet und verdeutlicht sich auf Ebene der Kolonialpolitik insbesondere in der Idee der sogenannten mise en valeur, die selbst
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Vgl. ebd.: 7-8. Bzgl. des breiten Spektrums der möglichen Inhalte der Zivilisierungsmission siehe Barth/Osterhammel 2005; Keller 2008. Vgl. Conklin 1997: 51. Vgl. ebd.: 2-3, 7. Vgl. ebd.: 8. Vgl. ebd. Ebd.: 7-8, Hervorhebungen im Original.
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als integraler Bestandteil bzw. als spezifische Ausformung der Zivilisierungsmission angesehen wurde:36 »[C]onfronted with the economic poverty oft the indigenous populations, the French believed that civilization required that they improve their subjects‹ standard of living through the rational development, or what the French called the mise en valeur, of the colonies‹ natural and human resources.«37 Die mise en valeur, d.h. die Idee einer »rationalen wirtschaftlichen Entwicklung«38 , diente dabei als zentrales Organisationsprinzip zur effizienteren ökonomischen Ausbeutung der Kolonialgebiete.39 Der ideologische Gehalt der mise en valeur unterlag ebenso wie derjenige des Konzeptes der Zivilisierungsmission einer gewissen Wandelbarkeit und Variation. Im Rahmen der kolonialstaatlichen Verwaltung konzentrierte sich die Rhetorik der mise en valeur jedoch stets auf den ökonomischen Sinnzusammenhang. Die Idee der mise en valeur wird dabei zumeist mit dem drastischen Anstieg der Bemühungen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Kolonialgebiete, die in den 1920er Jahren vorgenommen wurden, in Verbindung gebracht. Die damaligen Entwicklungen kulminierten in kolonialideologischer und -politischer Hinsicht in dem Werk La mise en valeur des colonies françaises, welches 1923 vom sehr einflussreichen und den Kolonialismus aktiv fördernden Kolonialminister Albert Sarraut veröffentlicht wurde.40 Das Konzept der mise en valeur, d.h. die Vorstellung, dass ökonomischer und auch moralischer Fortschritt vor allem durch die Verbreitung von Ideen, Technologien und den Austausch von Handelsgütern zu erreichen sei, wurde jedoch bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. durch die Schriften von Mitgliedern der in kolonialpolitischer Hinsicht einflussreichen geographischen Gesellschaft Frankreichs (Société de géographie de Paris) propagiert.41 In den 1890er Jahren findet sich dann der
36 37 38 39 40 41
Zum Zusammenhang von mission civilisatrice und mise en valeur siehe ebd.: 51-65. Ebd.: 6. Vgl. ebd.: 23. Vgl. ebd.: 38-39, siehe dazu auch 51. Vgl. ebd.: 41. Vgl. Staum 2003: 93- 95, 169-173. Das Werk De la colonisation chez les peuples modernes von Paul Leroy-Beaulieu, einem Sozialökonom und Mitglied der geographischen Gesellschaft, soll hier insbesondere angeführt werden, da es die ideologischen Richtlinien des Wirkens der französischen Kolonialverwaltung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. zu großen Teilen vorwegnimmt. Leroy-Beaulieu schlägt verschiedene Zivilisierungstechniken vor und betont die Bedeutung von innovativen Technologien und öffentlichen Hygienerichtlinien für die ›Zivilisierung‹ von nicht-europäischen Gesellschaften, zusammen mit der Forderung nach einer partiellen Akkulturation derselben. (1874: 326-338) Der große Einfluss, den die Société de géographie de Paris auf den französischen Kolonialismus ausübte, äußerte sich bspw. darin, dass die Mitglieder der geographischen Gesellschaft zwischen 1890 und 1914 über die Hälfte (108 von 200) der Lobbyisten und drei Viertel (48 von 58) der Wortführer der den Kolonialismus
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
erste konkrete Nachweis der Rhetorik der mise en valeur im Rahmen offizieller kolonialpolitischer Debatten.42 Der Begriff taucht hier als Bestandteil der Argumentation für eine Neuausrichtung der Kolonialpolitik auf, die sich zugunsten einer Politik der rationalen wirtschaftlichen Entwicklung der eroberten Kolonialgebiete von der durch die Dritte Republik seit den 1880er Jahren gepflegten aggressiven militärischen Expansionspolitik abwenden möchte. Die Rhetorik der mise en valeur markiert hier insofern den Übergang von der Eroberung zu einer Phase der administrativen Erschließung und wirtschaftlichen Ausbeutung der Kolonialgebiete.43 Die in den 1890er Jahren einsetzende Politik der mise en valeur unterscheidet sich darüber hinaus durch ein stark rationalisiertes Verständnis wirtschaftlicher Ausbeutung von den vorher praktizierten Politiken: »As Michael Osborne has recently put it, the end of the nineteenth century witnessed a shift in French colonial sensibility from an ethos ›of unlimited exploitation to one where exploitation is married to rationality, progress and conservation.‹ […] It was this more rational and progressive development that the term mise en valeur apparently designated.«44 Entsprechend hatte sich bereits gegen Ende des 19. Jh. ein Verständnis des Konzeptes der mise en valeur herausgebildet, welches diese im Sinne eines kontrollierten staatlichen Entwicklungsprogrammes definierte45 und Fortschritt vor allem als Ergebnis technologischer Erneuerungen begriff: »[A] belief in the transformative power of the steam engine and modern hygiene reflected the Third Republic’s longstanding faith in the ability of technology to promote progress […].«46 Zu Beginn des 20. Jh. gelangte der Begriff dann insbesondere in der Amtszeit von Generalgouverneur Ernest Roume zu zentraler Bedeutung. Roume hatte infolge einer zwischen 1902 und 1904 durchgeführten Reorganisation der Verwaltungsstrukturen neun Jahre nach der Begründung einer zentralisierten föderalen Verwaltung im Jahre 1895 erstmals ein effektives Rahmengerüst für die zivile Administration der Überseegebiete in Westafrika schaffen können.47 Dieses diente ihm im Anschluss zur Umsetzung seiner vor allem durch das Konzept des materiellen Fortschritts und der damit assoziierten Einführung neuer Technologien
42 43 44 45 46 47
fördernden parlamentarischen Interessengruppe Parti Colonial stellten. (Vgl. Staum 2003: 172) Zum Einfluss der Société de géographie de Paris auf den französischen Kolonialismus im Allgemeinen siehe ebd. 2003: 85-121, 169-173. Vgl. Conklin 1997: 41. Vgl. ebd. Ebd., Hervorhebungen im Original. D.h.: »A program of rational, scientific, and progressive colonial development, in which the state would play a central role.« (Ebd.: 43) Ebd.: 39. Vgl. ebd.: 36.
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58
Weltzeit im Kolonialstaat
geprägten Interpretation der mise en valeur.48 Roumes Vorgehensweise folgte dabei in weiten Zügen den Ideen der zeitgenössischen, rationalisierten Stadt- und Siedlungsplanung und legte sein Hauptaugenmerk auf den Ausbau der Infrastrukturen für Transport und Kommunikation innerhalb der Föderation, d.h. insbesondere auf den Ausbau von Eisenbahn und Telegraph.49 Darüber hinaus setzte sich Roume bspw. auch für den Ausbau und die Reformierung des kolonialstaatlichen Gesundheits- und Bildungswesens ein.50 Roumes primär in Hinsicht auf den materiellen Fortschritt innerhalb der afrikanischen Gesellschaften fokussierte Interpretation von Zivilisierungsmission und mise en valeur hat sich, wie Conklin aufgezeigt hat, in zahlreichen Reden, die Roume vor dem Regierungsrat (Conseil de Gouvernement) in Dakar gehalten hat, niedergeschlagen. Das folgende Zitat, welches einer Rede aus dem Jahre 1902 entstammt, verdeutlicht das von Roume vertretene Verständnis des Zusammenhangs von technologischen Neuerungen, mise en valeur und Zivilisierungsmission: »It is now everyone’s conviction that no material or moral progress is possible in our African colonies without railroads: pacification assured, acceleration of commercial exchanges, development of agricultural production, progressive decrease in human porterage, profound modification of the current African social organization as a result of the facility with which more and more the freed laborer will have to sell his labor in the active centers of the colony, not only as an instrument of administration and of material progress, but also a tool of social progress and truly a work of humanity.«51 Das bereits um die Jahrhundertwende ausgebildete Verständnis der mise en valeur als staatlich koordiniertes Entwicklungsprogramm mit einem Schwerpunkt auf materiellem und technologischem Fortschritt wurde von Roumes offiziellem Nachfolger, Generalgouverneur Amédée W. Merleaud-Ponty, bis Kriegsbeginn unverändert fortgeführt.52 In Grundzügen überdauerte es letztendlich bis zur Erneuerung und Reformulierung des Konzeptes unter Kolonialminister Sarraut in den 1920er Jahren. Der Erste Weltkrieg mit seinen dramatischen wirtschaftlichen Konsequenzen führte in der Zwischenzeit jedoch zu einem vorübergehenden Einbruch der Anstrengungen zur materiellen Ausstattung und ökonomischen Entwicklung der Kolonialgebiete. Die von Roume idealtypisch verkörperte Investitionspolitik im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. war dabei generell auf die wenigen urbanen Zentren fokussiert, ländliche Regionen profitierten von diesen Investitionsprogrammen da48 49 50 51 52
Vgl. ebd.: 52. Vgl. ebd.: 42-43. Vgl. ebd.: 43, siehe dazu insbesondere 47-48. Roume (1902) zit. in ebd.: 53. Vgl. Conklin 1997: 66.
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
her kaum.53 Dies änderte sich in umfassender Art und Weise erst wieder infolge der Neubelebung des Konzeptes der mise en valeur in den 1920er Jahren. Das neue Verständnis der mise en valeur setzte den Fokus nicht mehr nur auf materiellen Fortschritt durch technologische Erneuerungen, sondern vielmehr vor allem auf die Notwendigkeit zur Einführung einer adäquaten industriellen Arbeitsethik innerhalb der Masse der lokalen Bevölkerung in den Kolonialgebieten: »In reality, the term [mise en valeur] reflected a renewed conviction that Africans would never progress unless the French made them progress, and that forcibly inculcating a hitherto absent work ethic constituted a crucial part of the Third Republic’s civilizing mission in West Africa.«54 Zusammengenommen betrachtet wird deutlich, dass die Rhetorik des Zivilisierungsdiskurses für die französischen Kolonialbeamten in Übersee eine überragende Bedeutung als zentrale Argumentationsgrundlage und Legitimationsstrategie einnahm.55 Der machtvollen Rhetorik des Zivilisierungsdiskurses stand auf theoretischer Seite jedoch eine zwar vielseitige, dadurch aber inhaltlich auch sehr diffuse und schwache Konzeption gegenüber. Die Multidimensionalität des Konzeptes der Zivilisierungsmission ließ zu viel Interpretations- und Auslegungsspielraum, so dass sich das Konzept letztlich als zu fragmentiert herausstellte, weil es in seiner Unbestimmtheit und Offenheit viel zu sehr durch seine Vertreter, d.h. die kolonialen Protagonisten der Zivilisierungsmission in Übersee, geprägt und verändert werden konnte.56 Im Kontext kolonialadministrativer Praxis in Senegal existierte auch deswegen von den Anfängen der administrativen Erschließung bis ins Jahr 1904 hinein keine klare Definition der Zivilisierungsmission und ihrer Inhalte.57 Erst in der Amtsperiode des Generalgouverneurs Roume und durch dessen Mediation entwickelte sich in den Folgejahren eine deutlichere Ideologie der Zivilisierung, die bis in die 1920er Jahre hinein größtenteils unverändert beibehalten wurde. Trotz der über lange Zeit unklaren Definition der Inhalte der Zivilisierungsmission und des graduellen Wandels der Auslegung des Konzeptes, bewiesen der Zivilisierungsgedanke und die damit eingehende Argumentation zur Legitimierung des Kolonialismus innerhalb der französischen Gesellschaft dennoch über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg auf bemerkenswerte Art und Weise Kontinuität und Konstanz. Die in dieser Hinsicht 1925 vom späteren Premierminister Léon Blum während einer parlamentarischen Debatte vorgebrachte Argumentation zum zivilisatorischen Auftrag der französischen Nation,
53 54 55 56 57
Vgl. ebd.: 68. Ebd.: 7. Vgl. ebd.: 2. Vgl. Keller 2008: 106-107. Vgl. Cohen 1971: 71.
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Weltzeit im Kolonialstaat
»Nous admettons qu’il peut y avoir non seulement un droit, mais un devoir de ce qu’on appelle les races supérieures, revendiquant quelquefois pour elles un privilège quelque peu indu, d’attirer à elles les races qui ne sont pas parvenues au même degré de culture et de civilisation.«58 , stimmt daher in ihrer Aussage mit derjenigen überein, die der Ministerpräsident Jules Ferry bereits 1885, 40 Jahre zuvor, an derselben Stelle vorgetragen hatte: »Messieurs, il faut parler plus haut et plus vrai! Il faut dire ouvertement que les races supérieures ont un droit vis-à-vis des races inférieures. […] Je répète qu’il y a pour les races supérieures un droit, parce qu’il y a un devoir pour elles. Elles ont le devoir de civiliser les races inférieures.«59 Die bisherige Darstellung verdeutlicht den großen Stellenwert von Zeitnormen für die Kolonialideologie. Im Konzept der Zivilisierungsmission und entsprechenden zivilisatorischen Diskursen der Kolonialherren spiegelte sich das zeitgenössische Fortschrittsdenken sowie ein Geschichtsverständnis, welches die geschichtliche bzw. zeitliche Entwicklung von Gesellschaften mit dem Voranschreiten (materiellen) Fortschrittes gleichsetzte. Dies verdeutlicht sich insbesondere in der Dominanz der ökonomisch ausgerichteten Interpretationen der Zivilisierungsmission unter dem Schlagwort der mise en valeur. Die ideologischen Grundlagen der Zivilisierungsmission beruhten insofern auf einem rationalen und linear-progressiven Zeitverständnis, welches soziokulturelle Wandlungsprozesse in erster Linie zu Resultaten erklärte, die aus der Verwirklichung materiellen Fortschritts hervorgingen. Die gemäß dieses Schemas in unterschiedlichen geschichtlichen Zeiten angesiedelten europäischen und nicht-europäischen Akteure wurden durch das Konzept der Zivilisierungsmission letztendlich in ein koloniales Beziehungsgeflecht eingebunden, welches die postulierten Unterschiede in eine zeitspezifische kulturelle Hierarchie übertrug und die Form der Interaktion zwischen den beiden Parteien festlegte.
3. Die Zeiten der mission civilisatrice 3.1. Der europäische Blick auf die Zeit außereuropäischer Gesellschaften Die zeitspezifischen Perspektiven der Zivilisierungsmission resultierten aus einem sich über mehrere Jahrhunderte hinziehenden Prozess der Konstituierung wissenschaftlicher Rassismen innerhalb der europäischen Geistesgeschichte. Insbesondere die Vorgänge zwischen dem späten 15. und dem späten 18. Jh., einer Epo58 59
Blum (1925) zit. in Liauzu 1999 : 56. Ferry (1885) zit. in Liauzu 1999 : 56.
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
che, die entsprechend der von Terkessidis eingeführten Gliederung rassentheoretischer Konzeptionen als Entwicklungsphase eines universellen Verständnisses von Rassismus angesehen werden kann60 , wirkten sich dabei nachhaltig auf die wissenschaftlichen Rassismen aus, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. auf profunde Art und Weise Einfluss auf die koloniale Situation nahmen. Christlich motivierte Denkweisen, die den europäischen Blick auf die ›andere Welt‹ im mittelalterlichen Europa prägten und im 19. Jh. in der sogenannten Hamitentheorie kulminierten61 , zählten insofern ebenso zur Grundlage der wissenschaftlichen Rassismen der Kolonialzeit wie auch die anthropologischen Betrachtungen der Philosophen der Aufklärung:62 60 61
62
Vgl. Amesberger/Halbmayr 2008: 19. Vgl. ebd.: 17; Wirz/Eckert 2004: 146-147; Bitterli 1970: 113. Die Hamitentheorie greift auf die in der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments (1. Buch Mose bzw. Genesis) dargelegte Vorstellung von den drei Söhnen Noahs (Sem, Japhet und Ham) als Stammväter der Menschheit zurück. Die entsprechend der biblischen Vorlagen mit einem jeweils unterschiedlichen Grad an christlicher Tugendhaftigkeit ausgestatteten Söhne Noahs wurden infolgedessen bereits im Verlauf des ersten nachchristlichen Jahrtausends zu den Stammvätern unterschiedlicher Gruppierungen der Erdbevölkerung bzw. verschiedener ›Menschenrassen‹ stilisiert. Schwarze Menschen wurden dabei aus Perspektive der europäischen Protagonisten dieser Gedankengänge immer mit der biblischen Abstammungslinie von Ham verbunden, welcher aufgrund der biblischen Vorlagen als der am wenigsten tugendhafte Sohn von Noah angesehen wurde. Sanders identifiziert letztendlich zwei zentrale Interpretationen bzw. Entwicklungsstufen des hamitischen Mythos innerhalb der europäischen Geistesgeschichte. Einerseits die mittelalterliche Version, welche sich um 1600 allgemein durchsetzt und in der schwarze Menschen noch als direkte Nachkommen des biblischen Noah-Sohns Ham identifiziert wurden und daher einen ›monströsen‹, d.h. im biblischen Sinne niederträchtigen und bösen Charakter aufwiesen. (Vgl. 1969: 522) Andererseits die im frühen 19. Jh. zu allgemeiner Verbreitung gelangende Version der Hamitentheorie, die unter Einfluss wissenschaftlicher Überlegungen nur noch den aus zeitgenössischer Perspektive am zivilisiertest erscheinenden Teil der schwarzen Erdbevölkerung als Nachkommen von Ham auswies, der überwiegenden Mehrheit der schwarzen Erdbevölkerung jedoch jedwedes Potential zur Zivilisation absprach. (Vgl. ebd.: 527) Vgl. Liauzu 1999: 38; Fabian 1983: 6-10; Amesberger/Halbmayr 2008: 19. Entsprechend Amesberger/Halbmayr gaben die Philosophen der Aufklärung den »entscheidenden Impuls [zur] Rassierung der Menschheit.« (Ebd.) Die in diesem Kontext propagierte Anthropologie der Aufklärung äußerte sich »in Bezug auf die Wahrnehmungsmuster außereuropäischer Kulturen, Menschen und Rassen von einem ideologisch belasteten Rassendenken geprägt […], das den Anspruch dieser Philosophie […] stark beeinträchtigte.« (Diop 2006: 45) Neben den außer Frage stehenden und vielfach betonten positiven Auswirkungen, die die Aufklärungsbewegung auf »das heutige politische und staatsrechtliche Verständnis von Menschen und Bürgerrechten“ (ebd.) ausübte, tritt somit noch eine Reihe von negativen Auswirkungen, die aufgrund ihrer rassistischen Grundannahmen ebenjenen Positiven diametral gegenüberstanden: »Insofern besteht kein Zweifel darüber, daß die Aufklärung als geschichtsbildende Kraft auf unsere Moderne zweifach wirkt, universell und zugleich europäisch, progressiv und zugleich repressiv.« (Ebd.)
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Weltzeit im Kolonialstaat
»Philosophen wie Spinoza, Locke und Leibnitz entwickelten die Idee einer Great Chain of Being, einer streng hierarchischen Ordnung der gesamten Schöpfung. Diese Hierarchisierung sämtlicher Lebewesen findet Widerhall im Systematisierungsinteresse europäischer Wissenschaftler, die den Übergang vom Tier zum Menschen suchen und diese ›Zwischenwesen‹ in den Gebieten außerhalb Europas zu finden hoffen. Vor allem in Afrika glauben sie, fündig geworden zu sein.«63 Auch das Konzept der Zivilisierungsmisson zeigt sich stark durch die Philosophie der Aufklärung beeinflusst.64 In rassentheoretischer Hinsicht knüpft das Konzept der Zivilisierungsmission an die klassischen universalgeschichtlichen Entwicklungslehren der Epoche des Evolutionismus an und verfolgt eine »zyklischbildhafte Lebens- oder ›Weltalterlehre’«, in der »die Gesamtmenschheit […] einen gleichsam biomorphen Wachstumsprozeß [durchläuft,] von der ›Kindheit‹ über das ›Knaben-‹, ›Jünglings-‹ und ›Mannesalter‹, dem Höhepunkt, bis hin zum Verfall, dem ›Greisenalter‹ – und natürlich befinden sich dabei, universalgeschichtlich gesehen, die ›Wilden‹ noch auf der Kindheitsstufe, die Europäer ganz oben, auf dem ›Wipfel des Baums‹, sichtlich ohne Anzeichen einer beginnenden Vergreisung erkennen zu lassen.«65 Lewis H. Morgan und Edward B. Tylor stellten dabei zwei der mitunter bedeutendsten und einflussreichsten Vertreter der evolutionistischen Schule des 19. Jh. dar66 , die die Ansicht vertraten, dass es sich »bei den weltweit existierenden Kulturen […] [um] unterschiedliche Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft [handelte], die von der ›Wildheit‹ zur ›Zivilisation‹ voranschreite.«67 Die Vorstellung einer fortschreitenden gesellschaftlichen Aufwärtsbewegung über verschiedene Entwicklungsstufen, die im Zustand der Zivilisation kulminiert, verkörpert im Prinzip die Idee unilinearer kultureller Evolution und postuliert eine Entwicklung vom ›Einfachen‹ zum ›Komplexen‹. Das ›Komplexe‹, bzw. ›Zivili63
64 65
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67
Amesberger/Halbmayr 2008: 21. Zu den frühen philosophischen Theoretikern, die sich insbesondere auf die Untersuchung der Zeitlichkeit in afrikanischen Gesellschaften konzentrierten und deren Gedankengänge die nachfolgenden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik nachhaltig prägen konnten, zählen vor allem auch Schiller und Hegel. (Vgl. Wirz 1983: 100ff.; siehe auch Wirz/Eckert 2004: 147) Zur Auseinandersetzung der zeitgenössischen französischen Philosophie mit der Kolonisation Afrikas siehe Cohen 2003: Kap. 3; Staum 2003. Vgl. Diouf 1999: 75; Staum 2003: 87. Müller 1998: 31, Hervorhebungen im Original; vgl. Osterhammel 2005: 366. Siehe auch LeroyBeaulieu 1874: 575-577, wo dieser diesen biomorphen Wachstumsprozess im Sinne eines Entwicklungsstufenmodells erläutert. E. B. Tylor veröffentlichte 1871 den disziplinären Meilenstein Primitive Culture, L. H. Morgan 1877 das ebenso bedeutsame Werk Ancient Society, Or: Researches in the lines of human progress from savagery through barbarism to civilisation. (Vgl. Schramm 2005: 462) Ebd.: 462.
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
sation‹ und ›zivilisiert sein‹, wurde im Kontext des französischen Kolonialismus anhand des Grades der Vollendung zivilisatorischen Könnens bzw. des Grades an zutage gelegter kultureller ›Meisterhaftigkeit‹ gemessen, welcher sich aus Perspektive der Kolonialherren in einer bestimmten Gesellschaft äußerte. Die dabei zugrunde gelegten, vor allem dem nationalen französischen Selbstbild entnommenen Charakteristika, welche die meisterhafte kulturelle, politische und wirtschaftliche Entwicklung im zeitgenössischen Frankreich widerspiegeln sollten, dienten als fortschrittliches Entwicklungsideal und als Maßstab für die Formulierung von zivilisatorischen Tugenden, anhand derer sich weniger entwickelte Gesellschaften orientieren sollten: »French imperial ideology consistently identified civilization with one principle more than any other: mastery […] mastery of nature, including the human body, and mastery of what can be called ›social behavior‹. To put it another way, to be civilized was to be free from specific forms of tyranny: the tyranny of the elements over man, of disease over health, of instinct over reason, of ignorance over knowledge and of despotism over liberty. Mastery in all these realms was integral to France’s self-definition under the Third Republic.«68 Der zivilisatorische Maßstab des französischen Entwicklungsideals wurde dabei im Sinne der universalgeschichtlichen Entwicklungsstufenmodelle als zeitspezifisch am weitesten fortgeschrittene Form menschlicher Gesellschaftsentwicklung angesehen und als genuiner Ausdruck der ›Moderne‹ konstituiert. Andere menschliche Gesellschaften, die diesem zivilisatorischen Ideal nicht entsprachen, erfuhren im Gegenzug eine zeitspezifische Deklassierung, die sie anhand ihres vermeintlichen zivilisatorischen Entwicklungsstandes in eine graduell abgestufte Vergangenheit projizierte69 . Die von Evolutionismus und Eurozentrismus geprägte europäische Perspektive auf Zeit repräsentierte insofern ein monokausal gedachtes Geschichtsverständnis bzw. ein Verständnis von Geschichte im Kollektivsingular70 ,
68 69
70
Conklin 1997: 5-6. Der Vorgang der zeitlichen Rückversetzung wurde von J. Fabian auch als »denial of coevalness“ charakterisiert, d.h.: »[A] persistent and systematic tendency to place the referent(s) of anthropology in a Time other than the present of the producer of anthropological discourse […].« (Fabian 2002: 31) Im Zuge dieser von Fabian vornehmlich als Bestandteil ethnologischer Perspektiven diskutierten Verweigerung der Gleichzeitigkeit wird eine bestimmte räumliche Anordnung bzw. Distanz zwischen Gesellschaften in einen zeitlichen Unterschied übertragen. (Vgl. ebd.: 12) Als zentrales Element der europäischen Auseinandersetzung mit dem kulturell ›Anderen‹ bestimmt die dadurch eingenommene Sichtweise nicht nur die zeitgenössische Ethnologie sondern auch alle anderen Prozesse der Objektivierung und Repräsentation außereuropäischer Gesellschaften in der Kolonialzeit. (Vgl. ebd.: 17ff.) Vgl. Wirz 1983: 99.
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Weltzeit im Kolonialstaat
»demzufolge es […] nur eine, stufenförmig fortschreitende Weltgeschichte geben kann, die ihrerseits in der bürgerlichen Gesellschaft gipfelte, während die Geschichte der überseeischen Völker zu einer Vorgeschichte reduziert [wurde].«71 Die Besonderheit der eurozentristischen Auseinandersetzung mit afrikanischen Gesellschaften bestand ferner darin, dass diese als Entitäten gedacht und konstruiert wurden, die den europäischen Kulturen in ihrer Konstitution diametral gegenübergesetzt waren.72 Nicht nur, dass afrikanische Gesellschaften innerhalb der Hierarchie der universalgeschichtlichen Entwicklungslehren den untersten Rang einnahmen, vielmehr korrespondierte diese Positionierung aus Perspektive der eurozentristischen Theoretiker auch mit der These der vollständigen Geschichtslosigkeit der betreffenden Gesellschaften.73 Die Festlegung der Zeitlichkeit der Afrikaner bzw. die Entdeckung ihrer Geschichtslosigkeit und der Ausdruck dessen im Rahmen von Ideologie und Praxis der Zivilisierungsmission fallen damit in einen allgemeinen Prozess der Entwicklung von wissenschaftlichen Rassismen und ›rassifiziertem Wissen‹, welcher innerhalb europäischer Gesellschaften seit Mitte des 19. Jh. zu beobachten war.74 Die wissenschaftlichen Fachdisziplinen, welche die Entwicklung wissenschaftlicher Rassismen und die Entwicklung verschiedener evolutionistischer Entwicklungsstufenmodelle in Frankreich in weitaus größtem Maße beeinflussten, waren dabei diejenigen der physischen Anthropologie, der Geographie und gegen Ende des 19. Jh. bzw. zu Beginn des 20. Jh. die sich entwickelnde Disziplin der sozialen Anthropologie, aus der sich später die ›Kolonialwissenschaft‹ der Ethnologie entwickeln sollte.75 71 72
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74 75
Ebd.: 101. Vgl. Bitterli 1970: 117. Europäische und afrikanische Gesellschaften wurden bereits im 16. Jh. als Entitäten angesehen, die eine besonders große Unterschiedlichkeit auszeichnet. ›Schwarze‹ und ›weiße‹ Kultur wurden in diesem Sinne als diametral entgegengesetzt wahrgenommen und als Extrempositionen definiert. (Vgl. Liauzu 1999: 37-38) Vgl. Wirz 1983: 101; Arndt 2006: 19. Insbesondere die Hegelschen Überlegungen zu dieser Thematik haben dazu beigetragen, die Vorstellung von der Geschichtslosigkeit der afrikanischen Gesellschaften in der europäischen Geistesgeschichte festzuschreiben, »[d]enn Hegel hat den Fortschritt zum Strukturmerkmal der Geschichte schlechthin erhoben“, zugleich jedoch auch unmissverständlich verdeutlicht, dass ebenjener Fortschritt in Afrika nicht existiere (Wirz 1983: 100). Liauzu verweist in dieser Hinsicht und in Anlehnung an die diesbezüglichen Gedankengänge von Lévi-Strauss zudem darauf, dass sich bereits um 1800 ein ausgeprägtes Verständnis von fortschrittsorientierten, in der Geschichte stehenden, ›warmen‹ Gesellschaften in Europa und statischen, geschichtslosen, ›kalten‹ Gesellschaften außerhalb von Europa herausgebildet hatte. (Vgl. ebd. 1999: 42) Vgl. Schramm 2005: 461; Staum 2003: 86ff.; Cohen 1985: 305-311. Hinsichtlich der Rolle der Geographie siehe Staum 2003: 90-91; hinsichtlich derjenigen der physischen Anthropologie siehe Cohen 1985: 305-308; bzgl. der der sozialen Anthropologie siehe Sibeud 1994: 642ff. Die französische Ethnologie begann sich in den Jahrzehnten um
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
Der Prozess der Produktion von ›rassifiziertem Wissen‹, welcher nicht nur durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern vor allem auch durch die zeitgenössische Reise- und Abenteuerliteratur umfangreichen Eingang in die Populärkultur fand76 , operierte dabei vor allem mit binären Oppositionen, um eine dichotome Gegenüberstellung von europäischer und afrikanischer Kultur zu erzielen.77 Zu den mitunter bedeutendsten binären Oppositionen, die in diesem Prozess zu Anwendung kamen, können u.a. folgende gezählt werden: »[Die] Gegenüberstellungen Natur und Kultur, Chaos und Ordnung, Statik und Entwicklung, rückwärtsgewandte Traditionsgebundenheit und vorwärtsgerichtete Zukunftsoffenheit, die sich ihrerseits gegenseitig bedingen und in der Dichotomie Geschichtslosigkeit und Geschichte gipfeln.«78 Geschichte und Zeitverständnis wurden von den europäischen Protagonisten insofern von vorneherein als Phänomene definiert, die soziokulturellen Wandel als einen offenen Prozess des Fortschritts begriffen und dabei die entsprechenden Entwicklungen im europäischen Raum als universellen Maßstab zugrunde legten:79 »[D]ie rassifizierte Differenz [wurde somit] zum grundlegenden Prinzip einer taxonomischen Weltordnung erhoben, durch die ein weißes Selbst konstruiert wurde, das sich in Abgrenzung zu einer Vielzahl von objektifizierten ›Anderen‹ definierte. Dabei wurde in manichäistischer Manier eine ›natürliche‹ Hierarchie der ›Rassen‹ proklamiert, an deren Spitze der weiße Europäer stand: rational, aufgeklärt, beherrscht; und an deren unterem Ende Schwarze platziert wurden: irrational, abergläubisch, sexuell promisk und kannibalisch – ausgestattet mit all jenen Negativattributen, von denen sich das weiße Subjekt abgrenzen wollte.«80 Die sich vermittels binärer Oppositionen und Dichotomisierung ausdrückende eurozentristische Perspektive, die die Unterschiede zwischen europäischen und afri-
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die Jahrhundertwende zu formieren, fand ihre eigentliche Ausprägung jedoch erst in den 1930er Jahren. (Vgl. Sibeud 1994: 639) 1878 wurde ein erstes ethnographisches Museum in Paris eröffnet, 1925 das Institut für Ethnologie an der Sorbonne. Infolge der Weltausstellungen von 1889 und 1900 gelangte die Ethnologie zu weiterer Bekanntheit. (Vgl. ebd.: 640) Sibeud beschreibt die frühe französische Sozialanthropologie als ein Konglomerat aus Perspektiven, welches inhaltlich zwischen Abenteuer- und Reiseliteratur und geographischen Untersuchungen anzusiedeln ist. Frühe Ethnographien waren zudem rein utilitaristischer Natur. (Vgl. ebd.: 654) Wie schon die Geographen und physischen Anthropologen, operierten auch die frühen Ethnographen in naturalistischen Denkmodellen und verstanden soziale Phänomene als objektive Tatsachen. (Vgl. ebd.: 656) Vgl. Schramm 2005: 461; siehe auch Fabian 1983: 8. Vgl. Wirz 1983: 101; Liauzu 1999: 42. Wirz 1983: 102. Vgl. ebd.: 100. Schramm 2005: 461, Hervorhebungen im Original.
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Weltzeit im Kolonialstaat
kanischen Gesellschaften zunächst noch als unüberwindbare kategorische Diskrepanz definierte, begann erst ab Mitte des 19. Jh. einen weniger apodiktischen Charakter anzunehmen. Im Zuge der allgemeinen Ausweitung des kolonialen Engagements der unterschiedlichen europäischen Nationen setzte sich die Ideologie von Zivilisierungsmission und mise en valeur durch, welche die kulturelle Verschiedenheit nicht mehr als unveränderlichen, gottgegebenen Sachverhalt anerkannte. Die Idee zur Nivellierung von kulturellen Differenzen wurde auf diese Weise zum white man’s burden stilisiert, d.h. zu einer zentralen Verpflichtung und Verantwortung umgedeutet, die die überlegenen europäischen Zivilisationen gegenüber den unterlegenen einheimischen Gesellschaften zu erfüllen hatten:81 »Die rassistischen Kategorien blieben aufrechterhalten, nur die Zukunftsprojektion änderte sich: Der Unterschied zwischen den EuropäerInnen und den ›Anderen‹ galt nicht mehr als kategorisch, sondern es wurde nunmehr von der ›civilising mission‹ [sic!] gesprochen, durch die Letztere nach und nach auf den Stand der europäischen ›Zivilisation‹ gebracht werden könnten. Dies implizierte jedoch keineswegs eine Aufhebung der Rassenhierarchie, sondern der Maßstab für ›Zivilisation‹ und ›Fortschritt‹ war europäisch und die Behauptung der Überlegenheit der weißen Kultur wurde weiterhin perpetuiert.«82 Im Gefolge der Idee zur Zivilisierung ›rückständiger‹ außereuropäischer Gesellschaften fand somit auch die Idee des Fortschrittes Eingang in die koloniale Situation.83 Auch das Konzept der Zivilisierungsmission und die damit verquickten Ideologien und wissenschaftlichen Theoriebildungen änderten jedoch nichts an der eigentlichen Perspektive, die weiterhin eine zeitspezifische kulturelle Hierarchie propagierte und die kolonisierten Gesellschaften anhand dieser in unterschiedliche zeitspezifische Entwicklungsstadien gliederte. Alle praktischen kolonialherrschaftlichen Realisationen, die im Namen der Zivilisierungsmission angegangen wurden, waren dementsprechend immer auch durch rassistische Betrachtungsweisen geprägt.84 Die im Kontext wissenschaftlich fundierter Rassismen und anderer Formen von ›rassifiziertem Wissen‹ des 19. Jh. konstatierte, pseudowissenschaftlich untermauerte Andersartigkeit, Inferiorität und Primitivität afrikanischer Gesellschaften äußerte sich, in Hinsicht auf die der eurozentristischen Klassifikation zugrundeliegenden zeitspezifischen Dimensionen, insbesondere in der Herausbildung des Stereotyps vom ›Faulen Neger‹. Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit den außereuropäischen Gesellschaften sah sich jedoch generell durch zahlreiche
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Vgl. ebd.: 461-462. Ebd., Hervorhebungen im Original. Vgl. Liauzu 1999: 42. Vgl. Conklin: 9.
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
stereotype Vorstellungswelten geprägt, weshalb der Stereotyp vom ›Faulen Neger‹ nicht die einzige kulturelle Repräsentation darstellte, die zur Kennzeichnung der Zeitlichkeit in afrikanischen Gesellschaften herangezogen wurde. Der von Alatas (1977), Gronemeyer (1991) und Fanoud-Siefer (1968) als Mythos herausgestellte Faulheits-Stereotyp bildete zwar den Kern des Konglomerats der zeitspezifischdiskriminierenden Vorstellungswelten, wurde in der kolonialen Theorie und Praxis jedoch insbesondere durch zwei weitere zeitspezifisch diskriminierende Ausprägungen flankiert: einerseits derjenigen, die in der Vorstellung vom Afrikaner als großem Kind der Menschheitsgeschichte gipfelte und andererseits derjenigen, die die Vorstellung von der absoluten Sorglosigkeit und chronischen Unterbeschäftigung der Afrikaner betonte. Alle Varianten zeitspezifisch diskriminierender Terminologie standen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis bzw. ergänzten einander und können als instrumentalisierte und ›mythifizierte‹ Auslegungen der Inferiorität des Afrikaners hinsichtlich unterschiedlicher kolonialideologischer und -politischer Bezugsrahmen angesehen werden.85 Sie dienten letztendlich der Schaffung von zeitspezifischer kultureller Differenz und Hierarchisierung sowie, vor allem, zur Legitimierung des kolonialen Unterfangens und des europäischen Herrschaftsanspruches.86 Da die Entwicklung rassistischer Betrachtungsweisen und darin inkorporierter zeitspezifischer Diskriminierungen insgesamt sehr umfangreich ausfiel, stellt die im Folgenden anhand einer dreiteiligen Gliederung vollzogene Darstellung der verschiedenen Stereotypenbilder nur eine idealtypische Einteilung dar, die die Zielsetzung verfolgt, die Komplexität der Phänomene in einer auf die zeitspezifischen Aspekte der Stereotypisierung ausgerichteten Synthese zu reduzieren.
3.2. Einheimische Infantilität und kolonialer Paternalismus Obwohl Charakterisierungen der vermeintlichen Faulheit afrikanischer Gesellschaften bereits in der überwiegenden Mehrheit der französischen Wörterbücher des 18. Jh. niedergelegt worden waren87 , spiegelte sich die Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit afrikanischer Gesellschaften in den universalgeschichtlichen Modellen des 18. und 19. Jh. zunächst vor allem in Vorstellungen über deren Infantilität. Die Vorstellung der Infantilität stellte jedoch eine neuere Interpretation der Positionierung afrikanischer Gesellschaften innerhalb der postulierten Great Chain of Being dar, der die Gleichsetzung von Afrikanern und Tieren vorausging.88 Die im
85 86 87 88
Vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 161ff., 173ff. Vgl. Schramm 2005: 461; Niang 1999: 83. Vgl. Liauzu 1999: 38. Vgl. Cohen 2003: 238-245.
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Zuge von Entwicklungsstufenmodellen vorgenommene Diskriminierung schwarzer Menschen wurde insofern vor allem durch die Bildung von Analogien zu Tierwelt oder Kindheit realisiert.89 Selbst so geschätzte und einflussreiche französische Intellektuelle der Aufklärung wie bspw. Voltaire stehen in dieser Hinsicht nicht zurück und räsonierten, »[that] Africans had only ›a few more ideas than animals and [only] more facility to express them‹.«90 Im Verlauf des 19. Jh. fanden sich daher noch viele wissenschaftliche Theorien und literarische Werke, die schwarze Menschen und Affen auf ein und dieselbe Entwicklungsstufe stellten und somit sogar versuchten, Schwarze aus der menschlichen Spezies auszugrenzen: »The affinity between blacks and apes was thought to be so close that some writers asserted that the two could interbreed.«91 Die die Idee eines polygenetischen Ursprunges der Menschheit befördernde Theorie nahm dabei einen großen gesellschaftlichen Stellenwert ein. Sie findet sich daher bspw. auch im Larousse Wörterbuch von 186692 und wurde von bekannten und einflussreichen Persönlichkeiten wie Paul Broca, einem der Gründungsväter der 1859 etablierten Société d’anthropologie de Paris vertreten.93 Die Perspektive, in der Afrikaner vor allem hinsichtlich ihrer vermeintlichen Animalität charakterisiert wurden, begann sich erst infolge einer intensiveren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik zugunsten der InfantilitätsThese zu verschieben: »Some anthropologists […] were very uncomfortable with the notion of establishing a link between humans, including Africans, and animals. Instead of proclaiming variance from the white norm as proof of an affinity with animals, they equated the adult black with the white child.«94 Der französische Arzt und Professor der Zoologie Jean de Quatrefages de Bréau, der sich auch intensiv mit anthropologischen Themen auseinandersetzte, konstatierte dementsprechend bspw., dass Afrikaner einen Schädelindex aufweisen würden, der dem eines Pariser Kindes entspräche.95 Ähnliche Vergleiche finden sich auch bei zahlreichen anderen Vertretern von zeitgenössischer Wissenschaft und Populärkultur.96 In wissenschaftlicher Hinsicht zeichneten sich neben den physischen Anthropologen insbesondere die Mitglieder der geographischen Gesell89 90 91 92 93 94 95 96
Vgl. ebd.: 238, 1985: 305; Bitterli 1970: 110f. Voltaire zit. in Cohen 2003: 88; vgl. auch Bitterli 1970: 111. Cohen 2003: 242; siehe auch ebd. 1985: 307. Vgl. ebd.: 307. Ebd., Hervorhebungen im Original. Ebd. 2003: 243; Liauzu 1999: 48. Vgl. Cohen 2003: 243. Die Verbreitung des Stereotyps innerhalb der europäischen Wissenschaften hatte zu dieser Zeit einen nahezu universellen Charakter. Im deutschsprachigen Raum fand sich die Vorstellung von der Infantilität des Afrikaners schon Ende des 18. Jh. bei Schiller und erreichte ent-
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
schaft als federführende Vertreter von Entwicklungsstufennarrativ und KindheitsStereotyp aus.97 In der Populärkultur propagierten hingegen insbesondere die Vertreter der zeitgenössischen Reise- und Abenteuerliteratur sowie später auch diejenigen der Kolonialliteratur den Kindheits-Stereotyp. Die vermeintlich sentimentalen und naiven Charakterzüge von Afrikanern dienten den Autoren dabei zumeist als Ausgangspunkt für die Zuschreibung von Infantilität.98 Die französische Auseinandersetzung mit Entwicklungsstufenmodellen und Kindheits-Stereotyp kulminierten im 20. Jh. in den bereits zuvor angeführten wissenschaftlichen Arbeiten des berühmten Intellektuellen Lucien Lévy-Bruhl. Dessen Studien Les fonctions mentales dans les sociétés inferieures (1910) sowie La mentalité primitive (1922), in welchen Nicht-Weiße generell zu einem einfachem Geist und nicht-konzeptionellem Denken verdammt wurden, illustrierten die zeitgenössische gesellschaftliche Perspektive auf die vermeintliche Kindlichkeit von Afrikanern in idealtypischer Weise.99 Im Kolonialstaat und der Kolonialverwaltung fand die Vorstellung von der Infantilität der Afrikaner ihre Entsprechung im Konzept des republikanischen Paternalismus, welches die französischen Kolonisatoren in ihrem Selbstverständnis den kolonisierten Untergebenen gegenüber in die Position einer Art väterlichen Vormundes versetzte und in dem die unterlegene Gesellschaft durch die überlegene gelenkt und angeleitet wird.100 Die Infantilisierung der lokalen afrikanischen Gesellschaften und die paternalistische Haltung der Kolonialherren waren insofern intrinsisch miteinander verbunden und wechselseitig konstituiert: »L’esprit paternaliste […] se fondait sur la conviction que le Noir était un grand enfant et un adulte immature qu’il fallait hisser à la majorité. […] Le système s’autojustifia, en comparent le passé des victimes, supposé être barbare et stagnant et le présent de paix, de progrès et de civilisation apportés par la France.«101 Eine idealtypische Darstellung der autoritären und paternalistischen Haltung der Kolonialadministration in Französisch-Westafrika stellt das 1918 von Georges Harsprechend Wirz bereits in den Schriften Hegels einen ersten, frühen Höhepunkt. (Vgl. Wirz 1983: 100) 97 Vgl. Staum 2003: 86, 90-91, 169. Pyenson beschreibt in diesem Zusammenhang die Herausbildung eines neuen Typus von kolonialem Wissenschaftler, der primär auch als Agent der Zivilisierung fungierte. (Vgl. ebd. 1993: 133-134) 98 Vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 174; Cohen 2003: 243-245. 99 Vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 173-175; vgl. ferner Cohen 1985: 309-310. Wie Delavignette beschreibt, waren Lévy-Bruhls Werke für die in zunehmendem Maße ethnographisch interessierten Kolonialherren der 1920er bis 30er Jahre eine Standardlektüre: »Des administrateurs et des officiers, des médecins, des fonctionnaires de tous ordres et de tous grades, des missionnaires lisent Lévy-Bruhl et poursuivent la tâche d’exploration.« (Ebd. 1939: 73) 100 Vgl. Cohen 1971: 72. 101 Niang 1999 : 77-78.
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dy veröffentlichte Werk Les deux routes. Conseils pratiques aux jeunes fonctionnaires indigènes dar, in welchem ein Verhaltenskodex für einheimische Verwaltungsangestellte entworfen wird, der auf Unterwürfigkeit basiert und die unkritische Einhaltung von Gehorsam und Disziplin als Ausdruck von Intelligenz und ›Zivilisiertheit‹ definiert: »La supériorité hiérarchique ne se discute pas, elle vous est imposée par un ensemble de forces contre lesquelles, il est inutile de vous heurter. Monsieur un tel est votre chef, qu’il vous plaise ou vous déplaise, il restera votre chef tant que vous n’aurez pas changé de poste, tous les discours n’y feront rien et il est fort heureux qu’il en soit ainsi, autrement nous irons tout droit à l’anarchie. Le parti le plus sage est donc d’obéir très exactement aux ordres de ses chefs et de s’interdire le plus possible de porter des jugements sur eux.«102 Alle französischen Kolonialbeamten zeichneten sich dabei grundsätzlich durch eine hochgradig autoritäre Einstellung aus, die sich über ein Spektrum von eher wohlwollend gemeintem Paternalismus bis hin zu nahezu vollständig willkürlichen Formen von Dominanz und Herrschaft erstreckten.103 Im kolonialherrschaftlichen Alltag führten auf Kindheits- und Tieranalogien basierende Vorstellungen dabei u.a. zu eklatanten Missverständnissen der Realität und grobem Missbrauch, wenn, wie Cohen beschreibt, Kolonialbeamte von der tierischen Natur ihrer Untergebenen überzeugt waren und diese daher auch wie Tiere behandelten: »Colonial administrators, who imposed heavy burdens of forced labour upon their subjects, were convinced that because the Africans‹ presumably larger build and thicker nervous system, they were able to bear more than other humans.«104 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. entwickelte sich die ethnographische Auseinandersetzung mit lokalen Gesellschaften zudem zu einem Markenzeichen der Kolonialbeamten in Französisch-Westafrika, die Betrachtung ihrer Untergebenen im Kontext von wissenschaftlichen Entwicklungsstufenmodellen gelangte so zu noch umfassenderer Verbreitung und Anwendung.105
102 103 104 105
Hardy 1919 : 39-40. Vgl. Cohen 1971: 33. Cohen 1985: 312. Vgl. Sibeud 1994: 654. Sibeud vergleicht die ethnographisch interessierten Kolonialverwalter mit volkskundlich engagierten Lehrern in der französischen Provinz, die durch ihre Arbeit einerseits zur Zerstörung von kultureller Diversität beitrugen, diese andererseits aber auch zu bewahren versuchten: »Ils ont une attitude assez comparable à celle des instituteurs qui éradiquaient les patois en enseignant le français aux petits ruraux et qui recueillaient dans le même temps le folklore qu’ils vouaient à la disparition. Les ethnographes se font un devoir de rassembler des données qui vont bientôt disparaître puisqu’ils sont chargés sinon de civiliser, au moins d’acculturer.« (Ebd.: 655)
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Merlaud-Ponty, der von 1908 bis 1915 als Generalgouverneur FranzösischWestafrikas diente und von Johnson als mitunter einflussreichster Träger des Gouverneursrangs angesehen wird, kann als Hochapostel des republikanischen Paternalismus angesehen werden.106 Er charakterisierte die von der französischen Kolonialherrschaft praktizierte Variante des wohlwollenden Paternalismus als eine »policy of ›taming‹.«107 Merlaud-Ponty galt als strenger Bildungsreformer, dessen paternalistische Haltung sich vor allem in der patriarchalischen Natur seines Führungsstiles ausdrückte108 und die unter anderem die Spitznamen »vieil Africain«109 und »Seigneur Guillaume 1 de L’AOF«110 einbrachte. In der Zeitschrift Quinzaine coloniale, die von der die koloniale Idee fördernden und Merlaud-Ponty aktiv unterstützenden111 Interessengemeinschaft der Union Coloniale Française herausgegebenen wurde, findet sich folgende Erläuterung der paternalistischen Haltung der Kolonialherrschaft: »La conquête […] est la superposition, à une race primitive, de civilisation rudimentaire, de moralité retardataire, d’une race plus éclairée, de niveau moral supérieur, plus avancée dans les voies de la civilisation. [La race supérieure] prenant, en quelque sorte, par la main, les populations indigènes dont elle a assumé la direction, elle s’efforce de les élever peu à peu jusqu’à elle, en leur procurant plus de bien être, en les moralisant, en développement leur intelligence.«112
3.3. Der Mythos vom ›Faulen Neger‹ In noch größerem Maße als durch die Vorstellung von der Infantilität des Afrikaners wurde die alltägliche Vorstellungswelt der Kolonialherren jedoch durch den Mythos von dessen Faulheit geprägt. Der Stereotyp des ›Faulen Negers‹ erwies sich insofern als zentrale Repräsentation der rassistischen Betrachtungsweisen der Zivilisierungsmission, welche sich für die europäische Auseinandersetzung mit der zeitspezifischen Kultur und Lebensweise der Bevölkerungen in den afrikanischen Kolonialgebieten als charakteristisch erwiesen hat.113 Wie Gronemeyer am Beispiel deutscher und britischer Kolonialherren in ihren Überseebesitzungen im südlichen Afrika nachweisen konnte, erreichte der Stereotyp hier ein Niveau der Verbreitung,
106 107 108 109 110 111 112 113
Vgl. Johnson 1978: 127-128. Cohen 1971: 71. Vgl. Johnson 1978: 139-140. Ebd.: 128, Hervorhebungen im Original. Ebd. : 139. Vgl. Johnson 1978 : 137. Quinzaine coloniale (25.09.1900) zit. in Niang 1999 : 77. Eine generelle Auseinandersetzung mit der Figur des lazy native bietet Alatas 1977. Zum Stereotyp des ›Faulen Negers‹ siehe Fanoudh-Siefer 1968; Gronemeyer 1991. Zur Abwendung von diesem Stereotyp siehe Eckert 1999.
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welches nahezu universellen Charakter annahm: »Aus jedem ›weißen‹ Tagebuch, aus jedem Brief, aus jedem Interview glotzt einen das Stereotyp vom ›faulen Neger‹ an.«114 Entsprechend charakterisiert Gronemeyer das Ausmaß der Verbreitung der vorurteilsbehafteten Perspektive auf die afrikanischen Gesellschaften mit einer markigen Metapher: »Das Stereotyp vom faulen Neger, vom unzivilisierten Afrikaner, vom immobilen Eingeborenen durchzieht die Äußerungen weißer Afrikaner wie Schimmel den Gorgonzola.«115 Das durch das rassistische Gedankengut in den zeitgenössischen europäischen Gesellschaften aufgeladene Klischee vom ›Faulen Neger‹ wurde spätestens in der Mitte des 19. Jh. auch zu einem wiederkehrenden Bestandteil kolonialer Diskurse in Frankreich:116 »Both the apparent failure of freed slaves in the West Indies to prosper after emancipation, in the 1830’s, and the ›scientific‹ findings of French physical anthropology after 1850, encouraged the image of the lazy African.«117 Insbesondere die fast vollständig ausgebliebene Entwicklung von industriellen Errungenschaften, wie sie in Europa im Zuge der Industrialisierung gemacht werden konnten, die insofern vergleichsweise geringe wirtschaftliche Produktivität und die damit assoziierte vermeintliche Unfähigkeit, die natürlichen Rohstoffvorkommen und Ressourcen zu erschließen, wurden dabei von zeitgenössischen europäischen Betrachtern als Indikatoren für eine der afrikanischen Bevölkerung in den Kolonialgebieten angeborene Faulheit angesehen.118 Zu Beginn der Untersuchungsperiode hatte sich der Stereotyp von der ›Faulheit des Negers‹ entsprechend der Analyse Fanoudh-Siefers dann bereits so sehr verdichtet, dass er begann, sich im kollektiven gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern.119 Anders als im Falle des Kindheits-Stereotyps entwickelte sich der Faulheits-Stereotyp jedoch nicht primär aus wissenschaftlichen Betrachtungen, sondern entspringt vielmehr der literarischen Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Kontinent im Kontext der zeitgenössischen Abenteuer- und Reiseliteratur. Den entscheidenden Indikator für die Verdichtung zum gesellschaftlichen Mythos
114 115
116 117 118 119
Gronemeyer 1991: 17. Ebd.: 16. Kritische Bewertungen der zeitlichen Verhaltensweisen von afrikanischen Gesellschaften durch deutsche und britische Kolonialherren sind darüber hinaus auch für die Kolonialperiode in Ostafrika belegt. (Vgl. Eckert 2007: 79) Vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 13. Conklin 1997: 213. Vgl. ebd.; Niang 1999: 83; vgl. ferner Alatas 1977: 215-216. Vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 13.
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verortet Fanoudh-Siefer daher in der bereits 1881 von Pierre Loti veröffentlichten Novelle Le Roman d’un Spahi.120 Im Gegensatz zur überwiegenden Anzahl der vorangegangen literarischen Werke über den afrikanischen Kontinent, die diesen vornehmlich als paradiesische, geheimnisvolle und zauberhafte Welt beschrieben hatten, zeichnete Loti in seinem Werk erstmals das Bild eines ungastlichen, wilden und verfluchten Landes, in dem die Menschen durch sengende Hitze und todbringende Krankheiten malträtiert wurden: »Voilà donc l’Afrique que peint Loti : une Afrique noire désolée, épouvantable, étrange, mystérieuse, infernale, une terre saturnienne, une terre de mélancolie et de mort. C’est la terre de Cham, une terre maudite et oubliée de Dieu.«121 Ebenso negativ wie die Beschreibungen der Umwelt in den afrikanischen Kolonialgebieten fällt auch die Darstellung von deren afrikanischen Bewohnern aus. Diese werden fast ausschließlich als hässliche, mit affenartigen Gesichtszügen versehene Menschen beschrieben122 , die sich von ihrem europäischen Gegenüber vor allem durch ihre Zweitklassigkeit differenzieren: »Ainsi donc pour Loti, le noir est moins qu’un homme. En un mot c’est un primitif, un sauvage, tenu à l’écart de la ›civilisation‹ par sa nature de ›non-conceptuel‹ et aussi par le cadre de son pays maudit. La race noire est inférieure.«123 Handlungs- und Verhaltensweisen der lokalen Bevölkerung werden von Loti bewusst instrumentalisiert, um deren vermeintliche Primitivität hervorzuheben.124 Afrikaner sind daher in Lotis Roman vor allem damit beschäftigt zu schlafen, zu palavern, zu tanzen und zu feiern.125 Das bedeutendste Charakteristikum in den diskriminierenden Darstellungen der lokalen Bevölkerung war jedoch deren Trägheit bzw. deren angeborene Faulheit: »Un des traits principaux du nègre – tel qu’il est présenté dans le mythe – est son indolence, sa paresse congénitale.«126
120 Vgl. ebd. Pierre Loti war der Künstlername eines französischen Marineoffiziers namens Julien Viaud. (Vgl. Cohen 2003: 223) 121 Fanoudh-Siefer 1968 : 79; siehe auch Vercier 1992 : 13-15. 122 Vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 86. Neben unzähligen diskriminierenden Äußerungen über die ästhetischen Unzulänglichkeiten der einheimischen Bevölkerungen werden in Lotis Roman nur die drei bedeutendsten einheimischen Akteure mit Attributen der Schönheit versehen. Selbst diese wenigen positiven ästhetischen Beurteilungen könnten, entsprechend FanoudhSiefer, jedoch vor allem literarisch-stilistischen Prämissen geschuldet sein, was das von Loti gezeichnete Negativimage nur noch vergrößern würde. (Vgl. ebd.: 93) 123 Ebd. : 89. 124 Vgl. ebd.: 83. 125 Vgl. ebd.: 95. 126 Ebd.: 161.
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Fanoudh-Siefer charakterisiert Lotis Werk daher als literarischen Meilenstein127 , als »un authentique processus de mythification«128 , in dem die zeitgenössischen Perspektiven auf das afrikanische Gegenüber kulminieren und sich insbesondere der Mythos vom ›Faulen Neger‹ auszubilden beginnt: »[L]e Roman d’un Spahi doit être regardé comme la pièce maîtresse du mythe de l’Afrique noire, représentant l’étape à laquelle le mythe passe de l’état larvaire à la maturité.«129 Loti gab letztlich ein durch sein eigenes Temperament stark verfälschtes Bild von Afrika ab, ein tragisches, trauriges Bild voller negativer Konnotationen und Missachtung gegenüber Afrikanern.130 Die sich darin ausdrückende negative Geisteshaltung, die Todessehnsucht des Protagonisten und die allgemein deprimierende Atmosphäre können dabei auf Lotis wenig ermutigende persönliche Lebensumstände zur Zeit der Verfassung des Buches zurückgeführt werden131 , wie auch auf seine generelle intellektuelle Disposition, die Züge einer zeitgenössischen »crise de fin de siècle«132 aufweist. Die von Loti vermittelte negative Darstellung afrikanischer Gesellschaften und ihrer Lebensweisen fügte sich darüber hinaus in die zeitgenössische koloniale Imagination des afrikanischen Kontinents, die sich aus einem umfangreichen Konglomerat von Reise- und Abenteuerliteratur des 19. Jh. speiste. Afrika stellte aus dieser Perspektive ein »killing field«133 dar, »an abode of death and […] a continent in need of help with no time to spare as the enemies of progress were already there or just around the corner.«134 Das durch negative Konnotationen geprägte Afrikabild gliederte sich so einerseits in den anhand von binären Oppositionen vorgenommenen Prozess der Dichotomisierung, unterstrich jedoch andererseits auch die mit der Phrase vom white man’s burden verbundene Ideologie der Zivilisierungsmission, die ja die Verantwortung inkorporierte, derart ›barbarische‹ Zustände baldmöglichst abzuschaffen.
Vgl. Cohen 2003: 244. Le Roman d’un Spahi kann als eines der letzten großen Werke der literarischen Gattung des Exotismus angesehen werden (vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 113) und begründet u.a. Lotis Ruf als »grand maître de l’exotisme“. (Ebd.: 54) Le Roman d’un Spahi steht insofern an der Schwelle zum Übergang zur klassischen Kolonialliteratur, deren Autoren im Gegensatz zu denen des Exotismus zumeist über wesentlich profundere Ortskenntnisse verfügten und oft längerfristige Aufenthalte in den Kolonien vorzuweisen hatten. (Vgl. ebd.: 114) Loti verfügte ebenfalls über Auslandserfahrung, hielt sich in Senegal jedoch bspw. nur kurz, zwischen 1873 und 1874, auf und verbrachte die meiste Zeit in Saint-Louis und Dakar. (Vgl. ebd.: 59; Vercier 1992: 7) 128 Fanoudh-Siefer 1968: 101. 129 Ebd.: 13. 130 Vgl. ebd.: 107; Vercier 1992: 13-15. 131 Vgl. ebd.: 15. 132 Fanoudh-Siefer 1968: 108. 133 Wirz/Eckert 2004: 147. 134 Ebd.: 150. 127
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Loti gehörte dabei zu den bekanntesten Autoren seiner Zeit und sein umfangreiches Werk autobiographisch motivierter Schriften über außereuropäische Kulturen übte großen Einfluss auf die zeitgenössischen Alteritäts-Diskurse innerhalb der französischen Gesellschaft aus. Es entwickelte sich darüber hinaus eine ganze Generation von Schriftstellern, die sich an Loti orientierte und dessen stereotype Betrachtungsweise auf vielfältige Arten und Weisen reproduzierte.135 Lotis Roman erschien in den ersten sieben Jahren nach seiner Veröffentlichung in acht aufeinanderfolgenden Editionen und erreichte in weniger als einem Jahrhundert über 150 Editionen: »Read by young and old, it was popular enough to be made into a musical that was presented at the Opéra Comique in 1897. The French literary establishment bestowed on Loti the highest honor available when in 1891 he was elected to the Académie Française. The award was all the more striking in light of the fact that Loti’s competitor for the coveted seat was Emile Zola.«136 Der Mythos vom ›Faulen Neger‹ wird in Lotis Roman daher zwar in idealtypischer Weise verkörpert, ist aber bei weitem nicht auf diesen beschränkt und prägte darüber hinaus auch nahezu alle anderen Werke der literarischen Gattungen des Exotismus und der Kolonialliteratur.137 Die intensive stereotype Prägung der Vorstellungswelten der Kolonialherren führte dabei dazu, dass der Mythos vom ›Faulen Neger‹ auf mannigfaltige Art und Weise in die koloniale Situation und Praxis hineingetragen wurde. Als zentrales und intrinsich mit dem Mythos verquicktes Leitmotiv führte dabei insbesondere die Vorstellung davon, dass die Einheimischen ihre Untätigkeit vor allem auch vermittels eines großen Konservationsbedürfnisses kompensierten, zur Ausformung einer eigenständigen und die koloniale Situation in nicht zu unterschätzendem Maße bestimmenden Handlungspraxis, auf die vermittels des Begriffes des ›Palaver‹ verwiesen wurde: »Le mythe du nègre veut que celui-ci travaille très peu, dorme beaucoup, et passe le reste du temps à ›palabrer‹.«138 Der Begriff, der im Verlauf des 19. Jh. zur Bezeichnung von Verhandlungen zwischen Europäern oder Einheimischen und Mitgliedern der lokalen Führungseliten fungierte, wurde in der Folgezeit herangezogen, um in allgemeiner Art und Weise ein sehr breites Spektrum sprachlicher Interaktionen zu kennzeichnen: »[I]l a fini par signifier d’une manière générale: histoires, chicanes, provocation, débat, procès, jugement, discus-
135 136 137 138
Vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 110. So fand der Stereotyp bspw. auch innerhalb der fiktionalen Literatur des Jules Verne Verwendung. (Vgl. Cohen 2003: 244-245; Liauzu 1999: 65) Cohen 2003: 244. Vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 94. Fanoudh-Siefer bietet auch zahlreiche Beispiele dazu aus der Kolonialliteratur, siehe dazu ebd.: 161-162. Ebd.: 165.
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sion, fables.«139 In literarischen Beschreibungen der Kolonialadministration wird der Begriff bspw. immer wieder auch zur Markierung der zahlreichen kleineren juristischen Konflikte verwendet, die tagtäglich an die Distriktkommandanten herangetragen wurden und über die diese wiederum als Repräsentanten der Justiz zu entscheiden hatten: »[D]es querelles mesquines, et futiles, des chicanes tortueuses et sans fin que l’administrateur – arbitre suprême de la brousse – règle aux lieu et place d’un magistrat.«140 Der im Vergleich zur ursprünglichen Bedeutung der Begrifflichkeit (als Verhandlung mit lokalen Führungseliten) herabgewürdigte Bedeutungsinhalt, welcher sich vor allem auch in der zunehmenden Fragmentierung und Abwandlung des ursprünglichen Sinnzusammenhangs äußerte, spiegelte sich auch in der bekanntesten zeitgenössischen Definition des Ausdrucks ›Palaver‹. In der 1893 von Dubois verfassten Einschätzung wird Palaver als eine Form des nichtssagenden Geredes, des Geschwätzes und Schwafelns dargestellt: »L’annonce d’un palabre met les noirs en liesse. […] [L]e palabre donne, en grand, satisfaction à un de leurs péchés mignons les plus chers que j’ai déjà noté au passage, le bavardage. Le palabre, en effet, n’est qu’une orgie de bavardage, accommodé d’un brin de solennité. […] Il y a palabre à propos de tout et à propos de rien. Il en est qui sont provoqués par les questions les plus graves, et d’autres par les sujets les plus futiles. S’agit-il de discuter de la paix ou de la guerre? palabre; laissera-t-on passer telle caravane? palabre; un village a-t-il chipé une vache à l’autre? palabre. Mais qu’importe le sujet! Le principal est que les uns jabotent à gorge que veux-tu, et que les autres puissent s’enivrer de paroles. […] Tout le monde en tient des palabres, l’almamy, ses alcalis, et les chefs du village […] Le fin du fin, c’est un palabre avec des ›toubabs‹, avec des blancs.«141 Als integrativem Bestandteil des Mythos vom ›Faulen Neger‹ kam der durch den Stereotyp des Palaver ausgezeichneten Vorstellung vom einheimischen Konversationsbedürfnis im kolonialherrschaftlichen Alltag, darauf verweist auch das Zitat, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Der Einfluss des Stereotyps auf die kolonialen Perspektiven und Haltungen war dabei sogar so groß, dass dieser zu einer administrativen Praxis zur Informationsgewinnung und Kontaktaufnahme mit der lokalen Bevölkerung stilisiert wurde, die über die gesamte Kolonialperiode hinweg von zentraler Bedeutung war142 und über die sogar ein eigenständiges Handbuch verfasst wurde.143 Generalgouverneur Merlaud-Ponty führte bspw. gleich in der ersten Woche nach seinem Amtsantritt im Jahre 1908 eine Politik der
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Ebd. Ebd.: 164. Dubois (1893) zit. in Fanoudh-Siefer 1968 : 165. Vgl. Simonis 2005: 27; Roux 1911: 27; Joseph 1915. Das sogenannte Manuel des palabres von Gaston Joseph aus dem Jahre 1915.
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offenen Tür ein und lud die lokale Bevölkerung zu festgelegten Sprechzeiten zum ›Palaver‹ in den neuerrichteten Gouverneurspalast in Dakar.144
3.4. Der weiße Kreuzzug gegen den schwarzen Müßiggang Der Stereotyp von der chronischen Unterbeschäftigung des Afrikaners kann als Spiegel und Ergänzung der bisher angeführten diskriminierenden Betrachtungsweisen angesehen werden. Je nach Umfang und Ausmaß der intellektuellen oder theoretischen Auseinandersetzung mit den afrikanischen Gesellschaften fand sich daher auch dieser Stereotyp in den bereits zitierten wissenschaftlichen oder populärkulturellen Schriften wieder, wie bspw. in den Schriften Leroy-Beaulieus: »Il n’est ni naturel ni juste que les civilisés occidentaux … laissent la moitié du monde peut-être à des petits groupes d’hommes ignorants, impuissants, vrais enfants débiles, clairsemés sur des superficiels incommensurables, ou bien à des populations décrépites, sans énergie, sans direction, vrais vieillards incapables de tout effort, de toute action combinée et prévoyante.«145 Der Stereotyp von der chronischen Unterbeschäftigung des Afrikaners stand dabei in direkter Relation zu klimatheoretisch begründeten Legitimationen der diskriminierenden Klassifizierung afrikanischer Gesellschaften.146 Zwei der Gründungsmitglieder147 der geographischen Gesellschaft von Paris, Conrad Malte-Brun und Charles A. Walckenaer, waren bspw. der Ansicht, dass Afrikaner, weil sie in einer heißen Klimaregion mit fruchtbaren Böden lebten, sich nicht mit dem Anbau von Nahrungsmittel auseinandersetzen müssten.148 Der vermeintliche Mangel an naturgegebenen Herausforderungen war dabei für Malte-Brun ein klares Anzeichen für fehlende Intelligenz und das Ausbleiben industrieller Entwicklungen in den betroffenen Gesellschaften, für Walckenaer dagegen war es Indikator für die Herausbildung einer Mentalität der Sorglosigkeit, »forgetful of the past, content with the present and without worries for the future.«149 Klimatheoretische Betrachtungen bzw. Argumentationen, welche die Lebensweise der afrikanischen Gesellschaften im Verhältnis zur natürlichen Umwelt the144 Vgl. Johnson 1978: 143. 145 Leroy-Beaulieu (1874) zit. in Liauzu 1999 : 56. 146 Klimatheoretisch begründete Argumentationen zur Erklärung kultureller Phänomene in afrikanischen Gesellschaften dominierten vor allem die wissenschaftlichen Überlegungen im 17. und 18. Jh., begannen dann aber im 19. Jh. an Bedeutung zu verlieren. (Vgl. Cohen 2003: 211) Bzgl. der grundsätzlich hohen Bedeutung klimatheoretischer Argumentationen für die Klassifizierung afrikanischer Kulturen siehe Cohen 2003: Kap.8; Staum 2003: 15-17; ferner Alatas 1970: 98-100. 147 Vgl. Staum 2003: 195. 148 Vgl. Cohen 2003: 211. 149 Walckenaer (1821) zit. in Cohen 2003: 211.
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matisierten, boten auch in der kolonialherrschaftlichen Praxis in Übersee ein gewissermaßen klassisches Forum für die Anwendung des Stereotypen von der chronischen Unterbeschäftigung des Afrikaners. In den Akten der Kolonialverwaltung wurde die mit dem Stereotypen assoziierte Mentalität der Einheimischen, im Sinne Walckenaers, zumeist mit dem Begriff der Sorglosigkeit (frz. Imprévoyance), d.h. einer defizitären Fähigkeit zur vernunftbegabten Zukunftsplanung umschrieben: »[I]l faut parer à l’imprévoyance de l’indigène qui est essentiellement un homme du moment présent. Le passé ne lui servira point de leçon et l’avenir n’existe déjà plus pour lui.«150 Die große Bedeutung, die diesem Stereotypen im administrativen Alltag zukam, verdeutlicht sich dabei insbesondere in der Gründung der sogenannten »Sociétés indigènes de Prévoyance«151 , die, wie sich bereits an der Titulierung ablesen lässt, ebenjener vermeintlichen Sorglosigkeit der Einheimischen durch administrativ gesteuerte Vorsorgemaßnahmen entgegenwirken sollten.152 An der Basis der ab 1907 einsetzenden Entwicklung dieses Systems von administrativen landwirtschaftlichen Vorsorgeeinrichtungen standen die Erfahrungen und die Initiative des von 1901 bis 1909 im Verwaltungsbezirk Sine-Saloum amtierenden Distriktkommandanten Amédée C. Lefilliatre153 , der darüber hinaus auch der Urheber des obigen Zitates war. Ursprünglich als pragmatische Lösung für eine über mehrere Jahre anhaltende Versorgungskrise der einheimischen Bevölkerung in einigen Bezirken Senegals gedacht, wurde das System der Sociétés indigènes de Prévoyance bereits 1911 auch in alle anderen Teile der Föderation Französisch-Westafrikas übertragen.154 Ab dem 8. Januar 1915 war jeder Einheimische in der Föderation verpflichtet, einem der lokalen Vorsorgeverbände anzugehören.155 Dass das Konzept in so kurzer Zeit auf die Föderation ausgedehnt wurde, verweist dabei auf die große rhetorische Bedeutung, die der Rede von der vermeintlichen Sorglosigkeit der Einheimischen allgemein zugesprochen wurde. Denn wie im Falle der Gründung der ersten Vorsorgeeinrichtung in Verwaltungsbezirk SineSaloum war zumeist nicht die mangelnde Produktivkraft der lokalen Bevölkerung für entsprechende Versorgungskrisen verantwortlich, sondern vielmehr durch Naturkatastrophen herbeigerufene Ernteausfälle156 und die sich Jahr für Jahr steigernden ökonomischen Ansprüche der Kolonialherren, welche die einheimischen Landwirte in starkem Maße verarmen ließen157 und sie in eine profunde finanzielle Verschuldungsspirale stürzten:
150 151 152 153 154 155 156 157
Lefilliatre (1906) zit. in Mbodj 1978: 443. Vgl. Mbodj 1978: 443. Vgl. Thiam 2007: 282. Vgl. Sow 1984: 87. Vgl. ebd.: 92, Fußnote 1. Vgl. Mbodj 1978: 444, 446. Vgl. Sow 1984: 98. Vgl. Mbodj 1978: 613
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»En souscrivant de nouveaux emprunts, il ne fait qu’aggraver sa situation, d’où le cercle vicieux où est entrainé le paysan sénégalais devenu l’›objet‹ du commerce. On ne trouve d’autre justification à cet endettement misérable que de qualifier le paysan imprévoyant.«158 Beanstandungen der Sorglosigkeit und mangelhaften Produktivität der lokalen Bevölkerung waren fester Bestandteil des kolonialherrschaftlichen Alltags in Übersee, standen jedoch nicht allein und wurden von Klagen über Infantilität und Faulheit flankiert.159 Die drei zentralen zeitspezifischen Stereotypenbilder von Infantilität, Faulheit und Sorglosigkeit bildeten so ein Konglomerat von sich in binären Oppositionen manifestierenden und wechselseitig ergänzenden Mythen, welches über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg einen axiomatischen Faktor für Argumentation und Handlungsweisen von Kolonialpolitik und Kolonialverwaltung bildete. Neben die große Bedeutung, die dieses Konglomerat für die Rhetorik und Legitimierung der Zivilisierungsmission hatte,trat mit Beginn des 20. Jh. auch sein ebenso bedeutsamer Stellenwert im Rahmen von Auseinandersetzungen über Arbeitsethik und Arbeitsgesetzgebung innerhalb der Kolonialgebiete.160 Im Zuge der Rhetorik der ab den 1920er Jahren einsetzenden Politik der mise en valeur wurde die sich primär als zeitliche Problematik darstellende mangelnde Produktivität der lokalen Bevölkerung dann zwar immer mehr als Problematik eines grundsätzlichen Arbeitskräftemangels definiert161 , der zeitspezifisch diskriminierende Topos verlor dadurch jedoch nicht an Bedeutung, sondern wurde durch den kolonialherrschaftlichen Fokus auf Einführung von Aspekten europäischer Arbeitsethik noch weiter akzentuiert. Die aus der mangelhaften Produktivität der vermeintlich faulen lokalen Bevölkerung hergeleitete Notwendigkeit, diese zu zivilisieren und mit Aspekten europäischer Arbeitsethik und Arbeitszeitdisziplin auszustatten, finden sich auf kolonialideologischer Ebene dabei in einer frühen Form ebenfalls bereits bei LeroyBeaulieu.162 In seiner Argumentation für die Notwendigkeit zur Einführung einer Arbeitsethik illustriert er die zeitgenössische Vorstellung vom generell zeitlich zurückgebliebenen, faulen, unproduktiven und dem Müßiggang zugewandten Afrikaner, den es zu entwickeln gelte, auf idealtypische Art und Weise, indem er auf den vermeintlich geringfügigen Arbeitseinsatz verweist, der zur Bestellung der sehr
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Thiam 2007 : 239; siehe auch Mbodj 1978 : 609-610. Zum Verschuldungskreislauf der lokalen Landwirte siehe auch im folgenden Kapitel VI.1.1. 159 Vgl. Fanoudh-Siefer 1968: 118. 160 Vgl. ebd.: 163; Niang 1999: 83-84; ferner Alatas 1977: 70ff. 161 Französische Unternehmen begannen ab 1920 damit, sich verstärkt über den Arbeitskräftemangel in der Region zu beklagen. (Vgl. Conklin 1997: 236) 162 Vgl. Leroy-Beaulieu 1874: 573.
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fruchtbaren Böden erforderlich sei und den daraus resultierenden großen Anteil an freier Zeit im Tagesablauf der einheimischen Bauern herausstellt:163 »Alors les hommes se dédaignent le salaire, si considérable qu’il puisse être, et se dispersent sur cette vaste étendue déserte, y cultivant de petits champs qui, en retour de quelques heures de travail par semaine, leur donnent une nourriture suffisante. Il se produit alors non pas une société, mais une juxtaposition de petits propriétaires végétant dans une indolence barbare sur un sol d’une étonnante fertilité, et à la longue un retour complet à la barbarie.«164 Die erste und wichtigste Aufgabe zur Beendigung dieser ›barbarischen‹ Zustände in den Überseeterritorien und zu deren erfolgreichen ökonomischen Erschließung sah Leroy-Beaulieu dabei in der Steigerung der Effizienz und Produktivität der Arbeit der lokalen Bevölkerung. Die von Leroy-Beaulieu früh ausformulierte Forderung, den nicht-europäischen Gesellschaften das »universal law of labor«165 einzuprägen, entwickelte sich jedoch letztendlich erst im Zuge der Politik zur mise en valeur der 1920er Jahre zum offiziell artikulierten Bestandteil der französischen Kolonialideologie in Westafrika.166 Mit Beginn der 1920er Jahre nahm die französische Auseinandersetzung mit der zeitspezifischen Ineffizienz in ihren westafrikanischen Kolonialgebieten somit letztendlich eine Form an, die von Gronemeyer, auf Basis der britischen und deutschen Kolonialzeit im südlichen Afrika, mit der Phrase vom ›weißen Kreuzzug gegen den schwarzen Müßiggang‹ gekennzeichnet wurde: »Die kolonialen Feldzüge führen die Arbeit, die an die Stelle Gottes getreten ist, ins Feld gegen den Müßiggang. Das ›Evangelium der Arbeit‹ – so glorifiziert das 19. Jahrhundert die Lohnarbeit – muß Müßiggang als Sünde erscheinen lassen. Was den Kreuzrittern die gottgewollte Härte gegen die Heiden ist, das ist den Kolonialherren die notwendige, heilsame Härte gegen den Müßiggang.«167 Die ideologischen und politischen Diskurse der Kolonialherrschaft in FranzösischWestafrika dieser Epoche sind gespickt mit zahlreichen Kommentaren und Erläuterungen zur französischen Variante dieses Programms der Erziehung zur Arbeit.168 Ein Kommentar des Generalgouverneurs Jules Carde aus dem Jahre 1928
163
Vgl. ebd.: 573. In gewisser Weise bedient sich Leroy-Beaulieu hier einer Idee, die in späterer Zeit (und in Bezug auf Jäger- und Sammlergesellschaften) durch Marshall D. Sahlins Konzept der Original Affluent Society bekannt geworden ist. (Vgl. Sahlins 1972: 1-39) 164 Leroy-Beaulieu 1874 : 600. 165 Conklin 1997: 223. 166 Vgl. ebd. 167 Gronemeyer 1991: 12. 168 Siehe dazu Conklin 1997: 212-245, hier finden sich zahlreiche Beispiele für den Zeitraum von 1920 bis 1930, sowie eine generelle Darstellung der Politik der mise en valeur dieser Periode.
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verdeutlicht die innerhalb der Reihen der Kolonialherrschaft herrschende Perspektive, welche einen kausalen Zusammenhang zwischen vermeintlicher Faulheit und Müßiggang sowie der daraus resultierenden Verpflichtung, der lokalen Bevölkerung das universelle Gesetz der Arbeit zu vermitteln, herstellt: »If our subjects have shown a sincere willingness to break out of their atavistic laziness and misery, they are still far from being attaining a modern rhythm of activity. They are even some who persist in the belief that they have earned the right to sloth, the moment they have put aside the minimal reserves for maintaining a vegetative life. We will make them understand that nobody has the power to escape from the law of work, and that any claim to personal freedom loses a great deal of its psychological value once the human collectivity, in the name of irresistible progress, whose elements or merits are not open to discussion, imperiously demands the integral development of all the resources that nature puts at its disposal.«169
3.5. Travailler comme un nègre? Dass die hier vorgestellten zeitspezifischen Vorstellungswelten der Kolonialherren nicht der Wirklichkeit der kolonialen Situation entsprachen und diese stattdessen in einer verfälschten und zweckoptimierten Art und Weise wiedergaben, konnte im Verlauf der bisherigen Untersuchung verdeutlicht werden. Die fundamentale Widersprüchlichkeit der kolonialen Perspektive auf die Tatkraft und die zeitspezifischen Verhaltensweisen der Einheimischen wird im Folgenden noch einmal im Kontext historischer Analysen über die Formierung von zeitspezifischen Stereotypenbildern verortet. Offensichtliche Widersprüchlichkeiten der kolonialherrschaftlichen Auseinandersetzung mit Arbeitswillen und Diensteifer der afrikanischen Gesellschaften zeigten sich trotz der von den Kolonialherren über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg gepflegten rassistischen und stereotypen Vorstellungendabei grundsätzlich auch schon im Kontext der Diskurse der Kolonialzeit. Fanoudh-Siefer verweist in dieser Hinsicht darauf, dass in den afrikanischen Kolonialgebieten neben dem verunglimpfenden Stereotyp von der ›Faulheit des Negers‹ eine ebenso geflügelte Phrase existierte, die die große Tatkraft der Einheimischen indirekt bestätigte: »Les coloniaux ont accrédité le mythe du nègre paresseux qui respecte, avant toute autre loi, celle du moindre effort, qui se hâte lentement dans toutes ses activités et qui vit dans le présent, sans faire le moindre effort pour imaginer l’avenir. Pour eux, le Noir n’est pas loin de la contemplation; mais l’idée que l’on se fait du travail 169 Carde (1928) zit. in Conklin 1997: 212.
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du nègre est double et paradoxale, sinon contradictoire. Le même homme peut camper le nègre comme un paresseux et un fainéant, mais pourra dire l’instant d’après en toute tranquillité et sans faire sursauter personne ›travailler comme un nègre‹, faut-il voir là un des miracles de la langue française?«170 Die Phrase travailler comme un nègre, in Übertragung in etwa ›Schuften wie ein Pferd‹, diente aus kolonialherrschaftlicher Perspektive vor allem zur Bezeichnung von einfachen und manuellen Tätigkeiten, deren Ausübung die kolonialen Autoritäten aufgrund ihrer Minderwertigkeit und den widrigen klimatischen Bedingungen in der Regel an ihre einheimischen Untergebenen delegierten. Die Phrase kann daher auch als begriffliche Umschreibung der Ausdrücke Drecksarbeit, Zwangsarbeit oder Sklavenarbeit angesehen werden und bezieht sich in dieser Hinsicht vor allem auf die Schwere der auszuführenden Tätigkeiten. Dies wird auch durch die Definition der Phrase im Dictionnaire de l’Académie Française bestätigt. In der Ausgabe von 1835 wird die Bezeichnung ebenfalls in Hinsicht auf ihre die Intensität der auszuübenden Tätigkeiten kennzeichnende Funktion erläutert: »Faire travailler quelqu’un comme un nègre, d’exiger de lui un travail pénible, le faire travailler sans relâche.«171 Die Phrase charakterisierte somit in jederlei Hinsicht ausschließlich Tätigkeiten, die von den mit der Arbeitsaufgabe betrauten Arbeitern intensiven körperlichen Arbeitseinsatz abverlangten und insofern darüber hinaus auch eine entsprechend ausgebildete und disziplinierte Arbeitsmentalität erforderten. Der mit der Phrase travailler comme un nègre ausgedrückte Sachverhalt stand insofern also im eklatanten Widerspruch zum Faulheits-Stereotyp. Die damit verbundene paradoxe und widersprüchliche Haltung gegenüber der Tatkraft der Afrikaner wurde von der überwiegenden Mehrheit der kolonialstaatlichen Akteure geteilt. Die die Tatkraft und die Befähigung der Einheimischen zur Arbeit in indirekter Form bestätigende Perspektive, welche sich hinter der Phrase verbarg, erlangte in Hinsicht auf die Charakterisierung der lokalen Arbeitsmentalität keine ähnlich große Popularität wie diejenige vom ›Faulen Neger‹, spiegelte die Situation in der 170 Fanoudh-Siefer 1968 : 163. 171 Dictionnaire de l’Académie Française 1835: 260. Die Bezeichnung fand in der 1835 herausgegebenen sechsten Edition dieses linguistischen Standardwerkes erstmals Berücksichtigung, in der vorhergehenden Edition von 1798 gab es noch keinen diesbezüglichen Eintrag. (Vgl. Dictionnaire de l’Académie Française 1798) In der Edition von 1835 wurde die Phrase jedoch bereits als gewohnheitsmäßig verwendeter Ausdruck gekennzeichnet. (Vgl. ebd.: 260) Es bleibt aus zu fragen, auf welche Art und Weise der Ausdruck seinen Weg in den französischen Wortschatz nahm und in welcher Beziehung dieser zur Praxis des transatlantischen Sklavenhandels stand. Entsprechend Liauzu wurden die Begriffe ›Neger‹ und ›Sklave‹ als Folge der französischen Auseinandersetzung mit der Kolonisation Nordamerikas und des transatlantischen Sklavenhandels seit dem 16. Jh. synonym verwendet und noch im 18. Jh. wurde der Begriff ›Neger‹ in der überwiegenden Mehrheit der Wörterbücher direkt mit Sklaverei assoziiert. (Vgl. 1999: 37)
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durch harte Arbeitsbedingungen geprägten kolonialen Arbeitswelt dabei jedoch auf sehr viel realistischere Art und Weise. Denn die dadurch gekennzeichnete Situation war ein fester und alltäglicher Bestandteil des französischen Kolonialismus, der sich für die Kolonialen vor allem darin äußerte, dass sie die Einheimischen tagtäglich unter härtesten klimatischen Bedingungen schwerste physische Arbeiten bewerkstelligen ließen, deren Ausführung sie sich als Repräsentanten der Obrigkeit einerseits sowieso entledigen wollten, die sie sich aufgrund der harten Arbeitsbedingungen und den widrigen klimatischen Bedingungen andererseits aber auch gar nicht zutrauten, selbst zu erledigen.172 Europäer waren entsprechend dieser Lesart physisch und mental nicht zur Arbeit in den Tropen geeignet.173
172 173
Vgl. ferner Alatas 1977: 76f. Die vermeintliche Unfähigkeit der Europäer, unter den klimatischen Bedingungen in Westafrika schwere physischen Arbeiten zu leisten, stellte einen zentralen Argumentationsstrang innerhalb der zeitgenössischen französischen Diskurse zur Kolonisation Westafrikas dar, der sich aus einer Verquickung von klimatheoretischen Betrachtungen und dem Denken in rassischen Kategorien ergab. (Vgl. Curtin 2001b: 97-98) Ausgangspunkt für die Annahme, Europäer seien zur Arbeit in den Tropen nicht geeignet, war dabei die sehr hohe Sterblichkeit von Europäern in Westafrika, die im Verlauf des 19. Jh. zur Herausbildung der Legende vom »White Man’s Grave“ (ebd.: 95) geführt hatte: »Above all, West Africa is thought of as a place where white men cannot work. Only Africans can work there, and Europeans ›go out‹ for brief periods at a considerable risk to their lives.« (Ebd.) Die Tödlichkeit des afrikanischen Klimas war innerhalb der wissenschaftlichen Rassismen des 19. Jh. von zentraler Bedeutung. (Vgl. ebd.: 104) Dennoch unterschieden sich in der Realität weder die »physical capacity for work“ noch die Krankheitsresistenz von Europäern und Afrikanern. (Ebd.: 95) Die noch zu Beginn des 19. Jh. sehr hohe Sterberate, welche bereits im ersten Jahr ihres Aufenthaltes zwischen 30 und 70 % der Europäer dahinraffte, konnte infolge besserer medizinischer Kenntnisse zu Beginn des 20. Jh. um 90 % gesenkt werden, so dass nur noch ca. 2 % der Europäer in FranzösischWestafrika nach erstmaliger Ansteckung starben. (Ebd.: 95, 108-110, 2001a: 66) Auch wenn Westafrika in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. insofern nicht mehr das gefürchtete Grab des weißen Mannes darstellte, lag das Risiko, an einheimischen Krankheiten zu sterben, für europäische Kolonialbeamte in Westafrika dennoch fünf bis sieben mal höher als in Frankreich. (Ebd.: 88) Die Gefahr war insofern nicht vollständig gebannt, die Rhetorik vom Grab des weißen Mannes übte in abgeschwächter Form weiterhin Einfluss auf die koloniale Situation aus und die Europäer zogen es weiterhin vor, schwere physische Arbeiten an die Einheimischen zu delegieren. In einer vom Kolonialministerium zusammengestellten Informationsbroschüre mit nützlichen Hinweisen für die Emigration in die Kolonie Senegal heißt es daher noch im Jahre 1900, dass man selbst als geringqualifizierter Europäer noch Arbeit in der Kolonie finden könne, »[a]lthough the climate prevents Europeans from engaging in many types of work […].« (Cruise O’Brien 1972: 50) Siehe hierzu auch die von Alatas geführte Diskussion der Aussagen eines spanischen Publizisten aus dem Jahr 1890. Letzterer versuchte die oft als Additiv zur Begründung von kolonialer Herrschaft genutzte Fehleinschätzung, dass Europäer in den Tropen nicht arbeiten könnten, aus zeitgenössischer Perspektive zu widerlegen. (Vgl. ebd.: 1977: 98ff.)
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Die direkt aus den Diskursen der Kolonialepoche heraus erwachsende offensichtliche Widersprüchlichkeit zwischen stereotypen und realistischen Charakterisierungen der Arbeitsmentalität in einheimischen Gesellschaften wird durch entsprechende historische Analysen gestützt und erweitert. Neben der bereits mehrfach erwähnten Analyse Fanoudh-Siefers treten dabei insbesondere die Überlegungen Alatas, welcher sich auf Basis der europäischen Kolonialherrschaft in Südostasien einer generellen Untersuchung des Stellenwertes der Vorstellung vom lazy native gewidmet hat.174 Alatas stellt die große Bedeutung der stereotypen Betrachtungsweisen für die Kolonialideologie heraus und bietet eine treffende Erklärung des funktionalen Charakters der zeitspezifischen Zuschreibungen und der dadurch beförderten kolonialherrschaftlichen Legitimationsstrategien. Wie Alatas in diesem Zusammenhang herausstellen konnte, beruhte die Konstituierung der zeitspezifischen Stereotypenbilder demnach vor allem auf einem rational-progressiven Zeitverständnis und der stark dadurch geprägten zeitgenössischen europäischen Definition von Arbeit. Letztere wiederum berief sich auf die kapitalistische Konzeption des Arbeitsprozesses, die sich in den europäischen Gesellschaften infolge der Industrialisierungsprozesse des 19. Jh. herausgebildet hatte und nun als Maßstab für die Klassifizierung der Tatkraft der nicht-europäischen Bevölkerung in die koloniale Situation übertragen wurde.175 Da einheimische Arbeitskräfte entsprechend der Ideologie des kolonialen Kapitalismus jedoch in Hinsicht auf ihre Nützlichkeit innerhalb des Produktionssystems und anhand der dadurch erzielten Profitspannen bewertet wurden, wurden nur Arbeiten, die sich aus Perspektive der Kolonialherren als profitabel gestalteten, auch als solche anerkannt.176 Tätigkeiten und Beschäftigungen von Einheimischen, die diesem Konzept nicht entsprachen, wurden im Gegenzug automatisch als Tätigkeiten klassifiziert, die aus Sicht der Kolonialherren nicht als Arbeit angesehen wurden, sondern vielmehr als Ausdruck von Trägheit und Faulheit: »Any type of labour which did not conform to this conception was rejected as a deviation. A community which did not enthusiastically and willingly adopt this conception of labour was regarded as indolent.«177 Der angesichts der Zwänge des kolonialen Systems sehr verständliche Unwille der Kolonisierten, zu einem Werkzeug der kolonial-kapitalistischen Produktion degradiert zu werden, konnte vermittels des kapitalistischen Verständnisses von Arbeit in eine stereotype Betrachtungsweise überführt werden, die diese Verweigerungshaltung als Ausdruck von Trägheit bzw. Faulheit definierte.178 Selbst die Subsis174 175 176 177 178
Vgl. Alatas 1977: 1ff. Vgl. ebd.: 70ff. Vgl. ebd.: 213-214. Ebd.: 70. Vgl. ebd.: 72.
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tenzwirtschaft nicht-europäischer Gesellschaften, die einen regelmäßigen landwirtschaftlichen Arbeitsaufwand erforderte, galt insofern als minderwertig und unproduktiv, da das Maß für landwirtschaftliche Betätigungen für die Kolonialherren nur in den nach kapitalistischen Prinzipien organisierten Plantagenwirtschaftssystemen zu finden war.179 Die Faulheits-Zuschreibungen erweisen sich insofern als völlig unbegründet, da nicht-europäische Gesellschaften in aller Welt seit Anbeginn der Zeit eine beträchtliche Tatkraft an den Tag legen mussten, allein um ihr Überleben zu sichern. Der Unwille der Kolonisierten zur Arbeit bezog sich darüber hinaus auch nur auf bestimmte Tätigkeiten bzw. auf die ausbeuterischsten Formen von kapitalistischen Arbeitsprozessen in den Kolonialgebieten.180 In Theorie wie auch Praxis des Systems des kolonialen Kapitalismus mussten Kolonisierte daher, wie Alatas pointiert formuliert, den ›Esel‹ spielen, um als arbeitsame und fleißige Arbeitskräfte anerkannt zu werden: »[F]or a labourer to qualify as industrious, he has to be ›the mule of the nations – capable of the hardest task under the most trying conditions: tolerant of every kind of weather and ill usage; eating little and drinking less; stubborn and callous; unlovable and useful in the highest degree.‹ Pre-occupation with other types of labour that fall outside the category of the ›mule of the nations‹, is qualified as idle or indolent.«181 Eine Forderung, die angesichts der miserablen, oft Sklaven- bzw. Zwangsarbeit entsprechenden Arbeitsbedingungen, fehlenden Erfolgserlebnissen und Arbeitsanreizen (wie bspw. eine angemessene Entlohnung der Tätigkeiten) nur wenig Aussicht hatte, sich durchzusetzen.182 Dass sich die europäischen Kolonialherren spätestens seit Mitte des 19. Jh. in der Auseinandersetzung mit der nicht-europäischen Arbeiterschaft an einem rational-progressiven Zeitverständnis und einer an industriekapitalistische Arbeitsrhythmen angelehnten Arbeitszeitdisziplin orientierten, die nahezu alle anderen Arbeitsanstrengungen als minderwertig ansah und dem Generalverdacht der Faulheit unterwarf, konnte darüber hinaus auch schon im Kontext des Systems von Plantagenökonomie und Sklavenarbeit in Nordamerika nachgewiesen werden.183 Smith gelang es in diesem Zusammenhang des Weiteren auch aufzeigen, dass sich die intensive Internalisierung und Orientierung anhand eines rationalen und uhrzeitbasierten Zeitkonzeptes durchaus auch für die Herrschenden als zweischneidiges Schwert darstellen konnte.184 Denn der mit rationalen zeitlichen Rhythmen 179 180 181 182 183 184
Vgl. ebd.: 95. Vgl. ebd.: 74f., 107. Ebd.: 76. Vgl. ebd.: 103-105. Vgl. Smith 1996: 156-159. Vgl. ebd.: 156.
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verbundene »heightened sense of punctuality« sowie die aus industriellen Arbeitsprozessen resultierende »time-obedience« zwangen auch die Herrschenden zur Internalisierung der zeitlichen Rhythmen, die diese für ihre Sklavenarbeiter vorgesehen hatten.185 Zeitspezifische Klagen wie die eines Plantagenbesitzers aus dem Jahre 1859, in der dieser die »terrible punctuality« rügt, »which made slaves of all of us, kept me always looking at my watch, and always afraid of being late for something«186 , belegen insofern die bereits zur Jahrhundertmitte weit verbreitete Internalisierung von rationalen zeitlichen Rhythmen. Des Weiteren lassen sie die durch die Diskrepanz zwischen den Zeitkonzeptionen von Herrschaft und Untergebenen beförderte Zuschreibung von Faulheit an Letztere intelligibel erscheinen und verweisen letztendlich auch auf die Schwierigkeiten, die die Anwendung dieser im industrialisierten Milieu herangewachsenen Zeitkonzeption im Kontext kolonialer Wirtschaftsformen mit sich brachte: »[T]o a people with a heightened sense of mastery, their own temporal enslavement must have been a bitter pill to swallow, even if it did keep bondpeople in check.«187 Die tiefgründige Internalisierung rationaler Zeitnormen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten der Kolonialherren, sich selbst an die von ihnen postulierte industrielle Zeitdisziplin zu halten, äußert sich ebenfalls im Kontext der kolonialen Situation in Französisch-Westafrika. Hier stehen die Beamten des Kolonialstaates in der Pflicht, eine bürokratische Arbeitsdisziplin zu etablieren, welche sie selbst oftmals nicht einhalten konnten und welche daher zu zahlreichen Klagen über administrative Arbeitsüberlastung führte.188 Die von Alatas am Beispiel der der Kolonialherrschaft in Südostasien herausgearbeitete eurozentristische Perspektive zeigt sich auch in Gronemeyers Untersuchung über das südliche Afrika189 und spiegelt sich in Kolonialideologie und politik der französischen Kolonialherrschaft in Französisch-Westafrika, wo sie, wie
185 Ebd.: 157. 186 Anonym (1859) zit. in Smith 1996: 157. 187 Smith 1996: 157. Ähnliche Beobachtungen darüber, dass die Internalisierung standardisierter Zeitnormen durchaus auch auf die die Zeitmacht ausübenden Herrschenden zurückwirken konnte, finden sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. auch im Kontext des Umganges zwischen bürgerlicher Hausherrin und häuslichem Dienstpersonal in Frankreich. Die von den bürgerlichen französischen Hausfrauen an den Tag gelegte »neurotische Genauigkeit im Ablauf des täglichen Hausputzes“ sorgte hier insofern dafür, dass »mit der Überwachung der Dienerin […] unversehens auch die Herrin dazu gezwungen [wurde], sich der Zeitdisziplin zu fügen.« (Corbin 1993: 15) 188 Zur administrativen Arbeitsüberlastung der Kolonialbeamten siehe Spittler 1981: 54-57, 85, 107. 189 Vgl. Gronemeyer 1991: 29-40 bzgl. der Entwicklung der europäischen Arbeitsgesellschaft und der sich dort in Hinsicht auf Zeit und Arbeit entwickelnden Maßstäbe sowie 41-47 zum Versuch, die einheimischen Arbeiter in industrielle Lohnarbeitsverhältnisse zu zwingen.
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aufgezeigt, insbesondere ab den 1920er Jahren in nahezu identischer Art und Weise formuliert wird. Angesichts der weitläufigen Verbreitung dieser zeitspezifisch diskriminierenden Betrachtungsweisen innerhalb von Theorie und Praxis des europäischen Kolonialismus und angesichts der Homogenität der Stereotypen lässt sich insofern die Frage formulieren, inwiefern die Etablierung dieser einheitlichen Perspektiven auf die Zeit nicht-europäischer Gesellschaften nicht als eigentlich erfolgreichster Bestandteil und größte Leistung des ab der zweiten Hälfte des 19. Jh. eingeleiteten Prozesses zur Standardisierung der Zeit in den europäischen Kolonialgebieten angesehen werden sollte.
4. Zeitnormen und kulturelle Differenz Die bisherige Untersuchung verdeutlicht die große theoretische und rhetorische Bedeutung von Zeit und Zeitnormen für die zeitgenössische wissenschaftliche und gesellschaftliche Perspektive auf das koloniale Projekt und das Konzept der Zivilisierungsmission. Zeit und Zeitnormen wirkten als zentrale Bestandteile der Kolonialideologie und dienten den europäischen Protagonisten einerseits zur Exemplifizierung der zeitspezifischen Unterschiedlichkeit europäischer und nicht-europäischer Gesellschaften sowie andererseits, in einem gleichzeitig vorgenommenem Schritt, zur Charakterisierung eines vermeintlichen Mangels an europäischer Temporalität in den eben nicht europäischen Gesellschaften. Die Feststellung und Festschreibung dieses Mangels wurde wiederum zu einem Element der Rechtfertigung der kolonialen Situation ausgebaut. Die im Rahmen dieser Auseinandersetzung vorgenommene Untersuchung zeitspezifischer Stereotypenbilder verweist dabei kursorisch auf die in zunehmendem Maße auf die koloniale Praxis zugeschnittene Interpretation der zugrundeliegenden Idee von der zeitspezifischen Minderwertigkeit nicht-europäischer Gesellschaften. Wo die Vorstellung von der Infantilität noch eher abstrakt und unbestimmt blieb, entwickelten die auf die vermeintliche Faulheit und Unterbeschäftigung der Afrikaner abzielenden Interpretationen eine viel greifbarere und praxisorientierte Form, die mehr oder weniger als direkte Handlungsanleitung für die Kolonialherrschaft angesehen werden kann. Nichtsdestotrotz fand auch die insofern eigentlich überkommene Vorstellung von der Infantilität Eingang in die koloniale Praxis und wirkte sich in Form des Konzeptes des Paternalismus über die ganze Kolonialperiode hinweg in beträchtlichem Maße auf die koloniale Situation aus. Die verschiedenen zeitspezifisch argumentierenden Stereotypenbilder sollen hier entsprechend nicht als historische Abfolge kultureller Repräsentationen nichteuropäischer Gesellschaften dargestellt werden, sondern vielmehr als eine eigentlich ahistorische Betrachtungsweise gekennzeichnet werden, die entsprechend
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der Veränderungen der europäischen Perspektiven und derjenigen des kolonialen Systems immer wieder aktualisiert werden konnte. Auch die Zuschreibung von Zeitnormen und zeitspezifischen Tugenden unterlag daher in dieser Hinsicht einer gewissen Flexibilität, blieb jedoch immer im Rahmen einer an binären Oppositionen orientierten Betrachtungsweise verhaftet und konstruierte die Zeit nicht-europäischer Gesellschaften immer auch als Umkehrung der zeitspezifischen Identität, die den europäischen Gesellschaften zugeschrieben wurde. Die vermeintliche Primitivität, Infantilität und Faulheit, die europäische Protagonisten den afrikanischen Gesellschaften zuschrieben, müssen insofern primär als simple Umkehrungen bzw. Spiegelungen zeitgenössischer europäischer Selbstzuschreibungen angesehen werden, die aus einem Mangel an Verständnis und Kenntnis der anderen Kulturen erwuchsen.190 Wie im Kontext der Diskussion der unterschiedlichen zeitspezifischen Stereotypenbilder verdeutlicht werden konnte, prägten diese die kulturelle Repräsentation afrikanischer Gesellschaften in Frankreich auf umfassende Art und Weise. Stereotype Betrachtungsweisen der zeitspezifischen Andersartigkeit spiegelten sich in der einen oder anderen Form, als Einzelaspekt oder gleich als Konglomerat, innerhalb der Wissenschafts- und Geistesgeschichte der Nation, aber auch in populärkulturellen Bearbeitungen der Thematik und nicht zuletzt in den politischen und wirtschaftlichen Debatten dieser Tage. Der Mythos von der Faulheit kann dabei als Kulminationspunkt der Inhalte des Konglomerats an zeitspezifisch-diskriminierenden Betrachtungsweisen der Zivilisierungsmission angesehen werden, sowie auch als Kernelement einer gänzlich stereotypen Weltanschauung, deren Bestandteile untereinander in einer dialektischen Beziehung standen und sich in Form eines dichotomen, anhand von binären Oppositionen strukturierten Systems äußerten.191 Die stereotypen Vorstellungen über die soziokulturelle Zeitlichkeit afrikanischer Gesellschaften verdeutlichen dabei, dass die zeitspezifische Andersartigkeit der lokalen Bevölkerung jedoch in erster Linie als Instrument der Propaganda angesehen werden sollte, die als Ausgangspunkt für die Legitimierung von Kolonialismus, ökonomischer Ausbeutung und kolonialen Entwicklungsambitionen dienten. Wissenschaftliche Theorienbildung und die korrespondierende Konstituierung zeitspezifisch-diskriminierender Mythen standen dabei an der Basis der Ideologie der Zivilisierungsmission und dienten als ideologische Instrumente zur Konstruktion eines stereotypen Bildes,
190 So gesehen kann demnach auch die geistige Faulheit und Nachlässigkeit der Europäer, die Komplexität der Wirklichkeit in der kolonialen Situation in angemessener Weise zu erfassen, als Ausgangspunkt für die Konstruktion des Mythos von der Faulheit der Kolonisierten angesehen werden. 191 Vgl. ferner Gronemeyer 1991: 20.
II. Zeitnormen der Kolonialideologie
welches die historische Wirklichkeit kaschierte, verfälschte und sie förmlich erstarren ließ, um sie in einer fiktiven und ahistorischen Vorstellung vom ›Anderen‹ festzusetzen. Die hier als zentrale Repräsentationen der europäischen Sichtweise auf die Zeitlichkeit der afrikanischen Gesellschaften dargestellten stereotypen Betrachtungsweisen zeigen des Weiteren auch auf den die zivilisatorische Auseinandersetzung mit der zeitlichen Mentalität der lokalen Bevölkerung hintergründig bestimmenden Stereotypen von der sozialen und humanistischen Dimension der Zivilisierungsmission. Denn entgegen den humanistischen und moralischen Dimensionen sozialer Verantwortung, die im Rahmen der Rhetorik der Zivilisierungsmission immer wieder heraufbeschworen wurden, zeigt die Analyse der Mythen von der zeitspezifischen Unzulänglichkeit der lokalen Bevölkerung und der mit der Zivilisierungsmission assoziierten Inhalte, dass diese immer und in erster Linie ökonomischen Prämissen unterlagen. Insbesondere die Interpretation bzw. Gleichsetzung der Zivilisierungsmission mit der mise en valeur verdeutlicht dabei, dass weniger humanistische Motivationen als ökonomische für die Steuerung des Gesamtprojektes verantwortlich waren. Die Verschleierung der eigentlichen ökonomischen und politischen Inhalte und Anliegen der Zivilisierungsmission vermittels humanistischer Begründungen hatte sich jedoch schon um 1900 zu einem festen Bestandteil der französischen Kolonialideologie in Westafrika entwickelt, weshalb Conklin die Argumentation zur humanistischen Dimension der Zivilisierungsmission als einen der größten Mythen zur Legitimierung imperialistischer Herrschaft ansieht.192 Die Rhetorik der Zivilisierungsmission wurde von den kolonialen Autoritäten vor Ort jedoch nur in den seltensten Fällen ernsthaft hinterfragt, die diesbezügliche Haltung von Maurice Delafosse, einem über lange Zeit in der Zentralverwaltung der Föderation Französisch-Westafrikas angestellten Kolonialbeamten, stellte eine der wenigen Ausnahmen dar: »We proclaim ourselves the universal educator of these primitive peoples whose capacity for producing and consuming we wish to increase, out of utilitarian egoism masquerading under the name of philanthropy or social responsibility. Officially this process is called civilizing, and after all, the term is apt, since the undertaking serves to increase the degree of prosperity of our civilizations.«193 Die Widersprüchlichkeit der mit der Zivilisierungsmission verbundenen Haltungen äußert sich nicht nur im Mythos von der sozialen und moralischen Dimension der Zivilisierungsmission, sondern schon auf einer grundsätzlichen, konzeptionellen Ebene. In Hinsicht auf die der Zivilisierungsmission inkorporierten Anliegen 192 193
Vgl. Conklin 1997: 55. Delafosse (1909) zit. in Conklin 1997: 55.
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zur zeitspezifischen Akkulturation afrikanischer Gesellschaften äußerte sich dies insbesondere an der Gegensätzlichkeit zwischen der angestrebten zeitspezifischen Akkulturationsbewegung und der quasi unveränderlichen zeitspezifischen Klassifizierung der lokalen Bevölkerung. Einerseits basierte die Zivilisierungsmission auf der Idee des Egalitarismus, implizierte die Einebnung kultureller Differenzen und versprach den Afrikanern letztendlich kulturelle wie auch zeitspezifische Ebenbürtigkeit. Andererseits verweisen Inhalte und Ausgestaltung der Zivilisierungsmission auf die zutiefst diskriminierenden und rassistischen Ansichten, die die Diskurse der Kolonialherren prägten und eine radikale zeitliche Andersartigkeit der Afrikaner postulierten, welche die Überwindung ebenjener kulturellen Differenzen verhinderte.
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
1. Die zeitliche Kompartmentalisierung der Welt Wie in den vorherigen Abschnitten herausgearbeitet werden konnte, stand die zeitspezifische Klassifikation lokaler Gesellschaften in den Kolonialgebieten in einem wechselseitigen Verhältnis zur Entwicklung des rational-progressiven Zeitverständnisses und der Arbeitszeitdisziplin der industriekapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kolonisierenden europäischen Gesellschaften. Die im Rahmen des dichotomen Schemas binärer Oppositionen vorgenommenen diskriminierenden Klassifizierungen der Zeitlichkeit nicht-europäischer Gesellschaften spiegelten die unter Einfluss von Industrialisierung sowie von Transportund Kommunikationsrevolution realisierte Transformation des gesellschaftlichen Raum-Zeit-Gefüges in Europa. Letztere brachte eine stetig wachsende Normierung der Zeit mit sich und kulminierte in technologisch-organisatorischer Hinsicht in der massenhaften Verbreitung von immer exakteren Uhren zur Zeitmessung und -bestimmung sowie in der Einführung eines weltweit gültigen Zeitnormals gegen Ende des 19. Jh. Als die Einführung der Zeitordnungen der industrialisierten Welt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. auch Teil der kolonialen Anstrengungen in Afrika wurde, beanspruchten die Kolonialherren letztendlich nicht weniger als eine universelle Transformation des gesellschaftlichen Raum-Zeit-Gefüges nach europäischem Modell. Der interkulturelle Transfer von europäischen Zeitnormen beinhaltete demnach u.a. die Vermittlung und Internalisierung von rational-progressivem Zeitverständnis, fortschrittsorientierter Geschichtskonzeption, christlich-europäischer Zeiteinteilung sowie europäischer Alltags- und Freizeitkultur, aber eben auch die Durchsetzung von kolonialstaatlichem Abgabenkalender, handelskolonialem Wirtschaftsrhythmus, industriekapitalistischen Zeitordnungen und rigider Arbeitszeitdisziplin. Für den Transfer all dieser unterschiedlichen Aspekte zeitlicher Normierung, insbesondere aber für die Bereitstellung von Zeitstandards für die auf Exaktheit und Regelmäßigkeit angewiesenen uhrzeitspezifischen Handlungsgemeinschaften, wie bspw. das Post- und Telegraphenwesen, war die
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1884 erfolgte Durchsetzung der weltweit anerkannten Einheitszeit (GMT) von zentraler Bedeutung. Denn die mit dem Weltzeitnormal und uhrzeitspezifischen Handlungsgemeinschaften in Europa assoziierte temporale Exaktheit und Regelmäßigkeit konnte im imperialen Rahmen erst umgesetzt werden, nachdem geeignete Mittel und Wege geschaffen worden waren, um standardisierte Zeitsignale in die Kolonialgebiete zu transferieren und deren Verfügbarkeit dort auch in weitgehend unbeeinträchtigter Art und Weise zu gewährleisten. Im Folgenden wird die Etablierung der technologischen und institutionellen Grundlagen für die Übermittlung exakter standardisierter Zeitsignale in die Kolonie Senegal, ausgehend von der Durchsetzung des universellen Zeitnormals im Jahre 1884, nachgezeichnet.
1.1. Die Etablierung von Weltzeitnormal und Weltzeitzonensystem Entscheidender Ausgangspunkt für die Durchsetzung eines weltweit einheitlichen Zeitnormals und für eine normkonforme (d.h. zeitlich exakte) Implementierung europäischer Zeitstandards in den Kolonialgebieten war die auf der internationalen Längengradkonferenz von Washington im Oktober 1884 beschlossene Vereinbarung, die geographische Position des Observatoriums von Greenwich als einzigen Leitmeridian zur Berechnung der Längengrade allgemeinverbindlich anzuerkennen:1 »That the Conference proposes to the Governments here represented the adoption of the meridian passing through the centre of the transit instrument at the Observatory of Greenwich as the initial meridian for longitude.«2 Durch die Etablierung des Greenwich-Meridians als allgemeingültigen Ausgangspunkt zur Berechnung der Land-, vor allem aber der Seekartierung, wurde zugleich die mittlere Greenwicher Ortszeit3 als standardisierte Referenzzeit anerkannt, an1
2 3
Einige der Textpassagen in den folgenden beiden Kapitelabschnitten (III.1.1. + III.1.2.) beruhen auf Ausführungen, die in veränderter Form bereits in einem anderem Zusammenhang veröffentlicht wurden. Siehe Sprute, Sebastian: U(h)reigene Zeiten. Grenzen der Implementierung von europäischen Zeitnormen in Senegal, 1890-1930, in: Katja Patzel-Mattern u. Albrecht Franz (Hg.): Der Faktor Zeit. Perspektiven kulturwissenschaftlicher Zeitforschung. Stuttgart 2015, S. 77-105, hier insbesondere S. 82-85. Conference (1884) zit. in Howse 1997: 135. Die sogenannte mittlere Ortszeit basiert auf der durch Sonnenstandsmessung bestimmten sogenannten wahren Ortszeit. (Vgl. Enslin 1988: 60f.) Sie ist damit eine grundsätzlich noch auf der Sonnenbeobachtung fußende Technik zur Bestimmung der Tageszeit, inkorporiert jedoch zusätzlich eine astronomische Berechnungsweise, die die jeweils lokal gewonnenen Messergebnisse mittelt und so einem einheitlich ablaufendem Zeitraster zuordnet: »[D]ie mittlere Sonnenzeit […] [war] beim damaligen Stand der Wissenschaft und Technik als gleichförmig ablaufende Zeit anzusehen […]. Man erhält die mittlere Sonnenzeit, indem
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
hand derer von nun an die astronomisch korrekte Zeit in allen anderen Zeitzonen einheitlich bestimmt werden konnte.4 Die Einführung eines weltweiten Systems von Zeitzonen war dabei jedoch nicht das eigentliche Ziel der Konferenz von 1884, es ging vielmehr vorerst nur um die Festlegung eines einheitlichen Ausgangsmeridians für die Einteilung der Welt in Längengradzonen.5 Es wurde daher auch keine klare Antwort auf die Frage gegeben, »inwieweit die Zonenzeiten auch für das bürgerliche Leben zu empfehlen seien. Die Washingtoner Konferenz schlug lediglich vor, ›einen Universaltag für alle Aufgaben anzunehmen, für die es zweckmäßig erscheinen könne, der aber in keiner Weise den Gebrauch von Lokal- oder anderer Normalzeit beeinträchtigen solle, wo solche vorzuziehen sei‹.«6 Die Durchsetzung vereinheitlichter Zeitstandards war der LängengradzonenEinteilung jedoch inhärent, da die Zeit der entscheidende Maßstab für die genaue Positionsbestimmung der geographischen Länge ist und die Längengradzonen daher in Analogie zur zeitlichen Dauer konzipiert worden sind.7 Die Notwendigkeit zu Abstimmung und Synchronisierung der zahlreichen unterschiedlichen nationalen und lokalen Zeitrechnungen war in dieser Epoche zudem von so großer Bedeutsamkeit, dass die der standardisierten Längengradeinteilung entsprechende Zeitzoneneinteilung als weitere Konsequenz aus der Konferenz hervorging.8
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man von der wahren Sonnenzeit die ›Zeitgleichung‹ abzieht. Die Zeitgleichung wurde von den Astronomen so definiert, daß die Abweichungen zwischen der wahren und der mittleren Zeit möglichst klein bleiben. Sie erreichen Extremwerte um den 11. Februar (-14,3 Minuten), um den 14. März (+ 3,7 Minuten), um den 26. Juli (- 6,5 Minuten) und um den 3. November (+ 16,4 Minuten). Um den 16. April, 14. Juni, 1. September und 25. Dezember stimmen wahre und mittlere Zeit miteinander überein.« (Ebd.: 61) Infolge der Entwicklung von immer exakteren Uhrwerken, wie der Erfindung des MarineSeechronometers durch George Harrison (1693-1776) um 1773 und der dadurch erlangten Möglichkeit, sehr präzise Ortsbestimmungen zur See durchführen zu können, hatte sich die Problematik der Suche nach einem allgemeingültigen Ausgangsmeridian für die Land- und Seekartierung zu einer zentralen Fragestellung entwickelt, die bereits auf mehreren vorangegangenen geographischen Konferenzen (1871, 1875 und 1881) vielfach sehr kritisch diskutiert worden war. (Vgl. Jenzen 1989: 118f.; Whitrow 1989: 165) An der Sinnhaftigkeit der neuen zeitspezifischen Regulierungen zweifelten bedeutende zeitgenössische Wissenschaftler auch noch nach der Washingtoner Konferenz. (Vgl. dazu Enslin 1988: 62) Vgl. Whitrow 1989: 165; Howse 1997: 145. Enslin 1988: 62. Vgl. Jenzen 1989: 119. Vgl. Whitrow 1989: 165.
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1.2. Frankreichs Angliederung an das Weltzeitzonensystem Frankreich, das koloniale Mutterland Senegals, war für lange Zeit eines der europäischen Länder mit dem größten Durcheinander unterschiedlichster referentieller Zeitordnungen:9 »France had the most chaotic situation, with some regions having four different times, none of which had a simple conversion to Greenwich time. Each city had a local time taken from solar readings. About four minutes behind each local time was astronomical time taken from fixed stars. The railroads used Paris time […].«10 Die die französische Nation in dieser Hinsicht auszeichnende große zeitspezifische Heterogenität manifestierte sich über das ganze 19. Jh. hinweg in einer »unendliche[n] Vielfalt von Tagesrhythmen«11 und einer entsprechenden »Mannigfaltigkeit der Zeiterfahrungen«12 , welche sich in zahlreichen lokalen Zeitordnungen niederschlug und bedingte, dass »[w]er den Ort wechselt[e], [auch] die Uhr umstellen [musste].«13 Dabei besaßen gegen Ende des 19. Jh. die meisten französischen Gemeinden noch nicht einmal eine öffentliche Uhr, Zeitmessungen wurden daher noch oft per Sonnenstandsmessung durchgeführt und die öffentliche Zeitangabe vermittels der Lautsignale des Glockenläutens erwies sich zumeist als notorisch ungenau.14 Auch private und portable Uhrenmodelle hatten um die Jahrhundertwende in vielen Regionen sowie auch in einigen Bevölkerungsschichten noch keine umfassendere Verbreitung gefunden.15 Gerade in der ländlichen Bevölkerung sowie auch in den isolierteren Landesregionen im Allgemeinen stellten Uhren noch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh. hinein vor allem Prestigeobjekte dar, die nur am Sonntag oder zu anderen besonderen Anlässen getragen wurden.16 Die nur in geringfügigem Maße an uhrzeitspezifischen Normen orientierte Komplexität der zeitlichen Orientierungen wurde durch »die grundverschiedenen Gewohnheiten der Zeiteinteilung« noch vergrößert, wie sich am Beispiel der großen Variation bei der zeitlichen Ausrichtung der täglichen Mahlzeiten belegen lässt: »Auf dem Land wechselt die Anzahl der Mahlzeiten und ihre Verteilung über den Tag je nach Ort, Tradition, Beschäftigung, Jahreszeit, Rang oder gesellschaftlicher Stellung.«17
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Vgl. Kern 2003: 14; Whitrow 1989: 166; Corbin 1993: 9. Kern 2003: 14. Corbin 1993: 9. Ebd. 1995: 158. Ebd. 1993: 9. Vgl. ebd. 1993: 9; 1995: 161. Vgl. ebd. 1995: 159. Vgl. ebd. Ebd. 1993: 9.
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
Das Überdauern zeitspezifisch heterogener Organisationsformen betraf dabei jedoch nicht ausschließlich ländliche Regionen, sondern spielte auch innerhalb der städtischen Gesellschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle, die »gehobene Gesellschaft« in der Provinz, aber auch die »Mittelschichten der Hauptstadt« hielten insofern noch lange an überlieferten Formen der Tageseinteilung fest.18 Insgesamt wurden im 19. Jh. insofern nur wenig Fortschritte bei der zeitlichen Vernetzung und Synchronisierung der zahllosen unterschiedlichen gesellschaftlichen Zeitordnungssysteme gemacht, die Masse der Bevölkerung organisierte ihre Tageseinteilung daher auch in den fortschrittlichsten europäischen Nationen noch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh. hinein nach der mittleren Ortszeit.19 Präzise, standardisierte und uhrzeitorientierte zeitliche Maßstäbe wurden in Form der Pariser Zeit20 erst vermittels eines Gesetzes vom 4. März 1891 zur Grundlage der l’heure nationale erklärt und als gesetzlich verbindliche Einheitszeit für Frankreich und Algerien anerkannt.21 Die Pariser Zeit wurde jedoch auf Basis der astronomischen Beobachtungen der Wissenschaftler des Pariser Observatoriums berechnet, dessen geographische Lage sich um etwas mehr als zwei Längengrade von derjenigen des Observatoriums von Greenwich unterscheidet und daher eine zeitliche Differenz von 9 Minuten und 21 Sekunden Verzögerung gegenüber der Greenwich-Einheitszeit aufweist.22 Infolge des Gesetzes von 1891 wurde demnach zwar erstmalig eine französische Einheitszeit definiert, einen offiziellen Anschluss an das internationale System der Zonenzeiten stellte diese Regelung aber noch nicht dar. Es blieb daher eine gewisse Konfusion über die französische l’heure nationale bestehen.23 Dies zeigt sich insbesondere an den Entwicklungen im französischen Eisenbahnbetrieb, in welchem trotz der Einigung auf den Pariser Zeitstandard weiterhin mit zwei unterschiedlichen Zeiten gerechnet wurde. Einerseits mit der nun offiziellen Pariser Einheitszeit (l’heure de la ville) und andererseits mit einer Bahnhofs- bzw. Bahnsteigszeit (l’heure de la gare), die gegenüber der offiziellen etwas im Rückstand war, um den Bahnpassagieren zusätzliche Ein- und Umsteigezeit zu gewährleisten: »[…] thus the clocks inside railway stations were five minutes ahead of those on the tracks.«24 Es sollte weitere 20 Jahre dauern bis die in Hinsicht auf ihre Zeitpolitik stark anglophoben Franzosen die Pariser Einheitszeit am 9. März 1911 ‒ als verklausulier-
18 19 20 21 22 23 24
Ebd. Vgl. Merle 1989: 172. D.h. die mittlere Pariser Sonnenzeit bzw. die »l’heure solaire moyenne de Paris […].« (Houllevigue 1913: 869) Vgl. Howse 1997: 148-149; Enslin 1988: 63; Kern 2003: 14; Corbin 1993: 13. Vgl. Kern 2003: 14; Landes 2000: 286; Enslin 1988: 63; Howse 1997: 150; Geyer 2005: 96. Vgl. Kern 2003: 14. Ebd.; vgl. auch Corbin 1993: 9.
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te Form der Greenwich-Einheitszeit ‒ zur gesetzlich verbindlichen Norm machen würden.25 Auch dabei wurde jedoch eine Sprachregelung gewählt, in der der englische Ortsname Greenwich umgangen werden konnte: »[L]a loi du 9 mars 1911 déclare que ›l’heure légale en France et en Algérie est l’heure du temps moyen de Paris, retardée de neuf minutes vingt et une secondes‹.«26 Die Formulierung erklärte die mittlere Pariser Ortszeit abzüglich 9 Minuten und 21 Sekunden zur gesetzlich legitimierten Zeit in Frankreich, was letztlich der mittleren Greenwich-Zeit entspricht, aber auf die Erwähnung dieses Umstandes verzichtet.27 Die anglophobe Haltung der Franzosen hinsichtlich der Anerkennung der Greenwich-Einheitszeit erklärt sich dabei anhand des großen Stellenwertes, den die Debatte um die Festlegung eines Weltzeitstandards bereits 1884 in der französischen Gesellschaft eingenommen hatte: »In France, this debate revolved around no less than the place of France and its capital in the world. Paris was put forward as the center of a French empire that reached far into Africa. Every possible argument was used to defend the French meridian: astronomical observations were based on local time; land and sea charts would have to be redone on the basis of the new coordinates; Paris would be degraded as a center of science. Yet time and […] the issue boiled down to that of national pride, pure and simple.«28 Auf Basis entsprechender Überlegungen zum Verlust nationalen Prestiges hatten sich die Franzosen noch 1883, auf der vorhergehenden Internationalen Längengradkonferenz, einem Votum für Greenwich als Ausgangsmeridian enthalten.29 Die diesbezügliche, durch Anglophobie geprägte Haltung der französischen Offiziellen wird im Juli 1913 vom zeitgenössischen Physiker Louis Houllevigue insbesondere auch als eine Form des Nationalstolzes charakterisiert, die sich in entsprechend gewählten gesetzlichen Formulierungen ausdrücke: »Par une pardonnable réticence, la loi s’abstient de dire que l’heure ainsi définie est celle de Greenwich, et notre amour-propre peut feindre de croire que nous avons adopté l’heure de Argentan, qui se trouve presque exactement sur le même méridien que l’observatoire anglais. Les plus belles victoires sont, paraîtil, celles qu’on remporte sur soi-même; à ce compte, nous avons lieu de nous
25 26 27 28 29
Vgl. Whitrow 1989: 166; Kern 2003: 14. Houllevigue 1913: 871. Vgl. Enslin 1988: 63. Geyer 2005: 96. Vgl. Enslin 1988: 62.
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
féliciter d’avoir levé le seul obstacle qui s’opposât encore à l’adoption de l’heure internationale […].«30 Der französische Widerstand gegen Greenwich als Ausgangsmeridian für die Berechnung des Weltzeitzonensystems begründete sich demnach vor allem auf dem nationalen Selbstverständnis der Franzosen und dem Unwillen, an den großbritannischen Konkurrenten Prestige zu verlieren.31 Wenn auch in verklausulierter Formulierung verfasst, schrieb das Gesetz vom 9. März 1911 die Bezugnahme auf die Greenwich-Einheitszeit dennoch erstmals gesetzlich fest und erkannte somit die Angliederung Frankreichs an das internationale System der Zonenzeiten offiziell an. Es »wurde erst 1978 durch ein Dekret abgelöst, demzufolge die gesetzliche Zeit in Frankreich von der koordinierten Weltzeit abzuleiten sei«32 , womit dann letzten Endes auch in der Sprachregelung eine vollständige Übereinstimmung von französischer und internationaler Zeitgesetzgebung erreicht wurde. Diese sich in gesetzgeberischer Hinsicht äußernde spezifisch französische Art der Anerkennung des internationalen Zeitstandards belegt dabei vor allem das Überdauern von kulturspezifischen Distinktionsbestrebungen und nationalstaatlichen Identifikationsmustern in einem Prozess kultureller Homogenisierung. Die Franzosen bewiesen diesbezüglich eine kultur- und zeitspezifische Eigensinnigkeit, die es vermochte, auch noch fast ein Jahrhundert nach der internationalen Meridiankonferenz von 1884 eine verschleierte und indirekte Bezugnahme auf den internationalen Zeitstandard zugunsten einer nationalstaatlich geprägten gesetzgeberischen Sprachwahl aufrechtzuerhalten. Zu Beginn des 20. Jh. sah sich die französische Nation dagegen noch durch ein extrem heterogenes Mosaik unterschiedlichster Zeitordnungen geprägt, welches in erster Linie durch ein Ineinandergreifen von Elementen einer überlieferten sakralen Zeit und einer uhrzeitspezifischen zivilen Zeit gekennzeichnet war.33 Prozesse der zeitspezifischen Standardisierung verliefen dabei generell nur sehr langsam und begannen in vielen Regionen erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges einzusetzen.34 Ohne den Rückhalt einer verbindlichen Vorgabe von Seiten der Washingtoner Konferenz blieb die Durchsetzung vereinheitlichter Zonenzeiten jedoch generell ein primär nationales Projekt, dessen Umsetzung nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen anderen Staaten Europas noch einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen sollte: »In 1884 representatives of twenty-five countries that convened at the Prime Meridian Conference in Washington proposed to establish Greenwich as the zero 30 31 32 33 34
Houllevigue 1913: 871; siehe dazu auch Kern 2003: 14. Siehe dazu auch Whitrow 1989: 166; Geyer 2005: 96; Enslin 1988: 63. Enslin 1988: 63. Vgl. Corbin 1995: 163, 169. Vgl. ebd.: 168; Weber 1976: 476-478.
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meridian, determined the exact length of the day, divided the earth into twentyfour time zones one hour apart, and fixed a precise beginning of the universal day. But the world was slow to adopt the system, for all its obvious practicality.«35 In weltumspannender Perspektive war um die Jahrhundertwende insofern noch eine große Vielfalt und Konfusion unterschiedlichster Zeitordnungssysteme zu konstatieren.36 In China, Russland, Indien sowie nahezu ganz Süd- und Mittelamerika existierten noch zahlreiche unterschiedliche Lokalzeiten nebeneinander.37 Auch im europäischen Raum gestaltete sich die Ausrichtung an der neuen Einheitszeit langwierig und noch 1914, 30 Jahre nach der Washingtoner Konferenz von 1884, hatten sich Griechenland, Irland und die Niederlande noch nicht dazu entschieden, ihre nationalen Einheitszeiten an das Weltzeitzonensystem anzuschließen.38 In Deutschland wurde dagegen bereits am 12. März 1893 ein Reichsgesetz zur Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung erlassen, welches am darauffolgenden 1. April in Kraft trat und »die mittlere Sonnenzeit des 15. Meridians östlich von Greenwich als gesetzliche Zeit in Deutschland«39 anerkannte.
1.3. Die Standardisierung der Zeit im französischen Kolonialimperium Die überregionale und transnationale Übermittlung von standardisierten Zeitsignalen stützte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vor allem auf maritime und terrestrische Telegraphenverbindungen. Letztere wurden in wurden in Frankreich schon seit den 1880er Jahren zur Transmission von Zeitsignalen eingesetzt. Beginnend mit den Städten Rouen und Le Havre wurden im Bedarfsfall Zeitsignale einmal wöchentlich am Sonntag per Telegraph versendet.40 Gerade die weitläufigen Kolonialreiche wie Großbritannien und Frankreich konnten sich jedoch nicht nur auf terrestrische Telegraphenverbindungen verlassen und mussten zur Integration ihrer zahlreichen unterschiedlichen Überseekolonien auf ein gemeinsames Kommunikationsnetz, vor allem auf die Errichtung maritimer Telegraphenverbindungen, zurückgreifen.41 Die westafrikanischen Kolonialgebiete Frankreichs wurden durch ein gemeinsam mit der spanischen Regierung finanziertes Netz von Seekabeln mit dem europäischen Kontinent verbunden. Das in den Jahren 1884 bis 1885 verlegte Kabelnetz verlief vom spanischen Hafen Cadiz über Teneriffa nach Saint-Louis in Senegal
35 36 37 38 39 40 41
Kern 2003: 12. Vgl. ebd.: 12-14. Vgl. ebd.: 14; Howse 1997: 145. Vgl. Enslin 1988: 63. Ebd. Vgl. Howse 1997: 154-155. Vgl. Griset 1987: 181-190.
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
und von dort über Yoff nach Dakar.42 Prinzipiell war damit ab 1885 die Vermittlung von standardisierten Zeitsignalen aus Frankreich nach Senegal möglich geworden. Frankreich hatte jedoch keine wirklich konkurrenzfähige Seekabelindustrie und konnte daher viele Projekte nur in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Nationen realisieren. Die frühen Seekabel waren zudem sehr störungsanfällig und der französische Telegraphendienst galt noch in den 1920er Jahren als weitgehend ineffektiv: »[U]n télégramme expédié de New York à destination de Londres peut recevoir une réponse en une heure, alors que si il avait été envoyé vers Paris la réponse n’aurait pu être espérée le lendemain.«43 Bis zur Etablierung einer Direktverbindung im Jahre 1905, die Dakar in Senegal mit der französischen Hafenstadt Brest verband und eine permanente, regelmäßige und sichere Kommunikation von standardisierten Zeitsignalen erlaubte, waren die Franzosen vor allem auch auf die Nutzung britischer Telegraphenverbindungen angewiesen.44 Dies erwies sich insbesondere in Krisenzeiten als problematisch, da die Briten die Nutzung ihrer eigenen Telegraphennetze durch fremde Nationen in einem solchen Falle aussetzen konnten, was es den Franzosen unmöglich gemacht hätte, mit ihren Überseegebieten telegraphisch zu kommunizieren: »Lorsque la 17 novembre 1899 le gouvernement britannique suspendit toute transmission de messages codés en Afrique australe, Orientale et Occidentale, la France se trouva dans l’incapacité de transmettre ses instructions secrètes au gouvernement général de Madagascar. Cet exemple n’est pas isolé et lors des crises coloniales majeures, Indochine en 1885, Madagascar 1895, Fachoda 1898, Transvaal 1899 et Maroc 1905, La France eut à en pâtir.«45 Im Kontrast zu Großbritannien, welches bereits seit 1852 über einen zentral gesteuerten Zeitvergabedienst unter Aufsicht des Observatoriums in Greenwich verfügte, entwickelte Frankreich jedoch nie ein vergleichbar ausgefeiltes System der Zeitübertragung per Telegraph.46 Der spätestens seit 1905 auf permanente und abgesicherte Art und Weise mögliche Austausch von standardisierten Zeitsignalen zwischen Frankreich und Senegal führte zunächst zu keiner weitergehenden Angleichung der Zeitordnungen von kolonialem Mutterland und Kolonie. Zur Standardisierung der Zeitordnungen kam
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Vgl. Fouchard 2002 : 4; Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1907 : 154157. Griset 1987 : 187. Vgl. Fouchard 2002 : 5; Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1907 : 100. Griset 1987: 186. Vgl. Howse 1997: 154.
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es letztendlich erst durch ein richtungsweisendes Gesetz vom 9. März 1911, infolgedessen Senegal und die meisten anderen französischen Überseekolonien zumindest faktisch an das System der Weltzeitzonen angegliedert wurden.47 Auf Grundlage dieses ministeriellen Gesetzes diktierte der Generalgouverneur Französisch-Westafrikas eine föderale Verordnung, in der der eigentliche Prozess der Zeitumstellung (d.h. der Synchronisierung von senegalesischer Lokalzeit und internationaler Standardzeit) für alle Territorien der Föderation auf den Jahreswechsel von 1911 zu 1912 gelegt wurde. Im entsprechenden lokalen Erlass des Lieutenant-Gouverneurs von Senegal, Henri Core, heißt es: »En Exécution de l’arrêté No. 1077 du 22 Septembre 1911 de M. le Gouverneur Général toutes les horloges des établissements publics seront avancées de 10 minutes à Dakar et de 6 minutes à Saint- Louis dans la nuit du 31 Décembre 1911 au 1er Janvier 1912.«48 Durch weitere Bestimmungen der föderalen Verordnung wurden die Territorien Französisch-Westafrikas drei unterschiedlichen Zeitzonen angegliedert. In Senegal wurde die l’heure des Canaries (= GMT -1) adoptiert, »en retard d’une heure sur l’heure légale française.«49 Faktisch bedeutete dies den Anschluss an die GMT, das Wort Greenwich wurde jedoch auch in diesem Zusammenhang vermieden. Das ministerielle Gesetz vom 9. März 1911 stand darüber hinaus auch mit der Einführung eines der ersten Systeme der Übermittlung von Zeitsignalen durch Funktechnologie in Verbindung.50 Die betreffende Transmission von Funkzeitsignalen begann dabei bereits am 23. Mai 1910.51 Vom Eiffelturm aus wurde in der Folgezeit täglich um Mitternacht (Pariser Zeit) ein Funkzeitsignal ausgesendet, ab
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Algerien in verklausulierter Form, wie oben erwähnt, bereits 1891. Der Großteil der französischen Überseekolonien dann 1911 und 1912. (Vgl. ebd. : 148) ANS O259 , Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Core, Arrête au sujet de la nouvelle heure légale, November 1911, fol. 1. ANS O259 , Gouverneur Général W. Ponty, Circulaire au sujet de l’arrêté portant modification de l’heure légale en Afrique occidentale française pour la mettre en concordance avec le système universel des fuseaux horaires, 22. September 1911, fol. 1. Vgl. Howse 1997: 154-155; Kern 2003: 14-15. Vgl. Howse 1997: 155. Die Transmission von Funkzeitsignalen begann, nachdem diese 1908 erstmals vom Bureau des Longitudes, einer seit 1795 an das Pariser Observatorium angegliederten Institution zur Überwachung der astronomischen Beobachtungen in Frankreich, empfohlen worden war und durch das Budget des Kriegsministeriums finanziert werden konnte, am 23. Mai 1910. (Vgl. ebd.: 155; Pyenson 1993: 16) Interessanterweise begann die Ausstrahlung von Funkzeitsignalen auf Basis der Pariser Zeit damit sogar schon, bevor diese offiziell als gesetzliche Norm festgelegt wurde. (Vgl. Kern 2003: 14)
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
Abbildung 1 – Weltzeitzonen und Territorien des französischen Kolonialimperiums (1911).
Aus : ANS O259 , Sénateur M. Pauliat, Rapport fait au nom de la Commission chargée d’examiner la proposition de loi, adoptée par la Chambre des Députés, portant modification de l’heure légale française, pour la mettre en concordance avec le système universel des fuseaux horaires, Sénat, Session extraordinaire, 22. November 1910, fol. 17-18.
dem 21. November kam ein zweites, tagsüber gesendetes Signal hinzu.52 Der Pariser Funk-Emitter gehörte zu den modernsten und leistungsfähigsten seiner Zeit: »Il reçoit régulièrement des signaux de Glace-Bay (Canada), à 6.000 kilomètres, et correspond dans le deux sens avec Dakar-Rufisque (Sénégal), à 4.700 kilom. […] On envoie […], chaque jour, […] des signaux horaires qui peuvent être reçus dans un rayon de plusieurs milliers de kilomètres […].«53 Die vom Eiffelturm aus gesendeten Zeitsignale wurden in Senegal von den Funktelegraphie- Stationen in Dakar und Rufisque empfangen, um von dort auch in alle anderen Teilkolonien der Föderation Französisch-Westafrikas weitergeleitet zu werden.54 Das von der Kolonialstadt Dakar, welche seit 1904 auch als
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Vgl. Howse 1997: 155. 1912 wurde das System durch Funk-Emitter in Nancy, Charleville und Langres ergänzt, so dass von nun an das gesamte Land gleichzeitig das Funksignal der l’heure nationale empfangen konnte. (Vgl. Kern 2003 : 14-15) Bethenod 1911 : 2. Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française (1911) zit. in Dia 1987 : 42.
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Hauptstadt der Föderation Französisch-Westafrikas diente55 , versorgte Netz von Funktelegraphie-Stationen war infolge eines ergänzenden föderalen Erlasses vom 12. Juli 1911 gegründet worden und umfasste neben den beiden Funk-Emittern in Senegal Stationen in Port-Etienne (Mauretanien), Conakry (Guinea), Monrovia (Liberia), Cotonou (Benin) sowie Tabou und Bassam (Elfenbeinküste).56 Die Funktelegraphie-Stationen in Senegal bildeten insofern eine zentrale Achse innerhalb des französischen Systems zur Standardisierung der Zeit, betraut mit der Oberaufsicht über den »envoi de signaux horaires aux navires en mer, pour les besoins de la navigation« sowie den »envoi de signaux spéciaux pour la détermination des longitudes et les besoins du service géographique.«57 Standardisierte Zeitsignale wurden von Rufisque aus täglich um 9 Uhr morgens an die Funktelegraphie-Stationen der anderen Teilkolonien der Föderation versandt.58 Als Dreh- und Angelpunkt für Zeitstandards in der Föderation FranzösischWestafrikas repräsentierten die senegalesischen Funkstationen für Westafrika daher in ähnlicher Weise ein Zentrum der Zeit wie Paris für das gesamte französische Imperium. Die Bedeutung, die die Entwicklung des neuen Systems der Übermittlung von Zeitsignalen über Funk für die zeitgenössische französische Gesellschaft hatte, lässt sich in den überschwänglichen Worten Houllevigues fassen, wenn dieser Paris nun metaphorisch als ›Uhr des Universums‹ beschreibt: »Paris, supplanté par Greenwich comme origine des méridiens, s’est fait proclamer le centre horaire initial, la montre de l’Univers.«59 Infolge der Etablierung der funkgestützten Zeitsignalvergabe gelang es der französischen Regierung zusätzlich noch, das mit der Kontrolle der Zeitstandards betraute Bureau International de l’Heure (Internationales Zeitamt) in Paris anzusiedeln.60 55
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Von der Gründung der Föderation Französisch-Westafrikas im Jahre 1895 bis 1902 war das Generalgouvernement in Saint-Louis angesiedelt (Vgl. Sinou 1993: 169ff.; Robinson 2000: 62), nach einem kurzen, nur zwei Jahre andauernden Intermezzo in Gorée wurde Dakar 1904 zum neuen Hauptort der Föderation auserkoren. (Vgl. Robinson 2000 : 38) Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française (1911) zit. in Dia 1987 : 42, Fußnote 2. Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française (1911) zit. in Dia 1987 : 43. Die Neuerung der Funktechnologie stellte für die Informationsübermittlung zwischen Frankreich und Senegal eine Revolution dar und erbrachte eine Zeitersparnis von »plusieurs semaines“ gegenüber der Versendung von Informationen über den Seeweg (Schifffahrt). (Dia 1987 : 44) ANS O259 , Gouverneur Général Ponty à Ministre des Colonies, Télégramme, 27. August 1914. Houllevigue 1913: 875. Da bei der Ausstrahlung von Zeitsignalen per Funk durch mehrere verschiedene Stationen Unterschiede von mehreren Sekunden auftreten konnten, sollte das Zeitamt dafür sorgen, »daß die von den verschiedenen Stationen gesendete Zeit möglichst gut übereinstimmte und der mittleren Sonnenzeit des Meridians von Greenwich möglichst gut entspräche, und es sollte nachträglich für den wissenschaftlichen Benutzer der Zeitzeichen endgültige Korrektionen der Signalzeiten ‒ eine Art Mittel der von vielen Observatorien aus eigenen astronomischen Beobachtungen und Zeitsignalaufnahmen abgeleiteten Korrektionen ‒ veröf-
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
Durch das Gesetz von 1911, die Etablierung des Systems von Funkzeitsignalen und der Gründung des Bureau International de l’Heure hatte Frankreich letztendlich den Anschluss an die internationalen Zeitstandards gefunden und verfügte durch die verschiedenen Pariser Einrichtungen (Observatorium, Zeitsignalsendestation und internationales Zeitamt) zudem über eine zentrale und bedeutende Position im Geflecht der internationalen Bestrebungen zur Standardisierung der Zeit. Ungeachtet der faktischen Angliederung an das System der Zonenzeiten und trotz beständiger Problematiken der Synchronisation, die aus der stellenweise zu großen geographischen Breite der festgelegten Zeitzonen der Föderation resultierten, entwickelte sich die Standardisierung der Zeit in den französischen Überseeterritorien jedoch auch noch nach 1911 nur sehr zögerlich. Trotz bestehenden zeitlichen Abstimmungsproblematiken wurden die lokalen Zonenzeiten und die Ausrichtung an der gesetzlich legitimierten Zeit des französischen Mutterlandes innerhalb der Föderation erst in Frage gestellt, als es zwischen 1941 und 1948 zu einer temporären Auflösung und Vereinheitlichung des Systems kam.61 Bis 1948 existierte letztendlich kein regulierendes staatliches Organ, welches eine einheitliche Bestimmung der gesetzlich verbindlichen Zeit in allen Territorien ermöglicht hätte. Die Verantwortung über die Ordnung und Regulierung der Zeit in den jeweiligen Überseegebieten blieb daher bis dahin den lokal verantwortlichen Präfekten oder Gouverneuren überlassen.62 In einem die Gesetzesänderung von 1911 begleitenden Brief des Kolonialministers an den Generalgouverneur von FranzösischWestafrika wird deutlich, dass die Verantwortlichen trotz neuer Zeitstandards erwarteten, dass es zu diversen Abweichungen von der Regel kommen würde. Die Ratschläge des Kolonialministers, doch auch die ›Gewohnheiten der Indigenen‹ bei der Durchsetzung der Zeitreform zu berücksichtigen, ließen den Verantwortlichen vor Ort zumindest viel Freiraum, die Zeitstandards selbst zu gestalten: »Je vous laisse toute latitude pour déterminer la date à laquelle la Colonie que vous administrez entrera dans le système des fuseaux horaires, et pour prendre les mesures préparatoires et d’exécution qui vous paraîtraient nécessaires. Je vous
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fentlichen. […] [D]er Direktor der Pariser Sternwarte [richtete] 1913 ein provisorisches Zeitbüro ein. Als Bureau International de l’Heure (BIH) erhielt es 1920 internationalen Status und versah dann seinen Dienst nach den Richtlinien der Zeitkommission der internationalen astronomischen Union (IAU). In den ersten Jahren nach Gründung des BIH entwickelte sich die Zusammenarbeit der Zeitdienste außerhalb Frankreichs recht schleppend, teilweise war sie unregelmäßig. Im Jahre 1922 erhielt das BIH die Meßdaten von sieben, 1930 von 10 Diensten“. (Enslin 1988 : 66) ANS 18G -144 (108), Gouverneur Général Boisson, Arrêté fixant l’heure légale en Afrique occidentale française, 17. Mai 1941, fol. 1. ANS 18G -144 (108), Ministre de la France d’Outre-mer Bruzon à Messieurs les Hauts Commissaires, Gouverneurs Généraux et Gouverneurs, 15. September 1948; siehe auch Anonym 1950 : 1335.
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signale cependant l’intérêt qu’il y aura à ce que vous vous préoccupiez des répercussions diverses de la réforme, en ce qui concerne les habitudes des indigènes, les communications maritimes, postales et télégraphiques, et la passation simultanée des marchés dans la métropole et aux colonies.«63 Die Dezentralisierung der Kompetenzen zur Regulierung der gesetzlichen Zeit an die jeweils lokalen, staatlich eingesetzten Führungsbeamten führte dazu, dass der verantwortliche Service Hydrographique de la Marine bis zu Beginn der 1950er Jahre oft nicht in der Lage war, festzustellen, nach welcher der in lokalem Rahmen offiziell sanktionierten Zeiten sich bestimmte Territorien in der Union Française gerade richteten.64 Erst eine Reihe von Gesetzen aus den Jahren 1948 und 1949 sollte die Verantwortung über die Festlegung der l’heure légale an den Überseeminister übertragen und die verklausuliert formulierte Ausrichtung an der GMT absolut verbindlich für alle französischen Überseeterritorien (Französisch-Westafrika durch Erlass vom 18. Dezember 1948) festschreiben.65
1.4. Zeitzonen des französischen Kolonialimperiums Wie im Verlauf dieses Kapitels erläutert wurde, befand sich das Zentrum der imperialen französischen Zeithierarchie, infolge der 1884 erfolgten Etablierung des Weltzeitzonensystems und der 1891 folgenden Festschreibung der Pariser Zeit als gesetzlich verbindlicher Einheitszeit, in der französischen Hauptstadt Paris. Das dort verortete Observatorium bestimmte und kontrollierte, spätestens seit der französischen Angliederung an das System der Zonenzeiten im Jahre 1911, die Zeit im französischen Imperium und stellte darüber hinaus das wichtigste geographische und symbolische Zentrum der französischen l’heure nationale dar.66 Die überragende Bedeutung, die dieser »National Time«67 von Seiten der französischen Autoritäten zugesprochen wurde, verdeutlichte sich, wie erwähnt, insbesondere am unbändigen französischen Nationalstolz, welcher nach dem verlorenen Kampf um den Nullmeridian in eine fast 100 Jahre anhaltende sprachliche Negierung des Meridians von Greenwich mündete. Der lange und intensive Kampf für die weltweite Anerkennung des nationalen französischen Meridians verweist insofern auf die große symbolische Bedeutung,
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ANS O259 , Ministre des Colonies au Gouverneur Général et aux Gouverneurs des Colonies, 24. März 1911, fol. 2, Hervorhebungen des Autors. ANS 18G -144 (108), Ministre de la France d’Outre-mer Bruzon à Messieurs les Hauts Commissaires, Gouverneurs Généraux et Gouverneurs, 15. September 1948; vgl. auch Anonym 1950: 1355. Vgl. Anonym 1950: 1357. Vgl. Whitrow 1989: 166; Kern 2003: 14; Geyer 2005: 81. Vgl. Geyer 2005: 1.
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
die die Franzosen ihrem nationalen Leitmeridian zusprachen, welche aber grundsätzlich auch in allen anderen europäischen Nationen vorherrschte: »[D]efining […] [a] prime meridian would provide a quintessential geographic and symbolic center to the nation’s […] capital. […] More than anything else, a national meridian symbolized independence.«68 Die in Analogie zur Durchsetzung von Greenwich als Nullmeridian verwirklichte Festlegung von nationalen Leitmeridianen verfolgte demnach in erster Linie eine integrative Funktion, welche darin bestand, die Nation bzw. das Imperium als unabhängige, geschlossene und eng miteinander vernetzte Einheit zu definieren und zu repräsentieren.69 Auch die Definition des zeitlichen Gefüges innerhalb des französischen Imperiums wurde entlang einer von Paris ausgehenden Achse von Zentrum und Peripherie entworfen. Von diesem nationalen Zentrum der Zeitbestimmung, dieser ›Uhr des (französischen) Universums‹, wurden Zeitsignale in alle Ecken des französischen Imperiums entsandt und manifestierten so auch auf zeitspezifischer Ebene ein Spektrum von Zentrum und Peripherie. Werden uhrzeitspezifische Zeitnormen und Handlungspraxen als Maßstab für die Bewertung der Intensität der Angliederung an dieses System, anders gesagt, für die Bewertung der Positionierung innerhalb dieses Spektrums herangezogen, so bewegten sich die französischen Überseeterritorien in Westafrika in der Peripherie dieser imperialen Zeithierarchie.70 Die Kolonie Senegal, vor allem aber Dakar, welche als Hauptstadt der in zentralistischer Tradition organisierten Föderation Französisch-Westafrikas neben wichtigen zeitspezifischen Infrastrukturelementen auch alle anderen bedeutsamen politischen, administrativen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Aktivitäten in der Kolonie bündelte, nahm innerhalb der imperialen zeitspezifischen Hierarchie jedoch spätestens seit der 1911 erfolgten Etablierung eines funkgestützten Zeitvergabesystems und der korrespondierenden Einrichtung eines föderalen Netzwerkes von Funktelegraphie-Stationen, eine zentrale Mittlerposition ein. Die Kolonie Senegal stand insofern selbst nicht in der äußersten Peripherie des Systems, sondern bildete eine Art untergeordnetes Subzentrum, welches durch die zeitspezifischen Anlagen und Institutionen in
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Ebd.: 81. Vgl. ebd.: 79-80. Um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass es sich dabei um ein homogen konzipiertes Spektrum von Zentrum und Peripherie handelte, in welchem die zunehmende räumliche Entfernung einer bestimmten Region im Kolonialimperium zum Zentrum mit einer Abnahme von Zeitdisziplin und uhrzeitspezifischen Handlungspraxen korrespondiert, wird hier darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der westafrikanischen Überseeterritorien oft mit der Entwicklung rezenter und isolierter Regionen im Hexagon des französischen Mutterlandes, wie bspw. den Regionen Bretagne oder Midi-Pyrénées, verglichen wurde. (Vgl. Sinou 1993 : 174; Faye 2000 : 55)
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Dakar über Instanzen verfügte, die die äußerste (westafrikanische) Peripherie des Systems mit dem französischen Kernzentrum verbanden. Die vergleichsweise große Bedeutung, die dieser Mittlerposition zugesprochen wurde, verdeutlicht insofern auch die dem Zentralgouvernement in Dakar überlassene Verantwortung über die Ordnung und Regulierung der Zeit in der Föderation, welche auch die Freiheit inkorporierte, die neuen zeitlichen Standards zugunsten der jeweiligen Situation in den Einzelkolonien abzuwandeln und aufweichen zu können.71 Eine den eigentlichen Zielsetzungen der Standardisierung widersprechende Vorgehensweise angesichts der großen Bedeutung, die exakten zeitlichen Standards und minutiösen Berechnungen von Zeitspannen im Kontext vergleichbarer Entwicklungen zur Industrialisierung in Frankreich zugesprochen wurde. Abwandlung und Aufweichung zeitlicher Standards verweisen hier insofern auf die geringere Bedeutung, die der Föderation Französisch-Westafrikas innerhalb der imperialen Zeithierarchie zugesprochen wurde. Die zeitliche Ordnung innerhalb der Föderation wies insofern auch noch nach 1911, fast 30 Jahre nach der Festlegung des Weltzeitnormals, nur einen vergleichsweise geringen Grad der Standardisierung auf, war keineswegs homogen, sondern vielmehr fragmentiert und entsprechend den Prämissen des französischen Kolonialismus strukturiert bzw. hierarchisiert. Das 1884 offiziell legitimierte System von Weltzeitzonen wurde somit durch ein inoffizielles System erweitert, welches die eurozentristische Ausrichtung der Weltzeitordnung in ein hierarchisches System national und imperial begründeter Zeitzonen spiegelte. Stellte Greenwich seit 1884 den globalen Leitmeridian für alle Nationen der Welt dar, so stellte Paris spätestens seit 1911 ein ähnlich bedeutsames zeitspezifisches Gravitationszentrum für das französische Kolonialimperium dar. Dakar wiederum bildete das zeitliche Zentrum der Föderation Französisch-Westafrikas. Der aus Perspektive der zeitgenössischen Protagonisten fast ausschließlich in seiner homogenisierenden Funktion verstandene Prozess der Standardisierung der Zeit äußerte sich hier insofern auch als zentraler Mechanismus zur Konstituierung von zeitspezifischer Differenz, insbesondere da die den europäischen Kolonialnationen in jederlei Hinsicht untergeordneten Kolonialterritorien auch in zeitlicher Hinsicht in ein imperialistisches, in erster Linie dichotom strukturiertes System von Zentrum und Peripherie eingegliedert wurden. Zwischen Metropole und Überseeterritorien herrschte insofern ein Zeitregime der unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
71
ANS O259 , Ministre des Colonies au Gouverneur Général et aux Gouverneurs des Colonies, 24. März 1911, fol. 2.
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
2. Zeit und Raum der kolonialen Herrschaft in Afrika Das sich auf imperialer Ebene zwischen Zentrum und Peripherie erstreckende Zeitregime kennzeichnet die prinzipiellen Strukturen der zeitspezifischen Differenzierung im französischen Kolonialismus. Als eine Art von auf imperialer Ebene etablierter Erweiterung des internationalen Systems der Zonenzeiten, die zeitliche Unterschiede räumlich verortete bzw. die Anwendung von unterschiedlichen zeitlichen Normen und Ordnungspolitiken für bestimmte Räume innerhalb des französischen Kolonialimperiums festschrieb, stand es jedoch nicht allein. Innerhalb des französischen Kolonialregimes und insbesondere auf Ebene der kolonialstaatlichen Organisation wurde, wie im Folgenden noch erläutert werden wird, entgegen den Maßnahmen zur Vereinheitlichung und Standardisierung der Zeit, vielmehr mit der Heterogenisierung und Differenzierung der zeitlichen Ordnungen fortgefahren. Dies resultierte in der Herausbildung eines additiven Systems räumlich voneinander abgegrenzter Bereiche, die wiederum jeweils eigenständigen zeitlichen Normen und Ordnungspolitiken unterworfen waren. Die Entwicklung dieses kolonialen Systems der Zeitzonen resultierte aus der Konstitution der kolonialen Herrschaft, Prozessen zur kolonialen Staatsbildung und Maßnahmen zur wirtschaftlichen Ausbeutung, zeigte sich jedoch auch zu einem nicht zu unterschätzenden Teil durch die personellen, materiellen und ideellen Unzulänglichkeiten des französischen Kolonialismus geprägt. Die unterschiedliche temporale Auszeichnung bestimmter kolonialer Räumlichkeiten kann dabei in erster Linie als Ausdruck der kolonialherrschaftlichen Repräsentation von Macht angesehen werden. Auch wenn sich die Kolonisierung der Zeit weitaus schwieriger gestaltete als die Kolonisierung des Raumes72 , waren Zeit und Raum der kolonialen Herrschaft intrinsisch miteinander verknüpft. Die Definitionsmacht über zeitliche und räumliche Kategorien stellte eine bedeutende Grundlage für die koloniale Herrschaft dar und war darüber hinaus essentiell für die administrative Erschließung und ökonomische Ausbeutung der neugewonnenen Überseeterritorien. Die Konstitution der französischen Kolonialherrschaft in Westafrika zeigte sich dennoch durch eine große Uneinheitlichkeit gezeichnet. Entsprechend konnte koloniale Herrschaft in einigen Territorien der Föderation über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg kaum nachhaltig etabliert werden. Da Zeit und Raum der kolonialen Herrschaft jedoch prinzipiell nur dort umgesetzt werden konnten, wo diese über ausreichend Autorität und Mittel verfügte, wird im Folgenden neben der Verknüpfung von räumlichen und zeitlichen Prozessen der Standardisierung auch das Ausmaß des kolonialherrschaftlichen Einflussbereiches in den westafrikanischen Überseeterritorien der Franzosen genauer untersucht. Das Ausmaß des kolonialherrschaft72
Vgl. Cooper 1992: 209.
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lichen Einflussbereiches wird hier als konstituierender Faktor für die Bestimmung der Ausdehnung des zeitspezifischen Wirkungsbereiches bzw. der prinzipiellen Zeitzonen der kolonialen Herrschaft angesehen.
2.1. Kolonialismus und die Standardisierung von Zeit und Raum Die Ordnung und Strukturierung der europäischen Kolonialimperien wurde nicht allein durch die Beherrschung und Kontrolle der zeitlichen Dimension realisiert. Die Ordnung der Zeit nach westlichem Vorbild ging vielmehr mit einem Prozess der Standardisierung des Raumes einher bzw. kann als ein ergänzendes und korrespondierendes Phänomen angesehen werden. Dass im Jahre 1884 nicht nur die britische Standardzeit zur globalen Referenzzeit auserkoren wurde, sondern mit der Berliner Afrika-Konferenz auch der imperialistische ›Wettlauf‹ um die territoriale Beherrschung des afrikanischen Raumes einen Höhepunkt erreichte und infolgedessen auch eine einheitliche und universelle Raumordnung etabliert wurde, stellte insofern nicht nur eine interessante Koinzidenz dar, sondern verwies kursorisch auch auf die intrinsische Verbindung von räumlicher und zeitlicher Standardisierung.73 Räumliche und zeitliche Standardisierung stellten jedoch kein koordiniert geplantes und gemeinsam orchestriertes Projekt der europäischen Kolonialnationen dar. Die vermittels der Washingtoner Meridiankonferenz sowie der Berliner Afrika-Konferenz zwischen 1884 und 1885 realisierte spatio-temporale Umwandlung afrikanischer Räume und Zeiten anhand von europäischen Normen bildete dennoch eine der bedeutendsten Grundlagen für einen tiefergreifenden Prozess der Kolonisation. In den auf 1884 folgenden Jahren erlaubte die Etablierung von zeitlichen und räumlichen Standards der französischen Kolonialherrschaft, die militärische Expansion sowie auch die Konsolidierung und wirtschaftliche Ausbeutung bereits eroberter Territorien auf effizientere und koordinierte Art 73
Nicht nur, dass die beiden Konferenzen fast zur selben Zeit ausgerichtet wurden (die internationale Längengradkonferenz von Washington fand vom 1. Oktober bis 1. November 1884 statt und die Berliner Afrika-Konferenz vom 15. November 1884 bis 26. Februar 1885), nimmt man die Durchsetzung von Zeitstandards in Französisch-Westafrika, die infolge der Etablierung des Funkzeitsignals von 1911 realisiert werden konnte, als Maßstab für den Ablauf der zeitlichen Standardisierung und die um 1912 abgeschlossene territoriale Aufteilung der afrikanischen Kolonialgebiete als Maßstab für den Ablauf der räumlichen Standardisierung, so stimmt die Zeitdauer vom Kulminationspunkt der jeweiligen Entwicklungen auf den Konferenzen bis hin zum tatsächlichen Abschluss der Entwicklungen fast vollständig überein. Obwohl zwischen der Washingtoner Konferenz zur Zeitstandardisierung und der Berliner Konferenz zur räumlichen Gliederung der afrikanischen Territorien keine offensichtliche Verbindung bestand, fanden beide Prozesse fast zeitgleich statt und zeigten einen vergleichbaren Verlauf, weshalb die Rede von einer synchronen räumlichen und zeitlichen Aufteilung des Kontinents durch die Europäer durchaus berechtigt erscheint.
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
und Weise voranzutreiben. Europäische Raum- und Zeitnormen waren essentielle Grundvoraussetzungen für die Angliederung europäischer Überseebesitzungen, da sie erstmals ermöglichten, die in räumlicher und zeitlicher Hinsicht zumeist weit vom kolonialen Mutterland entfernten europäischen Überseebesitzungen in einem einheitlichen Raum-Zeit-Raster miteinander in Beziehung zu setzen, sei es nun in ökonomischen, politischen oder soziokulturellen Dimensionen. Die Berliner Afrika-Konferenz stellte dabei ebenso wenig den Endpunkt der räumlichen Gliederung und Unterteilung afrikanischer Territorien dar, wie die Washingtoner Konferenz zur Standardisierung der Zeit den Endpunkt der Anstrengungen zur zeitlichen Standardisierung in den Kolonialgebieten darstellte. Die Afrika-Konferenz von 1884 diente in dieser Hinsicht vielmehr nur zur symbolischen Unterteilung der Territorien und erlaubte es, den sich bisher vor allem auf rhetorischer Ebene äußernden Prozess zur Inanspruchnahme verschiedener afrikanischer Regionen zu legitimieren und zu regulieren.74 Der tatsächliche Prozess der räumlichen Unterteilung Afrikas endete letztendlich erst um 1912, weshalb die gesamte Entwicklungsperiode des ›Wettlaufes um Afrika‹ von Wesseling in drei distinktive Phasen unterschieden wird: erstens eine anfängliche Phase (1879-1885), in der sich die Problematik zu einer internationalen Debatte entwickelte, zweitens eine Hochphase (1885-1895), in der der Prozess der Aufteilung kulminierte und drittens eine nachlaufende Phase (1895-1912), in der die etablierten Divisionen vervollständigt, bestätigt und konsolidiert wurden:75 »In a way the partition was nothing but the entire history of Europe since the Middle Ages all over again, but in a condensed form: 400 years of history repeated within 30 years!«76 Der Prozess der territorialen Aufteilung stellte insofern keine punktuelle Maßnahme dar, sondern war vielmehr Ausdruck eines graduellen Wandlungsprozesses, der vielerorts erst die Voraussetzungen für die koloniale Herrschaft schaffen sollte. In anderen Regionen dagegen, insbesondere in denjenigen, die, wie Senegal, bereits über eine lange währende Zeit intensiven europäischen Einflüssen ausgesetzt waren, hatte dieser Wandlungsprozess schon lange vor 1884 begonnen.77 Ebenso wenig homogen wie der Prozess der räumlichen Unterteilung zeigten sich letztendlich auch die europäischen Beweggründe zu territorialer Aufteilung und Kolonisation Afrikas:
74 75 76 77
Vgl. Hargreaves 1988: 317, Wesseling 1988: 533. Vgl. Wesseling 1988: 534-535. Ebd.: 536. Vgl. ebd.: 538. Entsprechend Hargreaves kann der Beginn der territorialen Unterteilung in Senegal anhand der zwischen Franzosen und Briten in dieser Region ausgetragenen Territorialstreitigkeiten sogar bis in die Epoche des Versailler Vertrages von 1783 zurückgeführt werden. (Vgl. 1988: 514)
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»According to Wesseling, the motives behind colonial expansion differ from country to country, from period to period, and from place to place. In some cases strategic motives went hand-in-hand with financial goals, in other cases economic opportunism merged with political megalomania. He argues that it is impossible to isolate one particular interest as the driving force from which all the others ensued.«78 Aufgrund der jeweils sehr unterschiedlichen politischen Ausgangssituationen in den europäischen Staaten spricht Wesseling dem Prozess der Aufteilung auf Ebene der europäischen Politik nur eine marginale Bedeutung zu. Die Aufteilung Afrikas erscheint insofern mehr als eine »sideshow of contemporary European politics«79 , die, wie Wirz und Eckert anmerken, aufgrund der Tiefe und Intensität der kolonialen Erfahrung und ihrer profunden Rückwirkungen auf die europäischen Kolonisatoren dennoch als eine der entscheidendsten politischen Entwicklungen angesehen werden sollte, die gegen Ende des 19. Jh. erfolgten.80 Die sich anhand der bisher getätigten Überlegungen verdeutlichende Unklarheit und Unbestimmtheit des kolonialen Projektes innerhalb der europäischen Gesellschaften gegen Ende des 19. Jh. ermöglicht somit letztendlich auch eine modifizierte Sichtweise auf den Prozess der Aufteilung Afrikas, die für die Betrachtung der zeitlichen Dimensionen des Kolonialismus von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Die im Zuge der Berliner Afrika-Konferenz realisierte räumliche Aufteilung Afrikas wird entsprechend nicht mehr als ein Modus von Wettbewerb angesehen, bei dem die europäischen Nationen auf klassische Art und Weise Außenpolitik betrieben, sondern vielmehr als eine Form von Lotterie charakterisiert, die sich anhand von Regeln organisierte, die eher denen des Glücksspiels entsprachen.81 Das koloniale Projekt der europäischen Nationen erscheint insofern weniger als eine homogene, auf rationalen Kriterien beruhende Politik der Eroberung und Entwicklung, denn als eine mehr oder minder irrationale Wette auf die Zukunft: »Finally, […] the governing of the colonial territories was seen as a matter to be dealt with later, just as the exploitation of local resources was left to the future. Hence, partition was the first of all a diplomatic and a symbolic or even fictitious act, a sort of betting on the future, which we might arguably compare to the behaviour of stockjobbers.«82
78 79 80 81 82
Vgl. Wirz/Eckert 2004: 138. Vgl. ebd.: 143. Vgl. ebd. Vgl. ebd.: 139. Vgl. ebd.
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Aus historischer Perspektive kommt der Bedeutung der Berliner Afrika-Konferenz für den Ablauf der kolonialen Eroberung insofern nur eine marginale Rolle zu. Als vor allem in symbolischer Hinsicht bedeutsamer politischer Akt lässt sich die Konferenz bzw. der dadurch verkörperte Prozess der Aufteilung Afrikas primär im Sinne einer bedeutenden Episode im umfassenderen welthistorischen Rahmengerüst einer europäischen »partition of the world« begreifen, die bereits mit den Fahrten der europäischen Entdecker gegen Ende des 15. Jh. ihren Anfang nahm.83 Als einzige politische Triebfeder zur Kolonisation, die allen europäischen Staaten zur Zeit der Berliner Afrika-Konferenz gemein war, erkennt Wesseling hingegen nur die Prozesse zur Nationalstaatsbildung an.84 Dementsprechend beeinflusste das Modell des Nationalstaates mit der korrespondierenden Vorstellung von territorialer Souveränität die koloniale Eroberung nachhaltig, indem es einerseits Wettbewerb und Konkurrenz förderte und andererseits auch die Konstitution der Kolonialgebiete als Anhängsel der europäischen Territorialstaaten begünstigte.85 Die bedeutendste Konsequenz des fast drei Jahrzehnte andauernden Prozesses der räumlichen Aufteilung Afrikas lag, entsprechend der hier verfolgten Lesart, insofern vor allem in der Begründung einer hierarchischen Machtrelation zwischen europäischen Staaten und unterworfenen afrikanischen Kolonialgebieten.86
2.2. Die Ungleichzeitigkeit der französischen Kolonialherrschaft in Westafrika Die durch die koloniale Intervention etablierte fremdherrschaftliche Hegemonie und die daraus resultierende dichotome Machtrelation hatten jedoch keinen absoluten Charakter. Die koloniale Expansion zeichnete sich vielmehr durch eine große Uneinheitlichkeit der territorialen Durchdringung und kolonialherrschaftlichen Autorität aus, welche in eine grundsätzliche Ungleichzeitigkeit des Kolonialismus überging und auf Ebene der Föderation Französisch-Westafrikas wie auch auf Ebene der Einzelkolonien zu beträchtlichen Unterschieden der Durchsetzung von kolonialer Herrschaft und europäischen Zeitnormen führen konnte. Die Kolonie Senegal nahm aufgrund der bereits zu Beginn der Kolonialepoche lange währenden französischen Präsenz vor Ort und der daraus resultierenden, vergleichsweise intensiven kolonialen Durchdringung, innerhalb der Föderation Französisch-Westafrikas in diesem Zusammenhang immer eine Sonderstellung ein. Die Territorien an der westafrikanischen Küste, die später die Kolonie Senegal ausmachen sollten, wurden bereits kurz nach dem Beginn der ersten großen Fahrten der europäischen Entdecker im 15. Jh. zu einem regelmäßigen Anlaufpunkt 83 84 85 86
Wesseling 1988: 534. Vgl. Wirz/Eckert 2004: 143. Vgl. ebd.: 150. Vgl. Wesseling 1988: 536.
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europäischer Handelsreisender. Portugiesische Händler besetzten die vor Cap Vert liegende Insel Gorée bereits im Jahre 1444 und Franzosen führten seit 1520 reguläre Handelsreisen in die betroffenen Küstenregionen durch.87 Ab 1659 bestanden dann »durable French trading contacts with the Senegambian region.«88 In der darauffolgenden Zeit gelang es den Franzosen, sich gegenüber den konkurrierenden europäischen Kolonialmächten durchzusetzen und sich in einigen Handelsniederlassungen und Küstenstädten permanent zu etablieren.89 Ab 1817 besaßen sie dann die unangefochtene Vormachtstellung in der Region.90 An der Schwelle zur zweiten Hälfte des 19. Jh. und infolge des aufgrund der zeitgenössischen Entwicklungen in Europa entstandenen Übermaßes an industrieller Technologie, medizinischen und vor allem auch militärischen Neuerungen, begannen die Franzosen dann mit einem großangelegten militärischen Eroberungszug, ausgehend von ihren Besitzungen an der senegalesischen Küste.91 Die republikanische politische Orientierung der Zweiten Französischen Republik wurde zu dieser Zeit durch eine aggressivere politische Haltung ersetzt, die vor allem die territoriale Expansion der ruhmreichen französischen Nation anstrebte und in der Folgezeit auch umsetzen konnte: »From 1854 on, the colony of Senegal took on a decidedly martial tone, with especial emphasis on the domination of the Senegal river’s banks by ships‹ artillery and well-placed military posts. At the end of 1854, a new governor, Louis Faidherbe, launched a program of continental expansion based frankly on the Algerian model.«92 Die unter dem Bataillonskommandanten und Gouverneur Louis L. Faidherbe ab 1855 begonnene Ausweitung der Kolonialterritorien, die die spätere Ausdehnung des Territoriums Senegals weitgehend vorwegnahm, stellte jedoch nur den Beginn einer Phase der militärischen Expansion dar, die erst gegen Ende des 19. Jh. abgeschlossen wurde.93 Wird die erste Welle der französischen Expansion in Westafrika oft mit Gouverneur Faidherbe in Verbindung gebracht, so wird der Beginn der zweiten großen Expansionswelle zumeist mit dem Beginn der von 1876 bis 1881 währenden Amtszeit von Gouverneur Louis Brière de l’Isle assoziiert.94 Der im militärischen Rang eines Oberst der Marineinfanterie stehende Gouverneur knüpfte an die aggressive Expansionspolitik seines Vorgängers an und startete zahlreiche
87 88 89 90 91 92 93 94
Vgl. Hesseling 1985: 115; Johnson 1971: 19. Pheffer 1975: 16. Vgl. Hesseling 1985: 115 Vgl. Johnson 1971: 25, 126. Vgl. Pheffer 1975: 15. Ebd.: 18. Vgl. Johnson 1971: 29-30. Vgl. Pheffer 1975: 32; Iliffe 2003: 251.
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
militärische Aktionen zur Eroberung der Wolof-Königreiche im nordwestlichen Senegal (insbesondere des Königreiches Cayor), der Regionen entlang des oberen Flusslaufes des Senegal sowie auch der damals sogenannten Rivières du Sud [dem heutigen Guinea].95 Brière de l’Isle initiierte darüber hinaus den Bau der ersten Eisenbahnstrecke in Senegal, der Route zwischen Dakar und Saint-Louis, der DSL.96 Die fast 50 Jahre andauernde militärische Expansion der Franzosen, die 1895 in der Gründung der Föderation Französisch-Westafrikas mündete, wurde letztendlich erst beendet, nachdem ein Territorium erobert wurde, welches neunmal das Staatsgebiet Frankreichs umfasste.97
Abbildung 2 – Die Föderation Französisch-Westafrikas (ca. 1917).
Aus: Spittler 1981: 199.
Die sich in diesem Zusammenhang zeigende offenkundige Diskrepanz zwischen dem nahezu unbegrenzten Willen zur militärischen Expansion und nur sehr eingeschränkten Fähigkeiten, Materialien und personellen Mitteln zur administrativen Erschließung und Kontrolle der riesigen eroberten Territorien deutete sich dabei bereits in der Diskussion der Berliner Afrika-Konferenz und dem tatsächlichen Ablauf der räumlichen Aufteilung afrikanischer Kolonialterritorien an. Die 95 96 97
Pheffer 1975: 32. Vgl. ebd.: 33ff. Vgl. Hesseling 1985: 124, 138.
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Weltzeit im Kolonialstaat
1884/85 im Sinne einer Wette auf die Zukunft beschlossene Aufteilung Afrikas griff der tatsächlichen Situation kolonialer Domination weit voraus und antizipierte insofern eine zukünftige Situation der kolonialen Herrschaft, die sich zu gegebener Zeit keineswegs umsetzen ließ. Sie glich daher einer Vertagung des kolonialen Projektes in eine unbestimmte Periode in der Zukunft und trug somit dazu bei, dass es vielerorts zu keiner unmittelbaren Einführung und Umsetzung kolonialer Herrschaft kam, sondern vielmehr vorerst zu einer Übergangsphase, die in ihrer Dauer und kolonialen Ausgestaltung je nach Region variieren konnte: »[…] a period of transition, full of misunderstandings and contradictory claims.«98 Die kolonialherrschaftliche Präsenz reduzierte sich in dieser Periode zumeist auf ein Minimum und kolonialherrschaftliche Dominanz konnte nur in sehr eingeschränkten Einflussbereichen umgesetzt werden.99 Doch nicht nur, dass es auch noch nach der Gründung der Föderation Französisch-Westafrikas im Jahre 1895 vielerorts an der für die administrative Erschließung der eroberten Territorien notwendigen französischen Präsenz und Einflussnahme mangelte, der vollkommen unverhältnismäßige Eroberungsdrang der Franzosen hatte gegen Ende des 19. Jh. nicht einmal zur vollständigen militärischen Befriedung der eroberten Territorien geführt: »Überall auf dem afrikanischen Kontinent widerstanden kleinere, gewöhnlich staatlich nicht organisierte Gruppen der europäischen Oberherrschaft, wie sie bereits allen früheren Formen der Herrschaft Widerstand geleistet hatten.«100 Das Kolonialministerium in Paris hatte zwar seit 1891 mehrere Versuche unternommen, die militärische Kontrolle über die verschiedenen eroberten Territorien der Föderation durch zivile Verwaltungsstrukturen zu ersetzen101 , konnte sich jedoch auf kein einheitliches Vorgehen einigen, weshalb die verschiedenen Teilkolonien, jede für sich genommen, aber auch untereinander, einen sehr unterschiedlichen Grad von Pazifizierung und administrativer Erschließung aufwiesen:102 »Faktisch […] waren [daher] zahlreiche große und abgelegene Regionen auch weiterhin der europäischen Kontrolle entzogen.«103 Widerstand gegen die französische Kolonialherrschaft organisierte sich auf Ebene von Föderation wie auch Kolonie dabei zumeist in Territorien, die sich, weil sie nur schwer zugänglich waren und kaum Anreize zur kolonialwirtschaftlichen Ausbeutung boten, als Rückzugsgebiete eigneten. Des Weiteren leisteten insbesondere islamgläubige Bevölkerungsanteile und nicht-staatlich organisierte Grup98 99 100 101 102 103
Wirz/Eckert 2004: 140. Vgl. ebd. Iliffe 2003: 257. Vgl. Conklin 1997: 35. Vgl. ebd.: 31. Iliffe 2003: 257.
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
pierungen zumeist den erbittertsten und dauerhaftesten Widerstand.104 Es sind in dieser Hinsicht insofern zwei verschiedene territoriale Zonen zu konstatieren, in denen sich unterschiedliche Arten von lokalen Widerstandsbewegungen formierten, einerseits, »[l]es confins du Sahel (Mauritanie, Haute-Volta, Tchad …) où des formations politiques et religieuses autonomes et hiérarchisées organisent la résistance autour de l’idéologique cohérente de l’Islam« und andererseits, »[l]es zones forestières, plus ou moins montagneuses et de pénétration difficile, où les particularismes locaux se heurtent de plein fouet à la volonté unificatrice de la loi coloniale.«105 Auf Ebene der Föderation Französisch-Westafrikas galten bspw. die im Territorium des heutigen Mali und Benin ansässigen Bevölkerungsgruppen noch um 1895 als weitgehend unabhängig:106 »[I]n Niger, Mauritania, Chad, the Ivory Coast, a struggle against the French continued into the 1920s.«107 Der bedeutendste Aufstand gegen die französischen Kolonialherren innerhalb der Föderation wurde 1916/17 von Tuareg-Stämmen in Niger organisiert, die »in einer Zeit der Schwäche der Franzosen und des Niedergangs des Wüstenhandels Agades belagerten.«108 Noch »1940 lag das Innere der westlichen Sahara außerhalb europäischer Kontrolle«109 und in einigen der isoliertesten und rezentesten Verwaltungsbezirke Französisch-Westafrikas wurde darüber hinaus quasi erst mit der Dekolonisierung eine zivile Verwaltung eingeführt.110 Innerhalb der Kolonie Senegal, welche ab 1901 offiziell als befriedet angesehen wurde111 , zeichnete sich ein ähnliches Bild, jedoch in weitaus kleinerem Maßstab. Hier leisteten die im entlegenen und isolierten südlichen Landesteil lebenden Diola bis in die 1920er Jahre hinein effektiven Widerstand gegen die Kolonialherrschaft112 , die Verwaltungsbezirke Casamance und Bignona, in denen sich u.a. auch die Siedlungsgebiete der Diola befanden, standen ferner noch bis 1952 unter Militärrecht.113
104 Hinsichtlich muslimischer Widerstandsbewegungen siehe Coquery-Vidrovitch 1978: IV-V, 4648; hinsichtlich des Widerstandes von nicht-staatlichen lokalen Gesellschaften siehe Asiwaju 1976: 577ff. 105 Coquery-Vidrovitch 1978: III. 106 Vgl. Conklin 1997: 33; Coquery-Vidrovitch 1978: III. 107 Cohen 1971: 32; Coquery-Vidrovitch 1978: V, 48. 108 Iliffe 2003: 263. 109 Ebd.: 257. 110 Vgl. Gandolfi 1959: 18. 111 Vgl. Pheffer 1975: 221. 112 Iliffe 2003: 261-262. 113 Vgl. Gandolfi 1959: 18.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Muslimische, wie auch Widerstandsbewegungen nicht-staatlich organisierter lokaler Gesellschaften bedienten sich dabei insbesondere des Mittels der temporären Flucht bzw. Migration, um der Kolonialherrschaft zu entgehen. In der islamischen Tradition ist diese Praxis im Prinzip der Hijra verbürgt114 , in akephalen westafrikanischen Gesellschaften kann das Phänomen dagegen eher im Sinne der von Asiwaju als »protest migrations«115 beschriebenen Vorgehensweise verortet werden. Der Verlauf der militärischen Expansion der französischen Kolonialherrschaft führte somit zu einer zutiefst uneinheitlichen Geographie der kolonialen Durchdringung der Kolonialterritorien, welche die Grenzen der späteren französischen Einflussnahme weitgehend vorwegnahm. Aufgrund der unvollständigen Eroberung und Pazifizierung wurde somit die Etablierung einer konsequenten Ungleichzeitigkeit der französischen Kolonialherrschaft befördert, welche dazu führte, dass Fremdherrschaft und Kolonialismus für einen Teil der einheimischen Gesellschaften Französisch-Westafrikas über die gesamte Kolonialperiode hinweg nie zu einer dominanten alltäglichen Lebenswirklichkeit werden konnten. Auch der Transfer und die Implementierung europäischer Zeitnormen und Zeitordnungen hatten unter diesen Bedingungen kaum Aussicht auf Erfolg. Uneinheitlichkeit und Ungleichzeitigkeit des Kolonialismus äußerten sich dabei insbesondere auf föderaler Ebene, beeinflussten jedoch auch die koloniale Situation in den senegalesischen Kolonialterritorien. Die lange währende französische Präsenz vor Ort und die vergleichsweise frühe koloniale Eroberung und Eingliederung des überwiegenden Teils der senegalesischen Kolonialterritorien führten hier jedoch dazu, dass sich die koloniale Herrschaft in weitaus geringerem Grade durch Uneinheitlichkeit und Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet sah.116 Nichtsdestotrotz bildeten Ungleichzeitigkeit und Uneinheitlichkeit der
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Vgl. Coquery-Vidrovitch 1978: IV, 46. Der Begriff kann entsprechend als ›temporäre Emigration‹ oder ›Massenflucht‹ übersetzt werden (vgl. ebd.), siehe auch Coquery-Vidrovitch 1992: 144. Die von Asiwaju als »protest migrations“ klassifizierte Praxis begründete sich auf einer bereits in präkolonialer Zeit weit verbreiteten Praxis soziopolitischer Migrationsbewegungen und fand sich daher auch in allen westafrikanischen Kolonialstaaten wieder: »Among the Yoruba, the Edo, the Fon and a host of other African peoples, there are abundant traditions of migrations motivated by socio-political considerations.« (Vgl. ebd. 1976: 578, Fußnote 6) Protest migrations waren auch für die koloniale Situation in Senegal seit Beginn der administrativen Erschließung charakteristisch. (Vgl. Gueye 1990: 678) Temporäre Massenmigrationen stellten für die in dieser Region beheimateten Bevölkerungsgruppen wie bspw. die Serer auch schon zur Zeit des transatlantischen Sklavenhandels ein bedeutendes Element des politischen und kulturellen Widerstandes dar. (Vgl. ebd.: 55-78, Searing 1985: 24-25) Entgegen dem bis in die 1920er Jahre hinein andauernden intensiven Widerstand in den südlichen Bezirken wird das Territorium des kolonialen Senegal zu den am frühesten ›vollständig‹ kolonisierten afrikanischen Regionen gezählt. (Vgl. Hesseling 1985: 123)
III. Die Weltzeitordnung und das imperiale Raum-Zeit-Gefüge
kolonialherrschaftlichen Durchdringung auch in Senegal eine Art inoffizielle geographische Vorlage, anhand derer die Umsetzung weitergehender Maßnahmen zur Organisation des Kolonialstaates ausgerichtet wurde. In Senegal setzte die administrative Erschließung der Verwaltungsbezirke Casamance und Bignona trotz des Rohstoffreichtums und des vergleichsweise großen wirtschaftlichen Potentials daher erst gegen Ende der Untersuchungsperiode in den 1920er Jahren ein.
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IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
Auf kolonialstaatlicher Ebene repräsentierte die bürokratische Verwaltung das wichtigste Instrument zur Standardisierung von Zeit und Raum. Lokale räumliche und zeitliche Ordnungen wurden vermittels bürokratischer Erfassung und Klassifizierung auf generelle Art und Weise transformiert und im Sinne der Prämissen kolonialer Herrschaft neu ausgerichtet bzw. neu definiert. Die Anpassung der westafrikanischen Umwelt an die Strukturen der europäischen Kolonialherrschaft bzw. die Gewährleistung einer unkomplizierten und einheitlichen Datenerfassung, Organisation und Kontrolle erreichte die kolonialstaatliche Bürokratie in erster Linie vermittels einer Reduktion und Standardisierung von lokaler Vielfalt und Heterogenität.1 Die Restrukturierung und Standardisierung der Vielfalt von lokalen Räumen und Zeiten nahm im Zuge des Reduktionsprozesses wiederum eine zentrale Position ein, da die bürokratische Reorganisation bestehender räumlicher und zeitlicher Einheiten eine Grundvoraussetzung für die weitergehende administrative Gliederung der neugegründeten Kolonialstaaten darstellte.2 Das hierarchisierende territoriale Raumverständnis und das linear-progressive Zeitverständnis waren insofern zentrale und intensiv miteinander verknüpfte Instrumente zur bürokratischen Ordnung und Gliederung des Kolonialstaates: »[D]er koloniale Staat […] begann […] den politischen Raum im Sinne der Gebietsherrschaft neu zu definieren, und [versuchte] sich über Entwicklungsleistungen im Sinne der europäischen Moderne […], welche sich am Morgen orientiert und die Zukunft mit Fortschritt gleichsetzt [, zu legitimieren]. Denn moderne Staatlichkeit und Bürokratie sind ebenso Geschwister wie Territorialität und lineare Zeit.«3 Administrative Erschließung und bürokratische Standardisierung von Raum und Zeit fallen dabei grundsätzlich in eine frühe Phase der Etablierung kolonialer
1 2 3
Vgl. Spittler 1981: 27; vgl. ferner Eckert 2000: 62. Vgl. Spittler 1981: 27. Wirz 2003: 12
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Weltzeit im Kolonialstaat
Herrschaft, die sich durch einen Prozess gekennzeichnet sah, den Von Trotha als »Staatsbildung durch Eroberer«4 kennzeichnete: »Die Aufgabe, die sich der staatenbildende Eroberer stellt, ist, Wege zu finden, das schier unlösbare Problem zu lösen, aus der sporadischen Macht der überlegenen Gewalt das Gewaltmonopol und all die anderen Institutionalisierungen von Macht durchzusetzen und die zentralen Ordnungsformen von staatlicher Herrschaft aufzubauen.«5 Für den komplexen Prozess dieser Art von kolonialer Staatsbildung gab es jedoch keine verlässlichen Vorgaben oder Strukturen, auf die sich die Kolonialherren berufen konnten und ein aus diesem Prozess hervorgehender »frühe[r]« Kolonialstaat stellte ein »äußerst zerbrechliches Gebilde« dar.6 Wie aus den bisherigen Erläuterungen zur Uneinheitlichkeit und Ungleichzeitigkeit der kolonialherrschaftlichen Durchdringung ersichtlich, stellten administrative Erschließung und koloniale Staatsbildung auch in den westafrikanischen Überseeterritorien der Franzosen einen komplexen und uneinheitlichen Prozess dar, der in einigen Regionen bis in die späte Kolonialzeit hinein nicht erfolgreich abgeschlossen werden konnte und nur fragile ›staatliche‹ Gebilde hervorbrachte. Die Kolonie Senegal repräsentiert in diesem Zusammenhang jedoch eine Ausnahme, da ein Teil ihrer Territorien die ältesten französischen Ansiedlungen an der westafrikanischen Küste umfasste. Die Zeitspanne vom Beginn der ersten Maßnahmen zur administrativen Strukturierung und kolonialen Staatsbildung bis zu dem Moment, in dem auch die letzten territorialen Bereiche der späteren Kolonie von diesem Prozess erfasst wurden, war daher weitaus größer als in allen anderen Teilkolonien der Föderation Französisch-Westafrikas. Es findet sich daher auch in den senegalesischen Kolonialterritorien kein einheitlicher Zeitpunkt, an dem mit der administrativen Erschließung und kolonialen Staatsbildung begonnen wurde. Die Position als ältester kolonialer Brückenkopf an der westafrikanischen Küste bedingte vielmehr, dass die ältesten Teile der senegalesischen Überseebesitzungen der Franzosen früh als »pilot colony« und »ideal setting for testing the theories evolved in Paris«7 betrachtet wurden, wohingegen rezentere Regionen wie der Bezirk Casamance erst sehr viel später in den Prozess kolonialer Staatsbildung einbezogen werden konnten. Im Prinzip verfolgten die frühen französischen Kolonialherren bei der kolonialen Staatsbildung insofern eine Strategie von trial and error, welche die bereits bestehende Uneinheitlichkeit der kolonialherrschaftlichen territorialen
4 5 6 7
Vgl. Trotha 1994: 4. Ebd.: 5. Ebd. Johnson 1971: 75.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
Durchdringung zu einer konsequenten Ungleichzeitigkeit des französischen Kolonialismus ausbaute. In den senegalesischen Überseebesitzungen der Franzosen wurden grundlegende Prozesse zur staatlichen Institutionalisierung und administrativen Territorialorganisation dabei schon im frühen 19. Jh. unternommen.8 Erst im Zuge der in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eingeleiteten militärischen Expansion entwickelten sich jedoch der Wille und die Notwendigkeit zur staatlich-administrativen Ordnung der Räume innerhalb der Kolonie9 und erst gegen Ende des 19. Jh., als auch der Abschluss der militärischen Eroberung absehbar wurde, begannen die Kolonialherren mit einer umfassenden Implementierung staatlicher und administrativer Strukturen und Institutionen.10 Im Anschluss an diese Periodisierung und nicht zuletzt auch aus pragmatischen Gründen wird der Beginn der administrativen Erschließung und kolonialen Staatsbildung für diese Arbeit daher zu Beginn der 1890er Jahre verortet.11 Entwicklungspolitische Konzepte und ordnungspolitische Doktrinen, die im Zuge von administrativer Erschließung und kolonialer Staatsbildung zur Anwendung kamen, orientierten sich einerseits an der Ideologie der Zivilisierungsmission, zeigten sich andererseits jedoch auch stark durch ein von den frühen militärischen Theoretikern der kolonialen Expansion vorgegebenes Konglomerat an Handlungspraxen und den im französischen Mutterland angewandten Praktiken zur Nationalstaatsbildung beeinflusst. Über die Orientierung an diesen entwicklungsund ordnungspolitischen Doktrinen und Konzepten fand letztendlich auch eine Zuschreibung von zeitspezifischer Differenz Eingang in die räumliche und gesellschaftliche Organisation des Kolonialstaates.
8 9 10
11
Vgl. Plançon 2006: 342. Vgl. ebd.: 285-286. Vgl. ebd.: 342.Die Maßnahmen zur staatlich forcierten, bürokratischen Standardisierung der Territorialorganisation konnten der Dynamik der tatsächlichen Gegebenheiten der kolonialen Situation jedoch nie gerecht werden und kamen somit grundsätzlich immer erst mit einiger Verspätung zur Anwendung. In diesem Jahrzehnt wurde darüber hinaus auch die bereits im Kontext der Auseinandersetzung mit der Kolonialideologie diskutierte Politik der mise en valeur in verstärktem Maße in die Kolonialterritorien hereingetragen. (Vgl. Conklin 1997: 41) Des Weiteren wurde 1887 auch der wirtschaftliche Kernbereich der Kolonie, die Region Sine-Saloum, vermittels Protektoratsverträgen an die französische Kolonialherrschaft gebunden (Vgl. Mbodj 1978: 179) und die Außengrenzen der Kolonie Senegal näherten sich zudem erstmals der Form an, die diese über die gesamte restliche Kolonialzeit hinweg beibehalten sollten. Zu den Territorialreformen von 1889 und 1890, die den senegalesischen Territorien erstmals die Form des späteren Kolonialstaates verliehen vgl. ebd.: 200; Johnson 1971: 31; Pheffer 1975: 375. Siehe dazu auch die im folgenden Kapitel IV1.1. abgebildete Karte der senegalesischen Verwaltungsbezirke [Abbildung 3].
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Weltzeit im Kolonialstaat
Im Folgenden wird zunächst die vermittels der auch im französischen Mutterland zur Anwendung gekommenen Ordnungspolitiken von Zentralismus und Diffusionismus erwirkte Strukturierung des Raum-Zeit-Gefüges des senegalesischen Kolonialstaates erläutert. Zentralistische und diffusionistische Ordnungsprinzipien standen auch in den Überseeterritorien der Franzosen an der Basis von administrativer Strukturierung und kolonialer Staatsbildung und dienten hinsichtlich der lokalen raum-zeitlichen Organisation auch für alle nachfolgend umgesetzten – und im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch eingehender diskutierten – entwicklungsund wirtschaftspolitischen Maßnahmen als Ausgangspunkt und Grundlage.
1. Zentralismus und kolonialer Diffusionismus Trotz der lange währenden französischen Präsenz vor Ort verfügten die französischen Kolonialherren noch gegen Ende des 19. Jh. über kaum nennenswerte praktische Erfahrungen in der Organisation und Entwicklung eines Kolonialstaates. Die bis dahin realisierten kolonialen Erfahrungen der Franzosen stützten sich vor allem auf Kenntnisse der in ihren karibischen Besitzungen etablierten Plantagenwirtschaftssysteme sowie auf diejenigen, die sie im Kontext der Errichtung der Siedlerkolonie in Algerien gewinnen konnten.12 Das Fehlen belastbarer theoretischer Grundlagen zur Kolonisation und die große Konfusion, die diesbezüglich in den für die Planung des kolonialen Unternehmens hauptverantwortlichen Amtsstuben des Kolonialministeriums herrschte13 , führte die dort angestellten Beamten bereits 1911 dazu, einen kollektiven Beschwerdebrief zu formulieren, in dem kritisiert wurde, dass es dem Ministerium an Langzeitperspektiven fehle und die meisten Arbeiten daher auf einer »day-by-day basis« 12 13
Vgl. Searing 1985: 274. Bis in die 1920er Jahre hinein stellte das Pariser Kolonialministerium ein wenig effizientes und konfuses bürokratisches System von mit unterschiedlichen regionalen Zuständigkeitsbereichen betrauten Abteilungen und Unterabteilungen dar: »These bureaus did not keep close control over the colonies, and their responsibilities and powers were rather unclear. In 1910 Adolphe Messimy, reporter of the colonial budget and future minister of colonies, described the ministry as ›a grouping of confused services‹.« (Messimy (1910) zit. in Cohen 1971: 58) Noch 1916 herrschten im Kolonialministerium, entsprechend den Aussagen von G. Candace, einem Zeitgenossen, der sich ebenso wie der im Zitat angeführte spätere Kolonialminister Messimy, mit dem französischen Kolonialbudget auseinandersetzte, ähnliche Zustände, wenn sich dieser darüber beschwert, »that the officials in Paris had to deal with such diverse problems that they had no expertise in any field and were forced therefore to leave fully responsibility to the governors.« (Candace (1916) zit. in Cohen 1971: 58) Der von Candace im Zitat als Hauptursache für die Ineffizienz der Kolonialbürokratie angeprangerte Mangel an praktischer Erfahrung seitens der verantwortlichen Beamten stellte darüber hinaus bis in die 1930er Jahre hinein eine zentrale, jedoch ungelöste Problematik dar. (Cohen 1971: 59)
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
vollzogen werden müssten.14 C. Regismanset, der in derselben Epoche als Abteilungsleiter im Kolonialministerium arbeitete, kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen, als er feststellte, dass Frankreich zu seiner Zeit über kein Programm zum kolonialen Vorgehen verfügte und darüber hinaus auch nie gehabt hätte: »It is abundantly clear that France has no colonial program, and in maintaining this negative attitude, she is faithful to a tradition. She has no program and never had one.«15 Noch 1923 gelangte Kolonialminister Sarraut, der in den Jahren 1920 bis 1924 und 1932 bis 1933 amtierte, zur selben Feststellung, als er in einem Artikel über die unter seiner Ägide durchgeführte Neuausrichtung der französischen Kolonialpolitik konstatierte, dass es bisher eigentlich nie eine wirkliche koloniale Doktrin gegeben habe, sondern nur eine jeweils den Umständen angepasste Ansammlung verschiedener Handlungspraxen: »Il n’y a guère de doctrine coloniale, mais des pratiques qui étaient les leurs, inspirées de leur activité, de leurs fonctions, de leur adoption aux besoins du pays, de leur conception des changements nécessaires.«16 Der französische Kolonialismus in Westafrika hatte entsprechend dieser Lesart bis zum Beginn der Umsetzung der Politik der mise en valeur in den 1920er Jahren keine klar definierten theoretischen Grundlagen17 und reduzierte sich vor allem auf die bereits angesprochenen Ideen zur Beförderung von Entwicklung durch materiellen Fortschritt und »vague notions about the benefits that French rule bestowed on the colonial populations.«18 Der fehlende kolonialtheoretische Überbau führte insofern schon in der Frühzeit der administrativen Erschließung zur Entwicklung einer in erster Linie auf praktischen Erfahrungen basierenden Arbeitsweise der Kolonialverwaltung, welche sich vor allem durch ihre Situationsspezifik und ihren Improvisationscharakter auszeichnete:19 »[L]es affaires des colonies étaient réglées au fur et à mesure, au cas par cas, selon les situations rencontrées […].«20 Das Konglomerat an praxisbasierten Kenntnissen und Erfahrungen, durch welches sich die Handlungsweisen von Kolonialpolitik und Kolonialadministration in der Frühzeit der administrativen Erschließung der senegalesischen Kolonialterritorien gekennzeichnet sahen, war dabei grundsätzlich stark durch die theoretischen wie auch praktischen Kontexte der vorangegangenen Phase der militäri-
14 15 16 17 18 19 20
Ebd.: 60. Regismanset (1923) zit. in Cohen 1971: 60. Sarraut (1923) zit. in Niang 1999: 60. Vgl. Cohen 1971: 71. Ebd.: 71. Vgl. Niang 1999: 76. Plançon 2006 : 341.
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Weltzeit im Kolonialstaat
schen Expansion geprägt.21 Die Prinzipien militärischer Eroberung sowie die damit assoziierten und aufgrund des militärischen Erfolges insofern auch begründet erscheinenden Vorgehensweisen wurden daher zunächst oft unverändert in die Phase der administrativen Erschließung übertragen. Die gefeierten militärischen Eroberer der Kolonialgebiete entwickelten sich so zu den ersten »théoriciens« des kolonialstaatlichen Systems.22 Sie etablierten in den Kolonien administrative Strukturen, die den hierarchischen, pyramidalen Aufbau der Hierarchien des Militärs fast in identischer Form reproduzierten, führten einen auf militärischer Disziplin beruhenden Verhaltenskodex ein und schrieben auch die große Bedeutung von Rang und Prestige in die kolonialstaatliche Organisation ein.23 Die von ihnen eingebrachten Doktrinen militärischen Ursprungs waren für die folgenden Generationen von Kolonialbeamten und insbesondere für die Herausbildung von administrativen Handlungspraxen in Übersee von zentraler Bedeutung.24 Der mitunter bedeutendste Beitrag, den die militärischen Theoretiker für die sich entwickelnde Kolonialpolitik und entsprechende kolonialstaatliche Entwicklungsinitiativen leisteten, bestand dabei in der Proliferation eines auf der Ideologie des Diffusionismus beruhenden Modells zur kulturellen Entwicklung bzw. zur Verbreitung von kulturellen Werten, Normen und Innovationen. Entsprechend Joseph Gallieni, einem ehemaligen General, Generalgouverneur und Kriegsminister sowie einem der einflussreichsten Vertreter dieses »diffusionnisme colonial«, würden die Kolonisierten insofern allein durch den Kontakt mit europäischen Kulturelementen zu kulturellem Wandel und zur Angleichung an die französische Kultur bewegt.25 In Ermangelung eines umfassenden Planes zur Entwicklung der Kolonialgebiete oder aber auch nur einer richtungsweisenden Kolonialdoktrin sollte die im Sinne eines Entwicklungsprogrammes verstandene Ideologie des Diffusionismus der administrativen Erschließung der Kolonialterritorien Struktur geben und zu Fortschritt und sozialem Wandel führen.26 Blaut bietet eine gute Definition der in diesem Zusammenhang zum Tragen kommenden Idee des kolonialen Diffusionismus: »The theory, in brief, describes the essential processes that take place in an ›inner‹, essentially European, core sector of the world, describes those that take place in an ›outer‹, essentially non-European sector, and describes the modes of interaction between the two sectors, the most important of which is the inner-to-outer diffusion of innovative ideas, people, and commodities. We can describe this world-
21 22 23 24 25 26
Vgl. ebd. : 343. Niang 1999 : 75. Vgl. Alexandre 1970 : 12-13; Fall 2005 : 290. Vgl. Cohen 1971 : 64. Vgl. Sinou 1993 : 174-175. Ebd. : 174.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
scale space-time theory as the ›diffusionist world model‹. It is the colonizer’s model of the world.«27 Die Grundidee des kolonialen Diffusionismus bestand demnach darin, dass die endgültige Pazifizierung der eroberten Bevölkerungen und die Verwirklichung rudimentärer Elemente des materiellen Fortschritts bzw. die Einführung zentraler technologischer Neuerungen des Industriezeitalters in einigen begrenzten Kernbereichen ausreichen würden, um die wirtschaftliche Entwicklung und die ›Modernisierung‹ der kolonisierten Gesellschaften zu gewährleisten.28 Das auf diffusionistischen Prozessen begründete koloniale Entwicklungsmodell stützte somit die zeitgenössische französische Praxis zur gesellschaftlichen Raumordnung, eine Art von »centralisation habituelle aux Colonies«29 , welche auf die Bildung eines zentralistischen Obrigkeitsstaates abzielte und den Methoden ähnelte, die von der französischen Regierung auch innerhalb Frankreichs angewandt wurden, um eine tiefergreifende staatliche Inkorporation von isolierten und abgeschiedenen Regionen wie bspw. der Bretagne zu erreichen. Ein Sachverhalt, der auch dadurch erläutert wird, dass die Kolonialgebiete von den Kolonialherren oftmals direkt mit ebenjenen rückständigen Regionen Frankreichs verglichen wurden.30 Die zentrale Rolle und die große Bedeutung, die dem zentralistischen Prinzip des kolonialen Diffusionismus von den zeitgenössischen kolonialherrschaftlichen Protagonisten zugesprochen wurde, verdeutlichen sich in erster Linie im Kontext der Entwicklung von kolonialstaatlicher Territorialorganisation und Siedlungsgeographie.31 Die Kolonialstädte, hier insbesondere die europäischen Viertel, wurden in dieser Hinsicht als Kernzentren des kolonialen Diffusionismus angesehen, die insofern einen Modellcharakter zu erfüllen hatten und im Gegensatz zu den anderen Stadtvierteln daher auch in unverhältnismäßiger Weise von kolonialstaatlichen Investitionen profitieren konnten:32 »Un argument idéologique légitime cette concentration des efforts : la ville blanche doit faire fonction de modèle; il est donc nécessaire de lui accorder un soin particulier, afin que les ›indigènes‹ puissent s’en imprégner et reproduire ensuite dans leurs quartiers ses règles. La faiblesse des investissements vis-à-vis de leurs quartiers, à laquelle s’ajoute la faiblesse des revenus de cette population,
27 28 29 30 31 32
Blaut 1993 : 42. Vgl. Searing 1985 : 275; Sinou 1993 : 346. Légier 1968 : 417. Vgl. Sinou 1993 : 174; Faye 2000 : 55. Sinou 1993 : 346. Vgl. ebd. : 174.
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Weltzeit im Kolonialstaat
rend tout à fait impossible un tel transfert, quand bien même les ›indigènes‹ en auraient-ils envie.«33 Insbesondere die verantwortlichen Gouverneure und Generalgouverneure instrumentalisierten die Vorstellung vom Modellcharakter der europäischen Viertel und träumten davon, »d’édifier des signes de la civilité«34 , nicht zuletzt, um sich auch selbst ein Denkmal setzen zu können.35 Die europäischen Viertel der Kolonialstädte zählten folglich immer zu den urbanen Bereichen, in denen als Erstes städtische Infrastrukturelemente wie bspw. gepflasterte Straßen, Bürgersteige, Wasserleitungen, Abwasserkanäle und elektrische Leitungen installiert wurden.36 Sie wiesen, wie bspw. im Falle der senegalesischen Kolonialstädte Dakar und Saint-Louis, zumeist auch eine repräsentative räumliche Anordnung der zentralen Institutionen und Gebäude des Kolonialstaates auf, die ein ruhmreiches und prestigeträchtiges Bild der europäischen ›Moderne‹ vermitteln sollte: »[L]a concentration autour de la place centrale des principaux équipements […] vise […] à offrir le spectacle de la modernité […], à la manière de la »plaza mayor« des villes coloniales espagnoles d’Amérique latine, bordées par des édifices représentatifs des nouveaux pouvoirs, le palais du gouverneur, la caserne et l’église.«37 Das zentralistische Modell des kolonialen Diffusionismus prägte die Entwicklungen in den senegalesischen Kolonialstädten spätestens seit Beginn des 19. Jh. und findet nahezu idealtypischen Ausdruck in der städtischen Geographie der 1857 gegründeten Stadt Dakar. In anderen zentralen Kolonialstädten wie Saint-Louis und Gorée, den beiden ältesten europäischen Ansiedlungen der Kolonie, konnte das diffusionistische Modell städtischer Geographie aufgrund der bereits bestehenden, über Jahrhunderte gewachsenen städtischen Strukturen und der begrenzten Verfügbarkeit von Bauplätzen in den auf Inseln situierten Städten dagegen nicht so konsequent umgesetzt werden wie im Falle der am Reißbrett geplanten Stadt Dakar.38 Auch in den zahlreichen kleineren Handelsniederlassungen, Marktflecken und Militärposten, die von den Franzosen im Zuge der militärischen Expansion in der zweiten Hälfte des 19. Jh. gegründet wurden und sich in der Folge zu Kolonialstädten entwickelten, diente das zentralistische Modell des kolonialen Diffusionismus als wichtigstes Prinzip zur Gestaltung der städtischen Geographie. Intensive Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit zur Separierung von europäischen und
33 34 35 36 37 38
Ebd. : 300. Ebd. : 216. Vgl. ebd. : 216; Cohen 1978 : 38. Vgl. Sinou 1993 : 310. Ebd.: 212. Vgl. ebd.: 192, 302.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
einheimischen Lebenswelten sowie erste Umsetzungen dieser Prinzipien reichen im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der städtischen Geographie in kleineren Kolonialstädten bis in die 1880er Jahre zurück.39 Der interne Aufbau aller kolonialen Neuansiedlungen erfolgte dabei grundsätzlich immer auf Basis von rechtwinklig angelegten Grundrissen, die sich um ein infrastrukturell vergleichsweise gut ausgebautes städtisches Zentrum gliederten, welches zumeist einen Bahnhof oder Hafen und ein europäisches Handelsund Verwaltungsviertel beherbergte.40 Neben den kolonialstaatlichen Institutionen fand sich dort immer auch ein zentraler Marktplatz, die Boutiquen und Niederlassungen von Händlern und Handelshäusern sowie die Wohnbereiche von europäischen Angestellten.41 Die europäischen Viertel der Kolonialstädte wurden zwar grundsätzlich auf Basis eines metropolitanen Modells konzipiert und entworfen, entwickelten sich, aufgrund der »rareté des esprits entreprenants«, einem Mangel an »possibilités d’innovation«, den langen Anlieferungszeiten der Baumaterialien42 und den typischen Unwägbarkeiten, die aus den Diskrepanzen zwischen der in Europa vollzogenen Planungsphase und dem eigentlichen Bauvorhaben vor Ort entstanden, jedoch nicht zu ›modernen‹ Städten im eigentlichen Sinne:43 »[L]es chantiers tardent à s’achever et les réalisations ne respectent pas toutes les normes. C’est l’ère du ›provisoire qui dure‹.«44 Als administrative, politische, handelswirtschaftliche und kulturelle Kernzentren des französischen Kolonialismus in Senegal nahmen die urbanen Zentren dennoch eine Ausnahmeposition mit Vorbildfunktion ein. Als zentralistische Fixpunkte der großen kolonialstaatlichen Infrastrukturprojekte und Wirtschaftsunternehmungen, aber auch des kolonialgesellschaftlichen Lebens, entwickelten sie sich daher unstrittigerweise zu »places de colonisation par excellence«.45 39 40 41 42
43 44 45
Vgl. Sinou/Sternadel/Poinsot 1989: 74. Vgl. Pheffer 1975: 382; Mbodj 1978: 640; Sinou 1993: 241. Vgl. Mbodj 1978: 639; Sinou 1993: 241. Vor allem die für die Errichtung von urbanen Prestigebauten benötigten Baumaterialien wurden zumeist aus Frankreich eingeführt, um die heimische Industrie zu fördern. (Sinou 1993: 182) Ebd. Ebd. Mbembé (1989) zit. in Coquery-Vidrovitch 1992: 8; siehe auch Sinou 1993: 174-175. Auch kleinere koloniale Ansiedlungen, d.h. Militärposten, Handelsniederlassungen und Marktflecken wurden als Zentren der Kolonisierung angesehen. (Vgl. Sinou 1993:276) Hinsichtlich ihrer Funktion als kultureller Multiplikator stellte die Kolonialstadt im Vergleich mit anderen Typen von Städten jedoch darüber hinaus keine Ausnahme dar : »[I]l ne faut pas pour autant faire de la ville coloniale une exception dans l’histoire : on pourrait au contraire arguer que toute ville, quels que soient la société, le lieu et le temps de l’histoire considérés, a toujours et partout constitué un outil de colonisation. Parce qu’elles sont des lieux de contact obligé entre plusieurs cultures et des organismes vivants en constant devenir, les villes ont joué un
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Weltzeit im Kolonialstaat
Das diffusionistische Modell der Raumaufteilung in der Kolonialstadt blieb jedoch immer eine Idealvorstellung, die nur in den seltensten Fällen, wie bspw. in Dakar, mit nahezu absoluter Rigorosität umgesetzt werden konnte.46 In ihrer, eine ruhmreiche Zukunft zu antizipieren versuchenden, überbordenden Symbolhaftigkeit und Prestigeträchtigkeit reproduzierten die europäischen Viertel in den Kolonialstädten letztendlich jedoch nur ein artifizielles, die lokalen Realitäten ignorierendes und imaginäres urbanes Konstrukt provisorischen Charakters. Die eigentliche und reelle Stadt entstand entsprechend dieser Lesart nicht in den europäischen Stadtvierteln, sondern vielmehr in den sich nebenan und außerhalb der Vorgaben von zentralistischer Raumordnung und Siedlungsgeographie entwickelnden nichteuropäischen Handelsbereichen und Wohnvierteln: »A côté de la ville officielle, se développe la ville ›réelle‹ dont l’organisation spatiale ne répond pas aux normes coloniales, et que l’on qualifiera plus tard d’informelle.«47 Diese informellen, die europäischen Stadtviertel umgebenden Viertel, welche sich vermittels der Kräfte des Diffusionismus Schritt für Schritt an die europäischen Zustände anpassen sollten, wurden generell als Übergangszonen in die europäische ›Moderne‹ angesehen.48 Die fast ausschließlich auf die wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung in den europäischen Domänen reduzierte diffusionistische Investitionspolitik der Kolonialherrschaft resultierte jedoch nicht in einer Angleichung der Verhältnisse, sondern vor allem in einer rapiden Verschärfung der Unverhältnismäßigkeit zwischen europäischen und nicht-europäischen Vierteln und Lebenswelten in den Kolonialstädten. Die lokale Bevölkerung, welche über kolonialstaatliche Abgabenleistungen letztendlich die Hauptlasten für den Ausbau des Kolonialstaates trug, jedoch von den frühen Entwicklungsinitiativen kaum profitieren konnte, ignorierte diese daher weitestgehend.49 Ausbleibende finanzielle Investitionen, die fehlende Unterstützung der Kolonialadministration
46 47 48 49
rôle majeur de creuset social et de diffuseur culturel en exerçant leur impact sur l’ensemble de l’aire soumise à leur autorité.« (Coquery-Vidrovitch 1988: 53; siehe auch ebd. 1993: 15) Vgl. Sinou 1993: 347. Ebd.: 347. Der kolonialstaatliche Städtebau zielte insofern auf die Errichtung einer Art von »dualistische[r] Struktur“ ab. (Wirz 1982 zit. in Lenzin 1999: 37) Vgl. Sinou 1993: 194. Vgl. Searing 1985: 275. Die in ihrer Entwicklung weitgehend sich selbst überlassenen nichteuropäischen Stadtviertel traten folglich in Konkurrenz mit den europäischen und entwickelten »a life of their own“ (Pheffer 1975: 413), welches dann bereits zu Beginn der 1930er Jahre als intensiv diskutierte Problematik auf der Tagesordnung der kolonialherrschaftlichen Autoritäten erscheint: »The inhabitant of the [African] escale […] doesn’t worry about the precariousness of his title […] [L]ittle by little the inhabitants of the native escale escape all tax payments. Knowing how to avoid the law, lazy … detached from the authority of the canton chief, they escape prosecution … It can be said that the native escale exists in full independence, just within the bounds of regulations.«(Inspector of Administrative Affairs (1934) zit. in Pheffer 1975: 414)
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
und die fehlende Anteilnahme der lokalen Bevölkerung führten dementsprechend innerhalb der Untersuchungsperiode vorerst nicht zu den gewünschten Transformationsprozessen:50 »Enfin, la disproportion de plus en plus grande entre les quelques rues rectilignes des centres européens et les villages indigènes met en évidence les limites du projet diffusionniste : la modèle n’a guère d’incidence auprès de l’ensemble de la population.«51 Der Kontrast zwischen europäischen und nicht-europäischen Stadtvierteln und den damit korrespondierenden Lebenswelten der Akteure wurde stattdessen bewusst noch weiter akzentuiert.52 Mit Beginn des 20. Jh. traten dann insbesondere hygienisch und sanitär begründete Segregationsmaßnahmen neben die diffusionistischen Prinzipien der urbanen Raumordnung und verstärkten das weitere Auseinanderdriften von europäischen und nicht-europäischen Lebenswelten in den Kolonialstädten.53 Ab 1910 fand diese auf segregationistischen Überlegungen fußende Politik städtischer Raumorganisation dann auch Eingang in die kolonialstaatliche Gesetzgebung, welche sich im urbanen Raum nun entweder dezidiert auf europäische oder nicht-europäische Habitate bezog.54 Die Separation von europäischen und einheimischen Lebenswelten wurde im weiteren Verlauf der Kolonisation auch auf alle kolonialen Neuansiedlungen übertragen55 , zudem wurden inten-
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54 55
Vgl. Sinou 1993: 282-283; Searing 1985: 275. Sinou 1993: 194. Vgl. ebd.: 310. Obwohl auch schon im 19. Jh. die Tendenz bestand, europäische und nicht-europäische Lebensbereiche in den Kolonialstädten aufgrund der unterschiedlichen Lebensstile der beiden Gruppierungen voneinander zu trennen, setzte sich erst im 20. Jh. eine auf einer konsequent rassistischen Argumentation beruhende Segregationspolitik durch. (Vgl. Pheffer 1975: 400401) Vgl. Sinou 1993: 191. Dies verdeutlicht sich insbesondere im Kontext der Welle von Neuansiedlungen und Stadtgründungen, die im Zuge des ab 1907 bewerkstelligten Baus der Bahnstrecke Thies-Kayes realisiert wurden (vgl. Jones 2002: 25; Pheffer 1975: 260): »Construction of the TK railroad had contributed toward urbanization in Senegal by nurturing a string of new escales abutting the railroad’s new stations. The growth of these escales seems all the more interesting considering that the new rail stations had generally been located, regardless of the size of nearby centers, at spaced intervals of 25 to 30 kms along the rail line at sites that promised sufficient water.« (Pheffer 1975: 260) Die sich entlang des Streckenverlaufes ausbreitenden Neuansiedlungen waren ebenfalls entsprechend dem Schachbrettsystem strukturiert, beinhalteten standardmäßig Bahnstation, Handelsniederlassungen, Post- und Telegrapheneinrichtungen sowie Wasserzugang (vgl. Mbodj 1978: 582; Pheffer 1975: 259, 382) und boten die Grundlage für die Gründung zahlreicher Dörfer und einiger größerer Städte. (Vgl. Mbodj 1978: 438) Spätestens ab 1911 wurden alle neu geplanten Eisenbahnstations-Ansiedlungen nach segregationistischen Prinzipien geplant und errichtet. (Vgl. Pheffer 1975: 405)
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Weltzeit im Kolonialstaat
sive Anstrengungen unternommen, um die Trennung der Lebensbereiche auch in den bereits bestehenden Kolonialstädten rigoros durchzusetzen. Die Separation von europäischen und nicht-europäischen Lebenswelten und die daraus resultierenden Konsequenzen für die zeitliche Ordnung in den urbanen Zentren des kolonialen Diffusionismus wird im Kontext der Diskussion der zeitspezifischen Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der kolonialgesellschaftlichen Organisation in Kapitel VIII eingehend diskutiert.
1.1. Die zentralistische Struktur der kolonialstaatlichen Territorialorganisation Infolge der durch die koloniale Expansion eingeleiteten Ausweitung der Kolonialterritorien wurde die bereits in die Siedlungsgeographie eingeschriebene zentralistisch-diffusionistische Raumordnung auch auf die Strukturen der administrativen Territorialorganisation des heranwachsenden Kolonialstaates übertragen. Bis in die Mitte des 19. Jh. erstreckte sich die französische Präsenz auf dem späteren Territorium der Kolonie Senegal jedoch nur über einige räumlich sehr eingeschränkte küstennahe Ansiedlungen.56 Differenzierte räumliche Normierungen und administrative territoriale Ordnungsansprüche spielten im Konglomerat aus Küstenstädten, Militärposten und Handelsniederlassungen, welches die französischen Überseebesitzungen in Senegal zu dieser Zeit ausmachte, zwar eine prinzipielle, aber zunächst nur mit geringer Bedeutung bedachte Rolle. Für die Verantwortlichen dieser Epoche war Raumgewinn, d.h. die territoriale Ausweitung des französischen Einflussbereiches und die Vergrößerung national-imperialer Außengrenzen insofern zunächst weitaus bedeutsamer als eine präzise Ordnung des hinzugewonnenen Raumes anhand von europäischen Normen. Dies änderte sich entsprechend mit dem Beginn der militärischen Expansion und der Eroberung neuer Gebiete und Regionen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Der mit der militärischen Expansion betraute Gouverneur Faidherbe sah sich angesichts der Annektierung weiträumiger neuer Territorien bereits 1854 gezwungen, die Gesamtheit der französischen Besitzungen nach französischem Vorbild in drei »arrondissements (StLouis, Gorée et Bakel)« aufzuteilen.57 1863 wurden diese arrondissements dann zusätzlich jeweils in vier cercles unterteilt: »St-Louis, Podor, Dagana, Mérinagène pour le premier; Gorée, Sédhiou, Kaolack, Mbidjem pour le deuxième; Bakel, Médine, Saldé et Matam pour le troisième.«58 Diese cercles bzw. Verwaltungsbezirke wurden intern noch weiter in provinces und cantons gegliedert, deren räumliche Ausmaße und Bezeichnungen zumeist denjenigen der anciens Pays, die in dieser Region vor
56 57 58
Vgl. Adam/Adam/Ba 1977: 52. Ebd. Adam/Adam/Ba 1977: 52.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
der kolonialen Intervention existiert hatten, entsprachen.59 Die genaue Ausdehnung der einzelnen Territorialeinheiten und ihre Abgrenzung untereinander blieb dabei jedoch vorerst sehr ungenau.60 Darüber hinaus wurde das Territorium der Kolonie Senegal bis 1892 von den kolonialherrschaftlichen Autoritäten noch nicht als zusammenhängende und geschlossene territoriale Einheit angesehen, sondern vielmehr nur als in räumlicher Hinsicht weitgehend undefiniertes Konglomerat von Handelsniederlassungen charakterisiert.61 1882 erfolgte eine weitere umfassende Reorganisation der administrativen räumlichen Aufteilung der Kolonie, die das System der drei arrondissements auf nur noch zwei reduzierte, dafür jedoch einen räumlich sehr umfangreichen district einführte, der sich vom Fluss Saloum bis zum im heutigen Guinea verorteten Fluss Mellacorée erstreckte.62 Militärische Expansion und territoriale Eroberungen führten in diesem Jahrzehnt jedoch zu zahlreichen Veränderungen der internen administrativen Territorialorganisation sowie auch der Außengrenzen der Kolonie. Die senegalesischen Kolonialterritorien erhielten letztendlich erst infolge eines Gesetzeswerkes aus den Jahren 1889 und 189063 und der im Zuge der Gründung der Föderation Französisch-Westafrikas durchgeführten Gebietsreform von 1895 wieder eine einheitlichere administrative Territorialorganisation.64 Hinsichtlich der internen administrativen Territorialorganisation hatten militärische Expansion und Eroberung dabei bereits 1895 zu einer administrativen räumlichen Unterteilung geführt, die insgesamt zehn Verwaltungsbezirke inkorporierte.65 Nach der Gründung der Föderation Französisch-Westafrikas und der Festlegung der territorialen Außengrenzen der einzelnen Teilkolonien der Föderation durchlief Senegal jedoch noch weitere interne räumliche Umstrukturierungen, bei denen Verwaltungsbezirke verkleinert, vergrößert, umbenannt, zusammengeführt oder sogar gänzlich abgeschafft wurden. 1908 verfügte Senegal insofern bspw. bereits über 13 Verwaltungsbezirke, 1925 dann über 16.66 59 60 61 62 63
64 65
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Vgl. ebd. Vgl. ebd.: 52. Vgl. Plançon 2006: 293; Hesseling 1985: 123. Vgl. Adam/Adam/Ba 1977: 52. D.h. infolge eines ministeriellen Dekretes vom 15. Mai 1889 und eines korrespondierenden lokalen Erlasses vom 15. Januar 1890. (Vgl. Mbodj 1978: 200; Johnson 1971: 31; Pheffer 1975: 375) Vgl. Adam/Adam/Ba 1977: 52. Die Strukturierung der Räume innerhalb der Kolonie folgte dabei, wie auch schon zuvor, dem metropolen Modell. Verwaltungsbezirke wurden nun jedoch nicht mehr als arrondissements bezeichnet, sondern als cercles und konnten ebenfalls entsprechend dem französischen Modell weiter in subdivisions und cantons untergliedert werden. Mehrere cantons wurden darüber hinaus in einigen Fällen zu provinces zusammengefasst. (Vgl. Spittler 1981: 53) Die sich beständig wandelnde Territorialorganisation stellte insofern ein sich beständig wandelndes kolonialstaatliches Koordinatensystem dar, in dem sich die Feststellung der jeweiligen administrativen Zugehörigkeiten nicht immer einfach gestaltete, da die räumlichen
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Weltzeit im Kolonialstaat
Abbildung 3 – Die administrative Gliederung des kolonialen Senegal (1925).
Aus: Adam/Adam/Ba 1977: 63, Tafel 24. Neben den Grenzen der Verwaltungsbezirke sind auch die Bezirkshauptorte sowie die Kolonialstädte mit vollem und partiellem französischen Kommunalstatus eingezeichnet. Zum Kommunalstatus siehe im folgenden Kapitel IV.3.
Infolge der lokalen Gebietsreformen der Jahre 1889 und 189067 sowie einer föderalen Reform von 1895 nahmen darüber hinaus auch die Außengrenzen des Kolonialstaates Senegal erstmals die Form an, die in etwa auch die Grenzen des späteren souveränen Nationalstaates ausmachen würden. Das Territorium der Kolonie vergrößerte sich im Zuge weiterer föderaler Gebietsreformen jedoch noch einmal für
67
Grenzen der Verwaltungsbezirke oft modifiziert wurden und sich auch ihre Bezeichnungen bisweilen änderten. 1895 bestand die Kolonie Senegal insofern bspw. aus den zehn Verwaltungsbezirken Saint-Louis, Podor, Kaédi, Matam, Thiès, Foundiougne, Nioro du Rip, Sine, Karabane und Sédhiou, 1908 konstituierte sie sich aus den 13 Bezirken Dagana, Podor, Saldé, Matam, Louga, Tivaouane, Thiès, Diourbel, Kaolack, Maka-Koulibantan, Bakel, Ziguinchor und Sédhiou, 1925 dann schließlich aus den 16 Bezirken Dagana, Podor, Matam, Louga, Tivaouane, Dakar, Thiès, Diourbel, Kaolack, Tambacounda, Bakel, Kédoudou, Bignona, Ziguinchor, Sédhiou und Kolda. (Vgl. Adam/Adam/Ba 1977: 53) Vgl. Mbodj 1978: 200; Johnson 1971: 31; Pheffer 1975: 375.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
kurze Zeit schlagartig, da elf Verwaltungsbezirke der ehemaligen Kolonie des Soudan Français (die in räumlicher Hinsicht auf dem Gebiet des heutigen Staates Mali verortet waren) von 1899 bis 1904 an Senegal angegliedert worden waren, bevor sie als eigenständige Kolonie Haut-Sénégal-Niger neu konstituiert wurden.68 Bis auf wenige Ausnahmen bestand die Kolonie Senegal dann ab 1904 in ihren aktuellen Grenzen: »Le Sénégal possède alors ses frontières sauf au Sénégal oriental où des rectifications interviennent en 1915. De petites modifications entre Sénégal et Mauritanie ont lieu en 1905 et 1933, entre Sénégal et Guinée en 1915 et 1933.«69 Die administrative kolonialstaatliche Organisation gliederte sich dabei in zentralistischer Manier um Saint-Louis, die Hauptstadt der Kolonie. Da neben SaintLouis jedoch auch die Hauptstadt der Föderation Französisch-Westafrikas, Dakar, in der Kolonie Senegal verortet war, lief die administrative Territorialorganisation hier letztendlich auf zwei bedeutende Gravitationspole der zentralistischen Raumordnung zu. Die auf Ebene von Föderation und Einzelkolonie etablierte Raumordnung wiederholte sich auf Ebene der einzelnen Verwaltungsbezirke, deren interne Aufteilung sich um einen jeweiligen Hauptort gruppierte, welcher auch den Hauptsitz der Bezirksverwaltung beheimatete. Auch in der internen administrativen Gliederung der einzelnen Verwaltungsbezirke spiegelte sich somit die nach dem zentralistischen Modell des kolonialen Diffusionismus strukturierte räumliche Ordnung. Die übermäßig starke administrative Zentralisierung auf Bezirksebene kann am Beispiel des wirtschaftlich bedeutendsten Verwaltungsbezirkes Kaolack verdeutlicht werden, der sich rund um die gleichnamige Bezirkshauptstadt Kaolack erstreckt und in den Grenzen der ehemaligen einheimischen Königreiche von Sine 68 69
Vgl. Adam/Adam/Ba 1977: 52. Ebd. Wird die Standardisierung des kolonialen Raumes bzw. die Umsetzung von europäischen Raumnormen in den senegalesischen Kolonialgebieten anhand der Entwicklungen im Bereich der administrativen Territorialorganisation bewertet, so verdeutlichen die auch noch nach der 1904 erfolgten vorläufigen Festlegung der Außengrenzen der Kolonie durchgeführten zahlreichen Modifikationen der internen administrativen Organisation, dass die französische Kolonialherrschaft bis zum Ende der Untersuchungsperiode noch keine der Situation angemessene administrative Raumaufteilung gefunden hatte. Die administrative Ordnung und Standardisierung des kolonialen Raumes anhand eines einheitlichen, normativen Rahmengerüstes nach französischem Vorbild konnte innerhalb der Untersuchungsperiode insofern nicht umgesetzt werden. Die sich vermittels der Uneinheitlichkeit und den zahlreichen Modifikationen der administrativen Territorialorganisation andeutende nur partielle Umsetzung der Ordnung und Restrukturierung des kolonialen Raumes nach französischem Modell verweist kursorisch darauf, dass auch ein übergeordneter, mit dem Prozess der Standardisierung der Zeit korrelierender Prozess der Standardisierung des Raumes in den Kolonialgebieten nur in eingeschränktem Maße umgesetzt werden konnte.
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und Saloum verortet ist. Fast alle bedeutenden Kolonialstädte und Wirtschaftszentren des Bezirks verteilen sich einerseits entlang der Thies-Kayes-Bahntrasse und befinden sich zudem andererseits in einem 80-km-Radius rund um den im Westen des Bezirks gelegenen Hauptort Kaolack: »Ainsi elles sont toutes à l’Ouest du cercle, sauf KAFFRINE et KOUNGHEUL, la majorité se situant même à l’Ouest de KAOLACK […] tous ces centres sont dans un rayon de 80 km autour du chef-lieu de cercle (sauf KOUNGHEUL), disposés en étoile […].«70 Dieses Schema von Zentrum und Peripherie wiederholt sich in den verschiedenen Regionen des Bezirks und gliedert die Gebiete rund um ein jeweiliges kleineres lokales Zentrum.71 Das auch auf die administrative Struktur der kolonialstaatlichen Territorialorganisation ausgedehnte Modell des kolonialen Diffusionismus konstituierte somit auch über die Räume der städtischen Geographie hinaus ein System von Zentrum und Peripherie, in dem die Bezirkshauptorte die prinzipiellen diffusionistischen Zentren darstellten. Städtische wie auch ländliche Räume der Kolonie wurden so nicht nur einer internen Hierarchisierung und Gliederung unterworfen, sondern auch untereinander geordnet und anhand einer Rangfolge gestaffelt. Die sich hinsichtlich der administrativen kolonialstaatlichen Organisation abzeichnende raum-zeitliche Dichotomie zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Land, ›Moderne‹ und ›Altertum‹ wurde infolge der Umsetzung weiterer entwicklungsund wirtschaftspolitischer Ordnungsdoktrinen noch weiter verschärft, wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch erläutert werden wird. Die bisher nachvollzogene Entwicklung des kolonialstaatlichen Raum-ZeitGefüges äußert sich auch auf Ebene der administrativen Territorialorganisation in einem hierarchisierten, dichotomen Verhältnis zwischen einer in den städtischen Zentren verorteten europäischen ›Moderne‹ und einem in der ländlichen Peripherie verorteten lokalen ›Altertum‹. Das mit dieser in Entwicklungsstufenmodellen begründeten Perspektive einhergehende zeitliche Koordinatensystem des Kolonialstaates erstreckte sich korrespondierend dazu in einer abgestuften Hierarchie über alle Räumlichkeiten der Kolonie und ging, je weiter sich die Akteure vom Zentrum entfernten, mit einer Reduktion von Urbanität, europäischen Lebenswelten und entsprechenden zeitlichen Handlungspraxen einher: »La transposition à l’échelle urbaine d’un principe de gestion appliqué au niveau territorial se traduit par la constitution d’un réseau hiérarchisé de villes. Les centres urbains secondaires ne bénéficieront ni des investissements ni des privilèges statutaires accordés aux centres économiques que sont les métropoles
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Mbodj 1978 : 637-638, Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd.: 638.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
portuaires. A la tête de ce réseau se trouve en Afrique noire Dakar, suivi au Sénégal par Saint-Louis, puis par les centres de transit de l’arachide, Thiès, Louga, situés le long de la voie de chemin de fer. Plus on s’éloigne des axes de communication, plus les investissements diminuent et plus l’urbanité des établissements humains se dissout.«72 Trotz der unterschiedlichen zeitspezifischen Zuschreibungen im vornehmlich dichotom strukturierten Schema des kolonialstaatlichen Raum-Zeit-Gefüges kam es dennoch auch zu Anomalien und Abweichungen von dieser Schematisierung. Die verschiedenen, mit unterschiedlichen zeitspezifischen Zuschreibungen und Ordnungs- und Entwicklungspolitiken versehenen Zonen, welche sich im Kontrast zwischen einer europäisch geprägten und ›modernen‹ Zeit und einer durch die lokale Kultur geprägten ›altertümlichen‹ Zeit manifestierten, bildeten insofern kein vollkommen übereinstimmendes und komplementäres Schema von kongruierenden Gegenpolen, sondern eines, welches auch intern durch zahlreiche Ungleichmäßigkeiten geprägt war. Auch die in vielerlei Hinsicht als Zentren der ›Moderne‹ gepriesenen kolonialstaatlichen Zentren repräsentierten insofern weitgehend künstliche Provisorien, die nicht im eigentlichen Sinne ›modern‹ waren und von denen auch keine ›Modernisierung‹ ausging. Die immer nur partielle, zumeist diffuse, experimentelle und zweckdienliche Umsetzung von raum-zeitlichen Ordnungspolitiken und die zahlreichen weiteren daraus resultierenden Abweichungen, Kompromisse und Graubereiche, die im Zuge der Betrachtungen dieses Kapitels dargelegt werden konnten, verweisen des Weiteren auf die nur wenig angemessene dichotome Unterscheidung zwischen ›Moderne‹ und ›Altertum‹. Zeigt sich dieser Sachverhalt in administrativ-organisatorischer Hinsicht noch einigermaßen bedeckt, so wird die Unterscheidung zwischen Zeitaltern spätestens hinsichtlich der im weiteren Verlauf dieser Arbeit diskutierten entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Dimensionen des kolonialen Projektes obsolet.
2. Räumliche und zeitliche Strukturen der wirtschaftlichen Entwicklungspolitik Die durch zentralistische und diffusionistische Ordnungsprinzipien begründeten Grundstrukturen der räumlichen und zeitlichen Organisation des Kolonialstaates bestimmten auch die wirtschaftliche Strukturierung der Kolonie. Als ältester und wichtigster kolonialer Brückenkopf der Franzosen an der westafrikanischen Küste stellten die senegalesischen Kolonialterritorien den Ausgangs-
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Sinou 1993 : 193, vgl. ferner auch Lakroum 1979 : 60.
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Weltzeit im Kolonialstaat
und Kulminationspunkt der bedeutendsten kolonialherrschaftlichen Anstrengungen zur rationalen wirtschaftlichen Entwicklung der Überseebesitzungen dar. Die Kolonie sah sich daher in erster Linie auch durch eine intensive, an die Entwicklung von Exportinfrastrukturen gekoppelte wirtschaftliche Restrukturierung gekennzeichnet. Die Standardisierung des lokalen Raum-Zeit-Gefüges stellte sich demzufolge nicht zuletzt als in erster Linie ökonomisch motiviertes Projekt dar, welches sich in den wirtschaftspolitischen Ambitionen der Kolonialherrschaft spiegelte und im Bestreben zur Synchronisierung der lokalen wirtschaftlichen Produktionsprozesse und Handlungsabläufe mit denjenigen der imperialen Wirtschaftskreisläufe verwirklichte. Die zwischen Zentren und Peripherie polarisierte räumliche und zeitliche Strukturierung des Kolonialstaates repräsentierte dabei letztendlich ein verkleinertes Abbild des bereits auf imperialer Ebene vorformulierten RaumZeit-Gefüges. Letzteres zeichnete sich insbesondere durch Strukturmomente aus, die aus einer einseitigen Ansiedlung von industriellen und technologischen Erneuerungen in Europa hervorgingen und die peripheren afrikanischen Kolonialterritorien zu simplen Rohstofflieferanten der europäischen Zentren degradierten.73 Eine weitere Achse der raum-zeitlichen Strukturierung des kolonialstaatlichen Senegal ergab sich dementsprechend aus der im imperialen Kontext situierten handelsökonomischen Grundausrichtung, die sich in den senegalesischen Kolonialgebieten spätestens seit Ende des 19. Jh. zu konkretisieren begann.
2.1. Handelsökonomie und prinzipielle Strukturen der Wirtschafts- und Arbeitsorganisation Gegen Ende des 19. Jh. konnte die Kolonialherrschaft bereits auf eine längere Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung des kolonialen Senegal zurückschauen, die mit der erfolgreichen Einführung von Kautschuk-Gewinnung und Erdnussanbau in der Mitte des 19. Jh. ihren Ausgangspunkt genommen hatte.74 Die frühe ökonomische Entwicklung von Beginn des 19. Jh. bis zur endgültigen administrativen Erschließung der Territorien ab 1890 kann dabei entsprechend Mbodj in drei Perioden unterteilt werden, die sich anhand von unterschiedlichen ökonomischen Imperativen auszeichneten und ab 1865 in der Dominanz von Erdnussanbau und -handel kulminierten: »1) Avant 1817 : prédominance de la traite négrière jusqu’à l’abolition – marginalisation du commerce de la gomme, de l’or etc. 2) De 1817 à 1865 : expériences de transposition des cultures antillaises au Sénégal 73 74
Vgl. ferner Wesseling 1988: 536. Vgl. Mbodj 1978: 168.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
– Echec en 1827; mais développement du commerce de la gomme et de l’entrepôt fictif de Gorée qui dessert toute la côte – Débuts de l’exportation des arachides – Echecs des expériences de cultures cotonnières au Sine. 3) A partir de 1865 : suprématie de Gorée sur Saint-Louis (du Sud du Cap Vert sur le Nord) et de l’arachide sur les autres produits.«75 Der sich hier abzeichnende wirtschaftliche Fokus und die Tendenz zur Bevorzugung der Exportökonomie gegenüber anderen Formen der Kolonialwirtschaft verstärkte sich ab den 1830er Jahren auch dadurch, dass die für Siedlerkolonien typischen offiziellen Aufrufe und Bemühungen zur Förderung der Emigration von französischen Landsleuten in die senegalesischen Kolonialgebiete eingestellt wurden.76 In den darauffolgenden Jahren entwickelten sich dann die Grundlagen der kolonialen Wirtschaftskreisläufe, welche die Ökonomie in den senegalesischen Kolonialterritorien bestimmen sollten. Zu Beginn der administrativen Erschließung Senegals im Jahr 1890 fand insofern kein abrupter Wandel der kolonialen Wirtschaftspolitik statt, es wurde vielmehr nur ein Prozess angestoßen, der die bereits bestehenden handelswirtschaftlichen Strukturen und Institutionen konsolidierte und deren weiteren Ausbau zu systematisieren begann: »Donc en 1887, il n’y a pas de nouvelle politique économique au Sénégal, la colonisation ne fait qu’affirmer le procès de drainage avec la construction de routes, la multiplication des escales, etc….«77 Die Kolonie Senegal kann insofern spätestens seit Ende des 19. Jh. als »colonie d’exploitation agricole« angesehen werden.78 Ab 1895, dem Jahr der Gründung der Föderation Französisch-Westafrikas, fand diese Vorstellung dann auch in offiziellen Berichten Niederschlag. In einem Le Sénégal, colonie agricole betitelten Bericht an den Kolonialminister wurde die Charakteristik Senegals als Handelskolonie dementsprechend in einer kurzen, aber prägnanten Formel festgehalten: »[…] l’Etat initiateur, l’indigène producteur et l’européen acheteur.«79
75 76 77
78 79
Ebd. : 170; siehe auch Niang 1999 : 21. Vgl. Mbodj 1978: 170; Cruise O’Brien 1972: 35; ferner Sinou 1993: 195. Mbodj 1978 : 170. Mbodj bezieht sich hier nicht auf das Jahr 1890, weil er den Beginn der administrativen Erschließung und ökonomischen Ausbeutung Senegals mit der im Jahre 1887 bewerkstelligten kolonialen Einverleibung der Region Sine-Saloum gleichsetzt. (Vgl. ebd.) Ebd.: 171; siehe auch Thiam 2007: 59; ferner Plançon 2006: 286. Lourdeault (1895) zit. in Mbodj 1978: 171, Fußnote 4. Die sich hier äußernde Perspektive auf den Kolonialismus in Senegal bestimmt darüber hinaus auch die kolonialadministrativen Planungen und Organigramme im Kolonialministerium sowie auch den Arbeitsalltag der Distriktkommandanten in den Verwaltungsbezirken. (Vgl. Mbodj 1978: 171-172) Ernest Noirot, der Distriktkommandant des Bezirkes Sine-Saloum brachte dies 1896 in folgender Formulierung auf den Punkt: »[L]es intérêts du commerce, les nôtres, sont tout un.« (Noirot (1896) zit. in Mbodj 1978: 172)
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Weltzeit im Kolonialstaat
Aus ökonomischer Perspektive diente das Konzept der Handelsökonomie dazu, die Kolonialgebiete in das Weltwirtschaftssystem zu integrieren. Vermittels der Handelswirtschaft wurde das kolonialstaatliche Produktionssystem mit dem imperialen und global agierenden französischen Produktionssystem verbunden. Wechselseitige Transaktionen, d.h. der Austausch von unverarbeiteten Gütern gegen verarbeitete Güter, begründeten dabei die ökonomischen Beziehungen.80 Logik und Struktur der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Kolonie und Metropole bestanden demnach darin, landwirtschaftliche Rohstoffe und Ressourcen zu günstigsten Preisen zu erwerben und nach Frankreich zu verschiffen, wo diese zu hochwertigeren Endprodukten verarbeitet wurden, um dann zum höchstmöglichsten Preis weiter- bzw. zurückverkauft zu werden.81 Thiam resümiert diesen »pacte colonial« entsprechend in folgenden Worten : »[L]es colonies devaient fournir à la Métropole les matières premières et les grands produits coloniaux et ne posséder aucune industrie; la Métropole fournissait les produits manufacturés […].«82 Um 1906 existierten daher bspw. schon über 50 Seifenfabriken in Frankreich, deren Produktion z.T. auf dem aus senegalesischen Erdnüssen gewonnenen Öl beruhte, in Senegal dagegen keine einzige.83 Die Anbindung der landwirtschaftlichen senegalesischen Produktionsnetzwerke an externe kolonialwirtschaftliche Strukturen stellte für die lokale Wirtschaft die folgenreichste ökonomische Veränderung, die durch die Kolonialzeit eingeläutet wurde, dar.84 Die kolonialstaatliche Handelswirtschaft ordnete sich im Zuge der mit dieser Veränderung einhergehenden Prozesse in einem zutiefst ungleichen Verhältnis den wirtschaftlichen Anforderungen und Bedürfnissen des kolonialen Mutterlandes unter.85 Die Eingliederung der kolonialen Handelsökonomie in das Weltwirtschaftssystem resultierte insofern in der Schaffung einer profunden Abhängigkeitsbeziehung zwischen Kolonie und Metropole, die inhaltlich vor allem durch die Vertreter des französischen Wirtschaftskapitalismus in der Kolonie, d.h. insbesondere die großen französischen Handelshäuser aus Bordeaux und Marseille, bestimmt wurde.86 Letztere verfolgten die Zielsetzung, die natürlichen Ressourcen sowie auch die lokale Arbeitskraft zu möglichst günstigen Konditionen auszubeuten.87 Das französische Unternehmertum innerhalb der Kolonie pflegte in dieser Hinsicht eine »philosophie de recherche du moindre coût«88 , d.h. sie ver80 81 82 83 84 85 86 87 88
Vgl. Fall 1984: 26; Searing 1985: 280-281. Vgl. Mbodj 1978: 176; Searing 1985: 280-281. Thiam 2007: 102, Fußnote 293. Vgl. Mbodj 1978: 176. Mit Olivenöl vermengt bildet Erdnussöl bspw. einen Grundbestandteil der »savon traditionnelle du Marseille“. (Thiam 2007: 67) Vgl. Searing 1985: 281. Vgl. Fall 1984: 27. Vgl. Amin (1971) zit. in Fall 1984: 28. Vgl. Fall 1984: 26. Ebd.: 29.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
suchte bei minimalem Einsatz maximale Gewinne zu erzielen. Die Handelsökonomie zeichnete sich dementsprechend vor allem durch ihre räuberische Natur und die offensichtliche Tendenz zur Ausbeutung und Plünderung der natürlichen und menschlichen Ressourcen der produzierenden Gesellschaften aus.89 Wie Dresch herausgearbeitet hat, äußerte sich dies nicht zuletzt auch an den exorbitanten Gewinnspannen von Händlern und Handelshäusern: »C’est là, un type d’économie singulièrement primitive et paresseuse, mais qui se comprend fort bien : les sociétés de commerce font des bénéfices très supérieurs à ceux des sociétés de production, parfois 100 % par rapport au capital, presque toujours plus de 25 %.«90 Die Steigerung von Handelsvolumen und Profiten nahm innerhalb der Handelskolonie immer einen größeren Spielraum ein als Investitionen in technologische Neuerungen, Infrastrukturen und Institutionen, die für die Umsetzung einer wirtschaftlichen Entwicklung nach europäischem Modell notwendig gewesen wären. Dementsprechend trug die handelsökonomische Ausrichtung der Kolonie zwar dazu bei, die Einführung von industriellen Fertigungsbetrieben und korrespondierenden Beschäftigungsverhältnissen zu behindern und zu verzögern, der Fokus auf die Etablierung einer handelsorientierten Wirtschaft führte in Senegal dennoch nie zur Entwicklung eines weitläufigen Systems von großen Ländereien und Plantagen, wie es für die Ökonomie anderer französischer Handelskolonien typisch war.91 Die seit den 1890er Jahren in rapidem Maße bewältigte Ausweitung von Handelsökonomie und Erdnussexport ging insofern nicht mit einer zunehmenden Mechanisierung und Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion nach europäischem Vorbild einher, sondern entwickelte sich vielmehr als »adjunct to peasant household production«.92 Die Güterproduktion wurde in weiten Teilen allein den einheimischen Produzenten überlassen und die kolonialherrschaftliche Ökonomie begnügte sich damit, die Produktion durch die Ausübung von administrativem Zwang zu stimulieren und je nach Bedarf abzuschöpfen. Eine Methodik, die sich angesichts des Erfolgsdruckes, mit minimalen finanziellen und materiellen Mitteln eine florierende Kolonialökonomie zu errichten, relativ unkompliziert durchsetzen ließ und sich gegenüber der Nutzung von unternehmerisch gesteuerten Pflanzungen zudem auch als profitablere Vorgehensweise herausgestellt hatte.93 Entsprechend sollte die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie, so sahen es die zeitgenössischen Verantwortlichen, nahezu ausschließlich auf Basis der
89 90 91 92 93
Vgl. ebd.: 28. Dresch (1970) zit. in Fall 1984 : 28. Vgl. Pheffer 1975: 374. Searing 1985: 280. Vgl. Pheffer 1975: 374.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Arbeitskraft des lokalen ›Humankapitals‹ realisiert werden.94 Die folgende Abbildung 4 zeigt die prinzipiellen Erdnussanbaugebiete der Kolonie im Jahre 1925 und verdeutlicht die große Verbreitung dieser Feldfrucht innerhalb der lokalen Bevölkerung.
Abbildung 4 – Erdnussanbauflächen in der Kolonie (1925).
Aus: David 1980: 31.
Trotz der von der lokalen Bevölkerung selbstorganisierten landwirtschaftlichen Rohstoffproduktion resultierten die unternehmerischen Profite der Handelsökonomie in Senegal aus einer über die Kontrolle von Preisentwicklungen und Absatzmärkten vermittelten Erpressung von Überstundenarbeit und Überschussproduktion: »Au cours de cette période, c’est encore la mise en œuvre de multiples opérations de manipulations spéculatives et un ›cantonnement‹ délibéré dans la sphère de circulation pour réaliser des profits élevés sous la forme d’extorsion de surtravail ou surproduit.«95
94 95
Vgl. Fall 1984: 29; Pheffer 1975: 374. Vgl. Hilaire (1978) zit. in Fall 1984 : 28.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
In zeitspezifischer Hinsicht unterlag die landwirtschaftliche Produktion insofern zwar keinen direkt vom Obrigkeitsstaat diktierten Ordnungspolitiken oder arbeitszeitlichen Reglementierungen, insbesondere die ausbeuterischen Bedingungen der Handelswirtschaft und die steuerlichen Abgabeforderungen des Kolonialstaates setzten die Bevölkerung jedoch starkem ökonomischen Druck aus96 , der sich auf indirekte Weise als Zeit- und Arbeitszwang äußerte. Neben der indirekten ökonomischen Zeit- und Arbeitszwängen unterliegenden Arbeitsleistung der lokalen Landwirte stützte sich die Arbeitsorganisation in der Handelsökonomie des Weiteren in erster Linie auf ein umfangreiches System von Zwangsarbeitsmaßnahmen, im Kontext dessen massiv direkter Zeit- und Arbeitszwang auf die lokale Bevölkerung ausgeübt wurde. In den handelswirtschaftlichen Kernzentren und Kolonialstädten existierte darüber hinaus auch ein kleiner, spezialisierter und ansatzweise auf Basis regulärer arbeitszeitspezifischer Ordnungspolitiken organisierter Lohnarbeitssektor. Die aus den indirekten ökonomischen Zeit- und Arbeitszwängen resultierenden Konsequenzen für die zeitliche Organisation von Arbeit innerhalb der lokalen Bevölkerung und die Arbeitszeiten im kolonialstaatlichen Lohnarbeitssektor werden in Kapitel VII einer eigenständigen Untersuchung unterzogen. Das umfangreiche kolonialstaatliche Zwangsarbeitssystem stellte neben der selbstorganisierten Arbeitsleistung der lokalen Landwirte den weitaus größten Anteil am Produktionsvermögen der Handelsökonomie. Die in der lokalen Gesellschaft verankerten Strukturen von Sklaverei und Sklavenarbeit, nur halbherzige kolonialherrschaftliche Anstrengungen zu deren Abschaffung97 und die 96 97
Vgl. Founou-Tchuigoua (1981) zit in. Fall 1984: 135. Der Sklavenhandel wurde innerhalb des französischen Kolonialimperiums bereits 1815 offiziell geächtet und verboten, die Sklavenhaltung 1848. Aufgrund der in Hinsicht auf die strikte Durchsetzung der diesbezüglichen Gesetze unentschiedenen Haltung der französischen Kolonialherrschaft (vgl. Conklin 1997: 95-99; Searing 1985: 68-72) und nicht zuletzt auch wegen der zentralen gesellschaftlichen Rolle, die die Sklaverei, befördert durch die über Jahrhunderte währenden ökonomischen Austauschbeziehungen des transatlantischen Sklavenhandels in vielen der in dieser Region beheimateten Gesellschaften einnahm, blieb diese jedoch weiterhin fester Bestandteil der soziokulturellen Wirklichkeit in den westafrikanischen Überseeterritorien. (Vgl. Fall 1984:26; Searing 1985: 25) Sklaverei und Sklavenarbeit dienten insofern, trotz mehrfacher gesetzgeberischer Aktivitäten zu deren Abschaffung, noch bis ins 20. Jh. hinein als Fundament der lokalen Wirtschafts- und Sozialordnungen der Region. (Vgl. Fall 1984: 17) In einigen Gebieten der Kolonie bediente sich darüber hinaus auch die Kolonialherrschaft noch bis ins beginnende 20 Jh. hinein der Sklavenarbeit, um administrative Arbeitsmaßnahmen zu verrichten. (Vgl. Conklin 1997: 96) Noch im Jahre 1905 bestand, je nach Region, schätzungsweise zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung der Kolonie Senegal sowie ca. ein Viertel der Gesamtbevölkerung Französisch-Westafrikas aus Sklaven. (Vgl. Boutillier (1968) zit. in Fall 1984: 18-19; siehe auch Fall 2011: 44; Searing 1985: 68) Letztere repräsentierten dementsprechend einen Großteil der in lokalen Kontexten verfügbaren Arbeitskraft und nahmen insofern eine bedeutende und tragende Rolle für die zumeist auf
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Weltzeit im Kolonialstaat
sich schon seit Beginn der ersten intensiveren Versuche zur landwirtschaftlichen Kolonisierung zu Beginn des 19. Jh. äußernden Probleme der Rekrutierung von Arbeitskräften98 können dabei als zentrale Faktoren angesehen werden, die die Entstehung dieses umfassenden, von der Sklavenarbeit abgeleiteten Systems kolonialstaatlich legitimierter Zwangsarbeitsmaßnahmen begünstigt haben. Der in unvermindertem Maße fortbestehende Glaube an das zivilisatorische Potential von Zwangsarbeit führte darüber hinaus dazu, dass Zwangsarbeitsmaßnahmen bis in die 1920er Jahre als unzweifelhafter und unhinterfragter Bestandteil der französischen Zivilisierungsmission angesehen wurden.99 Die Etablierung, Ausweitung und Umformung des kolonialstaatlichen Zwangsarbeitssystems kennzeichnete die Entwicklung des lokalen Arbeitssektors letztlich vom Beginn der administrativen Erschließung bis in die 1930er Jahre hinein.100 Auf kolonialstaatlicher Ebene können, entsprechend Fall, letztlich folgende vier zentrale Formen von Zwangsarbeit unterschieden werden. Erstens die zwangsinduzierten Arbeitsmaßnahmen der »main d’œuvre réquisitionnée«101 , welche als älteste Form der Zwangsarbeit bereits seit 1855 Anwendung fanden, jedoch erst 1930 gesetzlich reglementiert wurden.102 Diese administrative Requirierung von lokalen Arbeitskräften zugunsten öffentlicher Arbeiten war weit verbreitet. In Senegal kam sie vor allem zugunsten der Errichtung von Eisenbahn- und Telegraphenlinien zum Einsatz103 , in anderen Teilkolonien der Föderation fand sie bspw. auch bei der Rekrutierung von Trägern bzw. der »portage«104 massenhaft Verwendung.105 Zweitens die Arbeits- oder Frondienste der »main d’œuvre prestataire«106 , welche von den Einheimischen letztlich schon seit Beginn der administrativen Erschließung eingefordert wurden, jedoch erst 1912 offiziell gesetzlich festgeschrieben wurden.107 Den Regelungen von 1912 entsprechend war jedes männliche Individuum über 15 Jahren verpflichtet, seine Arbeitskraft für mindestens zwölf Ta-
98 99 100 101 102 103 104 105 106 107
familiärem Niveau konzentrierten einheimischen Wirtschafts- und Produktionsverhältnisse ein: »Dans l’ensemble des sociétés, l’esclavage domestique reste une institution vivace. Le travail servile est intégré dans l’activité de production familiale soit comme un pilier, soit comme un appoint au même titre que le travail des femmes et des enfants.« (Fall 1984: 18; siehe auch Fall 2011: 44-45) Vgl. Fall 1984: 12. Vgl. Conklin 1997: 214. Vgl. ebd. Fall 1984: 37. Vgl. ebd. Vgl. ebd.: 82ff. Ebd.: 74. Vgl. ebd.: 74ff. Ebd.: 196. Vgl. Conklin 1997: 215; Fall 1984: 196-197. Diese schon seit Ende des 19. Jh. existierenden Arbeitsdienste bzw. prestations wurden zunächst als indirekte steuerliche Abgabeleistungen angesehen, aber erst 1912 erstmals gesetzgeberisch reguliert. Infolge von internationaler Kri-
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
ge im Jahr kolonialherrschaftlichen Arbeitsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen.108 Diese am häufigsten eingesetzte Form der Zwangsarbeit diente ebenfalls vor allem zur Verrichtung öffentlicher Arbeiten. Entsprechend wurde bspw. das gesamte innerhalb der Untersuchungsperiode errichtete Straßennetz der Föderation Französisch-Westafrikas durch die Arbeitsleistungen der »prestations«109 realisiert.110 Drittens die Zwangsarbeitsleistungen der »Deuxième portion militaire«111 , eines aus militärischen Rekruten bestehenden Reservekontingents, welches offiziell seit 1926 einen Teil der Dienstzeit der Verrichtung diverser öffentlicher Arbeiten zu widmen hatte112 und dessen Arbeitsleistungen von Fall als die am besten getarnte Form von Zwangsarbeit angesehen werden.113 Viertens die Zwangsarbeit der Arbeitskräfte in privatwirtschaftlichen Unternehmen bzw. die der »main d’œuvre dans les entreprises privées«114 , die in der Handelskolonie Senegal den kleinsten Teil der Zwangsarbeiterschaft darstellte und hier auch erst ab den 1920er Jahren in vermehrter Weise zu verzeichnen war.115 Der Definition dieser Form von Arbeit entsprechend, zählten die im Rahmen der verschiedenen Formen von Zwangsarbeit zur Geltung kommenden zeitspezifischen Ordnungspolitiken und arbeitszeitlichen Reglementierungen theoretisch zu den wohl rigidesten diesbezüglich denkbaren Regelwerken. Als solche waren sie allein ökonomischen Kriterien geschuldet und berücksichtigten die Bedürfnisse der Arbeiterschaft nur in allzu eingeschränktem Maße, oftmals auch gar nicht. In praktischer Hinsicht waren sie kaum normiert, wurden selten protokolliert und unterlagen in ihrer Auslegung vollständig den mit der Oberaufsicht über die Arbeitsmaßnahmen betrauten Vertretern der Kolonialherrschaft. Die ausnahmslos durch Menschenverachtung und Gewaltanwendung geprägten Zwangsarbeitsverhältnisse können aufgrund der willkürlichen Missachtung jedweder arbeitsrechtlicher Vorgaben116 und der oft fehlenden, fehlerhaften und verschleiernden Dokumentation hinsichtlich der damit einhergehenden zeitspezifischen Ordnungspolitiken und Normen nicht umfassend und systematisch untersucht werden. Es er-
tik an ihrer Natur als verdeckte Zwangsarbeitsleistungen wurden sie 1930 in direkte steuerliche Abgabeleistungen umdeklariert. (Vgl. Fall 1984: 196-197) 108 Vgl. Conklin 1997: 215; Fall 1984: 196-197. Dies betraf jedoch nur die kolonisierten Individuen in den sogenannten Protektoratsgebieten. Zur Unterscheidung zwischen Direktverwaltungsgebieten und Protektoratsgebieten siehe im folgenden Kapitel IV.3. 109 Fall 1984: 197. 110 Vgl. ebd. 111 Ebd.: 148. 112 Vgl. ebd.: 148ff. 113 Vgl. ebd.: 194. 114 Ebd.: 224. 115 Vgl. ebd.: 224ff. 116 Siehe dazu die Ausführungen von Fall 1984.
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Weltzeit im Kolonialstaat
scheint lediglich unzweifelhaft, dass die generell unsäglichen Arbeitsbedingungen im Kontext von Zwangsarbeitsmaßnahmen auch mit einer generellen Nichtbeachtung zeitspezifischer Ordnungspolitiken und Normen einhergingen. Es finden sich insofern bspw. Belege dafür, dass die seit 1912 offiziell auf zwölf Tage im Jahr begrenzte Dauer der Arbeitsleistungen der prestations in vielen Fällen überschritten wurde und Zwangsarbeitsmaßnahmen im Allgemeinen eine, den gesetzlichen Vorgaben widersprechende aufgabenbasierte Dauer der Arbeiten117 zugrunde gelegt wurde.118 Darüber hinaus lässt sich des Weiteren konstatieren, dass die Dauer der täglichen Arbeitszeiten von Zwangsarbeitern an den Tag-NachtZyklus gekoppelt wurde und sich inklusive Pausen über die gesamte Tageslänge erstreckte.119 Ebenso wie die oftmals nicht eingehaltenen täglichen Pausenzeiten120 wurden zudem auch wöchentliche Ruhetags- und annuelle Feiertagsregelungen oft nicht eingehalten.121 Die durch die lokalen Produzenten bewältigte Rohstoffproduktion und das Konglomerat an kolonialstaatlich legitimierten Zwangsarbeitsmaßnahmen verdeutlicht, dass die Kosten für die Eingliederung der kolonialstaatlichen Handelsökonomie ins Weltwirtschaftssystem letztendlich in erster Linie der lokalen Bevölkerung aufgebürdet wurden, welche diese durch den Einsatz ihrer Arbeitskraft bezahlen musste.122 Die Vorgehensweise der Kolonialadministration, der einheimischen Bevölkerung die Hauptlast des französischen Kolonialprojektes aufzubürden, folgte dabei im Grundsatz der bereits erörterten Philosophie der Suche nach maximalen Erträgen bei nur minimalem Einsatz.123 Wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch deutlich werden wird, basierte letztendlich auch die Eingliederung von Arbeitskräften in den kleinen regulären Lohnarbeitssektor in den handelswirtschaftlichen Zentren und Kolonialstädten auf der Grundlage dieser Philosophie.124 Die zentralen Charakteristika der handelswirtschaftlichen Ausrichtung der Kolonie kennzeichneten diese als Teil der imperialen wirtschaftlichen Peripherie, in der der Großteil der Wirtschafts- und Arbeitsorganisation auf Basis präindustrieller und despotischer Strukturen gegründet war. Die wirtschaftliche Organisation der Kolonie repräsentierte insofern ein nicht-›modernes‹ ökonomisches ›Alter117
D.h. die Dauer der Arbeitseinsätze wurde in der Regel, abgesehen von jedweden zeitlichen Vorgaben, an die Zeitdauer, die für die Bewältigung der vorgesehenen Arbeitsaufgaben benötigt wurde, gekoppelt. 118 Vgl. Fall 1984: 209, hinsichtlich von Zwangsarbeit im Eisenbahnbau vgl.: 115, hinsichtlich von Zwangsarbeit in der Privatwirtschaft vgl.: 238. 119 Vgl. ebd.: 17. 120 Vgl. ebd.: 25, 28, 204, 206, 209. 121 Vgl. ebd.: 184. 122 Vgl. ebd.: 29. 123 Vgl. ebd. 124 Vgl. ebd.: 30.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
tum‹, in dem das Produktionsvermögen in erster Linie auf lokalen landwirtschaftlichen Produktionsmethoden und Zwangsarbeitsmaßnahmen beruhte und sich die wirtschaftliche Entwicklungspolitik fast ausschließlich darauf beschränkte, rudimentäre Infrastrukturen zum Anschluss an die imperiale weltwirtschaftliche ›Moderne‹ zu schaffen.
2.2. Die ökonomischen Infrastrukturen der industrialisierten Welt Die wirtschaftliche Entwicklung des Kolonialstaates, die insgesamt keine ›Modernisierung‹ bzw. Mechanisierung und Industrialisierung der Produktionsbedingungen nach europäischem Vorbild verfolgte, war zur Gewährleistung der Funktionalität der Handelsökonomie und zur Angliederung an die industrialisierten wirtschaftlichen Strukturen des französischen Kolonialimperiums dennoch auf ein rudimentäres Netzwerk von industriellen Betrieben und Arbeitsverhältnissen angewiesen, um eine geeignete Infrastruktur für den Export der innerhalb der Kolonie hergestellten Güter zu schaffen und aufrechtzuerhalten.125 Insbesondere die Zeitordnungen der industrialisierten Welt konnten dabei im kolonialen Kontext nur effektiv und sinnvoll umgesetzt werden, wenn auf ein in ausreichendem Maße infrastrukturell erschlossenes Umfeld zurückgegriffen werden konnte. Spätestens mit Beginn der administrativen Erschließung erhielten auch zeitspezifische Aspekte des Infrastrukturausbaus eine größere Gewichtung als zuvor und es kam zu einer ersten systematischen Ausweitung des bis dahin rudimentären französischen Zeitregimes in der Kolonie. Da insbesondere das präzise universelle Zeitnormal, aber auch andere uhrzeitbasierte Zeitordnungen einerseits von einer funktionsfähigen temporalen Infrastruktur abhingen, die die Verfügbarkeit der exakten referentiellen Zeitsignale gewährleistete und andererseits erst dann sinnvoll umgesetzt werden konnten, wenn zusätzlich zu dieser Infrastruktur auch entsprechende industriezeitlich getaktete, technisch-maschinelle Ensembles zur Verfügung standen, war eine zweckmäßige Nutzung der neuen Zeitstandards nur möglich, wenn beide Faktoren in hinreichendem Maße gegeben waren.126 125 126
Vgl. ebd.: 28. Letzteres hat Schivelbusch idealtypisch am Beispiel des maschinellen Ensembles von Eisenbahn und Telegraph verdeutlicht. Die im Zuge der industriellen Revolution realisierte technologische Neuerung von Dampfmaschine und Schienenwegen, die einen in bisher ungekanntem Maße rapiden und standardisierten Transport über räumliche Distanzen ermöglichte, konnte ihr volles Potential insofern erst entwickeln, nachdem sie eine Liaison mit der technologischen Neuerung des Telegraphenwesens eingegangen war, welches eine bis dahin ebenfalls in unbekanntem Maße rapide und standardisierte Kommunikation erlaubte. Erst die auf diese Art und Weise erlangte Möglichkeit zur minutiösen Koordination raumzeitlicher Abläufe gewährleistete eine sinnvolle und effiziente Nutzung der neuen Transportgeschwindigkeiten. Das »maschinelle Ensemble“ (1977: 21) von Dampfmaschine, Schienenweg und Telegraph bzw. das Zusammenwirken von raum- und zeitspezifischen Prozessen
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Weltzeit im Kolonialstaat
Zu den explizit zeitspezifischen Infrastrukturelementen zählten in dieser Epoche in erster Linie die Institutionen, Instrumente und Anlagen, die zur Ermittlung und Kommunikation des universellen Zeitnormals unerlässlich waren. Darunter insbesondere astronomische Anlagen und Instrumente zur exakten Zeitbestimmung in den Observatorien, aber auch ebenso präzise Mittel zur Zeitsignalkommunikation (bspw. (Funk-)Telegraph, Telefon), zur Zeitsignalkontrolle (bspw. Internationales Zeitamt) und zur Zeitsignalanzeige bzw. zur Zeitsignalvergabe (bspw. private und öffentliche Uhren). Darüber hinaus müssen jedoch auch zentrale technologische Neuerungen im Transportwesen, wie bspw. Eisenbahn, Straßenverkehrswege und Automobil, als Bestandteile zeitspezifischer Infrastrukturen angesehen werden, da diese neuen Technologien im Verbund technisch-maschinelle Ensembles bildeten, die zu einer Revolution der zeitlichen Organisationsmuster in den jeweiligen gesellschaftlichen Anwendungsbereichen führten. Die Standardisierung der Zeit und der Transfer des neuen Zeitnormals in die senegalesischen Kolonialterritorien korrespondierten dabei mit den im Rahmen der bereits angesprochenen Politik der mise en valeur verfolgten Programmen, die in der Einführung von technologischen Innovationen und im Infrastrukturausbau zentrale Instrumente zur rationalen wirtschaftlichen Entwicklung der Kolonialgebiete sahen. Insbesondere eine Reihe von großangelegten Infrastrukturprojekten, die sogenannten »grand travaux publics«127 , zu denen die Einführung von Eisenbahn, Telegraph, Automobil, Telefon und auch temporalen Infrastrukturen gerechnet werden können, bildeten dabei seit dem Ende des 19. Jh. den Kern der wirtschaftlichen Entwicklungsbestreben und standen im Fokus der kolonialherrschaftlichen Akteure. Die Politik der mise en valeur und das Programm zur Errichtung der großen Infrastrukturprojekte verfolgten darüber hinaus die primäre Zielsetzung, den wirtschaftlichen Prämissen, die sich durch die exportorientierte Ausrichtung der Handelskolonie Senegal und der anderen Teilkolonien der Föderation Französisch-Westafrikas ergaben, gerecht zu werden. Dies beinhaltete in erster Linie die Errichtung einer Exportinfrastruktur, welche die Verschiffung der innerhalb der Kolonien produzierten Güter nach Frankreich gewährleisten würde. Senegal stellte dabei den Ausgangspunkt der kolonialherrschaftlichen Anstrengungen zur Umsetzung der Programme zur rationalen wirtschaftlichen Entwicklung
127
der Standardisierung war somit Voraussetzung zur Herausbildung eines funktionstüchtigen und wirkmächtigen industriellen »Raum-Zeit-Kontinuums“. (Ebd.: 37) Zur Wirkweise des maschinellen Ensemble der Eisenbahn im Allgemeinen siehe ebd.: Kap.2; zum Telegraphen als integrales Element des maschinellen Ensembles Eisenbahn siehe ebd.: 32-34. Fall 1984: 28.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
dar, die letztendlich auf eine ökonomische und gesellschaftliche Transformation aller Territorien in der Föderation Französisch-Westafrikas abzielten. Die Errichtung von Exportinfrastrukturen wurde daher nach Beginn der administrativen Erschließung der senegalesischen Kolonialgebiete zum bedeutendsten kolonialstaatlichen Bauvorhaben und entwickelte sich darüber hinaus auch zum größten Arbeitssektor: »La création d’un tel outillage a reposé avant tout sur l’Etat appelé à être le maître d’œuvre de toutes les réalisations d’intérêt général, c’est-à-dire les grands travaux : construction et aménagement des ports, création de l’infrastructure de transport (routes, chemins de fer, etc…).«128 Das wohl bei weitem spektakulärste Projekt unter den Maßnahmen zum Ausbau der Exportinfrastrukturen war die Idee zur Errichtung einer Bahnstrecke quer durch die Sahara.129 Diese Transsahara-Route wurde zwar nie fertiggestellt, die Idee hatte jedoch schon früh zu einem »trans-saharan railroad fever« geführt, welches in der Folgezeit zwar abklang, aber nie ganz verstimmte.130 Das Eisenbahnfieber beeinflusste den Eisenbahnbau in Französisch-Westafrika bis zur Fertigstellung der letzten gebauten Strecke, der Thiès-Kayes-Niger im Jahre 1923 und verdeutlicht damit auch den Stellenwert, der technologischen Neuerungen in dieser Epoche zugeschrieben wurde.131 Zu den in Senegal innerhalb der Untersuchungsperiode tatsächlich realisierten grands travaux publics gehören unzweifelhaft die 1885 eröffnete Bahnstrecke zwischen Dakar und Saint-Louis sowie die in der Kolonie verlaufenden und ab 1907 in Betrieb genommenen Streckenabschnitte der bereits erwähnten Thiès-KayesNiger-Bahnlinie.132 Ebenso ist das terrestrische Telegraphennetz anzuführen, welches im Zeitraum von 1859 bis 1905 aufgebaut wurde und sich über alle bedeutenden Wirtschaftszentren der Kolonie erstreckte.133 Wie bereits erwähnt, wurde in Ergänzung dessen im Jahre 1905 die erste Funktelegraphie-Station der Föderation
128 129
Ebd. Vgl. Jones 2002: 3-5; Conklin 1997: 44-45. Erste seriöse Untersuchungen und Diskussionen rund um die Errichtung einer Transsahara-Route fanden bereits zwischen 1879 und1881 statt: »[There] was an enthusiasm in the French metropole for a rail line across the Sahara that rekindled, in 1879, French colonial expansion in Senegal.« (Pheffer 1975: 23) Für eine genaue Darstellung des Verlaufes von Eisenbahnlinien in der Kolonie siehe Abbildung 7 im folgenden Kapitel V.1. 130 Jones 2002: 3. 131 Vgl. ebd.: 25. 132 Der Bau der Strecke Thiès-Kayes-Niger begann 1907, zentrale Streckenabschnitte konnten jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg fertiggestellt werden, die komplette Linie wurde erst am 15.08.1923 eingeweiht. (Vgl. ebd.) 133 Vgl. Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1907 : 132-156.
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Französisch-Westafrikas in Dakar installiert, dazu bestimmt, den maritimen Verkehr des Hafens einfacher abwickeln zu können. 1908 folgte eine weitere Station in Rufisque.134 Ein anderes bedeutendes Großprojekt dieser Epoche betraf den Hafen von Dakar, dieser wurde zwischen 1898 und 1903 erst zum Flottenstützpunkt ausgebaut und bis 1914 zusätzlich mit großen Handelskapazitäten ausgestattet.135 Des Weiteren fällt auch die vergleichsweise frühe Einrichtung eines telefonischen Kommunikationsnetzwerkes in den Kolonialstädten auf: »[…] les premiers réseaux téléphoniques urbains [en Afrique Occidentale] : en 1901 à Saint-Louis (47 abonnés), Dakar (42 abonnés), Rufisque (14 abonnés), puis Gorée fut relié à Dakar par un câble sous-marin de 3Km 500.«136 Weitere Infrastrukturprojekte der industrialisierten Welt wie bspw. die Errichtung von Straßenverkehrsinfrastrukturen und die korrespondierende Einführung von Automobilen waren zwar intensiv diskutierte Bestandteile der zeitgenössischen Kolonialpolitik, wurden aber letztendlich aus unterschiedlichen, zumeist wirtschaftspolitisch motivierten Gründen nur teilweise umgesetzt, vertagt oder sogar wieder ganz verworfen.137 Zwischen 1897 und 1930 gelang es der Kolonialadministration daher in der gesamten Föderation Französisch-Westafrika nur ins-
134 135 136 137
Vgl. Lemesle 2002 : 41. Vgl. Pasquier 1960 : 417; Sinou 1993 : 241; Tamsir 1989 : 37. Lemesle 2002 : 39; vgl. auch Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1907 : 102. Pheffer bietet eine gute Darstellung der kolonialherrschaftlichen Automobilpolitik. Er zeigt auf, wie sich der beginnende Automobilverkehr in der kolonialen Situation in Senegal wider die Erwartungen der kolonialherrschaftlichen Autoritäten schnell zu einer existenzbedrohenden Konkurrenz für den Eisenbahnverkehr entwickelte. Denn bessere Erreichbarkeit, größere Flexibilität, häufigere Transportmöglichkeiten, kürzere Reise- und Wartezeiten und letztendlich auch die bessere Auslastung und damit größere Wirtschaftlichkeit machten den Automobilverkehr unter gegeben Umständen zum weitaus geeigneteren Beförderungsmittel. Da der Automobilverkehr lokale, handelswirtschaftlich aktive Akteure zugleich auch in die Lage versetzte, in relativer Unabhängigkeit von den bestehenden ökonomischen Strukturen zu agieren, sahen die kolonialherrschaftlichen Akteure darin vor allem auch eine Gefährdung des französischen Handelsmonopols. Die die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie in erster Linie mit der Steigerung des Eisenbahnverkehrs verbindenden kolonialstaatlichen Autoritäten versuchten daher zunächst die Ausweitung des Transportnetzwerkes des Automobilverkehrs zu unterbinden und stuften das Automobil als anarchistisches und unkontrollierbares Transportmittel ein. Die unbestreitbaren ökonomischen und insbesondere zeitökonomischen Vorteile des Automobilverkehrs verhalfen diesem trotz heftigen kolonialadministrativen Widerstandes letztendlich dennoch zum Triumph über den Eisenbahnverkehr. (Vgl. 1975: 458-471)
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
gesamt 13623 km an Straßenverkehrswegen zu errichten, ein Großteil davon (7263 km) nicht ganzjährig befahrbar und nur 260 km teilweise gepflastert.138 Die insgesamt nur rudimentäre Implementierung von zeitspezifischen Infrastrukturen und begleitenden maschinellen Ensembles führte in Verbindung mit den Prinzipien der – präindustrielle Strukturen konservierenden – handelskolonialen Wirtschafts- und Arbeitsorganisation dazu, dass innerhalb der Kolonie bis in die 1930er Jahre hinein eine fast vollständige Abwesenheit von industrieller Fabrikarbeitsproduktion, korrespondierenden Beschäftigungsverhältnissen und Zeitordnungen zu konstatieren war.139 Die wenigen industriellen Produktionsbetriebe, die bis 1930 in Senegal errichtet wurden, konzentrierten sich in geographischer Hinsicht zudem ausschließlich auf die wirtschaftlichen Knotenpunkte der Kolonie. Neben Sine-Saloum, der wirtschaftlich bedeutendsten Region der Kolonie, zeigte sich daher insbesondere auch die unmittelbare Umgebung von Dakar, dem politischen und administrativen Zentrum der Föderation Französisch-Westafrikas, vergleichsweise früh durch die Ansiedlung einiger industrieller Fertigungsbetriebe betroffen. Im Umfeld der Hauptstadt der Föderation entwickelten sich dabei im Gegensatz zum Erdnussanbaugebiet Sine-Saloum insbesondere Fabriken und Dienstleistungsbetriebe der industrialisierten Welt, die in unterschiedlicher Weise für das Funktionieren der Föderation verantwortlich waren und dabei oftmals als Scharnier zwischen metropoler Industrie und Föderationsökonomie dienten (wie bspw. Eisenbahnunternehmen, Werften, Reparaturwerkstätten etc.).140 Die frühesten Beschreibungen von industrieller Arbeit in der Kolonie beziehen sich auf die Beschäftigungsverhältnisse in den ab Mitte der 1880er Jahre gegründeten thermischen Kraftwerken, die in den Kolonialstädten zur Elektrizitätserzeugung genutzt wurden, auf das 1885 gegründete Eisenbahnunternehmen Dakar-Saint-Louis und auf den seit 1857 bestehenden Hafen von Dakar.141 Entsprechend Pheffer können in der Frühzeit dabei jedoch nur die Eisenbahnunternehmen (Dakar-Saint-Louis und später, ab 1907, auch Thiès-Kayes-Niger) sowie der Hafen von Dakar als »the only really industrial enterprises in Senegal«142 angesehen werden. Außer in den eben genannten wirtschaftlichen Domänen finden sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges keine industriellen Unternehmen und keine
138
Vgl. Ndao 1998: 43. Für eine genaue Darstellung des Verlaufes von Straßenverkehrswegen in der Kolonie siehe Abbildung 7 im folgenden Kapitel V.1. 139 Vgl. Pasquier 1960: 245; Cruise O’Brien 1972: 49; Adam/Adam/Ba 1977: 104; Sinou 1993: 195. 140 Vgl. Diouf 2001: 198. Zu einer erweiterten Industrialisierung der Region Dakar kam es letztendlich erst in den 1930er Jahren. (Vgl. Pasquier 1960: 245; Cruise O’Brien 1972: 49; Adam/Adam/Ba 1977: 104; Sinou 1993: 195) 141 Vgl. Mbodj 1978: 176; Pheffer 1975: 314. 142 Pheffer 1975: 314.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Fabrikarbeit industrialisierten Maßstabs im Umfeld der Kolonialstädte.143 Anders als bei Urbanisierungsprozessen in Europa waren Städte im Kontext der kolonialstaatlichen Stadtentwicklung insofern keine Zentren von Warenproduktion und Herstellungsprozessen.144 Im Gegensatz zum Umfeld der Kolonialstädte setzten die ersten Versuche zur Implementierung industrieller Unternehmen und Arbeitsrhythmen in den ländlichen Regionen erst mit leichter Verspätung ein. Die Entwicklungen konzentrierten sich dabei, wie erwähnt, vor allem auf die Brennpunkte der kolonialwirtschaftlichen Produktion wie den Verwaltungsbezirk Sine-Saloum, Zentrum des Erdnussanbaus innerhalb der Kolonie. In Lyndiane, nicht weit vom Verwaltungszentrum des Bezirks in Kaolack entfernt, errichtete das Unternehmen De Channaud et Cie 1913 eine Rindfleischkonservenfabrik, die jedoch binnen kurzem zugrunde ging und bereits 1919 wieder geschlossen wurde. 1914 wurde, ebenfalls in Lyndiane, eine Saline gegründet, die bis in die heutige Zeit in Betrieb ist. In Kaolack wurde 1920 durch das Unternehmen Gaudart auch die erste Ölmühle Westafrikas eröffnet, die »Société des Huileries et Rizières de l’Ouest africain (S.H.R.O.A.)«.145 Trotz der grundlegenden Abneigung der Kolonialadministration gegenüber der Etablierung von weiterverarbeitenden Industrien in der Kolonie wurden im Zeitraum von 1920 bis 1932 insgesamt fünf Ölmühlen errichtet, die zusammengenommen 160 Europäer und mehr als 1000 Einheimische beschäftigten.146 Außer Erdnussöl finden sich bis in die 1950er Jahre hinein jedoch keine anderen weiterverarbeiteten Güter, die eine größere Bedeutung für die senegalesische Exportökonomie gehabt hatten. Auch die intensivierte Ausfuhr von Erdnussöl begann darüber hinaus erst nach 1931 einzusetzen.147 Dennoch lassen sich spätestens ab 1925 weitere industrielle Unternehmen in Senegal verorten, wie bspw. die Société des Mines de Falémé (Eisenminen), die Compagnie des Sisaleries et Carburants Africaines (Sisalplantagen und Brauerei) und die Société des Plantations de la Haute-Casamance (Baumwollund Sisalplantagen).148 Hinsichtlich der geographischen Verteilung und des Vorkommens von Industrie zeigt sich des Weiteren, dass im Zeitraum von 1900 bis 1940 70 % aller industrieller Investitionen, die in der Föderation Französisch-Westafrikas getätigt wurden, auf die Teilkolonie Senegal entfielen. Im selben Zeitraum kamen der Kolonie Elfenbeinküste im Vergleich dazu bspw. nur 16 % der Investitionen zugute, der Gesamtheit der restlichen Teilkolonien der Föderation sogar nur 14 %: »Pour la même période, les investissements au Sénégal représentent 54 % des investissements indus143 144 145 146 147 148
Vgl. Mbodj 1978: 176; Pheffer 1975: 314. Vgl. Sinou 1993: 347. Ba 1993: 10; vgl. auch Mbodj 1978: 177. Vgl. Cruise O’Brien 1972: 49. Vgl. Mbodj 1978: 177-178. Vgl. Pheffer 1975: 298.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
triels de toute l’Afrique noire française (AOF, AEF, Togo, Cameroun).«149 Trotz der angeführten Entwicklungen zur Industrialisierung und den vergleichsweise hohen finanziellen Investitionen, die der Kolonie Senegal insgesamt zugeführt wurden, reichten die Maßnahmen bei weitem nicht aus, um eine umfassendere Industrialisierung Senegals zu gewährleisten. Die Ausrichtung Senegals als Handelskolonie ging insofern auch mit einer weitgehenden Negierung und Verlangsamung der industriellen Entwicklung in der Kolonie einher und gliedert sich darüber hinaus in die Schaffung einer ökonomischen Abhängigkeitsbeziehung zwischen dem industrialisierten imperialen Machtzentrum in Frankreich und einer nicht-industrialisierten, untergeordneten Peripherie in den westafrikanischen Kolonialgebieten. Wie erwähnt, leitete sich der weitgehende Ausschluss der auf Ressourcen- und Rohstoffproduktion reduzierten Überseeterritorien aus dem Prozess der Industrialisierung dabei aus einer protektionistischen Haltung gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung der weiterverarbeitenden Industrien im kolonialen Mutterland ab.150 Die möglichen negativen Konsequenzen, die sich infolge einer fortschreitenden Industrialisierung der Kolonialgebiete für das französische Heimatland einstellen könnten, wurden in einem Tagungsband zur Conférence Economique de la France Métropolitaine et d’Outre-Mer im Jahre 1935 exemplarisch skizziert: »[C]réer dans les colonies des industries transformatrices de matières premières, qui viendraient concurrencer les industries françaises acheteuses de ces mêmes matières, des initiatives de ce genre, même si elles donnaient pendant peu de temps l’illusion de la prospérité, seraient des germes d’infection ou de mort pour la vie de l’Empire.«151 Die durch den imperialen Wirtschaftskreislauf begründete Polarität fand durch die einseitige handelswirtschaftliche Ausrichtung der Kolonie seine Fortsetzung im kolonialstaatlichen Wirtschaftskreislauf und führte dazu, dass es in ökonomischer Hinsicht zu keiner Angleichung der Verhältnisse zwischen Metropole und Kolonie kam. Die im Rahmen der Ausweitung der handelskolonialen Wirtschaftsstrukturen in Senegal verwirklichte Kombination aus ökonomischem Wachstum und fehlendem materiellen Fortschritt begründete demzufolge keine rationelle wirtschaftliche Fortentwicklung der Kolonialgebiete im Sinne der kolonialstaatlichen Entwicklungsprogramme, sondern resultierte vielmehr in einem ökonomischen Modell, welches vermittels der Phrase »growth without development« charakterisiert werden kann.152
149 150 151 152
Suret-Canale (1969) zit. in Ba 1993: 14. Vgl. Lakroum 1982: 30; Ba 1993: 14. Serruys (1935) zit. in Mbodj 1978 : 176, Hervorhebungen im Original. Searing 1985: 280.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Der starke Kontrast zwischen den zeitspezifischen Ordnungspolitiken in den wenigen ansatzweise industrialisierten, exportwirtschaftlich strukturierten Domänen und der Masse der Zonen, in denen die selbstorganisierte lokale landwirtschaftliche Rohstoffproduktion dominierte, bestimmte auch die weitgehend ausbleibende Entwicklung von industrieller Arbeitszeitdisziplin in der Kolonie auf maßgebliche Weise. Denn die wenigen, über das gesamte Territorium der Kolonie verstreuten, industriellen Fertigungsbetriebe konnten immer nur eine sehr geringe Anzahl an Arbeitern beschäftigen, erreichten die Masse der einheimischen Arbeiterschaft jedoch nicht. Die Verlangsamung der industriellen Entwicklung behinderte somit auch die flächendeckende Verbreitung und Aneignung von industrieller Arbeitszeitdisziplin. Für die Internalisierung von industrieller Arbeitszeitdisziplin und die Entwicklung einer industriellen Arbeitsmentalität innerhalb der lokalen Arbeiterschaft fehlten insofern die grundlegendsten Voraussetzungen. Neben entsprechenden Beschäftigungsverhältnissen, die sich auf diese Form der arbeitszeitlichen Normierung beriefen, zählten dazu letztendlich auch nahezu alle anderen industriellen Ordnungsstrukturen, Anwendungsbereiche und Handlungsgesellschaften, die für eine tiefgreifende Internalisierung der zeitspezifischen Handlungspraxen industrialisierter Arbeitswelten erforderlich gewesen wären. Die Entwicklung eines »industrial labor consciousness« in der Kolonie sollte insofern noch einige Jahre auf sich warten lassen.153 Die Entwicklungen zur Internalisierung industrieller Zeitnormen und die zeitspezifischen Dimensionen der Entstehung einer industriellen Arbeitsmentalität lassen sich unter gegebenen Umständen jedoch grundsätzlich nur schwer klassifizieren. Folgt man diesbezüglich den Ausführungen Pheffers, welcher die Epoche vor 1933 grundsätzlich als »an era of labor ›pre-history’« kennzeichnet und in der danach einsetzenden Ausweitung des Gewerkschaftswesens einen wichtigen Indikator für das Vorhandensein von industrieller Zeit- und Arbeitsmentalität erkennt, dann zeigten sich spätestens ab Mitte der 1930er Jahre, als die Gewerkschaften begannen, zu einer wirkmächtigen Instanz heranzuwachsen, erste Anzeichen für einen profunden Wandel in der Mentalität der Masse der einheimischen Arbeiterschaft: »An industrial labor consciousness and solidarity among Africans in Senegal, at least as expressible specifically in French terms, did not emerge clearly until the great railroad strike of 1947-1948, and to a much lesser extent in the strike of railroad day laborers in 1938.«154 153 154
Pheffer 1975: 238. Ebd. Trotz der vergleichsweise spät einsetzenden Entstehung und Ausweitung des Gewerkschaftswesens finden sich auch schon vor den 1930er Jahren erste Anzeichen für eine Veränderung der einheimischen Perspektiven auf Arbeit und Arbeitszeiten. Kämpfe um die Auslegung der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung sind bereits seit 1906 dokumentiert (vgl.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
3. Räumliche und zeitliche Strukturen der gesellschaftlichen Entwicklungspolitik Das auf zentralistische und diffusionistische Ordnungsprinzipien gegründete kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge und die damit einhergehende Strukturierung von Territorialorganisation, Siedlungs- und Wirtschaftsgeographie korrespondierten darüber hinaus auch mit dem Gefüge unterschiedlicher politischer, rechtlicher und kultureller Strukturen, die durch die Anwendung der entwicklungspolitischen Doktrinen von Assimilation und Assoziation in die kolonialstaatliche Organisation eingeschrieben wurden. Der durch diese beiden Doktrinen etablierte strukturelle Kontrast verstärkte die bereits geschaffenen räumlichen und zeitlichen Differenzierungen durch eine zusätzliche, gesellschaftspolitisch fundierte Achse der Polarisierung, die zwischen den städtischen Räumen der prinzipiellen Kolonialstädte als privilegierten Foyers für die zivilisatorischen Anstrengungen der Kolonialherrschaft und den ländlichen Räumen, die in zivilisatorischer Hinsicht weitgehend sich selbst überlassen wurden, unterschied. Ein Kontrast, der sich ab 1882 durch die rechtliche Festschreibung der Unterscheidung zwischen den sogenannten ›assimilierten Direktverwaltungsgebieten‹ und ›assoziierten Protektoratsgebieten‹ manifestierte. Die Doktrinen der Assimilation und der Assoziation können dabei in erster Linie als unterschiedliche Interpretationen der Ideologie der Zivilisierungsmission angesehen werden, welche die als frühe kolonialstaatliche Entwicklungsinitiative operierende Idee des Diffusionismus auf der Ebene kulturtheoretischer Prinzipien zur Verbreitung europäischer Werte ergänzten. Sie dienten in unterschiedlichen Phasen des französischen Kolonialismus als zentrale kolonialstaatliche Ordnungspolitiken, vermittels derer die Entwicklung der Kolonialterritorien realisiert werden sollte und korrespondierten auch mit der Herausbildung der französischen Variante von direkter und indirekter Verwaltungsorganisation bzw. direct rule und indirect rule:
Thiam 1993: 67-72; Ba 1993: 2-3) und zu ersten Streikbewegungen kam es schon ab 1914. (Vgl. Thiam 1993: 84) Einer der frühesten Arbeiterstreiks wurde von lokalen Arbeitskräften, die als »maraîchers, poissonniers et vendeurs“ in Dakar arbeiteten, vom 21. bis 25. Mai 1914 abgehalten. (Ebd. 87) Andere frühe Arbeiterstreiks wurden u.a. von den Arbeitern und Kohlehändlern des italienischen Unternehmens Le Sénégal (10. Dezember 1917), von den Angestellten des Unternehmens Bouquereau et Leblanc (Ende 1917) und von den Maurern in Rufisque (20. Februar 1918) organisiert. (Vgl. ebd.: 90-112) Arbeitskämpfe in der Kolonie erfassten vor den 1930er Jahren jedoch nur die privilegiertesten Gruppierungen der Kolonialgesellschaft, wie bspw. europäische Angestellte, lokale Arbeitskräfte im urbanen Milieu und die mit französischen Bürgerrechten ausgestatteten einheimischen Bewohner der Kolonialstädte, welche sich für eine Angleichung der Arbeitsrechtsprivilegien an diejenigen im französischen Mutterland einsetzten. (Vgl. ebd.: 67-72; Ba 1993: 2-3)
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Weltzeit im Kolonialstaat
»La France essaya deux formes d’administration coloniale : une forme directe et une forme indirecte; la première reposait sur le principe de l’assimilation et la seconde sur le principe de l’association.«155 Die Doktrin der Assimilation stand dabei für die Idee, dass die unterworfenen und als primitiv wahrgenommenen afrikanischen Gesellschaften durch französische Hilfestellungen in jederlei Hinsicht an den ›zivilisatorischen Stand‹ Frankreichs angeglichen werden konnten.156 Die Doktrin der Assoziation verfolgte hingegen nur eine partielle Akkulturation der lokalen Gesellschaften, bei der diese einen Teil ihrer kulturellen Eigenständigkeit bewahren sollten.157 Assimilation wie auch Assoziation wirkten sich dabei letztendlich auf alle Ebenen des gesellschaftlichen Lebens in der Kolonie aus. Entsprechend Hesseling können die bedeutendsten Wirkungsbereiche der beiden Doktrinen jedoch in ihren politischen, bürgerrechtlichen und kulturellen Dimensionen verortet werden.158 Zeitspezifische Aspekte der Akkulturation stellten keinen expliziten inhaltlichen Schwerpunkt im Programm der beiden Doktrinen dar. Als axiomatische Faktoren im umfassenden Projekt zur sozialen Disziplinierung, das die Zivilisierungsmission letztendlich darstellte und als zentrale Leitlinien für das kolonialherrschaftliche Wirken in Übersee nahmen sie jedoch eine konstitutive Rolle ein, die die Interpretation und die praktische Umsetzung der Ordnungspolitiken maßgeblich mitbestimmte.159 Die im Zusammenhang mit den Inhalten der Zivilisierungsmission entwickelten zeitspezifischen Grundlagen der Kolonialideologie und die daraus abgeleiteten Ideen zur zeitspezifischen Akkulturation der lokalen Bevölkerung fanden daher primär über diese Ordnungspolitiken Eingang in die kolonialstaatliche Praxis.
155 156 157 158 159
Hesseling 1985: 129. Vgl. ebd.: 127, 129. Vgl. Manchuelle 1995: 334. Vgl. Hesseling 1985: 129. Zeitspezifische Elemente spiegeln sich dabei auf ähnliche Art und Weise in den Konzeptionen der beiden Ordnungspolitiken wie raumbezogene und dienen als Faktoren zur grundlegenden Klassifikation und Kategorisierung der vorgefundenen Phänomene. Zeitliches und räumliches Verständnis bzw. die Definitionen und Ordnungen, die damit assoziiert wurden und zur Organisation des Kolonialstaates genutzt werden sollten, standen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis zur konzeptionellen Ebene der jeweils zur Anwendung kommenden entwicklungspolitischen Doktrin. Die Politiken von Assimilation und Assoziation definierten insofern ein jeweils spezifisches Verständnis von kolonialen Räumen und Zeiten und kreierten entsprechende Modelle kolonialstaatlicher Strukturierung und Organisation, die wiederum auf das Verständnis der konzeptionellen Grundlagen der beiden Doktrinen zurückwirkten.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
3.1. Die Politik der Assimilation und zivilrechtliche Zeitstatuten Die Doktrin der Assimilation wurde als genuine Auslegung des Konzeptes der mission civilisatrice in ihrer sozusagen klassischen Form bereits während der Französischen Revolution von 1789 erstmals formuliert: »The Rights of Man were held to be applicable everywhere, since it was thought that if men were given the opportunity they would become civilized, rational, and free. The implicit assumption here was that non-European peoples (especially Africans) could find freedom, civilization and dignity only by accepting European culture. The Revolutionary fathers agreed with Helvétius that all humans were essentially equal but that education was needed to correct the inequalities caused by environmental differences. ›Thus the French, when confronted with people they considered barbarians, believed it their mission to convert them into Frenchmen […]‹.«160 Im Sinne der hier dargelegten humanistischen Gedankengänge hätten die einheimischen Bewohner der beiden bereits zu dieser Zeit existierenden senegalesischen Enklaven Saint-Louis und Gorée schon infolge des Gesetzes zur Gründung der Ersten Französischen Republik vom 4. April 1792 als vollwertige französische Staatsbürger angesehen werden müssen, ausgestattet mit den entsprechenden zivil- und privatrechtlichen Statuten. Die im Zuge der französischen Revolution erlassenen Gesetze führten zunächst jedoch zu keiner Veränderung des rechtlichen Status der Bewohner der französischen Enklaven: »Other colonies received deputies, whereas Senegal did not; and other colonies had legal municipal institutions, whereas the councils in Saint-Louis and Gorée were only de facto bodies. Nor did unassimilated Africans in the Communes qualify as French citizens, even though citizenship was theoretically available to all free men on French soil.«161 Die demokratisch fundierte Assimilationspolitik der Französischen Revolution und das Überdauern der Ideale der Revolution in den darauffolgenden Epochen bildeten dennoch die Grundlage für die Entwicklung von politischen Institutionen in den Kolonialgebieten.162 Entsprechend gelang es der die damalige Kolonialgesellschaft dominierenden kreolischen Elite am 5. November 1830, die Verabschiedung eines lokalen Gesetzes durchzusetzen, welches die Territorien der seit langem bestehenden Enklaven Saint-Louis und Gorée zu integralen Bestandteilen des fran-
160 Johnson 1971: 75; siehe auch Coquery-Vidrovitch 2001: 287; Hesseling 1985: 127. 161 Vgl. Johnson 1971: 76. 162 Vgl. ebd.: 75.
155
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Weltzeit im Kolonialstaat
zösischen Mutterlandes erklärte163 und auch ihren einheimischen Bewohnern die Inanspruchnahme der französischen Bürgerrechte garantierte, die in den zivilund privatrechtlichen Statuten des französischen code civil verbürgt worden waren: »Tout individu né libre et habitant le Sénégal et ses dépendances jouira, dans la colonie, des droits accordés par le code civil aux citoyens français.«164 Die im Rahmen des code civil gewährten bürgerlichen Rechte inkorporierten in zeitspezifischer Hinsicht vor allem Statuten, welche das Personenstandwesen betrafen und die zeitliche Organisation prinzipieller Lebensabschnittszyklen wie Geburt, Reife, Heirat und Tod reglementierten. Zu diesem Zwecke wurden zeitliche Richtlinien und Normen formuliert, welche die Ausübung von Rechten und Pflichten in diesen Bereichen systematisierten und damit verbundene gesellschaftliche Interaktionen einem standardisierten Zeit- oder Ablaufplan unterworfen. Darunter generelle Fristen für das Einreichen von Unterlagen und Dokumenten, für die Bewilligung rechtlicher Ansprüche (bspw. in Hinsicht auf Abstammung, Adoption, Vormundschaft, Scheidung und Erbschaft) oder für das Einbringen zivilrechtlicher Klagen, aber auch zahlreiche zeitliche Bestimmungen zu Vertragslaufzeiten zwischen Zivilpersonen (bspw. Heiratsverträge, Mietverträge und Verkaufsverträge) und Regelungen für den Fall einer temporären oder permanenten Abwesenheit von Trägern bestimmter rechtlicher Ansprüche oder Verpflichtungen.165 Die im code civil verbürgten zeitspezifischen Reglementierungen spiegelten dabei die kulturellen Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche Ordnung der Zeit im französischen Mutterland, welche auf die »Desakralisierung von Raum und Zeit«166 abzielten und sich, neben einem wachsenden Anspruch zur standardisierten Erfassung und Bürokratisierung, insofern vor allem durch den Drang zur Säkularisierung der bis dahin in religiösen Zeitdimensionen begründeten Lebensabschnittszyklen und der dazugehörigen »rites de passage«167 auszeichneten.168 Neben zeitspezifischen Rechten und Pflichten beinhalteten die im Zuge des Gesetzes von 1830 gewährten bürgerlichen Statuten auch Wahlrechtsprivilegien, diese waren aufgrund der Ungleichheit des zeitgenössischen Zensuswahlrechts und im Angesicht der weitgehenden Abwesenheit von repräsentativen politischen Institutionen jedoch zunächst nur von geringer Tragweite.169 Ein Sachverhalt, der auch die Ausübung und Inanspruchnahme der anderen zeitspezifischen Rechte betraf, da es in den senegalesischen Überseegebieten zu dieser Zeit nicht nur an reprä-
163 164 165 166 167 168 169
Vgl. ebd.: 79; Loimeier 2001: 58. Coquery-Vidrovitch 2001: 288; vgl. Loimeier 2001: 75. Vgl. Code Civil 1804, Buch 1: Art. 7-515,8. Corbin 1995: 47. Ebd.: 21, Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd. Vgl. Coquery-Vidrovitch 2001: 288.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
sentativen politischen Institutionen mangelte, sondern darüber hinaus auch an korrespondierenden zivilgesellschaftlichen Infrastrukturen und Institutionen.170 Die nur für die Anwendung im lokalen Bereich der damaligen senegalesischen Kolonialterritorien konzipierte Regelung aus dem Jahre 1830 wurde infolge eines metropolen Gesetzes vom 24. April 1833 auch auf alle anderen französischen Überseebesitzungen übertragen : »Toute [personne] née [libre] ou ayant acquis légalement la liberté jouit, dans les colonies françaises, 1° des droits civils, 2° des droits politiques sous les conditions prescrites par les lois.«171 Die kommunalen und politischen Mitbestimmungsrechte der Bewohner der senegalesischen Überseeterritorien der Franzosen wurden im Jahre 1840 durch die Etablierung des mit beratenden Funktionen betrauten und sich aus einer Reihe lokaler Würdenträger konstituierenden Conseil Général noch weiter vergrößert.172 Dieses Gremium der Bürgerschaft stand in Opposition zu der aus Repräsentanten der Verwaltung gebildeten Kommission des Conseil d’Administration, was letztendlich einen Interessenkonflikt begründete, der die Entwicklung der Kommunen bis zur Unabhängigkeit prägen sollte: »Die Bürgerschaft versuchte, ihre Rechte und Selbstverwaltungsbefugnisse zu behaupten und auszudehnen, die französische Verwaltung hingegen strebte danach, die Rechte der Bürgerschaft zu beschränken.«173 Entscheidender Meilenstein für die Entwicklung eines französischen Bürgertums und im Zuge dessen auch einer bürgerlichen Zeitordnung in den senegalesischen Überseegebieten war jedoch das im Kontext der Revolution von 1848 und der damit korrespondieren Gründung der Zweiten Französischen Republik erlassene Gesetz vom 5. Mai 1848. Dieses konsolidierte die vorangegangenen Entwicklungen und etablierte das Recht auf die demokratische Wahl und Entsendung eines Abgeordneten in die französische Nationalversammlung in allen französischen Kolonial170 Der erste Gerichtshof der senegalesischen Kolonialterritorien wurde erst zwischen 1844 und 1846 in Saint-Louis eröffnet. (Vgl. Légier 1968: 454ff.) Légier verweist in dieser Hinsicht jedoch auf die Desorganisation und Ineffizienz der frühen administrativen und juristischen Institutionen der Überseeterritorien: »La gestion municipale accuse d’innombrables défaillances.« (Ebd.: 454) Neben einer uneinheitlichen Führung der administrativen Akten (Personenstandwesen etc.), Kompetenzüberschreitungen der Kommunalräte und zahlreichen Berechnungsfehlern, die der Kommunalverwaltung den Ruf der finanziellen Fahrlässigkeit einbrachten, zeichnete sich insbesondere das dortige Personal durch mangelhafte Qualifikationen und zahlreiche Fehlzeiten aus. (Vgl.: 454-455) Abberufungen von Beamten, ja sogar die Auflösung des gesamten kommunalen Personalstabs, stellten über die frühe Kolonialperiode hinweg bis ins 20. Jh. hinein eine zentrale Problematik dar : »En 1880 comme en 1937, la dissolution apparaît un recours normal au déséquilibre des communes sénégalaises“. (Ebd. : 456) 171 Coquery-Vidrovitch 2001: 288; vgl. auch Hesseling 1985: 129. 172 Vgl. Loimeier 2001: 75. 173 Ebd.: 75-76.
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Weltzeit im Kolonialstaat
territorien.174 Nicht nur, dass die senegalesische Wählerschaft Bürgerrechte und Wahlrechtsprivilegien in größerem Umfang ausüben konnte, von noch viel weiter reichender Konsequenz war die Tatsache, dass die einheimischen Bewohner der Enklaven für die Inanspruchnahme der gewährten Privilegien nun nicht mehr nachweisen mussten, »qu’ils étaient naturalisés Français«175 , sondern nur dazu aufgefordert waren, zu dokumentieren, dass sie seit mindestens fünf Jahren kontinuierlich in einer der beiden Kolonialstädte ansässig waren: »Senegal was included [in the prescriptions of the law of 1848], and for the first time a general election was called in the colony; all inhabitants of Gorée and SaintLouis could qualify to vote by proving a residence of five years or longer. […] [T]he election of 1848 was the first time the general populace actively engaged in political contest.«176 Die nun nicht mehr nur an eine ›rassische‹ oder nationalkulturelle Zugehörigkeit gebundene, sondern vielmehr durch die ›raum-zeitlichen Kriterien‹ von Residenz und Aufenthaltsdauer bestimmte Möglichkeit zur Erlangung des französischen Bürgerstatus erweiterte den Kreis der Inhaber französischer Bürgerrechte schlagartig und inkorporierte zudem viele Individuen, die kulturelle und zeitliche Orientierungen und Handlungspraxen verfolgten, die nur wenig mit denen im französischen Mutterland gemeinsam hatten. Aufgrund der dadurch begründeten offensichtlichen Schwierigkeiten der Gleichstellung der lokalen Bürgerschaft und entgegen der sich im Gesetzeswerk eigentlich äußernden Tendenz zur Vereinheitlichung wurde im Zuge des gesetzgeberischen Prozesses daher auch eine einzigartige Besonderheit in die lokale Legislative eingeschrieben, die in der Folgezeit zu einer weiteren Differenzierung und Verkomplizierung der rechtlichen Situation beitrug. Denn im Zuge des Gesetzes von 1848 wurde allen Bewohnern der Enklaven, die Bürgerrechtsansprüche anmelden konnten und zugleich auch der muslimischen Glaubenslehre folgten, gewährt, sich in zivil- und privatrechtlicher Hinsicht, d.h. insbesondere der rechtlichen Domäne des Personenstandwesens, auf die Statuten islamischer Rechtsprechung zu berufen.177 Muslimische Bürger konnte sich infolgedessen bei einer Reihe von zivilrechtlichen Auseinandersetzungen wie bspw. Ehe-, Besitz- oder Erbschaftsstreitigkeiten, zur Klärung an ein muslimisches Gerichtstribunal wenden, aber auch die französische Gerichtsbarkeit bemühen.178 174 175 176 177 178
Vgl. Coquery-Vidrovitch 2001: 288; Johnson 1971: 26; Hesseling 1985: 130. Coquery-Vidrovitch 2001: 289; siehe auch Johnson 1971: 80. Johnson 1971: 26. Vgl. Coquery-Vidrovitch 2001: 289; Loimeier 2001: 84-88. Letztendlich erhielt die muslimische Stadtbevölkerung jedoch erst 1923 das uneingeschränkte Recht, sich in allen zivilen Rechtsfragen, die die Bereiche Heirats-, Erbschafts- und Schenkungsrecht umfassten, an muslimische Gerichtshöfe zu wenden. (Vgl. Coquery-Vidrovitch 2001: 289)
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
Die in der Enklave Saint-Louis spätestens seit Beginn des 19. Jh. die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung stellende muslimische Glaubensgemeinschaft179 erlangte durch das Gesetz von 1848 letztendlich einen Grad der offiziellen Anerkennung, der die Einrichtung eigener zivilgesellschaftlicher Institutionen unter kolonialherrschaftlicher Ägide erlaubte und mit einer weitgehenden Toleranz und Berücksichtigung muslimischen Glaubens und muslimischer Lebensweise einherging. In Vorausgriff auf diese Entwicklungen hatte die muslimische Gemeinde in Saint-Louis bspw. bereits 1847 erwirken können, dass unter Mitwirkung der Kolonialherrschaft eine Moschee errichtet wurde, nur wenige Jahre nachdem dort 1828 die erste Kirche errichtet worden war.180 Die offizielle Etablierung der meisten anderen zivilgesellschaftlichen Institutionen der muslimischen Glaubensgemeinschaften in den Enklaven ließ jedoch, je nach Lokalität, noch einige Zeit auf sich warten. Zentrale Institutionen wie das muslimische Bildungswesen stellten insofern zwar einen omnipräsenten Bestandteil der städtischen muslimischen Gemeinschaften dar, verharrten im Gros jedoch bis ins beginnende 20. Jh. hinein auf informeller Ebene. Erst 1908 wurde bspw. die erste unter Obhut der französischen Kolonialherrschaft betriebene islamische Schule der Kolonie, die als weiterführende islamische Schule konzipierte Medersa von Saint-Louis, eröffnet.181 Die für die muslimische Zivilgesellschaft bedeutsame islamische Gerichtsbarkeit existierte zunächst auch auf informeller Ebene, wurde in Saint-Louis dann jedoch bereits 1857 auf Anweisung von Gouverneur Faidherbe in Form eines offiziellen Gerichtshofes neu konstituiert und legalisiert.182 Die Berücksichtigung muslimischer Gerichtsbarkeit in den Kolonialstädten konnte sich in der Folge, trotz starker Gegenwehr seitens der Kolonialherrschaft, auf Dauer etablieren und führte zwischen 1905 und 1907 auch in Dakar und Rufisque zur Errichtung eigenständiger muslimischer Gerichtshöfe.183 In zeitspezifischer Hinsicht war es muslimischen Bürgern dabei freigestellt, sich entweder den im code civil verbürgten Zeitnormen und Reglementierungen des Zivilrechts zu unterwerfen oder auf die diesbezüglichen muslimischen Statuten und Prozedere zu rekurrieren. Explizit zeitspezifische Reglementierungen und Gesetze fanden neben denjenigen, die in der Regulierung der zivil- und privatrechtlichen Domäne impliziert waren, im Kontext der 1848 realisierten Angleichung an die metropole Rechtsprechung jedoch keine weitere Berücksichtigung. Bedeutende zeitspezifische Geset179
Vgl. Johnson 1971: 83, 89. Entsprechend den Schätzungen von P. Marty waren von den 1,3 Millionen Einwohnern der Kolonie im Jahre 1917 bereits 850.000 muslimischen Glaubens, d.h. 65,4 %. (Vgl. Marty (1917) zit. in Fall 2011: 52) 180 Vgl. Coquery-Vidrovitch 2001: 288-289. 181 Vgl. ebd. 182 Vgl. ebd.: 289; Loimeier 2001: 88; Johnson 1971: 83, 89. 183 Vgl. Johnson 1971: 83.
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zeswerke wie bspw. das »Gesetz vom 21. März 1841, das den Arbeitstag der Kinder auf acht Stunden begrenzt und ihnen die Nachtarbeit verbietet« oder die »Verordnung vom 2. März 1848, die den Fabrikarbeitstag in Paris auf zehn und in der Provinz auf elf Stunden beschränkt[e]«184 fanden daher keinen Eingang in das zur Organisation der senegalesischen Überseeterritorien konzipierte legislative Konglomerat. Die 1848 realisierte Übernahme der zivil- und privatrechtlichen Statuten der Metropole, die dort, wie erläutert, vor allem auch als Bestandteile im Prozess zur ›Desakralisierung von Raum und Zeit‹ dienten, gab der Entwicklung des Gemeinwesens und der gesellschaftlichen Organisation der Zeit in Saint-Louis und Gorée jedoch prinzipiell dieselbe Richtung vor wie auch den Kommunen in Frankreich. Wird zudem die »unendliche Vielfalt« an zeitlichen Rhythmen bzw. das »Zeitmosaik«185 , welches die überwiegende Mehrheit der Kommunen im französischen Mutterland noch in dieser Epoche prägte, hinzugezogen, so ließen sich hinsichtlich des Grades an zeitlicher Standardisierung und Präzision oder aber auch des Vorhandenseins von uhrzeitspezifischen Handlungsgemeinschaften und Zeitordnungen gegen Mitte des 19. Jh. kaum Unterschiede zu den in den senegalesischen Überseeterritorien gepflegten Zeitpraxen konstatieren.
3.2. Die Politik der Assimilation und kommunalrechtliche Ordnungspolitiken der Zeit Wahlrechtsprivilegien und politische Mitbestimmungsrechte nahmen für die von den politischen Prozessen in der Metropole abhängigen Protagonisten in den senegalesischen Überseegebieten dieser Epoche gegenüber bspw. zeitspezifischen Ansprüchen und Privilegien einen grundsätzlich weitaus bedeutenderen Stellenwert ein. Die der einheimischen Stadtbevölkerung gewährten Wahlrechtsprivilegien wurden von den kolonialherrschaftlichen Autoritäten entgegen den Idealen der Assimilation von Beginn an auch als Gefährdung bzw. als Anachronismus angesehen, da sie der mehrheitlich nicht-französischen urbanen Bevölkerung eine unter gegebenen Umständen nicht zu unterschätzende Möglichkeit zur Beeinflussung der kolonialen Situation offerierte. Die Wahlrechtsprivilegien und vor allem die Frage danach, welchen Mitgliedern der einheimischen städtischen Gesellschaft diese überhaupt zugesprochen werden sollten, stellten daher in der Periode zwischen 1848 und 1912 eine der am bittersten umkämpften Arenen der senegalesischen Kolonialpolitik dar:186 184 Corbin 1993: 14. 185 Ebd.: 9; siehe auch Weber 1976: 108-110, 425-427, 479-484. 186 Die zahlreichen Modifikationen der bürgerrechtlichen Legislative in Verbindung mit den sich über die Zeit wandelnden Interpretationen der territorialen Ausdehnung des kommunalen Raumes zwischen 1848 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges führten dazu, dass ein legiti-
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»From 1848 to 1912, courts, decrees, and orders continually sought to define who among the African urban class would be eligible to vote in municipal, General Council and parliamentary elections.«187 Die seit 1848 unternommenen Versuche zur Zurücknahme der der einheimischen Bevölkerung der Kolonialstädte gewährten bürgerrechtlichen Privilegien erreichten infolge eines Gesetzes vom 16. August 1912 ihren Höhepunkt.188 Vermittels dieses Gesetzeswerkes war es der Kolonialadministration letztendlich gelungen, die Privilegien der einheimischen Stadtbevölkerung auf ein Minimum zu reduzieren. Einheimische Bürger konnten infolgedessen nur noch auf die französische oder muslimische Gerichtbarkeit zurückgreifen, wenn sie sich auch tatsächlich innerhalb der als Direktverwaltungsgebiete ausgeschriebenen kommunalen Räume befanden, außerhalb jedoch unterlagen sie den in den ländlichen Protektoratsgebieten gepflegten Praxen der Rechtsprechung: »The minute an originaire [d.h. ein bürgerrechtlich privilegierter Einheimischer] stepped outside the Four Communes, he would have no recourse to French or Muslim courts, but would be liable to summary administrative justice like all other French subjects in the Protectorate: he could be detained without a charge, tried without a lawyer, and sentenced to prison with little hope of appeal; he would be subject to the body of colonial law called the indigénat.«189 Die aus Sicht der betroffenen Bürgerschaft unhaltbare Einschränkung ihrer Rechte führte in den darauffolgenden Jahren zu starker Kritik und auch zahlreichen rechtlichen Problematiken. Dies änderte sich erst wieder 1916, als es dem ersten schwarzen Abgeordneten der Kolonie, Blaise Diagne, gelang, die der einheimischen Bürgerschaft eigentlich seit langem zugesprochenen Wahlrechtsprivilegien zu konsolidieren und legislativ festzuschreiben, dass grundsätzlich allen in den
mer Nachweis der Rechtmäßigkeit von bürgerrechtlichen Ansprüchen praktisch nicht mehr zu gewährleisten war. Da die Inanspruchnahme von bürgerrechtlichen Privilegien für Einheimische, wie erwähnt, aus einem räumlich-verorteten rechtlichen Anspruch erwuchs, die Ausmaße dieser Räumlichkeiten jedoch mehr oder weniger kontinuierlicher Veränderung unterworfen waren, gestaltete es sich für die kolonialen Autoritäten dementsprechend schwer, festzustellen, ob ein bestimmtes Individuum nun Bürgerrechte zuerkannt bekommen sollte oder nicht. (Vgl. Searing 1985: 266) Die Situation wurde dadurch weiter verkompliziert, dass mit der Zeit immer mehr Senegalesen von den bürgerrechtlichen Privilegien profitieren wollten und daher versuchten, ihre wirklichen Geburtsorte zu verschleiern, um sich als gebürtige Bewohner der Kommunen auszugeben zu können. (Vgl. ferner Sinou 1993: 177) 187 Johnson 1971: 85. 188 Vgl. ebd.: 84. 189 Ebd.: 84, Hervorhebungen im Original, siehe auch 138; Loimeier 2001: 80. Zum Regime des indigénat siehe im folgenden Kapitel IV. 3.4., Zu den genauen Spezifikationen der Unterscheidung von Direktverwaltungsgebieten und Protektoraten siehe im folgenden Kapitel IV 3.3.
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vier Kommunen gebürtigen Einheimischen die uneingeschränkte Ausübung von Wahlrechten garantiert wurde.190 Trotz der sich in der Genese der Inanspruchnahme von Wahlrechtsprivilegien spiegelnden zeitlich früh einsetzenden Umsetzung von Elementen der Politik der Assimilation, entwickelte sich diese jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu einer bestimmenden Kolonialdoktrin, die die politischen Entwicklungen in den senegalesischen Kolonialgebieten auf maßgebliche Art und Weise beeinflusste.191 Der zu Beginn nur in kleinteiligen Schritten vollzogene Prozess der Assimilation gewann erst unter Einfluss von liberalen Reformbestrebungen innerhalb der Frühzeit der Dritten Französischen Republik wieder an Intensivität, so dass die Kolonialherrschaft in den 1870er Jahren damit begann, die politischen Institutionen in den eroberten Territorien in verstärktem Maße denen im metropolen Frankreich anzupassen.192 Die Hochphase der Doktrin der Assimilation wird dementsprechend in der Zeitspanne zwischen dem Beginn der Dritten Französischen Republik und dem Ende des 19. Jh. verortet.193 Der zu dieser Zeit generell vorherrschende Einfluss von assimilationistischem Gedankengut auf die Kolonialpolitik in Senegal äußerte sich dabei auch darin, dass alle bedeutenden Maßnahmen und Gesetze zur Organisation der Kolonie im 19. Jh. durch die Philosophie der Assimilation angeregt worden waren.194 Die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. propagierte Version der Theorie der Assimilation unterschied sich dabei grundsätzlich nur wenig von der schon zu Zeiten der Französischen Revolution formulierten Auslegung des Konzeptes. Die Doktrin der Assimilation verkörperte dementsprechend weiterhin die Idee, dass die von den Franzosen unterworfenen und als primitiv wahrgenommenen afrikanischen Gesellschaften durch französische Hilfestellungen an den ›zivilisatorischen Stand‹ Frankreichs angeglichen werden sollten. Die assimilierten Überseeterritorien sollten darüber hinaus auch eine Territorialorganisation erhalten, die mit der in Frankreich etablierten übereinstimmte, die dieselben politischen und administrativen Strukturen aufwies sowie auf Basis von identischen Gesetzen und bürgerrechtlichen Statuten organisiert war.195 190 Vgl. Gueye 1985: 1183; Loimeier 2001: 82. Die Festschreibung der Wahlrechtsprivilegien steht im Zusammenhang mit Bestrebungen der französischen Kolonialherrschaft Soldaten für den Ersten Weltkrieg in den Kolonialterritorien anzuwerben. Dem Gesetz zur Gewährung zivilrechtlicher Privilegien für die Bürgerschaft der vier Kommunen ging insofern ein Gesetz voraus, welches für alle männlichen Einwohner den Militärdienst einführte. (Vgl. Echenberg 2009: 88) Zu den Problematiken der militärischen Rekrutierung und der Rolle Blaise Diagnes in diesem Prozess siehe Ebd. 84-92. 191 Vgl. Johnson 1971: 76; Hesseling 1985: 127, 129. 192 Vgl. Searing 1985: 369; Johnson 1971: 76. 193 Vgl. Hesseling 1985: 127, 129. 194 Vgl. Johnson 1971: 76. 195 Vgl. Hesseling 1985: 127, 129; Cohen 1971: 73.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
Der nach 1848 nächste bedeutende Schritt zur Angleichung des politischen und administrativen Systems in den senegalesischen Kolonialterritorien stellte das 1871 vom zuständigen Minister für Marine und Kolonien herausgegebene Gesetz zur Übernahme der französischen Kommunalstatuten dar, welches die Kommunen in den senegalesischen Besitzungen der Franzosen von diesem Zeitpunkt an verpflichtete, sich auf Grundlage des französischen Kommunalrechts zu organisieren.196 Das ministerielle Gesetz vom 10. April 1871, das durch ein weiteres vom 5. April 1884 ergänzt wurde, bildete die Grundlage für die Ausweitung der metropolen Territorialorganisation in die Kolonialgebiete sowie auch für die Wahl von Kommunalräten (Conseils municipaux):197 »De fait, en 1871, comme en 1884, les lois ordonnant la vie municipale des français ont leur prolongement au Sénégal […].«198 Die Wahlrechtsprivilegien der mit französischen Bürgerrechten ausgestatteten einheimischen Bewohner der Kolonialstädte beinhalteten somit von da an drei Ebenen der politischen Repräsentation, d.h. einerseits die seit 1848 garantierten Rechte auf die Wahl eines Abgeordneten und des Conseil Général199 und andererseits das im Zuge der Kommunalreform gewährte Recht zur Wahl von kommunalen Räten.200 Saint-Louis und Gorée, die beiden ältesten französischen Besitzungen in Westafrika, waren dabei die ersten Kolonialstädte in Französisch-Westafrika, die bereits infolge zweier, den ministeriellen Erlässen von 1871 und 1884 folgenden lokalen Dekreten vom 10. August 1872 und 26. Juni 1884, den Status einer französischen Kommune zugesprochen bekamen.201 Die beiden Städte verfügten darüber hinaus bereits seit der Mitte des 18. Jh. über ein Bürgermeisteramt und hatten schon zuvor mehrere Versuche unternommen, den französischen Kommunalstatus zu erhalten.202 Auch Rufisque (Dekret vom 12. Juni 1880) und Dakar (Dekret vom 17. Juni 1887) erlangten, aufgrund ihrer wachsenden wirtschaftlichen Bedeutsamkeit, gegen Ende des 19. Jh. den Status einer französischen Kommune, so dass von nun an von den vier Kommunen Senegals gesprochen werden konnte.203 Nachdem Dakar den Titel einer französischen Kommune zugesprochen bekommen hatte, wurde dieses Privileg bis zur allgemeinen Ausweitung der Kom196 197 198 199
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Vgl. Gueye, 1985: 1183. Vgl. ebd.: 1183. Légier 1968: 424. Das Recht auf die Wahl eines Abgeordneten für die französische Nationalversammlung und die Mitglieder des Conseil Général wurde nur wenige Jahre nach 1848 wieder zurückgenommen und erst im Zuge des Gesetzes von 1871 wieder etabliert. (Vgl. Johnson 1971: 76; Searing 1985: 57) Vgl. Coquery-Vidrovitch 2001: 291; Searing 1985: 370; Hesseling 1985: 132; Légier 1968: 424. Vgl. Gueye, 1985: 1181; Loimeier 2001: 76; Légier 1968: 415-416. Die im Zuge dieser Gesetzeswerke etablierten Kommunalstatuten wurden 1955 auch auf alle anderen Städte innerhalb des Territoriums der Kolonie ausgeweitet. (Vgl. Légier 1968 : 416) Vgl. Gueye, 1985 : 1181; Légier 1968 : 415. Vgl. Gueye, 1985 : 1183; Hesseling 1985 : 131; Loimeier 2001 : 77; Légier 1968 : 415.
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munalstatuten im Jahre 1955 keiner anderen senegalesischen Stadt mehr zugesprochen: »Transformer les chefferies de village en municipalités élues apparaît hors de question.«204 Die Kolonialherrschaft verfolgte jedoch weiterhin eine am französischen Modell orientierte Organisation des Kommunalwesens, was sich ab 1891 vor allem auch in der Schaffung sogenannter »communes mixtes« ausdrückte.205 Das von den in Algerien angewandten Prinzipien der Territorialorganisation übernommene Konzept der ›Mischkommunen‹ verfolgte die Zielsetzung, wirtschaftlich prosperierende und durch eine Anzahl von Europäern bewohnte Städte und Ansiedlungen in den Protektoratsgebieten mit einer Art privilegiertem Übergangsstatus zu versehen, um deren weitere Entwicklung zu fördern. Prinzipielle Bereiche der ›Mischkommunen‹ waren ab 1882 zwar als sogenannte Direktverwaltungsgebiete ausgezeichnet, erhielten jedoch keinen vollwertigen französischen Kommunalstatus, wie Saint-Louis, Gorée, Rufisque und Dakar, den »communes de plein exercice«206 , sondern blieben in Teilen in den militärrechtlich begründeten Organisationsstrukturen der Protektoratsgebiete verortet. In erster Linie, um zu verhindern, dass sich die Möglichkeit zur Erlangung französischer Bürgerrechte und politischer Mitbestimmungsrechte in der Kolonie weiter ausbreiten konnten. ›Mischkommunen‹ wurden insofern von einem Bürgermeister verwaltet, der zugleich auch die Funktionen des Distriktkommandanten des entsprechenden Verwaltungsbezirkes ausübte.207 Infolge eines ersten diesbezüglichen Gesetzeswerkes vom 13. Dezember 1891 wurden 1904 zunächst die Bezirkshauptorte Thiès, Louga und Tivaouane sowie 1907 Ziguinchor zu ›Mischkommunen‹ ernannt. Mit jeweils einigen Jahren Abstand folgten dann in mehreren Wellen (1917/18 – 1925/26 – 1952/27 – 1960) alle weiteren bedeutenden Ansiedlungen der Kolonie.208 204 205 206 207 208
Légier 1968 : 427. Ebd. : 429. Sy 1991 : 323. Vgl. Légier 1968 : 429. Vgl. Sy 1991: 323. Das Konzept der ›Mischkommunen‹ stellte dabei letztendlich eine Art von Übergangslösung dar, die die entsprechenden Städte Schritt für Schritt an den Status einer vollwertigen französischen Kommune heranführen sollte. Zu diesem Zwecke wurden die ›Mischkommunen‹ ab 1922 in ein Schema unterschiedlicher Entwicklungsstufen gegliedert, welches das Ausmaß der den jeweiligen Ansiedlungen zugesprochenen politischen Mitbestimmungsrechte spiegelte: »[L]es communes mixtes du premier degré, comportant une commission nommée; les communes mixtes du deuxième degré, comportant une commission élue par un collège restreint; les communes mixtes du troisième degré comportant une commission municipale élue au suffrage universel.« (Légier 1968: 429, Fußnote 3) Infolge der Abkehr von der Politik der Assimilation (siehe dazu im Folgenden) gestaltete sich die Gewährung erhöhter politischer Mitbestimmungsrechte jedoch grundsätzlich schwieriger als zuvor, weshalb selbst Ansiedlungen, die zu den ›Mischkommunen‹ der ersten Stunde gehörten, erst 1952 in den Status einer ›Mischkommune‹ dritten Grades erhoben wurden. Die Angleichung an den Status einer vollwertigen französischen Kommune erfolgte, wie bereits erwähnt, wiederum nicht vor 1955. (Vgl. ebd.: 416; Sy 1991: 323)
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
Auch wenn liberale Reformen der Kommunalorganisation aus Perspektive der lokalen kolonialherrschaftlichen Autoritäten nicht angestrebt wurden und die Anwendung und Ausweitung des »régime métropolitain«209 insofern aus einer Unschlüssigkeit heraus geschah, verfolgte die im Zuge der Verordnungen von 1872 und 1884 durchgesetzte Angleichung an die metropolen Strukturen dennoch die Zielsetzung, die Ordnung innerhalb der sehr heterogenen Bevölkerung der Kommunen aufrechtzuerhalten und den einheimischen Bewohnern zugleich größere kommunale Mitbestimmungsrechte zu verleihen.210 Angleichung und Anwendung des metropolen Regimes konnten in den senegalesischen Überseegebieten jedoch nicht ohne die notwendigen Anpassungen an die lokalen administrativen Strukturen bewerkstelligt werden:211 »Pour autant, les communes de plein exercice n’obtiennent pas l’application intégrale du régime métropolitain. La centralisation administrative, qui culmine outre-mer, modère les velléités assimilatrices.«212 Die bedeutendste politische Abweichung, die darüber hinaus auch Rückwirkungen auf die zeitliche Organisation der Kommunen mit sich brachte, bestand in der außerordentlichen Machtfülle der Gouverneure, welche jene ihrer metropolen Gegenüber, den Präfekten, bei weitem übertraf.213 Anders als im Falle der Präfekten des Mutterlandes, musste jede außerordentliche Versammlung der Kommunalräte vom Gouverneur abgesegnet werden. Letzterem stand es zudem offen, politische Entscheidungen unabhängig von Bürgermeister und Kommunalrat zu treffen oder vermittels einer formalen Vertagung hinauszuzögern, so dass diese letztendlich nicht mehr umgesetzt wurden: »Il peut proroger d’un mois le délai qui suspend normalement l’exécution d’une délibération réglementaire.«214 Die Kommunalräte übten insofern keine Kontrollfunktionen aus und es reichte letztendlich ein Gesetzeserlass des Gouverneurs, um die gewählten Gremien wieder aufzulösen.215 Inhalte, aber auch Funktionen, zeitliche Abläufe und Koordination der Arbeit der grundsätzlichen Organe und Institutionen der Kommunen waren insofern vollständig vom Wirken des Gouverneurs abhängig. Neben diesen, die interne zeitspezifische Organisation der Kommunalverwaltung betreffenden Aspekten, wurden im Zuge der 1872 und 1884 bewerkstelligten Kommunalreform jedoch auch Ordnungspolitiken zur Organisation des kommunalen Alltags in die senegalesischen Kolonialterritorien eingeführt. Diese vor allem 209 210 211 212 213 214 215
Légier 1968: 416. Vgl. ebd.: 416-417. Vgl. ebd.: 424. Ebd. : 430. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd.
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der Domäne der polizeilichen Aufgabenbereiche, der »attributions de police«216 zugerechneten Ordnungspolitiken beinhalteten Regelungen, die sich mit der Einhaltung der öffentlichen Ordnung auseinandersetzten und in zeitlicher Hinsicht u.a. Vorgaben für die Einhaltung von Hygienevorschriften und städtischer Verkehrsordnung, aber auch zeitliche Angaben zu Dauer und Ausgestaltung der täglichen Ruhezeiten (Siesta und Nachtruhe) oder zu den Empfangszeiten des Gouverneurs enthielten.217 Die hier angesprochenen zeitspezifischen kommunalen Ordnungspolitiken reflektierten insofern eine Art von bürgerlicher Zeit in die Kolonialgebiete, deren Konstitution im Kontext der Diskussion der zeitspezifischen Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen gesellschaftlichen Organisation des Alltags in Kapitel VIII diskutiert wird.
3.3. Assimilation, Assoziation und die Divergenz der Lebenswelten in der Kolonie Der Einführung des Kommunalstatus zu Beginn der 1870er Jahre folgte 1882 eine weitere Reform der Territorialorganisation, die einen Großteil der bisher als ›annektiert‹ geltenden Gebiete, darunter vor allem die Handelsniederlassungen und militärischen Vorposten, unter die direkte administrative Kontrolle eines Amtes für innere Angelegenheiten stellte:218 »All of the coastal regions from Saint-Louis to the Gambia were amalgamated to form the Territories of Direct administration, whereas the bulk of the interior so far conquered was organized as protectorate.«219 Die Schaffung dieser sogenannten Direktverwaltungsgebiete begründete eine dichotome territoriale Organisation der senegalesischen Kolonialterritorien, welche im darauffolgenden Jahr noch erweitert wurde, so dass von da an auch alle für das Funktionieren des Eisenbahnbetriebs im französischen Einflussbereich relevanten Institutionen und Anlagen (vor allem Bahnstrecken und Bahnstationen) unter direkter Aufsicht der Kolonialadministration standen.220 Die 1883 vorgenommene Territorialreform verschärfte den Unterschied zwischen europäischen und einheimischen Lebenswelten, da von nun an nahezu alle europäischen Institutionen und Einrichtungen auf systematische Art und Weise auch rechtlich vom Rest der Kolonie unterschieden waren. Über den urbanen Bereich hinaus inkorporierte der 216 217
Ebd. : 423. ANS L11 , Gouverneur du Sénégal Valière, Arrête concernant la salubrité publique et la police de la ville de Dakar, 29. September 1870; Maire de Dakar, Arrête sur la police municipale de la commune de Dakar, 25. Februar 1889. 218 Vgl. Searing 1985: 72. 219 Johnson 1971: 31. 220 Vgl. Pheffer 1975: 57ff.; Searing 1985: 67, Fußnote 1.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
Bereich direkter Verwaltung nun auch alle prinzipiellen kolonialstaatlichen Einrichtungen auf dem Lande, das Verkehrs- und Kommunikationsnetz sowie angeschlossene Marktflecken, Handelsposten und Wirtschaftszonen.221 In den senegalesischen Kolonialterritorien hatte sich insofern bereits vor Beginn der Untersuchungsperiode eine administrative Territorialorganisation herausgebildet, die einerseits zwischen den als Direktverwaltungsgebieten klassifizierten Territorien, d.h. den ›assimilierten‹ Enklaven der vier Kommunen und den daran angegliederten ›annektierten‹ Territorien, sowie andererseits den Protektoratsgebieten, die einer indirekten Verwaltungsorganisation unterstanden, unterschied.222 Die infolge der Territorialreformen von 1882 und 1883 vorgenommene Schaffung von Direktverwaltungsgebieten wurde jedoch schon wenige Jahre später wieder zurückgenommen. Es wurde stattdessen eine erneute administrative Reorganisation vorgenommen, die im Einklang mit einem Wandel in der Kolonialpolitik stand, der mit einer partiellen Zurückweisung der Ideale der Politik der Assimilation einherging und als Reaktion auf die zunehmenden politischen, finanziellen und organisatorischen Probleme anzusehen war, der sich die Kolonialherrschaft infolge der bisher betriebenen Ausweitung von französischem Recht in den Kolonialgebieten gegenübersah.223 Die neue kolonialherrschaftliche Herangehensweise stützte sich dabei vor allem auf eine anhand von rationalen Gesichtspunkten entwickelte Perspektive und äußerte elementare Zweifel an der Sinnhaftigkeit der bisher gepflegten Praxis der Assimilation: »Frenchmen […] who had served in the interior of Africa said that African civilization could not be assimilated. Evolutionary theorists pointed to Black Africa as an example of how some societies had not evolved beyond the primitive (perpetrating a stereotype of static, backward African society that is only now being corrected by African anthropologists and historians). How, they said, could simple tribesmen […] possibly be assimilated by French culture, which was, of course, at the highest stage of social evolution.«224 Infolge eines ministeriellen Dekretes vom 15. Mai 1889 und eines korrespondierenden lokalen Erlasses vom 15. Januar 1890 wurde daher ein Großteil der nur wenige Jahre zuvor als Direktverwaltungsgebiete klassifizierten Territorien wieder ausgegliedert, um in Form von Protektoraten neu konstituiert zu werden. Der Bereich, 221 222 223 224
Vgl. Sinou 1993: 193; Hesseling 1985: 137. Vgl. Searing 1985: 72. Vgl. ebd.: 73, 364, 369. Johnson 1971: 77. Elementare Zweifel an der Praxis, französische Bürgerrechte an Einheimische zu verleihen, äußerten sich in den senegalesischen Überseegebieten letztendlich schon zu Beginn des 19. Jh., d.h. bereits kurz nachdem diese Rechte im Rahmen der Assimilationspolitik erstmals zugesprochen wurden. (Vgl. Légier 1968: 420)
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in dem direkte Verwaltungsstrukturen zur Geltung kommen sollten, wurde stark verkleinert und das Gesamtterritorium der Kolonie darüber hinaus zusätzlich in 8 Verwaltungsbezirke bzw. cercles gegliedert, die wiederum jeweils in Direktverwaltungsgebiete und Protektoratsgebiete unterteilt waren.225 Louis E. ClementThomas, der zu dieser Zeit amtierende Gouverneur Senegals, erhoffte vermittels der Verkleinerung der Direktverwaltungsgebiete politischen Spielraum zurückzugewinnen und rechtfertigte seine Vorgehensweise, indem er auf die fehlenden administrativen Interventionsmöglichkeiten in den Direktverwaltungsgebieten verwies: »If republican legislation in territories under direct rule created an independent judiciary and prevented the Governor from restricting the application of French law, than the geographical areas where French law was applied had to be limited to a strict minimum. This was the legal justification for the policy of disannexation […].«226 Die Unterscheidung zwischen Gebieten, die direkter Verwaltung unterstanden und jenen, die indirekten Verwaltungsstrukturen oblagen, war somit auf alle Territorien ausgeweitet worden. Die der direkten Verwaltungsorganisation unterstellten assimilierten Gebiete der vier Kommunen und angegliederten Bereiche waren dabei die einzigen Areale in ganz Französisch-Westafrika, die von französischen Kommunalrechten profitieren konnten.227 Durch die privilegierte rechtliche Stellung, die die Bevölkerung in den Direktverwaltungsgebieten gegenüber derjenigen in den Protektoratsgebieten einnahm, wurde letztlich eine widersprüchliche und künstliche Trennung erzeugt, die der grundlegenden kulturellen Einheitlichkeit der Region diametral widersprach.228 Die auf administrativer Basis vollzogene Unterscheidung zwischen Direktverwaltungsgebieten und Protektoraten wurde auch auf alle anderen zentralen gesellschaftlichen Bereiche ausgeweitet und begründete eine Dichotomie der soziokulturellen, ökonomischen, politischen und zeitspezifischen Wandlungsprozesse in der Kolonie: »Modern commerce, small-scale industrialization, Western education, and urbanization were steadily expanding in the coastal areas. In the Protectorate, a few changes were evident. Peanut growing and a cash-crop economy spread slowly through the land after the French conquest, and a few Western ideas were gradually diffused. But in general the rural Senegalese peasant lived as his forebears had.«229
225 226 227 228 229
Vgl. Mbodj 1978: 200; Johnson 1971: 31; Pheffer 1975: 375. Searing 1985: 73. Vgl. Mbodj 1978: 200; siehe auch Johnson 1971: 32; Searing 1985: 365, 369; Pheffer 1975: 375. Vgl. Searing 1985: 366. Johnson 1971: 32.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
Die 1890 realisierten Maßnahmen zur partiellen De-Annektierung resultierten somit auch in einer soziokulturellen und politischen Isolation der Direktverwaltungsgebiete, welche erst wieder partiell aufgelockert wurde, als sich die gesellschaftliche Situation in den Kommunen infolge der Wahl von B. Diagne zum Repräsentanten der Kolonie zu einem bestimmenden Schauplatz für die politische Entwicklung der gesamten Kolonie entwickelte.230 Auf theoretischer Ebene korrespondierte die gegen Ende des 19. Jh. vollzogene administrative Differenzierung der Territorialorganisation mit einem grundlegenden Richtungswechsel der französischen Kolonialpolitik und der Abkehr von der Idee und Politik der Assimilation. Letztere hatte sich aus Sicht der verantwortlichen Autoritäten als nicht besonders erfolgreich erwiesen und war aufgrund der dieser Politik zugrundeliegenden direkten Verwaltungsorganisation zudem mit einem Kosten- und Personalaufwand verbunden, welcher nicht in größerem Umfang zu realisieren war.231 Die Maßnahmen zur partiellen De-Annektierung und die Kreation von Protektoratsgebieten kennzeichneten insofern auch den Übergang zur Theorie der Assoziation, einer gewissermaßen abgeschwächten Variante der Entwicklungspolitik der Assimilation.232 Im Zuge der Theorie der Assoziation wurde, wie erwähnt, nicht mehr die vollständige Integration der afrikanischen Untergebenen in die französische Kultur verfolgt, sondern vielmehr nur ein kooperatives Bündnis mit den Einheimischen angestrebt, bei dem diese einen Teil ihrer kulturellen Eigenständigkeit bewahren durften und sich nur zu einem bestimmten Grad an die französische Leit- und Zeitkultur angliederten mussten: »[E]n théorie, l’association avait pour but de faire ›évoluer‹ l’Afrique dans le respect de ses institutions et ses figures d’autorité traditionnelles, par l’intermédiaire desquelles les peuples colonisés seraient ›associés‹ à l’effort colonial français.«233 Die Politik der Assoziation war insofern Ausdruck des Willens der Kolonialherrschaft, die der einheimischen Bevölkerung der Kolonialstädte gewährte Möglichkeit zur Inanspruchnahme von bürgerrechtlichen Privilegien immer weiter zurückzunehmen und einzuschränken. Neben dem politischen Nutzen, der aus Perspektive der Kolonialherrschaft mit dieser Beschränkung der Rechte ihrer Untergebenen einherging, verfügte die mit einer indirekten Verwaltungsstruktur einhergehen-
230 Vgl. Searing 1985: 364-369. 231 Vgl. Hesseling 1985: 127-128, 137; Auchnie 1984: 12. Aufgrund ihrer vergleichsweise komplexen Zielsetzungen konnte die Politik der Assimilation in den senegalesischen Kolonialgebieten nur in unmittelbarer Nähe eines rudimentären Netzwerkes von europäischen Institutionen und Infrastrukturen umgesetzt werden, d.h. sie war insofern immer auf eine unterstützende Form der direkten Verwaltung angewiesen. (Vgl. Hesseling 1985: 127, 129) 232 Vgl. Hesseling 1985: 128; Liauzu 1999: 59; Iliffe 2003: 268. 233 Manchuelle 1995 : 334.
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Weltzeit im Kolonialstaat
de Politik der Assoziation vor allem auch über den Vorteil, weniger personal- und kostenintensiv zu sein.234 Die die Zielsetzungen der Politik der Assimilation verfolgende Vorgehensweise der Kolonialverwaltung verschwand mit der offiziellen Übernahme der Politik der Assoziation jedoch nicht vollständig von der Bildfläche. Stattdessen wurde eine duale Organisation in die territoriale Verwaltungsstruktur eingeschrieben, die beide Prinzipien respektierte. Die Aufteilung der Kolonie in Direktverwaltungsgebiete und Protektoratsgebiete blieb auch nach der Gründung der Föderation Französisch-Westafrikas und der Einsetzung eines Zentralgouvernements im Jahre 1895 unverändert weiterbestehen.235 Durch ein Gesetz vom 23. Oktober 1904 wurde sie schließlich bestätigt und als offiziell verpflichtende kolonialstaatliche Organisationsform festgeschrieben. Im für die Territorialorganisation konstitutiven Gesetz von 1904 wurde Senegal daher in entsprechender Weise skizziert: »[U]ne colonie composée de ›territoires d’administration directe‹ : les quatre communes des Saint-Louis, Gorée, Rufisque et Dakar, et les faubourgs de ces communes et le territoire qui longe la voie ferrée Dakar-Saint-Louis; et composée également de ›pays de protectorat‹, d’administration indirecte : le reste du Sénégal.«236 Die doppelte territoriale Verwaltungsstruktur wurde erst durch ein Dekret aus dem Jahre 1920 wieder abgeschafft, so dass in der gesamten Kolonie von da an eine einheitliche Territorialorganisation herrschte.237 Die über mehrere Jahrzehnte voneinander getrennte Territorialorganisation hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch schon zur Etablierung und Einprägung von kulturellen, politischen, sozialen, ökonomischen und nicht zuletzt auch zeitspezifischen Unterschieden geführt, welche auch in der Folgezeit zu einer merklich voneinander divergierenden Entwicklung der ehemals administrativ voneinander getrennten Territorien beigetragen hat. Die hier verfolgte Lesart einer vornehmlich dichotomen Gliederung des Systems kolonialstaatlicher Zeitzonen verweist insofern auf das von Mamdani entwickelte Konzept von Kolonien als »bifurcated states«, welche
234 Vgl. Hesseling 1985: 128. 235 Vgl. Mbodj 1978: 179, 200. Ein zentraler Unterschied der administrativen Territorialorganisation ergab sich jedoch daraus, dass die mit dem neu erschaffenen Posten des Generalgouverneurs betrauten Beamten zwischen 1895 und 1902 zugleich auch die Funktionen des Gouverneurs der Kolonie Senegal ausübten (Jean-Baptiste Chaudié, 1895-1900, Noël Ballay, 19001902). Dieses territoriale Doppelmandat wurde erst wieder aufgelöst, nachdem Dakar 1904 (von 1902 bis 1904 war Gorée kurzfristig Sitz der Zentralverwaltung) zur neuen Hauptstadt der Föderation ausgerufen worden war und in Saint-Louis ein eigenständiges Gouvernement Senegals eingerichtet worden war. (Mbodj 1978: 200; Hesseling 1985: 126) 236 Bulletin d’Administration du Sénégal (1904) zit. in Hesseling 1985 : 137. 237 Vgl. Mbodj 1978: 179; Mbaye 1991: 32; Coquery-Vidrovitch 1992: 172.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
»die Macht der Weißen schützten, indem sie ›Zivilgesellschaft‹ von ›Gemeinschaft‹ segregierten: Europäische Siedler und eine schmale Minderheit ›verwestlichter‹ (und urbaner) Afrikaner genossen bürgerliche Freiheiten, während die meisten Afrikaner unter der Herrschaftsform eines ›dezentralisierten Despotismus‹ litten.«238 Die Dichotomie der räumlichen, administrativen, bürgerlichen und ökonomischen Strukturen nahm dabei jedoch keinen absoluten Charakter an, sondern stellte eine abstrakte bürokratische Idealisierung, Standardisierung und Typisierung dar, der eine nicht genormte und heterogene Wirklichkeit gegenüberstand, »gespickt mit Anomalien und ›grenzüberschreitenden‹ Debatten«.239 Der nur idealtypische, jedoch wenig wirklichkeitskonforme Charakter der dichotomen Gliederung des Kolonialstaates konkretisierte sich in Senegal dabei bereits auf kolonialideologischer Ebene. Denn trotz des mehr oder minder offiziellen Übergangs von der Theorie der Assimilation zur Theorie der Assoziation, übte Erstere dennoch bis in die 1930er Jahre hinein einen sehr starken Einfluss auf die koloniale Praxis aus: »Jusqu’à la fin de la Deuxième Guerre mondiale, la politique coloniale au Sénégal resta en équilibre bancal sur deux théories. Car bien que la foi en la théorie de l’assimilation ait perdu de sa faveur, cette théorie ne s’effaça jamais totalement devant une politique d’association cohérente. L’administration était toujours fortement centralisée; les autorités s’efforçaient toujours de former une petite élite d’influence française; les fonctionnaires français crurent encore longtemps en leur ›mission civilisatrice‹; et le Sénégal était toujours considéré comme une prolongement économique de la France.«240 Wie zuvor schon die Politik der Assimilation wurde auch die Politik der Assoziation nie in konsequenter und kohärenter Weise umgesetzt.241 Letztere vor allem weil, die auf der Doktrin der Assimilation fußenden Ideale der französischen Zivilisierungsmission auf informeller Ebene überdauerten und die Handlungspraxen der verantwortlichen Kolonialbeamten in Übersee unterschwellig weiterhin bestimmten: »Toutefois, les principes de l’assimilation ne furent jamais tout à fait abandonnés; il n’était pas simplement question d’un choix entre deux théories, mais plutôt de la manière final et l’association ne devait présenter qu’une phrase intermédiaire.«242 238 239 240 241 242
Eckert 1998: 450. Eckert 1998: 451. Hesseling 1985 : 141-142. Vgl. ebd.: 141; siehe auch Manchuelle 1995: 334. Hesseling 1985: 128. Die sich hier abzeichnende spezifisch französische Form des Umgangs mit diesen beiden Ordnungspolitiken verdeutlicht, dass diese nicht mit den in den briti-
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Dass es unter den gegebenen Bedingungen der voneinander getrennten Anwendungsbereiche der beiden entwicklungspolitischen Doktrinen zu einer sich über alle territorialen Einheiten der Kolonie erstreckenden Angleichung an die Bedingungen im kolonialen Mutterland gekommen wäre, steht außer Frage: »Gesamtgesellschaftlich hat es weder Assimilation noch Akkulturation gegeben.«243 Darüber hinaus entwickelte sich jedoch trotz des Überdauerns des Assimilationsgedankens und seines unterschwellig bestimmenden Einflusses auch in den in jederlei Hinsicht privilegierten Direktverwaltungsgebieten keine kommunale Organisation, die derjenigen im zeitgenössischen Frankreich gleichwertig gewesen wäre. Auch die Doktrin der Assimilation, welche die Angleichung der Verhältnisse zwischen Metropole und Kolonie definitionsgemäß am intensivsten verfolgte, führte, folgt man diesbezüglich der Einteilung Hesselings, in politischer, bürgerrechtlicher oder kultureller Dimension zu keiner wirklichen Reproduktion metropoler Vorgaben und Verhältnisse, da die federführenden Kolonialherren den Assimilationsgedanken immer nur im Sinne einer partiellen Akkulturation der lokalen Bevölkerung verstanden.244 Dies äußerte sich in politischer Hinsicht vor allem darin, dass bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges höchstens 5 % der Gesamtbevölkerung der Kolonie Senegal in den Genuss von Wahlrechtsprivilegien gelangen konnten.245 Ein ähnliches Verhältnis zeichnet sich auch in bürgerrechtlicher Hinsicht ab, denn auch hier konnte nur die sehr kleine Gruppierung der mit bürgerrechtlichen Privilegien ausgestatteten einheimischen Stadtbevölkerung von gleichwertigen Personalstatuten profitieren, für den Großteil der lokalen Bevölkerung der Protektoratsgebiete blieb diese Ebene der Assimilation jedoch ebenfalls unerreichbar:246 »[L]e pouvoir tolère un décalage juridique entre communes de France et communes du Sénégal […].«247 In kultureller Hinsicht zeigte sich die Partikularität des Assimilationsgedanken ebenfalls, da nur den herausragenden assimilierten Individuen in ähnlichem Maße Anerkennung zugesprochen wurde wie französischen Zeitgenossen.248 Die mit der Assimilationspolitik verbundenen bürgerrechtlichen Privilegien, die in den Kolonialgebieten zur Anwendung kamen, waren darüber
243 244 245
246 247 248
schen Kolonialgebieten angewandten Interpretationen von direkter und indirekter Herrschaft übereinstimmten. Die französische Assoziationspolitik entsprach nur in ihrer Reinform, ohne assimilationistische Untertöne, der britischen direct rule. (Vgl. ebd.) Glinga 1990: 49, siehe auch 447. Vgl. Hesseling 1985: 133, 135, 137. Vgl. Hesseling 1985: 132-133. Siehe dazu auch Légier 1968: 442ff., der neben Wahlbetrug, bei dem die Anzahl stimmberechtigter Wähler manipuliert wurde, auch aufzeigt, wie die miserable Organisation der Wahlen in den Jahrzehnten nach 1872 dazu führte, dass diese von vielen Wahlberechtigten boykottiert wurden. Vgl. Hesseling 1985: 135. Légier 1968: 417. Vgl. Hesseling 1985: 137.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
hinaus nicht vollständig mit denen des französischen Mutterlandes identisch249 und wurden innerhalb der zeitgenössischen Bevölkerung Frankreichs auch nicht als Privilegien wahrgenommen, die den eigenen gegenüber gleichwertig erschienen. Dass die Politik der Assimilation somit letztendlich darauf ausgerichtet war, zu einer vollständigen Angleichung des Status von kolonialen und französischen Bürgern zu führen, war insofern immer ein Mythos: »L’assimilation ne fut qu’un leurre […].«250
3.4. Die Politik der Assoziation und militärrechtliche Ordnungspolitiken der Zeit Die der Schaffung der Protektoratsgebiete und der französischen Variante der indirect rule zugrundeliegende Politik der Assoziation verfolgte in zeitspezifischer Hinsicht, anders als die Politik der Assimilation, nicht mehr die Idee einer vollständigen Akkulturation und Internalisierung europäischer Zeitnormen durch die lokale Bevölkerung, sondern vielmehr nur noch eine Art von ›entwicklungsstandgerechtem‹ Zeitnorm-Transfer.251 Repräsentierte die Politik der Assimilation aus der Perspektive der Kolonialherren insofern eine Entwicklungspolitik, die sich an 249 Vgl. Légier 1968: 31ff., wo dieser verdeutlicht, wie sich die Wahlrechtsprivilegien in französischen und senegalesischen Kommunen trotz der in dieser Hinsicht richtungsweisenden Gesetze von 1872 und 1884 voneinander unterschieden. Theoretisch konnten insofern zwar bereits seit 1872 alle in einer Kommune ansässigen einheimischen Bewohner Wahlrechte in Anspruch nehmen, in praktischer Hinsicht wurde jedoch weiterhin zwischen inner- und außerhalb der Kommune geborenen Einheimischen differenziert. (Vgl. ebd.: 432) Angehörige nomadisierender Bevölkerungsgruppen wurden insofern bspw. nicht automatisch auch Wahlrechte zugesprochen, selbst wenn sie in der Kommune ansässig waren und dort den überwiegenden Teil ihrer Zeit verbrachten. Die Frage, ob die Angehörigen dieser Gruppierung Wahlrechtsprivilegien zugesprochen bekamen oder nicht, wurde vielmehr in jedem einzelnen Fall der Einschätzung der verantwortlichen Autoritäten unterworfen. Europäer hingegen, die einen Teil des Jahres in Frankreich verbrachten, als Wohnsitz jedoch eine der Kommunen angaben, konnten ihr Wahlrecht ohne Probleme ausüben. (Vgl. ebd.) Einer der bedeutendsten Unterschiede zwischen französischen und senegalesischen Wahlrechten bestand jedoch in der bereits seit 1882 kursierenden, aber erst 1915 verbindlich gesetzlich festgelegten Verordnung, dass neben einem mindestens fünf Jahre andauernden ständigen Wohnsitz in einer der Kommunen auch noch der Nachweis einer Geburt vor Ort notwendig wurde, um Wahlrechtsprivilegien in Anspruch nehmen zu können: »Le domicile – a fortiori la résidence – cesse d’être une condition suffisante de l’électorat africain. Seuls ont qualité d’électeurs les ›indigènes‹ à la fois nés et domicilés dans la commune : le décret du 5 janvier 1915 constate cette exigence nouvelle, au moins impliquée depuis 1882.« (Ebd.) Anders als im französischen Mutterland wurden die Wahlrechte der senegalesischen Stadtbevölkerung insofern durch das Kriterium des Geburtsortes eingeschränkt: »[N]onobstant les règles métropolitaines, le critère de l’origine restreint toujours l’électorat municipal des africains.« (Ebd.: 433) 250 Hesseling 1985: 137; vgl. ferner Liauzu 1999: 59. 251 Vgl. Betts 1994: 154.
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einer europäisch geprägten Zukunft orientierte und die einheimische Bevölkerung in die ›Moderne‹ führen sollte, richtete sich die Politik der Assoziation vielmehr an einer künstlichen Vorstellung der lokalen Vergangenheit aus, in der die lokale Bevölkerung konserviert werden sollte. Der Anspruch, die lokale Bevölkerung in die ›Moderne‹ zu führen, blieb im Grundsatz zwar auch im Rahmen der Politik der Assoziation erhalten, äußerte sich hier jedoch nur in einer stark reduzierten Variante, die in zeitspezifischer Hinsicht nicht mehr auf die Reproduktion einer bürgerlichen Zeitordnung europäischen Vorbildes abzielte. Die im Kontext der neuen entwicklungspolitischen Ägide verfolgte Idee einer an den jeweiligen Entwicklungsstand der Bevölkerung adaptierten ›Modernisierung‹ wurde in der Praxis vielmehr durch Maximen repräsentiert, die sich fast ausschließlich auf die Beförderung einer rudimentären materiellen und ökonomischen Entwicklung reduzierten. Die Einführung und Umsetzung von Zeitnormen europäischen Vorbildes sollte entsprechend im Gefolge der Etablierung einer effektiven zeitlichen Organisation von Kolonialwirtschaft, Arbeits- und Produktionsprozessen und einer effizienten zeitspezifischen Konditionierung der einheimischen Arbeiterschaft gewährleistet werden. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in erster Linie durch die Ikonen des französischen Kolonialismus, Faidherbe, Gallieni und Lyautey vorangetriebene und bestimmte Entwicklung der Inhalte der Doktrin der Assoziation fußte auf einem Verständnis der Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Charakteristika und des Stadiums der sozialen Entwicklung unterworfener Gesellschaften, welches sich im Kern durch »tolerance, respect for native customs and laws, cooperation and assistance«252 ausdrückte.253 Der sich in diesen, allen Interpretationen der zeitgenössischen französischen Politik der Assoziation gemeinen, charakteristischen Eigenschaften äußernde Gedanke zum »improvement of the native’s condition without severely altering his way of life«254 , bot die Grundlage für die Etablierung der auf einer weitgehenden Aufrechterhaltung lokaler Strukturen und Institutionen begründeten indirekten Herrschaftsweise und prägte die verschiedenen Ausformungen dieser Variante der französischen politique indigène in Senegal seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.255 Der Leitgedanke, die kulturelle Eigenständigkeit der unterworfenen Bevölkerungen anzuerkennen und zu wahren, ging jedoch auch mit der Notwendigkeit einer vergleichsweise geringen und wenig direkten Einmischung in die zeitliche 252 253 254 255
Ebd.: 161. Vgl. ebd.: 156-162. Ebd.: 162. Eine gute Diskussion der in Senegal vor allem in Abgrenzung zur politischen Entwicklung in den Kommunen und in ideologischer Korrespondenz zur Haltung gegenüber der muslimischen Bevölkerung stattfindenden Genese der auf der Doktrin der Assoziation beruhenden politique indigène bietet Searing 1985: 36-74.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
Organisation der lokalen Bevölkerung der Protektoratsgebiete einher, wie sich in folgender Anweisung des Generalgouverneurs Carde aus dem Jahre 1926 idealtypisch verdeutlicht: »Toutes les mesures administratives susceptibles de modifier l’organisation de la société indigène peuvent, par le trouble qu’elles apportent à des habitudes séculaires, avoir une répercussion fâcheuse sur la résistance de la race. Il est de toute nécessité qu’aucune d’elles ne soit décidée sans examen approfondi des conséquences qu’elle peut provoquer.«256 Entsprechend seien bspw. Eingriffe in die auf kollektiver Arbeit beruhende lokale landwirtschaftliche Arbeitsorganisation ebenso zu vermeiden wie eine Einflussnahme auf die zeitspezifische Strukturierung der gesellschaftlichen Bereiche von Heirat oder Familie.257 Dass das Kolonialsystem die Ordnung der Zeit der in den Protektoratsgebieten ansässigen Bevölkerung entgegen diesen theoretischen Prämissen dennoch in umfassendem Maße beeinflusste, ist unbestreitbar. Die intendierte Entwicklung einer auf europäischen Normen basierenden Organisation zeitlicher Abläufe und Strukturen und andere tiefgreifende Eingriffe in die lokale Ordnung der Zeit unterlag in den assoziierten Protektoratsgebieten jedoch den sich im Zitat idealtypisch äußernden selbstauferlegten Restriktionen. Auch die seit den 1920er Jahren in vermehrtem Ausmaß auftretenden Maßnahmen und Forderungen zur Indoktrination von Arbeits- und Zeitdisziplin erstreckten sich dementsprechend immer nur auf Teilaspekte der lokalen gesellschaftlichen Organisation. Entgegen der in diesem Kontext immer wieder geäußerten Notwendigkeit zur Abschaffung von vermeintlicher Faulheit und Sorglosigkeit in den Reihen der einheimischen Bevölkerung war die Veränderung der lokalen Organisation der Zeit in den Protektoratsgebieten insofern nur dann von konkreter Relevanz, wenn diese absolut unablässig erschien bzw. im lokalen Kontext etablierte zeitliche Strukturmomente in eklatantem Widerspruch zu den kolonialstaatlichen Zielsetzungen standen. Trotz der durch die theoretischen Prämissen der Doktrin der Assoziation vorgegebenen, relativen zeitspezifischen Selbstbestimmtheit der Bevölkerung in den Protektoratsgebieten wurde diese vermittels der Strukturen der kolonialstaatlichen und -wirtschaftlichen Organisation in ihrer zeitlichen Organisation dennoch stark beeinflusst und war in dieser Hinsicht keineswegs völlig frei und eigenständig. Das zur Strukturierung der Zeit in den Protektoratsgebieten herangezogene System von Zeitnormen zeichnete sich, im Vergleich zur Ordnung der Zeit
256 Instructions relative à l’orientation et au développement des services d’Assistance médicale indigène, 15. Februar 1926, Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1119 (22) vom 27. Februar 1926, S. 198. 257 Vgl. ebd.
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in den Direktverwaltungsgebieten, zwar durch ein weitgehendes Fehlen konkreter zeitspezifischer Bestimmungen aus258 , die wenigen existenten zeitspezifischen Ordnungspolitiken waren wiederum jedoch vor allem durch rigide zeitliche Restriktionen und Pflichten gekennzeichnet. Zeitspezifische Rechte kamen hingegen nicht vor. Der zeitliche Alltag in den Protektoratsgebieten war entsprechend nicht durch Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit geprägt, sondern wurde vielmehr durch direkt und indirekt ausgeübte Zeit- und Arbeitszwänge eingefasst und einem durch Despotie und Willkür geprägten kolonialherrschaftlichen Gewaltmonopol unterworfen.
3.4.1. Zeitspezifische Ordnungspolitiken des Regimes des indigénat Zur Gewährleistung des kolonialen Herrschaftsmonopols in den Protektoratsgebieten und in diesem Zuge auch zur Kodifizierung und Ausübung von direktem und indirektem Zeit- und Arbeitszwang sowie zur Kontrolle der Einhaltung zeitspezifischer Ordnungspolitiken diente, wie auch in anderen französischen Kolonien, das in Senegal 1887 eingeführte Regime des »indigénat«.259 Letzteres stellte die wichtigste legislative Grundlage des nach dem Modell eines Polizeistaates operierenden administrativen Rechtswesens in den Protektoratsgebieten dar.260 Das damit verbundene Konglomerat an rechtlichen Bestimmungen, auch mit der Begriff-
258 Dies ist entsprechend Spittler als eine Grundcharakteristik der von den französischen Kolonialherren umgesetzten Herrschaftsform anzusehen: »Die geringe Zahl administrativer Regelungen bezüglich der einheimischen Bevölkerung darf allerdings nicht dahingehend interpretiert werden, als bestünde keine Beziehung zwischen ihr und der Kolonialverwaltung. Aber diese Aktivitäten sind weitgehend unreglementiert, und selbst da, wo sie reglementiert sind, werden die Regeln meist nicht eingehalten. Herrschaft wird nicht als bürokratische Herrschaft, sondern in einer Mischung von willkürlicher und intermediärer Herrschaft ausgeübt.« (1981: 66) Zur Charakterisierung der verschiedenen Herrschaftsformen siehe Ebd.: 21-25. 259 Vgl. ebd.: 66f.; Cohen 1971: 68f.; Asiwaju 1976: 41f.; Fall 1984: 33f. Der Begriff des indigénat bezeichnet dabei gleichermaßen den Status der Einheimischen wie auch die administrative Ordnungspolitik, denen diese unterworfen wurde. 260 Vgl. Asiwaju 1976: 37, 42. Fall erwähnt diesbezüglich, dass in Senegal vermittels des »décret portant répressions du vagabondage“ (1984: 35) letztendlich eine Art von legislativer Ergänzung des Regimes des indigénat geschaffen wurde, welche die Anwendung eines ähnlich rigiden Disziplinarstrafkatalogs innerhalb der Direktverwaltungsgebiete ermöglichte. Vermittels des genannten Gesetzes konnte entsprechend jedwedes einheimische Individuum, das sich in den Direktverwaltungsgebieten aufhielt und weder über Bürgerrechte verfügte noch eine Arbeitserlaubnis besaß, zum Vagabunden erklärt werden. Dermaßen Beschuldigte konnten dann wiederum zu Arbeitsdiensten verpflichtet werden, welche im Gegensatz zu denjenigen des indigénat in den Protektoraten jedoch entlohnt wurden: »La possibilité est laissée à cet indigène de changer l’employeur dans le cas où l’offre permet, mais il est contraint de vendre sa force de travail dans une entreprise.« (Ebd.)
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lichkeit »sanctions de police administrative«261 umschrieben, ging in historischer Hinsicht aus einer »Übertragung des internen militärischen Disziplinarstrafrechts auf die unterworfene lokale Bevölkerung«262 hervor und transferierte die martialischen Praktiken, die während der militärischen Eroberung zur Anwendung kamen, in die Phase der administrativen Erschließung.263 Das Regime des indigénat fungierte insofern primär als Instrument zur Verwirklichung kolonialherrschaftlicher Zielsetzungen, wobei es einerseits Normen und Handlungsrichtlinien für die unterworfenen Bevölkerungen definierte und andererseits die Ausübung von Zwangsmaßnahmen und struktureller Gewalt legalisierte, die zur Durchsetzung ebenjener Normen und Handlungsrichtlinien erforderlich erschienen: »[T]he Indigenat provided the colonial administration with the necessary legal wherewithal for imposing a public discipline which would make for easy control of subject people in the interest of the occupying colonial power. For subject peoples, the operation of this code meant a brutal denial by the colonial authorities of all forms of civil liberty.«264 Obwohl in den Protektoratsgebieten ab 1903 auch Elemente des regulären juristischen Rechtswesens des zeitgenössischen französischen code pénal etabliert wurden, war das als administratives Rechtswesen konzipierte Regime des indigénat zeitlebens von größerer Bedeutung und kam weitaus häufiger zur Anwendung.265 Es stellte insofern das gebräuchlichste Instrument zur Vollstreckung des kolonialherrschaftlichen Willens sowie zur Disziplinierung der lokalen Bevölkerung dar und nahm im Rahmen der Gewährleistung von Zwangsarbeitsleistungen, der Umsetzung militärischer Rekrutierungsmaßnahmen, dem Einzug von steuerlichen Abgaben, der Durchsetzung zwangsverpflichtender Agrarpolitiken und der kolonialstaatlichen Requisition von Nahrungsmittelbeständen und gewerblichen Ernteerträgen eine zentrale Rolle ein.266 In strafrechtlicher Hinsicht diente das Regime des indigénat dabei insbesondere als Mittel zur schnellen, direkten und außergerichtlichen Ahndung von Delikten, die der Umsetzung der kolonialherrschaftlichen Interessen im Wege standen und vom juristischen Rechtswesen nicht abgedeckt wurden.267 Das für das Regime des indigénat richtungsweisende metropole Dekret vom 30. September 1887 verlieh den die Spitze der administrativen Hierarchie auf Ebene 261 262 263 264 265 266 267
Asiwaju 1976: 41. Spittler 1981: 66, Fußnote 52. Vgl. Asiwaju 1976: 46. Ebd.: 41, siehe auch Fall 1984: 33. Vgl. Asiwaju 1976: 43. Vgl. ebd.: 41. Vgl. ebd.: 41-42.
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der Verwaltungsbezirke darstellenden268 Distriktkommandanten umfassende polizeiliche (exekutive) und richterliche (judikative) Funktionen und erlaubte ihnen, »to punish certain infractions summarily without recourse to any court of law and impose penalties to the maximum of 15 days imprisonment and 100 francs of fine. Additionally, the Governor could impose penal internment and dispossession to an unspecified level.«269 Die Konzentration von disziplinärer Verfügungsmacht in den Händen der Distriktkommandanten wurde in der Frühphase der Entwicklung administrativer und juristischer Strukturen in den Kolonialterritorien als notwendig erachtet, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und die französischen Interessen durchsetzen zu können.270 Insofern zwar als Übergangslösung gedacht und propagiert, überdauerte das Regime des indigénat jedoch bis ins Jahr 1946.271 Entsprechend den gesetzgeberischen Strukturen des französischen Kolonialsystems wurde das metropolitane Dekret durch auf lokaler Ebene verfügte Gesetzeserlässe umgesetzt, welche die allgemeinen legislativen Vorgaben präzisierten und diese je nach Bedarf auch modifizieren oder erweitern konnten, um sie an die jeweils unterschiedlichen Gegebenheiten und obrigkeitsstaatlichen Belange in den Einzelkolonien anzupassen.272 Folglich veröffentlichte der Gouverneur Senegals am 12. Oktober 1888 einen korrespondierenden Erlass, in dem ein Disziplinarstrafkatalog formuliert wurde, der in 16 Artikeln verschiedene Vergehen und Delikte spezifizierte, die im Rahmen des indigénat zu ahnden waren.273 Entsprechend Artikel 1 des Erlasses von 1888 reichte bereits eine »[n]égligence apportée dans le règlement des impôts ou dans l’exécution des prestations en nature«274 aus, um eine Disziplinarstrafe nach sich zu ziehen. Nachlässigkeit oder Verspätung bei der Unterstützung der Administration in diversen Situationen wurde, wie Artikel 13 verdeutlicht, ebenfalls als zu bestrafendes Delikt betrachtet: »Refus ou négligence de faire des travaux, le service, ou de prêter les secours dont ils auraient été requis dans les circonstances d’accidents, tumulte, naufrages,
268 269 270 271 272 273 274
Vgl. Cohen 1971: 67-68. Ebd.: 50. Vgl. Fall 1984: 33; Asiwaju 1976: 47; Spittler 1981: 56. Vgl. Fall 1984: 34; Asiwaju 1976: 43. Vgl. Fall 1984: 34. Vgl. Asiwaju 1976 : 50; Fall 1984 : 34. ANS M216 , Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Guy, Circulaire au sujet des infractions réprimées disciplinairement et des délits de droit commun, Annexe, Etat N°1, Modifications a apporter à l’arrêté du 12 Octobre 1888 portant énumération des infractions spéciales aux indigènes non citoyens français créant une pénalité pour leur répression, 17. September 1906, fol. 3.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
inondations, incendies, ainsi que dans les cas d’insurrection de brigandage, de pillage flagrant délit, clameur publique.«275 Die Missachtung zeitlicher Vorgaben war entsprechend dem Erlass von 1888 insbesondere im Kontext der Entrichtung steuerlicher Abgabeleistungen, Zwangsarbeitsmaßnahmen und anderen situationsbedingt eingeforderten administrativen Arbeits- und Unterstützungsleistungen von entscheidender Bedeutung. Zeitliche Normen waren darüber hinaus auch im Kontext sanitärer Vorschriften von Relevanz, wie die in Artikel 14 geahndete Verweigerung bzw. der »[r]efus d’exécuter, en cas d’épidémie, les mesures concernant la salubrité ordonnées par l’administrateur«276 verdeutlicht, die eine prompte Verwirklichung hygienischer Vorgaben im Falle von Krankheitsausbrüchen verlangte. Die im Disziplinarkatalog festgeschriebenen Verordnungen des indigénat unterliefen infolge von Veränderungen der metropolitanen Gesetzes- und Interessenlage über die Jahre zahlreichen Modifikationen. Zwischen 1888 und 1946 wurden entsprechend noch 30 weitere metropolitane Dekrete veröffentlicht, die lokale Gesetzeserlässe und eine Modifikation des Regimes des indigénat nach sich zogen.277 Der Korpus an disziplinär zu ahndenden Ordnungswidrigkeiten, Vergehen und Delikten wurde dabei mit der Zeit immer größer, wobei die kolonialherrschaftlichen Autoritären versuchten, »to anticipate as much as humanly possible acts on the part of the various West African people [that] might constitute obstacles between the French and the colonial objectives.«278 Die Lebenswelt der lokalen Bevölkerung wurde so in immer größerem Maße anhand von europäischen Vorgaben normiert und die lokale Lebensweise durch eine wachsende Anzahl von Sanktionen beschränkt und eingeengt: »For subject peoples, it is needless to say that the lists meant that every imaginable detail of daily life was made to fall under some meticulously defined police regulation.«279 Auch wenn zeitspezifische Vorgaben im Rahmen dessen nur selten explizit Erwähnung fanden, wurden auch diese mit der Zeit weiter ausgeweitet. 30 Jahre nach der Einführung des Disziplinarstrafkatalogs in der Kolonie Senegal beinhaltete dieser entsprechend dem lokalen Erlass vom 14. März 1918 insgesamt bereits 44 Artikel, von denen fünf explizit zeitspezifische Vorgaben enthielten. Wie schon 1888 nahmen zeitliche Vorgaben auch noch 1918, insbesondere im Kontext der Entrichtung von steuerlichen Abgabeleistungen und Zwangsarbeitsleistungen eine prädominante Position ein. Folglich wurde in Artikel 2 des Erlasses von 1918 wieder jedwede »négligence apportée dans le paiement des taxes et 275 276 277 278 279
Ebd. fol. 6. Ebd. Vgl. Asiwaju 1976 : 50-53. Ebd. : 52. Ebd.
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impositions«280 unter Strafe gestellt.281 Ebenso wie Artikel 2 zielt auch Artikel 7 auf die zeitliche Dimension der Entrichtung von steuerlichen Abgabeleistungen ab und erklärt die Praktik, sich Maßnahmen der Steuereintreibung durch temporäre Abwesenheit zu entziehen282 , zum Gegenstand disziplinarstrafrechtlicher Ahndung: »[…] le départ, sans autorisation, d’une circonscription territoriale, dans le but de se soustraire au paiement d’un impôt […].«283 Auch die Nachlässigkeit bei der Erfüllung situationsbedingt eingeforderter administrativer Arbeits- und Unterstützungsmaßnahmen bzw. wie in Artikel 11 formuliert, der »mauvaise volonté apportée dans l’exécution des travaux ou le prêt des concours«284 stand, wie schon im Katalog von 1888, weiterhin unter Strafe. Neben diesen auf Arbeits- und Steuerleistungen bezogenen zeitlichen Vorgaben enthielt der Disziplinarstrafkatalog von 1918 auch eine Reglementierung, die sich explizit gegen etablierte Elemente der zeitlichen Organisation der lokalen Lebensweise richtete. In Artikel 38 wurde entsprechend auch die »organisation d’une danse bruyante ou autre réjouissance tumultueuse, sans autorisation spéciale, au delà de l’heure ou en dehors les limites fixées à cet effet par l’autorité locale«285 als disziplinarstrafrechtlich zu ahndendes Delikt eingestuft. Eine weitere in Artikel 24 des Disziplinarstrafkatalogs geäußerte zeitspezifische Auflage weist dagegen einen explizit juristischen Charakter auf und bezieht sich ausschließlich auf falsche oder unbegründete Beschwerden und Reklamationen, die noch nach Ablauf der Frist zur Einlegung von Rechtsmitteln hinsichtlich eines Rechtsstreites gemacht wurden bzw. »les plaintes ou réclamations sciemment inexactes ou non fondées, relative à une affaire ayant été précédemment l’objet d’une solution judiciaire régulière et formulées après l’expiration des délais d’appel.«286 Die sich hier explizit zeigenden zeitlichen Vorgaben betreffen zwar nur einen kleinen Teil der Gesamtheit der Artikel des Disziplinarstrafkatalogs, verdeutlichen
280 ANS M219 , Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Levecque, Arrêté portant énumération des infractions spéciales passibles des punitions disciplinaires dans la colonie du Sénégal, 14. März 1918, fol. 1. 281 Wobei berücksichtigt werden muss, dass die als indirekte steuerliche Abgabeleistungen angesehenen und in der Formulierung des Katalogs von 1888 noch explizit erwähnten Zwangsarbeitsleistungen der prestations hier unter den Begriff der impositions subsummiert wurden. 282 Zur temporären Abwesenheit oder Flucht als zeitspezifischer Strategie des Widerstandes gegenüber der kolonialen Herrschaft siehe Trotha 1994: 421-430. 283 ANS M219 , Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Levecque, Arrêté portant énumération des infractions spéciales passibles des punitions disciplinaires dans la colonie du Sénégal, 14. März 1918, fol. 2. 284 Ebd. 285 Ebd. fol. 5. 286 Ebd. fol. 4.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
dennoch die auch in zeitspezifischer Hinsicht zunehmend detailliertere kolonialherrschaftliche Reglementierung der Lebenswelt der lokalen Bevölkerung. Die trotz der wachsenden Anzahl an Verordnungen und der immer umfassenderen Normierung der Lebenswelt der einheimischen Bevölkerung weiterhin sehr allgemein und vage gehaltenen Begriffe und Ausdrucksweisen (wie bspw. négligence oder impositions) in den Formulierungen der Gesetzestexte dienten dabei in erster Linie dazu, eine möglichst große Flexibilität der Interpretation zu gewährleisten und weiteten die praktischen Anwendungsbereiche der Gesetze insofern noch weiter aus. Wird die wenig explizite, zumeist implizite und kontextuelle Festschreibung von Zeitzwängen im Disziplinarstrafkatalog unter diesem Aspekt betrachtet, so kann diese Vorgehensweise ebenfalls als Mittel zur Gewährleistung eines möglichst großen situationsbedingten Interpretationsspektrums gedeutet werden, welches den verantwortlichen Kolonialbeamten in der Praxis einen größeren Spielraum zur Verfügung von Zeitzwängen einrichtete, als wenn diese auf explizite und detaillierte Art und Weise legislativ festgeschrieben worden wären. In Hinsicht auf die wenigen expliziten zeitspezifischen Vorgaben im Disziplinarstrafkatalog erscheint darüber hinaus besonders bemerkenswert, dass sich unter den Bestimmungen des Disziplinarstrafkatalogs über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg kein einziger Artikel findet, der den von Zeitgenossen an anderer Stelle so oft und vielfältig kritisierten Aspekt der Faulheit und zeitlichen Sorglosigkeit der Einheimischen explizit sanktioniert oder aber auch nur erwähnt. Ein Umstand, der hier als Verweis auf die rhetorische Natur der Forderung nach größerer zeitlicher Disziplin in den Reihen der lokalen Bevölkerung verstanden wird und insofern aufzeigt, dass diese in der praktischen Realität kaum Entsprechungen fand. Die grundsätzlich vergleichsweise wenigen expliziten Erwähnungen zeitlicher Auflagen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die kolonialherrschaftliche Kontrolle über die zeitliche Organisation der lokalen Bevölkerung einen zentralen Aspekt darstellt, der vermittels des Disziplinarstrafkatalogs mit Nachdruck in die koloniale Situation eingeschrieben wurde. Dies äußerte sich auch wiederum auf einer eher impliziten Ebene. Anders gesagt, Konzeption und Inhalte von indigénat und Disziplinarstrafkatalog vermittelten auf unmissverständliche Weise, dass sich die Kolonialherrschaft das Recht herausnahm, in jede denkbare Lebenssituation der lokalen Bevölkerung maßregelnd einzugreifen und, wenn nötig, Individuen oder Gruppen zu diversen als notwendig erachteten und vermittels des Allgemeinwohls gerechtfertigten Aufgaben zu verpflichten, ungeachtet dessen, welchen Lebensumständen, damit verbundenen Notwendigkeiten und Tätigkeiten sich Letztere gerade gegenübersahen. Der Disziplinarstrafkatalog kann entsprechend als bedeutendster Ausdruck der unbeschränkten kolonialherrschaftlichen Macht und Verfügungsgewalt über die Zeit der lokalen Bevölkerung angesehen werden.
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Die Ordnung und Regulierung der Zeit wurde in den Protektoratsgebieten demzufolge zu einem Prozess reduziert, den die Kolonialherrschaft ausschließlich in einer Domäne militärrechtlicher und polizeilicher Aufgabenbereiche verortete und verhandelte. Die Einhaltung zeitspezifischer Normen beruhte hier auf einer extremen Hierarchisierung der Definitionsmacht über die Zeit und unterlag in dieser Hinsicht immer der Allmacht und Willkür der lokalen Vertreter der Kolonialherrschaft, die die Lebens- und Arbeitszeit der einheimischen Bevölkerung, je nach Bedarf, für die Zwecke des Kolonialsystems einfordern konnten. Die zwar geringfügige und wenig explizite, jedoch legislativ verbindliche Festschreibung von zeitspezifischen Ordnungspolitiken im Disziplinarstrafkatalog darf letztendlich auch nicht den Eindruck erwecken, dass diese in der Folge den Charakter einer unabänderlichen Normsetzung angenommen hätten. Unter den gegebenen Umständen der Konzentration von disziplinärer Verfügungsmacht in den Händen Einzelner verkamen vielmehr alle legislativ festgeschriebenen Reglementierungen des Disziplinarstrafkatalogs zu einer Farce und dienten den verantwortlichen Autoritäten vielmehr zur Verschleierung und Legitimierung unsäglicher Regelverstöße und Grausamkeiten ihrerseits denn als normsetzender Richtlinienkatalog für die Interaktionen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten.287 Das Regime des indigénat wird von Spittler insofern nicht umsonst als »die wichtigste legale Form«288 zur Anwendung von Gewalt durch die Distriktkommandanten klassifiziert, von der Letztere so ausgiebig Gebrauch machten, dass ihre vorgesetzten Gouverneure sie »ständig zur Mäßigung auffordern [mussten]«.289 Die legislative Festschreibung administrativer Verfügungsgewalt verstärkte insofern die schon zuvor etablierten Praktiken der Gewaltanwendung zum Zwecke der Verwirklichung kolonialherrschaftlicher Zielsetzungen.290 Die zahlreichen Regelverstöße und die generelle Missachtung der offiziellen Gesetze auf Ebene der lokalen Vertretungen der Kolonialverwaltung291 wurden dabei zumeist jedoch nicht einmal öffentlich, da sich die verantwortlichen Beamten vor Ort in dieser Hinsicht dem »[l]oi du silence«292 verschrieben hatten und eine Praxis der »[f]alsification«293 der Dokumentation betrieben, die es ihren nur über mangelhafte Möglichkeiten zur Kontrolle verfügenden Vorgesetzten nahezu unmöglich machte, die tatsächli-
287 288 289 290 291 292 293
Vgl. Asiwaju 1979 : 65-69. Spittler 1981 : 66. Ebd.: 67, siehe auch Cohen 1971: 68-69. Vgl. Asiwaju 1976: 46; Cohen 1971: 68; siehe ferner Spittler 1981: 66-67. Vgl. Bergmann 2000: 100-103. Ebd.: 94. Ebd.: 96.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
chen Vorkommnisse zu rekonstruieren.294 Die praktische Umsetzung der disziplinären Verordnungen des Regimes des indigénat war entsprechend vor allem durch Willkür und Missbräuche aller Art gekennzeichnet.295 Zeitliche Verordnungen des disziplinären Strafrechts für Einheimische waren davon nicht ausgenommen. Die Unzuverlässigkeit der vorhandenen Daten ist jedoch groß und ihre Aussagekraft über die diesbezüglich tatsächlich gepflegten Praktiken entsprechend gering. Unter gegebenen Umständen massiven Missbrauchs und großer Willkür erscheint es zumindest unzweifelhaft, dass die Einhaltung von gesetzlich vorgeschriebenen Zeitnormen in der Wirklichkeit oft nicht den in den Berichten angegebenen Umständen entsprach und die Missachtung legislativer zeitlicher Vorgaben über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg etablierter Bestandteil der alltäglichen administrativen Praxis war.
3.4.2. Die Missachtung der zeitspezifischen Ordnungspolitiken des Regimes des indigénat Die fehlende Berücksichtigung der zeitspezifischen Verordnungen des Regimes des indigénat von Seiten der Kolonialbeamten kann anhand der ausbleibenden Achtung und Einhaltung der im Disziplinarstrafkatalog festgeschriebenen Vorgaben für Inhaftierungszeiten exemplarisch verdeutlicht werden. Erwähnt Cohen diesbezüglich lediglich, dass der im Disziplinarstrafkatalog festgeschriebene maximale Strafsatz von 15 Hafttagen von den Distriktkommandanten durch die Verfügung mehrerer aufeinanderfolgender 15-Tages-Strafsätze auf regelwidrige Art und Weise enorm ausgedehnt wurde296 , so finden sich in den Akten auch zahlreiche gravierendere Fälle, in denen Haftstrafen von willkürlicher Dauer ohne jedwede gesetzliche Grundlage verfügt wurden. Selbst in Sine-Saloum, einem der administrativ und ökonomisch am intensivsten erschlossenen Bezirke der Kolonie, muss der Leutnant-Gouverneur den vor Ort verantwortlichen Distriktkommandanten daher noch im Jahre 1920 hinsichtlich der regelwidrigen Anwendung der Disziplinarstrafmaßnahmen ermahnen. In einem als geheim eingestuften Schriftwechsel bemängelt der Gouverneur entsprechend: »[M]algré les observations qui vous ont été adressés depuis plusieurs mois tant en ce qui concerne les peines disciplinaires que le fonctionnement de la justice
294 Vgl. Asiwaju 1976: 59-63. Hinsichtlich der in jederlei Hinsicht mangelnden und weitgehend fiktiven obrigkeitsstaatlichen Kontrolle über die mit den disziplinären Strafrechtsbefugnissen ausgestatteten Distriktkommandanten siehe Spittler 1981: 60-64; Cohen 1971: 63-64. 295 Vgl. Asiwaju 1976: 53, 65-69; siehe ferner Spittler 1981: 67. 296 Vgl. Cohen 1971 : 68.
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indigène, je relève […] une irrégularité qui constitue une illégalité des plus flagrantes.«297 Nicht nur, dass der hiesige Distriktkommandant in mehreren Fällen die legislativ maximal gültigen Strafsätze von entweder 15 Tagen Haft oder 100 Francs Strafzahlung kumulativ verfügte, der verantwortliche Beamte verhängte zudem Haftstrafen von einem Monat Dauer, die jedweder rechtlichen Grundlage entbehrten: »La contrainte par corps fixée par vous en cas de non paiement de l’amende infligée à été portée à un mois sans qu’aucun texte ne puisse vous autoriser.«298 Urteile wurden vom betreffenden Beamten zudem im Allgemeinen nur unvollständig dokumentiert, die Dauer der Inhaftierungszeiten auf den Unterlagen nicht angegeben und darüber hinaus wurden auch Strafen für Tatbestände verhängt, die schon seit einigen Jahren nicht mehr unter Strafe standen.299 Die in diesem Beispiel angesprochene Nachlässigkeit bei der zeitlichen Datierung der Inhaftierungszeiten von verurteilten Delinquenten äußerte sich dabei noch zu Beginn der 1920er Jahre regelmäßig in auch nahezu allen anderen Verwaltungsbezirken der Kolonie. Gerade in Hinsicht auf die justiziell Verurteilten, die auch offiziell zu längeren Haftstrafen verdammt werden konnten als disziplinarstrafrechtlich Verurteilte, zeigt sich eine profunde Missachtung zeitspezifischer gesetzlicher Vorgaben. Der verantwortliche Beamte der Direction des affaires politiques et administratives benachrichtigte den Generalgouverneur in einem Bericht über die Funktionsweise der justice indigène der Kolonie Senegal in den Monaten September bis November 1921 daher nicht grundlos über die große zeitliche »imprécision des renseignements« in den für die Prüfung der Einhaltung der rechtmäßigen Inhaftierungsdauer notwendigen Haftregistern300 der Bezirke »Thiès, Tivaouane, Louga, Matam, Baol, Sine-Saloum, Casamance [et] Kamobeul«: »L’examen des relevés des registres d’écrou m’a amène à constater pour cette même période, qu’ils ne comportaient pas avec exactitude les énonciations
297 ANS M220 , Lieutenant-Gouverneur Levecque à l’Administrateur du Cercle du Sine-Saloum, Au sujet des peines disciplinaires et du fonctionnement de la Justice indigène, Saint-Louis, 13. Januar 1920, fol. 1-2. 298 Ebd. fol. 2. 299 Ebd. fol. 2-3. 300 In den Haftregistern wurden alle Inhaftierten, egal ob nun justiziell oder disziplinarstrafrechtlich verurteilt, gemeinsam aufgeführt. Ebenso wie auch in den Gefängnisanstalten selbst keine Trennung zwischen den Verurteilten vorgenommen wurde.
IV. Das kolonialstaatliche Raum-Zeit-Gefüge
indispensables à l’exercice de mon contrôle, c’est à-dire la date de l’arrestation, celle du jugement, la date à laquelle la libération doit s’effectuer.«301 Waren die Angaben entgegen der im Zitat geäußerten Kritik mal präzise, so fanden sich im Anschluss an die Kontrolle gravierende zeitliche Verstöße, wie bspw. die Prüfung der Haftregister der drei vorangegangenen Monate Mai bis Juli 1921 ergab. Während der Anfang 1922 stattfindenden Prüfung fand der verantwortliche Generalstaatsanwalt in den Berichten der Verwaltungsbezirke Tivaouane, Louga, Diourbel sowie den Subdivisionen Bambey und Khombole302 wieder gravierende Datierungsfehler. Darunter Fälle wie den von Amadou Badio, der in Sine-Saloum am 28. Dezember 1920 zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde und dessen Haftzeit entsprechend eigentlich schon am 28. Juni 1921 geendet hätte. Der zum Zeitpunkt der Prüfung bereits fast genau 13 Monate zu lange einsitzende Delinquent konnte sich glücklich schätzen, dass dieser Umstand dem Generalstaatsanwalt bereits gegen Ende Januar 1922 aufgefallen war, sonst hätte er wohl noch bis zum vom lokalen Distriktkommandanten im Haftregister eingetragenen Entlassungstermin am 28. Dezember 1922 im Gefängnis bleiben müssen und wäre dann statt sechs Monaten insgesamt zwei Jahre und sechs Monate inhaftiert gewesen.303 Beispiele wie diese finden sich, seitdem im Zuge der Reorganisation des lokalen Rechtwesens im Jahre 1903 eine erste intensivere Kontrolle der Rechtsvorschriften und Inhaftierungszeiten vorgenommen wurde, zuhauf. Über die massive Missachtung zeitspezifischer Vorgaben und ein Ausmaß an diesbezüglicher zeitlicher Willkür, das mit dem jeweiligen Temperament der verantwortlichen Beamten zu korrespondieren schien, hinaus, lassen sich aus den überlieferten Dokumenten jedoch keine weiterführenden Schlussfolgerungen ziehen. Dabei ist bis in die 1920er Jahre hinein eine Verbesserung der Einhaltung der Verordnungen zu konstatieren, die sich im Allgemeinen darin ausdrückte, dass sich unter den verantwortlichen Kolonialbeamten auf Ebene der Kreisverwaltung mit der Zeit die Praxis durchzusetzen begann, die erforderlichen Unterlagen auch tatsächlich zur Prüfung vorzulegen. In Hinsicht auf Einhaltung zeitspezifischer Normen äußerte sich die Verbesserung z.B. auch darin, dass, zumindest auf dem Papier, eine normgerechtere Orientierung an den für Inhaftierungszeiten vorgegebenen Rechtsvorschriften einzusetzen begann.304 Ein Umstand, der einerseits aus der Zunahme von admi-
301 ANS 6M -161, Direction des affaires politiques et administratives au Gouverneur Général, Au sujet du fonctionnement de la Justice Indigène au Sénégal pendant les mois de Septembre, Octobre et Novembre 1921, 17. März 1922, fol. 2. 302 ANS 6M -161, Le Procureur Général à Monsieur le Gouverneur Général, Au Sujet du fonctionnement de la Justice Indigène dans la Colonie du Sénégal pendant les mois de Mai, Juin et Juillet 1921, 31. Januar 1921, fol. 1-2. 303 Ebd. fol. 2. 304 Vgl. dazu die Serie M und 6M im senegalesischen Nationalarchiv.
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nistrativen Kontrollmaßnahmen resultieren könnte, andererseits wiederum auch aus einer Verbesserung der Verschleierungstaktiken der verantwortlichen Kolonialbeamten. Ob letztendlich eine tatsächliche Verbesserung der Einhaltung der zeitlichen Normen im Rechtswesen stattfand, bleibt vorerst unbestimmbar.
V. Weltzeitnorm und uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften
Die zuvor dargelegte Strukturierung des Raum-Zeit-Gefüges des senegalesischen Kolonialstaates und die damit einhergehenden zeitspezifischen Zuschreibungen auf Ebene von administrativer Territorialorganisation, Siedlungsgeographie, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik verdeutlichen die Rahmenbedingungen für die Implementierung der Weltzeitordnung. Die Errichtung der temporalen Infrastrukturen, die für die Umsetzung und Implementierung der Weltzeitordnung in der Kolonie benötigt wurden und der Weg standardisierter Zeitsignale in die Kolonie wird im Folgenden vor dem Hintergrund der skizzierten kolonialstaatlichen Rahmenbedingungen vorgenommen.
1. Verfügbarkeit exakter Zeitstandards In der Anfangsphase von kolonialer Okkupation und auch administrativer Erschließung waren exakte zeitliche Standards und die Regulierung der Zeit, wie es der Direktor des Service Géographique der Kolonie Senegal 1911 in einem Bericht bezüglich der Angliederung an das System der Weltzeitzonen formulierte, grundsätzlich von keiner oder nur sehr geringer praktischer Bedeutung:1 »[A]u début de l’occupation des régions nouvellement ouvertes à l’effort colonisateur des peuples civilisés la question de la réglementation de l’heure n’a aucune importance.«2 1
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Einige der Textpassagen in den folgenden beiden Kapitelabschnitten (V.1. und V.2.) beruhen auf Ausführungen, die in veränderter Form bereits in einem anderen Zusammenhang veröffentlicht wurden. Siehe Sprute, Sebastian: U(h)reigene Zeiten. Grenzen der Implementierung von europäischen Zeitnormen in Senegal, 1890-1930, in: Katja Patzel-Mattern u. Albrecht Franz (Hg.): Der Faktor Zeit. Perspektiven kulturwissenschaftlicher Zeitforschung. Stuttgart 2015, S. 77- 105, hier insbesondere S. 85-88. ANS O259 , Directeur du Service Géographique, Rapport au Sujet de la détermination de l’heure légale en Afrique occidentale française et de la mise en concordance avec le système universel des fuseaux horaires, 18. Juli 1911, fol. 1.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Erst durch die zunehmende wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie wurde die Regulierung der Zeit auch für die Kolonialbeamten in Senegal zu einer relevanten Thematik : »Il n’en est plus de même dans une colonie qui est déjà partiellement dotée d’un important outillage économique appelé à prendre rapidement une très grande extension.«3 Die administrative Erschließung und ökonomische Ausbeutung der Kolonien sowie deren Einbindung ins heranwachsende Weltwirtschaftssystem beförderten dementsprechend auch die Überlegungen zur Einführung und Implementierung von zeitlichen Standards. Die erste in den senegalesischen Archiven dokumentierte Erwähnung der kolonialstaatlichen Auseinandersetzung mit dem Prozess der Standardisierung der Zeit, der Implementierung spezifisch temporaler Infrastrukturen und der Anwendung von exakten Zeitstandards fiel in das Jahr 1905. In diesem Jahr wurde, wie bereits erwähnt, die erste maritime Telegraphenverbindung eröffnet, die Dakar in Senegal direkt mit der französischen Hafenstadt Brest verband und eine permanente, regelmäßige und sichere Kommunikation von standardisierten Zeitsignalen erlaubte.4 Bevor standardisierte Zeitsignale per Telegraphie versendet werden konnten, waren diese vermittels der auf Schiffen mitgeführten Marinechronometer in die Kolonie übermittelt worden. Ab 1885 erfolgte die erste über gemeinschaftlich mit anderen europäischen Nationen genutzte maritime Telegraphenverbindungen bewerkstelligte Zeitsignalversendung und ab 1905 konnte dann die erste rein französische Unterwasserkabelverbindung genutzt werden. Die praktische Verantwortung über die Versorgung der Kolonie mit standardisierten Zeitsignalen und über die Regulierung der temps légal oblag dabei der französischen Marine.5 Bis 1904 war jedoch nur ein Marineleutnant im Hafen von Dakar für die Übermittlung von exakten Zeitstandards verantwortlich, ab 1904 wurde diesem ein provisorisches Zeitamt unterstellt, das Bureau des Montres6 , welches von nun an die mittlere Ortszeit und die astronomische Zeit wöchentlich per Telefon an die örtliche Eisenbahngesellschaft sowie interessierte Schifffahrtsunternehmen weiterleitete.7 Das maschinelle Ensemble an zeitspezifischen Infrastrukturen bzw. insbesondere die zur Verwendung kommenden Uhren ermöglichten jedoch nur ein eingeschränktes Maß an zeitlicher Präzision, welches sich für die Koordination administrativer und organisatorischer Belange nur bedingt eignete. Die zur zeitlichen Koordination genutzten referentiellen Lokalzeiten wiesen daher im Vergleich zur standardisierten 3 4 5 6 7
Ebd. Vgl. Fouchard 2002 : 5. ANS O259 , Capitaine de frégate Lotte Commandant de la Marine à Dakar au Gouverneur Général, 27. April 1905, fol. 1-2. ANS O259, Lieutenant- Gouverneur du Sénégal à Saint- Louis, 17. Juni 1905, fol. 2. ANS O259 , Capitaine de frégate Lotte Commandant de la Marine à Dakar au Gouverneur Général, 27. April 1905, fol. 1-2, 4.
V. Weltzeitnorm und uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften
Einheitszeit zumeist eine Verzögerung von 10 bis 20 Minuten auf. Ein Umstand, der unter den betroffenen kolonialstaatlichen Akteuren zu regelmäßigen Diskussionen über die korrekte Bestimmung der Zeit führte: »Enfin, l’heure locale de la ville indiquée par les horloges publiques est toujours erronée de dix a vingt minutes, ce qui, au moment de l’ouverture et de la fermeture des bureaux officiels, de la douane en particulier, donne lieu à des discussions.«8 Trotz dieser zeitspezifischen Ungenauigkeit blieb die personale Ausstattung des kolonialstaatlichen Zeitdienstes auch nach der Gründung des Bureau des Montres auf einen einzigen Marineleutnant und eine Hilfskraft9 beschränkt, da im Budget der Kolonie ursprünglich kein Posten dafür vorgesehen war10 , die Akquisition zusätzlicher Geldmittel sich schwierig gestaltete und die zuerst provisorische Abwicklung des Dienstes durch dafür nicht explizit entlohntes Militärpersonal die zivile Administration zur weiteren Einsparung von Geldern und dem Erhalt der behelfsmäßigen Situation verleitete.11 Erst im Zuge der französischen Gesetze zur Angliederung an die GMT von 1911 und der ein Jahr zuvor erfolgten Installation des Pariser Funkzeitsignals kam es letztlich zu einer partiellen Ausweitung des kolonialstaatlichen Zeitdienstes in Senegal und zur abschließenden Angleichung an die standardisierte Einheitszeit. Die ursprünglich durch Marineoffiziere gewährleistete Wartung des zeitspezifischen maschinellen Ensembles und die Regulierung der temps légal in der Kolonie ging infolge der funkgestützten Zeitsignalvergabe auf die mit der Oberaufsicht über das koloniale Telegraphenwesen betrauten Beamten des in der Kolonie ansässigen Post- und Telegraphenwesens über.12 Die seit 1910 von Paris aus gesendeten standardisierten Zeitsignale wurden in den senegalesischen Sendestationen von Dakar und Rufisque empfangen undper Überland-Telegraphenleitung oder Telefon an das Zeitamt im Hafen von Dakar und die zentralen Post- und Telegraphenämter in Dakar und Saint-Louis gesendet, wo sie zum Eichen der zentralen lo-
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Ebd. : fol. 1-2. Vgl. ebd.: fol. 5. Auch 1911 wies das Budget noch keinen separaten Posten für den Unterhalt des Zeitdienstes aus. (Vgl. ANS O259 , Saint-Louis à Gouverneur-Général, 23. Februar 1911, fol. 1) ANS O259 , Capitaine de frégate Lotte Commandant de la Marine à Dakar au Gouverneur Général, 27. April 1905, fol. 4-5. Erste Postverbindungen zwischen Frankreich und den westafrikanischen Küstenregionen sind bis 1626 zurückzuverfolgen. Erste Poststationen wurden in 1842 in Gorée und 1856 in Saint-Louis eingerichtet, erst nachdem die beiden privaten Schifffahrtsunternehmen Fraissinet und Chargeurs ab 1879 einen gemeinsam organisierten Transportdienst anboten, kam es jedoch zu einem regelmäßigen Postverkehr zwischen diesen beiden Kommunen und Frankreich. 1903 wurde dann in Dakar eine föderale Post- und Telegrapheninspektion gegründet. (Vgl. Faye 1990: 281)
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kalen Referenzuhren dienten.13 Von dort wurden die standardisierten Zeitsignale auch an alle anderen Dienststellen des Post- und Telegraphenwesens in der Kolonie versendet. Die Mitarbeiter in den unterschiedlichen Ämtern und Stationen waren wiederum verpflichtet, sicherzustellen, dass alle Uhren in den örtlichen öffentlichen Einrichtungen die neue Einheitszeit auch korrekt wiedergaben.14 Der Prozess der Standardisierung der Zeit, verstanden im Sinne eines primär technologischen Unterfangens, den ›neuen‹ Zeitstandard auch in der Kolonie Senegal verfügbar zu machen und zu verbreiten, war damit in technologischer Hinsicht grundsätzlich abgeschlossen. Kolonialstaatliche und wirtschaftliche Institutionen konnten ihre Tätigkeiten nun an der standardisierten Einheitszeit ausrichten und in den Kolonialstädten, den Hauptsitzen der Bezirksverwaltung, anderen größeren europäischen Ansiedlungen und den wenigen industriellen Domänen entwickelten sich überschaubare Knotenpunkte von uhrzeitspezifischen Organisationsformen, die sich am Weltzeitnormal orientierten. Zentrale Einrichtungen und Institutionen der Kolonie wie bspw. Rathäuser, Bahnhöfe, Post- und Telegraphenämter sowie zu einem geringeren Grade auch große Märkte und darüber hinaus die Kirchen und sogar einige Moscheen waren mit öffentlichen Uhren ausgestattet und verkündeten die neue Zeit.15 Die Stationsuhren der Post- und Telegraphenämter dienten dabei als jeweilige lokale Referenzuhren und die Empfangschefs in den jeweiligen Ämtern und Stationen waren wiederum angewiesen, sich einmal wöchentlich zu versichern, dass die ihnen anvertrauten öffentlichen Uhren die standardisierte Einheitszeit auch exakt wiedergaben.16 Die Oberaufsicht über die Einhaltung der Einheitszeit und deren
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In den als »centres importants“ angesehenen Kolonialstädten der Föderation FranzösischWestafrikas wurde die jeweils gültige Zonenzeit darüber hinaus spätestens ab 1934 jeden Morgen zu einer festgelegten Zeit auch auf akustische Weise, d.h. per »coups de gong, tamtam, coups de canon, etc…«, verkündet, damit die verschiedenen Dienste ihre Uhren mit der offiziellen Zeit abgleichen konnten. (ANS 18G -144 (108), Gouverneur Général Brévié, Circulaire au sujet de l’arrêté fixant l’heure légale en A.O.F. du 26 Février 1934, 20. März 1934) ANS O259 , Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Core, Arrête au sujet de la nouvelle heure légale, November 1911, fol. 1. Unter den Motiven der vom zeitgenössischen Photographen Edmond Fortier erstellten Postkarten finden sich visuelle Belege für Uhren an den genannten öffentlichen Gebäuden in Dakar, Saint-Louis und in eingeschränkterem Maße auch Rufisque in der Zeit zwischen 1900 und 1920. Siehe Fortier (1900-1920): Sénégal: Dakar, N° 1653 – Moschee, N° 1726 – Gebäude der Hafenverwaltung, N° 1771 – Bahnhof, N° 1784 – Rathaus, N° 1799 – Kirche, N° 1811 – Markthalle; Saint-Louis, N° 1965 – Rathaus, N° 1967 – Moschee, N° 1966 – Post; Rufisque, N° 1884 – Kirche, N° 1885 – Moschee. Zu Abbildungen von Uhreninstallationen an Moscheegebäuden siehe im folgenden Kapitel VII.2.5. ANS O259 , Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Core, Arrête au sujet de la nouvelle heure légale, November 1911, fol. 1-2.
V. Weltzeitnorm und uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften
Abbildung 5 – Stationsuhr vor dem Post- und Telegraphenamt in Saint-Louis (1900-1920).
Aus: Fortier (1900-1920): Sénégal N° 1966.
korrekte Weitergabe besaßen dabei der Inspektor des Post- und Telegraphendienstes, die lokalen Verantwortlichen in den Außenstellen der zuständigen Bezirke und die Distriktkommandanten.17 In den ländlichen Verwaltungsbezirken ohne eigenständiges Post- und Telegraphenamt wurden dagegen bis in die 1930er Jahre hinein nur einfache, in den jeweiligen Hauptverwaltungssitzen platzierte Uhren als zentrale lokale Referenzuhren genutzt. Letztendlich waren zwar auch alle Hauptverwaltungssitze in ein rudimentäres System von Postdienstleistungen eingebunden, es gab jedoch keine spezialisierte uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaft, die sich mit der Wartung und Einhaltung der universellen Einheitszeit auseinandersetzte und die Oberaufsicht über die Einhaltung jedweder zeitlicher Standards entfiel in diesem Falle auf die generell willkürlich agierenden Distriktkommandanten der jeweiligen Bezirke.18 Das Post- und Telegraphenwesen diente somit als einzige verlässliche Basis für die Vergabe und Verbreitung des Weltzeitstandards in der Kolonie, die geographische Ausdehnung des mit diesen öffentlichen Institutionen verbundenen
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Ebd. fol. 2. ANS O259 , Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Core, Arrête au sujet de la nouvelle heure légale, November 1911, fol. 2.
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Transport- und Kommunikationsnetzwerkes definierte daher zu einem gewissen Grade auch die Möglichkeiten zur Anwendung präziser zeitlicher Standards. In zunehmender räumlicher Entfernung von den zentralen Transport- und Kommunikationsachsen gestaltete es sich schwierig bis unmöglich, eine anhand von exakten zeitlichen Standards orientierte Zeitordnung zu etablieren und einzuhalten. Letzteres vor allem aufgrund der im Folgenden noch eingehender erläuterten qualitativen Unzulänglichkeiten der zeitgenössischen Uhren, deren nur geringe Ganggenauigkeit es erforderte, diese regelmäßig und in relativ kurzfristig aufeinanderfolgenden Abständen mit der durch eine präzise laufende Referenzuhr angegebenen Standardzeit abzustimmen.Das räumliche Ausmaß des Transport- und Kommunikationsnetzwerkes definierte insofern zu einem gewissen Grade auch die Grenzen der Verbreitung des Weltzeitstandards und korrespondierender (exakter und normkonformer) uhrzeitspezifischer Organisationsformen und Handlungsgesellschaften.
Abbildung 6 – Post- und Telegraphenverbindungen der Kolonie (1907).
Aus : Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1907 : 110.
V. Weltzeitnorm und uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften
Abbildung 6 zeigt die geographische Ausdehnung des Transport- und Kommunikationsnetzwerkes im Jahre 1907. Graue Linien kennzeichnen die Land- und Seewege, die dem französischen Post- und Telegraphendienst (P.T.T.) unterstanden, die in schwarzer Farbe gezeichneten hingegen Transport- und Nachrichtenverbindungen privater Dienstleister, darunter an erster Stelle die durch eine etwas dickere schwarze Linie markierte Bahnverbindung zwischen Dakar und Saint-Louis. Die bedeutendste Erweiterung des kolonialen Transport- und Kommunikationsnetzwerk innerhalb des Untersuchungszeitraumes, die erst nach 1907 hinzukam, wurde vermittels der Vervollständigung der Eisenbahn- und Telegraphentrasse zwischen Thiès und Kayes verwirklicht, welche 1923 fertiggestellt wurde. Darüber hinaus wurden auch noch eine Bahnverbindung zwischen Louga und Linguère sowie ein rudimentäres System von ganzjährig befahrbaren Straßen geschaffen. Die folgende Abbildung 7 zeigt den Verlauf der bis 1931 geschaffenen Bahnlinien und Fernstraßen. Hinsichtlich des Ausmaßes des Gesamtterritoriums der Kolonie waren die Anwendung des Weltzeitstandards und korrespondierende, das präzise Zeitnormal auch effektiv nutzende uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften noch in den 1930er Jahren auf nur wenige kleine Bereiche beschränkt, die sich zudem alle in räumlicher Nähe zu den prinzipiellen Wirtschaftszentren und Exportinfrastrukturen der kolonialstaatlichen Handelsökonomie befanden.
2. Uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften und Nutzen exakter Zeitstandards Die Standardisierung der Zeit und die Implementierung von Infrastrukturen, die das Weltzeitnormal in der Kolonie verfügbar machten, erweiterten das Spektrum der kolonialstaatlichen Zeitlandschaft um eine weitere Dimension. Den kolonialherrschaftlichen Protagonisten war es nun möglich, auf das gesamte Spektrum bekannter Methoden zur Zeitbestimmung zurückzugreifen ‒ von präziser, sekundengenau berechneter astronomischer Zeit bis hin zu den wenig genauen Zeitangaben der Sonnenstandsmessung ‒ um die Organisation zeitlicher Abläufe in der Kolonie zu gestalten. Eine zweckmäßige, effektive und normkonforme Nutzung der durch die Einheitszeit gewährten zeitlichen Exaktheit war unter kolonialen Bedingungen jedoch grundsätzlich nur im Zusammenhang mit uhrzeitspezifischen Handlungsgesellschaften und den begleitenden technologisch-maschinellen Ensembles der industrialisierten Welt zu bewerkstelligen gewesen. Handlungsgemeinschaften, die direkt von der Implementierung der standardisierten Einheitszeit profitierten und die die absolute Präzision des universellen Zeitnormals auch nutzbringend anwenden konnten, waren die wissenschaftlichen Dienste der Kolonie (Astronomen, Geographen und Meteorologen), das Militär, das Post- und Telegraphenwe-
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Weltzeit im Kolonialstaat
Abbildung 7 – Eisenbahnverbindungen und Straßenverkehrswege (1931).
Aus: Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1931: 14-15. Im Unterschied zu den in breiten durchgängigen schwarzen Linien gekennzeichneten Bahnverbindungen sind die Straßenverkehrswege durch nur schwarz umrandete durchgängige Linien ausgezeichnet. Daneben sind auch die Außengrenzen der Kolonie (dickere gepunktete Linien) und die Begrenzungen der Verwaltungsbezirke (dünne gepunktete Linien) markiert.
sen, die Kolonialbürokratie sowie Eisenbahngesellschaften, Schifffahrts- und Handelsunternehmen.19 Die mitunter bedeutendste zeitspezifische technologische Innovation, die in diesem Kontext realisiert werden konnte, betraf die Erweiterung des Zeitamtes im Hafen von Dakar um einen sogenannten Zeitball, d.h. ein an einem weithin sichtbaren Mast befestigten Signalballon, der zu vorgegebenen Zeiten längs des Mastes hinabfiel und es den Besatzungen der im Hafen liegenden Marine- und
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ANS O259 , Capitaine de frégate Lotte Commandant de la Marine à Dakar au Gouverneur Général, 27. April 1905, fol. 5; Gouverneur Général Ponty, Arrête portant rattachement du signal horaire au port de commerce de Dakar, 29. April 1911, fol. 1-2; Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Core, Arrête au sujet de la nouvelle heure légale, November 1911, fol. 2.
V. Weltzeitnorm und uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften
Handelsschiffe ermöglichte, ihre Schiffsuhren mit der GMT abzustimmen.20 Das bereits 1905 angedachte Projekt wurde durch einen Erlass des Generalgouverneurs Merleaud-Ponty vom 29. April 1911 rechtskräftig.21 An einer Ecke des Geländes des Marinearsenals und in guter Sichtweite zum westlich davon gelegenen Handelshafen wurde daraufhin ein Zeitball installiert, der per Telefonleitung mit dem Bureau des Montres verbunden wurde.22 Der Zeitball wurde infolgedessen einmal täglich ausgelöst: »Le cylindre hissé au tête du mât a 9h 58 temps moyen de Dakar, tombera à 10h 00 (11h 19,3,2 TM de Paris et 11h 9‹, 42‹ 6 TM Greenwich). Ce cylindre rehissé aussitôt tombera deux minutes plus tard. En cas de mauvais fonctionnement de l’appareil, un pavillon rouge hissé à la vergue du signal indiquera que l’heure a été mal donné et que les opérations seront récompensées de la même manière 10 minutes après l’instant de la première chute.«23 Ursprünglich war zur Unterstützung des Zeitball-Signals ein gleichzeitig abgefeuerter Kanonenschuss in Erwägung gezogen worden, eine für diese Zeit nicht unübliche Praktik24 , der Vorschlag des Fregattenkapitäns Crova aus dem Jahre 1909 20
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Die vornehmlich für die Schifffahrt konzipierten Zeitbälle waren darüber hinaus auch für die zeitliche Organisation des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in Hafenstädten von Bedeutung: »In den Häfen der Welt waren zeitweilig etwa 250 Zeitbälle in Betrieb.« (Enslin 1988 : 64-65) ANS O259 , Gouverneur Général Ponty, Arrête portant rattachement du signal horaire au port de commerce de Dakar, 29. April 1911, fol 1-2. Vgl. ebd. ANS O259 , Gouverneur Général Ponty, Arrête portant rattachement du signal horaire au port de commerce de Dakar, 29. April 1911, fol. 1. Die unterschiedliche Schreibweise der in Klammer gesetzten exakten Zeitangaben in jeweils mittlerer Pariser Ortszeit und GMT entsprechen dem Original. Entweder handelt es sich hier einfach um orthographische Ungenauigkeiten bzw. Unregelmäßigkeiten seitens des Verfassers oder die Zeitangaben in mittlerer Pariser Ortszeit und GMT wurden bewusst auf unterschiedliche Art und Weise notiert. von Kayes und Bamako am Niger belegt. Dort wurde die genaue temps légal jeden Tag gegen Mittag per Kanonenschuss signalisiert. (ANS O259 , Lieutenant Gouverneur du Haut- Sénégal et Niger Clozel à Gouverneur Général, Télégramme, 19. Dezember 1911) Hinsichtlich der Situation in Senegal ist nachweisbar, dass Kanonenschüsse zumindest im Kontext von Feierlichkeiten auch als Zeitsignalgeber Verwendung fanden. In einer Verordnung zu den Modalitäten der Ausrichtung des französischen Nationalfeiertages des Gouverneurs Louis F. de Lanneau aus dem Jahre 1881 wurde diesbezüglich festgelegt, dass insgesamt drei Salven von je 21 Kanonenschüssen abgefeuert werden sollten. Die erste bereits zum Sonnenuntergang am Vortag des Festes, um die Feierlichkeiten des darauffolgenden Tages anzukündigen, die zweite und dritte dann jeweils zu Sonnenaufgang und -untergang am Festtag selbst. (ANS 3 G2−111 , Gouverneur du Sénégal et Dépendances Lanneau, Ordonnance, 14. Juli 1881, Art. 1 u. 2) Die wenigen diesbezüglich erhaltenen Dokumente verweisen darauf, dass sich die Autoritäten in den vier Kommunen in den darauffolgenden Jahren auch an diese Praxis hielten, wie anhand der Programmaushänge zum 14. Juli in Dakar von 1888, 1891 und 1895 sowie
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Weltzeit im Kolonialstaat
findet sich in der endgültigen Fassung des föderalen Erlasses von 1911 jedoch nicht wieder.25 Eine für die Anpassung und Umsetzung internationaler Zeitstandards ebenso bedeutsame Maßnahme stellte die ebenfalls im Zuge der Angleichung an die standardisierte Einheitszeit durchgeführte Umstellung der täglichen Stundenzählung von der zuvor allgemein üblichen Zählung über zweimal zwölf Stunden (Vormittag und Nachmittag) auf die Zählung über 24 Stunden dar, welche insbesondere der Abstimmung von Zeitzonen und Territorialeinheiten überschreitenden Interaktionen in Transportwesen, Bürokratie, Handels- und Grenzverkehr zugute kam.26 Die neue Zählweise hatte sich zuvor schon im Post- und Telegraphenwesen Französisch-Westafrikas bewährt und die Kolonialverwaltung nutzte die Gelegenheit der Angleichung an die GMT, um auch die zeitliche Abstimmung der anderen kolonialstaatlichen Dienste in den unterschiedlichen Kolonien zu verbessern.27 Eine zeitlich einigermaßen präzise und für die Belange der Kolonialherren in dieser Hinsicht ausreichende Gestaltung von Handlungs- und Organisationsabläufen war jedoch nicht von der Existenz eines absolut präzisen Zeitnormals abhängig, sondern in erster Linie an das Vorhandensein von Uhren gekoppelt. Uhrzeitspezifische Zeitordnungen hatten sich daher im Gefolge der europäischen Kolonialherren auch schon vor der Durchsetzung der vereinheitlichten Standardzeit in den Kolonialgebieten etablieren können. Die vor der Einführung des universellen Zeitnormals in der Kolonie verwendeten zeitlichen Bezugsrahmen waren daher zwar in geringerem Maß standardisiert und weniger exakt, die dadurch gewährleistete zeitliche Präzision reichte jedoch aus, um eine grundsätzliche Funktionalität von Handlungs- und Organisationsabläufen zu gewährleisten, die auf uhrzeitspezifischen Rhythmen basierten.28 Die 1884 vollzogene Standardisierung der Zeit und
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von Gorée aus den Jahren 1888 und 1890 nachgewiesen werden kann. (ANS 3 G2−111 , Commune de Dakar, Programme de la fête nationale du 14. Juillet 1888, 1891, 1895; Ville de Gorée, Fête nationale, Programme 1888, 1890) In Gorée richtete sich der Zeitpunkt für das Abfeuern der Kanonenschüsse anders als im Falle von Dakar jedoch nicht am Sonnenlauf aus, sondern folgte festgelegten Uhrzeiten, d.h. die morgendliche Salve wurde um 8 Uhr ausgeführt und die abendliche um 18 Uhr. (Vgl. ebd.) Für die Ausrichtung des Nationalfeiertages in Rufisque ist die Verwendung von Kanonenschüssen als akustisches Zeitsignal in den Festprogrammen nicht belegt. (ANS 3 G2−111 , Ville de Rufisque, Programme de la fête nationale du 14 Juillet 1895, 1896) Erläuterungen der Situation in Saint-Louis fehlen hier ebenfalls. ANS O259 , Le Capitaine de Frégate Crova, Commandant de la Marine au Sénégal à Monsieur le Gouverneur Général de l’Afrique Occidentale Française Ponty à Dakar, 15. Februar 1909. ANS O259, Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Core, Arrête au sujet de la nouvelle heure légale, November 1911, fol. 1-2. Ebd. ANS O259 , Directeur du Service Géographique, Rapport au Sujet de la détermination de l’heure légale en Afrique occidentale française et de la mise en concordance avec le système universel des fuseaux horaires, 18. Juli 1911, fol. 1.
V. Weltzeitnorm und uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften
die 1911 erfolgte Angliederung an das System der Zonenzeiten führten im kolonialstaatlichen Senegal daher, über die in diesem Abschnitt diskutierten zeitspezifischen Phänomene hinaus, zu keinen unmittelbaren oder abrupten Veränderungen der zeitlichen Organisation innerhalb der Kolonie. Wenig normkonforme und nur zu einem gewissen Grade exakte, trotzdem mehr und mehr durch eine anhand von mechanischen Uhren gewährleistete Zeitmessung geschaffene zeitliche Ordnungen blieben somit letztendlich über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg erhalten. Als ständiges Accessoire und immerwährender Begleiter europäischer Protagonisten stellten Uhren insofern in geographischer wie historischer Hinsicht auch jenseits des Zugangs zu einer standardisierten Referenzzeit das primäre Mittel zur zeitspezifischen Organisation in der Kolonie dar. Auschlaggebend für diese in zeitspezifischer Hinsicht nahezu allumfassende Bedeutung der Uhr war die Massenproduktion und flächendeckende Verbreitung preisgünstiger transportabler Taschenuhren im Europa der zweiten Hälfte des 19. Jh.29 Kostete eine Taschenuhr »gegen 1850 noch mindestens einen Monatslohn eines Fabrikarbeiters, so war sie gegen Ende des Jahrhunderts für einen Tageslohn zu haben.«30 In Paris war es infolge des dadurch ermöglichten Zusammenspiels von öffentlichen und privaten Zeitmessern, entsprechend der optimistischen Einschätzung eines Zeitgenossen daher spätestens seit Beginn der 1880er Jahre gang und gäbe, jederzeit genaueste Auskunft über die Zeit zu haben.31 29 30 31
Vgl. Glasemann 1989: 236. Ebd.: 235. Vgl. Franklin 1888: 1. Präzise, auf astronomischen Berechnungen fußende Zeitangaben waren dabei auf ebenso präzise gesteuerte öffentliche Uhren und Zeitvergabesysteme angewiesen. Erst die Entwicklung dieser Systeme ermöglichte es, dass sich die astronomisch berechnete Zeit als sinnvolle und effektive Grundlage zur Berechnung der bürgerlichen Zeitordnung etablieren konnte. Erste Versuche, automatisierte Zeitsignale von einer zentral gesteuerten »Haupt-Uhr aus über Leitungen [an] Nebenuhren“ (Enslin 1988: 64) zu senden und diese damit zu steuern, konnten bereits 1840 erfolgreich durchgeführt werden. 1859 wurde in Paris dann ein erstes zentralgesteuertes Zeitvergabesystem installiert, das zehn Nebenuhren von einer Hauptuhr aus synchronisieren konnte. (Vgl. ebd.) 1878 wurde auf der Pariser Weltausstellung das sogenannte System Popp vorgestellt, ein Zeitvergabesystem, welches »Uhren über gesonderte Leitungen in der gesamten Stadt von einer Zentralanlage durch Druckluftimpulse steuern konnte.« (Ebd.) Die Compagnie Générale des Horloges Pneumatiques betrieb dieses System in Paris seit 1881 und konnte 1889 bereits auf ein Uhrennetz verweisen, an das »90 öffentliche Uhren und 8000 Privatuhren [verbunden durch] 68 km Spezialrohrleitungen“ (Rambal (1889) zit. in Merle 1989: 215; siehe auch Merle 1989: 197) angeschlossen waren. Das Pariser Zeitvergabesystem war eines der fortschrittlichsten seiner Zeit, auch wenn es technologisch nicht so ausgefeilt war wie das der angelsächsischen Konkurrenz. (Vgl. Howse 1997: 113) Die Übermittlung von Zeitsignalen in derartigen Zeitvergabesystemen konnte »pneumatisch, hydraulisch oder elektrisch [erfolgen] […] Auch innerhalb von Gebäuden, Fabriken oder Verwaltungen wurden Uhrenanlagen mit Haupt- und Nebenuhren installiert.«(Glasemann
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Über die während der Untersuchungsperiode zwischen 1880 und 1930 tatsächlich realisierte Verbreitung und Nutzung privater tragbarer Uhren innerhalb der Kolonie Senegal ist grundsätzlich nur sehr wenig bekannt. Die in Europa bereits ab der Jahrhundertmitte des 19. Jh. einsetzende flächendeckende Verbreitung tragbarer Uhren und die kontinuierliche Zunahme der Bedeutung von exakten Zeitstandards im Verlauf des Jahrhunderts lassen jedoch darauf schließen, dass sich die europäischen Protagonisten auch während Aufenthalten in den Kolonien nicht von ihren Zeitmessern trennten. Uhren wurden von Europäern bereits zu dieser Zeit als »accessoire indispensable«32 angesehen und gehörten, so deuten es zeitgenössische Empfehlungen in Handbüchern und Leitfäden an, zum Leben in den Kolonien und zur essentiellen Grundausstattung europäischer Reisender in den französischen Kolonialterritorien Westafrikas. In einem dieser Leitfäden aus dem Jahre 1928 wurde beispielsweise die Mitnahme einer »[m]ontre très robuste«33 , vorzugsweise jedoch die Mitnahme zweier solcher Uhren empfohlen. Entsprechend dem Handbuch von Jung aus dem Jahre 1931 galt es, neben einer guten Uhr auch noch einen Wecker mitzunehmen »une bonne montre et un réveil«.34 Einfache tragbare Uhren (Taschenuhren, Armbanduhren35 ) für den ›Normalverbraucher‹ waren, anders als die frühen Chronometer dieser Epoche, jedoch generell nur von geringer Ganggenauigkeit und konnten keine kleinteiligen, im Sekundenbereich verorteten Zeitspannen erfassen.36 Die vergleichsweise geringe Ganggenauigkeit der Zeitmesser, insbesondere die der in Massenproduktion
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1989: 236) Die zeitgenössische Verbreitung von Zeitsignalen bediente sich darüber hinaus auch telegraphischer und akustischer Signale (bspw. Kanonenschüsse). (Vgl. Enslin 1988: 64) Später kamen Zeitvergabe bzw. Zeitansage per Telefon und Funk hinzu. In Paris war die vom örtlichen Observatorium astronomisch exakt bestimmte Zeit bspw. ab 1905 auch telefonisch verfügbar (Vgl. Howse 1997: 159) und ab 1911 wurde, wie erwähnt, regelmäßig ein Funkzeitsignal vom Eiffelturm ausgesendet. (Vgl. ebd.: 155) Lévaré 1928: 227. Ebd.: 227. Jung 1931: 17. Bis zum Ersten Weltkrieg fanden vor allem Taschenuhren Verwendung als tragbare Zeitmesser, Armbanduhren hingegen waren nicht allzu populär und galten als von Männern verschmähtes weibliches Accessoire. Erst die positiven Erfahrungen vieler männlicher Soldaten im Ersten Weltkrieg, die Armbanduhren als Bestandteil ihrer militärischen Standardfeldausrüstung bei sich führten, relativierten dieses Image und begründeten einen starken Anstieg des Absatzes von Armbanduhren in den Nachkriegsjahren. (Vgl. Whitrow 1989: 166) In den 1920er Jahren verdrängte die Armbanduhr die Taschenuhr als portabler Zeitmesser »in der Gunst des Publikums. […] [Wodurch] das Auf-die-Uhr-sehen zu einer unwillkürlichen Geste werden [konnte], die man unzählige Male am Tag fast unbewußt vollzieht.« (Glasemann 1989: 236-237) Vgl. Jenzen 1989: 100. Die ersten tragbaren Uhren, welche über einen Sekundenzeiger verfügten und daher auch die absolute Präzision des 1884 festgelegten Weltzeitnormals exakt wiedergeben konnten, wurden erst im Jahre 1916 entwickelt. (Vgl. Kern 2003: 20) Die erste öf-
V. Weltzeitnorm und uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften
hergestellten preisgünstigen Uhren, bedingte zudem, dass diese oft nachgestellt werden mussten. Ihre billige Mechanik führte darüber hinaus oftmals dazu, dass sie bereits nach kurzer Zeit nicht mehr funktionierten. Minderwertige Qualität und geringe Haltbarkeit der tragbaren Uhren dürften dabei insbesondere unter den vergleichsweise anspruchsvollen klimatischen Bedingungen der westafrikanischen Überseegebiete zu noch weitaus höheren Ausfallquoten beigetragen haben. An Reparaturen der komplizierten und feingliedrigen Mechaniken der Instrumente war unter gegebenen Bedingungen nicht zu denken. Die Anforderung von Ersatzuhren aus dem französischen Mutterland war zwar nicht unmöglich, gestaltete sich je nach Lokalität jedoch schwierig und erforderte einige Zeit, da bereits die Bestellung einfachster Haushaltsgegenstände wie bspw. einer Kaffeemühle aus Frankreich in die Föderationshauptstadt Dakar noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. grundsätzlich mehr als einen Monat Zeit in Anspruch nahm.37 Die geringe Qualität günstiger Uhrenmodelle dieser Epoche resultierte dabei oftmals darin, dass robustere, jedoch ältere und ungenauere Uhrenmodelle, die sich im alltäglichen häuslichen Gebrauch bewährt hatten, noch lange Zeit den neueren und exakteren Modellen vorgezogen wurden.38 Wohl auch deshalb verweisen die erwähnten Handbücher und Leitfäden zum Leben in den Kolonien darauf, möglichst gleich zwei ›sehr robuste‹ Uhren sowie einen ›guten‹ Wecker dorthin mitzubringen. Die Verwendung älterer und damit zwangsweise ungenauerer Uhrenmodelle bedingte im Gegenzug wiederum, dass die Präzision der auf astronomischen Berechnungen fußenden bürgerlichen Zeitordnung durch die veralteten Uhrwerke zumeist nicht wiedergegeben werden konnte, weshalb sich diese zur Orientierung an exakten zeitlichen Standards nicht eigneten. Geringe Ganggenauigkeit und kurze Lebensdauer tragbarer Uhren stellten in dieser Epoche dabei jedoch nicht einmal die zentralen Hindernisse für die Orientierung an exakten zeitlichen Standards dar. Viel bedeutsamer war hingegen, dass die als referentielle Zeitgeber zur Eichung von privaten und tragbaren Uhren fungierenden öffentlichen Uhren in den meisten Fällen noch sehr viel ungenauere Zeitangaben lieferten und es daher über lange Zeit nicht einmal »Sinn gehabt [hätte], Uhren für den Privatgebrauch zu bauen, deren Ganggenauigkeit größer als die der öffentlichen Uhren gewesen wäre. [Denn] man hätte sie dennoch täglich nach den [unpräzisen] öffentlichen Uhren stellen müssen.«39 Die mangelnde Präzision öffentlicher Uhren (insbesondere von Turmuhren und anderen speziell angefertigten Uhreninstallationen) resultierte daraus, dass diese
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fentliche Uhr mit Sekundengenauigkeit wurde bereits 1869 in Berlin aufgestellt. (Vgl. Geyer 2005: 92) Vgl. Delafosse 1974: 82. Vgl. Whitrow 1989: 163-164. Jenzen 1989: 100.
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zumeist über eine spezielle, den jeweiligen Aufstellungsbedingungen angepasste Mechanik verfügten, welche als Sonderanfertigungen, nachdem sie einmal installiert worden waren, nur selten überholt und erneuert wurden. Da sie im Gegensatz zu den privaten und tragbaren Uhren insofern zumeist über eine vergleichsweise rückständige Mechanik verfügten und eine dementsprechend größere zeitliche Ungenauigkeit wiedergaben, eigneten sie sich eigentlich nicht als Referenzuhren.40 Auch wenn, wie erwähnt, im Paris der 1880er Jahre bereits die technologischen Mittel gegeben waren, um eine nahezu absolut präzise Wiedergabe standardisierter Zeitsignale zu gewährleisten, waren auch die technologisch komplexesten öffentlichen Uhreninstallationen dieser Epoche oftmals weitaus weniger präzise als angenommen. Das in Paris seit den 1880er Jahren eine vermeintlich exakte Zeitsignalvergabe gewährleistende hydraulische Zeitanzeigesystem der Compagnie Générale des Horloges Pneumatiques entpuppte sich bspw. als notorisch ungenau: »[T]he clocks furthest from the depot were said to be appreciably slower than those which were closer, owing to the slow build-up of pressure in the tubes.«41 Die vergleichsweise hohe Genauigkeit der an öffentliche Zeitanzeigesysteme angeschlossenen Uhren konnte zudem nur unter Einsatz neuester zeitspezifischer Technologien und hohem Kostenaufwand realisiert werden. Als besonders prestigeträchtige Elemente städtischer Infrastruktur wurden derartige Installationen deshalb zunächst nur in den Hauptstädten der europäischen Nationen eingerichtet. Öffentlichen Uhren in Kleinstädten und in ländlichen Regionen wurde generell weitaus weniger Bedeutung zugesprochen, weshalb diese in noch sehr viel größerem Maße von zeitspezifischer Ungenauigkeit betroffen waren. Das eigentlich nur zwölf Glockenschläge andauernde mittägliche Geläut nahm daher in einigen französischen Kleinstädten 40 41
Vgl. ebd. Davies (1978) zit. in Howse 1997: 113. Auch in London, der Hauptstadt Großbritanniens, dem damaligen Vorreiter zeitlicher Standardisierung, zeigte sich, dass exakte öffentliche Zeitangaben auch Jahrzehnte nach 1884 eher die Ausnahme darstellten. Noch 1908 beklagte sich bspw. ein Leser der Times darüber, dass in den Londoner Straßen keine zwei Uhren dieselbe Zeit anzeigten, geschweige denn die exakte. (Vgl. Cockburn (1908) zit. in Gay 2003: 112-113) Im selben Jahr und ebenfalls in der Times kritisierte auch E. Newitt, ein Repräsentant der britischen Standard Time Company (STC), einem Unternehmen, das seit den 1880er Jahren in London ein elektrisches Zeitvergabesystem betrieb, dass die Regierung von Großbritannien selbst anscheinend keine synchronisierten Uhren besitze, und dass der Weltzeitstandard wohl keinen Nutzen habe, wenn nicht bald mehr Menschen den Wert akkurater Zeitmessung erkennen würden: »[I]n the present state of affairs every man’s time is his own.« (Newitt (1908) zit. in Gay 2003: 114) Selbst die Übermittlung von Zeitsignalen durch die britische Post zeigte sich bis ins frühe 20. Jh. hinein als bisweilen störungsanfälliger und nicht sehr verlässlicher Dienst. Das Lokalisieren von Fehlerquellen bei der Zeitsignalübermittlung und die anschließenden Reparaturen beanspruchten oft mehrere Tage, an denen der Dienst seine Aktivitäten vollends einstellen musste. (Vgl. Gay 2003 : 124)
V. Weltzeitnorm und uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften
und Dörfern noch um 1888 bisweilen eine viertel oder gar eine halbe Stunde in Anspruch.42 In der Kolonie Senegal herrschten hinsichtlich der Genauigkeit öffentlicher Uhren ähnliche Zustände wie in der französischen Provinz. Höchstmögliche zeitliche Genauigkeit erreichten insofern nur die referentiellen Uhren von uhrzeitspezifischen Handlungsgemeinschaften, die auf zeitliche Präzision angewiesen waren und standardisierte Zeitsignale direkt und regelmäßig von einer der Institutionen des Post- und Telegraphenwesens oder vom Zeitamt im Hafen von Dakar bezogen. Die durch das Post- und Telegraphenwesen verantworteten Amts- oder Stationsuhren stellten, da sie von einer spezialisierten uhrzeitspezifischen Handlungsgemeinschaft betrieben und gewartet wurden, die exaktesten öffentlichen Uhren im Kolonialstaat dar und dienten der Bevölkerung in den Kolonialstädten und größeren Ansiedlungen daher als zentrale zeitliche Referenz. Andere öffentliche Uhreninstallationen in der Kolonie bezogen ihre Zeit zwar von diesen regelmäßig geeichten Referenzuhren, wiesen jedoch, entsprechend der technologischen Ausgereiftheit der verwendeten Modelle (Ganggenauigkeit, Wartungsaufwand, Verfügbarkeit von spezialisiertem Wartungspersonal und Haltbarkeit unter subtropischen Klimabedingungen) und je nachdem, wie groß sich das Bedürfnis nach zeitlicher Präzision in den angeschlossenen uhrzeitspezifischen Handlungsgemeinschaften gestaltete, zumeist weit größere zeitliche Ungenauigkeiten auf. Die Ungenauigkeit der öffentlichen Uhren der Kolonie, die, wie eingangs bereits erwähnt, um 1905 generell eine Verzögerung von 10 bis 20 Minuten aufwiesen, stellte noch eine der geringfügigeren Einschränkungen dar, wie das Beispiel der öffentlichen Uhr an der in der Rue Blanchot situierten Moschee von Dakar illustriert, welche nur eine geringe Haltbarkeit aufwies und noch im Jahre 1915 für mehrere Monate stillstand. Die Vertreter der muslimischen Gemeinschaft von Dakar wendeten sich daher im Oktober 1915 in einem Schreiben sogar an den Generalgouverneur selbst und baten darum, diese doch, wenn möglich, wieder instand setzen zu lassen: »Enfin, l’horloge de la même mosquée est arrêtée depuis quelques mois, les notables musulmans et l’iman seraient heureux qu’on la fit examiner et réparer si possible.«43 Was sich hier selbst für den städtischen Kontext als durchaus nicht unübliche Situation liest, war in den kleineren europäischen Ansiedlungen rund um die Hauptverwaltungssitze der jeweiligen Bezirke gar als Normalzustand zu betrachten, wenn Grivot in seinem Leitfaden für Distriktkommandanten noch in den 1930er Jahren angibt, dass die als zentrale lokale Referenzuhren fungierenden Uhren in den Hauptverwaltungssitzen der Bezirke generell nur selten mit denjenigen 42 43
Portal/Graffigny (1888) zit. in Gay 2003 : 113. ANS 3 G2−157 , Gouverneur Général Clozel à Lieutenant-Gouverneur du Sénégal, 4. Oktober 1915.
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des Post- und Telegraphendienstes übereinstimmen würden: »[…] la pendule qui est d’ailleurs rarement d’accord avec celle de la poste […].«44 Wie schon auf Ebene des Zeitregimes innerhalb des französischen Kolonialimperiums äußerte sich insofern auch im kolonialstaatlichen Rahmen eine Abweichung vom übergeordneten Ziel der Standardisierung der Zeit und eine weitergehende zeitspezifische Differenzierung. Eine umfassendere Angleichung an die uhrzeitspezifischen Standards des kolonialen Mutterlandes wurde, wie in der in der bisherigen Diskussion aufgezeigt werden konnte, jedoch nicht erreicht. Entgegen dem eigentlichen Vorhaben zur Standardisierung und Vereinheitlichung der Zeit konnte nur in eingeschränkten räumlichen Bereichen des Kolonialstaates eine effektive Umsetzung exakter zeitlicher Standards gewährleistet werden, darüber hinaus jedoch klafften große Lücken, in denen die Zeitnormen der industrialisierten Welt keine Rolle spielten. Auf kolonialstaatlichem Niveau wurde vielmehr die Entstehung eines hierarchisierten und heterogen strukturierten temporalen Systems befördert, in welchem voneinander abgegrenzte, sich wechselseitig ergänzende und überschneidende, jedoch nicht vollständig kongruente ›Zeitzonen‹ ausgezeichnet wurden. Dieses System der ›Zeitzonen‹ konstituierte sich dabei primär aus einer der europäischen ›Moderne‹ und einer des einheimischen ›Altertums‹, beinhaltete jedoch auch zahlreiche Zwischenräume bzw. -zeiten, die Elemente beider Seiten inkorporierten. Die bereits diskutierten grundlegenden raum-zeitlichen Strukturen von Territorialorganisation, Siedlungs- und Wirtschaftsgeographie, Entwicklungspolitik, zeitinfrastrukturellen und zeitinstitutionellen Voraussetzungen bildeten dabei die wirkmächtigsten Aspekte der Polarisierung und Auszeichnung verschiedener ›Zeitzonen‹. Die jeweils unterschiedlichen zeitlichen Ordnungspolitiken unterworfenen Räumlichkeiten bildeten zusammengenommen ein eigenständiges System kolonialstaatlicher ›Zeitzonen‹, welches als eine Art Ergänzung der bereits auf Ebene des französischen Kolonialimperiums bewerkstelligten Hierarchisierung, Strukturierung und Kompartmentalisierung der Zeit angesehen werden kann, die der Etablierung zusätzlicher, den jeweiligen Bedingungen vor Ort angepassten Achsen der Zeitmacht diente. Die Umsetzung von zeitspezifischen Ordnungspolitiken, die auf einer Messung von Zeitspannen anhand des präzisen und standardisierten Weltzeitnormals der GMT beruhten und entsprechend präzise getaktete uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften stellten innerhalb des Kolonialstaates jedoch eine Ausnahme dar, die nahezu ausschließlich auf die als Foyers der ›Moderne‹ ausgezeichneten Räume begrenzt war, welche zugleich auch die wirtschafts- und entwicklungspolitischen
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Grivot 1930 : 7.
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Fixpunkte und administrativen Zentren der kolonialstaatlichen Organisation darstellten.
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VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Neben den grundlegenden zeitspezifischen Ordnungspolitiken des kolonialstaatlichen Raum-Zeit-Gefüges, welche die Rahmenbedingungen für die Implementierung der Weltzeitordnung bildeten, stellten diejenigen, die zur Regulierung von Arbeit und Arbeitszeit verfügt wurden, die bedeutendsten Instrumente zur sozialen Disziplinierung und zur Standardisierung der Zeit dar. Sie hatten für die erfolgreiche Implementierung europäischer Ordnungspolitiken der Zeit in den senegalesischen Kolonialterritorien richtungsweisende Bedeutung. Trotz dieser entscheidenden Bedeutsamkeit wurde die Regulierung von Arbeitszeit in den Kolonialterritorien dennoch sehr lange hinausgezögert. Die im Vergleich zu anderen europäischen Nationen bereits im französischen Mutterland erst relativ spät einsetzenden Prozesse zur Einführung einer allgemeinen Arbeitsgesetzgebung und damit einhergehenden arbeitszeitspezifischer Verordnungen1 wurden dementsprechend erst nach Eintreten eines weiteren zeitlichen Verzuges in die westafrikanischen Überseeterritorien der Franzosen übertragen. In Relation zum französischen Heimatland wiesen die Entwicklungen zur Regulierung des kolonialen Arbeitssektors, zur Einführung einer allgemeinen Arbeitsgesetzgebung und zur korrespondierenden Reglementierung von Arbeitszeiten daher einen über die gesamte Kolonialzeit hinweg beibehaltenen zeitlichen Rückstand auf.2 Prozesse zur arbeits- und zeitspezifischen Reglementierung trafen in der kolonialen Situation auf gänzlich andere Ausgangsbedingungen als im französischen Heimatland. Die Rahmenbedingungen für die Regulierung von Arbeit und Arbeitszeiten wurden in Senegal durch die bereits angesprochene handelsökonomische Ausrichtung und die damit verbundene Arbeitsorganisation vorgegeben. Entsprechend wurde der Arbeitssektor der Kolonie durch Zwangsarbeitsmaßnahmen und präindustrielle Formen der landwirtschaftlichen Rohstoffproduktion dominiert, die, abseits von Prozessen der Mechanisierung und Industrialisierung, auf manuellen Arbeiten und Tätigkeiten beruhten. Zwangsarbeitsmaßnahmen und die 1 2
Vgl. Pheffer 1975 : 326. Vgl. Ba 1993 : 3; Fall 2011 : 101, 121.
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weitgehend in lokaler Eigenregie bewältigte landwirtschaftliche Rohstoffproduktion unterlagen dabei einer nur in rudimentärer Weise an die zeitliche Ordnung industrieller Arbeitswelten angegliederten Arbeitsorganisation, in der exakt bemessene und minutiös getaktete zeitliche Arbeitsabläufe keine Rolle spielten. Die darüber hinaus existierende geringfügige Anzahl an Lohnarbeitsverhältnissen stellte insofern den einzigen Bereich des lokalen Arbeitssektors dar, in dem die Zeitnormen der industrialisierten Welt von größerer Bedeutung waren. Der kolonialstaatliche Lohnarbeitssektor war dabei jedoch nicht nur grundsätzlich vergleichsweise klein, sondernexistierte bis zur Einführung der ersten Arbeitsgesetzgebung der Föderation Französisch-Westafrikas im Jahre 1925/26 bis auf wenige Ausnahmen fast vollständig im informellen Bereich. Auch die 1925/26 verabschiedete Reglementierung änderte daran kaum etwas, obwohl sich nun ein zunehmend größer werdender Bereich an formellen Lohnarbeitsverhältnissen auszubilden begann. Die überwiegende Mehrheit aller Lohnarbeitsverhältnisse blieb jedoch weiterhin im informellen Bereich verhaftet und konstituierte sich in erster Linie aus temporär-begrenzten saisonalen Beschäftigungsverhältnissen, deren Rahmenbedingungen diejenigen regulärer Lohnarbeitsverhältnisse in vielerlei Hinsicht nicht erfüllten (bspw. hinsichtlich einer fehlenden Vertragsbindung oder einer nichtmonetären Entlohnung). Formelle bzw. reguläre Lohnarbeitsverhältnisse, die mit einer vertraglichen Bindung einhergingen und sich auch über eine längerfristige Dauer erstreckten, stellten über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg ein nur marginales Phänomen dar. Der kolonialstaatliche Arbeitssektor gliederte sich dabei prinzipiell in einen öffentlichen und einen privaten Sektor und wurde einerseits von der Kolonialadministration und andererseits von privatwirtschaftlichen europäischen Handelsunternehmen dominiert, bestimmt und geformt.3 Beide Sektoren funktionierten und operierten grundsätzlich nach den selben Mechanismen und bedienten sich in unterschiedlichem Maße der Zwangs- und Lohnarbeit.4 Das zunächst nur moderate Anwachsen der Handelsökonomie, die Strukturen der kolonialstaatlichen Arbeitsorganisation und der weitreichende Rückgriff auf Zwangsarbeiter gewährleisteten, dass die vorhandenen Methoden zur Beschaffung von Arbeitskräften bis zum Beginn der 1920er Jahre zumeist ausreichten, um den Bedarf in den einzelnen Sektoren zu stillen. Gegenüber dem Kostenaufwand, der mit einer massiveren Einführung von regulären Lohnarbeitsverhältnissen einhergegangen wäre, stellten die etablierten Praktiken zudem auch eine weitaus günstigere Alternative dar. Bis zu Beginn der 1920er Jahre herrschte hinsichtlich der Verfügbarkeit von Arbeitskraft innerhalb der Kolonie insofern eine Konstellation, welche die kolonialherrschaftliche Vorgehensweise begünstigte, zunächst keine Anstalten zu unternehmen, den 3 4
Vgl. Lakroum 1979 : 227. Vgl. ebd. : 228.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
kolonialstaatlichen Arbeitssektor in umfassender Weise zu reglementieren, diesen grundsätzlich in nur wenig präzise umrissene Rahmenbedingungen zu fassen, kaum zu vereinheitlichen und vielmehr in seiner Heterogenität zu befördern.5 Trotz dieser Nachlässigkeiten begannen die Prozesse zur Regulierung des senegalesischen Arbeitssektors im Vergleich mit anderen Teilkolonien der Föderation Französisch-Westafrikas bereits früh. Die Entwicklung in Senegal war zudem durch relativ libertäre Züge gekennzeichnet, was in erster Linie auf die ebenfalls früh einsetzenden Prozesse der Urbanisierung und die politische Einflussnahme der rechtlich privilegierten Bewohner der vier Kommunen zurückzuführen war: »Leur statut de citoyens français les exemptait de tout travail forcé et favorisait le développement d’un marché de travail libre. Le travail salarié se développa dans les villes comme Saint-Louis, Rufisque, Dakar.«6 Die Existenz der in jederlei Hinsicht privilegierten Territorien der Kommunen und ihrer Einwohner bedingte auch eine wirtschaftliche Zentralisierung von Anstrengungen, Materialien und Personalien auf diese städtischen Räume. In Verbindung mit der vergleichsweise wenig organisatorischen, materiellen und personellen Aufwand erfordernden Struktur der Handelsökonomie führte dies dazu, dass es außerhalb der vier Kommunen zunächst zu keiner intensiveren Auseinandersetzung mit der Frage nach der Regulierung des Arbeitssektors und der Einführung einer Arbeitsgesetzgebung kam.7 Die Prozesse in den Kommunen hatten dennoch richtungsweisenden Charakter für die Entwicklung der Kolonie insgesamt und bildeten darüber hinaus letztendlich auch die Grundlage für korrespondierende Entwicklungen auf Ebene der Föderation Französisch-Westafrikas.8 Trotz der zunächst nur marginalen Auseinandersetzung mit der Reglementierung des Arbeitssektors in den Protektoratsgebieten außerhalb der Direktverwaltungsgebiete der Kommunen übten die sich hier dennoch abspielenden Transformationsprozesse der Arbeitswelt auch einen profunden Einfluss auf die Situation in den Kommunen aus. Die beiden administrativ, rechtlich, politisch und wirtschaftlich voneinander getrennten territorialen Einheiten standen insofern in einem dialektischen Verhältnis, das auch die Entwicklungen in den jeweiligen Arbeitssektoren miteinbezog. Die Wandlungsprozesse der kolonialen Arbeitswelt in den Protektoratsgebieten werden im Folgenden der Untersuchung arbeits- und zeitspezifischer Ordnungspolitiken im Lohnarbeitssektor der kommunalen Räume vorangestellt. 5 6
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Vgl. D’Almeida-Topor (1976) zit. in Ba 1993 : 15. Ba 1993 : 14; vgl. auch Fall 1984 : 137; 2011 : 127, der hier das im Vergleich mit anderen Teilkolonien der Föderation Französisch-Westafrikas begrenzte Ausmaß des senegalesischen Zwangsarbeitssystems hervorhebt. Vgl. Conklin 1997: 66. Vgl. Lakroum 1979: 250.
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1. Saisonale Arbeitsmigration als Grundlage der zeitlichen Organisation des Arbeitssektors Neben dem Zwangsarbeitssystem, durch welches die Kolonialherrschaft direkte Zeit- und Arbeitszwänge auf die lokale Bevölkerung ausübte, stellten die indirekten ökonomischen Zeit- und Arbeitszwänge die für die lokale gesellschaftliche Organisation der Zeit in den Protektoratsgebieten folgenreichsten zeitspezifischen Ordnungspolitiken von Kolonialstaat und Handelsökonomie dar. Die marktwirtschaftlichen Produktions- und Konsumptionsbedingungen und die in diesem Zusammenhang zur Geltung kommenden zeitspezifischen Ordnungspolitiken bewirkten letztendlich eine Modifikation der etablierten Wirtschaftsweisen, im Zuge derer der annuelle Beschäftigungszyklus der lokalen Landwirte mit der zeitlichen Rhythmisierung und der Arbeitsorganisation von Handelsökonomie und Weltwirtschaftssystem in Übereinstimmung gebracht wurde. Die zeitlichen Strukturen der handelswirtschaftlichen Kreisläufe mussten sich jedoch, wie auch der annuelle Beschäftigungszyklus der lokalen Landwirte, grundsätzlich an den durch die naturgegebenen klimatischen Bedingungen vorgegebenen landwirtschaftlichen Anbauzyklen orientieren. Die kolonialherrschaftlichen Akteure waren insofern nicht völlig frei, die zeitlichen Organisationsstrukturen der lokalen Wirtschaft neu zu ordnen. Die auf die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Konsumptions- und Produktionsbedingungen abzielende Organisation der kolonialstaatlichen Handelswirtschaft führte dennoch zu einer grundsätzlichen Veränderung des etablierten annuellen landwirtschaftlichen Beschäftigungszyklus, die sich in erster Linie in der Entstehung saisonaler Bewegungen der Arbeitsmigration innerhalb der lokalen Bevölkerung ausdrückte. In Senegal sind dabei zwei zentrale saisonale Bewegungen der Arbeitsmigration zu konstatieren, die die gesamte Arbeitswelt der Kolonie prägten und entsprechend auch in Wechselwirkung mit der Situation des Lohnarbeitssektors in den Kommunen standen. Einerseits die innerhalb der Kolonie zwischen ländlichen und städtischen Regionen stattfindende saisonale Arbeitsmigration9 , die sich direkt auf die arbeits- und zeitspezifischen Normsetzungen innerhalb von Lohnarbeitsverhältnissen auswirkte. Andererseits die auch Arbeitskräfte aus anderen Teilkolonien der Föderation Französisch-Westafrikas mit einbeziehende Arbeitsmigration in die zentralen Erdnussanbaugebiete Senegals, welche als soziales Phänomen auch vermittels des Begriffes Navétanat 10 gekennzeichnet wurde und eines der charakteristischsten Merkmale der senegalesischen Erdnussökonomie während der Kolo-
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Vgl. Lakroum 1979: 65-68; Fall 2011: 84-95. Lakroum 1979: 278.
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nialperiode darstellt.11 Die letztgenannte Form der Arbeitsmigration beeinflusste die arbeitszeitspezifische Entwicklung des kommunalen Lohnarbeitssektors zwar nicht direkt, sie wirkte dennoch auf die ländliche Arbeitswelt und die Gesamtgesellschaft ein und trug somit auch zu einer Veränderung der Situation in den Kommunen bei. Da sich diese Form der Arbeitsmigration jedoch erst ab Mitte der 1920er Jahre zu einem bestimmenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Phänomen entwickelte, dessen Einfluss sich auch im Kontext der Entwicklung des Lohnarbeitssektors niederschlug, wird sie im Kontext dieser Arbeit nicht weiter verfolgt, soll zugleich aber auch nicht unerwähnt bleiben.12 Die Saisonarbeiter, seit den 1920er Jahren als sogenannte »Navétanes«13 bezeichnet, tauchten in den zentralen Erdnussanbaugebieten Senegals erstmals in den 1890er Jahren auf und entwickelten sich über die Zeit zur prinzipiellen Quelle von Arbeitskräften für die landwirtschaftliche Erdnussproduktion.14 Die Arbeitsmigration betraf zu Beginn vor allem Arbeitskräfte aus weniger prosperierenden ländlichen Regionen der Kolonie, umfasste infolge des Ausbaus der Erdnussproduktion und unterstützenden kolonialherrschaftlichen Bemühungen jedoch in zunehmenden Maße auch Arbeitsmigranten aus benachbarten Kolonien der Föderation.15 Verbesserte Verdienstmöglichkeiten bzw. finanzielle Anreize stellten die Hauptursache für die Arbeitsmigration dar.16 Der große Arbeitskraftbedarf der landwirtschaftlichen Produktion in den senegalesischen Erdnussanbaugebieten resultierte dabei aus der Vorgehensweise der Kolonialherrschaft, die lokalen Landwirte zwar dazu zu motivieren, ihre Anbauflächen zu vergrößern und die landwirtschaftlichen Erträge zu steigern, zugleich jedoch keine umfassende Verbesserung der Produktionsmittel anzustreben, sondern nur eine rudimentäre Einführung neuer Arbeitsmethoden und Gerätschaften zu propagieren.17 Ausbleibende
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Der Begriff des Navétanat wurde, wie auch die korrespondierende französische Bezeichnung für Wanderarbeiter in diesem Kontext der Arbeitsmigration, »Navétanes“ (David 1980: 46), aus der Sprache der Wolof abgeleitet. Das Verb nawèt bezeichnet hier den Prozess des Überdauerns der Regenzeit, ein Navétane ist in wortwörtlicher Übersetzung entsprechend, »celuiqui-passe l’hivernage“. (Ebd. : 166) In seiner Studie dieser Form der Arbeitsmigration definiert David die Navétanes über diese Begriffsbestimmung hinaus weiterhin als »des travailleurs migrants saisonniers venus, avec ou sans leur famille, de régions non arachidières plus ou moins lointaines, pour cultiver l’arachide en hivernage pendant toute la durée du cycle cultural de celle-ci séjournant à cet effet chez un exploitant autochtone en vertu d’un contrat coutumier original, avant de retourner dans leur pays pour la morte-saison.« (Ebd.) Vgl. Lakroum 1979 : 277f.; David 1980 : 61ff. David 1980 : 46. Vgl. ebd. : 20ff. Vgl. ebd. : 33ff.; Lakroum 1979 : 278-281; Mbodj 1978 : 570. David 1980: 167. Vgl. Mbodj 1978: 569.
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Prozesse der Mechanisierung und Industrialisierung sowie Maßnahmen zur Ausweitung der landwirtschaftlichen Anbauflächen führten in der Folge zu einer Intensivierung der Arbeitsprozesse, die den lokalen Landwirten und Produktionsgemeinschaften nicht mehr ausreichend Zeit ließ, um die vergrößerten Feldflächen zu bestellen und die Involvierung zusätzlicher Arbeitskräfte erforderlich machte. Die damit einhergehende Verdichtung der Arbeitszeiten wird von Mbodj anhand einer Berechnung des durchschnittlichen Arbeitspensums, das ein Landwirt der Serer zum gleichzeitigem Anbau von Erdnüssen und etablierten Feldfrüchten wie Hirse, Maniok etc. innerhalb einer Saison benötigte, exemplarisch verdeutlicht: »En effet de la première pluie à la récolte il n’y a pas de repos pour le paysan. Qu’on en juge: admettons une première pluie en juin, vers le 15; jusqu’à la fin juin il faut semer les arachides et émietter la terre autour des semis (Le RAADU). Dans la première quinzaine de juillet c’est la première culture du mil juste après le semis et aussi son démariage (BAXAU). Jusqu’à la fin juillet c’est le sarclage et le binage des arachides (LE BEYAAT), opération très minutieuse (15 jours/ha). En même temps il sème ses haricots (NIEBE), plante son manioc, et entretient son maïs et son petit jardin potager. Durant le mois d’août c’est la deuxième façon (BAYAAT) du mil, la troisième sur le mil, puis enfin la troisième sur l’arachide (BALARGNI). Le mil (SOUNA) est récoltée. Ce rythme de travail infernal (90 jours pour le petit mil SOUNA, 110 jours pour l’arachide), ne permet pas au producteur de cultiver guère plus qu’un hectare au total.«18 Das vergrößerte landwirtschaftliche Arbeitspensum und der dadurch eingetretene Zeitmangel hatten zur Folge, dass die lokalen Landwirte in vermehrtem Maße auf die im lokalen Kontext etablierte Praxis der Anwerbung zusätzlicher Arbeitskräfte zurückgriffen, um die ausgeweiteten Felder bewirtschaften zu können. Die dadurch erreichten Steigerungen des lokalen Produktionsvermögens wurden auch von der Kolonialherrschaft befürwortet, welche die zugrundeliegende Arbeitsmigration mit Beginn der 1920er Jahre in zunehmendem Maße zu fördern begann. Probleme der Steigerung des Produktionsvermögens wurden in der Folge primär als Konsequenz eines regionalen Arbeitskräftemangels angesehen, welchem durch die Heranführung einer immer größeren Anzahl neuer Arbeitskräfte begegnet werden könne.19 Die Umstellung und Intensivierung der etablierten landwirtschaftlichen Anbaumethoden resultierte insofern in der Entstehung eines die gesamte Kolonialzeit überdauernden Systems von saisonaler Arbeitsmigration, welches Arbeitskräfte aus anderen Regionen von Kolonie und Föderation in die Erdnussanbaugebiete Senegals brachte.20 Die Heranführung neuer Arbeitskräfte zur Intensi-
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1978: 569, Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd.: 569-571; David 1980: 58. Vgl. Mbodj 1978: 570.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
vierung der Produktion stellte dabei auch eine Methode dar, der konventionellen, jedoch kostenintensiven Intensivierung der Landwirtschaft auf Basis der Einführung von neuen Technologien durch die preisgünstigere Alternative der Vergrößerung der manuellen Arbeitskraft zu begegnen: »L’appel aux navétanes fera faire (sic!) l’économie d’un progrès technologique en quelque sorte.«21 Die innerhalb der Untersuchungsperiode stattfindende Entwicklung des städtischen Lohnarbeitssektors wurde zunächst jedoch nicht durch die Arbeitsmigration des Navétanat sondern durch die Arbeitsmigration zwischen ländlichen und städtischen Regionen innerhalb der Kolonie geprägt. Diese wird im Folgenden eingehender erläutert.
1.1. Saisonale Arbeitsmigration und die Vorrangigkeit informeller Lohnarbeitsverhältnisse Die saisonale Arbeitsmigration zwischen ländlichen und städtischen Regionen innerhalb der Kolonie Senegal resultierte in erster Linie aus den indirekten ökonomischen Zeit- und Arbeitszwängen, die innerhalb der lokalen Bevölkerung durch kolonialstaatliche Abgabeleistungen und Forderungen initiiert wurden. Die spezifische zeitliche Rhythmisierung der Migrationsbewegung war darüber hinaus durch die Form der etablierten Wirtschaftsweise, die zeitlichen Rhythmen des lokalen Agrarjahres und die handelswirtschaftliche Arbeitsorganisation bedingt. Die etablierte Wirtschaftsweise der lokalen Bevölkerung orientierte sich dabei über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg an einem Agrarkalender, der auf der naturgegebenen Strukturierung der Jahreszeiten aufbaute und die primär durch den zyklischen Wechsel von Regen- und Trockenperioden bestimmten klimatischen Bedingungen der Region spiegelte.22 Die klimatisch bedingte Strukturierung der Jahreszeiten ist dabei in dieser Region in erster Linie vom jährlichen Niederschlagszyklus bzw. dem rhythmischen Wechsel zwischen den trockenen Winden des Nordost-Passat und regenreichen Luftschichten abhängig und begründet eine Differenzierung zwischen zwei prinzipiellen Jahreszeiten: »une courte saison des pluies (2 à 3 mois) et […] une longue saison sèche«.23 Die kurze Regenzeit, von den Kolonialherren mit dem französischen Begriff für Winterzeit als hivernage betitelt, dauert im überwiegenden Teil der Territorien des kolonialen Senegal von Juli bis September/Oktober an und zeichnet sich durch kurze, heftige und sehr unregelmäßig einsetzende Regenschauer aus.24 Die langanhaltende, den ge21 22 23 24
Vgl. ebd.: 570, 577. Vgl. Sow 1984: 53. Ebd.; siehe auch Adam/Adam/Ba 1977: 16; Lakroum 1979: 60. Das Staatsgebiet Senegals liegt in klimatischer Hinsicht im Übergangsbereich von subtropischem und tropischem Klima. Die klimatischen Bedingungen verändern sich entsprechend prinzipiell entlang einer Nord-Süd-Achse, wobei außer den Küstengebieten, die den Einflüs-
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samten restlichen Jahreslauf andauernde Trockenperiode ist hingegen durch östliche Passatwinde gekennzeichnet, welche große Hitze und feinen Sandstaub aus der Sahara mit sich tragen (Harmattan) und insbesondere im Inland zu enormen Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht führen.25 Die landwirtschaftlich tätige lokale Bevölkerung verfolgte grundsätzlich eine Form der Subsistenzwirtschaft, bei der der familiäre Haushalt als primäre wirtschaftliche Einheit diente.26 Die etablierte Wirtschaftsweise war dabei vornehmlich durch teilweise intensive landwirtschaftliche Tätigkeiten während der Regenperiode geprägt und wurde in der Trockenperiode durch komplementäre, jedoch nicht weniger bedeutsame Aktivitäten ergänzt.27 Im Regelfall nahm die ganze Familie an der Feldarbeit teil, wobei die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung keine »séparation rigide des tâches«28 beinhaltete, aber dennoch den Fähigkeiten der Einzelnen Rechnung trug.29 Die je nach Lokalität und angebauten Feldfrüchten ab April einsetzende Urbarmachung der Felder wurde zumeist durch Brandrodung realisiert. Danach wurde das Saatgut, ›traditionellerweise‹ oft Hirse, später vor allem die Erdnuss, zur Aussaat vorbereitet und sortiert. Die Aussaat begann mit dem Einsetzen der ersten Regenfälle und dem Anfang der in der Sprache der Wolof mit dem Begriff nawèt
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sen der maritim subtropischen Klimaregion unterliegen und den Regionen im äußersten Norden des Landes, die in die hochkontinentale subtropische Klimaregion hineinreichen, ansonsten alle Landesteile verschiedenen Abstufungen der warmtropischen Klimaregion zugerechnet werden. (Vgl. Adam/Adam/Ba 1977: 16-22) Zentrale Faktoren der geographischen Variation der klimatischen Bedingungen in dieser Region sind Wasserhaushalt und durchschnittliche jährliche Niederschlagmenge. Der grundsätzlich als arid bis semiarid zu klassifizierende Wasserhaushalt und die entsprechenden Niederschlagsmengen teilen das Land in einen durch trockenes tropisches Klima dominierten Norden, mit durchschnittlichen jährlichen Niederschlagsmengen um 300 mm und einen durch feuchtes tropisches Klima dominierten Süden, mit Niederschlagsmengen um 1700 mm. (Vgl. Lakroum 1979: 60) Innerhalb des Territoriums der Kolonie ist folglich eine große Variation von Regenmenge und Regentagen zu konstatieren, die sich entsprechend den frühesten Wetteraufzeichnungen der Region aus dem Jahre 1931 zwischen ca. 30 Regentagen (400 mm) im nördlich gelegenen Louga und ca. 140 Regentagen (1500 mm) im südlich gelegenen Ziguinchor bewegte. (Vgl. Pélissier (1966) zit. in Lakroum 1979: 60) Über das Gesamtterritorium der Kolonie hinweg zeichnet sich ein Nord-West zu Süd-Ost-Gefälle der Intensität und Dauer der Niederschlagsmengen ab. Im Extrem schwankt die Regenzeit daher zwischen einer fast siebenmonatigen Dauer (von ca. Mitte April bis ca. Ende Oktober) im äußersten Südosten und einer nur dreimonatigen Dauer (von ca. Anfang Juli bis ca. Ende September) im äußersten Nordwesten des Landes. (Vgl. Adam/Adam/Ba 1977: 18-19) Vgl. ebd.: 16-17. Vgl. Fall 2011: 33; Thiam 2007: 69. Vgl. Lakroum 1979: 66; Mbodj 1978: 592. Paulme (1952) zit. in Fall 2011: 34. Vgl. ebd.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
gekennzeichneten Regenperiode.30 Die Periode der Aussaat konnte dabei je nach Größe der Felder und Menge des Saatgutes ein bis zwei Wochen an Arbeitszeit in Anspruch nehmen: »Par exemple, un sac d’arachides décortiquées de 120 kg nécessiterait 15 jours.«31 Zwischen Aussaat und Ernte mussten die Felder zudem noch mehrmals gejätet und von Unkraut befreit werden. Mit dem je nach Region und angebauter Feldfrucht zwischen September und November variierenden Beginn der Erntezeit wurde auch die arbeitsintensivste Periode des lokalen Agrarjahres erreicht. Die Ernten mussten eingeholt, gesäubert, geschält, getrocknet und eingelagert werden. Ab Dezember/Januar begann dann der Verkauf der Ernteerträge. Die bis April andauernde Periode des Handels kann dabei in gewisser Weise als Zeit der »chômage creuse«32 angesehen werden, d.h. als kaum arbeitsintensive Zeit, in der vergleichsweise wenig landwirtschaftliche Tätigkeiten verrichtet werden mussten.33 Um angesichts dieser auf Subsistenzwirtschaft beruhenden etablierten Wirtschaftsweise die Einbindung der lokalen Bevölkerung in das marktwirtschaftliche Produktions- und Konsumptionssystem überhaupt erst zu ermöglichen, sowie den vermehrten Erdnussanbau und die Entwicklung der kolonialen Handelsökonomie zu gewährleisten, versuchte die kolonialstaatliche Wirtschaftspolitik, massive soziokulturelle Transformationsprozesse zu erwirken, welche die Adaption von neuen ökonomischen Interessen, Bedürfnissen und Notwendigkeiten in der lokalen Bevölkerung befördern sollten.34 Zu den zentralen kolonialherrschaftlichen Instrumenten der Entwicklung dieser neuen Lebensstile, Arbeitsbedingungen, Bedürfnisebenen und ökonomischen Möglichkeiten zählte in erster Linie die Erhebung monetär zu entrichtender steuerlicher Abgabeleistungen, welche, unterstützt durch das kolonialherrschaftliche
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David 1980: 166. Sow 1984: 54. Ebd.: 55. Vgl. ebd., Lakroum 1979: 66. Die in der gesamten Region grundsätzlich hohe Wertschätzung manueller landwirtschaftlicher Tätigkeiten (vgl. Fall 2011: 25-32) nahm infolge der durch den ökonomischen Einfluss des transatlantischen Sklavenhandels geförderten generellen Zunahme an Sklaven innerhalb der lokalen Bevölkerungsgruppen, der »intrusion massive de l’esclavage dans la société“, jedoch ab. Ebenso änderten sich auch die überlieferten Formen der Arbeitsteilung und ein Großteil der manuellen landwirtschaftlichen Arbeiten wurde in der Folge entsprechend vor allem von Sklavenarbeitern verrichtet: »[A]vec la nouvelle répartition du travail fondée sur un mode discriminatoire et violent, […] [et a]vec une plus grande disponibilité d’esclaves, le travail de la terre est davantage réservé à cette catégorie sociale servile. Cela a pour résultat de rendre ›le travail manuel de plus en plus avilissant dans la mentalité collective et [le confère] une connotation péjorative‹.« (Kane (2004) zit. in Fall 2011: 43-44) Vgl. Thiam 2007: 191.
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Gewaltmonopol und die begleitenden Sanktionsmechanismen des Regimes des indigénat, profunden ökonomischen Druck auf die Bevölkerung in den Protektoratsgebieten ausübten. Die zu entrichtenden steuerlichen Abgabeleistungen zwangen die lokale Bevölkerung dazu, sich die notwendigen finanziellen Mittel zu beschaffen, um die Forderungen erfüllen zu können und beförderten im selben Zuge die für die Handelswirtschaft so bedeutsame Erdnussproduktion, da diese für die lokalen Landwirte eine der wenigen Möglichkeiten darstellte, an Geld zu gelangen.35 Die auf diese Weise gewährleistete zunehmende Monetisierung der Bevölkerung kam darüber hinaus auch dem Absatz europäischer Importprodukte zugute: »Pourtant en exigeant l’impôt, l’administration incite les indigènes à la culture de l’arachide. Il faut, en effet, pour payer l’impôt de capitation, que le paysan trouve un minimum de revenu monétaire. Et l’arachide lui permet d’avoir de l’argent, d’augmenter son pouvoir d’achat et d’élever son niveau de vie en s’intéressant aux produits fabriqués de l’Europe. Donc nécessité fait loi.«36 Der Zwang zum Erlangen der notwendigen finanziellen Mittel bzw. Gelder, um die steuerlichen Forderungen des Kolonialstaates zu erfüllen, begründete somit auch die prinzipiellen indirekten ökonomischen Zeit- und Arbeitszwänge des Kolonialsystems. Steuerliche Abgabeleistungen wurden von den Kolonialherren dabei nicht zuletzt auch als probates Mittel der ›Zivilisierung‹ und Erziehung zur Arbeit betrachtet.37 Das ausbeuterische Profitstreben der Vertreter der kolonialen Handelswirtschaft und die für die landwirtschaftliche Produktion generell wenig günstigen klimatischen Bedingungen38 führten in der Folge jedoch nicht dazu, dass
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Vgl. Fall 2011: 62. Seit 1853 durften die Vertreter der kolonialen Handelswirtschaft die landwirtschaftlichen Ernteerträge der lokalen Landwirte nicht mehr gegen Waren eintauschen, sondern mussten diese mit Bargeld erwerben. Eine Maßnahme, die die Monetisierung der lokalen Bevölkerung fördern sollte. (Vgl. Thiam 2007: 81) Ebd. Vgl. Conklin 1997: 144. Die Unwägbarkeiten der lokalen klimatischen Bedingungen führten in Verbindung mit den Eigenheiten des lokalen Agrarjahres zu einer grundsätzlich begrenzten und starken Schwankungen unterliegenden annuellen landwirtschaftlichen Ertragsfähigkeit, welcher im Rahmen der Möglichkeiten der überlieferten Wirtschaftsweise nicht effektiv begegnet werden konnte. Das sich aus nur zwei prinzipiellen Jahreszeiten konstituierende lokale Agrarjahr ermöglichte generell nur eine kurze landwirtschaftliche Anbausaison, auf welche eine lange Trockenperiode folgte, in der die Bevölkerung mit den während der Anbausaison erwirtschafteten Ernteerträgen auskommen musste. Die saisonal begrenzte Ertragsfähigkeit und die Notwendigkeit, fast drei Viertel des Jahreslaufes vermittels Vorratshaltung zu überdauern, führten daher jedes Jahr gegen Ende der Trockenperiode dazu, dass Nahrungsmittelund Saatgutvorräte (die unter gegeben Bedingungen nicht als unterschiedliche Güter zu betrachten sind, da das Saatgut vieler Feldfrüchte auch als Grundnahrungsmittel diente) zur Neige gingen und eine wirtschaftliche Verknappung eintrat. Letztere entwickelte sich im An-
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sich die Masse der einheimischen Landwirte zu erfolgreichen marktwirtschaftlichen Produzenten entwickelte. Die überwiegende Mehrheit der lokalen Landwirte gliederte sich vielmehr unter extrem prekären Bedingungen ins marktwirtschaftliche Konsumptions- und Produktionssystem ein. Infolge des vermehrten Anbaus der Erdnuss verloren die lokalen Produzenten darüber hinaus ihre wirtschaftlichen Selbstversorgungskapazitäten39 , was letztendlich in eine vergrößerte Abhängigkeit von den kolonialen Wirtschaftskreisläufen und einen andauernden Verschuldungskreislauf mündete. Die zunehmende Verschuldung der lokalen Landwirte steht in erster Linie mit der Entwicklung des lokalen Kreditwesens in Verbindung, welches die Prozesse zur Monetarisierung begleitete und von den Vertretern der Handelswirtschaft propagiert und verantwortet wurde: »Le crédit est le premier instrument de travail des ›puissances d’argent‹.«40 Als finanzielles Instrument leistete es einen wichtigen Beitrag zur Einbindung der bis dahin weitgehend autark lebenden lokalen Bevölkerung in das monetarisierte Produktions- und Konsumptionssystem des Kolonialstaates und ermöglichte dieser den Erwerb von Importprodukten, wie auch die Finanzierung neuer Interessen und Bedürfnisse. Darüber hinaus wurden Bargeldkredite auch zur Entrichtung der Steuer verwendet:
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schluss an eine schlechte landwirtschaftliche Saison nicht selten zu einer weiter reichenden Versorgungskrise. (Vgl. Thiam 2007: 221-224) Die Steigerung der Erdnussproduktion bildete die Hauptursache für die Umwandlung der etablierten Wirtschaftsweise und ging mit einem Rückgang der Nahrungsmittelproduktion und der Kapazitäten zur Selbstversorgung unter der lokalen Bevölkerung einher. (Vgl. Lakroum 1982: 176; Mbodj 1978: 592; Thiam 2007: 222, 230) Der Grad, in dem die einzelnen Regionen an die heranwachsenden Strukturen der kolonialstaatlichen Handelsökonomie angegliedert waren, zeigte sich dabei maßgeblich für das Tempo der Veränderung der etablierten lokalen Wirtschaftsweisen bestimmend. (Vgl. Lakroum 1979: 60) In den ökonomischen Berichten der Kolonie Senegal wurde seit der Jahrhundertwende ein kontinuierlicher Rückgang der Nahrungsmittelproduktion konstatiert. (Vgl. Mbodj 1978: 536) Der Rückgang der etablierten Wirtschaftsweise und des Anbaus lokaler Nahrungsmittel wurde dabei einerseits dadurch beschleunigt, dass sich die Anbauzyklen der Erdnuss mit denjenigen der im Rahmen der Subsistenzwirtschaft angebauten Feldfrüchte überschnitten und mit diesen insofern konkurrierten. (Vgl. Lakroum 1979: 66) Andererseits wurde der Niedergang der Subsistenzwirtschaft jedoch auch durch die Einführung und den Verkauf von Reis an die lokale Bevölkerung verstärkt. Das Grundnahrungsmittel Reis hatte gegenüber der ›traditionellerweise‹ verwendeten Hirse den Vorteil, dass er sich weitaus leichter und in kürzerer Zeit zubereiten lässt (vgl. Gouvernement du Sénégal (1929) zit. in Mbodj 1978: 536), darüber hinaus besitzt Reis einen doppelt so hohen Nährwert wie Hirse. (Vgl. Mbodj 1978: 538) Reis konnte sich in der Folge als weiteres Grundnahrungsmittel etablieren. Die in zunehmendem Maße durch Importprodukte unterwanderte lokale Nahrungsmittelversorgung erhöhte jedoch wiederum auch die Abhängigkeit der lokalen Bevölkerung von der Versorgung durch die kolonialen Wirtschaftskreisläufe. Thiam 2007: 116.
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»D’une part, avec l’argent prêté, le paysan achète les marchandises importées, notamment étoffes, parfums, habits, chez les agents des maisons de commerce ou les traitants. D’autre part, le paysan s’endette auprès des maisons de commerce ou des traitants pour payer l’impôt exigé par l’administration coloniale.«41 Zu den häufigsten und wirkmächtigsten Formen von Darlehen im lokalen Kreditwesen zählten neben der Pfandleihe42 vor allem die landwirtschaftlichen Vorsorgekredite der Sociétés indigènes de Prévoyance43 und die sogenannten »crédits d’hivernage«.44 Letztere, in der Übertragung als Überwinterungskredite zu bezeichnende Darlehen wurden, ähnlich wie auch die anderen Formen des Kredits, vornehmlich als temporäre Überbrückungskredite zur Finanzierung von Saatgut und zur Gewährleistung der landwirtschaftlichen Produktion in der Folgesaison verwendet. Sie verweisen insofern bereits vermittels ihrer Benennung auf ihre am Agrarkalender orientierte Funktionalität: »Entre la période d’hivernage et celles de la récolte […] et de la traite, il s’écoule une longue période qui nécessite des dépenses considérables. Le paysan sénégalais recourt, pendant la période de soudure, à différentes sortes de crédits d’hivernage. L’appel au crédit devient une habitude qui place l’indigène dans un engrenage d’où il ne sortira presque jamais.«45 Der landwirtschaftlich produzierenden lokalen Bevölkerung dienten die crédits d’hivernage dabei zugleich zur Finanzierung von Konsumption wie auch Produktion.46 Unterstützt durch die zentrale ökonomische Bedeutung, die diese Darlehen für die lokale Bevölkerung einnahmen, bewirkten insbesondere die exorbitant hohen Zinsen, welche für deren Inanspruchnahme berechnet wurden, dass die lokale landwirtschaftlich produzierende Bevölkerung in einen andauernden Verschuldungskreislauf gestürzt wurde.47 Der Zinssatz unterlag dabei bis 1935 keiner offiziellen Regulierung48 , weshalb die Zinsaufschläge, die die lokalen Landwirte für Kredite von Handelsvertretern zu entrichten hatten, nicht selten 100 % oder mehr ausmachten.49 Das lokale Kreditwesen, insbesondere aber das System der crédits d’hivernage, machte einen Großteil der landwirtschaftlich produzierenden Bevölkerung in vollständiger Weise von der kolonialen Exportökonomie abhängig.50
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Ebd.: 226. Vgl. ebd.: 247-283. Vgl. ebd.: 285-318. Ebd.: 221. Ebd.: 222-223. Vgl. ebd.: 191. Vgl. ebd.: 228, 239. Vgl. ebd.: 230. Vgl. ebd.: 192, 231. Vgl. ebd.: 226.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Die durch die zunehmende Verarmung und Verschuldung verschärften Zeitund Arbeitszwänge bewirkten innerhalb der lokalen Bevölkerung letztendlich eine Suche nach gesteigerten Verdienstmöglichkeiten und begründeten damit die den kolonialstaatlichen Arbeitsmarkt in Senegal prägende Arbeitsmigration zwischen ländlichen und städtischen Regionen. Im Zuge der Steigerung von Erdnussproduktion und Handelskapazitäten wie auch der finanziellen Verbindlichkeiten der lokalen Bevölkerung lässt sich in Senegal daher schon um die Jahrhundertwende die Entstehung eines umfangreichen, an den Agrarkalender und die ökonomischen Rhythmen der Handelsökonomie angepassten annuellen Beschäftigungszyklus nachvollziehen, der sich im Kern durch eine saisonale Arbeitsmigration zwischen ländlichen und städtischen Regionen auszeichnete und die gesamte Kolonialzeit überdauern sollte.51 Diese saisonale Arbeitsmigration war auf Seiten der einheimischen Landwirte in erster Linie durch die Suche nach zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten innerhalb der landwirtschaftlich nur wenig arbeitsintensiven Jahreszeit motiviert und korrespondierte auf Seiten der Handelswirtschaft mit einem in ebenjener Zeit vergrößerten Arbeitskraftbedarf.52 Letzterer resultierte wiederum aus dem Umstand, dass die profitorientierten Vertreter der Handelswirtschaft die nach der Erntesaison und dem Aufkauf der Ernteerträge einsetzenden Transport- und Verladeoperationen innerhalb der Kolonie fast ausschließlich auf Grundlage manueller Arbeiten organisierten und daher kurzfristig entsprechend viele Arbeitskräfte benötigten, um die Erdnussbestände rechtzeitig von den Produzenten zu den Exporthäfen der Kolonie zu transportieren.53 51
52
53
Vgl. Mbodj 1978: 541. Die Anfänge der saisonalen Arbeitsmigrationen sind in Senegal letztendlich bis in die erste Hälfte des 19. Jh. zurückzuverfolgen. (Vgl. Fall 2011: 78-82) Siehe dazu im folgenden Kapitel VI.2. Der erhöhte Arbeitskraftbedarf zu dieser Zeit war vor allen den Belangen der handelswirtschaftlichen Organisation geschuldet. Da bspw. jedoch auch viele der europäischen Angestellten der Handelsökonomie nur während der Handelsperiode permanent in der Kolonie ansässig waren und die Beschäftigung eines Europäers zumeist mit der Beschäftigung mehrerer lokaler Arbeitskräfte (Hausangestellte etc.) einherging, bestand zu dieser Zeit aber auch darüber hinaus eine grundsätzlich größere Nachfrage nach lokalen Arbeitssuchenden. Siehe dazu im folgenden Kapitel VII.3.3. Die multiplen Verladeoperationen, die sich von den Produzenten über zahlreiche Warenumschlagplätze und Zwischenhändler bis zu den finalen Exporthäfen erstreckten, wurden generell auf manuelle Art und Weise bewerkstelligt: »[…] de nombreuses manutentions que la faiblesse de moyens mécaniques et la multiplication des intermédiaires, commerçants et transporteurs, accentuaient.« (Lakroum 1979: 73) Die von den lokalen Landwirten produzierten Erdnüsse wurden von Zwischenhändlern zunächst in Säcke verpackt und zu kleineren Sammelstellen gebracht, wo sie an die Repräsentanten der großen Handelshäuser weiterverkauft wurden. Letztere leerten die Säcke und ließen die Erdnüsse zu sogenannten »seccos“ (ebd.), d.h. pyramidenförmigen Haufen mit riesigem Fassungsvermögen aufschütten, um sie zu sammeln und zwischenzulagern. Sobald die Ernten dann zum weiteren Export und
217
218
Weltzeit im Kolonialstaat
Entsprechend begab sich ein Teil der Landwirtschaft betreibenden lokalen Bevölkerung jedes Jahr im Anschluss an die arbeitsintensive Ernteperiode in die urbanen Zentren und andere Brennpunkte der Exportindustrie, um dort eine temporäre Beschäftigung anzunehmen. Die Periode hoher landwirtschaftlicher Arbeitsintensivität korrespondierte insofern mit einer geringen Beschäftigungsquote im handelswirtschaftlichen Arbeitssektor und die Periode geringen landwirtschaftlichen Arbeitsaufkommens korrelierte mit einem hohen Arbeitskräfteeinsatz im handelswirtschaftlichen Arbeitssektor. Anders gesagt : »Le calendrier rural offre alors le négatif de l’état mensuel de la main d’œuvre dans les villes.«54 Die den Großteil des urbanen Arbeitskraftbedarfs generierenden handelswirtschaftlichen Verladeoperationen waren dabei an eine Arbeitsorganisation gekoppelt, die eine kurzfristige und umgehende Verfügbarkeit von Arbeitskräften an den Warenumschlagsplätzen und Verladestellen erforderte und daher grundsätzlich nur schwer mit Arbeitszeitregulierungen oder Festgehältern in Einklang zu bringen war. Die Arbeiterschaft wurde entsprechend stoßweise und kurzfristig auf temporär begrenzter oder aufgabenbezogener Basis angestellt und die Gehälter je nach Bedarf und Verfügbarkeit von Arbeitskräften festgelegt.55 Die in diesem Zusammenhang etablierten Beschäftigungsverhältnisse können insofern zwar letztendlich als eine Art von Lohnarbeit angesehen werden, da sie jedoch in den allermeisten Fällen auf nur mündlich besiegelten Vereinbarungen beruhten und auch darüber hinaus keinerlei Reglementierung unterlagen, blieben sie in den allermeisten Fällen auf einer informellen Ebene verhaftet.56 Die im Zusammenhang mit der administrativen Erschließung der Kolonie und der zunehmenden Urbanisierung schon gegen Ende des 19. Jh. vermehrt einsetzende saisonale Arbeitsmigration zwischen Stadt und Land entwickelte sich in der Folgezeit zu einem bestimmenden Charakteristikum der Arbeitswelt der Kolonie. Spätestens mit Beginn der 1920er Jahre nahm sie dann bereits institutionalisierte Formen an, wie die folgende, von Lakroum für die Jahre 1922 bis 1924 erstellte
54 55 56
zur Verschiffung vorgesehen waren, wurden die Erdnüsse wieder in Säcke verpackt und zumeist per Bahn weiter zum vorgesehenen Exporthafen gebracht, um dort ebenfalls zumeist in Handarbeit wieder als Schüttgut in die Schiffe geladen zu werden. (Vgl. ebd.) Die mehrfach und unter großem Aufwand manuell bewerkstelligten Verladeoperationen zeichneten sich neben ihrer ineffizienten Organisation vor allem durch die große Langsamkeit der Prozesse aus. Ein Umstand, der insbesondere die abschließenden Verladeoperationen am Hafen kennzeichnete: »[E]n général, la lenteur du chargement n’avait d’équivalent que la dureté de la tâche.« (Ebd.) Ebd.: 66. Vgl. ebd.: 76. Vgl. ebd.: 69-78. Eine Ausnahme bildeten die einheimischen Hilfsarbeiter im Hafen von Dakar, deren Arbeitsverhältnisse bereits ab 1918 auf einer formellen vertraglichen Basis gegründet wurden. Siehe dazu im folgenden Kapitel VII.2.3.2.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
219
tabellarische Darstellung der annuellen Zyklen der Arbeitsmigration exemplarisch veranschaulicht: Tabelle 1 – Beschäftigungszyklus und Rhythmen der saisonalen Arbeitsmigration (19221924). 1922 J
J
A
S
1923 O
N
D
J
F
M
A
M
J
J
1924 A
S
O
N
D
J
F
M
A
M
J
J
A
S
Wolof Erdnuss: Hirse: Serer Hirse: Erdnuss: Casamance Reis: Erdnuss: Flux der Arbeitskraft:
˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂
˃˃˃
Urbaner Arbeitskraftbedarf:
- - - - - - --
- - - - - - - - - -===
Durchschnittlicher Tageslohn
Legende:
˂ ˃ = +
= = = = = = = =
4,5
4
4
5,5
˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂˂
5
˃˃˃˃
+++
2,7
4,8
6
6,2
˂˂˂
˂˂˂˂˂˂
+++========== - - -
========
6
6
7
Vorbereitung der Anbauflächen Aussaat und Pflege der Kulturen Ernte Arbeitsmigration in die ländlichen Regionen Arbeitsmigration in die Kolonialstädte und Wirtschaftszentren Unzureichende Verfügbarkeit von indigener Arbeitskraft in den Kolonialstädten und Wirtschaftszentren Ausreichende Verfügbarkeit von indigener Arbeitskraft Üppige bzw. übermäßige Verfügbarkeit von indigener Arbeitskraft
Aus: Lakroum 1979: 67, Übersetzung des Autors.
In der Tabelle werden die Rhythmen des lokalen Agrarjahres am Beispiel der in den zentralen Erdnussanbaugebieten beheimateten Bevölkerungsgruppen der Wolof und Serer sowie der Region Casamance, in der vor allem Diola und Mandingue57 ansässig waren, mit dem urbanen Arbeitskraftbedarf, der Bewegungsrichtung der Arbeitsmigration und der Lohnentwicklung im urbanen Arbeitssektor in Verbindung gebracht. Die landwirtschaftlichen Beschäftigungsrhythmen, die in der tabellarischen Darstellung vermittels der Anbauzyklen der Erdnuss und jeweils einer weiteren, im lokalen Kontext verbreiteten Feldfrucht repräsentiert werden, bildeten das Negativ der Arbeitskraftnachfrage im urbanen Milieu. In der Gegenüberstellung von landwirtschaftlichen Arbeitsanforderungen und der jeweiligen Verfügbarkeit von Arbeitskräften im urbanen Raum verdeutlicht sich die wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Organisation der landwirtschaftlichen Produktion in den Dörfern und der Arbeitsorganisation in den sich vor allem im urbanen Raum konzentrierenden Zentren der kolonialen Handelsökonomie. Wie anhand der Tabelle ersichtlich, unterlag die Verfügbarkeit von Arbeitskräften in den Städten dabei zwar generell starken saisonalen und regionalen Schwankungen, es zeichnet sich jedoch trotzdem ein wiederkehrendes Muster der Arbeitsmigration ab. Der 57
Zu den in der Region ansässigen Bevölkerungsgruppen siehe im folgenden Kapitel VII.1.3.
220
Weltzeit im Kolonialstaat
November stellte in dieser Hinsicht einen Übergangsmonat dar, in dem der handelsökonomische Arbeitskräftebedarf in den urbanen Zentren schneller anzusteigen begann, als dass er von den vom Lande zurückkehrenden Arbeitskräften gestillt werden konnte, weshalb auch die Lohnzahlungen temporär anzusteigen begannen. Zwischen April und September kehrten die Arbeitskräfte dann wieder in die ländlichen Regionen zurück, um sich den anstehenden landwirtschaftlichen Aktivitäten zu widmen.58 Der Rhythmus dieses durch den Handel dominierten Zyklus »scandait […] l’activité de la colonie et imposa sa cadence aux hommes du pays.«59 Ausgehend von den Zentren der Erdnussökonomie breitete er sich über die prinzipiellen infrastrukturellen Achsen auch in alle anderen Regionen der Kolonie aus. Die an die naturgegebene Strukturierung des klimatischen Jahreslaufes adaptierten Zyklen der landwirtschaftlichen Produktion initiierten zwar die prinzipiellen Migrationsbewegungen von Arbeitskräften, waren dabei aber trotzdem von den Rhythmen der Handelsökonomie und den Bedürfnissen der europäischen Produktion abhängig. Denn diese diktierten die Grundlagen des kolonialstaatlichen Arbeitsmarktes und ermöglichten es den landwirtschaftlichen Produzenten wiederum erst, ihre Ernten zu vermarkten, die kolonialstaatlichen Forderungen zu erfüllen und die eigene Versorgung zu gewährleisten60 : »À la physionomie uniforme d’une société rurale s’est substituée la dualité des villes et des campagnes avec, comme trait commun pour les régions impropres à la culture industrielle, les migrations saisonnières de paysans se rendant dans les grandes villes pour y gagner d’argent, comme salariés. Les cultivateurs […] vont, en saison sèche, travailler comme domestiques, hommes de peine ou manœuvres à Dakar, à Kaolack, à Rufisque et à Thiès, et c’est au régime du salariat de l’économie moderne qu’ils doivent se procurer le numéraire que l’inaptitude de leur province à l’arachide les empêche d’acquérir.«61 Saisonale Bewegungen der Arbeitsmigration zwischen ländlichen und städtischen Regionen prägten somit die gesamte Arbeitswelt der Kolonie. Die über die Anpassung der Migrationsbewegung an die Zyklen des urbanen handelswirtschaftlichen Arbeitskraftbedarfs erzielte andauernde Gewährleistung der kurzfristigen Verfügbarkeit von Arbeitskräften für die Handelsökonomie ermöglichte es dieser, auf die Etablierung längerfristiger und vertraglich abgesicherter Anstellungsverhältnisse weitgehend zu verzichten. Ein Umstand, der auch dadurch begünstigt wurde, dass
58 59 60 61
Vgl. Lakroum 1979: 68. Ebd.: 76. Vgl. ebd.: 68. Sylla (1966) zit. in Fall 2011 : 85.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
die fast ausschließlich auf wenig komplexe manuelle Tätigkeiten gegründete Arbeitsorganisation der Handelswirtschaft kaum spezialisierte Arbeitskräfte benötigte, deren Beschäftigung aufgrund ihrer Fachkenntnis und funktionalen Bedeutung nur auf Basis einer längerfristigen und vertragsbasierten Anstellung ökonomisch sinnvoll gewesen wäre. Der dauerhafte Rückgriff auf wiederholt kurzzeitig beschäftigte Arbeitsmigranten erforderte hingegen keine umfangreichere arbeitsrechtliche Berücksichtigung der Arbeitskräfte. Zudem war nur ein Minimum an gesetzlichen Regulierungen erforderlich, im Rahmen derer letztlich nur die hohe Mobilität der Saisonarbeiter und deren Bedürfnis nach kurzfristigen Anstellungsverhältnissen berücksichtigt werden musste. Der Rückgriff auf Saisonarbeiter begünstigte insofern den Fortbestand von informellen Lohnarbeitsverhältnissen und einer heterogenen, wenig reglementierenden Arbeitsgesetzgebung. Zugleich wirkte er sich negativ auf die Entwicklung dauerhafter formeller Lohnarbeitsverhältnisse aus. Die in erster Linie nicht-spezialisierte, kurzfristige und aufgabenbezogene manuelle Hilfsarbeit beinhaltenden informellen Lohnarbeitsverhältnisse erübrigten dabei auch jedwede detailliertere Normierung und Reglementierung der dabei zum Tragen kommenden Organisation von Arbeitszeit.
2. Zeitspezifische Ordnungspolitiken im kolonialstaatlichen Lohnarbeitssektor Aufgrund der zahlenmäßigen und auch konzeptionellen Vorrangigkeit von informellen Beschäftigungsverhältnissen innerhalb der lokalen Arbeitswelt und der nur geringfügigen Größe des Lohnarbeitssektors blieb die Definition von formeller Lohnarbeit und regulären Formen von Lohnarbeitsverhältnissen über lange Zeit hinweg im Ungenauen. Die Kategorie der Lohnarbeiterschaft wurde entsprechend lediglich anhand des »discriminant de la race«62 in zwei Gruppen unterteilt, einerseits diejenige der Europäer und andererseits diejenige der Einheimischen. Letztere machten den weitaus größeren Anteil der Gesamtheit der Lohnarbeiter in der Kolonie aus und waren, anders als die europäischen Angestellten, zudem in vor Ort und unter kolonialstaatlichen Bedingungen vereinbarten, nicht-europäischen Lohnarbeitsverhältnissen beschäftigt.63 Im Rahmen der Organisation des koloni62 63
Fall 2011: 95. Vgl. ebd. Im Gegensatz zur im lokalen Kontext rekrutierten Lohnarbeiterschaft verfügten die im Kolonialstaat arbeitenden Europäer in der Regel über Lohnarbeitsverträge, die im französischen Mutterland abgeschlossen worden waren und sich über die gesamte Dauer ihres Aufenthaltes in der Kolonie erstreckten. Zu den Anstellungsbedingungen der europäischen Kolonialbeamten siehe im folgenden Kapitel VII.3.3.2. Neben den zunächst mehrheitlich in Ko-
221
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Weltzeit im Kolonialstaat
alstaatlichen Arbeitssektors wurde den Vertretern der lokalen Lohnarbeiterschaft trotz ihrer staatstragenden Rolle über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg jedoch nur wenig Bedeutung zugesprochen. Auf ihre dennoch unzweifelhafte Präsenz wurde entsprechend vermittels einer Reihe verschiedener zweckgemäßer Begrifflichkeiten verwiesen, die das sich dahinter verbergende Lohnarbeitsverhältnis zumeist nicht in eindeutiger Weise erkennen ließen: »Les salariés africains ont longtemps présenté une figure aux contours flous, tantôt appelés ›employés‹, en référence à la structure qui utilise leur force de travail, tantôt ›rémunérés‹, en fonction de la paie reçue en contrepartie de prestations fournies.«64 Zu den ersten Vertretern der lokalen Lohnarbeiterschaft zählen dabei neben den »domestiques«65 , welche sich vor der Abschaffung der Sklaverei aus temporär in Arbeitsdienste abgegebenen Sklavenarbeitern (deren Löhne an ihre Sklavenhalter ausgezahlt wurden) und danach aus Ex-Sklaven rekrutierten66 , in erster Linie die sogenannten »laptots«67 , d.h. lokale Hilfsarbeiter in Häfen und auf Schiffen, auf welche die schon vor Mitte des 19. Jh. zu verortenden Anfänge der saisonalen Arbeitsmigrationen im kolonialen Senegal zurückzuführen sind.68 Wie insbesondere die auch noch nach der Abschaffung der Sklaverei 1848 andauernde Praxis, Sklavenarbeiter als entlohnte Hausbedienstete anzustellen verdeutlicht69 , gestaltet sich die Definition, Kategorisierung und Differenzierung früher Typen von Lohnarbeit schwierig. Ähnliche Formen von durch Unfreiheit und Zwang gekennzeichneten, jedoch entlohnten Arbeitsverhältnissen finden sich im Rahmen von Zwangsarbeitsmaßnahmen, »qui continuent, en bien des régions,
64 65 66 67 68 69
lonialadministration und Handel angestellten Europäern betraf diese Vorgehensweise spätestens ab 1911 auch alle anderen europäischen Arbeiter, wie aus einem föderalen Erlass vom 1. Mai selben Jahres ersichtlich wird, »au titre duquel le Sénégal recevait des ouvriers d’art métropolitains, embauchés en France sur la base de contrats et destinés à remplir généralement des fonctions contre maîtres.« (Fall 2011: 91) Die Regelung von 1911 wurde dabei aus der lokalen Praxis in der Einzelkolonie Guinea übernommen und auf die gesamte Föderation Französisch-Westafrikas übertragen. (Vgl. Goerg 1990: 86) Fall 2011 : 95. Ebd.: 77. Vgl. ebd.: 77-79. Ebd.: 78. Vgl. ebd.: 78-82. Im Rahmen europäischer Anstellungsverhältnisse von Hausbediensteten, bspw. innerhalb der vier Kommunen, wurde diese Praxis in der Tat ab 1848 geächtet, nicht jedoch im Falle der sogenannten häuslichen Sklavenhaltung bzw. der captifs de case im Bereich nicht-europäischer, lokaler Beschäftigungsverhältnisse, wo diese Praxis sogar noch nach 1905 andauerte. Siehe dazu Searing 1985: 68ff.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
d’être la règle pour certain types de travaux (routes, ports, terrassements, forestage)«70 und im Kontext von Beschäftigungsverhältnissen, die aus denen der salariés, employés, rémunérés oder denen der Zwangsarbeiter abgeleitet wurden, aber veränderte Formen annahmen und unter anderen Bezeichnungen firmierten:71 »Ainsi ›la frontière entre salarié, rémunéré et rétribué‹ est mouvante […].«72 Die Problematik, zwischen den frühen Typen von Lohnarbeitern bzw. den salariés, employés, rémunérés zu differenzieren wird auch dadurch erschwert, dass ein Großteil der Arbeitskräfte auf Basis individueller Konventionen angestellt wurde, die ohne schriftlich fixierte vertragliche Grundlage auf informeller Basis abgeschlossen wurden und generell nur wenig Gemeinsamkeiten aufwiesen.73 Lohnauszahlungen – eines der sicherlich charakteristischsten Merkmale der Lohnarbeit – wurden entsprechend oft in Naturalien ausgegeben und nicht einmal von den Arbeitgebern als »véritable ›salaire‹«74 angesehen. Zudem verfügte immer nur der geringste Teil der lokalen Lohnarbeiterschaft über permanente Anstellungsverhältnisse, der Großteil konstituierte sich hingegen vielmehr aus Saisonarbeitern, die zur Bewältigung einer bestimmten Arbeitsaufgabe nur für eine temporär begrenzte Periode im Jahr beschäftigt wurden: »[…] partagés entre le travail agricole, artisanal ou commercial mené pour leur propre compte et le temps de l’activité consacrée à l’entreprise.«75 Noch 1930 nahmen bspw. von den 6539 vertraglich angestellten Arbeitern des Eisenbahnunternehmens Dakar-Niger, des größten Unternehmens in der Föderation Französisch-Westafrikas, 5492, d.h. insgesamt 83,98 % der Belegschaft, den Status von nur kurzfristig beschäftigten »auxiliaires-journaliers« ein.76 Die Kurzfristigkeit und tätigkeits- bzw. aufgabenbezogene Natur von Lohnarbeitsverhältnissen im zeitgenössischen kolonialen Arbeitssektor verdeutlicht sich dabei bereits an einem Beispiel der Anstellungsbedingungen und Arbeitszeiten von Lohnarbeitern im Kontext des zwischen 1889 und 1900 bewerkstelligten Baus des »Hôtel de gouvernement« in Conakry, der Hauptstadt der der Kolonie Senegal benachbarten Kolonie Guinea.77 Die Compagnie française de l’Afrique occidentale stellte für dieses Bauprojekt einfache und spezialisierte Arbeitskräfte ein, die jedoch alle nicht in Conakry ansässig waren und für die Dauer des Bauprojektes dorthin überführt und vor Ort unterhalten werden mussten.78 Unter den insgesamt »trente manouvres ›Kroomen‹ (Kru)« und »trente trois maçons, charpentiers et mineurs«
70 71 72 73 74 75 76 77 78
Naville (1952) zit. in Fall 2011: 114. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Fall 2011: 114; Lakroum 1979: 47. Fall 2011: 95. Fall 2011: 95-96; siehe auch Lakroum 1979: 47. Vgl. Fall 2011: 114. Vgl. Goerg 1990: 82-83. Vgl. ebd.: 83.
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Weltzeit im Kolonialstaat
fanden sich 14 Kreolen nicht spezifizierter Herkunft und 19 Wolof aus Saint-Louis in Senegal.79 Die Arbeitsverträge wurden in diesem Fall vor der Verschiffung der Arbeiter abgeschlossen, waren an die für das Bauprojekt benötigte Dauer gekoppelt und beinhalteten die Übernahme der Kosten für die Überfahrt, ein festgelegtes Gehalt sowie eine Klausel zur kostenlosen Rückführung der Arbeitskräfte im Falle von Ungehorsam: »Les horaires étaient les suivants : 6 à 12 h et 14 à 18 h, soit dix heures, dimanches et fêtes exclus. Les mentions de salaires […] donnent une idée de l’éventail pratiqué, valable jusqu’à la Première Guerre mondiale : manœuvre 0,75 F à 1,5 F par jour, ouvrier qualifié 3 à 5 F, chef d’équipe (Maître-Macon) 4 à 6,5 F. à cela s’ajoutaient généralement des vivres [par exemple] 6,25 F de ration mensuelle et une boisseau de riz pour les travailleurs qualifiés […].«80 Kurzfristige und aufgabenbezogene Beschäftigungsverhältnisse ebenso wie auch tägliche Arbeitszeiten, die sich, nur durch eine Mittagspause unterbrochen, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erstreckten, waren für Lohnarbeiter in Senegal und den anderen westafrikanischen Kolonialterritorien der Franzosen innerhalb der gesamten Untersuchungsperiode gängig. Die hier an einem Beispiel aus den 1890er Jahren exemplarisch verdeutlichten Charakteristika der Dauer von Lohnarbeitsengagements und der dabei zum Tragen kommenden Arbeitszeiten wurden jedoch erst im Zuge der Einführung der ersten Arbeitsgesetzgebung der Föderation Französisch-Westafrikas in den Jahren 1925/26 legislativ festgeschrieben.
2.1. Projekt zur Einführung eines wöchentlichen Ruhetages Die ersten nachhaltigen Versuche zur Etablierung einer Arbeitsgesetzgebung und einer entsprechenden Reglementierung der Arbeitszeiten innerhalb der Kolonie fallen in die von 1902 bis 1907 währende Amtsperiode des Generalgouverneurs Roume. Ab 1906 begann dieser, die Entwicklung einer politique indigène anzugehen, die u.a. auf die Einführung einer dem metropolen Vorbild entlehnten Arbeitsgesetzgebung für die einheimische Arbeiterschaft abzielte.81 Als Ausgangspunkt und Vorbild für die zu entwickelnde föderale Gesetzgebung diente dabei das in Frankreich am 13. Juli 1906 zur Anwendung gebrachte Gesetzeswerk zur Festlegung des Sonntags als einheitlichem wöchentlichen Ruhetag.82
79 80 81 82
Ebd. Ebd. Vgl. Thiam 1993: 67. Vgl. ebd.: 68.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Die Sonntagsruhe war in Frankreich 1814 erstmals allgemeinverbindlich eingeführt worden, sie wurde jedoch nicht streng eingehalten und 1880 zunächst wieder aufgehoben. Erst mit der Regelung von 1906 wurde sie erneut eingeführt, um dann vermittels der Übertragung in das arbeitsrechtliche Gesetzeswerk des code du travail 1910 dauerhaft legislativ festgeschrieben zu werden.83 Dabei hat es zu keiner Zeit je einen vollkommen arbeitsfreien Sonntag gegeben84 , die Wiedereinführung des arbeitsfreien Sonntags im Jahre 1906 markierte jedoch den vorläufigen Endpunkt eines durch den Beginn der industriellen Revolution eingeleiteten Prozesses der Abkehr von der alten Institution der Sonntagsruhe in Frankreich. Im Zuge dieses Prozesses, der die »kirchliche Ruhevorschrift« zugunsten der Belange von Fabrikarbeit und »liberalkapitalistische[r] Auffassung« zurückstellte, entwickelte sich die Sonntagsarbeit in den Fabriken vieler europäischer Ländern zeitweilig zu einer Selbstverständlichkeit, die von den staatlichen Institutionen »erst als sich die gesundheitlichen Schäden der kaum unterbrochenen Arbeit mehr[t]en,« wieder zurückgenommen wurde.85 In den europäischen Staaten wurde daher ab Mitte des 19. Jh. eine schrittweise Regulierung der Sonntagsarbeit durchgeführt und entsprechende »rechtliche Normen zum Schutz des Sonntags« erlassen.86 Die Situation in der Kolonie bot noch um 1906 einen Spiegel der diesbezüglichen Entwicklungen im französischen Mutterland. Idee und Praxis zur Festschreibung eines wöchentlichen Ruhetages waren jedoch stärker als in Frankreich durch ökonomische Belange geprägt und die zwischen 1814 und 1880 zeitweilig vorgenommene erstmalige Festlegung des Sonntags als einheitlichem Ruhetag hatte in den frühen französischen Überseebesitzungen vor Ort keine Anwendung gefunden. Die demzufolge vor allem auf informeller Ebene situierte Einhaltung der Sonntagsruhe begründete sich daher in erster Linie in der christlichen Glaubenspraxis und erstreckte sich zunächst auch nur auf die lokalen Vertreter der christlichen Glaubenslehre. Eine strikte Einhaltung des sonntäglichen Arbeitsverbotes war entsprechend dem zeitgenössischen Verständnis dieser kirchlichen Vorschrift jedoch nicht vorgesehen, da »sich die Kirche nicht den Notwendigkeiten des Verkehrslebens verschloß [und] jene Arbeiter, die wegen ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse gezwungen waren, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten, in der Regel nicht bloß vom Gebot der Feiertagsruhe, sondern auch der Feiertagsmesse als hinreichend entschuldigt an[sah].«87 Die Sieben-Tage-Woche mit Sonntagsruhe diente jedoch nicht nur der lokalen christlichen Gemeinschaft in den französischen Überseebesitzungen der zwei83 84 85 86 87
Vgl. Pribyl 1998: 112. Vgl. ebd.: 117. Ebd.: 108. Ebd.: 111. Ebd.
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Weltzeit im Kolonialstaat
ten Hälfte des 19. Jh. als zeitliches Orientierungsmuster, sondern agierte auf informeller Ebene auch als Grundlage der gesellschaftlichen Organisation der Zeit im heranwachsenden Kolonialstaat.88 Die Reservierung eines einheitlichen Ruhetages für die gesamte Arbeitswelt des Kolonialstaates war innerhalb dessen nur auf informeller Ebene existierenden und vor allem ökonomischen Prämissen folgenden zeitlichen Strukturierung jedoch auch hier vorerst nicht vorgesehen. In der lokalen Bevölkerung außerhalb des kolonialstaatlichen Einflussbereiches waren Festschreibungen eines wöchentlichen Ruhetags ebenfalls bekannt. Sie orientierten sich wie auch im europäischen Kontext vornehmlich an den zeitlichen Vorschriften der in den Regionen jeweils dominanten religiösen Glaubenslehren und wurden außerhalb des Bereiches kolonialherrschaftlicher Lebens- und Arbeitswelten auch nach der kolonialen Okkupation zumeist unverändert fortgeführt: »L’idée que le repos hebdomadaire était indispensable aux travailleurs, n’était pas étrangère en Afrique. Bien avant l’arrivée du colonisateur, les africains d’origine musulmane ou animiste, avaient coutume d’interrompre leur travail habituel pendant une journée entière, qui était selon la région considérée, et la religion dominante, le lundi, le mercredi, ou le vendredi. Lorsque le système colonial s’établit au Sénégal, cet usage avait continué de se pratiquer dans les pays de protectorat.«89 Da es zwischen den durch agrarwirtschaftliche Abläufe geprägten zeitlichen Abläufen in der lokalen Lebens- und Arbeitswelt der Protektoratsgebiete und denjenigen in den nicht-europäischen Stadtvierteln der Kolonialstädte größtenteils nur marginale Unterschiede gab90 , waren lokale zeitliche Referenzsysteme und entsprechende zeitspezifische Handlungspraxen – wie die Einhaltung von wöchentlichen Ruhetagen –, insoweit dass sie nicht mit den kolonialherrschaftlichen Interessen konfligierten, auch im Umfeld des unmittelbaren französischen Einflussbereiches der kolonialstaatlichen Zentren weiterhin von großer Relevanz.91 Hinsichtlich der kolonialstaatlichen Arbeitszeitpolitik hatte die über das gesamte 19. Jh. hinweg ausgebliebene gesetzliche Regulierung eines einheitlichen wöchentlichen Ruhetages zu Beginn des 20. Jh., als sich Generalgouverneur Roume der Thematik widmete, jedoch auch in den Kolonialgebieten bereits dazu geführt, dass diese für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber in Senegal auf die Tagesordnung gerückt war.92 Die Dringlichkeit, welche die Thematik zu dieser Zeit innerhalb der Kolonie entwickelte, führte in der Folge sogar zur Vorbereitung eines entsprechenden Gesetzeserlasses. In einem diesbezüglich ausgearbeiteten vorläufigen projet de décret 88 89 90 91 92
Siehe dazu im folgenden Kapitel VII.2.1. Vgl. Thiam 1993 : 68. Vgl. Faye 2000: 302-311. Zur Koexistenz verschiedener Zeitordnungssysteme siehe im folgenden Kapitel VII.2.5. Vgl. Thiam 1993 : 69.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
wird entsprechend auch die große Bedeutsamkeit einer Regulierung der wöchentlichen Ruhezeit hervorgehoben, zugleich jedoch auch verdeutlicht, dass sich die Umsetzung im kolonialen Kontext als sehr schwierig darstellen würde: »Tout le monde est d’accord sur la nécessité du repos hebdomadaire, mais l’application du principe est particulièrement complexe et délicate.«93 Die verantwortlichen Kolonialbeamten waren sich der Wichtigkeit, die lokale Arbeiterschaft davor zu schützen, dass ihre Arbeitskraft und ihre Arbeitszeit ausgebeutet wird, insofern sehr wohl bewusst, dennoch sahen sie in der Übernahme der metropolitanen Verordnungen vor allem eine Gefährdung der kolonialen Situation: »Ce projet doit être écarté pour une raison de principe: la base même de la réglementation métropolitaine serait vicieuse en A.O.F.«94 Die in Artikel 2 des französischen Gesetzes vom 13. Juli 1906 vorgenommene Festschreibung des Sonntags als wöchentlichem Ruhetag sahen die zeitgenössischen Verantwortlichen dabei insbesondere als problematisch an, weil es sich um eine durch die christliche Konfession inspirierte Auswahl eines Wochentages handelte, die sich nur schwer mit der Situation im mehrheitlich nicht-christlichen und polyreligiösen Senegal verbinden ließe: »En A.O.F. au contraire, dans un pays où la religion chrétienne est réellement pratiquée par une infirme minorité, où la moitié de la population fait du vendredi le jour religieux, où le milieu indigène tout entier a ses jours de fêtes qui diffèrent des nôtres, le législateur, s’il veut prendre en considération les réalités locales, doit éviter d’imposer un jour de repos commun.«95 Im Kommentar zum probeweise ausgearbeiteten Entwurf einer korrespondierenden föderalen Gesetzgebung sieht der Autor daher von der direkten und unveränderten Übertragung der metropolen Gesetzesvorlage ab. Statt einen festgelegten Wochentag mit universeller Gültigkeit innerhalb des gesamten Föderationsterritoriums festzuschreiben, wurde vielmehr das Anliegen verfolgt, die Festlegung eines einheitlichen Ruhetages zu umgehen und den privatwirtschaftlichen Unternehmensführungen lediglich vorzuschreiben, dass sie dazu verpflichtet sind, ihren Arbeitern jeweils einen Ruhetag pro Woche zu gewährleisten. Das Unternehmertum wäre in diesem Falle jedoch nicht verpflichtet gewesen, allen Arbeitern am selben Tag Erholungszeit zu gewährleisten, eine Regelung, die insofern vor allem der wirtschaftlichen Flexibilität von Industrie und Handel zugute gekommen wäre: »Et, comme il est plus facile de permettre à une personne déterminée de prendre vingt-quatre heures de repos que de licencier tout le personnel d’un même établis93 94 95
ANS K167 -26, N°486, Projet de décret réglementant les conditions du repos hebdomadaire en Afrique Occidentale Français, Observations, 3. März 1914, fol. 6. Ebd. fol. 7. Ebd.
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sement à un jour donné, la réglementation à intervenir sera plus facile à appliquer tout en apportant moins de perturbation dans le commerce et l’industrie.«96 Die Auseinandersetzung mit der metropolen Gesetzgebung vom 13. Juli 1906 führte innerhalb des Zentralgouvernements der Föderation letztendlich zur Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfes, der insgesamt 13 Artikel umfasste. Artikel 1 und 2 verdeutlichen dabei die bisher erörterten kolonialherrschaftlichen Überlegungen zur optimalen wirtschaftlichen Aufteilung der Arbeits- und Ruhezeiten. In Artikel 1 wurde, wie erwähnt, lediglich festgeschrieben, dass die Arbeitgeber jedem Arbeiter pro Woche einen freien Tag zur Erholung gewähren mussten, Artikel 2 präzisiert dann, dass die Arbeitnehmer die freien Tage nach eigenem Ermessen festlegen und den Arbeitern je nach wirtschaftlicher Lage des Unternehmens auf individueller Basis gewähren konnten: »Les chefs d’entreprises, directeurs ou patrons fixent à leur gré le jour du repos en tenant compte des coutumes locales; ils peuvent l’appliquer par roulement à tout ou partie de leur personnel dans le but d’assurer le fonctionnement normal de leurs établissements ou d’éviter de porter préjudice au public. Toute convention particulière fixant des conditions spéciales au repos périodique dans les limites fixées par l’article 1er peut valablement être établie entre employeur et employé.«97 Trotz der vergleichsweise weitgehenden Planungen zur Veröffentlichung eines föderalen Pendants zum metropolen Gesetz vom 13. Juli 1906 wurde der Gesetzesentwurf nie umgesetzt. Entsprechend Thiam führte die Intervention von »des forces obscures« zur Einstellung aller Arbeiten am föderalen Gesetz zur Einführung eines wöchentlichen Ruhetages.98 Die Debatte um die Einführung eines wöchentlichen Ruhetages für die einheimischen Arbeiter in Französisch-Westafrika war damit jedoch noch nicht beendet. Kritik an den in den Kolonialgebieten herrschenden Arbeitsbedingungen und den ausbeuterischen Arbeitszeiten gliederte sich in den Folgejahren jedoch zumeist in den Rahmen von allgemeineren Vorwürfen gegen die ausbleibende Einführung von französischen Sozialrechten und anderen legislativ verankerten Defiziten des Kolonialsystems.99 Innerhalb der Föderation kam es zu einer weiteren Verschärfung des Konfliktes um die Einführung eines wöchentlichen Ruhetages für einheimische Arbeitskräfte, als in der Zeitung L’A.O.F. am 18. September 1913 ein Artikel erschien, der den
96 97 98 99
Ebd. fol. 8. Ebd. fol. 1-2. Thiam 1993 : 70. Vgl. ebd. : 82-84.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Arbeitskampf von Angestellten in Saigon, der Hauptstadt der Kolonie Cochinchine, illustrierte und über eine Demonstration von 200 lokalen Arbeitskräften berichtete.100 Wie sich seiner rhetorischen Auseinandersetzung mit den im kolonialen Kontext möglicherweise bestehenden Hindernissen einer Umsetzung der metropolen Gesetzesvorlage entnehmen lässt, war sich der Autor des Artikels dabei sicher, dass sich die verantwortlichen kolonialherrschaftlichen Arbeitgeber in Französisch-Westafrika einer »mesure humanitaire«101 wie der Begrenzung der Arbeitszeiten für einheimische Arbeiter durch die Einführung eines wöchentlichen Ruhetages nicht widersetzen würden: »[L]es lois sociales les plus urgentes ne se promulguent pas en AOF, malgré l’étiquette de libéralisme dont le Gouvernement Général aime à se parer, se demandait excédé, quels dangers, quels principes de discipline s’opposaient à ce que les employés de commerce se reposent le dimanche? Les indigènes […] accordent un jour par semaine à leurs domestiques pour leur permettre de s’occuper de leurs affaires personnelles. Les Blancs qui se taxent de civilisation supérieure ne pourraient-ils en faire autant à l’égard de leurs employés?«102 Nur wenige Wochen zuvor hatte die senegalesische Zeitung Le Petit Sénégalais ebenfalls einen Artikel veröffentlicht, der in ähnlicher Weise nicht nur die grundsätzlich ausbleibende Übertragung von französischen Sozialrechten in die Kolonie bemängelte, sondern zudem ausdrücklich auf das fehlende Recht eines wöchentlichen Ruhetages hinwies.103 Auch die gesteigerte öffentliche Wahrnehmung und Debatte der Thematik innerhalb von Kolonie und Föderation führte jedoch in der Folgezeit zu keinerlei diesbezüglichen Änderungen der kolonialherrschaftlichen Vorgehensweise. Selbst die anschließende Intervention des damaligen Präsidenten der Liga für Menschenrechte, Francis de Presseu, welcher in einem Bericht an den Kolonialminister erklärte, dass es ihm unmöglich geworden sei, überzeugende Argumente für die Rechtfertigung der Ausbeutung der Arbeitszeiten und die Behinderung der Einführung von arbeits- und sozialrechtlichen Gesetzesvorlagen durch das koloniale Unternehmertum zu finden, erbrachten letztendlich keine Verbesserung der Situation.104 Dabei hatte der Präsident der Liga für Menschenrechte mehrfach ausdrücklich auf die Gesundheit der Arbeiter verwiesen und die hohen körperlichen Anforderungen an Arbeiter in der tropischen Klimazone betont, die es erforderten, dass die dortige Arbeiterschaft auch in besonderem Maße auf Erholungszei-
100 101 102 103 104
Vgl. ebd. : 82. L’A.O.F. (18. September 1913) zit. in Thiam 1993 : 82. Ebd. : 83. Vgl. Le Petit Sénégalais (26. Oktober 1913) zit. in Thiam 1993: 82. Vgl. Thiam 1993: 83.
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ten zurückgreifen konnte, welche nicht den rein profitorientierten Interessen des Unternehmertums geopfert werden dürften:105 »Les temps ont passé, où les Etats-soi-disant civilisés croyaient pouvoir, sans scrupules, faire de leur colonies des terres d’exploitation à outrance; il serait indigne de la France et de la République […], de ne pas comprendre que les lois sociales, cet essai encore timide, pour satisfaire tout à la fois à des obligations de conscience et à des nécessités économiques, doivent s’appliquer à son domaine colonial comme à son territoire métropolitain.«106 Trotz der offensichtlichen Notwendigkeit einer Ruhetagsregelung für die Kolonialgebiete mussten die Arbeitskräfte innerhalb von Föderation und Kolonie noch fast 20 Jahre warten, bis im Zuge der ab 1926 durchgesetzten Einführung von Lohnarbeitsverhältnissen und Arbeitsverträgen, wie erwähnt, auch ein einheitlicher wöchentlicher Ruhetag für einheimische Arbeitskräfte festgelegt wurde.107 Angesichts der bisher erörterten wirtschaftsfreundlichen Haltungen der Kolonialherrschaft verwundert nicht, dass trotz der großen Anzahl von Andersgläubigen in der Kolonie auch in diesem Falle der christliche Sonntag als einheitlicher wöchentlicher Ruhetag ausgewählt wurde.108
2.2. Gesetz zur Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages In der Nachkriegszeit kam es innerhalb der Reihen der kolonialherrschaftlichen Autoritäten letztendlich zu einem Umdenken hinsichtlich der bisher gepflegten Praktiken der Arbeitsorganisation im Kolonialstaat. Die Zunahme von kritischen Stimmen innerhalb der politischen Landschaft der Kolonie, welche die rastlose Ausbeutung der lokalen Populationen verdammten und auf eine Lockerung des Zwangsarbeitssystems hinarbeiteten, sowie auch internationaler Druck durch das Bureau Internationale du Travail und andere gleichgesinnte metropole Interessengruppen führten insofern letztendlich dazu, dass sich die Kolonialadministration genötigt sah, den kolonialstaatlichen Arbeitssektor zu reformieren und die Arbeitsbedingungen der einheimischen Arbeiterschaft zu verbessern.109 1919 waren in Frankreich infolge eines Gesetzes vom 23. April die 48-StundenArbeitswoche und der Acht-Stunden-Arbeitstag eingeführt worden. Die französische Regierung hatte die neue Arbeitszeitregelung auch zur Anwendung in den
105 106 107 108
Vgl. ebd.: 83-84. Ebd. : 84. Vgl. Lakroum 1979: 222. Zur Festlegung des Sonntags als einheitlichem wöchentlichen Ruhetag siehe im folgenden Kapitel VI.2.4. 109 Vgl. Fall 1984: 140, 249.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Kolonialgebieten Französisch-Westafrikas freigegeben und ein Erlass des Generalgouverneur Gabriel L. Angoulvant vom 15. Mai 1919 übertrug das Gesetzeswerk letztendlich in das legislative Konglomerat der Föderation.110 Der föderale Erlass beinhaltete jedoch keine unmittelbar zu verwirklichenden Handlungsanweisungen und überließ die letztendliche Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben den kolonialherrschaftlichen Autoritäten in den jeweiligen Einzelkolonien bzw. der situationsspezifischen Beurteilung durch die lokalen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Arbeitgeber.111 Das Gesetzeswerk präsentierte sich insofern keineswegs einheitlich und ließ grundsätzlich großen Spielraum für Abweichungen und Ausnahmeregelungen: »Au terme de cette loi, des règlements d’administration publique doivent en fixer les délais et conditions d’application par profession, par industrie, commerce ou catégorie sociale professionnelle pour l’ensemble du territoire ou pour une région déterminée.«112 Aus zeitgenössischer kolonialherrschaftlicher Perspektive sprach dabei zunächst wenig für die Einführung einer derartigen Gesetzgebung, vor allem, da die europäischen Angestellten innerhalb der Kolonie befürchteten, dass der Wert ihrer Arbeitskraft und die Höhe ihrer Einkommen infolge der Regulierung des lokalen Arbeitsmarktes und der Arbeitszeiten der einheimischen Arbeiterschaft sinken könnten.113 Die ebenfalls auf die eigenen wirtschaftlichen Vorteile bedachten Vertreter der Union Coloniale Française, einem 1893 gegründeten kolonialen Interessenverband französischer Unternehmer, nutzten die fehlende legislative Verbindlichkeit und die damit einhergehende zeitliche Verzögerung bei der geplanten Umsetzung des Gesetzeswerkes, um den Repräsentanten der senegalesischen Handelskammern und den wichtigsten Vertretern der für öffentliche Arbeiten zuständigen staatlichen Institutionen (d.h. dem Inspecteur général des Travaux Publics und dem Chef des Affaires économiques) einen Fragenkatalog zu schicken, vermittels dessen die möglichen positiven und negativen Auswirkungen der Einführung des Gesetzeswerkes in der Kolonie abgeschätzt werden sollten.114 Der Katalog beinhaltete dabei u.a. Fragen nach dem möglichen Nutzen, der durch die Einführung des Gesetzes entstehen würde, aber auch nach den Berufsgruppen, die überhaupt für die Anwendung in Frage kämen, nach den diesbezüglich bisher bestehenden Regulierungen, der möglichen Neuverteilung der Arbeitsstunden, den Schritten, die nötig seien,
110 111 112 113 114
Vgl. Thiam 1993: 141. Vgl. ebd. : 142. Journal Officielle de l’Afrique Française Occidentale (1919) zit. in Ba 1993 : 27. Vgl. Ba 1993 : 27. Vgl. Thiam 1993 : 143.
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Weltzeit im Kolonialstaat
um das Gesetz umzusetzen, möglichen arbeitszeitlichen Abweichungen und Ausnahmeregelungen sowie entsprechenden Kontrollmöglichkeiten.115 Die Antworten der in der Untersuchung befragten kolonialstaatlichen Institutionen und Dienste fielen wie in folgender Tabelle zusammengefasst aus: Tabelle 2 – Ergebnisse der Abstimmung zur Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages (1919). Services ou sociétés :
Avis :
Inspecteur général des Travaux Publics
Défavorable
Chef des Affaires économiques, Sénégal
Défavorable
Chemin de fer Thiès-Kayes, Navigation
Nuancé
Chambre de commerce de Ziguinchor
Défavorable
Chambre de commerce de Rufisque
Nuancé
Chambre de commerce de Kaolack
Nuancé
Chambre de commerce de St. Louis
Nuancé
Chambre de commerce de Dakar
Favorable
Aus : Lakroum 1979 : 143.
Wie die Tabelle verdeutlicht, zeigten sich die Vertreter des privatwirtschaftlichen, kommerziellen Sektors dem Vorhaben zur Einführung des Acht-StundenArbeitstages größtenteils zumindest nicht grundsätzlich abgeneigt. Die Funktionäre der Handelshäuser erkannten vielmehr auch die Vorteile einer entsprechenden Gesetzgebung, was sich in den entsprechend differenzierten, die Einführung weder eindeutig befürwortenden noch ablehnenden Ansichten widerspiegelt und sich so klar von der bisherigen Haltung, Arbeitsrechte für Einheimische kategorisch zurückzuweisen, unterscheidet. Die in den abwägenden Antworten der Handelskammern angeführten Argumente legen darüber hinaus dar, dass die privatwirtschaftlichen Unternehmer die Einführung des Gesetzeswerkes insbesondere mit der Forderung nach einer gleichzeitigen Vergrößerung der Mobilität der Arbeiterschaft verbanden, um so eine Verbesserung der Verfügbarkeit von lokalen Arbeitskräften für die saisonalen Bedürfnisse ihrer Handelsaktivitäten zu erreichen.116 Der größte Widerstand gegen die Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages kam dagegen vielmehr von den öffentlichen kolonialstaatlichen Institutionen. Die Leiter von Service des Travaux Publics und Service des Affaires économiques befürchteten, dass die Beschränkung der Arbeitszeiten für einheimische Arbeitskräfte die
115 116
Vgl. ebd. Vgl. Lakroum 1979 : 43.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Wiederbelebung der ökonomischen Entwicklung der Kolonie in der Nachkriegszeit gefährden und die Durchführung wichtiger Arbeiten behindern würde: »[L]a réglementation envisagée non seulement ne répond pas aux conditions du travail local en AOF, mais en outre serait de nature à compromettre et entraver la reprise du travail si nécessaire actuellement.«117 In direkter Reaktion auf die zu erwartende Einführung des neuen Gesetzeswerkes hatte der für das Eisenbahnunternehmen Dakar-Saint-Louis verantwortliche Verbindungsbeamte der Kolonialverwaltung bereits in einem Schriftwechsel an den Kolonialminister vom 19. Dezember 1919 ähnliche Befürchtungen geäußert.118 Der betreffende Administrateur délégué du Dakar-Saint-Louis hatte demzufolge errechnet, dass die neue Regelung allein im Eisenbahnbetrieb zu einer 30-prozentigen Ausgabensteigerung führen könnte und warnte zudem vor den möglichen negativen Konsequenzen für die Entwicklung der Kolonialwirtschaft.119 Auch die Haltung der Handelskammer Kaolack, welche sich im Grundsatz zwar als abwägende Antwort darstellt, letztendlich die aus ihrer Perspektive drohenden desaströsen Folgen der Einführung des neuen Gesetzeswerkes jedoch nicht verschweigt, verdeutlicht die Ängste und Gefahren, die die Kolonialherren mit der geplanten Ausweitung des Arbeitsrechts verbanden. Die Repräsentanten der Handelskammer des Verwaltungsbezirks Sine-Saloum, der das Zentrum der Erdnussanbaugebiete der Kolonie darstellte, betonten dabei die großen Schwierigkeiten, die bereits die bisherige ökonomische Situation bestimmten. Dementsprechend führte der intensive saisonale Arbeitsaufwand alljährlich zu einer Krise der Exportwirtschaft, da es an einer effektiven Organisation zum Warentransport zwischen Stadt und Land fehlte. In der Ernteperiode kam es daher immer wieder zu Transportengpässen, die durch die unzureichend vorhandene lokale Arbeitskraft nicht bewältigt werden konnten:120 »Nous devons nous efforcer de charger sur les vapeurs et d’exporter le maximum possible d’arachides avant la période des cultures pour laisser la main-d’œuvre indigène aux travaux des champs.«121 Hinsichtlich der gesetzlichen Vorlage zur Einführung des Acht-StundenArbeitstages für einheimische Arbeitskräfte äußerten die Verantwortlichen insofern vor allem Einwände, die sich auf die negativen Auswirkungen für den handelsökonomischen Warentransport bezogen. Es wurde insbesondere
117 118 119 120 121
Inspecteur général des Travaux Publics (1920) zit. in Lakroum 1979 : 43. Vgl. Thiam 1993 : 141. Vgl. ebd. Vgl. Lakroum 1979 : 43. Chambre de Commerce de Kaolack (1919) zit. in Lakroum 1979 : 44.
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bemängelt, dass eine Reduktion der Arbeitszeiten zu einem geringeren Arbeitsaufkommen führen werde und daher die Gefahr bestehe, dass die Bahnhöfe durch nicht rechtzeitig abtransportierte Waren verstopft und die Exportinfrastrukturen somit gänzlich lahmgelegt würden: »[C]e sont vite les gares embouteillées partout, les moyens de transports immobilisés, et les grosses difficultés actuelles augmentées, avec, évidemment, la grave répercussion que cela entraînera dans toute la colonie.«122 Eine ähnlich negative Sicht der zu erwartenden Entwicklungen offenbarten auch die die Einführung des neuen Gesetzeswerkes kategorisch ablehnenden Vertreter der Handelskammer von Ziguinchor im abgelegenen Verwaltungsbezirk Casamance. Die Begründung der Haltung der dortigen Handelsvertreter resultierte dabei zu einem großen Teil, wie auch im Falle von Kaolack, aus der im Bezirk vorherrschenden alltäglichen Situation und den damit assoziierten ökonomischen Problematiken. Als erst sehr spät befriedeter und administrativ erschlossener Bezirk mit einer ebenso geringen und erst im Werden befindlichen kolonialstaatlichen Ökonomie stellte der Verwaltungsbezirk Casamance dabei sozusagen den ökonomischen Gegenpol zum früh integrierten und wirtschaftlich prosperierenden Bezirk Sine-Saloum dar.123 Trotz dieser aus wirtschaftlicher Perspektive großen Unterschiede äußerten sich die zentralen kolonialherrschaftlichen Einwände gegenüber der Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages auch im administrativ noch wenig erschlossenem Verwaltungsbezirk Casamance in ganz ähnlicher Weise wie in Sine-Saloum. Der saisonale Arbeitskräftemangel der kolonialen Exportwirtschaft stand auch hier im Zentrum der Kritik, mit dem Unterschied jedoch, dass die Mangelsituation nicht primär als Konsequenz einer verfehlten kolonialstaatlichen Organisations- und Infrastrukturpolitik gesehen wurde, sondern vielmehr wieder auf die vermeintliche Faulheit und die geringe Effizienz der lokalen Arbeitskräfte zurückgeführt wurde: »[L]’élément européen des firmes commerciales ne demande nullement l’application de la loi … Quant à l’élément indigène, il ne fournit même pas le 1/3 du rendement d’un Européen employé dans le même travail … . D’ailleurs quel qu’il soit, et quelque situation qu’il occupe, il ne demande qu’une chose : travailler le moins possible et toucher le maximum.«124 Die der Einführung eines Arbeitsrechts gegenüber ablehnend eingestellten Vertreter der Handelskammer in Ziguinchor sahen in der Gesetzesvorlage folglich eine
122 Thiam 1993 : 144. 123 Vgl. Gandolfi 1959 : 18. 124 Chambre de Commerce de Ziguinchor (1919) zit. in Thiam 1993 : 143.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
hinsichtlich des Standes der ökonomischen Entwicklung in ihrem Verwaltungsbezirk zu früh eingeleitete anachronistische Regelung, die angeblich vor allem der vermeintlichen Faulheit der Einheimischen entgegenkommen würde: »[C]ette loi ne vient pas à son heure et n’est désirée que par une catégorie des gens: les plus paresseux.«125 Ein Teil des kolonialen Unternehmertums verfolgte dementsprechend eine ablehnende Haltung gegenüber der Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages, weil sie die lokale Bevölkerung noch nicht als angemessen weit entwickelt ansah, um die Vorzüge des Gesetzes schätzen zu können.126 Eine Ansicht, die sich auch in einem ministeriellen Fernschreiben aus dem Jahre 1919 wiederfindet : »[L]a population de nos colonies de l’ouest africain n’a pas encore acquis l’éducation qui lui permette d’apprécier les avantages des ouvriers.«127 Der Rekurs auf die vermeintliche Faulheit der Einheimischen folgte dabei wiederum vor allem ökonomischen Prämissen. Er verdeutlicht die vornehmliche Zielsetzung der kolonialen Unternehmerschaft, welche letztendlich darin bestand, die Einführung des Gesetzeswerkes zu verhindern und die bisher nur unter Einsatz minimaler finanzieller Mittel realisierten Gewinnspannen nicht zu gefährden: »La paresse ou le manque de rendement de travailleurs indigènes ne sauraient être des justifications valables pour empêcher l’application de cette loi. Leur position semblait être dictée par le seul but de la recherche du gain à bas frais et en faisant travailler les indigènes de manière forcenée.«128 Eine die neue gesetzliche Regelung uneingeschränkt befürwortende Antwort kam schließlich nur von der Handelskammer in Dakar. Dies erklärt sich dadurch, dass im administrativen Zentrum der Föderation nahezu Vollbeschäftigung herrschte, so dass die Regulierung und Organisation des Arbeitsmarktes auch den hier ansässigen privatwirtschaftlichen Unternehmern nur Vorteile bescheren konnte: »A Dakar, les heures de travail peuvent être les mêmes toutes l’année, le travail y étant régulier.«129 Einigkeit bestand innerhalb der Reihen der Handelsvertreter letztendlich lediglich darüber, dass während der für die Exportindustrie arbeitsintensiven Handelssaison zwischen 15. November und 15. Mai in allen bedeutenden Wirtschaftszentren der Kolonie der Zehn-Stunden-Arbeitstag beibehalten werden sollte.130 Eine Begrenzung der Arbeitszeit der einheimischen Arbeitskräfte konnte entsprechend
125 126 127 128 129 130
Ebd.: 144, vgl. auch Ba 1993: 28. Vgl. ebd.: 27-28. D’Almeida-Topor (1976) zit. in Ba 1993: 29. Ba 1993 : 28. Chambre de Commerce de Dakar (1919) zit. in Lakroum 1979 : 44. Vgl. Thiam 1993: 144.
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den kolonialherrschaftlichen Protagonisten nur in der übrigen Jahreshälfte vorgenommen werden, wenn die Arbeitskraftnachfrage der Exportindustrie gering war und es daher zu keinen weiteren Komplikationen kommen würde. Die gesetzlichen Vorgaben zur Reduzierung der Arbeitszeiten fanden auf Seiten der kolonialen Zeitgenossen trotzdem nur wenig Rückhalt, wie der diesbezügliche Vorschlag des Chef du Service des Affaires économiques der Kolonie Senegal zeigt. Letzterer beinhaltete zwar die Idee, die Arbeitszeiten in der wenig arbeitsintensiven Jahreshälfte sogar auf sieben Stunden zu reduzieren, jedoch nur um den zehnstündigen Arbeitstag während der arbeitsintensiven Saison beibehalten zu können.131 Ein Vorschlag, der von den Vertretern der Handelskammern willkommen geheißen wurde, da diese darin eine Möglichkeit sahen, den gesetzlichen Vorgaben zu entsprechen, ohne negative wirtschaftliche Konsequenzen in Kauf nehmen zu müssen.132 Die im Zuge der Verkündung des Gesetzes von 1919 durchgeführte Befragung der verschiedenen kolonialstaatlichen Institutionen versuchte neben der Frage nach der Dauer der täglichen Arbeitszeiten auch noch diejenige nach der Festlegung eines einheitlichen wöchentlichen Ruhetages zu klären. Die Ergebnisse der Befragung waren in dieser Hinsicht eindeutig, da entsprechend den übereinstimmenden Meinungen der Vertreter der Handelskammern nur der Sonntag als allgemeinverbindlicher wöchentlicher Ruhetag akzeptiert werden könnte, auch wenn ein immer größer werdender Anteil der Belegschaften in den Verwaltungsbezirken aus Einheimischen muslimischen Glaubens bestand, die den Freitag als wöchentlichen Ruhetag bevorzugten: »Le principe du repos hebdomadaire fixé le dimanche et non le vendredi était néanmoins reconnu par la plupart des maisons de commerce, comme une nécessité inéluctable.«133 Wie bereits erwähnt, wurde die einheitliche Festlegung eines wöchentlichen Ruhetages in der Kolonie jedoch erst infolge eines arbeitsrechtlichen Gesetzeswerkes aus dem Jahre 1925/26 tatsächlich umgesetzt. Zusammengenommen betrachtet fanden sich trotz dieser zwar wenigen, jedoch grundsätzlichen Übereinstimmungen zu viele unterschiedliche, situationsspezifische und konträre Haltungen innerhalb der Reihen der verschiedenen kolonialen Interessenvertreter, die eine lähmende und hemmende Wirkung auf das Gesetzeswerk ausübten.134 Zugunsten der kolonialen Exportwirtschaft wurden letztendlich so viele gesetzliche Ausnahmeregelungen beantragt, dass das auf föderaler Ebene eingebrachte und sogar im Journal Officiel de l’Afrique française occidentale veröffentlichte Dekret des Generalgouverneurs vom 15. Mai 1919 daher auf der Ebene
131 132 133 134
Vgl. Ba 1993: 29. Vgl. Thiam 1993: 144. Ebd.: 145. Vgl. Lakroum 1979: 44, 70, 219; Thiam 1993: 144.
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der Einzelkolonie Senegal und darüber hinaus auch auf Ebene aller anderen Teilkolonien der Föderation nie praktisch umgesetzt wurde.135 Die Gegensätzlichkeit der verschiedenartigen Anforderungen an die lokalen Arbeitskräfte äußerte sich dabei weniger in regionalspezifischen Differenzen als vielmehr in einer grundlegenden Opposition der Strukturen des Arbeitskräftebedarfs von privatwirtschaftlichem und öffentlichem Arbeitssektor. Die Organisation der vom Kolonialstaat ausgeführten öffentlichen Arbeiten war insofern auf den kontinuierlichen Unterhalt einer nur geringfügig entlohnten einheimischen Arbeiterschaft ausgerichtet, die Organisation der privatwirtschaftlichen Exportaktivitäten jedoch auf kurzfristige und nicht-reglementierte Beschäftigungsverhältnisse ausgelegt, die es den Unternehmern erlaubten, im Bedarfsfalle höhere Gehälter auszuzahlen: »[L]’administration avait besoin d’une main-d’œuvre salariée relativement stable qu’elle employait de façon continue, mais dont la rémunération devait être la plus basse possible étant donnée la faiblesse des revenus budgétaires; les entreprises privées embauchait une main d’œuvre saisonnière qu’elles étaient prêtes à payer plus cher à ce moment, mais dont elles refusaient l’entretien en dehors de périodes d’activité.«136 Die lokale Arbeiterschaft musste letztendlich noch weitere 25 Jahre warten, bis der Acht-Stunden-Arbeitstag bzw. die 48-Stunden-Arbeitswoche infolge der Konferenz von Brazzaville (30. Januar bis 8. Februar 1944) offiziell ratifiziert und auch praktisch umgesetzt wurden.137
2.3. Die erste Arbeitsgesetzgebung der Föderation Französisch-Westafrikas In der von 1923 bis 1930 währenden Amtsperiode des Generalgouverneurs Carde und im Zuge der unter Kolonialminister Sarraut vorgenommenen Reformulierung der Politik der mise en valeur kam es in den Jahren 1925 und 1926 dazu, dass die Kolonialherrschaft erstmals auf ernsthafte Art und Weise versuchte, den kolonialstaatlichen Arbeitssektor umfassend zu reformieren und zu organisieren.138 Generalgouverneur Carde, dem ein Großteil der Initiative in dieser Sache zugesprochen werden kann, hatte sich, bereits bevor er 1923 zum Generalgouverneur Französisch-Westafrikas berufen wurde, intensiv mit der Idee der mise en valeur der Kolonialgebiete auseinandergesetzt139 und zeigte sich auch während seiner Amts135 136 137 138 139
Vgl. Lakroum 1979: 44, Fußnote 2. Ebd.: 49. Vgl. Ba 1993: 20-21, 47. Vgl. Conklin 1997: 235-236. Carde hatte bereits von 1900 bis 1910 als Leiter der Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Stab des Leutnant-Gouverneurs der Elfenküste gearbeitet und war 1917 zum
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zeit dieser Thematik in besonderem Maße zugewandt.140 Cardes Interesse an der rationalen wirtschaftlichen Entwicklung der Kolonialgebiete führte diesen bereits kurz nach seinem Amtsantritt im Jahre 1923 zur Feststellung, dass trotz der großen Arbeitskraftnachfrage durch privatwirtschaftliche Unternehmen innerhalb der Föderation bis dahin keinerlei gesetzliche Regulierung zur Organisation der Arbeitsbedingungen der einheimischen Arbeiter existierte.141 In der Folgezeit entwickelte Carde ein Verständnis der Politik der mise en valeur, welches die ökonomische Entwicklung der Kolonialgebiete insbesondere mit der Mobilisierung der lokalen Arbeiterschaft und der Veränderung der Arbeitsgewohnheiten der Arbeiter verband, aber auch andere Schwerpunkte der Entwicklungspolitik definierte, wie bspw. die Förderung von Gesundheits- und Bildungswesen.142 Die unter Generalgouverneur Carde geführten kolonialherrschaftlichen Debatten und Diskurse über die Politik der mise en valeur und die Arbeitsorganisation in der Kolonie nahmen jedoch eine grundsätzlich andere Form an als zuvor, da die Auseinandersetzungen über die Arbeitsbedingungen der lokalen Bevölkerung in den Kolonialgebieten zunehmend auch auf internationalem Parkett geführt wurden. Interventionen von überregional und transnational wirkenden Interessengruppen wie dem 1919 gegründeten Bureau International du Travail, der 1920 geründeten L’Union Inter-coloniale und dem ab 1926 hinzuzuzählenden Comité de Défense de la Race Nègre, setzten die Kolonialadministration zunehmend unter Druck, die Arbeitsbedingungen für Einheimische zu verbessern und die Verwendung von Zwangsarbeit letztlich gänzlich zu unterbieten: »[L]’enjeu n’est plus exclusivement colonial; L’intervention du Bureau International du Travail, les débats à propos du travail forcé plaçaient ces problèmes sur une orbite plus large; ils devinrent entre 1925 et 1931 la pierre de touche des rivalités coloniales.«143 Neben dem externen Druck durch metropole Interessengruppen drängten innerhalb der Kolonie vor allem die privatwirtschaftlichen Unternehmer, die sich angesichts des Arbeitskräftemangels vor wirtschaftlichen Verlusten fürchteten, zur Reglementierung des Arbeitssektors und zur Einführung von Lohnarbeitsverhältnissen, um den kolonialen Arbeitsmarkt zu stabilisieren.144 Die Kolonialadministration sah sich insofern spätestens ab 1925 mit der doppelten Pflicht konfron-
Generalsekretär von Generalgouverneur Joost van Vollenhoven ernannt worden. (Vgl. ebd.: 218) 140 Vgl. ebd.: 218-219. 141 Vgl. ebd.: 238. 142 Vgl. ebd.: 218-219. 143 Lakroum 1979 : 219. 144 Vgl. Conklin 1997: 236.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
tiert, einerseits den freien Arbeitsmarkt zu reglementieren und andererseits die Zwangsarbeit zu liberalisieren.145 Im Zuge der inhaltlichen Neuausrichtung der Politik der mise en valeur unter Kolonialminister Sarraut wurde dann letztendlich ein umfassendes Gesetzeswerk zur Organisation des kolonialen Arbeitssektors herausgegeben. Das ministerielle Gesetz vom 22. Oktober 1925 wurde von Generalgouverneur Carde durch ein föderales Dekret vom 29. März 1926 in das legislative Konglomerat der Föderation Französisch-Westafrikas übertragen.146 Das Gesetzeswerk verfolgte dabei die zentrale Zielsetzung, vertraglich abgesicherte Lohnarbeitsverhältnisse für die einheimische Arbeiterschaft einzuführen, um die Entstehung eines regulierten freien Arbeitsmarktes zu gewährleisten.147 In inhaltlicher Hinsicht orientierte sich das föderale Gesetzeswerk von 1926 generell stark an den legislativen Vorlagen der Metropole.148 Da sich die Organisation der Arbeit innerhalb der Kolonie jedoch an saisonal schwankenden Arbeitskraftbedarf der Handelswirtschaft anpassen musste, wurde das neue Regelwerk grundsätzlich weiträumiger und flexibler, dadurch aber auch weniger detailliert konzipiert als die metropole Vorlage.149 Zur Vorbereitung und Ausarbeitung der gesetzlichen Regulierungen waren im Vorfeld zwar die Einschätzungen der LeutnantGouverneure der Einzelkolonien, der Vertreter der Handelskammern und der Conseils des Notables150 eingeholt worden, »parlant au nom de la population africaine«151 , Ansichten und Beurteilungen aus den Reihen der eigentlich betroffenen lokalen Arbeiterschaft waren jedoch in keinerlei Hinsicht berücksichtigt worden. Die konkreten Arbeitsbedingungen der lokalen Arbeiterschaft spielten daher im Verlauf der Entwicklung des Gesetzes weiterhin nur eine zu vernachlässigende und untergeordnete Rolle und die neuen gesetzlichen Vorgaben liefen, wie auch schon die vorherigen, weitgehend an der alltäglichen Lebenswelt der einheimischen Akteure vorbei: »Malgré la réaffirmation de la liberté juridique de l’Africain, ce décret qui s’inspirait de la législation métropolitaine constituait un ensemble de mesures auxquelles les Africains étaient restés étrangers.«152
145 146 147 148 149 150 151 152
Vgl. Lakroum 1979: 218. Vgl. ebd.: 219; Conklin 1997: 235; Fall 2011: 110. Vgl. Lakroum 1979: 220; Conklin 1997: 236; Fall 2011: 110. Vgl. Lakroum 1979: 220. Vgl. Lakroum 1979: 219-220; Conklin 1997: 236; Fall 1984: 223. Conseils des Notables waren von der Kolonialherrschaft auf Bezirksebene eingerichtete Gremien verdienter einheimischer Würdenträger. Siehe dazu Conklin 1997: 194ff. Lakroum 1979: 219. Ba 1993 : 35.
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Zusammengenommen betrachtet fiel das Gesetzeswerk vergleichsweise dürftig aus, da es sich neben den wenigen konkreten Festlegungen und Maßnahmen in erster Linie mit der Auseinandersetzung darüber beschäftigte, unter welchen Umständen die wenigen neuen Regulierungen überhaupt zum Einsatz kommen sollten.153 Trotz dieser Einschränkungen und den, wie im Folgenden erläutert, nur vergleichsweise geringfügigen Verbesserungen der Situation der lokalen Arbeiterschaft, brachte das Gesetzeswerk dennoch einige wirklich revolutionäre und fortschrittliche Neuerungen des kolonialstaatlichen Arbeitsrechtes mit sich. Neben der prinzipiellen Öffnung des kolonialen Arbeitssektors gegenüber Lohnarbeitsverhältnissen und der rudimentären Einführung des Vertragswesen beinhaltete das Gesetz insofern auch das Recht der Arbeitnehmer, im Falle der Aufnahme von Beschäftigungsverhältnissen in großer Distanz zum Heimatort eine Unterkunft zur Verfügung gestellt zu bekommen. Weiterhin wurden erstmals sanitäre Maßnahmen und Vorschriften für Arbeitsplätze und Arbeiterunterkünfte festgeschrieben sowie auch eine rudimentäre Absicherung bei Arbeitsunfällen (medizinische Versorgung, temporäre Unterbringung, Verpflegung, partielle Lohnfortzahlungen).154 Der föderale Erlass vom 29. März 1926 ließ den Leutnant-Gouverneuren der Einzelkolonien jedoch weiterhin die Freiheit, über die Umsetzung und die Modalitäten der Anwendung der gesetzlichen Vorlagen je nach Bedarf und Dringlichkeit weitgehend selbst zu bestimmen.155 Auch das Gesetzeswerk von 1926 zeichnete sich demnach primär dadurch aus, bereits bestehende Mechanismen und Vorgehensweisen festzuschreiben und zu legalisieren, anstatt die Einführung von neuen Regelungen zu kanalisieren und eine Annäherung an die im kolonialen Mutterland geltenden Richtlinien zu erreichen: »De plus, il se présentait en termes généraux donnant aux chefs de chacune des colonies le soin de déterminer les modalités d’application en fonction des particularités et des intérêts locaux. En réalité, à l’exception des dispositions sanitaires, il sanctionne plus un état de fait qu’il n’apportait d’innovation. Il ne tenait aucun compte des améliorations obtenus par les salaries métropolitains.«156 Aufgrund der großen Freiheiten zur selbstbestimmten Auslegung der föderalen Richtlinien blieb den lokalen Territorialverwaltungen der Einzelkolonien die Hauptinitiative bei der Organisation der Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsbedingungen der einheimischen Arbeiterschaft überlassen. Im lokalen
153 154 155 156
Vgl. Lakroum 1979: 224. Vgl. ebd.: 223; Conklin 1997: 239. Lakroum 1979: 219. D’Almeida-Topor (1976) zit. in Ba 1993 : 35.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
kolonialstaatlichen Kontext gerieten die theoretischen Vorgaben jedoch unter die Ägide der praxis- und handlungsorientierten Pragmatiker vor Ort, welche viele der Regulierungen einfach ignorierten oder sie insoweit abwandelten, dass diese mitunter eher als rückschrittliche denn als fortschrittliche Reglementierungen des lokalen Arbeitssektors erschienen.157 Wie es der Generalgouverneur Carde in einer Notiz aus dem Jahre 1930 ausdrückte, war die Gültigkeit von gesetzlichen Verordnungen in der Praxis vor allem von der Art und Weise abhängig, in der diese vor Ort umgesetzt wurden: »In practice, […] [the] validity [of legal provisions] depended on the manner in which they were applied.«158 Das ministerielle Gesetz vom 22. Oktober 1925, welches durch das Dekret des Generalgouverneurs vom 29. März 1926 auf die föderale Ebene übertragen wurde, konnte infolge der fehlenden legislativen Verbindlichkeit und aufgrund der Intervention von kolonialen Interessengruppen letzten Endes erst durch einen vier Jahre später, am 22. April 1929, kodifizierten lokalen Erlass für die Anwendung innerhalb der Kolonie Senegal freigegeben werden.159 Die auffallende zeitliche Verzögerung zwischen der Veröffentlichung des ministeriellen Gesetzes und der Herausgabe des korrespondierenden lokalen Erlasses in der Kolonie Senegal ist dabei wiederum vor allem auf den Einfluss des privatwirtschaftlichen Unternehmertums und dessen auf die Konservierung des Status Quo abzielendem Wirken, zurückzuführen.160 Die Langsamkeit der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben verdeutlicht den großen Einfluss der Privatwirtschaft auf das koloniale Unterfangen.161 Das privatwirtschaftliche Unternehmertum nahm dabei eine so bedeutende Rolle ein, dass es sich auch noch nach der 1929 erfolgten offiziellen Einführung des Gesetzes in der Kolonie herausnehmen konnte, die gesetzlichen Vorgaben weitestgehend zu ignorieren.162 Die Kolonialadministration wiederum kam der Privatwirtschaft in dieser Hinsicht entgegen, dadurch dass sie deren Missachtung der offiziellen Statuten in ebenso weitgehendem Maße tolerierte: »L’administration colonial pour sa part, fait preuve d’une large tolérance; les textes sont loin d’être appliqués à la lettre.«163 157 158 159 160 161
162 163
Vgl. Lakroum 1982: 55; Conklin 1997: 240. Carde (1930) zit. in Conklin 1997: 240. Vgl. Lakroum 1979: 219. Vgl. ebd. Vgl. Ba 1993: 36; vgl. auch Lakroum 1979: 219, 227; 1982: 54, 57. In den anderen Teilkolonien Französisch-Westafrikas wurde der föderale Erlass vom 29. März 1926 allgemein zügiger umgesetzt, in den Kolonien Côte d’Ivoire (15. März 1927) und Dahomey (17. August 1927) bspw. bereits nach nur etwas mehr als einem Jahr Bearbeitungszeit. Gerade im Vergleich mit den Daten der Umsetzung des föderalen Erlasses in anderen Teilkolonien Französisch-Westafrikas zeigt sich insofern die relativ große wirtschaftliche Durchdringung des Senegal und zugleich auch die Vehemenz der daraus resultierenden privatwirtschaftlichen Einflussnahme auf die kolonialstaatliche Gesetzgebung. (Vgl. Lakroum 1979: 219, Fußnote 4) Vgl. Ba 1993: 36. Ebd., siehe auch Fall 1984: 140.
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2.3.1. Berufs- und arbeitszeitspezifische Differenzierung von Lohnarbeit Mit dem arbeitsrechtlichen Gesetzeswerk von 1925/26 wurde, wie erwähnt, erstmals versucht die Beschäftigung von lokalen Arbeitskräften mit der einheitlichen und flächendeckenden Verpflichtung zum Abschluss von Arbeitsverträgen zu verbinden, um die Entwicklung eines geregelten Lohnarbeitssektors zu ermöglichen und das Funktionieren eines freien Arbeitsmarktes zu gewährleisten.164 In Artikel 5 des Gesetzeswerkes heißt es diesbezüglich : »Sont qualifiés contrats de travail, aux termes du présent décret, les contrats passés entre employeurs, d’une part, et travailleurs indigènes, d’autre part, pour un travail déterminé, dans une entreprise commerciale, industrielle ou agricole, et emportant pour la personne ou la société qui la dirige l’inscription au rôle des patentes ou la possession d’un titre régulier d’exploitations, […].«165 Die Etablierung einer verpflichtenden vertraglichen Basis war jedoch nicht für alle Arbeitsverhältnisse, in denen einheimische Arbeiter zum Zuge kamen, vorgesehen, sondern betraf ausschließlich die Beschäftigungsverhältnisse der großen privatwirtschaftlichen Unternehmen. Beschäftigungsverhältnisse zwischen Privatpersonen und lokalen Arbeitern, wie bspw. im Falle der zahlreichen als Hausbedienstete (domestiques) angestellten Einheimischen, wurden insofern aus dem Gesetz ausgeschlossen: »Sont exclus de la présente définition les contrats ou engagements […] [de] louage pour un service domestique personnel ou occasionnel.«166 Ebenso wie die Hausangestellten wurden auch all jene Arbeitskräfte ausgeschlossen, die innerhalb der Ränge der Kolonialadministration und anderer öffentlicher kolonialstaatlicher Institutionen beschäftigt waren.167 Im öffentlichen Arbeitssektor wurden arbeitsrechtliche Reglementierungen intern und jeweils berufsspezifisch durchgeführt, in vielen Bereichen jedoch erst weit nach 1925. Selbst die Angehörigen der Berufsgruppe der administrativen Hilfskräfte, die bei weitem die größte Anzahl von Arbeitskräften innerhalb des öffentlichen Arbeitssektors stellten, mussten daher letztendlich noch bis 1937 abwarten, um von der ersten offiziellen arbeitsrechtlichen Reglementierung ihres Beschäftigungsverhältnisses profitieren zu können.168
164 Vgl. Lakroum 1979: 220. 165 Arrêté promulguant en Afrique occidentale française le décret du 22 octobre 1925, réglementant le travail indigène en Afrique occidentale française, Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 302. Siehe auch Lakroum 1979 : 220. 166 Arrêté promulguant en Afrique occidentale française le décret du 22 octobre 1925, réglementant le travail indigène en Afrique occidentale française, Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 302. 167 Vgl. Ba 1993 : 33. 168 Vgl. ebd.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Weitere und insbesondere zeitspezifische Einschränkungen des Anwendungsbereiches des Gesetzes von 1925/26 ergaben sich aus der kolonialherrschaftlichen Prämisse, die Mobilität der lokalen Arbeiterschaft zu verbessern bzw. nicht zu verringern, um die Handelsökonomie mit ihren saisonalen Arbeitskraftanforderungen jederzeit mit ausreichend Arbeitskräften versorgen zu können. Die von der Arbeiterschaft in diesem Sinne geforderte Flexibilität und Mobilität sollte nicht durch zu lange andauernde und in der Arbeitsorganisation zu starr gehandhabte Beschäftigungsverhältnisse behindert werden.169 Die in Artikel 5 des Gesetzes festgelegten Modalitäten des arbeitsrechtlichen Vertragswesens beinhalteten daher auch eine Klausel, die vorsah, dass Beschäftigungsverhältnisse, in denen die Arbeitszeit der Angestellten nicht mehr als 15 Tage im Monat betrug, grundsätzlich von der Notwendigkeit zur vertraglichen Absicherung freigestellt wurden: »Sont également exclus de la présente définition les contrats stipulant une durée de travail effectif inférieure à quinze jours par mois.«170 Darüber hinaus wurde im darauffolgenden Artikel 6 festgelegt, dass die Verpflichtung zum Abschluss eines Arbeitsvertrages nur dann bestand, wenn das Beschäftigungsverhältnis sich über mindestens drei Monate erstreckte und die Dauer von zwei Jahren nicht überschritt: »La durée de l’engagement par voie de contrats, tels qu’ils viennent d’être définis, ne doit pas être inférieure à trois mois, ni supérieure à deux ans.«171 Diese Konzeption und Formulierung des Gesetzes erlaubte es der Kolonialherrschaft, zusätzlich zu der großen Anzahl von Beschäftigungsverhältnissen im Bereich von häuslicher Arbeit und öffentlichem Arbeitssektor, die bereits aus der Vertragspflicht ausgeschlossen worden waren, auch noch zu verhindern, dass alle in nur kurzfristigen privatwirtschaftlichen Arbeitsverhältnissen engagierten Arbeiter von der Einführung von Arbeitsrechten profitieren konnten. Im Arbeitssektor der Kolonie Senegal konstituierte sich die überwiegende Mehrheit an kurzfristigen und temporär begrenzten Arbeitsverhältnissen, wie erwähnt, aus denjenigen von Saisonarbeitern und Tagelöhnern, die sich zumeist aus den Reihen der lokalen Landwirte rekrutierten, welche während der landwirtschaftlich wenig arbeitsintensiven Jahreszeit handelswirtschaftliche Arbeitsengagements in den städtischen Regionen annahmen: »[…] des ruraux travaillant pour un temps brefs, mais souvent répétés, dans une escale proche de leur village.«172 169 Vgl. Lakroum 1979 : 221; vgl. Ba 1993 : 33. 170 Arrêté promulguant en Afrique occidentale française le décret du 22 octobre 1925, réglementant le travail indigène en Afrique occidentale française, Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 302. 171 Ebd. 172 Lakroum 1979: 221. Die ebenfalls temporär begrenzten saisonalen Arbeitsengagements der Navétanes waren im Vergleich dazu zwar grundsätzlich von längerfristiger Dauer (siehe dazu Mbodj 1978: 575), wurden von der Kolonialherrschaft jedoch grundsätzlich nicht als eine Form von Lohnarbeit, sondern vielmehr als eine Form der landwirtschaftlichen Pacht ange-
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In arbeits- und zeitspezifischer Hinsicht fielen dabei im Regelfall weder die multiplen, aber immer nur kurzfristigen und aufgabenbezogenen Arbeitseinsätze von Tagelöhnern, noch die der Saisonarbeiter in den Anwendungsbereich eines der gesetzlichen Paragraphen. Anhand der vermittels des Gesetzes definierten Rahmenbedingungen für die Form und die zeitliche Dauer von vertragspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen konnte die Kolonialherrschaft einen Großteil der Gesamtheit der Arbeitsverhältnisse in der Kolonie aus der Verpflichtung zur gesetzlichen Regulierung und vertraglichen Absicherung ausschließen. Für die wenigen legislativ berücksichtigten Lohnarbeitsverhältnisse hingegen galten im Gegensatz dazu zeitliche Richtlinien, die es den Arbeitgebern erlaubten, maximal zwei Jahre andauernde Arbeitsverträge abzuschließen, jedoch mit einer Option zur Verlängerung bzw. Erneuerung, die dem kolonialen Unternehmertum ermöglichen sollte, sich selbst eine kleine assoziierte und spezialisierte Arbeiterschaft heranzuziehen.173 Insbesondere die an der zeitlichen Dauer der Beschäftigungsverhältnisse orientierten Beschränkungen des Anwendungsbereiches des Gesetzeswerkes verdeutlichen die absolut zweckmäßige und profitorientierte Umsetzung von Zeitnormen im kolonialstaatlichen Arbeitssektor. Als Ausdruck dieser beschränkten und exklusiven kolonialherrschaftlichen Arbeitsmarktpolitik diente auch das Gesetzeswerk von 1925/26 in erster Linie nur zur Legalisierung und Konsolidierung der bereits bestehenden Strukturen des kolonialstaatlichen Arbeitsmarktes. Die dem lokalen Arbeitssektor spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. zugrundeliegende Differenzierung zwischen Zwangsarbeitsmaßnahmen, informellen und formellen Beschäftigungsverhältnissen wurde somit bestätigt und in zunehmendem Maße institutionalisiert. Die Einführung des arbeitsrechtlichen Vertragswesens begünstigte vor allem die weitergehende Herausbildung einer kleinen spezialisierten Lohnarbeiterschaft im Rahmen längerfristiger Anstellungsverhältnisse, nicht-schriftlich besiegelte Beschäftigungsverhältnisse überdauerten jedoch und bildeten weiterhin den Großteil der Gesamtheit aller Beschäftigungsverhältnisse im kolonialstaatlichen Arbeitssektor.174 Die Lohnarbeiterschaft der Kolonie gliederte sich in der Folge auch offiziell in zwei grundsätzlich unterschiedliche Gruppierungen, einerseits die zumeist unter formellen Bedingungen festangestellten, spezialisierten Arbeitskräfte und andererseits die Masse der zumeist nur kurzfristig und auf informeller Basis angestellten Hilfsarbeiter:
173 174
sehen. (Vgl. Ba 1993: 13) Die Beschäftigungsverhältnisse der Navétanes wurden daher nie in die reguläre Arbeitsgesetzgebung mit einbezogen (vgl. David 1980: 49): »Les Navétanes furent l’objet d’étude séparée, souvent dans la partie annexe des rapports des Inspecteurs du travail.« (Ba 1993: 13) Vgl. Lakroum 1979: 222. Vgl. Lakroum 1982: 57; 1979: 227.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
»Il existait par ailleurs deux catégories de salariés : le personnel spécialisé, qui constituait l’essentiel de la main-d’œuvre permanente de chaque secteur d’activité et la masse des manœuvres qui se renouvelait fréquemment.«175 Regulär bzw. formell angestellte Lohnarbeiter bildeten innerhalb dieses Modells immer nur den geringsten Anteil der Gesamtheit der Lohnarbeiterschaft. Lohnarbeitskräfte in permanenten Beschäftigungsverhältnissen waren entsprechend eine Ausnahme, die im privatwirtschaftlichen wie öffentlichen Sektor über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg nur in wenigen Arbeitsbereichen anzufinden waren, darunter Hafen, Eisenbahn und Service des Travaux publics:176 »Les engagements à titre permanent sur les chantiers, et dans les ateliers de travaux publics, ainsi dans quelques rares entreprises agricoles et industrielles donnent obligatoirement lieu à un contrat de travail. Ces travailleurs engagés pour une durée supérieure à trente jours étaient, pour la plupart, des ouvriers spécialisés et des contremaîtres surveillants des T.P.«177 Der bei weitem größte Anteil der Lohnarbeiterschaft, derjenige der unqualifizierten Hilfsarbeiter, wurde im Gegensatz dazu auf informeller Basis angestellt, verfügte über keinerlei Garantien oder Sicherheiten und musste sich mit willkürlichen und kaum reglementierten Arbeitsbedingungen abfinden: »Les autres travailleurs s’adonnent à des travaux saisonniers ou intermittents : manœuvres employés par le commerce, par les manutentions de marchandises, les services publics et les entreprises privées.«178 Die Anzahl der Individuen, die direkt von den gesetzlichen Verordnungen von 1925/26 profitieren konnten, war daher schon in theoretischer Hinsicht sehr gering. Anwendung und Einhaltung der neuen gesetzlichen Vorschriften wurden zudem noch in der Praxis weitgehend ignoriert. Von der Einführung des arbeitsrechtlichen Vertragswesens finden sich in der Kolonie Senegal bspw. bis 1932 keinerlei Anzeichen in der archivarischen Dokumentation: »On ne trouve pas de trace dans les archives générales de la signature des contrats […] avant 1932.«179 Auch in den 175 176 177 178 179
D’Almeida Topor (1976) zit. in Ba 1993 : 15. Vgl. Ba 1993: 15; Pheffer 1975: 307; Jones 2002: 2-3. Ba 1993 : 17. Ebd. Lakroum 1979: 227. Verschiedenste Einflussfaktoren wie bspw. die unzureichenden Informationen über die Form des zu etablierenden Vertragsverhältnisses, die den Verantwortlichen nicht einmal einen entsprechenden Modellvertrag zur Hand gaben, oder aber die Tatsache, dass der Großteil der lokalen Arbeiterschaft analphabetisch war, können angeführt werden, um das Ausbleiben der Anwendung des Vertragswesens zu erklären. (Vgl. Thiam 1993: 275) Letztendlich lässt sich die Zurückhaltung bei der Einführung von Arbeitsverträgen jedoch in erster Linie anhand der wirtschaftlichen Prämissen der kolonialen Arbeitgeber erklären. Die-
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Folgejahren blieb die Anzahl der Arbeitsverträge äußerst gering. Werden öffentlicher und privater Sektor zusammengerechnet, so registrierte die erst 1932 gegründete Kontrollinstitution der Inspection du Travail im Jahre 1934 nur 114 Arbeitsverträge und im darauffolgenden Jahr nur 209 Arbeitsverträge.180 Von den wenigen in den Jahren 1934 und 1935 abgeschlossenen Arbeitsverträgen wurde dabei darüber hinaus kein einziger in Dakar besiegelt, trotz der Vorreiterrolle, die die Hauptstadt der Föderation aufgrund der Ausmaße ihres Arbeitssektors und der großen Verfügbarkeit von Arbeitskräften in diesem Zusammenhang einnahm.181 Der sehr geringen Anzahl von vertraglich abgesicherten formellen Beschäftigungsverhältnissen stand im Jahre 1935 eine Gesamtheit von insgesamt 30269 informellen Arbeitsverhältnissen gegenüber, die ohne Berücksichtigung der neuen gesetzlichen Verordnungen und im Rahmen bestehender Praktiken zur Anstellung entlohnter Arbeitskräfte abgeschlossen worden waren. Allein 4510 dieser Beschäftigungsverhältnisse entfielen auf den Arbeitssektor von Dakar.182 Sechs Jahre nach der offiziellen Einführung des arbeitsrechtlichen Vertragswesens in Senegal belief sich die Anzahl der mit einem schriftlichen Arbeitsvertrag versehenen Arbeitsverhältnisse demnach immer noch auf weniger als 1 % aller erfassten Beschäftigungsverhältnisse des gesamten kolonialstaatlichen Lohnarbeitssektors.183
se hatten sich zugunsten der eigenen Profitmaximierung auch schon zuvor jedweder arbeitsrechtlichen Maßnahme zur Regulierung der lokalen Arbeitswelt widersetzt, sobald damit eine Vergrößerung ihrer eigenen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen als Arbeitgeber einherging. 180 Vgl. Lakroum 1982: 57; Ba 1993: 16. 181 Vgl. Lakroum 1979: 227. 182 Vgl. ebd. 183 Vgl. ebd. Die Entwicklung der Anzahl der Lohnarbeitskräfte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. kann nur auf Ebene von Schätzungen ansatzweise nachvollzogen werden. Siehe dazu ebd. 1982: 151; 1979: 227; Ba 1993: 16; Pheffer 1975: 307; Thiam 1993: 281. Zur Darstellung der Aufteilung der Beschäftigungsverhältnisse zwischen öffentlichen und privaten Arbeitssektor oder der genauen Anzahl von frühen vertraglich abgesicherten Arbeitsverhältnissen eignen sich die verfügbaren Daten jedoch nicht, da entsprechende Angaben von den verantwortlichen Beamten erst infolge der Gründung einer kolonialstaatlichen Arbeitsinspektion im Jahre 1932 vorgenommen wurden. Die Berichte dieser Inspection du Travail geben dabei grundsätzlich wenig Auskunft über die Arbeitsbedingungen und die eigentliche Arbeiterschaft und dokumentieren vielmehr die Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Arbeitskräften. (Vgl. Ba 1993: 16) Die Statistiken beinhalten darüber hinaus keine Angaben zu den europäischen Angestellten innerhalb der Kolonie oder zur riesigen Masse der Wanderarbeiterschaft (Navétanes). (Vgl. ebd.) Die weitgehende Ineffizienz der kolonialen Arbeitsinspektion wurde dabei in den Folgejahren noch weiter verschärft, da die für dieses Amt vorgesehenen Beamten aufgrund der permanenten finanziellen Mangelsituation mit zusätzlichen Aufgabenbereichen betraut wurden und daher nur wenig Zeit zur Verfügung hatten, um effektive Kontrollen des kolonialstaatlichen Arbeitssektors zu gewährleisten. (Vgl. ebd.: 36-37)
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
2.3.2. Die Regulierung der Arbeitszeiten der Lohnarbeiterschaft Eine der in zeitspezifischer Hinsicht bedeutendsten Neuerungen, die infolge des Gesetzeswerkes für die neuentstandene formell beschäftigte Lohnarbeiterschaft entworfen wurde, war die Einführung eines Systems von Arbeitszeitkonten, genannt »pécule«184 , welches einerseits zur detaillierten Dokumentation der Arbeitsleistungen der Lohnarbeiter herangezogen wurde, andererseits jedoch auch als grundsätzliches Mittel zur Kontrolle der Arbeiterschaft genutzt wurde.185 Das mit dem arbeitsrechtlichen Vertragswesen einhergehende System der pécule diente insofern auch über die Dokumentation der Rahmenbedingungen und Dauer der Arbeitszeit in den jeweiligen Beschäftigungsverhältnissen hinaus zur allgemeinen Steigerung der administrativen Kontrolle der Lohnarbeiterschaft. Primäres Instrument des Systems der pécule war dabei ein sogenanntes »livret ouvrier«186 , d.h. ein Arbeiterkontrollheftchen, welches als Nachweis für erbrachte Arbeitsleistungen angesehen wurde und in welchem ausgeführte Arbeitsaufgaben und Tätigkeiten notiert wurden. Ein Teil der in den Arbeiterkontrollheftchen aufgeführten Arbeitsleistungen wurde nicht direkt entlohnt, sondern zunächst zurückgehalten und in ein für jeden Arbeiter individuelles Arbeitszeitkonto bzw. pécule übertragen, welches erst am Monatsende oder gegen Ende der vertraglich festgelegten Beschäftigungsperiode vergütet wurde.187 Diese Vorgehensweise diente vor allem dazu, die Arbeiterschaft an die Beschäftigungsverhältnisse zu binden und Arbeitsdesertionen zu verhindern, indem es der Kolonialadministration zusätzliche Möglichkeiten eröffnete, fiskalischen Druck auf die Arbeiter auszuüben: »The pécule system was designed to keep Africans working. It also created a fund from which the employer could automatically collect fines. Lastly, it was to be remitted to the chief in the circle from which the worker had been recruited, and the chief would make it over to is rightful owner when he returned. In this way, the French hoped to secure a steady and disciplined work force, prevent vagrancy, and ensure that taxes were paid.«188 Wie im Zitat aufgezeigt, beschränkte sich das System der pécule demnach nicht auf den arbeitsrechtlichen Kontext. Generalgouverneur Carde sah darin vor allem auch ein Mittel zur Erziehung und Zivilisierung bzw. ein Instrument zur sozialen Disziplinierung der einheimischen Bevölkerung, wie er in einigen die Veröffentlichung des föderalen Erlasses von 1926 begleitenden Anweisungen offenbart:
184 185 186 187 188
Conklin 1997: 238. Vgl. ebd.; Lakroum 1979: 220-221. Ebd.: 220. Vgl. Conklin 1997: 238-239; Thiam 1993: 277. Conklin 1997 : 238.
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»Nous avons, en effet, le devoir de développer chez l’indigène l’esprit de prévoyance. Une excellente occasion s’offre à nous de faire à ce point de vue œuvre pratique d’éducation, en constituant au travailleur un pécule dont il sera heureux de profiter à son retour dans son village.«189 Die Einführung der pécule galt insofern zwar primär als Mittel, um die lokale Arbeiterschaft mit einer angemessenen Arbeitsethik zu indoktrinieren190 , insbesondere das damit einhergehende Arbeiterkontrollheftchen diente der Kolonialherrschaft jedoch zugleich auch als »carte d’identité, moyen d’identification fiscale et instrument de police.«191 Der Arbeiterausweis erlaubte der Kolonialherrschaft eine gesteigerte Kontrolle von Zensus und Steuer sowie eine bessere Überwachung von Bevölkerungsbewegungen.192 Die prädominante Funktion des livret ouvrier als Identitätsnachweis äußert sich dabei vor allem anhand des breiten Spektrums von Informationen, die darin festgehalten werden sollten. Neben grundsätzlichen Informationen über das Arbeitsverhältnis, wie bspw. der Natur der zu erledigenden Arbeiten, dem Arbeitsplatz und einigen Angaben zum Arbeitgeber wurden demnach darüber hinaus auch Name, Alter, Geschlecht, Herkunftsort sowie unverwechselbare äußerliche Kennzeichen der einheimischen Arbeitskräfte dokumentiert.193 Die Instrumentalisierung des Arbeitsrechts zur Ausweitung der administrativen Kontrolle über die lokale Bevölkerung erklärt sich dabei vor allem aus der doppelten Funktion, die die Kolonialadministration einnahm. Einerseits als hauptverantwortliche Institution für die Beschaffung und Bereitstellung von lokalen Arbeitskräften, andererseits auch als einer der größten kolonialstaatlichen Arbeitgeber und damit hauptsächlicher Nutzer ebenjener Arbeitskräfte. Angesichts dieser doppelten Funktionalität der Kolonialadministration erhofften sich die administrativen Autoritäten, dass die Ausdehnung der administrativen Kontrollfähigkeit über die lokale Bevölkerung eine bessere Organisation und Abstimmung des Arbeitskräfteaufkommens und -bedarfs innerhalb der Kolonie ermöglichen würde.194 Kam es hinsichtlich der Einführung des Systems von Arbeitszeitkonten vermittels des Gesetzes von 1925/26 zwar zu einer generell differenzierteren Umgangsweise mit den Arbeitsleistungen und Arbeitszeiten der Lohnarbeitskräfte, die sich nun gewissermaßen auch über die reine Arbeitszeit hinaus auf deren Leben auszudehnen begann, so wurde diese Verschärfung der Reglementierung ihrer arbeitszeitli-
189 Instructions à Messieurs les Lieutenant-Gouverneurs des Colonies du groupe au sujet de la réglementation du travail indigène, 29. März 1926, Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 310. 190 Vgl. Conklin 1997 : 238. 191 Lakroum 1979 : 220. 192 Vgl. ebd. : 221. 193 Vgl. ebd. : 222. 194 Vgl. ebd. 1982 : 55.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
chen Verpflichtungen gegenüber den Arbeitgebern nicht von einer gleichziehenden Verschärfung ihrer diesbezüglichen Rechte begleitet. Hinsichtlich der Regulierung der Arbeitszeiten der Lohnarbeiterschaft führte auch das Gesetzeswerk von 1925/26 insofern zu keinerlei essentiellen Verbesserungen gegenüber den diesbezüglich bisher gepflegten Praktiken. Privatwirtschaftliche Gegner einer Reduzierung der Arbeitszeiten konnten auch hier ihren Einfluss geltend machen, so dass trotz der seit dem Gesetzesprojekt zum AchtStunden-Arbeitstag von 1919 vermehrt geäußerten Kritik an den kolonialen Arbeitsbedingungen die offiziell sanktionierte maximale tägliche Arbeitszeit für vertraglich abgesicherte Lohnarbeitskräfte im privatwirtschaftlichen Sektor in ganz Französisch-Westafrika auf zehn Stunden fixiert werden konnte.195 Die 1925/26 realisierte Fixierung der Arbeitszeiten auf föderaler Ebene reproduzierte insofern die arbeitszeitlichen Reglementierungen, die bereits im Zuge zweier spezifisch für die Hafenarbeiterschaft (laptots) von Dakar auf lokaler Ebene erlassener Verordnungen von 1918 eingeführt worden waren.196 Als Bestandteil einer der ersten arbeitsrechtlichen und arbeitszeitlichen Reglementierungen, die vor 1925 innerhalb der Kolonialgebiete überhaupt zur Anwendung gebracht worden waren, oblag es den einfachen Hafenarbeitern von Dakar, mindestens zehn Stunden pro Tag zu arbeiten (von 6 bis 12 Uhr morgens und von 14 bis 18 Uhr abends).197 Da sich festgelegte Arbeitszeiten angesichts der Unwägbarkeiten der Hochseenavigation und der damit verbundenen variablen Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Frachtschiffe jedoch nur schwer mit dem Terminkalender der Exportwirtschaft vereinbaren ließen, mussten die Arbeiter oft Überstunden machen, um die Verladeoperationen im Hafen nicht zum Erliegen zu bringen.198 Analog zu diesen Abweichungen von den gesetzlich verordneten Arbeitszeiten unterlag auch der im Gesetzeswerk von 1925/26 kodifizierte Zehn-StundenArbeitstag grundsätzlich der bereits mehrmals konstatierten Praxis der zweckmäßigen und profitorientierten situationsspezifischen Anpassung und wurde im lokalen Kontext sehr unterschiedlich gehandhabt. In Artikel 5 des föderalen Erlasses von 1926 wurde daher lediglich erneut darauf hingewiesen, dass die Leutnant-Gouverneure in den Einzelkolonien die Festlegung der täglichen Arbeitszeiten unter Berücksichtigung der jeweiligen ökonomischen Situation und in Abstimmung mit den in den von ihnen verwalteten Territorien geltenden Gesetzen selbst zu bestimmen hatten. Sogar die Vorschrift zur Gewährung einer zweistündigen mittäglichen Pausenzeit konnte demnach von den kolonialen Autoritäten ausgesetzt werden, sollte es die Situation vor Ort erforderlich machen: 195 Vgl. ebd.: 55; Thiam 1993: 277. 196 Die betreffenden lokalen Verordnungen traten beide am 10. Oktober 1918 in Kraft. (Vgl. Lakroum 1979: 47) 197 Vgl. ebd. 198 Vgl. ebd.
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»L’autorité administrative détermine, conformément à la législation en vigueur dans la Colonie, la durée de la journée de travail dans les exploitations agricoles et dans les établissements commerciaux et industriels. Le travail doit être interrompu par un repos de deux heures vers le milieu de la journée. Des dérogations à cette obligation peuvent, toutefois, être accordées par l’autorité administrative dans des cas exceptionnels.«199 Die zentrale Rolle, die den Leutnant-Gouverneuren in dieser Hinsicht zugesprochen wurde, aber auch die mit dieser Regelung verbundene Variabilität der Arbeitszeiten, verdeutlicht sich auch in einigen die Veröffentlichung des föderalen Erlasses von 1926 begleitenden Anweisungen des Generalgouverneurs. Dort heißt es : »Durée de la journée de travail. – C’est vous qui la fixez, […] Fixation qui n’est point facultative, la réglementation nouvelle n’admettant point que la durée du travail quotidien reste indéterminée, mais qui peut évidemment varier suivant la nature des exploitations et le caractère plus ou moins pénible du labeur demandé à l’ouvrier.«200 Wobei auch diese ›detailliertere‹ Definition des Sachverhaltes einen großen Spielraum zur Interpretation seitens der Leutnant-Gouverneure offenließ. Die von den Kolonialbeamten letzten Endes tatsächlich bewerkstelligte Regulierung der Arbeitszeiten orientierte sich daher auch weiterhin ausschließlich an den situationsspezifischen ökonomischen Bedürfnissen des kolonialen Unternehmertums und ignorierte die Belange der Angestellten in größtmöglichem Maße. Letztere hatten somit kaum Möglichkeiten, die Regulierung der täglich zu leistenden Arbeitszeiten zu beeinflussen, was sich bspw. auch darin äußerte, dass es sich für die Arbeiter in der Praxis als sehr schwer bis unmöglich herausstellte, die im Gesetz verankerten Lohnzuschüsse für geleistete Überstunden ordnungsgemäß abgerechnet zu bekommen.201 Die Schwierigkeit der einheimischen Arbeitnehmer, die ihnen nun verbrieften Arbeitsrechte in Anspruch zu nehmen, wurde dabei durch die Leichtigkeit, mit der die kolonialen Arbeitgeber ihrerseits die Arbeitsverpflichtungen ihrer Angestellten einklagen konnten, konterkariert. Dementsprechend konnte die Unternehmerschaft jedes ungerechtfertigte Fernbleiben vom Arbeitsplatz als Anlass für
199 Arrêté fixant les conditions d’exécution du décret du 22 octobre 1925, portant réglementation en matière de travail indigène en Afrique occidentale française, Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 305. 200 Instructions à Messieurs les Lieutenant-Gouverneurs des Colonies du groupe au sujet de la réglementation du travail indigène, Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 311. 201 Vgl. Lakroum 1982 : 55.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Lohnkürzungen ansehen oder, im wiederholten Falle, als Begründung zur Auflösung des Arbeitsvertrages nutzen: »Toute absence illégitime, c’est-à-dire résultant de la seule volonté du travailleur et indépendamment de tout motif, donnait lieu à une retenue de salaire et, en cas de renouvellement, elle pouvait entraîner la résiliation du contrat.«202 In zeitlicher Hinsicht schrieben die neuen gesetzlichen Verordnungen zudem den christlichen Sonntag als wöchentlichen Ruhetag fest.203 Lokale Abweichungen bspw. für diejenigen Regionen, in denen der Islam die dominierende Religion darstellte und in denen daher ein Großteil der Arbeitskräfte eher den Freitag als Ruhetag bevorzugte, waren ebenfalls nicht vorgesehen.204 Darüber hinaus inkorporierte das Gesetz von 1925/26 eine Feiertagsregelung, die an den öffentlichen kolonialstaatlichen Feiertagen sowie auch denjenigen Tagen, die entsprechend den Gewohnheiten der betroffenen lokalen Bevölkerungen als Feiertage angesehen wurden, Arbeitsfreiheit deklarierte: »En dehors du dimanche, les jours de fêtes légales ou ceux considérés comme tels par les us et coutumes des travailleurs, sont également jours de repos obligatoire.«205 Weiblichen Angestellten wurde zudem ein Schwangerschaftsurlaub von acht Wochen gewährt, mit dem Anrecht auf Vollverpflegung bei halber Lohnfortzahlung.206 Die Vorgehensweise, den Leutnant-Gouverneuren der Einzelkolonien die volle Entscheidungsgewalt über die Bestimmung der täglichen Arbeitszeit zu gewähren, hatte im ministeriellen Erlass von 1925 keine explizite Erwähnung gefunden, entsprach aber den die Angliederung der französischen Kolonialgebiete an das Weltzeitzonensystem begleitenden ministeriellen Anweisungen, welche den Kommandeuren der Einzelkolonien die Freiheit zusprachen, über die Umsetzung der zeitspezifischen Gesetzesvorgaben weitgehend selbst zu entscheiden.207 Die in Artikel 5 des föderalen Erlasses von 1926 deklarierten, sich ausschließlich auf die tägliche Arbeitszeit beziehenden Verordnungen, wurden von Gene202 Lakroum 1979 : 224. 203 Arrêté fixant les conditions d’exécution du décret du 22 octobre 1925, portant réglementation en matière de travail indigène en Afrique occidentale française, Art. 6., Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 305. Siehe auch Lakroum 1979 : 222. 204 Instructions à Messieurs les Lieutenant-Gouverneurs des Colonies du groupe au sujet de la réglementation du travail indigène, Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 312. Siehe auch Lakroum 1979 : 222. 205 Arrêté fixant les conditions d’exécution du décret du 22 octobre 1925, portant réglementation en matière de travail indigène en Afrique occidentale française, Art. 6., Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 305. 206 Ebd. S. 308. 207 ANS O259 , Ministre des Colonies au Gouverneur général et Gouverneurs des Colonies, 24. März 1911, fol. 2.
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Weltzeit im Kolonialstaat
ralgouverneur Carde im Sinne dieser grundsätzlichen zeitspezifischen Entscheidungsbefugnis der jeweiligen Territorialkommandanturen noch weiter elaboriert, so dass sie sich letztendlich über alle die zeitliche Organisation von Arbeitsprozessen innerhalb der Kolonialgebiete betreffenden Bereiche erstreckten. In Artikel 17 des föderalen Erlasses von 1926 werden diese erweiterten Entscheidungsbefugnisse der Leutnant-Gouverneure der Einzelkolonien explizit ausformuliert. Letztere waren in Absprache mit den Vertretern des neugeschaffenen kolonialen Arbeitsamtes Office du Travail208 , der Conseils des Notables und den Handelskammern neben der Bestimmung der täglichen Arbeitszeiten und Löhne nun auch noch dazu verpflichtet, das Minimalalter für Arbeitskräfte festzulegen, außerdem die Ferien bzw. Urlaubszeiten, die wöchentlichen Ruhetage, die maximale Anzahl von Krankheitstagen mit Lohnfortzahlung sowie auch die Anzahl der Krankheitstage oder Fehlzeiten, ab denen eine Kündigung ausgesprochen werden konnte.209 Alle im Kontext des arbeitsrechtlichen Gesetzeswerkes von 1925/26 beschlossenen arbeitszeitlichen Regulierungen unterstanden somit in letzter Konsequenz der situationsbezogenen Entscheidungsgewalt der Leutnant-Gouverneure in den Einzelkolonien der Föderation. Die fehlende legislative Verbindlichkeit der arbeitsrechtlichen Reglementierungen im Allgemeinen und der arbeitszeitspezifischen Vorgaben im Speziellen führte in der Konsequenz dazu, dass Vorschriften zur Dauer von Arbeitszeiten in den Beschäftigungsverhältnissen des öffentlichen wie auch des privatwirtschaftlichen Sektors ebenso wenig eingehalten wurden wie auch die Anordnung zur Auszahlung von höheren Stundenlöhnen für geleistete Überstunden.210 In der Kolonie Senegal äußerte sich dies bspw. in einem Sitzungsprotokoll des Conseil Colonial vom 15. Juni 1929. In diesem wird davon berichtet, wie die im Hafen von Saint-Louis für diverse Hilfsarbeiten angestellten Arbeitskräfte (laptots), deren Beschäftigung es erforderte, dass sie permanent an ihrem Arbeitsplatz verfügbar waren, trotz mehrerer Gruppen von Arbeitern, die sich im Schichtdienst abwechselten, regelmäßig Mehrarbeit und Überstunden abzuleisten hatten:211
208 Die Gründung von kolonialen Arbeitsämtern auf administrativem Niveau der Teilkolonien war im ersten Artikel der föderalen Arbeitsgesetzgebung vom 29. März 1926 festgelegt worden. Die neuen kolonialstaatlichen Institutionen sollten Arbeitskraftangebot und -nachfrage zentralisieren bzw. sich um die Rekrutierung und Zuteilung von Arbeitskräften kümmern, aber auch den neuentstandenen Lohnarbeitsmarkt insgesamt organisieren und bspw. Öffentlichkeitsarbeit leisten. (Vgl. Lakroum 1979 : 225) 209 Arrêté fixant les conditions d’exécution du décret du 22 octobre 1925, portant réglementation en matière de travail indigène en Afrique occidentale française, Journal Officielle de l’Afrique Occidentale Française N°1124 (22) vom 3. April 1926, S. 306. 210 Vgl. Lakroum 1979: 232. 211 Vgl. ebd.: 228. Trotz fortschreitender Elektrifizierung stellte ganztägige und sich über die Nacht erstreckende Arbeit, wie sie hier dargestellt wird, immer noch die Ausnahme dar und
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
»Nous prenons aujourd’hui lundi à 7 heures du matin jusqu’à demain soir à 5 heures, et si toutefois les services exigent la descente; sinon on continue en doublant. Si nous ne pouvons pas avoir d’indemnités à ce sujet, …, du moins qu’on nous fasse descendre par brigade, …«212 Da die Arbeitszeitdauer durch das Gesetz von 1919 zwar offiziell auf acht Stunden begrenzt worden war, die Richtlinien jedoch in den Kolonialgebieten nie zur Anwendung kamen, variierten die Arbeitszeiten in den einzelnen kolonialstaatlichen Arbeitssektoren auch noch nach 1925 zumeist zwischen neun und zwölf Stunden.213 Die fehlende Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften äußerte sich dabei insbesondere im privatwirtschaftlichen Bereich. Hier hatte die Entwicklung und Ausweitung des Lohnarbeitssektors vor allem dazu geführt, dass sich die Unternehmer immer mehr vom Arbeitskräftemangel der vorangegangenen Jahrzehnte befreit sahen und im Zuge dieser neugewonnenen Handlungsfreiheit wieder damit begannen, die Arbeitsbedingungen der Arbeiter zugunsten von wirtschaftlicher Rentabilität und Profit zu verschärfen: »Les employeurs assurés de trouver des travailleurs dont ils avaient besoin imposèrent des conditions d’emploi plus rigoureuses et ne respectèrent pas les textes régissant le travail.«214 Die Dimension der Problematik äußert sich dabei insbesondere in den Berichten der 1932 gegründeten kolonialen Arbeitsinspektion (Inspection du Travail). Diese belegen, dass im Zeitraum von 1932 bis 1936 weit über hundert Fälle von verspäteten oder ausgebliebenen Lohnzahlungen durch koloniale Arbeitgeber zugunsten der leidtragenden Arbeiter entschieden wurden und darüber hinaus zahlreiche weitere unbearbeitete Beschwerden über illegale Praktiken der Unternehmerschaft vorlagen:215 »[D]epuis 1932 une centaine de jugements ont été rendus contre les employeurs pour retard de paiement ou non-paiement de salaire; […] [et] au conseil d’arbitrage les dossiers de protestation fourmillent jamais suivis d’effets.«216
betraf nur wenige Gruppen von Arbeitern im Hafen, bei der Eisenbahn und im Post- und Telegraphenwesen. (Vgl. Thiam 1993: 277) 212 Conseil Colonial (1929) zit. in Lakroum 1979 : 232. 213 Vgl. Ba 1993: 20-21; Thiam 1993: 277. 214 Ba 1993: 15. 215 Zur Bearbeitung derartiger Beschwerden und anderer Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern war in den Artikeln 12 bis 26 des Gesetzeswerkes von 1925/26 die Einrichtung von sogenannten »Conseils d’arbitrage“, d.h. Schlichtungsräten, vorgesehen worden. In Senegal wurden diese Schlichtungsräte jedoch erst mit fünfjähriger Verspätung, infolge eines korrespondierenden Erlasses des Leutnant-Gouverneurs vom 15. September 1930, eingerichtet. (Vgl. Lakroum 1979 : 225, Fußnote 1) 216 Ba 1993 : 37-38.
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Weltzeit im Kolonialstaat
2.4. Der Fortbestand von willkürlichen Arbeitsbedingungen, Zeit- und Arbeitszwang Trotz der seit der Nachkriegszeit vermehrt auftretenden kritischen Haltung gegenüber den kolonialstaatlichen Arbeitsbedingungen und einer humanistischeren Rhetorik der Kolonialadministration änderte sich infolge der Veröffentlichung des Gesetzeswerkes von 1925/26 bzw. 1929 nur wenig an der arbeitsrechtlichen Wirklichkeit in der Kolonie.217 In Senegal wurde das Gesetz bereits im politischen Jahresbericht des Jahres 1929, d.h. dem ersten Jahr, in dem es dort offiziell zur Anwendung kam, auch von den verantwortlichen Kolonialbeamten selbst stark kritisiert und als weitgehend ineffizient eingestuft: »On peut se demander si l’adoption d’une nouvelle réglementation, en fin de compte moins libérale sur bien des points que celle en vigueur – et dont certaines dispositions paraissent manquer de précision et se présentent plutôt comme de simples conseils, ne serait pas à certaine égards une régression sur l’état actuel des choses.«218 Oberflächlichkeit, Ungenauigkeit und die aus Sicht der Kolonialbeamten zu repressive Ausgestaltung standen demzufolge an der Basis der Ineffizienz der neuen Verordnungen und dienten darüber hinaus, für die privatwirtschaftlichen Unternehmer wie auch die Vertreter des öffentlichen Arbeitssektors, zugleich auch als zentrale Argumente für deren Nichtanwendung. Auch wenn die Kolonialadministration insofern versuchte, Willkür und Zwang im kolonialen Arbeitssektor unter dem Deckmantel der Rhetorik eines »paternalisme protecteur«219 zu verbergen, wurden Arbeitsverhältnisse im Sinne des kolonialen Rechts doch auf Grundlage der Vorstellung von der Ungleichheit und Minderwertigkeit der einheimischen Lohnempfänger gegründet.220 Das koloniale Rechtssystem sprach Letzteren nur einen untergeordneten juristischen Status zu und verlieh dem Arbeitgeber zugleich den Status eines ökonomischen Vormundes, den dieser, je nach Bedarf, in ein Abhängigkeitsverhältnis umwandeln konnte oder nicht:221 »Entering a contract under the provisions of the 1925 decree was supposed to be voluntary. But the obligations imposed were so draconian, it was impossible to imagine anyone choosing to accept them.«222
217 218 219 220 221 222
Vgl. Lakroum 1982 : 57. Rapport politique annuel de la colonie du Sénégal (1929) zit. in Lakroum 1979 : 228. Lakroum 1979 : 232 Vgl. ebd. : 323. Vgl. ebd. Conklin 1997 : 241-242.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Hatten sich die senegalesischen Privatunternehmer wiederholt dafür ausgesprochen, die Arbeitsanreize und -bedingungen der Arbeiterschaft zu verbessern, um die Entwicklung der kolonialen Ökonomie nicht zu gefährden223 , hielt sich in der Realität, wie zahlreiche Beschwerden belegen, die in dieser Periode vor dem Conseil Colonial vorgetragen wurden, doch kaum ein Arbeitgeber an die gesetzlichen Vorgaben.224 Die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer blieben weiterhin durch Rassismus, Ausbeutung und willkürliche Arbeitsbedingungen bestimmt. Arbeitnehmer hatten insofern weiterhin keinerlei arbeitsrechtliche Sicherheiten und waren in jederlei Hinsicht vom Wohlwollen ihrer Vorgesetzten abhängig: »[L]e surveillant […] professe ouvertement une antipathie pour tous les noirs. Il ne donne ni permission, ni repos […].«225 In Hinsicht auf die Einforderung ihre Arbeitsrechte befanden sich die Angestellten grundsätzlich in einer sehr prekären Situation. Die Ungleichheit der Vertragsparteien und die damit verbundene Ungerechtigkeit äußerten sich dabei allein schon darin, dass die Arbeitsverträge nach administrativem Modell und in Französisch verfasst wurden. Die größtenteils analphabetische lokale Arbeiterschaft war entsprechend kaum in der Lage, die ihnen vorgelegten Unterlagen zu verstehen und für die Arbeitgeber bestand keine gesetzliche Pflicht, die Übersetzung der Vertragstexte zu organisieren oder deren Verständnis durch ihre zukünftigen Angestellten zu gewährleisten: »Rédigé en français, sur le modèle établi par l’autorité administrative, le contrat écrit faisait peu de cas du consentement de l’engagé; il était conseillé, mais non exigé de le faire traduire à l’intéressé.«226 Da die Hauptvertragsklauseln in Arbeitsverträgen jedoch zumeist ignoriert wurden, existierten zwischen vertraglich gebundenen Lohnarbeitern und Zwangsarbeitern faktisch auch in grundsätzlicher Hinsicht kaum Unterschiede: »Entre le ›forcé‹ et le contractant d’un engagement qui en ignore les principales clauses, quelle était la différence? […] Tous participaient aux rapports de dépendance et d’inégalité caractéristiques de la domination coloniale.«227 Die Interessen der Arbeiterschaft nahmen im arbeitsrechtlichen Gesetzeswerk darüber hinaus eine grundsätzlich untergeordnete Stellung ein, denn die primären Zielsetzungen der Verfasser bestanden unzweifelhaft in der Optimierung und Rationalisierung der wirtschaftlichen Ausbeutung sowie der Verbesserung der Ver-
223 224 225 226 227
Vgl. Lakroum 1979 : 231. Vgl. ebd. Conseil Colonial (1928) zit. in Lakroum 1979 : 231. Lakroum 1979 : 221. Ebd. : 257; siehe auch Conklin 1997 : 241-242.
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Weltzeit im Kolonialstaat
fügbarkeit von Arbeitskräften für die Kolonialökonomie.228 Administration und private Wirtschaftspatrone bleiben daher weiterhin die größten Profiteure der Situation, die Arbeiterschaft hingegen blieb von Verbesserungen der Arbeitsbedingungen weitgehend ausgeschlossen.229 Etablierte Praktiken des Umgangs mit der lokalen Arbeiterschaft blieben entsprechend weitgehend bestehen und die neuen gesetzlichen Richtlinien wurden zumeist nicht umgesetzt. Das kolonialherrschaftliche Desinteresse, sich mit den Verordnungen zu Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit im kolonialstaatlichen Arbeitssektor auseinanderzusetzen, verdeutlicht die damit verbundenen Konsequenzen insbesondere. Denn auch die 1925/26 eingeführten arbeitsrechtlichen Verordnungen äußerten sich nur unvollständig zur Problematik der Verwendung von Zwangsarbeit innerhalb der Kolonie und schufen daher keine Klarheit über die diesbezügliche Position der Kolonialherrschaft.230 Wie auch alle anderen innerhalb der Untersuchungsperiode erlassenen arbeitsrechtlichen Verfügungen sagte das Gesetz von 1925/26 nichts darüber aus, auf welche Art und Weise einheimische Arbeiter zur Arbeit bewegt werden durften231 . Es beinhaltete insofern auch kein explizites Verbot zur Anwendung von Zwangsrekrutierungen sondern bestätigte vielmehr die Rechte der Kolonialverwalter, lokale Arbeitskräfte bei Bedarf auch unter Zwang zu requirieren232 : »Once again, the Government General made clear that it considered such coercion compatible with France’s civilizing mission, as long as the workers were fairly paid and well treated.«233 Während insofern die Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft mit der Zeit in immer umfangreicherem Maße reglementiert wurden, gaben die Verordnungen hinsichtlich der Art und Weise zu deren Rekrutierung nur wenige, sehr unpräzise Handlungsanleitungen, zeigten sich darüber hinaus zudem von einer diesbezüglich kaum missverständlichen Doppeldeutigkeit geprägt.234 Das Gesetz vermittelt insofern insgesamt vielmehr den Eindruck, unter eindeutiger Berücksichtigung des Fortbestehens von Zwangsarbeitsmaßnahmen formuliert worden zu sein.235 Die zentrale Rolle, die die mit der Oberaufsicht über die Organisation der Arbeitskraft betraute Kolonialadministration auch noch infolge des Gesetzes von 1925/26 ausübte, bestätigt diesen Fortbestand der bisher gepflegten zwangsinduzierten Praktiken zur Rekrutierung und Beschäftigung der lokalen Arbeiterschaft:236 228 229 230 231 232 233 234 235 236
Vgl. Ba 1993: 34-35. Vgl. Thiam 1993: 274; Ba 1993: 32. Vgl. Conklin 1997: 236; Fall 1984: 140. Vgl. Conklin 1997: 239. Vgl. ebd.: 236. Ebd. Vgl. ebd.: 239. Vgl. ebd.: 236. Vgl. Fall 1984: 25.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
»The colonial service thus had no illusions about the degree of coercion that would be necessary to secure adequate numbers of workers for European enterprises, and it was prepared to cooperate in their recruitment regardless of whether such practices were legally acknowledged in the code.«237 Dass Zwangsrekrutierungen und Zwangsarbeit aus Perspektive der Kolonialherren auch infolge des Gesetzeswerkes von 1925/26 noch lange nicht ausgedient haben würden und dass dies den verantwortlichen Kolonialbeamten bewusst war, zeigt sich insbesondere auch in einer Aussage des Generalgouverneurs Carde. Infolge eines Inspektionsberichtes aus der Kolonie Elfenbeinküste, in dem der verantwortliche Kolonialinspektor feststellte, dass keine der durch das Gesetz von 1925/26 etablierten arbeitsrechtlichen Verfügungen eingehalten wurden (d.h. u.a. die Arbeiterschaft war über ihre Rechte nicht informiert, Arbeitszeiten wurden nicht eingehalten, Arbeitslöhne nicht korrekt ausgezahlt), ließ sich der Generalgouverneur in einer privaten Notiz an seinen Generalsekretär aus dem Jahre 1930 dazu verleiten, die illegale Fortdauer von Zwangsrekrutierungen (im Folgenden verklausuliert als Hilfsmaßnahmen benannt) als unumgängliches Faktum zu rechtfertigen: »Illegal, perhaps, this aid was nevertheless justified for reasons that no one, among people of good faith, questions.«238 Entgegen der Erkenntnis, dass das Zwangsarbeitssystem, anstatt der kolonialen Wirtschaft förderlich zu sein, vielmehr auch zu einer starken Beeinträchtigung der Wirtschaftsleistung beitrug, wurde es auch in der Folgezeit weiterhin erhalten.239 Andauernde internationale Kritik an den unmenschlichen Arbeitsbedingungen drängte die französische Regierung zu Beginn der 1930er Jahre jedoch dazu, ihre Position gegenüber dem kolonialen Zwangsarbeitssystem neu zu definieren, weshalb am 21. August 1930 ein neues Gesetz zur Regulierung dieser nun nicht mehr als »travail forcé«, sondern vielmehr abschwächend als »travail public obligatoire«240 bezeichneten Form kolonialstaatlicher Beschäftigungsverhältnisse erlassen wurde. Die im Gesetzeswerk von 1930 erstmals auf föderaler Ebene festgeschriebenen Ideen zur Abkehr vom System der Zwangsarbeit und zur schrittweisen Auflockerung der diesbezüglichen Regulierungen entstammten den Erfahrungen aus den unterschiedlichen Teilkolonien und sollten letztendlich die in den einzelnen Territorialverwaltungen gewonnenen Erkenntnisse umsetzen. Da es infolge einer vom Conseil Colonial am 16. Juli 1927 durchgesetzten Einschränkung der Dauer der als prestations ausgeschriebenen Zwangsarbeitsleistungen von acht auf vier Tage in der Teilkolonie Senegal schon vergleichsweise früh zu einer Auflockerung des Zwangsarbeitssystems gekommen war, boten die lokalen Entwicklungen 237 238 239 240
Conklin 1997: 240. Carde (1930) zit. in Conklin 1997: 240. Vgl. Lakroum 1979: 247-249. Ebd.: 253.
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Weltzeit im Kolonialstaat
eine wichtige Grundlage für die gesetzlichen Verordnungen auf föderaler Ebene.241 Der Gesetzestext von 1930 war dabei insgesamt vergleichsweise kurz und fasste die französische Haltung zur Zwangsarbeit anhand eines vom Bureau International du Travail vorgegebenen Kriterienkatalogs in nur neun Artikeln zusammen.242 Den Kern des Gesetzes bildete dabei die Verordnung, dass einheimische Arbeitskräfte nicht für Zwangsarbeiten zu privatwirtschaftlichen Zwecken eingesetzt werden durften. In der Realität jedoch gab es dafür keine Garantien. Die Hauptverantwortung für die Durchführung der Zwangsleistungen trugen immer noch die Distriktkommandanten vor Ort, welche Zwangsarbeitsdienste zumeist als additive Steuerleistung ansahen und diese darüber hinaus oft sogar willkürlich und ohne ökonomische Dringlichkeit oder Notwendigkeit anordneten. Auch Zwangsrekrutierungen unter administrativer Obhut blieben nach dem Inkrafttreten der neuen Gesetzgebung insofern weiterhin die Regel, »quelque fût l’utilisation ou la destination de la main-d’œuvre.«243 Dadurch, dass das Zentralgouvernement das Vorrecht zur Akquise von Arbeitskräften, d.h. die letztendliche Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über die Ausführung von Zwangsarbeitsmaßnahmen an die lokalen administrativen Autoritäten delegierte, wurde die regelkonforme Umsetzung der Gesetzesinitiative stark beeinträchtigt. Statt einer einheitlichen Vorgehensweise entwickelte sich so wiederum ein höchst arbiträres System mit einer Vielzahl von lokal und situationsspezifisch begründeten Ausnahmeregulierungen, die keine verbesserten Arbeitsbedingungen boten und auch keinen Übergang zum Lohnarbeitssystem bildeten, sondern vielmehr die bisherigen auf Zwang basierenden Strukturen reproduzierten.244 Entgegen den in Artikel 5 der Verordnungen von 1930 festgelegten Rahmenbedingungen und Mindeststandards von kolonialen Beschäftigungsverhältnissen blieben über die zwangsinduzierte administrative Rekrutierung hinaus auch zahlreiche andere Elemente des Zwangs weiterhin erhalten, wie bspw. Regulierungen zum verpflichtenden Anbau von landwirtschaftlichen Produkten. Für die lokalen Arbeitnehmer gab es entsprechend auch weiterhin keine Garantien darauf, dass die wenigen ihnen zugesprochenen Rechte auch eingehalten wurden. In Senegal respektierten dabei gerade die administrativen Dienste oft nicht einmal die vom Conseil Colonial ausgehandelte Reduzierung der Dauer der Zwangsarbeitsleistungen. Dabei hätte das in den Verordnungen von 1920 enthaltene Verbot zur Anwendung von militärischem und fiskalischem Zwang, um Arbeiter zu Arbeitsmaßnahmen zu bewegen, wenn es denn angewendet worden wäre, dazu beitragen können, die Zwangsarbeit in der Kolonie Senegal stark einzugrenzen.245 241 242 243 244 245
Vgl. ebd.: 250. Vgl. ebd.: 254. Ebd.: 256. Vgl. ebd.: 254. Vgl. ebd.: 255-256.
VI. Arbeits- und zeitspezifische Ordnungspolitiken des Kolonialstaates
Die vermittels der Richtlinien von 1925/26 realisierte Einführung von Lohnarbeitsverhältnissen und die durch die Verordnungen von 1930 auf föderaler Ebene bewerkstelligte Bestätigung des Systems von als ›verpflichtende öffentliche Arbeiten‹ gekennzeichneten Zwangsarbeitsmaßnahmen stand insofern in keinem Gegensatz, die beiden Gesetzeswerke konstituierten vielmehr die Rahmenbedingungen, in denen sich die Entwicklung der Lohnarbeitsverhältnisse und der kolonialherrschaftliche Umgang mit der Arbeitszeit einheimischer Arbeitskräfte in Senegal gestaltete.246 Die Aufrechterhaltung des Zwangsarbeitssystems, von Arbeits- und Zeitzwang, bildete somit einen essentiellen Funktionsbestandteil der Kolonialökonomie, welcher dieser einerseits die permanente Verfügbarkeit von günstiger Arbeitskraft gewährleistete, andererseits jedoch auch nur mit einer sehr schwachen Produktivität einherging.247 Lakroum paraphrasiert das Fehlen essentieller Veränderungen in der kolonialstaatlichen Arbeitsgesetzgebung zwischen 1925 und 1930 daher mit den Worten: »Les indigènes travaillent librement sous la direction de l’administration.«248
246 Ebd. 247 Ebd.: 256. 248 Peter (1937) zit. in Lakroum 1979: 258.
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VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Wie die bisherige Diskussion gezeigt hat, waren die infolge der zentralistischen raum- zeitlichen Organisation sowie einer korrespondierenden wirtschafts- und entwicklungspolitischen Strukturierung zu den Foyers der ›Moderne‹ erkorenen urbanen Bereiche der Kommunen auch die Fixpunkte zeitspezifischer Infrastrukturen, in denen präzise zeitliche Standards zur Verfügung standen und die prinzipiellen uhrzeitspezifischen Handlungsgesellschaften der Kolonie angesiedelt waren. Die kommunalen Räume stellten dementsprechend die einzigen Bereiche dar, in denen die Weltzeitordnung über eher individuelle und idiosynkratrische Verwendungsformen hinaus auch in einer einigermaßen normkonformen bzw. funktionsgerechten und zweckmäßigen Art und Weise zur zeitspezifischen Organisation der Gesellschaft genutzt werden konnte. Die bisherigen Betrachtungen verweisen jedoch auch darauf, dass die Implementierung der Weltzeitordnung und einer darauf fußenden bürgerlichen Zeitordnung in den urbanen Räumen der Kommunen nicht widerspruchs- und konfliktfrei ablief, in erster Linie opportunistischen ökonomischen Zielsetzungen folgte, nur partiell realisiert werden konnte und durch eine kompetitive Entwicklung des in der muslimischen Glaubenslehre verankerten zeitlichen Referenzsystems und korrespondierender Handlungspraxen flankiert wurde. Der letztgenannte Aspekt ist dabei auch für die folgenden Betrachtungen der gesellschaftlichen Organisation der Zeit in den urbanen Räumen der Kolonie von entscheidender Bedeutung. Denn innerhalb dieses prinzipiellen Feldes zur Implementierung der Weltzeitordnung und Aushandlung einer standardisierten gesellschaftlichen Organisation der Zeit stand die importierte Zeitordnung grundsätzlich nicht allein. Angesichts der verschiedenen in der lokalen Bevölkerung der Region verfolgten kulturellen und zeitlichen Referenzsysteme stellte die zum leitenden zeitlichen Ordnungsmechanismus der Gesellschaft auserkorene Weltzeitordnung auch in den Kommunen vielmehr die Ausnahme dar. Zeitspezifische Aushandlungsprozesse waren insofern nicht auf die einseitige Einführung der Zeitordnungen der industrialisierten Welt beschränkt, sondern wurden durch wechselseitige
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Weltzeit im Kolonialstaat
Transfer- und Interaktionsprozesse mit einem multipolaren Feld lokaler zeitlicher Referenzsysteme und Handlungspraxen begleitet. Über die Mehrheit der einheimischen Stadtbevölkerung wurden lokale Zeitordnungen und korrespondierende zeitliche Handlungspraxen auch in die urbanen Räume der Kommunen hineingetragen und vermittels der im Rahmen der Assimilationspolitik der Kolonialherrschaft gewährten bürgerlichen Privilegien und Mitbestimmungsrechte konnten Aspekte lokaler kultureller und zeitspezifischer Orientierungen und Handlungspraxen sogar als Bestandteile des legislativen Konglomerates der Kommunen festgeschrieben werden. Insbesondere die Assimilationspolitik förderte und formte, entsprechend dieser Lesart, die Herausbildung einer partiellen Akzeptanz nicht-europäischer zeitlicher Referenzsysteme und Handlungspraxen. Trotz der infolge der Etablierung kolonialer Herrschaft offiziell als zeitliches Leitmotiv operierenden Weltzeitordnung beeinflussten lokale Zeitordnungssysteme daher auch innerhalb des städtischen Raumes der Kommunen die gesellschaftliche Organisation der Zeit auf intrinsische Art und Weise. Das insofern existierende Konglomerat verschiedener europäischer und nichteuropäischer zeitlicher Referenzsysteme fand in der gesellschaftlichen Lebenswelt der Kommunen im Nebeneinander unterschiedlicher, auf Seiten der Kolonisierenden wie auf Seiten der Kolonisierten zuallererst auf religiöser Grundlage fußender zeitlicher Handlungspraxen Ausdruck. Auf gesellschaftlich-organisatorischer Ebene dienten dabei religiös fundierte Kalendarien als zentrales Medium der soziokulturellen zeitlichen Rhythmisierung. Religiöse Affiliation und Differenzierungen nahmen gegenüber kulturspezifischen, standes-, berufsgebundenen oder geschlechtlichen Zugehörigkeiten die weitaus einflussreichste Rolle im Prozess der Aushandlung der gesellschaftlichen Organisation der Zeit in den Kommunen ein. Religiöse Orientierung und Zugehörigkeit markierten daher auch die prinzipiellen Trennlinien, anhand derer sich die Verbundenheit zu unterschiedlichen zeitlichen Referenzsystemen und Handlungspraxen manifestierte. Selbst die vermeintlich aufgeklärte und rationale Weltzeitordnung ist letztendlich in religiösen Strukturen und Inhalten begründet, die trotz der Prozesse zur Standardisierung der Zeit und zur ›Desakralisierung von Raum und Zeit‹ im 19. Jh. bis in die heutige Zeit hinein die Konstitution dieses zeitlichen Referenzsystems und entsprechender Handlungspraxen prägen. Die präzisen zeitlichen Standards und uhrzeitspezifischen Handlungsgesellschaften der industrialisierten Welt setzten im nicht-industrialisierten kolonialen Kontext dabei zwar durchaus eigenständige und scharfe Trennlinien, nahmen jedoch eine zu marginale Position ein, um die gesamtgesellschaftliche Organisation der Zeit auf tiefgründige Art und Weise zu gestalten und konkurrierende zeitliche Ordnungssysteme ›wegzurationalisieren‹. Innerhalb der Untersuchungsperiode waren auf religiöser bzw. spiritueller Ebene drei zentrale Formen von Glaubenslehren zu identifizieren, die die gesellschaftliche Organisation der Zeit in den Kommunen nachhaltig beeinfluss-
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
ten: Islam, lokale Glaubenspraxen1 und Christentum. Darüber hinaus prägten auch Anhänger der philosophischen ›Traditionen‹ des Antiklerikalismus und des Freimaurertums die kulturellen und zeitspezifischen Entwicklungen in den Kommunen. Die in Hinsicht auf die zeitliche Prägung der gesellschaftlichen Organisation in den Kommunen bedeutsamsten Glaubenslehren waren wiederum einerseits das durch die Franzosen in die koloniale Situation hineingetragene Christentum und andererseits der innerhalb der lokalen Bevölkerung prädominant verbreitete Islam. Letzterer prägte die urbane gesellschaftliche Organisation der Zeit seit Mitte des 19. Jh. in beträchtlichem Maße. Die unterschwellig durch in der christlichen Glaubenslehre verankerte Motive bestimmte und sich in gregorianischem Kalender, astronomisch berechneter Zeit und Uhrzeitspezifik ausdrückende Weltzeitordnung stand insofern in erster Linie einer sich anhand eines islamischen Kalenders orientierenden und auf die islamische Glaubenslehre berufenden lokalen Variante der muslimischen Zeitordnung gegenüber. Als einerseits durch den Kolonialstaat verordnetes zeitliches Leitmotiv und andererseits von der Mehrheit der urbanen Gesamtbevölkerung präferiertes zeitliches Leitmotiv dominierten die Weltzeitordnung und die lokale muslimische Zeitordnung die gesellschaftliche Organisation der Zeit und die zeitspezifischen Handlungspraxen in den Kommunen. Intern stellten die religiösen Handlungsgesellschaften jedoch keine homogen strukturierten Entitäten dar, deren Mitglieder alle dieselben zeitspezifischen Vorstellungen und Handlungsweisen teilten. Zudem wurden sie durch ein wenig einheitliches Konglomerat von in spezifisch lokalen Glaubensvorstellungen verankerten Zeitordnungen und korrespondierenden zeitspezifischen Handlungspraxen flankiert, welches je nach den kulturellen Affiliationen der jeweiligen Bevölkerungszusammensetzung in den Kommunen variierte. Neben Individuen und Gruppierungen, die ausschließlich eine der beiden zentralen Zeitkulturen befürworteten, existierten insofern auch noch zahlreiche Anhänger von Zeitkonzeptionen, die auf lokalen Glaubenspraxen beruhten, ebenso wie auch Vertreter von hybriden, synkretistischen oder idiosynkratischen zeitlichen Referenzsystemen. Kein Mitglied der urbanen Gesellschaft konnte jedoch die von der Kolonialherrschaft zur leitenden zeitlichen Konzeption erhobene Weltzeitordnung ignorieren, ebenso wenig wie die lokale muslimische Zeitordnung, welche über
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Die Begriffe ›lokale Glaubenspraxen, -lehren und -vorstellungen‹ werden hier zur Bezeichnung, der von den französischen Kolonialherren als Paganismus, Fetischismus oder Animismus ausgezeichneten Glaubenssysteme herangezogen. (Vgl. Robinson 2000: 78) Hinsichtlich der Problematiken im Umgang mit den überkommen Begrifflichkeiten zur Auszeichnung lokaler Glaubenspraxen siehe Müller 1999: 25 und Schmidt 1999a: 125. Zu den Schwierigkeiten religionsethnologischer Klassifikationen und Bezeichnungspraxen siehe Schmidt 1999b: 311.
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Weltzeit im Kolonialstaat
die gesamte Untersuchungsperiode hinweg mehr und mehr Raum einzunehmen begann. Um die gesellschaftliche Organisation der Zeit in den urbanen Räumen der Kommunen zu beschreiben, wird im Folgenden zunächst eine rudimentäre Darstellung der Zusammensetzung und Gliederung der verschiedenen Akteure und Gruppierungen, aus der sich die städtische Bevölkerung konstituierte, vorgenommen, die die Heterogenität der kultur- und zeitspezifischen Einflüsse im urbanen Milieu betont. Im Anschluss werden die zeitspezifischen Ordnungspolitiken, die zur Rhythmisierung von Jahreslauf und Alltag herangezogen wurden, diskutiert und die zeitspezifischen Trennlinien der gesellschaftlichen Organisation dargestellt. Letztere werden anhand der Verbundenheit zu religiös definierten zeitlichen Referenzsystemen ausgezeichnet. Abschließend folgt eine auf die europäischen Mitglieder der Kolonialgesellschaft fokussierte Betrachtung, die die Schwierigkeiten der Umsetzung von auf der Weltzeitordnung beruhenden zeitspezifischen Handlungspraxen im nicht-europäischen Umfeld hervorhebt.
1. Die urbane Bevölkerung der vier Kommunen Wie dargestellt werden konnte, führte die temporär begrenzte Anwendung der Entwicklungspolitik der Assimilation in den senegalesischen Kolonialterritorien bereits früh zur Entwicklung einer sehr heterogen zusammengesetzten urbanen Bevölkerung, welche aufgrund der auch für einen Teil der einheimischen Stadtbewohner geltenden bürgerrechtlichen Statuten eine einzigartige Ausnahme innerhalb der Föderation Französisch-Westafrikas darstellte. Die urbane Bevölkerung in den Kommunen bestand dabei zum überwiegenden Anteil aus Individuen lokalen Ursprunges und war auch in dieser Hinsicht grundsätzlich sehr heterogen zusammengesetzt.2 Sie kann entsprechend der Unterscheidung von Kolonisierenden und Kolonisierten grundsätzlich in zwei Gruppierungen unterteilt werden, derjenigen der Kolonialgesellschaft und derjenigen der einheimischen Gesellschaft.3 Kolonialgesellschaft und einheimische Gesellschaft stel-
2 3
Vgl. Johnson 1971:19. Vgl. Glinga 1990: 48. Die begriffliche Unterscheidung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten wird hier anderen, die mit rassischen (›Weiße‹), oder national-kulturellen (›Franzosen‹, ›Europäer‹) Kategorisierungen arbeiten, vorgezogen, da bspw. die Gruppe der Kolonisierenden bei weitem nicht ausschließlich aus »metropolitan, white Frenchmen“ bestand. (Vgl. Cairns 1969: 177) Darüber hinaus erweisen sich auch die begrifflichen Zuschreibungen an die Gruppe der Kolonisierten zumeist als ebenso unzureichend. Entsprechende ›ethnische‹, aber auch national-kulturelle Zuschreibungen greifen hier ebenso zu kurz wie im vorherigen Falle, da die Begrifflichkeiten die Heterogenität der Bevölkerungszusammensetzung nicht in angemessener Art und Weise wiedergeben können.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
len nur idealtypische Unterscheidungen dar, die hier zur vereinfachten Darstellung herangezogen werden, der komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sich auch in zahlreichen Überschneidungen und Graubereichen zwischen diesen beiden Idealtypen ausdrückte, jedoch letztendlich nicht gerecht werden kann. Dies verdeutlicht sich bereits an der Problematik der Zuschreibung der vieldiskutierten partiell-akkulturierten einheimischen Elite, die sich infolge der Anwendung der entwicklungspolitischen Doktrin der Assimilation bis zum Ende des 19. Jh. in den Kolonialstädten herausgebildet hatte. Diese oft als eigenständige Gruppierung angesehene Elite bewegte sich theoretisch im Graubereich zwischen den Gruppierungen der Kolonisierenden und Kolonisierten, sollte aufgrund des z.T. sehr großen Einflusses, den ihre Mitglieder auf die koloniale Situation ausüben konnten, in praktischer Hinsicht jedoch vielmehr auch auf Seiten der Kolonisierenden angesiedelt werden.4 Die folgende Darstellung der Zusammensetzung und internen Gliederung der urbanen Bevölkerung in den Kommunen folgt, wiederum zum Zwecke der vereinfachten Darstellung, dennoch einer durch eine dreigliedrige Unterscheidung zwischen der Gesellschaft der Kolonisierenden bzw. Kolonialgesellschaft, der Gesellschaft der Kolonisierten bzw. einheimischen Gesellschaft und einer im Graubereich zwischen diesen beiden angesiedelten Gesellschaft der einheimischen Eliten strukturierten Betrachtungsweise.
1.1. Die Gesellschaft der Kolonisierenden Die Kolonialgesellschaft konstituierte sich, abgesehen von den Angehörigen der bisweilen hinzugerechneten Gruppierung der urbanen einheimischen Elite, aus Europäern, d.h. in diesem Falle vor allem, jedoch nicht ausschließlich, Franzosen. Diese in erster Linie vermittels ihrer verschwindend geringen Anzahl gekennzeichnete und im Anschluss an Kirk-Greene daher oft mit der Bezeichnung »thin white line«5 umschriebene Gruppierung französischer Kolonialer rekrutierte sich gerade in der frühen Kolonialperiode fast ausschließlich aus den »lost children of the mother country«, wie es bspw. der Gouverneur Brière de l’Isle 1879 in einem Brief an den Marineminister ausdrückte.6 Militärische wie auch zivile Bewerber für einen Posten in der Kolonialadministration waren insofern oft »men with questionable pasts who for various reasons had decided to leave France and seek their fortunes elsewhere.«7 Die miserable Qualität des Personals in den Rängen der Kolonialadministration sollte sich über die Jahre zwar verbessern, die bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh. andauernde hohe Sterblichkeitsrate von Europäern in den 4 5 6 7
Vgl. Goerg 1995: 21. Kirk-Greene (1980). Brière de l’Isle (1879) zit. in Cohen 1971: 15. Cohen 1971: 15.
265
266
Weltzeit im Kolonialstaat
Kolonialgebieten machte die Emigration in die Kolonien dennoch bis zum Ende der Untersuchungsperiode zu einem Unterfangen, welches in den meisten Fällen nur die »rejects of French society«8 dazu ermutigte, in den Kolonien eine Karriere anzugehen, welche ihnen in Frankreich verwehrt geblieben wäre:9 »All the colonies faced the difficult problem of attracting qualified men to distant and unhealthy regions which had gained the reputation of being the white man’s grave.«10 Die Qualität der in den Diensten der Kolonialverwaltung angestellten Individuen in den Überseeterritorien begann sich erst langsam zu verändern, nachdem infolge der 1887 vorgenommenen Gründung der École Coloniale, einer zentralen Ausbildungsstätte für Kolonialverwalter, zunehmend auf institutionell ausgebildetes und spezialisiertes Personal zurückgegriffen werden konnte.11 Die Wende vollzog sich jedoch langsam. Gerade in den Anfangsjahren fanden sich zunächst nicht ausreichend viele Absolventen der École Coloniale, um den Personalbedarf in Übersee zu stillen, weshalb noch lange Zeit viele nur hinlänglich qualifizierte Bewerber in koloniale Dienste aufgenommen wurden. Erst mit Beginn der 1920er Jahre begann sich die Qualität des Kolonialpersonals auf nachhaltige Art und Weise zu verbessern.12 Emigrationswillige Franzosen, d.h. Angehörige der Kolonialadministration wie auch französische Händler und die meisten anderen Landsleute in der Kolonie kamen, aufgrund der lange währenden Geschichte der Handelsbeziehungen zwischen den senegalesischen Überseeterritorien und den großen Handelshäusern in den französischen Häfen von Bordeaux und Marseille, oft auch aus dem Umfeld oder Hinterland dieser beiden Städte.13 Cohens Analyse der Herkunft der Absolventen der École Coloniale im Zeitraum von 1909 bis 1941 zeigt, dass die seit langem dem Überseehandel zugewandten Küstenregionen, aber auch viele der isolierten Regionen aus dem Hinterland bei der Rekrutierung Spitzenwerte erreichten.14 Neben dem Departement Paris, welches immer die meisten Absolventen stellte, fanden sich somit z.B. auch in den isolierten und abgelegenen Departements Bretagne, Aquitanien, Midi-Pyrénées, Languedoc und Provence, sowie auch aus den Überseedepartements La Réunion, Martinique, Guadeloupe, Nouvelle Calédonie und Corse überdurchschnittlich viele Bewerber für koloniale Dienste.15 Die überwiegende Mehrheit der Kolonialbeamten rekrutierte sich insofern aus eher ländlichen Regionen.16
8 9 10 11 12 13 14 15 16
Ebd. Vgl. ebd. Ebd.: 13. Vgl. ebd.: 13ff. Vgl. ebd.: 83. Vgl. Cruise O’Brien 1972 : 55. Vgl. Cohen 1971 : 221, Appendix V. Vgl. ebd. Vgl. Simonis 2005: 62.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Auch unter den französischen Händlern innerhalb der Kolonie mobilisierten sich überdurchschnittlich viele aus den Küstenregionen von Bordeaux, Marseille oder Nantes und dem provinziellen Hinterland diese Städte im südlichen und südwestlichen Frankreich.17 Vor allem jedoch die Bewohner der in der heutigen Region Midi-Pyrénées gelegenen Departements Ariège, Lot, Tarn und Tarn-et-Garonne stellten einen Großteil der mit Handelsaktivitäten beschäftigten Franzosen innerhalb der Kolonie: »The Ariège, a rugged rural province in the southwest, had a rather special relationship with Senegal, the reputation of which endured far beyond the numerical impact of the Ariègeois in the colony. They were encouraged to go to Senegal by ›one of their own‹, who was the Governor of Senegal by 1900. […] [T]hey were sentimentally considered the true colons of Senegal. The villagers of the Ariège, and neighbouring Lot, Tarn and Tarn-et-Garonne, were found throughout the colony, although mainly in the interior – a life for which, it is said, their natives villages had well prepared them.«18 Die spätestens seit der Jahrhundertwende einen vergleichsweise hohen Anteil der französischen Händler ausmachenden Ariègeois, fanden sich auch unter den ab den 1920er Jahren in größerem Ausmaß in die senegalesischen Kolonialterritorien übersiedelnden sogenannten »petit Blancs«, d.h. sozial geringgestellten Franzosen, die auch unter den Europäern innerhalb der Kolonie die untersten Stufen der sozialen Hierarchie besetzten.19
1.2. Die elitäre einheimische Gesellschaft Die zumeist mit der Bezeichnung assimilés versehenen Angehörigen der Gruppierung der urbanen einheimischen Elite in den Direktverwaltungsgebieten können als ›Typ‹ von Einheimischen angesehen werden, die die »Lebensweise«20 in den Kolonialstädten hervorgebracht hat. Sie stellten die historischen Nachfolger der
17
18
19 20
Über die große Bedeutung der Hafenstadt Nantes für den Sklavenhandel im 19. Jh. und die Handelsbeziehungen mit der westafrikanischen Küstenregion siehe Pétré-Grénouilleau (2004: 170f.). Cruise O’Brien 1972: 56. Hinsichtlich der vor allem aus dem Departement Ariège stammenden einfachen französischen Händler siehe auch Amin 1969: 35, ferner Randau 1922: 60, wo ebenfalls erwähnt wird, dass sich ein Großteil der Kolonialen aus der Unterschicht der Region »Midi“ rekrutiert. Amin 1969: 33; Cruise O’Brien 1972: 59; siehe auch Marfaing/Sow 1999: 85-86. Glinga 1990:432.
267
268
Weltzeit im Kolonialstaat
urbanen kreolischen Gesellschaft des 17. und 18. Jh. dar, deren typische Vertreter noch als »habitants« und »signares«21 bezeichnet wurden.22 Von Johnson werden die Vertreter dieser elitären nicht-europäischen Stadtbevölkerung in insgesamt 3 zentralen Untergruppen bzw. Klassen eingeteilt: die Kreolen23 , die christianisierten Einheimischen24 und die Einheimischen muslimi21
22
23
24
Der Begriff signare ist vom portugiesischen signora abgeleitet und bezeichnet eine infolge von temporären Eheschließungen mit Europäern privilegierte Klasse einheimischer Frauen, die in Saint-Louis, Gorée und Rufisque seit dem 15. Jh. dokumentiert ist, weite Verbreitung gefunden hat und innerhalb der senegalesischen Überseebesitzungen bis in die Mitte des 19. Jh. hinein eine bedeutende und einflussreiche soziale Stellung einnahm. (Vgl. Knibiehler/Goutalier 1985: 53) Siehe dazu auch im folgenden Kapitel VII.3.4. Glinga 1990: 51. Die verschiedenen für die Benennung der einheimischen Elite in Senegal herangeführten Bezeichnungspraxen wurden und werden irrtümlicherweise oft vermischt. Insbesondere hinsichtlich der Unterscheidung zwischen den Begriffen assimilé und évolué ist eine gewisse Konfusion zu konstatieren. Die in genereller Hinsicht auf die gesellschaftliche und kulturelle Dimension der Existenz der Elite abzielenden Bezeichnungen assimilés und évolués changierten zwischen der Bedeutung des ›Angepasstseins‹ und des ›Aufgestiegenseins‹ und verwiesen damit auf den höheren sozialen Status, den diese Einheimischen gewonnen hatten. Anders als der Begriff assimilé wurde der Begriff évolué hingegen zur Bezeichnung der lokalen ländlichen Elite in den Protektoratsgebieten verwendet, die »aufgrund ihrer Bildung Zugang zu bestimmten Posten in Verwaltung und Wirtschaft“ erlangt hatten, jedoch nicht automatisch über die rechtlichen Privilegien der mit Bürgerrechten ausgestatteten einheimischen Bewohner der Kolonialstädte verfügten. (Ebd.:432) Das durch die begrifflichen Nuancierungen zwischen assimilé und évolué gekennzeichnete System der Differenzierung und »Partikularisierung setzte sich jedoch auch innerhalb der einzelnen Kategorien fort und schuf so ein vielfältiges System miteinander konkurrierender Subsysteme“(Ebd.: 431), welches kaum Kohärenz aufwies, so dass die vermittels der jeweiligen Begrifflichkeiten angesprochenen Bezugsgruppen nicht immer eindeutig zuzuweisen waren: »Zur weiteren Verwirrung der Begriffe trug der Umstand bei, daß die Ausdrücke assimilé, évolué, und indigène auch in übertragener Bedeutung benutzt und zuweilen so unscharf verwendet wurden, daß die ursprünglich klare juristische Trennung nicht mehr sichtbar war. Im alltäglichen Kolonialdiskurs hießen alle Afrikaner indigènes. Die nivellierende Sprache stand hierbei ganz im Gegensatz zur partikularisierten Realität. Auch von afrikanischer Seite wurde der Ausdruck Assimilation politisch und kulturell so weit ausgedehnt, daß jeder französisch gebildete Afrikaner als Assimilierter verstanden wurde. Assimilation wurde zum Synonym von Akkulturation.« (Ebd.: 431-432, Hervorhebungen im Original) Die kreolische Bevölkerung setzte sich dabei vor allem aus »mulâtres (offspring of a European and an African)« und »métis (persons of mixed descent, i.e. French father and mulatto mother)« zusammen, die sich aufgrund ihrer teilweise europäischen Herkunft zeitlebens stark mit der europäischen Kultur und der christlichen Religion identifizierten. (Johnson 1971: 23, Hervorhebungen im Original) Christianisierte einheimische Stadtbewohner, auch als »gourmets“ bezeichnet, stellten nur eine kleine, aber einflussreiche Gruppierung von Individuen dar, die sich in den meisten Fällen auf eine hundertprozentig lokale Herkunft berufen konnte. (Ebd.: 23, Hervorhebungen im Original) Viele der christianisierten einheimischen Stadtbewohner kamen aus der Bevölkerungsgruppe der Serer, einer der wenigen unter den zahlreichen Bevölkerungsgrup-
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
schen Glaubens.25 Daneben siedelt er die Masse der einheimischen Stadtbevölkerung an, die sich vor allem aus Ex-Sklaven und Hausbediensteten konstituierte und größtenteils muslimische aber auch lokale Glaubensvorstellungen vertraten.26 Diesen vier Gruppierungen wurde jeweils ein distinkter sozialer Status zugesprochen, der sich vor allem in Hinsicht auf den jeweils erreichten Grad der Akkulturation an die französische Kultur unterschied. Mitglieder der ersten drei dieser Gruppierungen, d.h. Kreolen, einheimische Christen und Muslime, die mit Wahlrechtsprivilegien und französischen Bürgerrechten ausgestattet waren, wurden auch als citoyens oder originaires bezeichnet. Als einzige Vertreter der lokalen Bevölkerung, die diese Vorrechte unter kolonialen Bedingungen in Anspruch nehmen konnten, waren sie im Vergleich zur Masse der einheimischen Bevölkerung in höchstem Maße privilegiert. Mitglieder der bürgerrechtlich privilegierten Gruppierungen waren dabei zwar als sozial ›aufgestiegene‹, mit französischen Bürgerrechten ausgestattete einheimische citoyens zu betrachten, jedoch nicht automatisch auch als kulturell ›angepasste‹ assimilés, die sich der Anpassung an die französische Kultur verschrieben hatten.27 Letztere Zuschreibung trifft nur auf die kreolische Bevölkerungsschicht und auf die christianisierten Einheimischen zu. Die privilegierten muslimischen Einheimischen hingegen behielten trotz ihrer partiell frankophonen Orientierung viele nicht-europäische Handlungspraxen bei und entwickelten diese über die Zeit auch weiter. Die in Hinsicht auf die verschiedenen kulturellen Affiliationen, Differenzierungen und Bezeichnungspraxen auch auf Seiten der Kolonialadministration herrschende Konfusion führte letztendlich dazu, dass bis 1912 keine offizielle Definition der zentralen Kategorie der assimilés und der damit korrespondierenden Personalstatuten existierte.28
25
26 27 28
pen des kolonialen Senegal, die intensiveren christlichen Missionierungsbemühungen ausgesetzt war und sich daher nicht ohne Grund auch zur »dominant majority in Senegalese Catholicism“ entwickelte. (Ebd.: 11) Aus denselben Gründen finden sich auch viele Diola unter den Christen der Kolonie. (Vgl. Robinson 2000: 78) Muslimische Stadtbewohner waren ebenfalls zumeist vollständig einheimischer Abstammung und kamen zu einem Großteil aus den Bevölkerungsgruppen der Wolof, Lébou und Tukulor. (Vgl. Johnson 1971: 23) Vgl. ebd.: 23. Vgl. ebd.: 34-35. Vgl. Conklin 1997: 278-279, Fußnote 13.
269
270
Weltzeit im Kolonialstaat
Tabelle 3 – Bevölkerungsentwicklung in den vier Kommunen (1865-1930). Kommune
1865
1878
1910
1914
1916
1921
1930
Dakar
300
1.566
24.914
21.624
24.577
37.145
54.000
SaintLouis
15.000
15.980
22.093
23.481
22.169
20.358
19.373
Gorée
3.000
3.243
1.306
923
759
988
k. Angabe
Rufisque
300
1.173
12.457
12.837
11.658
11.307
20.029
Die Daten der Jahre von 1865 bis 1910 sind aus Johnson 1971: 35 entnommen, wobei es sich bei den für 1865 angegebenen Zahlen um Schätzungen handelt. Die Daten der Jahre ab 1910 stammen aus Pheffer 1975: 571. Übersetzung des Autors.
Tabelle 3 zeigt Größe und Anstieg der Bevölkerung in den vier Kommunen zwischen 1865 und 1930, wobei jedoch generell alle Personen mit einem französischen Bürgerstatus berücksichtigt wurden, darunter emigrierte Franzosen und Angehörige der drei Gruppierungen der elitären nicht-europäischen Stadtbevölkerung.29 Tabelle 4 – Anteil von Kreolen und Franzosen an der Bevölkerung der Kommunen (19081930). Kommune
1908
1914
1916
1921
1930
Dakar
2.434
2.201
2.157 762 Kreolen
2.534
k. Angabe
SaintLouis
1.010
417 + 633 Kreolen
346 540 Kreolen
627
440
Gorée
k. Angabe
48 + 110 Kreolen
31
81
k. Angabe
Rufisque
186
250 + 118 Kreolen
181 115 Kreolen
201
376
Aus: Pheffer 1975: 523-524.
29
Der durch die Zahlen wiedergegebene demographische An- und Abstieg verweist darüber hinaus auf die stetige Bedeutungszunahme von Dakar, welche Saint-Louis, die lange Zeit bedeutendste Kommune in den senegalesischen Kolonialterritorien zu Beginn des 20. Jh. als Zentrum der Kolonie ablöste. Gorée war bereits in der zweiten Hälfte zugunsten von SaintLouis einem ähnlichen Schicksal anheim gegeben worden. Das Wachstum der Kommune Rufisque stagnierte letztendlich ebenfalls aufgrund des einseitigen Bedeutungszuwachses von Dakar. (Vgl. Johnson 1971: 35; Glinga 1990: 405)
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Tabelle 4 zeigt die Größe der französischen und kreolischen Gemeinschaft in den Kommunen, wobei die Kreolen in den herangezogenen Statistiken oft zur Gruppierung der Franzosen gerechnet und nicht separat erfasst wurden.30 Im Vergleich mit der jeweiligen Gesamtanzahl an bürgerrechtlich privilegierten Stadtbewohnern zeigt sich die geringe Größe der beiden Gruppierungen. Tabelle 5 – ›Ethnische‹ Affiliationen der einheimischen Bürgerschaft der Kommunen (1914). Gruppierung:
Anzahl der Personen:
Lébou
4.920
Toucouleur
5.612
Sarrakolé
2.900
Bambara, Malinké et Khassonké
4.163
Ouolof
1.216
Sérère
72
Portugais
372
Syrien
168
Aus : ANS 3 G2−157 , Délégué du Gouvernement du Sénégal au Gouverneur Général de l’A.O.F., Au sujet de la Désignation de chefs ou délégués de groupes à Dakar, 28. September 1917, fol. 2. Übersetzung des Autors.
Die im Zuge einer Volkszählung in Dakar im 1914 angefertigte Tabelle 5 zeigt schließlich eine der ersten genauen demographischen Auflistungen der ›ethnischen‹ oder nationalen Migrationshintergründe der mit Bürgerrechten ausgestatteten nicht-kreolischen einheimischen Elite.31
1.3. Die Gesellschaft der Kolonisierten Die Masse der einheimischen Bevölkerung der Kommunen wies eine ähnlich heterogene Konstitution auf, wie sie auch in der zuvor dargestellten Tabelle 5 wiedergegeben wird und setzte sich grundsätzlich aus Angehörigen aller in der Region an-
30 31
Vgl. Pheffer 1975: 524, Übersetzung des Autors. Im Rahmen dieser Arbeit werden die Bezeichnungen der verschiedenen lokalen Bevölkerungsgruppen je nach zugrundeliegender Publikation und linguistischem Kontext in z.T. unterschiedlichen orthographischen Schreibweisen oder Benennungen zitiert. Die vom Autor im Text verwendete Bezeichnung Tukulor benennt dieselbe Gruppierung, die an anderer Stelle unter der Bezeichnung Toucouleur angeführt wird. Ebenso: Wolof bzw. Ouolof, Serer bzw. Sérère oder Serere, Lébou bzw. Lebou bzw. Lebu, Diola bzw. Dioula, Manding bzw. Mandingue, Mandinka und Peul bzw. Fulbe.
271
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Weltzeit im Kolonialstaat
sässigen Bevölkerungsgruppen zusammen.32 Die einheimische Stadtbevölkerung rekrutierte sich jedoch vor allem aus denjenigen lokalen Gruppierungen, die ursprünglich im Umfeld der in den Küstenregionen verorteten Kolonialstädte ansässig waren. Die Bevölkerungsgruppen der Wolof, Lébou, Tukulor und Serer, welche sich durch große kulturelle Ähnlichkeiten in Sprache und sozialen Gebräuchen auszeichneten und auch in politischer und religiöser Hinsicht eng miteinander verbundenen waren, bildeten insofern die überwiegende Mehrheit der einheimischen Stadtbewohner der vier Kommunen: »Four major ethnic groups in Senegal contributed to the urban population of the Four Communes: the Wolof and the Lebou peoples were the most important, but the Serere and the Tukulor peoples were present in significant numbers.«33 Aus den jeweils im Umfeld ansässigen Bevölkerungsgruppen und dem lokalen Einzugsbereich der Kommunen ergab sich so eine jeweils spezifische Variation der städtischen Bevölkerungszusammensetzung, die durch das mit dem Alter der Ansiedlungen gekoppelte Vorhandensein einer urbanen kreolischen Bevölkerung noch weiter verstärkt wurde. Die Kommunen wiesen insofern keine einheitliche Bevölkerungszusammensetzung auf, sondern zeigten sich vielmehr durch eine diesbezügliche Variation gekennzeichnet, die aus einer jeweils eigenständigen Geschichte der frühen kolonialen Auseinandersetzung hervorging. 32
33
Entsprechend einer umfassenden demographischen Untersuchung der Bevölkerung in der Kolonie gegen Ende der Kolonialzeit aus dem Jahre 1960 konnten insgesamt 19 verschiedene Bevölkerungsgruppen ausgemacht werden, die, zur Gänze oder nur in Teilen, oftmals jedoch in komplexer Verschränkung ihrer Lebensräume, auf dem Territorium der Kolonie Senegal beheimatet waren, d.h. »Maures, Soninké, Malinké, Diakhanké, Dialonké, Bambara, Baïnouk, Badiaranké, Bassari, Bédik, Wolof, Lébou, Serer, Toucouleur, Peul, Diola, MandjakMankagn [et] Balant“. (Adam/Adam/Ba 1977: 64-67) Zu den populationsstärksten unter ihnen zählten wiederum die »Wolof-Lébou, Serer, Toucouleur, Peul, Diola, Sarakolé [et] MandingBambara“.(Vgl. ebd.: 64) Letztere wurden spätestens seit der ersten Hälfte des 19. Jh. als eigenständige Bevölkerungsgruppen angesehen und ethnographisch erfasst. (Vgl. Glasman 2004: 115) Die Auszeichnung dieser Gruppierungen als eigenständige einheimische Bevölkerungsgruppen muss infolge der von T. Ranger, E. Hobsbawn und anderen Autoren geäußerten fundamentalen Kritik an der Praxis der ethnographischen Klassifikation jedoch grundsätzlich in Frage gestellt werden. Glasman konnte in diesem Zusammenhang nachweisen, dass auch die ethnische Klassifikation der Bevölkerungsgruppen in Senegal zu einem gewissen Grade dem von Ranger und Hobsbawn postuliertem Prozess der ›Erfindung von Traditionen‹ unterlag. (Vgl. ebd.: 114-119) Die Gruppierungen müssen daher weniger als distinkte, kulturell eigenständige Einheiten angesehen werden, sondern vielmehr als in einem bestimmten historischen Kontext geschaffene soziokulturelle Konstruktionen, deren Kreation verschiedenen Motivationen, Absichten und Zielsetzungen Rechnung trug und die ökonomischen und politischen Interessen der französischen Kolonialen widerspiegelt. (Vgl. ebd.: 115) Johnson 1971: 7.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Abbildung 8 – Verortung lokaler Bevölkerungsgruppen und präkolonialer Königreiche
Aus: Klein 1968: 6.
Abbildung 8 zeigt die Verbreitungsgebiete der größten lokalen Bevölkerungsgruppen. Wie angesprochen, erweist sich die Abgrenzung der einzelnen Gruppierungen untereinander aufgrund der Unzulänglichkeiten der ›ethnischen‹ Klassifikation aus europäischer Perspektive jedoch grundsätzlich als problematisch. Den bedeutendsten einheimischen Gruppierungen der Region wird wohl auch deswegen bis in die heutige Zeit hinein eine große kulturelle Ähnlichkeit zugesprochen.34 Aufgrund der Uneinheitlichkeit der Klassifikation wird an dieser Stelle von einer weitergehenden Auseinandersetzung mit der ›ethnischen‹ Zusammensetzung der 34
Vgl. Glasman 2004: 111, der die Arbeit von Makhtar Diouf zitiert, welcher sogar eine ›ethnische Harmonie‹ zwischen Wolof, Serer und Haalpular (Tukulor und Peul zusammengenommen) postuliert. Auch Searing 1985: 368 betont die generelle Nähe zwischen Wolof, Lébou und Serer. Faye 2000: 306 verdeutlicht die auch die zeitspezifischer Hinsicht festzustellenden Ähnlichkeiten zwischen Wolof-Lébou, Serer und Tukulor am Beispiel fast vollständig identischer sprachlicher Ausdrücke für die Benennung der Namen der Wochentage. Es handelt sich jedoch trotzdem um deutlich unterschiedliche Sprachen, unter deren Sprechern keine wechselseitige Verständlichkeit herrscht. Eine vergleichende Übersicht der Bezeichnungen der Wochentage in den Sprachen dieser drei Bevölkerungsgruppen findet sich im folgenden Kapitel VII.2.5.
273
274
Weltzeit im Kolonialstaat
urbanen Gesellschaft abgesehen. Es verbleibt darauf zu verweisen, dass ›traditionelle‹ Affiliationen in der urbanen Situation auf der einen Seite zwar weiterhin eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten, auf der anderen Seite jedoch keine auf rein ›ethnischer‹ Ebene begründete Differenzen oder Annäherungsschwierigkeiten auszumachen sind, die die Konfrontation mit europäischen Zeitnormen und die Internalisierung von europäischen Zeitordnungen in maßgeblicher Weise beeinflusst hätten. Die Auseinandersetzung mit standardisierten zeitlichen Rhythmen in der urbanen Situation stellte einheimische Neuankömmlinge vielmehr vor ähnliche Probleme, die aus einer mangelnden Kenntnis europäischer Lebenswelten erwuchsen, sich mit zunehmender Dauer des Aufenthaltes im urbanen Milieu jedoch relativierten.35 Eine Differenzierung der zeitspezifischen Akkulturationsprozesse von verschiedenen einheimischen Gruppierungen zugeordneten Individuen lässt sich vor allem hinsichtlich unterschiedlicher religiöser Affiliationen und damit verbundener zeitlicher Ordnungsprinzipien und -praktiken feststellen, wie anhand der bereits erwähnten Unterschiede zwischen der urbanen christianisierten und muslimischen Elite deutlich wird.
1.4. Die interne Gliederung der urbanen Gesellschaft Die urbane Gesellschaft kann, entsprechend dem französischen Vorbild, anhand der primär vorkommenden beruflichen Gruppierungen grundsätzlich in drei unterschiedliche Ebenen unterteilt werden, d.h. »the officials (in colonial slang la strasse from l’administration), the missionaries, and the people engaged in private enterprise (les privés from secteur privé).«36 Die drei Bereiche waren anhand einer strikten sozialen Hierarchie gegliedert, die die Gruppen untereinander in eine Rangordnung versetzte, aber auch innerhalb der Gruppierungen die Rangfolgen festlegte. Cairns bietet eine gute Übersicht über die hierarchische Strukturierung der Kolonialgesellschaft:
35 36
Vgl. Johnson 1971: 24. Cairns 1969: 177, Hervorhebungen im Original.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Tabelle 6 – Gliederung und Hierarchie der urbanen Gesellschaft. 1. Administration the Governor (Headquarters) secretariat and heads of technical services (Headquarters) administrators (regional officers, district officers) colonial service (cadres généraux) and army local civil service 2. Missions Roman Catholic Protestant 3. Private sector local directors of big firms (at headquarters) big planters, lumbermen etc. (upcountry) agents of big firms small planters, hotel owners etc. clerks, mechanics, small shopkeepers etc. beachcombers, remittance men, delinquents. Aus: Cairns 1969: 184. Die hier dargestellte hierarchische Struktur war dabei jedoch nicht absolut, da es zu funktionellen Überschneidungen und »individual upgrading’s“ kam, so dass ein Individuum, welches in niederen administrativen Rängen beschäftigt war (1d), in hierarchischer Perspektive zwar mit den niederen Rängen im privatwirtschaftlichen Sektor (3d) verglichen werden konnte, Mitglieder der Handelskammern (3b) rangierten dagegen jedoch vielmehr auf derselben hierarchischen Ebene wie ein Katholischer Bischof (2a). (Vgl. ebd.)
Die einzelnen Sektoren in dieser Übersicht waren dabei in personeller Hinsicht nicht ausschließlich durch Mitglieder nur einer der drei zentralen gesellschaftlichen Gruppierungen besetzt. Die Verteilung der Angehörigen der zentralen gesellschaftlichen Gruppierungen in den einzelnen Sektoren spiegelte jedoch die grundsätzlichen personellen Hierarchien des Kolonialismus, welche Europäer auf Basis von rassistischen, national-kulturellen und machtpolitischen Kriterien in hierarchischer Hinsicht über Einheimische positionierte. Europäer standen daher in allen drei Bereichen an der Spitze der Hierarchien.37 Die Verwaltung war dabei über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg die einzige Domäne in den oberen Etagen der Hierarchie, in der nur Franzosen angestellt waren, da administrative Posten grundsätzlich nicht für Angehörige anderer europäischer oder nicht-europäischer Nationen offenstanden. In Handel und Kirche dagegen fanden sich neben Franzosen und Kreolen auch Vertreter anderer europäischer Nationen.
37
Vgl. Cairns 1969: 185, Johnson 1971: 84.
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Mitglieder des kreolischen Bevölkerungsanteils nahmen dabei bis zum Ende des 19. Jh. generell zahlreiche bedeutende Ämter innerhalb von Verwaltung, Kirche und Handelskompanien ein, zu Beginn des 20. Jh. begann ihre in der Gesellschaft der Kommunen zunächst einflussreiche Position jedoch in immer größerem Maße zu erodieren.38 Einheimische Angestellte fanden sich insbesondere in den unteren Ebenen der Hierarchie von Verwaltung und Kirche, weniger hingegen in der Handelsdomäne, die sich für Einheimische als weitgehend unzugänglich erwies und von Franzosen, Kreolen und den Angehörigen anderer nicht-afrikanischer Nationen dominiert wurde: »[…] ›others‹ in this case being Greek, Syrian and Lebanese (in slang sirocs or siroccos) and Portuguese (Pétruquets), petty traders often known as mercantis, while French petty traders are rather margouillats (lit.: ›gecko lizards‹).«39 Die kurze Darstellung der internen Gliederung der Kolonialgesellschaft verweist auf das angesichts des geringen Umfangs dieser Gruppierung extreme Ausmaß und den großen Stellenwert von sozialer Differenzierung und Hierarchisierung für die Organisation der französischen Enklaven in Übersee. Selbst die an der Spitze dieser Hierarchie stehenden Beamten und Angestellten der Kolonialverwaltung äußerten dabei ein starkes Bedürfnis zur internen Differenzierung, vor allem hinsichtlich des Dienstranges und der in den Kolonien bereits absolvierten Dienstzeit.40
38
39 40
Vgl. ebd.: 106. Vertreter der kreolischen Bevölkerung dominierten bspw. das Bürgermeisteramt in den Kommunen Saint-Louis (seit 1778) und Dakar (seit 1763) über mehr als ein Jahrhundert, bis ins 20. Jh. hinein. (Vgl. Johnson 1971: 39-40) Des Weiteren waren auch von den zwischen 1848 und 1914 insgesamt sieben Abgeordneten, die als Vertreter der senegalesischen Überseedepartements ins französische Nationalparlament entsandt wurden, drei Kreolen. Darunter, als erster senegalesischer Abgeordneter überhaupt, Durand Barthelemy Valantin von 1848 bis 1851, dann Alfred Gasconi von 1879 bis 1889 und schließlich François Carpot von 1902 bis 1914. Carpot war auch der letzte Vertreter nicht-einheimischer Gruppierungen, der dieses Amt bekleidete. (Vgl. Dieng 1990: 177) Die mit der darauffolgenden Wahl von B. Diagne beginnende Ära von Abgeordneten ausschließlich einheimischer Herkunft verweist insofern auch auf den Verlust von politischer Einflussnahme durch Kreolen und Europäer. Zu den Gründen für die Verringerung der gesellschaftlicher Bedeutung und des politischen Einflusses der Kreolen siehe Johnson 1971: 106-122; Amin 1969: 33-35. Cairns 1969: 185, Hervorhebungen im Original. Vgl. Johnson 1978: 44; Cohen 1978: 40, 44. Siehe auch Randau 1922: 8, 44, der dies im Rahmen einer Diskussion der Rivalitäten zwischen den einzelnen kolonialen Diensten und Büros im Zentralgouvernement in Dakar beschreibt.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
2. Uhrzeitspezifische Ordnungspolitiken zur Rhythmisierung des Gesellschaftslebens Die im vorherigen Abschnitt dargestellte große Heterogenität der Zusammensetzung der urbanen Bevölkerung verweist auf eine breitgefächerte und differenzierte Vielfalt kultureller und zeitspezifischer Handlungsgesellschaften und -praxen innerhalb der Kommunen. Zusammensetzung und Stratifikation der urbanen Bevölkerung der Kommunen bieten insofern einen Spiegel des spezifischen gesellschaftlichen Arrangements lokaler und nicht-lokaler Bevölkerungsgruppen, innerhalb dessen die Implementierung der Weltzeitordnung vorgenommen wurde. Die die Grenzen der Differenzierung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten partiell verwischende gesellschaftliche Hierarchisierung und Stratifikation verweist darüber hinaus darauf, dass alle urbanen Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichem Maße an uhrzeitspezifischen Handlungsgesellschaften und der Nutzung präziser zeitlicher Standards teilhatten, was die Vielfalt und Hybridität der individuellen und gruppenspezifischen Auseinandersetzungen mit Zeitordnungen und die daraus resultierende Variation der von Einzelnen und Gruppen tatsächlich verfolgten zeitlichen Referenzsysteme und Handlungspraxen erheblich vergrößert. Die unterschiedliche Bevölkerungszusammensetzung in den einzelnen Kommunen resultierte insofern in einer für jede Ansiedlung einzigartigen diesbezüglichen Melange. Dem städtischen Raum aller Kommunen gemein war wiederum die Tatsache, dass jener das prinzipielle Forum für das Aufeinandertreffen von zeitspezifischen Ansprüchen, Konzeptionen und Orientierungen unterschiedlichster Couleur darstellte, welche hier unter der Ägide der von der Kolonialherrschaft zum zeitkonzeptionellen Leitmotiv erkorenen Weltzeitordnung zu einer zeitspezifischen Synthese finden mussten. Die in erster Linie auf Basis der Differenzierung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten sowie vermittels kultureller Herkunft, standes- und berufsbezogenen Unterschieden vollzogene Gliederung der urbanen Gesellschaft dient hier jedoch nur als Ausgangspunkt zur Betrachtung des heterogenen Charakters der gesellschaftlichen Organisation der Zeit in den Kommunen. Die aus der Machtund Herrschaftsrelation sowie den kultur-, standes- und berufsgebundenen Differenzierungen hervorgehenden Typisierungen stehen zwar in Korrespondenz zu den zeitspezifischen Affiliationen von Einzelnen und Gruppen, aufgrund der Spezifik der kolonialen Situation in den Kommunen stimmen sie in Hinsicht auf die tatsächlich präferierten zeitlichen Referenzsysteme und Handlungspraxen jedoch oft nicht mit diesen überein. Dies äußert sich insbesondere hinsichtlich der Mitglieder der Gruppierung der Kolonisierten, von denen, im Sinne wenig differenzierter, überkommener kultureller Charakterisierungen, insofern angenommen werden müsste, dass sie ›traditio-
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Weltzeit im Kolonialstaat
nelle‹, aus einheimischen Vorstellungswelten hervorgehende Zeitordnungssysteme vertreten würden. Wie im Folgenden noch deutlich werden wird, entsprachen jedoch viele von ihnen diesem Schema keineswegs und verfolgten vielmehr zeitliche Orientierungen, die entweder an der lokalen muslimischen Zeitordnung oder der Weltzeitordnung ausgerichtet waren. Ebenso waren auch die Vertreter der Kolonisierenden in vielen Fällen keine radikalen Anhänger einer rationalen und abstraktlinearen gedachten Weltzeitordnung und/oder förderten vielmehr die nicht-europäischen Zeitordnungen in der Kolonie. Zur Gliederung der verschiedenen zeitspezifischen Affiliationen der Akteure, die zur gesamtgesellschaftlichen Organisation der Zeit beigetragen haben, dient hier daher vielmehr die mit den religiösen bzw. philosophischen Affiliationen von Einzelnen und Gruppen einhergehende Verbundenheit zu bestimmten zeitlichen Referenzsystemen und Handlungspraxen. Religiös fundierte zeitspezifische Affiliationen stehen in enger Relation zu den zuvor diskutierten Kriterien zur Differenzierung der urbanen Bevölkerung der Kommunen, erlauben jedoch eine präzisere Darstellung der Konstitution der gesamtgesellschaftlichen Organisation der Zeit in den Kommunen. Dies äußert sich nicht zuletzt hinsichtlich des Kalenders, des prinzipiellen Mediums zur gesellschaftlichen Organisation der Zeit:41 »[E]ach of the major religions has its own calendar […] and it is almost as true to say that each calendar has its own religion.«42
2.1. Religiöse zeitliche Handlungspraxen im laizistischen Kolonialstaat Das sich vornehmlich auf Grundlage von religiösen Glaubensvorstellungen manifestierende und anhand von religiösen Trennlinien zu differenzierende Konglomerat verschiedener zeitlicher Referenzsysteme in den Kommunen wurde durch die von Säkularisierungsprozessen geprägte Haltung des Kolonialstaates beeinflusst und gefördert. Die Position des Kolonialstaates gegenüber der eigenkulturellen christlichen Religion war durch die diesbezüglichen Entwicklungen im französischen Mutterland vorgegeben. Der kolonialstaatliche Umgang mit den religiösen Affiliationen innerhalb der lokalen Bevölkerung ergab sich dagegen einerseits aus den Folgen der lange währenden Geschichte der lokalen kolonialen Präsenz und andererseits aus die koloniale Situation insgesamt betreffenden und sich eher auf föderalem Niveau abspielenden Überlegungen zum Umgang mit einheimischen Glaubensvorstellungen im Allgemeinen und islamischen im Speziellen.43 41 42 43
Zur Bedeutung des Kalenders als prinzipiellem Medium zur gesellschaftlichen Organisation der Zeit siehe Richards 1998: 5-7. Richards 1998: 6. Aufgrund der grundsätzlichen Polyvokalität lokaler Glaubenslehren und deren im Vergleich zu Islam und Christentum nur geringfügigen Bedeutung für die Ausrichtung der gesellschaft-
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Das seit Beginn des kolonialen Unternehmens als eigenkulturelles religiöses Referenzsystem agierende Christentum verfolgte grundsätzlich weitgehend eigenständige Riten, »die sich unabhängig vom europäischen Einfluss aus der islamischen und animistischen Tradition entwickelt haben.«44 Die im liturgischen Kirchenjahr begründeten Inhalte des gregorianischen Kalenders und korrespondierende zeitspezifische Handlungspraxen wurden infolge des Prozesses der ›Desakralisierung von Raum und Zeit‹ jedoch dennoch immer weiter zurückgedrängt und reduziert. Die Erosion des gesellschaftlichen Monopolanspruches, den die christliche Religion als Mittel sozialer Ordnung und Kontrolle standesgemäß einnahm, wie auch der Verlust eines Großteils ihrer Definitionsmacht über die gesellschaftliche Strukturierung von Zeit und Raum fand in der 1905 umgesetzten Laisierung Frankreichs dann vorerst einen Abschluss.45 Die Abwertung christlicher Religiosität zugunsten der neuen »Religion der Rationalität«46 entwickelte im zeitgenössischen Frankreich, der einzigen europäischen Nation, welche eine eindeutig säkulare Staatsverfassung übernahm47 , eine besondere Dynamik, die auch in den Kolonien auf fruchtbaren Boden traf. Denn die französischen Angestellten der Kolonialverwaltung waren zumeist antiklerikal eingestellt und standen den Missionierungsbemühungen der Kirche nur wenig wohlwollend gegenüber.48 Konflikte zwischen Administration und Kirche, die auch schon zuvor bestanden hatten, wie bspw. Streit um Finanzierungen und Zuständigkeiten, wurden infolge der Säkularisierung zugunsten der Vertreter der Kolonialverwaltung entschieden.49 Die Beschneidung der zeitspezifischen gesellschaftlichen Definitionsmacht der Kirche verdeutlicht sich dabei am Beispiel der Zuständigkeit für die Ausrichtung der bedeutenden Lebensabschnittsfeier der Hochzeit. Diese zuvor der Ägide der Kirche unterstehende Feierlichkeit wurde ihr 1909 zwar nicht gänzlich entrissen, Bürger der Kommunen konnten ein kirchliches Hochzeitsfest von nun
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lichen Organisation der Zeit in den Kommunen werden Haltung und Umgang der Kolonialherrschaft gegenüber den lokalen Glaubenspraxen hier nicht gesondert thematisiert. Die folgende Darstellung konzentriert sich vielmehr auf die kolonialherrschaftliche Politik gegenüber Islam und Christentum. Die in den Bereich der sogenannten politique indigène fallende koloniale Haltung zu lokalen Glaubenspraxen wird dabei jedoch nicht vollständig ausgeklammert. Die entscheidenden Aspekte der politique indigène werden vielmehr im Kontext der Entwicklung der französischen Islampolitik diskutiert, da diese der politique indigène in gewisser Weise vorausging und beide untereinander in ideologischer Korrespondenz stehen. Vgl. Glinga 1990: 415; Knibiehler/Goutalier 1985: 59. Entsprechend gab es in Saint-Louis und Gorée bspw. bis zum Beginn des 19. Jh. auch keinen ständig ansässigen christlichen Priester. (Vgl. Glinga 1990.: 414) Vgl. Loimeier 2001: 17. Glasner (1977) zit. in Loimeier 2001: 17. Vgl. Loimeier 2001: 14. Vgl. Johnson 1971: 108; Robinson 2000: 102. Vgl. Benoist 2008: 229f., 274-277.
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Weltzeit im Kolonialstaat
an jedoch nur noch abhalten, wenn zuvor die standesamtliche Trauung vollzogen worden war: »En 1909, le gouverneur général William Ponty décide que, pour les citoyens soumis aux dispositions du code civil, les ministres du culte ne peuvent célébrer le mariage que sur présentation d’un acte de mariage civil.«50 Die christliche Gemeinschaft in der Kolonie litt darüber hinaus insbesondere unter der »offensive antireligieuse«, die sich infolge der Säkularisierung insbesondere im öffentlichen Raum der vier Kommunen manifestierte. In einem Brief eines Kirchenvertreters aus dem Jahre 1905 beklagt sich dieser entsprechend über »produits immondes de la presse, de la gravure, de la photographie au profit de l’immoralité et de l’incrédulité«, die er auf das Wirken des Freimaurertums der Kolonie zurückführte.51 Das Christentum der Kolonie nahm in numerischer Hinsicht zeitlebens eine, in Hinsicht auf die Gesamtbevölkerung, nur allzu marginale Position ein und verbreitete sich auch innerhalb der Kommunen kaum über die soziokulturellen Grenzen der europäischen und kreolischen Kolonialgesellschaft hinweg aus.52 Die Säkula50 51 52
Ebd. : 279-280. Kunemann (1905) zit. in Benoist 2008: 278. In den Kommunen wurde die christliche Religion weniger von zugereisten Europäern als vielmehr von den ansässigen Kreolen wertgeschätzt, von deren Gemeinschaft es im Gegensatz zu den zumeist antiklerikal eingestellten europäischen Angehörigen der Kolonialadministration heißt, »the entire mulatto community passed to the church.« (Johnson 1971: 23) Als nicht im lokalen Kontext verankerte Glaubenslehre resultierte die geringe Ausbreitung der christlichen Religion des Weiteren in erster Linie aus den nur eingeschränkten Bemühungen zu ihrer Propagierung, welche wiederum als Konsequenz der im weiteren Verlauf erläuterten kolonialstaatlichen Haltung gegenüber dem Islam und lokalen Glaubensvorstellungen anzusehen ist. Christliche Missionierungsbemühungen waren zugunsten der zeitgenössischen Islampolitik vor allem auf die als nicht-muslimisch identifizierte Bevölkerung der Diola und Serer in den südlichen Regionen der Kolonie beschränkt. (Vgl. Robinson 2000: 78; Benoist 2008: 169-172) Die Restriktion der Missionierungsbemühungen folgte dabei einem Verständnis der lokalen religiösen Affiliationen, welches sich auf Basis von Reiseberichten und frühen ethnographischen Studien bereits seit Beginn des 19. Jh. herausgebildet hatte. Entsprechend sahen die Kolonialherren die im nördlichen Teil der senegalesischen Kolonialterritorien angesiedelten Gruppierungen (wie Wolof, Fulbe und Tukulor) als Anhänger der islamischen Glaubenslehre an. Sie wurden in der Folge einer speziellen Islampolitik unterordnet und den im Süden ansässigen Gruppierungen (wie Diola und Serer) gegenübergestellt. Als Vertreter lokaler Glaubenslehren, die von den Franzosen als Paganismus, Fetischismus und Animismus gekennzeichnet wurden, galten Letztere zunächst als ideale Zielgruppen für die christliche Missionierung. (Vgl. Robinson 2000: 77-78) Mit dem Niedergang des Assimilationsgedankens und der Ausprägung einer auf dem Gedanken der Assoziation beruhenden politique indigène kam es jedoch auch hinsichtlich dieses Teils der lokalen Bevölkerung zu einer weiteren Behinderung der christlichen Missionierungstätigkeit, da nun von einem generellen Respekt gegenüber den lokalen Traditionen ausgegangen wurde und Veränderungen der etablierten
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
risierung führte insofern zwar in einigen Bereichen, wie dem kolonialstaatlichen Bildungs- und Gesundheitssystem53 , zu einschneidenden Umbildungen, bewirkte jedoch keine größeren Einschränkungen der etablierten und auf die christliche ›Tradition‹ zurückzuführenden Bestandteile der gesamtgesellschaftlichen Organisation der Zeit. Die Begehung der Feierlichkeiten des liturgischen Kirchenjahres wurde von der lokalen christlichen Gemeinschaft in unveränderter Weise fortgeführt.54 Auf die christliche Religion zurückzuführende Muster der zeitlichen Organisation waren als Ausgangs- und Kulminationspunkt der Weltzeitordnung zudem in intrinsischer Weise55 in die Strukturierung des gregorianischen Kalenders eingeprägt und dienten – wie im folgenden noch aufgezeigt werden wird – somit trotz Säkularisierung über die gesamte Kolonialzeit hinweg zur kolonialgesellschaftlichen und kolonialstaatlichen Organisation der Zeit. Ungeachtet des bestehenden Antiklerikalismus und der Säkularisierungsbestrebungen entwickelte die Kolonialherrschaft in Hinsicht auf ihre Haltung und ihren Umgang mit der in der lokalen Bevölkerung verankerten islamischen Glaubenslehre eine Vorgehensweise, welche nicht auf die Abschaffung, sondern vielmehr auf die Beförderung der Religion und entsprechender zeitlicher Ordnungsprinzipien abzielte. Die entscheidende Grundlage für dieses Vorgehen stellte dabei die von den Kolonialherren als mehrheitlich der muslimischen Glaubenslehre angehörig identifizierte einheimische Bevölkerung im Umfeld ihrer Ansiedlungen und insbesondere in den für die koloniale Expansion vorgesehenen Territorien dar.56 Darüber hinaus bestand auch die nicht-europäische Bevölkerung innerhalb der Kommunen seit Mitte des 19. Jh. überwiegend aus Muslimen, deren großer Einfluss im Verlauf der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sogar die kolonialstaatliche Akzeptanz eines
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Lebensweise der lokalen Bevölkerung an sich als problematisch angesehen wurden. Siehe dazu im Folgenden. Vgl. Benoist 2008: 272, 274-276. Vgl. ebd.: 273. Einen der wenigen Versuche einer kompletten Neudefinition der etablierten Zeitordnung in den europäischen Gesellschaften stellte der bereits nach wenigen Jahren wieder abgeschaffte französische Revolutionskalender dar: »Im neuen republikanischen Jahr sollten die zwölf Monate gleich lang sein: 30 Tage, gegliedert in je drei Dekaden. Die fehlenden Tage seien als republikanische Festtage außerhalb der Monatszählung dem Jahr anzuhängen. Die dezimale Unterteilung setzte sich fort beim Tag, der aus 10 Stunden zu 100 Minuten bestehen sollte.« (Meinzer 1988: 24) Die in Korrespondenz zur Reform von Maßen und Gewichten unternommene Neubemessung des zeitlichen Ordnungssystems basierte zu einem Großteil auf antiklerikalen Argumentationen. Vermittels der »Rationalität des Kalenders“ (ebd. 25) sollte demzufolge ebenjene in die Zeitordnung eingeschriebene Religiosität getilgt werden. (Vgl. ebd.: 24-27) Vgl. Robinson 2000: 77-79.
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rechtlichen Sonderstatus für muslimische citoyens ertrotzen konnte. Die mehrheitlich muslimische Bevölkerung der Region und die zunächst aus einer marginalen Position heraus unternommenen Expansionsbestrebungen der Franzosen, welche nicht durchführbar erschienen, ohne zu einem gewissen Grade mit der einheimischen Bevölkerung zu koalieren, begründeten in der Folge eine partielle kolonialherrschaftliche Toleranz und Zusammenarbeit mit der muslimischen Bevölkerung. Die französischen Kolonialherren verfolgten insofern seit dem Beginn ihrer ersten großen territorialen Expansion in der Mitte des 19. Jh. eine Strategie der zweckmäßigen Kooperation und Instrumentalisierung der in den lokalen Gesellschaften vorherrschenden Religion, welche sich dann in den letzten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts zu einer ausgeprägten Islampolitik zu entwickeln begann.57 Die in die koloniale Situation in Senegal hineingetragene Haltung gegenüber dem Islam war dabei grundsätzlich stark von den Erfahrungen der Franzosen in Algerien beeinflusst.58 Aufgrund des westafrikanischen Widerstandes und der zahlreichen »ğihād-Bewegungen«59 , die sich im Verlauf der französischen Expansionsphase in der zweiten Hälfte des 19. Jh. gegenüber den im einheimischen Kontext etablierten Herrschaftsverhältnissen, aber auch wider die französische Intervention gerichtet hatten, entwickelten die Franzosen zunächst eine in erster Linie islamfeindliche Haltung.60 Die französische Haltung gegenüber dem Islam zeichnete sich insgesamt jedoch vielmehr durch Ambivalenz aus. Im Islam sahen die verantwortlichen Autoritäten entsprechend einerseits eine Gefährdung der kolonialen Herrschaft, andererseits aber auch »eine dem Christentum verwandte Religion […], deren führende Vertreter es für die französische Kolonialpolitik zu gewinnen galt.«61 Die über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg zu beobachtende zunehmende ›Islamisierung‹ der lokalen Bevölkerung wurde von den Kolonialherren daher nicht unterbunden: »Rather, they sought to channel the process, classify Muslims into ›tolerant‹ and ›fanatical‹ groups, and limit the influence of the latter.«62
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Vgl. ebd.: 79-94. Vgl. Loimeier 2001: 61-64. Ebd.: 59 Vgl. ebd.: 59-60. Ebd.: 57. Robinson 2000: 78. Die Gesellschaft der Wolof wurde in dieser Hinsicht bspw. als moderat angesehen, diejenige der Tukulor hingegen als fanatisch. (Vgl. ebd.: 79) Die Versuche zur Differenzierung zwischen akzeptierten und nicht akzeptierten muslimischen Gruppierungen und Erscheinungsformen des Islam spiegeln dabei auch die grundsätzlich ambivalente Haltung der Kolonialadministration gegenüber dieser Religion. In Anlehnung an Cantone oszillierte sie, je nach Gegenstand und Zielsetzung, zwischen den Extremen von »islamophobic“ und »islamophile“. (Ebd. 2012: 119) Vgl. auch Loimeier 2001: 57, welcher die französische Islampolitik des 19. Jh. als »zwischen assimilationistischen und segregationistischen Positionen“
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Die Maßnahmen zur Instrumentalisierung und Kanalisierung des Prozesses der Durchsetzung der islamischen Glaubenslehre waren letztlich in der kolonialherrschaftlichen Annahme begründet, dass der Islam gegenüber den als »paganism, fetishism, or animism«63 ausgezeichneten anderen lokalen Glaubenspraxen als Bestandteil einer fortschrittlicheren menschlichen Entwicklungsstufe anzusehen sei, welche die lokale Bevölkerung auf dem Weg zum Endzustand der europäisch definierten Zivilisation notwendigerweise zu überwinden hätte: »[I]n order to lead the fetishist indigenes to French civilisation they have to reach the state of Islamic evolution […].«64 Genuinen Ausdruck fand diese Vorstellung, als die sich entwickelnde Islampolitik durch den Beginn der systematischen wissenschaftlichen Islamforschung in den westafrikanischen Kolonialgebieten sowie der Gründung des Service des Affaires Musulmanes im Jahre 1913 erstmals eine institutionelle Grundlage bekam und durch Paul Marty eine Typologie lokaler Erscheinungsformen des Islam entworfen wurde, die zwischen Islam Noir und Islam Maure bzw. Islam Arabe unterschied.65 Entsprechend wurde propagiert, »[that] [t]he main section, Islam Noir, was […] operative in the sudan (›black‹) societies of West Africa. At its ›worst‹, or in its least ›Muslim‹ variants, it faded into the ›paganism‹ of societies to the south.«66 Vom Islam Noir wurde demzufolge angenommen, dass dieser stark durch Einflüsse lokaler westafrikanischer Glaubensvorstellungen geprägt sei und sich primär durch die einflussreiche Stellung der als Marabuts bezeichneten religiösen Anführer der lokalen Sufi-Bruderschaften und deren magische Praktiken auszeichne.67 Von der entgegengesetzten Variante des Islam Arabe wurde hingegen angenommen, diese würde in sehr viel stärkerem Grade mit der orthodoxen islamischen Glaubenslehre korrespondieren, sei militant und intolerant, aber nur innerhalb der lokalen maurischen Bevölkerung verbreitet.68 Das kodifizierte Schema der Varianten muslimischer Glaubenspraxis spiegelte insofern das zeitgenössische, durch Konzepte von Entwicklungsstufenmodellen geprägte rassistische Verständnis der französischen Kolonialherren, welches die lokalen Erscheinungsformen der muslimischen Glaubenspraxis als degenerierte Abwandlungen der muslimischen Glaubenspraxis des Mittleren Ostens einstufte.69
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oszillierende charakterisiert und eine ausführliche Diskussion der diesbezüglichen Entwicklungen bietet. Robinson 2000: 78. Marty (1920) zit. in Cantone 2012: 118. Vgl. ebd.: 119; Robinson 2000: 94. Ebd.: 95. Vgl. Loimeier 2001: 68. Vgl. Robinson 2000: 95; Loimeier 2001: 68. Entgegen der kolonialherrschaftlichen Typisierung sollten die lokalen Varianten des Islam vielmehr als gleichwertige Kulturleistung begriffen werden, die infolge der eigenständigen
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Die Kolonialadministration entwickelte im Lichte dieser neuen Perspektive auf den Islam eine Politik, die versuchte, den als Gefährdung für die koloniale Herrschaft eingestuften Islam Maure zurückzudrängen und Kontakte zur lokalen Erscheinungsform des Islam Noir zu unterbinden, um Letzteren vor negativen Beeinflussungen zu schützen.70 Da der Islam im Zuge der gewandelten Islampolitik jedoch vor allem auch als »Kulturbringer« angesehen wurde, der zur Entwicklung der afrikanischen Gesellschaften südlich der Sahara beigetragen habe, entwickelte sich zugleich auch die Idee zur Förderung des Islam Noir und der lokalen SufiBruderschaften.71 Das Schema markiert somit auch einen entscheidenden Übergang vom Assimilations- zum Assoziationsgedanken und steht in ideologischer Korrespondenz mit der sogenannten politique des races, welche vom in diesem Zusammenhang federführenden Generalgouverneur Merleaud-Ponty vornehmlich entworfen wurde, um die Bewahrung lokaler kultureller ›Traditionen‹ zu gewährleisten, in obigem Sinne zugleich jedoch auch der Einschränkung der Ausbreitung des orthodoxen Islam zugute kam:72 »Der ›fremde, arabische Islam‹ sollte zurückgedrängt werden, während die afrikanischen Religionen und der vom ›afrikanischen Fetischismus‹ beeinflußte Islam Noir gefördert werden sollten.«73 Das sich bereits mit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jh. abzeichnende partiell kooperative Vorgehen, welches zwischen einer islamfeindlichen und einer islamfreundlichen Haltung oszillierte, wurde so in eine institutionalisierte Form geprägt, die die zweckmäßige Aufrechterhaltung und den Respekt vor lokalen Formen des Islam wie auch anderer lokaler Glaubensvorstellungen und Lebensweisen zum Prinzip erhob. Für die praxisorientierten Kolonialbeamten vor Ort implizierte die Vorstellung der degenerierten Variante des lokalen Islam daher in erster Linie die Möglichkeit, diesen nach eigenen Vorstellungen formen zu können: »[L]’islam africain, encore à demi fétichiste, ne paraît pas mettre sérieusement en danger notre souveraineté, que notre devoir est de guider nous mêmes son évo-
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Entwicklungsgeschichte verschiedener Auslegungen der Glaubenslehre des Islam innerhalb unterschiedlicher lokaler Sufi-Bruderschaften zeitlebens durch eine große Vielfalt gekennzeichnet war. Zur Entwicklung des Sufismus in Senegal, den verschiedenen dort lokalisierten Bruderschaften und Unterschieden und Gemeinsamkeiten ihrer Glaubenspraxen siehe Behrman 1969: 111-116. Zu den bis heute bedeutendsten Sufi-Bruderschaften in Senegal zählen die »Tiğānīya“, die »Murīdīya“ und die »Qādirīya“. (Loimeier 2001 : 1-5) Vgl. ebd. : 65. Ebd. : 66. Vgl. Loimeier 2001 : 66-68. Ebd. : 68.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
lution vers des conceptions philosophiques et sociales favorables à notre action […].«74 Die als Grundlagen für die Handlungen und Vorgehensweisen der Kolonialverwaltung dienenden stereotypen Betrachtungsweisen75 begründeten somit eine Politik der Instrumentalisierung des Islam, die einen zweckdienlichen Respekt vor den Gebräuchen und Gewohnheiten der lokalen muslimischen Bevölkerung beinhaltete und eine tiefergehende Einmischung in deren Handlungspraxen ausschloss, solange diese dem kolonialen Unternehmen nicht unmittelbar zuwiderliefen: »[N]ous sommes obligés de ne point heurter de front la pensée et la foi de nos sujets quand celles-ci conservent un caractère exclusivement religieux […].«76 Beeinflussungen des Prozesses der Verbreitung der zeitspezifischen Handlungspraxen des Islam innerhalb der lokalen Bevölkerung verboten sich dabei insbesondere, da die Konvertierung zur islamischen Glaubenslehre aus Sicht der Kolonialherren auch mit der Annahme einherging, dass dadurch ein im Vergleich zu den anderen lokalen Glaubenslehren gesteigertes und intensiviertes Niveau von Zeit- und Arbeitsdisziplin erreicht werde. In der für die Unterscheidung von Islam Noir und Islam Arabe sowie auch für die politique des races richtungsweisenden Studie L’Islam et la politique musulmane en Afrique Occidentale Française des ersten Direktors des Bureau des Affaires Musulmanes, Robert Arnaud77 , betont dieser neben den positiven Auswirkungen des »goût intense de l’intellectualité« und des »sens de la cohésion«, welcher der Islam den »aborigènes mécréants« vermitteln könne, insbesondere auch den rationalen und disziplinierenden Charakter der Glaubenslehre: »[…] s’ils ne les gratifie pas du sens de la méthode, il leur donne le sens de la discipline.«78 Alain Quellien drückt sich in seiner Studie La politique musulmane en Afrique Occidentale Française, welche als Ergänzung von Arnauds Überlegungen angesehen werden kann79 , hinsichtlich der disziplinierenden Fähigkeiten des Islam nicht weniger optimistisch aus: »L’Islam a le double avantage de donner aux noirs un degré plus élevé de civilisation et une certaine discipline intérieure«80 und: »[L]’Islam, c’est la discipline et l’organisation de masses d’hommes.«81
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ANS 17G 39, Situation générale de l’islam en Afrique occidentale française, undatiert (1911), fol. 6. Vgl. Robinson 2000 : 95. ANS 10D 3-0025, Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Core, Circulaire. Surveillance de l’Islam. Création d’un répertoire du prosélytisme musulman en A.O.F., 22. September 1912, fol. 3. Vgl. Loimeier 2001: 65-66. Arnaud 1912: 6. Vgl. Loimeier 2001: 66. Quellien 1910: 90. Ebd.: 194.
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Die in diesen beiden richtungsweisenden Studien wiedergegebene Perspektive auf den Islam prägte auch die Verwaltungspraxis vor Ort bzw. entwickelte sich aus dieser heraus, da führende Vertreter wie Arnaud oder Marty die zeitgenössische französische Islampolitik aus ihrer Position als auch praktisch verantwortliche Kolonialbeamte in Übersee erarbeiteten und dem Generalgouverneur als Berater dienten.82 Entsprechend heißt es bereits in einem 1909 veröffentlichten Circulaire sur la politique indigène des Generalgouverneur Merleaud-Ponty über Muslime, diese seien »[p]lus souples, plus familiers avec notre manière de concevoir le principe de l’autorité, plus disciplinés, il faut dire […].«83
2.2. Die Zeitzählung im senegalesischen ›Kolonialkalender‹ Die nur eingeschränkten Möglichkeiten zur Einhaltung präziser zeitlicher Standards, die Unzulänglichkeiten der diesbezüglichen Verwendung von Uhren und die nur wenigen exakte zeitliche Angaben nutzenden uhrzeitspezifischen Handlungsgesellschaften dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die zeitliche Organisation des Kolonialstaates dennoch grundsätzlich nach den in zeitgenössischen europäischen Kontexten entwickelten zeitspezifischen Ordnungssystemen ausrichtete. Auf die Weltzeitordnung und die Zeitangabe per Uhr zurückgreifende Ordnungsmuster bestimmten auch die kolonialgesellschaftliche Zeitordnung. Sie dienten letztendlich zur zeitlichen Orientierung vermittels eines Kalenders, der auf einer Rhythmisierung des Jahreslaufes anhand der gregorianischen Kalenderzählung und dem christlichen Kirchenjahr beruhte. Die Etablierung einer auf der Weltzeitordnung basierenden kolonialgesellschaftlichen Zeitordnung konzentrierte sich dabei jedoch über die ganze Untersuchungsperiode hinweg in erster Linie auf die Siedlungsgebiete von Europäern und ist vor allem als urbanes Phänomen anzusehen: »Une autre conception du temps, de la semaine et de l’année est imposée en AOF par la loi, et par la pratique dans le champs urbain.«84 Der gesellschaftliche Alltag in den französischen Handelsniederlassungen und Vorposten an der senegalesischen Küste wurde dabei grundsätzlich von Beginn an durch aus Europa importierte Zeitordnungen strukturiert. Als die französischen Kolonialherren die vier bedeutendsten der mittlerweile zu Kleinstädten herangewachsenen Ansiedlungen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu einem Bestandteil des französisches Staatsgebiet in Übersee machten und anhand der Statuten des 82
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R. Arnaud arbeitete von 1905 bis 1914 im Zentralgouvernement in Dakar, im Jahre 1906, wie erwähnt, sogar als erster Direktor des Bureau des Affaires Musulmanes. (Vgl. Brasseur 1975: 39) P. Marty diente von 1912 bis 1921 als Direktor derselben, nun jedoch unter der Bezeichnung Service des Affaires Musulmanes firmierenden Verwaltungssektion. (Vgl. Loimeier 2001 : 397) ANS 17G 38, Gouverneur Général Ponty, Circulaire sur la politique indigène, 22. September 1909, fol. 3. Chatelier 1997: 816.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
französischen Kommunalwesens organisierten, hatte sich bereits eine elaborierte, am Modell der im zeitgenössischen Frankreich zur Anwendung kommenden Kalenderzählung orientierte kolonialgesellschaftliche Zeitordnung etabliert: »Le calendrier de la ville coloniale au Sénégal est marquée depuis longtemps par le temps européen, notamment par le calendrier chrétien.«85 Das sich in erster Linie auf Basis religiöser Trennlinien zwischen Christentum und Islam gliedernde Konglomerat urbaner zeitlicher Referenzsysteme bedingte jedoch, dass sich die zeitliche Organisation des Gesellschaftslebens in den Kommunen von Beginn an nicht ausschließlich nach dem gregorianischen Kalender ausrichtete, sondern zugleich auch die Zählung einer lokalen Variante eines islamischen Kalenders berücksichtigte. Die daraus resultierenden zeitspezifischen Verquickungen fanden spätestens zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jh. auch Eingang in lokale Kalenderdarstellungen. Die zur lokalen gesellschaftlichen Orientierung im Jahreslauf dienenden Kalender entsprachen dabei grundsätzlich denjenigen, die auch im zeitgenössischen Frankreich und anderen europäischen Nationen gebräuchlich waren. Im Europa der zweiten Hälfte des 19. Jh. wurden Kalendarien noch vornehmlich in Form sogenannter Volkskalender oder Volksalmanache86 , wie dem Almanach de Liège und dem Messager boiteux, verbreitet, welche neben dem zeitspezifischen Informationsgehalt auch weitergehende Angaben zu bspw. Astrologie, Astronomie, Meteorologie, Medizin oder aber auch nützlichem Alltagswissen enthielten.87 Neben diesen massenhaft propagierten Almanachen hatte sich insbesondere in Frankreich auch noch eine unüberschaubare Vielzahl von Almanachen zu unterschiedlichen Themenbereichen herausgebildet, die sich z.T. ausschließlich an eine bestimmte Berufsgruppe, Geschlecht oder Altersklasse richteten.88
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Ebd.: 815. Einige der Textpassagen in den folgenden Kapitelabschnitten (VII.2.2- VII.3.6.) beruhen auf Ausführungen, die in veränderter Form bereits in einem anderem Zusammenhang veröffentlicht wurden. Siehe Sprute, Sebastian: U(h)reigene Zeiten. Grenzen der Implementierung von europäischen Zeitnormen in Senegal, 1890-1930, in: Katja Patzel-Mattern u. Albrecht Franz (Hg.): Der Faktor Zeit. Perspektiven kulturwissenschaftlicher Zeitforschung. Stuttgart 2015, S. 77- 105, hier S. 88-99. Vgl. Mit dem Begriff Almanach wurde im zeitgenössischen Frankreich dabei ganz allgemein ein Kalender bezeichnet, der in seiner einfachsten Form Wochen- und Festtage, den Stand der Sterne und meteorologische Vorhersagen enthielt. (Vgl. Greilich 2004: 32, 186) Vgl. ebd.: 14-15. In einer sehr umfangreichen Bibliographie französischer Almanache und Kalender vom 17. bis 19. Jh. finden sich diesbezüglich insgesamt mehr als 3600 Einträge. (Vgl. Greilich 2004: 3435) Darunter »[n]eben den sogenannten administrativen Almanachen und den ›almanachs d’agriculture et de jardinage‹ solche, in deren Zentrum ›Amour et mariage‹, ›Commerce et corporations‹, ›Décorations et ordre‹, ›Découvertes et inventions‹, ›Jeux et loterie‹, ›Médecine et chirurgie‹, ›Mode et costumes‹, Politik oder auch das Theater standen – um nur einige Bei-
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In Senegal wurden für den lokalen Gebrauch konzipierte Kalender spätestens seit 1861 von der Imprimerie du Gouvernement in Saint-Louis hergestellt und als zentraler Bestandteil in das im Vorjahr erstmals veröffentlichte Jahrbuch der Kolonie, das Annuaire du Sénégal et Dépendances, integriert.89 Letzteres kann als Variante der von den Volksalmanachen abzugrenzenden administrativen Almanache oder Jahrbücher angesehen werden und beinhaltet dementsprechend eine Art von Staatsoder Amtskalender, der neben kalendarischen Angaben vor allem Informationen über die Verwaltung enthält, darunter z.B. einen Adresskalender der staatlichen Ämter und Beamten und eine Chronologie aller Gouverneure der lokalen Kolonialterritorien seit 1626.90 Aufbau und Gestaltung der Kalenderdarstellung im Annuaire du Sénégal et Dépendances gleichen im Grundsatz den im Zuge der Entwicklung der Textgattung des Almanach etablierten Kriterien der Kalenderdarstellung und basieren auf einer in Monate untergliederten Darstellung des Jahreslaufes, die neben den einzelnen Tagen des Monats auch Namens- und Festtage auszeichnete und auch Angaben zum Sonnenstand und Mondumlauf enthielt.91 Neben dieser europäischen Vorbildern entsprechenden grundlegenden Strukturierung bestand die Besonderheit der kalendarischen Übersichten in den Jahrbüchern der senegalesischen Kolonialterritorien darin, dass sie eine zweigeteilte Darstellung, die neben der gregorianischen Zählung auch die Zählung der lokalen
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spiele zu nennen.« Andere Almanache präsentierten sich als Sammlungen von »Anekdoten, Schwänken, Bonmots oder Liedern.« (Ebd.) Vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861: 5ff. Spätestens seit 1872 bot die Imprimerie du Gouvernement dann auch separate Kalender an, die in der Verkaufsstelle der Druckerei in Saint-Louis oder dem Postamt von Gorée erworben werden konnten. (Vgl. Moniteur du Sénégal et Dépendances N° 878 vom 31. Dezember 1872) Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861 : 49ff. Insbesondere die Chronologie der Gouverneure aber auch die eingangs erwähnte Zusammensetzung der »[f]amille impériale“ (vgl. ebd.:25) verweist dabei auf die Nähe zu den zeitgenössischen administrativen Almanachen Frankreichs, welche im 18. Jh. aus sogenannten höfischen Almanachen hervorgingen, die sich wiederum insbesondere durch die Wiedergabe von administrativen Verhältnissen und Herrscherlisten auszeichneten. Siehe dazu Greilich 2004: 37f. Zu einer beispielhaften Darstellung dieser für Kalenderdarstellungen in Almanachen des 18. und 19. Jh. grundlegenden Gestaltungskriterien siehe Greilich 2004: 67f., 120f. Neben ihrem zuvorderst administrativen Charakter unterscheidet sich die Kalenderdarstellung im Annuaire du Sénégal et Dépendances insbesondere durch ihr von fast allem volkstümlichen und astrologischen Beiwerk befreites Design von den Volksalmanachen. Ein Umstand, der wiederum auf die Zunahme und Einflussnahme von aufklärerischem Gedankengut auf die Definition und Darstellung der Zeit in den zeitgenössischen europäischen Gesellschaften zurückzuführen ist. Entsprechend Greilich führte die »Forderung der Aufklärer nach Abschaffung der Horoskope und Geburtszeichen, nach Aufnahme aufgeklärter medizinischer und landwirtschaftlicher Ratschläge und nach moralischer Unterweisung der Kalenderleser“ (ebd.: 15) im ersten Viertel des 19. Jh. zu einem profunden Wandel der Kalenderdarstellungen in Almanachen.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Konzeption des islamischen Mondkalenders abbildete und beide untereinander in Bezug setzte, verfolgten.92 Diese Inkorporation der islamischen Zeitordnung in einen gemeinsamen Kalender blieb über den gesamten Erscheinungsverlauf des Annuaire du Sénégal et Dépendances von 1860 bis 1902 in nahezu unveränderter Weise bestehen.93 Die Praxis kann insofern als ein Ausdruck der Anerkennung und des kolonialherrschaftlichen Willens zur Kooperation mit der lokalen muslimischen Bevölkerung angesehen werden, der den Zielsetzungen der in dieser Periode vorherrschenden Expansionspolitik entsprach und auf ein zweckmäßiges Bündnis mit den als moderat eingestuften muslimischen Gesellschaften der Region abzielte. In der ab 1903 herausgegebenen Nachfolgepublikation, die unter dem Titel Annuaire du Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française als Jahrbuch für die gesamte Föderation Französisch-Westafrikas diente, wird dann auch ein gänzlich anderer interner Aufbau verfolgt, der weder für die Kolonie Senegal noch für eine andere Teilkolonie der Föderation kalendarische Angaben enthielt.94 Ein Umstand, der entsprechend obiger Lesart wohl vor allem der Tatsache Rechnung schuldet, dass die Franzosen sich eine unumstößliche Vormachtstellung erarbeitet hatten, die derartige Zugeständnisse an die lokale Bevölkerung nicht mehr notwendig erscheinen ließ. Die noch zwischen 1861 und 1902 in den ›Kolonialkalender‹ des Annuaire du Sénégal et Dépendances integrierte muslimische Kalenderzählung wurde dagegen aus der im lokalen Umfeld der Kommunen prädominant ansässigen Gesellschaft der Wolof übernommen, was einerseits erklärt, weshalb teilweise auch zeitspezifische Bezeichnungspraxen aus der Sprache der Wolof in den Kalender mit eingeflossen
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Vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861: 5ff. Die Darstellung der den zwölf Monaten des Jahres zugeordneten Kalenderblätter blieb inhaltlich über die gesamte Zeitspanne gleich (vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861: 11-22, 1902: 6-17), lediglich der dem Kalender beigestellte Informationsgehalt erweiterte sich über die Zeit. Ab 1884 kam neben der Auflistung der beweglichen Feiertage des Kalenders auch eine Rubrik hinzu, in der die in Frankreich verfolgten kalendarischen Feste separat aufgelistet wurden. (Vgl. ebd. 1884: 17) Spätestens ab 1889 werden in der Kalenderdarstellung zudem auch die Daten der 1886 in Frankreich eingeführten Oster- und Pfingstferien angegeben (Vgl. ebd. 1889: 18) und spätestens ab 1895 wird auch ein für die Küste vor Saint-Louis berechneter Gezeitenkalender hinzugefügt. (Vgl. ebd. 1895: 18-23) Neben zeitspezifischen Informationen werden spätestens ab 1884 bspw. auch Informationen zur genauen geographischen Lage von Saint-Louis oder eine Erläuterung der schriftlichen Abkürzungszeichen für Ordensauszeichnungen in den Anhang des Kalenders integriert (Vgl. ebd. 1884: 18), was wiederum auf die informative Ausrichtung der Textgattung des administrativen Almanach zurückzuführen ist, in dessen Kontext die Kalenderdarstellung hier steht. Vgl. Annuaire du Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1903, Abschnitt zur Kolonie Senegal ab S. 259.
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sind und andererseits die große Bedeutung der Wolof als prinzipielle lokale Interaktionspartner der Kolonialherren widerspiegelt. Astronomisch berechnete Zeit diente im Kontext der kalendarischen Zeitzählung ebenso wie in den zeitgenössischen Kommunen Frankreichs als Grundlage zur Berechnung der bürgerlichen Zeitordnung, darüber hinaus wurde diese in den senegalesischen Überseeterritorien jedoch auch zur Kalkulation der zeitspezifischen Diskrepanzen zwischen der gregorianischen und der lokalen islamischen Zählung herangezogen. Der senegalesische ›Kolonialkalender‹ basierte trotzdem auf einer klassischen zeitgenössischen Darstellungsweise und beinhaltete einen auf uhrzeitspezifische Zeitangaben ausgerichteten standardisierten Informationsgehalt. Dies beinhaltete zeitlich präzise Angaben über den astronomischen Beginn der vier Jahreszeiten, die Zeitpunkte von im entsprechenden Jahr stattfindenden Sonnen- und Mondfinsternissen sowie auch die genauen Kalendertage für die Ausrichtung der beweglichen Feiertage des katholischen Kirchenjahres und eine Erläuterung der zeitlichen Umrechnung zwischen islamischem Mondkalender und gregorianischem Kalender.95 Die folgende Abbildung des Kalenderblattes vom Januar 1861 verdeutlicht die vergleichende Kalenderdarstellung zwischen der gregorianischen Zählung auf der linken Seite und der auf der rechten Seite abgebildeten und mit zeitspezifischen Bezeichnungspraxen der Wolof versehenen Zählung des korrespondierenden Jahres 1277 im islamischen Kalendersystem.96 Die lokale Kalenderdarstellung versuchte, die Unterschiede der zeitlichen Ordnung zwischen der gregorianischen Zählung und der lokalen Variante einer islamischen Zeitzählung innerhalb eines gemeinschaftlichen, auf die von den Europäern angestrebte Ordnung der Zeit ausgerichteten Schemas zu vereinheitlichen. Die Darstellung beinhaltet daher neben den übergestellten Bezeichnungen für den jeweiligen Monat in Französisch, Wolof und gallisiertem maurischen Dialekt auch eine vergleichende Darstellung der Wochentags-Namen im Französischen und im Wolof sowie ergänzende Informationen über den astrologischen Sonnenstand, katholische Namenstage und minutengenaue Angaben zu den täglichen Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangszeiten und den Mondphasen.97 Die
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Vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861 : 5-11. Die islamische Zeitrechnung nimmt das in der islamischen Glaubenslehre festgelegte Jahr der Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina, welche entsprechend der gregorianischen Kalenderzählung im Jahr 622 n. Chr. stattfand, als rechnerischen Ausgangspunkt der Jahreszählung. (Vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861: 9) Die in der letzten Zeile der Kalenderdarstellung niedergelegten Kürzel bezeichnen die einzelnen Abschnitte eines Zyklus des Mondmonats, hier beginnend mit dem abnehmenden Halbmond (D.Q., d.h. dernier quartier), Neumond (N.L., d.h. nouvelle lune), zunehmendem Halbmond (P.Q., d.h. premier quartier) und Vollmond (P.L., d.h. pleine lune). Eine vergleichen-
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Abbildung 9 – Kalenderblatt aus dem Annuaire du Sénégal et Dépendances (1/1861).
Aus : Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861 : 11.
primär dichotome Struktur kann die durch die sehr heterogene Bevölkerungszusammensetzung der Kommunen zweifellos sehr komplexe und vielfältige Wirklichde Übersicht der Bezeichnungen von Wochentagen und Monatsnamen in Französisch und Wolof findet sich im folgenden Kapitel VII.2.5.
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keit der tatsächlich zur zeitlichen Organisation herangezogenen kalendarischen Referenzsysteme jedoch nur ansatzweise widerspiegeln.98 Die in die lokale Kalenderdarstellung übertragene Verquickung verschiedener zeitlicher Referenzsysteme innerhalb der Kalenderzählung der Wolof selbst sahen die Kolonialherren darin begründet, dass jene Elemente der islamischen Kalenderzählung und Glaubenslehre in unvollständiger Weise in ihre eigenen zeitlichen Ordnungen und Handlungspraxen übernommen hätten. Die Übernahme des islamischen Kalenders durch lokale Bevölkerungsgruppen wie die Wolof wurde entsprechend damit in Zusammenhang gebracht, dass es diesen an einer vergleichbar elaborierten Geschichtsschreibung und Zeitkultur mangele und sie ihre eigene Vorgeschichte daher an diejenige der Muslime anknüpfen ließen: »Les noirs non musulmans du Sénégal comptent aussi par mois lunaires, et faute d’une ère qui leur soit propre, ils se servent de l’ère musulmane depuis qu’ils sont en contact avec les musulmans. Leurs fêtes, dont plusieurs étaient peut-être antérieures à l’islamisme, coïncident aujourd’hui avec les fêtes de cette religion.«99 Obwohl der genaue Zeitpunkt und eine hinlängliche Erklärung des zeitspezifischen Transformationsprozesses ausblieben, dominierte insofern bereits in der Mitte des 19. Jh. die Annahme, dass die Struktur und Aufteilung ihres Jahreslaufes sowie auch die Bedeutung ihrer wichtigsten jahreszeitlichen Feste weitgehend mit der zeitlichen Gliederung und den Bedeutungsinhalten der vornehmlich sakralen Zeitauffassung des islamischen Mondkalenders korrespondierten: »Les Wolofs ont un calendrier qui contient les jours de la semaine, les mois de l’année et les grandes fêtes de la religion de Mohamet.«100 Der zeitgenössische Kolonialbeamte, Ethnograph und Orientalismus-Experte Maurice Delafosse, der sich in der Folgezeit als einer der ersten auf wissenschaftliche Art und Weise mit den lokalen Kalendarien auseinandersetzte, kam noch in den 1920er Jahren zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Die Kalendarien der einheimischen Bevölkerungen Französisch-Westafrikas, d.h. insbesondere Bezeichnungspraxen von monatlichen und wöchentlichen Ordnungen, aber auch die damit korrespondierende zeitliche Rhythmisierung wurden demzufolge in vielen Fällen mit einer islamischen Kalenderzählung in Übereinstimmung gebracht.101 Auch viele
98 Siehe dazu auch im folgenden Kapitel VII.2.3. 99 Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861:8. 100 Boilat 1853: 357. Zur zeitgenössischen Perspektive auf die Übernahme von Aspekten des Islam in die Kalendarien der lokalen Gesellschaften siehe Marty 1917: 193-198, zur Übernahme von Bezeichnungspraxen siehe ANS 13G 67, Marty, P.: L’Islam au Sénégal, L’Islam dans les coutumes sociales, 15. August 1915, fol. 53-57. 101 Vgl. Delafosse 1921: 105.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
einheimische Bevölkerungsgruppen, die keinerlei tiefergehende Affiliationen zur Kultur und Religion des Islam aufwiesen, seien diesem Prozedere gefolgt.102 Obwohl im Verlaufe dieses Prozesses zahlreiche zuvor gebräuchliche lokale Bezeichnungspraxen verlorengegangen seien oder durch arabische bzw. der arabischen Aussprache ähnliche Ausdrücke überlagert wurden, betont Delafosse den oftmals nur oberflächlichen Charakter dieser zeitspezifischen Angliederung, welche über die Angleichung der Bezeichnungspraxen hinaus keine Übereinstimmungen mit der in der arabischen Sprachwelt dominierenden Religion des Islam aufweisen würde: »Dans l’ensemble de l’Afrique Occidentale Française […] il y a à peine un musulman sur sept indigènes et bien rares sont les peuples qu’on puisse dire acquis en totalité ou même en majorité à l’islamisme. D’une façon générale, il n’y a que les commerçants et les citadins qui […] soient réellement musulmans; les agriculteurs, les paysans, qui constituent l’immense majorité de la population, sont demeurés païens ou bien, s’ils ont parfois accepté la profession de foi musulmane, ils n’en ont pas moins constitué à demeurer fidèles aux rites et aux croyances de la vielle religion agraire.«103 Der Großteil der grundsätzlich eigentlich eher geringen Anzahl von Muslimen innerhalb der einheimischen Gesamtbevölkerung Französisch-Westafrikas sah sich, entsprechend dieser Perspektive, durch einen grundlegenden Mangel an religiöser Ernsthaftigkeit geprägt und zeichnete sich vielmehr durch eine noch in überlieferten lokalen agrarischen Glaubenswelten verhaftete Lebensweise aus. In zeitspezifischer Hinsicht verdeutlicht Delafosse dies am Beispiel der »Mandingue (Malinké, Bambara, Dioula)«-Sprachfamilie104 , welche zwar lokale Bezeichnungen hervorgebracht hatte, die zur Benennung der Monate in einem offensichtlich an der islamischen Zählung orientierten Kalendersystem herangezogen würden, darüber hinaus jedoch keine weiteren inhaltlichen Bezüge zum vornehmlich sakral gedeuteten muslimischen Jahreslauf aufbauten und in ihrer Bedeutung viel eher die Belange eines am Sonnenlauf orientierten lokalen Agrarkalenders widerspiegelten: »Aucune de ces expressions ne se rapporte en quoi que ce soit à l’une des époques de la vie religieuse musulmane, tandis que chacune d’entre elles rappelle un acte de la vie religieuse des adorateurs de la terre ou un phénomène de la vie du sol lui-même ou encore une circonstance de la vie agricole.«105
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Vgl. ebd.: 106. Ebd. : 106-107. Ebd.: 108. Ebd.
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Die von Delafosse angeführte Vermischung von zeitspezifischen Bezeichnungspraxen, die sich einerseits aus spezifisch lokalen Zusammenhängen und andererseits aus muslimisch geprägten Kontexten speisten, kennzeichnet letztendlich auch die im Kolonialkalender seit der Mitte des 19. Jh. verbürgte Praxis der Darstellung der von der Gesellschaft der Wolof verfolgten Zeitordnung. Delafosses Interpretation und die hybride Anordnung von muslimischen und aus dem einheimischen Kontext entnommenen Elementen der Zeitzählung innerhalb des kolonialstaatlichen Kalenderschemas spiegeln dabei das zeitgenössische Verständnis von menschlicher Entwicklungsgeschichte und den lokalen Erscheinungsformen des Islam Noir. Entgegen der hier dargestellten Perspektive sollten die Kalenderzählung und die Zeitordnung der Wolof und anderer lokaler Gesellschaften jedoch nicht als degenerierte Varianten der islamischen Kalenderzählung angesehen werden, sondern vielmehr als eigenständige und gleichwertige kulturelle Entwicklungsleistungen anerkannt werden. Die genauen Umstände der Übernahme der muslimischen Kalenderzählung durch die Wolof bleiben darüber hinaus bis in die heutige Zeit hinein unbestimmbar.106
2.3. Der heterogene Festkalender der urbanen Gesellschaft Die sich primär nur als hybride Melange zwischen christlichem und muslimischem Zeitrechnungssystem darstellende Zählung des senegalesischen ›Kolonialkalenders‹ wurde auf Ebene der gelebten Zeitpraxis des Festkalenders der urbanen Gesellschaft in den Kommunen durch ein Konglomerat zusätzlicher annueller Feste und Feiern erweitert, die in verschiedenen anderen lokalen zeitlichen Referenzsystemen begründet waren. Jene konstituierten sich einerseits aus jahreszeitlichen Festivitäten, die nicht in die auf religiöse Zeiteinteilungen basierende Darstellung des senegalesischen ›Kolonialkalenders‹ mit einbezogen wurden, jedoch ebenfalls religiös fundiert waren und auf lokalen Glaubensvorstellungen und entsprechenden Kalendarien beruhten sowie andererseits auch aus genuin kolonialgesellschaftlichen jahreszeitlichen Feiern, die sich in einer Art von kommunalspezifischem Festkalender niederschlugen. In den sehr heterogen zusammengesetzten urbanen Gesellschaften kulminierten insofern nicht nur Rhythmen, die sich im gregorianischen und islamischen Kalender ausdrückten, in einer hybriden Anordnung, sondern zusätzlich auch noch unterschiedliche, im jeweiligen lokalen Kontext verortete zeitspezifische Strukturmomente, die entsprechend der uneinheitlichen historischen Entwicklungsgänge und der ungleichen Bevölkerungszusammensetzung der Kommunen von Ort zu Ort variieren
106 Zur langen Geschichte der Übernahme der muslimischen Glaubenslehre durch die Wolof siehe Behrman 1969: 102-111; Cruise O’Brien 1971: 19-35.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
konnten. Alle nicht-europäischen kalendarischen Referenzsysteme und Handlungspraxen wurden von den kolonialstaatlichen Autoritäten zwar letztendlich den Rhythmen des gregorianischen Kalenders unterstellt, der Widerhall und Einfluss der Kalendarien der ›Anderen‹ auf die gesellschaftliche Organisation der Zeit in den Kommunen war dennoch über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg von nicht zu unterschätzender Tragweite. Der Festkalender der urbanen Gesellschaft wies einen grundsätzlich hybriden Charakter auf, wurde aber in erster Linie durch die im gregorianischen Kalendermodell des Kolonialstaates integrierten christlich-katholischen Feiertage strukturiert. Die legislativen Grundlagen für die Übertragung von zentralen, in Frankreich zu staatlichen Feiertagen erklärten religiösen Festtage in die Überseeterritorien blieben dabei jedoch lange Zeit unklar und diffus. Fehlende diesbezügliche Bestimmungen führten Kolonialbeamte in Senegal daher noch in den 1930er Jahren zu unterschiedlichen Einschätzungen darüber, ob ein bestimmtes religiöses Fest nun als regulärer Arbeitstag angesehen werden müsse oder einen staatlichen Feiertag darstelle und insofern bspw. mit einer Brückentagsregelung verbunden war.107 Die Frage danach, ob die religiösen Feste von Christi Himmelfahrt, Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen und Weihnachten, die in Frankreich seit 1802 als staatliche Feiertage galten (und darüber hinaus auch die weltlichen Feiertage von Neujahr und Nationalfeiertag, s.u.), auch in den Überseeterritorien als gesetzliche Feiertage anzusehen seien, wurde letztendlich erst infolge einer Intervention des Überseeministers aus dem Jahre 1953 endgültig geklärt. Als Reaktion auf Anfragen, die ihm hinsichtlich der »fêtes légales applicables dans les Territoires« und dem »régime général il convient d’appliquer aux jours fériés« gestellt wurden, erklärte dieser, dass aus den »termes de la loi du 23 décembre 1904 applicable aux ›Colonies’« resultiere, dass die genannten Feiertage »doivent être des jours fériés Outre-Mer comme dans la Métropole, bien que les textes susvisés instituant ces fêtes légales n’aient pas été expressément étendus Outre-Mer.«108 Unter den zentralen christlich-katholischen Feiertagen wurden darüber hinaus nur Ostern und Pfingsten infolge einer expliziten gesetzlichen Autorisierung vom 8. März 1886 für die Anwendung in den Kolonialterritorien freigegeben.109
107 ANS 18G 144 (108), Note au sujet des jours fériés pour Monsieur le Directeur, 6. Dezember 1932, fol. 1-12; Direction du personnel et de la comptabilité, Note concernant les fêtes légales et notamment le ›pont‹ du Lundi ou du Samedi, lorsqu’un jour férié tombe un mardi ou vendredi, undatiert (ca. 1932), fol. 1-3. 108 ANS 17G 425 (126), Ministère de la France d’Outre-Mer, Circulaire N°4626, Objet : Fêtes légales, 22. Juni 1953, fol. 1. 109 Vgl. ebd. Die Tatsache, dass die Feiern als für die Anwendung in den Kolonien gültig erklärt wurden, reichte jedoch nicht aus, um sie in effektiver Weise umzusetzen, vielmehr bestand die Notwendigkeit, diese zuvor vom Gouverneur veröffentlichen und legalisieren zu lassen. (Vgl. ANS 18G 144 (108), Direction du personnel et de la comptabilité, Note concernant les
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Trotz der fehlenden legislativen Grundlage fanden die im religiösen Kontext situierten metropolen Feiertagspraktiken dennoch Eingang in den senegalesischen ›Kolonialkalender‹. Der für die zu dieser Zeit noch keinen Kommunalstatus einnehmenden Kolonialstädte Saint-Louis und Gorée relevante ›Kolonialkalender‹ von 1861 listet über die fixen religiösen Feiertage hinaus bspw. die Termine folgender beweglicher christlicher Feiertage auf: Fastensonntag (d.h. der dritte Sonntag vor Beginn der Passionszeit), Aschermittwoch, Ostern, die Bitttage (d.h. die letzten drei Tage vor Himmelfahrt), Christi Himmelfahrt, Pfingsten, der Dreifaltigkeitstag (d.h. der erste Sonntag nach Pfingsten), Fronleichnam und der erste Advent.110 Wobei sich hier eine Vielfalt religiöser zeitlicher Strukturmomente äußert, die derjenigen der Festkalendarien zeitgenössischer französischer Kommunen in nichts nachstand. Zusätzlich zu den zentralen christlich-katholischen Festtagen nahmen jedoch auch Feiern von Heiligen und Namenspatrons, weltliche Feiertage wie Neujahr111 und patriotische Feste wie der seit 1880 begangene französische Nationalfeiertag am 14. Juli112 , die 1920 eingeführte »fête nationale de Jeanne d’Arc« am zweiten Sonntag im Mai113 und die seit 1922 auf den 11. November fixierte Siegesfeier zum
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fêtes légales et notamment le ›pont‹ du Lundi ou du Samedi, lorsqu’un jour férié tombe un mardi ou vendredi, undatiert (ca. 1932), fol. 2.) Vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861 : 6. Vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861 : 6. Neujahr wurde in Frankreich am 23. März 1810 zum gesetzlichen Feiertag erklärt, fiel aber unter die zuvor genannte Einschränkung, erst 1904 inoffiziell als für die Anwendung in den Kolonialgebieten legalisiertes Fest anerkannt worden zu sein. Die in Frankreich seit dem 6. Juli 1880 bestehende Regelung zur Ausrichtung des Nationalfeiertages am 14. Juli fiel für den Überseeminister, im bereits erwähnten Rundschreiben aus dem Jahre 1953 trotz fehlender legislativer Übertragbarkeit nicht unter die durch das Gesetz von 1904 indirekt legalisierten Feiertage. Es findet sich diesbezüglich jedoch schon 1932 eine Argumentation, die der des Kolonialministers ähnelt und deklariert, dass das zugrundeliegende Gesetz von 1880 schon durch seine Formulierung auf dessen Anwendbarkeit in den Kolonien verweise: »[B]ien que non étendu, expressément aux colonies, cette loi doit, de par sa rédaction, être considérée comme s’y appliquant, de plano.« (ANS 18G 144 (108), Direction du personnel et de la comptabilité, Note concernant les fêtes légales et notamment le ›pont‹ du Lundi ou du Samedi, lorsqu’un jour férié tombe un mardi ou vendredi, undatiert [ca. 1932], fol. 1.) Die Argumentation von 1932 lässt darauf schließen, dass die Beamten in Übersee hinsichtlich der Ausrichtung des Nationalfeiertages auch schon zuvor eine vergleichbare Haltung eingenommen hatten. Es finden sich zumindest zahlreiche Belege für eine bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. einsetzende regelmäßige Begehung des französischen Nationalfeiertages in Senegal. Siehe dazu im Folgenden. ANS 18G 144 (108), Note au sujet des jours fériés pour Monsieur le Directeur, 6. Dezember 1932, fol. 12.
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Ende des Ersten Weltkrieges114 , einen zentralen Platz im Jahreslauf der städtischen Zeitorganisation ein.115 Zu diesem Konglomerat von kalendarischen Feiertagen aus dem christlichen und republikanischen Kontext gesellten sich die vier zentralen annuellen muslimischen Feiertage der Wolof, Tamkharet, Gamou, Korité und Tabaski, die hinsichtlich ihrer Bedeutungsinhalte mit den zentralen jahreszeitlichen Festen der überlieferten islamischen Glaubenspraxis übereinstimmten.116 Tamkharet korrespondierte demzufolge mit dem verschiedene religiöse Bedeutungsinhalte inkorporierenden ʿāšūrāʾ-Tag und wurde am zehnten Tag des ersten islamischen Monats ausgerichtet, Gamou kongruierte mit dem Fest zum Geburtstag des Propheten Mohammed (maulid an-nabī oder mīlād, zwölfter Tag des fünften islamischen Monats), Korité mit dem Fest zum Ende der Fastenzeit (ʿīd ul-fiṭr, erster Tag des zehnten islamischen Monats) und Tabaski schließlich mit dem Opferfest (ʿīd ul-aḍḥā, zehnter Tag des zwölften islamischen Monats).117 Ergänzend dazu bereicherten zusätzlich auch noch auf lokaler Ebene verortete, z.T. in einheimischen Glaubenspraxen begründete Festtage (im Falle von SaintLouis bspw. Tanebeer, eine Zeremonie zur Beschwichtigung von immateriellen Wesen und Simb, eine Art Karneval118 ) und ebenso im lokalen Kontext begründete genuin kolonialgesellschaftliche Festivitäten (bspw. Fanal, ein karnevalesker Laternenumzug, welcher zwar in Saint-Louis seinen Ursprung nahm, jedoch nicht wie bspw. Rawante gaal, eine alljährliche Regatta auf dem Fluss Senegal, nur innerhalb dieser Kommune gefeiert wurde119 ) den ›Kolonialkalender‹. Des Weiteren finden sich auch noch Gedenkfeiern, die im Zusammenhang mit der Errichtung von Monumenten und Gedenktafeln spezifische Momente der französischen Kolonialgeschichte in die kollektive Erinnerung einschreiben sollten, wie bspw. die Feiern anlässlich des 1929 in Dakar eingeweihten Monuments zu Ehren der im Ersten Weltkrieg getöteten afrikanischen Soldaten.120 Das Nebeneinander von auf dem Sonnenumlauf beruhenden Berechnungen des Jahreslaufes, wie denjenigen, die dem auf der gregorianischen Zählung beruhenden ›Kolonialkalender‹ zugrunde lagen, sich aber auch in lokalen Agrarkalendarien widerspiegelten und primär auf dem Mondumlauf beruhenden Kalkulationen
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Ebd. fol. 1. Vgl. Chatelier 1997: 815ff.; Coquery-Vidrovitch 1999: 202f. Vgl. Delafosse 1921 : 106-108. Vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861 : 8; Marty 1917 : 193; Schimmel 2001 : 38f., 64, 109f., 128f.; siehe auch Chatelier 1997 : 819, Fußnote 10. Orthographie der Arabischen Begriffe nach Schimmel 2001. 118 Vgl. Dramé 1995: 30-37. 119 Vgl. Dieng 1999: 37ff. 120 Vgl. Coquery-Vidrovitch 1999: 202f.
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des Jahreslaufes, welche die lunisolare Konzeption des islamischen Kalenders bestimmten, führte in den muslimischen und den in lokalen Glaubenspraxen verankerten Bevölkerungsgruppen dazu, dass bedeutende jahreszeitliche Festlichkeiten doppelt gefeiert wurden.121 Europäer verhielten sich diesbezüglich zumeist etwas restriktiver. Korité und Tabaski, die mitunter bedeutendsten islamischen Feiertage wurden jedoch spätestens seit 1911 auch als allgemeine schulische Ferientage ausgezeichnet122 , was belegt, dass an diesen Tagen auch die alltäglichen zeitlichen Routinen der Europäer unterbrochen wurden. Da für die oft isoliert lebenden europäischen Mitglieder zudem nahezu jedwede Ablenkung vom oft eintönigen Alltagsgeschehen einen generell beliebten Zeitvertreib darstellte123 , derartig außergewöhnliche Ereignisse im Jahreslauf selten waren und den öffentlich abgehaltenen Feierlichkeiten innerhalb der insgesamt nur kleinen und mehrheitlich muslimischen Stadtbevölkerung nur schwer zu entgehen war, ist darüber hinaus anzunehmen, dass sie zumindest die islamischen Festivitäten nicht vollständig ignorieren konnten.124 Trotz lokaler zeitspezifischer Beeinflussungen verfolgte die Kolonialadministration jedoch grundsätzlich die Zielsetzung, dem senegalesischem ›Kolonialkalender‹ eine frankophone Prägung zu verleihen. Insbesondere die französischen Nationalfeiertage und andere Gedenkfeiern wurden daher seit dem 19. Jh. von den Kolonialherren instrumentalisiert, um in der Imagination des Publikums republi-
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Vgl. Delafosse 1921: 107, 112. Zur Erklärung der lunisolaren Konzeption des islamischen Kalenders siehe im Folgenden Kapitel VII.2.5. 122 Vgl. Roux 1911: 518. Die zeitliche Ausrichtung schulischer Ferienzeiten folgte im Grundsatz der zeitlichen Strukturierung des Jahreslaufes im Kolonialkalender und respektierte die prinzipiellen christlichen und republikanischen Feiertage. (Vgl. ANS 17G 425 (126), Ministère de la France d’Outre-Mer, Circulaire N°4626, Objet : Fêtes légales, 22. Juni 1953, fol. 1.) Entsprechend einer Aufzählung von Roux wurden 1911 bspw. folgende Tage als schulische Ferien ausgezeichnet: Neujahr, Mardi-Gras (d.h. der letzte Tag vor Beginn der christlichen Fastenperiode), Pfingsten, der französische Nationalfeiertag und der darauffolgende Tag, Allerheiligen und der Weihnachtstag. Die Osterferien erstreckten sich über fast eine gesamte Woche, vom Donnerstag vor Ostern bis zum Morgen des darauffolgenden Dienstag und die Sommerferien dauerten vom 13. Juli bis zum 4. Oktober. (Vgl. Roux 1911: 518) Innerhalb des muslimischen Bildungswesens waren darüber hinaus auch die anderen beiden zentralen muslimischen Feiertage Tamkharet und Gamou als Schulferientage ausgezeichnet. (Vgl. Marty 1917: 69-70) 123 Vgl. diesbezüglich bspw. die von Chivas-Baron intensiv diskutierten Gefahren der Monotonie für die körperliche und geistige Gesundheit der kolonialen Ehefrau. (2009 [1929]: 118-124) Cohen beschreibt die auch noch in der zunehmend größer werdenden Kolonialgesellschaft fortbestehende Monotonie als Ursache für das oft kleinliche und kleingeistige Verhalten ihrer Mitglieder. (Vgl. 1978: 44) Randau gibt ausführlichere Beschreibungen von der Monotonie der kolonialen Situation und der Gleichheit der alltäglichen Routinen. (Vgl. 1922: 15, 42) 124 Zur Isolation der europäischen Mitglieder der Kolonialgesellschaft und zur Freizeitkultur siehe in den folgenden Kapiteln VII.3.1. und VII.3.3.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
kanische Rituale und Mythen wiederaufleben zu lassen.125 Muslimische und in lokalen Glaubenslehren verankerte Festivitäten wurden von der Kolonialregierung dabei weitestgehend toleriert. Alle größeren Feste dieser Art, außer den muslimischen Feiertagen Gamou, Korité und Tabaski, mussten jedoch durch die Kolonialadministration genehmigt werden126 , da von den lokalen Bevölkerungen veranstaltete Feierlichkeiten grundsätzlich dem Generalverdacht der Subversion unterlagen und die Franzosen daher versuchten, diese zu kontrollieren und zu Veranstaltungen zu stilisieren, welche Dankbarkeit und Anerkennung der Kolonialherrschaft durch die Kolonisierten ausdrücken sollten.127 Größere wie kleinere nicht-europäische Festivitäten oder aber auch nur einzelne Sequenzen derselben wurden von den Kolonialherren zumeist unter den Begriff tam-tam subsumiert.128 In den Berichten der Kolonialen taucht diese Begrifflichkeit, nicht zuletzt auch wegen der Unschärfe der Begrifflichkeit am weitaus häufigsten auf, wenn Aspekte des lokalen Festkalenders diskutiert wurden. Letztendlich wurden damit jedoch sehr unterschiedliche Aktivitäten angesprochen, deren einzige Gemeinsamkeit darin zu bestehen scheint, dass sie von der Kolonialherrschaft allesamt als nicht subversiv angesehen wurden: »Ils (les Wolofs) ne manquent pas une occasion de se mettre en liesse, les fêtes officielles, les solennités de la religion catholique, celles de la religion musulmane, ils profitent de tout; adorent le bruit et la danse, se grisent au tam-tam …«129 Bedeutungsinhalt und Verwendungskontext des zur Bezeichnung lokaler Festivitäten herangezogenen Begriffes tam-tam spiegeln die diskriminierenden stereotypen Betrachtungsweisen der Kolonialherren auf die gesellschaftliche Zeitlichkeit der einheimischen Bevölkerung dabei in idealtypischer Weise.130
125 126 127
Vgl. Goerg 1999: 6; Coquery-Vidrovitch 1999: 201; siehe auch Chatelier 1997: 815. Vgl. Chatelier 1997: 819. Vgl. Goerg 1999: 9-10. Dieng zeigt dies am Beispiel der Geschichte des Fanal in Saint-Louis auf. Die Elemente von Karneval und Laternenumzug vermischende Festivität hatte sich schon zu Beginn des 17. Jh. in Saint-Louis etabliert und wurde in der Zeitspanne zwischen Weihnachten und Neujahr abgehalten. Sie war ursprünglich auf europäische Einflüsse zurückzuführen, geriet dort jedoch bereits in der Mitte des 17. Jh. in Vergessenheit. Nicht jedoch in Saint-Louis, wo sie in der Folgezeit eine eigenständige Prägung durchlief (vgl. 1999: 38-39) und sich zu einem »élément essentiel de la culture urbaine“ (Ebd.: 39) dieser Kommune entwickeln konnte. Ab der Mitte des 18. Jh. wurde die Feier dann durch die lokalen politischen Autoritäten mehr und mehr französisiert und zu politischen Zwecken instrumentalisiert (vgl. ebd. : 42-48) : »Le drapeau tricolore était brandi tout au long du parcours du cortège et après la remise du fanal, en sus de pièces de monnaie et des cadeaux qui étaient distribués, les parrains offraient aux enfants des bonbons aux couleurs bleu, blanc et rouge.« (Ebd. : 42) 128 Vgl. Chatelier 1997 : 818. 129 Lasnet et al. (2000) zit. in Chatelier 1997 : 818. 130 Vgl. Chatelier 1997 : 818.
299
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Weltzeit im Kolonialstaat
Die hybride Anordnung von in verschiedenen zeitlichen Referenzsystemen begründeten Feiertagen in einem kolonialstaatlichen Kalender darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Feierlichkeiten grundsätzlich Ausdruck der Gesellschaften blieben, aus denen sie entstammten und mit einer Separation von einheimischen und kolonialen Akteuren und Zuschauern einhergingen. Festivitäten, an denen Mitglieder der verschiedenen urbanen Fraktionen zugleich teilnahmen, wie bspw. der französische Nationalfeiertag, erschienen dem Betrachter daher weitgehend als Aneinanderreihung von in koloniale und einheimische Bereiche geteilten Programmpunkten.131 Ein für die Kommunen Senegals idealtypischer Ablauf der Festveranstaltungen des französischen Nationalfeiertages kann exemplarisch am Beispiel des Festprogramms für den 14. Juli 1914 dargestellt werden. Die Feierlichkeiten begannen dabei eigentlich schon am Abend des 13. Juli mit einer Salve von Artillerie- oder Kanonenschüssen, die gegen 18 Uhr, zur Zeit des Sonnenunterganges, abgefeuert wurden.132 Im Verlauf der Nationalfeiertagsveranstaltungen wurden dabei zumeist insgesamt 3 Salven von je 21 Schuss abgefeuert. Die erste Salve diente dazu, die Feierlichkeiten des darauffolgenden Tages anzukündigen, die zweite und dritte, die dann jeweils zu Sonnenaufgang und -untergang am Festtag selbst abgegeben wurden, zur Würdigung des Festtages selbst.133 Nach Einbruch der Nacht, gegen 20 Uhr, fand dann ein Fackelumzug statt, der einer zuvor festgelegten Route folgte und an bedeutenden repräsentativen Gebäuden, wie bspw. dem Rathaus oder dem Palast des Gouverneurs, vorbeiführte.134 Am Nationalfeiertag selbst gliederten sich die Veranstaltungen dann wie in folgendem Zeitplan dargestellt:
131 132 133
134
Vgl. ebd. : 821; Michel 1990 : 148. Vgl. ANS 3G 2-157, Programme de la Fête nationale 1914, Maire de la ville de Dakar au Gouverneur Général, 6. Juli 1914, fol. 2. ANS 3G 2-111, Gouverneur du Sénégal et Dépendances Lanneau, Ordonnance, 14. Juli 1881, Art. 1, 2. Diese Praxis war ein fester Bestandteil der Nationalfeiertagsveranstaltungen in den Kolonien, wie die Festprogramme zum 14. Juli in Dakar von 1888, 1891 und 1895, sowie von Gorée aus den Jahren 1888 und 1890 aufzeigen. (ANS 3G 2-111, Commune de Dakar, Programme de la fête nationale du 14. Juillet 1888, 1891, 1895; Ville de Gorée, Fête nationale, Programme 1888, 1890) Vgl. ANS 3G 2-157, Programme de la Fête nationale 1914, Maire de la ville de Dakar au Gouverneur Général, 6. Juli 1914, fol. 2.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Tabelle 7 – Ablaufplan der Feierlichkeiten am französischen Nationalfeiertag in Dakar (1914). Zeit
Veranstaltung
7 Uhr
Heerschau der Garnisonstruppen135
8 Uhr 30
Radrennen
9 Uhr
Karabiner- Wettschießen
8 bis 10 Uhr
Diverse Spiele136
15 Uhr 30
Taubenschießen und Regatten
20 Uhr
Erleuchtung der Stadt und der kommunalen Gebäude
21 bis 22 Uhr 30
Konzert
22 Uhr 30
Großer publikumswirksamer Ball.
Aus : ANS 3G 2-157, Programme de la Fête nationale 1914, Maire de la ville de Dakar au Gouverneur Général, 6. Juli 1914, fol. 2-4, Übersetzung des Autors. In den nicht-europäischen Stadtvierteln fanden des Nachts zudem von der Kolonialherrschaft als »réjouissances populaires“ bzw. »tam-tam dans les quartiers“ gekennzeichnete Musik und Tanzabende statt. (Chatelier 1997: 817)
Der in Tabelle 7 dargestellte Ablauf der Nationalfeiertagsveranstaltungen blieb letztendlich über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg nahezu unverändert und wurde im Grundsatz auch in den anderen senegalesischen Kommunen verfolgt.137 Zu einer wirklichen Vermischung von Kolonisierenden und Kolonisierten kam es im Kontext der Nationalfeiertagsveranstaltungen jedoch ausschließlich in den auch im zitierten Festprogramm erwähnten Spiel- und Sportveranstaltungen. Hier letztendlich auch wiederum nur innerhalb der Zuschauerränge138 . Die Idee zur Organisation von egalitären Festlichkeiten, an denen beide Fraktionen gleichermaßen teilhatten und ausgezeichnet wurden, kam auf Seiten der Kolonialherrschaft erst Ende der 1930er Jahre auf.139 Die Separation der Festkultur zwischen der Gesellschaft der Kolonisierenden und derjenigen der Kolonisierten, die sich hier abzeichnet, war dabei insbesondere ein urbanes Phänomen, da sich nur hier ein permanentes und intensives Mit- bzw. Nebeneinander von europäischen und nicht-europäischen Kulturelementen entwickelte.140 Von der Kolonialregierung veranstaltete Festlichkeiten waren zudem 137
Vgl. ebd.: 817, die den Ablauf der Feierlichkeiten zum 14. Juli in den 1920er und 1930er Jahren beschreibt. 138 Vgl. Michel 1990 : 149. 139 Vgl. Coquery-Vidrovitch 1999 : 203. 140 Vgl. ebd.: 201; Chatelier 1997: 816. In kleineren Ansiedlungen mit europäischem Bevölkerungsanteil wurden die Festlichkeiten nach grundsätzlich demselben Prozedere abgehalten
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Weltzeit im Kolonialstaat
grundsätzlich städtische Unternehmungen, die auf die dort vorhandene Logistik angewiesen waren und auch auf das Moment der Inszenierung nicht verzichten wollten.141
2.4. Ordnungspolitiken zur Rhythmisierung des gesellschaftlichen Alltaglebens Trotz des Nebeneinanders verschiedener zeitlicher Referenzsysteme basierten die kolonialstaatliche Zeitordnung und die gesellschaftliche Organisation der Zeit in den Kommunen im Grundsatz auf einem mit dem gregorianischen Kalender verquickten christlich-katholischen Kirchenjahr. Andere zur Geltung kommende zeitliche Orientierungen können insofern als additive Momente der urbanen zeitlichen Strukturierung angesehen werden, die trotz der großen Bedeutung, die ihnen hinsichtlich der tatsächlich gelebten zeitspezifischen Handlungspraxen der Mehrheit der urbanen Bevölkerung unweigerlich zugesprochen werden muss, nur wenig an der auf christlich-katholischen Rhythmen beruhenden und von der Kolonialherrschaft verordneten kolonialstaatlichen Organisation alltäglicher und wöchentlicher gesellschaftlicher Rhythmen und Routinen änderten. Die öffentliche Kennzeichnung zeitlicher Rhythmen und Momente erfolgte, wie auch im Falle der Auszeichnung der Festivitäten des französischen Nationalfeiertages, in akustischer Form. Zur Markierung der zeitlichen Gliederung täglicher und wöchentlicher Rhythmen in den Kommunen dienten jedoch zumeist keine Kanonensalven, sondern ebenso wie auch in den Kommunen des französischen Heimatlandes in erster Linie die durch kirchlichen Glockenklang verbreiteten Zeitsignale des Glöckners, des »vieux semeur des heures lentes.«142 Akustisch verbreitete Zeitwie in den großen kolonialstädtischen Zentren. (Vgl. ebd.: 817) Aufgrund der nur kleinen europäischen Gemeinschaft vor Ort wurde hier bspw. den nationalen französischen Feiertagen jedoch generell weniger Bedeutung zugesprochen. Die zeitliche Ausrichtung von Feierlichkeiten in den kleineren Ansiedlungen konnte dabei mitunter einige Tage vom eigentlichen Termin abweichen, wie ein Brief des Distriktkommandanten des Verwaltungsbezirkes Louga aus dem Jahre 1909 belegt, in dem dieser den Generalgouverneur zur Feier des Nationalfeiertages (14. Juli) einlädt, welcher im gleichnamigen Bezirkshauptort Louga jedoch erst am 25. Juli begangen wurde. (ANS 17G 7, L’administrateur du Cercle de Louga à M. le Gouverneur Général de l’A.O.F., 20. Juli 1909) 141 Vgl. Goerg 1999: 6; Chatelier 1997: 818f.; Ngalamulume 2003: 74. 142 Vigne 1907: 161. Wie Corbin in seiner eindrucksvollen Studie der zeitgenössischen Läutpraktiken im französischen Mutterland verdeutlicht, wurde dabei generell keineswegs nur die liturgische zeitliche Strukturierung verkündet. Insbesondere im Anschluss an die Französische Revolution ist demnach vielmehr das Einsetzen des Prozesses der ›Desakralisierung von Raum und Zeit‹ zu verzeichnen, welcher darauf abzielte, das »Läutermonopol (Mitteilungs-, Sammlungs-, Stunden-, Freuden-, Feiertagsläuten) auf die zivile Gewalt zu übertragen […] [und] das Gemeindeleben von der sensorischen Beeinflußung und den Klangbotschaften der kirchlichen Gewalt zu befreien.« (1995: 47) Antiklerikalismus dominierte, wie erwähnt,
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
signale stellten dabei jedoch nicht nur auf kommunalem Niveau die bedeutendste Form zur Kennzeichnung von Tagesabschnitten dar, sondern fanden auch im kleineren Rahmen Verwendung, wie z.B. zur Auszeichnung von Essenszeiten im »Grand Hôtel de Dakar, où la cloche du bon nègre Abdulaye nous relançait matin et soir«143 , oder aber auch zum Herumkommandieren einheimischer Hausbediensteter: »Le matin, quand vous sonnera votre réveil, prenez votre sifflet […] et, par un appel strident, réveillez cuisiner, boy et porteurs.«144 Die Unterscheidung von wöchentlichen Arbeits- und Ruhetagen in der Kolonie beruhte generell auf den Rhythmen einer sechstägigen christlichen Arbeitswoche mit einem arbeitsfreien Sonntag.145 Die im ›Kolonialkalender‹ spätestens seit den 1860er Jahren verbürgte Praxis der Orientierung an einem christlichen Wochenrhythmus blieb jedoch über lange Zeit hinweg eine zunächst nur informelle Regelung, die vom europäischen und christianisierten Bevölkerungsanteil in den Kommunen favorisiert wurde. Die Durchsetzung des Sonntags als allgemeinverbindlichem wöchentlichen Ruhetag, welche im französischen Mutterland, wie erwähnt, infolge eines metropolen Gesetzes vom 13. Juli 1906 durchgesetzt werden konnte, ließ in Senegal noch einige Jahrzehnte auf sich warten und konnte erst vermittels eines lokalen Erlasses vom 22. April 1929 offiziell in das legislative Konglomerat der Kolonie übertragen werden.146 Wie bereits erläutert, blieben in den nicht-europäischen und nicht-christlichen Bevölkerungsanteilen der Kommunen wie auch der Protektoratsgebiete darüber hinaus bis dahin überlieferte Ruhetags-Praktiken bestehen, im Kontext derer, je nach Bevölkerungsgruppe und religiöser Zugehörigkeit, auch Montag, Mittwoch oder Freitag als wöchentliche Ruhetage ausgezeichnet sein konnten.147 Das trotz dieser Einschränkungen als Grundlage des kolonialstaatlichen Alltags dienende Modell christlicher Zeiteinteilung und darauf basierende gesellschaftliche Wochen- und Tagesrhythmen lassen sich am Beispiel zeitspezifischer Bestimmungen in den Kommunalverordnungen, damit korrespondieren Rhythmen des Alltags- und Geschäftslebens und standardisierten Modellen zeitlicher Abläufe in Handbüchern und Leitfäden exemplifizieren.
auch in den Reihen der französischen Kolonialadministration in Senegal. Es ist insofern anzunehmen, dass kirchlicher Glockenschlag auch in der Kolonie nicht nur Anwendung fand, um liturgische Zeiten zu verkünden, sondern auch zur Auszeichnung von Zeiten, die für die staatliche und administrative Organisation des öffentlichen Lebens in den jeweiligen Kommunen bedeutsam waren, verwendet wurde. 143 Vigne 1907: 67. 144 Levaré 1928: 35. 145 Vgl. ferner ebd.: 23; Grivot 1930: 9. 146 Vgl. Lakroum 1979: 222. 147 Vgl. Thiam 1993: 68; Delafosse 1921:5. Siehe dazu auch im folgenden Kapitel VII.2.5.
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Bereits in der ersten senegalesischen Kommunalverordnung von 1870 wurde insofern festgelegt, dass bürgerliche Pflichten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, wie bspw. die Reinigung der an die Unterkunft grenzenden Bürgersteige und Straßen, vor dem Beginn des alltäglichen kommunalen Arbeits- und Geschäftslebens um 8 Uhr am Morgen, erledigt werden mussten. Die vor allem hygienische Zielsetzungen verfolgenden Ordnungspolitiken schrieben zudem vor, dass Abwasser und Müll nur vor 8 Uhr morgens und nach 18 Uhr abends transportiert und entsorgt werden durften und verweisen damit auf die an europäischen Maßstäben orientierten urbanen Arbeits- und Geschäftszeiten.148 Des Weiteren kennzeichneten auch zeitliche Restriktionen für die nächtliche Ausübung von lärmenden Aktivitäten, darunter die Verarbeitung von Reis und Hirse, Wäscheklopfen, Singen und Musizieren, die große Bedeutung, welche die Einhaltung nächtlicher Ruhezeiten und am europäischen Modell orientierter Tagesrhythmen für die urbane Gesellschaft in den Kommunen besaßen.149 In der zweiten maßgeblichen Kommunalverordnung von 1889 blieben die schon zuvor festgelegten zeitspezifischen Reglementierungen im Grundsatz bestehen, die mit einem nächtlichen Lärmverbot belegten Zeitspannen wurden zudem noch weiter präzisiert und verlängert.150 Neue zeitspezifische Bestimmungen der Kommunalverordnung von 1889 betrafen auch die sich in den Kommunen entwickelnde Freizeitkultur. Demnach war es ab 1889 für Besitzer von Bars oder Cafés verboten, nach 20 Uhr am Abend noch Militärs oder Seeleute zu bewirtschaften, die Öffnungszeiten von Bars und Cafés wurden im selben Zuge auf 23 Uhr abends begrenzt, diejenigen von Billardclubs auf 24 Uhr.151 1889 wurde zudem die Praktik eingeführt, dass die Polizei eine tägliche Inspektion, d.h. eine »visite générale de la ville«152 , durchführte, um die Einhaltung der Bestimmungen der Kommunalverordnung zu kontrollieren. Trotz der weitgehend am europäischen Modell orientierten zeitspezifischen Bestimmungen der senegalesischen Kommunalverordnungen waren die Rhythmen der täglichen Zeiteinteilung in den senegalesischen Kommunen dabei jedoch nicht vollständig mit denen in Frankreich identisch. Die im Vergleich zum französischen 148 ANS L11, Gouverneur du Sénégal Valière, Arrête concernant la salubrité publique et la police de la ville de Dakar, 29. September 1870, Art. 1. 149 Ebd. Art. 11. 150 ANS L11 , Maire de Dakar, Arrête sur la police municipale de la commune de Dakar, 25. Februar 1889, Art. 8. 151 Ebd. Art. 15. 1910 wurde diese Sperrstundenregelung vom Bürgermeister in Dakar um eine Stunde nach hinten versetzt, zudem wurde festgelegt, dass »concerts et représentations“ in Ausnahmefällen und mit Genehmigung noch eine weitere Stunde, d.h. bis ein Uhr, andauern durften. (ANS 3G 2-157, Gouverneur Général à Lieutenant-Gouverneur du Sénégal, 26. Februar 1910, fol. 1) 152 ANS L11 , Maire de Dakar, Arrête sur la police municipale de la commune de Dakar, 25. Februar 1889, Art. 5.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Heimatland veränderten klimatischen Bedingungen in den Kolonialterritorien hatten bereits früh zu einer Anpassung der täglichen Aktivitätsrhythmen an die Umweltbedingungen geführt. Vergleichsweise hohe Tagestemperaturen, die von den französischen Zeitgenossen vor Ort als stete Belastung bzw. sogar als gesundheitliche Gefährdung angesehen wurden und oft als Rechtfertigung für die temporäre Einstellung jedweder Aktivitäten angeführt wurden, begründeten somit letztendlich die Entstehung eines veränderten Tagesablaufes in den Kommunen.153 Die überragende Bedeutung, die klimatheoretischen Betrachtungen in Hinsicht auf die Organisation der Zeit in den westafrikanischen Kolonialgebieten zugeschrieben wurde, äußerte sich dabei schon im Kontext der Einführung des Weltzeitzonensystems. Vor allem die durch den jeweiligen Sonnenstand bedingten Temperaturunterschiede und ein damit assoziiertes Schema täglicher Aktivitätsund Ruhephasen dienten hier zur Festlegung der Abgrenzungen unter den drei Zeitzonen, denen die Territorien Französisch-Westafrikas zugeordnet wurden: »Il faut remarquer que dans les pays tropicaux, plus encore que dans les pays tempérés, les diverses phases de l’activité journalière sont dans une dépendance étroite avec la position occupée par le soleil dans le ciel, il est nécessaire qu’il n’existe qu’un désaccord assez faible entre les estimations approximatives que chacun déduit naturellement de la marche du soleil et l’heure réglementaire : il est donc sage de limiter à un fuseau horaire étendue des territoires devant adopter la même heure.«154 Die auch für die alltägliche zeitliche Organisation in den Kommunen richtungsweisende Bedeutung klimatheoretischer Betrachtungen lässt sich anhand der in Ratgebern zum Leben in den Kolonien formulierten Vorgaben für die zeitliche Gestaltung des Tagesablaufes rekonstruieren. Aus diesen erfahrungsbasierten, primär von und für Angestellte der Kolonialverwaltung erstellten Handbücher und Leitfäden des Lebens in den Kolonien lässt sich eine Art von standardisiertem kolonialgesellschaftlichem Tagesablauf herausarbeiten, welcher sich ebenfalls durch einen an die Vermeidung der hohen Tagestemperaturen angepassten Aktivitätsrhythmus und eine entsprechende Einteilung der Tageszeiten auszeichnete. Trotz der Strategien zur Vermeidung der Tageshitze und der beginnenden nächtlichen Elektrifizierung der urbanen Räumlichkeiten in der Kolonie markierten die durch 153
154
Zur Wahrnehmung von hohen Temperaturen als gesundheitliche Gefährdung vgl., wie bereits in Kapitel I.3.5. erläutert, insbesondere die Arbeiten von Curtin. Dieser setzt sich mit den klimatheoretischen Betrachtungen dieser Epoche auseinander und verdeutlicht u.a. auch den zeitgenössischen Glauben an die gesundheitsschädigende Wirkung hoher Temperaturen: »Physical exercise was out, especially in the heat of the day.« (Curtin 2001b : 99) ANS O259 , Directeur du Service Géographique, Rapport au Sujet de la détermination de l’heure légale en Afrique occidentale française et de la mise en concordance avec le système universel des fuseaux horaires, 18. Juli 1911, fol. 3.
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Sonnenaufgang und -untergang begrenzten hellen Tagesstunden über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg die bedeutendste Phase der täglichen Aktivität in den Kommunen. Entsprechend dem natürlichen Sonnenstand in diesen Breitengraden kam es dabei über das Jahr hin gerechnet zu einer ca. einstündigen Verschiebung der Zeiten von Sonnenaufgang wie auch Sonnenuntergang. Ersterer pendelte in Saint-Louis zwischen ca. 5 Uhr 30 (im Juni) und ca. 6 Uhr 30 am Morgen (im Januar), Letzterer zwischen ca. 17 Uhr 30 (im November) und 18 Uhr 30 am Abend (im Juli).155 Der Tagesablauf in Senegal begann für die meisten kolonialen Protagonisten entsprechend noch vor Sonnenaufgang, wobei das frühe Aufstehen die Zielsetzung verfolgte, die vergleichsweise moderaten Temperaturen des Tagesanbruches, »la fraicheur du petit matin, toujours si tonique en général«156 , effektiv zu nutzen: »Le colonial, en effet, aime à voir lever l’aurore, non qu’il se pique de plus de vertu qu’un autre, mais pour jouir de la fraicheur du matin […].«157 Werden an dieser Stelle die Arbeitszeiten des für die Vergabe und Einhaltung zeitlicher Standards verantwortlichen Post- und Telegraphenwesens als Ausgangspunkt genommen, so erstreckte sich das darauffolgende Arbeits- und Geschäftsleben wochentags in der Regel zwischen 7 und 11 Uhr am Morgen und von 14 bis 19 Uhr am Abend.158 Je nach gesellschaftlicher Relevanz und Profession kam es dabei jedoch zu zahlreichen Abweichungen von diesem rudimentären Schema, wie sich bereits am Beispiel der Differenzierung der Öffnungszeiten zwischen unterschiedlichen Büros des Post- und Telegraphenwesens in der Kolonie Senegal verdeutlichen lässt. Die für die Aufrechterhaltung der internen und externen Kommunikation der bedeutsamsten Orte der Kolonie relevanten »bureaux principaux«159 , d.h. die Zentralstelle in Dakar wie auch die drei weiteren Hauptstellen in Saint-Louis, Rufisque und Gorée waren insofern generell verpflichtet, auch über die Mittagszeit geöffnet zu sein, die restlichen über das gesamte Territorium von Kommunen und Kolonie verteilten Dienststellen160 hielten sich wochentags jedoch wiederum an die dreistündige Mittagspause.161 Aufgrund ihrer großen grundsätzlichen Bedeutung waren alle Institutionen des Post- und Telegraphendienstes zudem verpflichtet, am Sonntagmorgen von 7 bis 11 Uhr Postdienstleistungen zu gewährleisten, der für die Kom155
Vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861: 11-22; zeitliche Angaben in mittlerer Ortszeit. 156 Grivot 1930: 7. 157 Vigne 1907: 156; vgl. auch Levaré 1928: 22; Chivas-Baron 2009: 119; Jung 1931: 22; siehe ferner Randau 1922: 37. 158 Vgl. Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1907 : 69-86, siehe ferner Vigne 1907 : 156-157; Levaré 1928 : 22-23; Delafosse 1974 : 84, 88. 159 Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1907 : 116. 160 Darunter 33 sekundäre Dienststellen und zwei Hilfspoststellen, die sich ausschließlich Postdienstleistungen wie dem Briefmarkenverkauf widmeten. (Vgl. ebd. : 113) 161 Vgl. ebd. : 113,116.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
munikation essentielle Telegraphendienst in den vier prinzipiellen Dienststellen musste sogar am Sonntag den ganzen Tag über bis 7 Uhr abends der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.162 In anderen öffentlichen Institutionen zeigen sich weitere Abweichungen vom durch das Post- und Telegraphenwesen vorgegebenen zeitlichen Rahmen zur Strukturierung des gesellschaftlichen Alltags in den Kommunen, die jedoch die Grundstrukturen der alltäglichen zeitlichen Rhythmisierung bestätigen. So waren bspw. die für den geregelten Ablauf des gesellschaftlichen Alltags in den Kommunen ebenso bedeutsamen Büros der Kommunalverwaltung nur wochentags jeweils von 7 Uhr 30 bis 11 Uhr am Morgen und 14 bis 17 Uhr am Abend geöffnet163 , die der zentralen Bank in Dakar ebenfalls nur wochentags, wiederum von jeweils 7 bis 11 Uhr am Morgen und 14 bis 16 Uhr am Abend.164 Für das gesellschaftliche Leben in den Kolonien weniger bedeutsame öffentliche Institutionen verfolgten dabei grundsätzlich weniger lange Öffnungszeiten, wie das Beispiel der Bibliothek in Saint-Louis verdeutlicht, die wochentags am Morgen zwischen 9 Uhr 30 und 11 Uhr geöffnet war, am Nachmittag zwischen 15 und 18 Uhr und sonntags wiederum von 8 bis 11 Uhr am Morgen.165 Eventuelle mit der beruflichen Tätigkeit und Stellung verbundene Freiheiten, sich die Arbeits- bzw. Geschäftszeit selbst einzuteilen, führten darüber hinaus zu zahlreichen weiteren Abweichungen von jedweden zeitlichen Vorgaben und Standards, wie sich am Beispiel des Umgangs mit Arbeits- und Zeitdisziplin in der Kolonialverwaltung veranschaulichen lässt. Die Arbeitszeiten in dem administrativen Amtsstuben der Kolonie waren in dieser Hinsicht bspw. 1915 verpflichtend auf sechseinhalb Stunden pro Tag fixiert worden, die zwischen 7 Uhr 30 und 11 Uhr am Vormittag und von 14 bis 17 Uhr am Nachmittag absolviert werden sollten.166 Durch diese vom amtierenden Leutnant-Gouverneur Raphaël Antonetti dekretierte Regulierung der administrativen Dienstzeiten wurde erstmals eine für alle administrativen Dienste verpflichtende und gleichermaßen gültige arbeitszeitspezifische Verordnung formuliert.167 Vom Leutnant-Gouverneur wurde diese Maßnahme dabei 162 163
Vgl. ebd. : 116. Vgl. ANS 3G 2-157, Maire de la Ville de Dakar au Gouverneur Général de l’A.O.F., 25. Februar 1915, fol. 2. 164 Vgl. Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française 1922 : 343. 165 Vgl. ebd. : 346. 166 Vgl. ANS 10D 3-0025, Lieutenant-Gouverneur p.i. du Sénégal Antonetti, Décision au sujet des heures de bureau, 14. August 1915, Art. 1. 167 In den vorhergehenden legislativen Regelungen, die von Leutnant-Gouverneur Antonetti im Kontext der arbeitszeitspezifischen Verordnung von 1915 angegeben werden, d.h. die Ordonnance du Roi concernant le Gouvernement du Sénégal et Dépendances vom 7. September 1840 und das Décret portant organisation du Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française vom 18. Oktober 1904, finden sich keinerlei spezifische Vorgaben zur Konzipierung der Arbeitszeiten in der Verwaltung. In den beiden Gesetzeswerken wird lediglich auf die diesbezüg-
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durch die schlechte Arbeits- und Zeitdisziplin der zeitgenössischen Angestellten in den Büros der Kolonialadministration begründet: »[I]l m’a été permis de constater très souvent que les heures de bureau étaient actuellement très mal observées.«168 Ganz im Gegensatz zu dieser allgemeinen Tendenz zum laxen Umgang mit Arbeitsund Zeitdisziplin in der in Saint-Louis verorteten lokalen Administration der Kolonie Senegal legte der von 1915 bis 1918 als hochrangiger Beamter der föderalen Zentralverwaltung in Dakar angestellte M. Delafosse eine durch extreme Disziplin und Fleiß gekennzeichnete Arbeitsmentalität an den Tag: »Il se levait tous les jours, même le dimanche, à 6 heures, pour aller à son bureau, […] et où il arrivait sûrement un des premiers; il revenait pour déjeuner à 11 h ½, se reposait à peine, et repartait aussitôt sans jamais faire la sieste. Les bureaux fermaient en principe à 5 heures ½ mais quand il sortait du sein à 6 h c’était bien beau.«169 Neben individuellen und idiosynkratischen Abweichungen verweisen jedoch alle genannten Fallbeispiele auf die allgemein verbindliche Praxis zur Einhaltung einer ausgiebigen Mittagspause, welche letzten Endes wiederum eine Auswirkung
liche Verantwortlichkeit des Gouverneurs hingewiesen. Letzterem unterstand insofern u.a. die »direction supérieure […] des différentes branches de l’administration intérieure.« (ANS 18G 4, Louis-Phillipe, Ordonnance du Roi concernant le Gouvernement du Sénégal et Dépendances,7 September 1840, Art. 11) Im ergänzenden legislativen Konvolut von 1804 heißt es hinsichtlich der Verantwortungsbereiche des Generalgouverneurs entsprechend : »Il organise les services […].« (ANS 18G 4, Décret portant organisation du Gouvernement Général de l’Afrique Occidentale Française, 18. Oktober 1904, Art. 3) Dass Antonetti sich für die Festlegung administrativer Arbeitszeiten auf diese beiden Texte beruft, verweist daher darauf, dass dieser Aufgabenbereich auch noch 1915 unter die Verantwortung des Gouverneurs fiel, bis dahin jedoch durch keine einheitliche Regelung sanktioniert worden war und den leitenden Beamten der jeweiligen Dienste überlassen wurde. 168 ANS 10D 3-0025, Lieutenant-Gouverneur p.i. du Sénégal Antonetti à Messieurs les Chefs de Services, Au Sujet des heures de bureau, 14. August 1915. Benilan liefert noch 20 Jahre später eine ähnliche Beschreibung der Zeit- und Arbeitsdisziplin in den großen Amtsstuben der Kolonialverwaltung, die einen sehr freizügigen Umgang mit arbeitszeitlichen Normen im bürokratischen kolonialadministrativen Arbeitssektor nachzeichnet: »Certains bureaux des grandes administrations coloniales, comme d’autres dans les grandes administrations métropolitaines, sont des lieux de réunion, de lecture, de travaux personnels […]. On y dort, on y mange, on y boit, on y fume, et on y discute à toutes heures, sous les portraits débonnaires des Présidents de la République, de questions qui n’ont pas toujours des rapports immédiats avec l’affectation du lieu. […] Certes, le climat tropical excuse beaucoup de petites faiblesses […].« (1937: 26-27; Hervorhebungen im Original) Dass die Arbeits- und Zeitdisziplin vom Verwaltungspersonal in Übersee weitgehend selbst bestimmt wurde, spiegelt sich auch in Randaus Schilderungen der Arbeit in der Zentralverwaltung in Dakar in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh. (Vgl. 1922: 48, 91-93) 169 Delafosse 1976 : 323.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
der Strategie zur generellen Vermeidung von Aktivität während der Tagesstunden mit den höchsten Tagestemperaturen repräsentiert: »[L]’excès de chaleur est la raison des laideurs de douze heures; à dix-sept heures, les demi teintes reparaissent et le crépuscule met le paysage de bonne humeur«.170 Die Stunden der größten Hitze überbrückende Mittagspause und die damit verbundene Mittagsruhe bzw. Siesta, welche in kolonialen Ratgebern als bevorzugte Praktik zur Ausgestaltung der freien Zeit vorgeschlagen wird, stellten insofern die bedeutendsten Konstanten im kolonialen Tagesablauf dar. Sie repräsentierten insofern die markantesten zeitspezifischen Charakteristika des kolonialgesellschaftlichen Tagesablaufes: »Le soleil donne alors de toutes ses forces; c’est le moment de se cacher dans la case, la cagna et la maison où, après le déjeuner la sieste, […] la flânerie et le désœuvrement exercent leur empire […].«171 Das Ende der großen Tageshitze in der abendlichen Stunde vor Sonnenuntergang, der »l’heure du grand apaisement du soir«172 , markierte dann auch das ungefähre Ende des nachmittäglichen Arbeits- und Geschäftslebens in den Kommunen. Abendessen und Freizeitaktivitäten begannen dann die freie Zeit bis zur offiziellen Einleitung der Nacht durch das Löschen der städtischen Beleuchtung zu bestimmen.173 Restaurants, Gaststätten, Gesellschaftsclubs und andere Unterhaltungsetablissements blieben noch bis zum Einläuten der in den Kommunalverordnungen angegebenen Sperrstunde geöffnet. Nur an Sonn- und Feiertagen wurde von dieser täglichen Routine abgewichen.174 Auch wenn die bisherige Darstellung einen weitgehend idealtypischen kolonialen Wochenzyklus und Tagesablauf skizziert, der nur die grundsätzliche Strukturierung der zeitlichen Rhythmisierung widerspiegelt und die komplexe Wirklichkeit individueller und idiosynkratischer Praxen der Zeitverwendung nur andeuten kann, sollte die Bedeutung der Aufrechterhaltung von zeitlichen Routinen und Ritualen in der kolonialen Situation nicht unterschätzt werden. Die Konservierung und Kultivierung gewohnter zeitspezifischer Praktiken, wie bspw. die Einhaltung 170 Randau 1922: 47. 171 Vigne 1907 : 157; siehe auch Levaré 1928 : 22, 34; Grivot 1930 : 7; Jung 1931 : 22; vgl. ferner Delafosse 1974 : 84; Randau 1922 : 5. Auch wenn sie hier keine vergleichbar großen Veränderungen des Tagesablaufes hervorrief, so wirkte sich die »Furcht vor der Sonnenglut“ dennoch auch in Frankreich über das gesamte 19. Jh. hinweg auf die Bewertung der Zeit aus. (Corbin 1993 : 20) Der Sommer galt insofern lange als »widerwärtigste Phase des Jahres“, denn »dieser plagt und quält mit Tageshitze und unmäßiger Sonnenglut“ (ebd. : 21), zugleich wurden auch die »frühmorgendlichen, abendlichen und nächtlichen Stunden“ mit nur geringer Sonneneinwirkung als die beliebtesten angesehen. (Ebd. : 20) 172 Vigne 1907: 161. 173 Entsprechend Vigne wurde die städtische Beleuchtung in Dakar um 20 Uhr gelöscht. (Vgl. ebd.) 174 Vgl. Levaré 1928: 35; vgl. ferner Grivot 1930: 9.
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regelmäßiger Zeiten für die täglichen Mahlzeiten oder für das Aufstehen und das Zu-Bett-Gehen, wurden als für die körperliche und geistige Gesundheit des Europäers in der kolonialen Situation generell förderliche bis notwendige Tugenden angesehen.175 Darüber hinaus zielte insbesondere das über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg durch stark assimilationistische Tendenzen geprägte koloniale Projekt der Franzosen ja vor allem auch darauf ab, in Übersee ein Abbild der zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft Frankreichs zu kreieren. Trotz der bereits um 1900 erfolgten weitgehenden Abkehr von der Politik der Assimilation blieb insofern zumindest hinsichtlich der Ausgestaltung des Alltags der Kolonialgesellschaft weiterhin der Wille zur Einebnung von Unterschieden und zur Angleichung an die französische Lebensweise bestehen. Der Autor eines bekannten diesbezüglichen Ratgebers beendete seine am Beispiel vom Dakar der Jahrhundertwende erarbeitete Darstellung eines seiner Ansicht nach typischen kolonialen Tagesablaufes daher, nicht ohne Übertreibung, mit der Phrase: »Que fait on plus en France?«176 Die Vorstellung, dass zwischen dem Leben in Übersee und dem in Frankreich keine großen Unterschiede existieren würden, entsprach zwar keineswegs der Realität, blieb jedoch weiterhin ein klassischer Bestandteil von Argumentationen für die Wahl eines Lebens in den Kolonien. Noch gegen Ende der 1920er Jahre hieß es im Ratgeber von Chivas-Baron, welcher sich insbesondere mit der Beförderung des familiären Lebens in den Kolonien auseinandersetzte: »Évidemment, si vous habitez une ville coloniale, vous pourrez continuer vos habitudes de citadine métropolitaine.«177
2.5. Zeitliche Rhythmen der muslimischen Gemeinschaft der Kommunen In den mehrheitlich von Muslimen bewohnten Stadtvierteln außerhalb des unmittelbaren Einflussbereiches der europäischen Viertel der ville blanche, diente hingegen über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg die lokale muslimische Zeitordnung als dominante zeitspezifische Ordnungspolitik zur gesellschaftlichen Strukturierung von Alltag und Jahreslauf. Die Bestimmung der Zeit wurde dabei in Übereinstimmung mit Sonnenstand und Mondumläufen und entsprechend der islamischen Überlieferung vorgenommen. Die folgende Darstellung veranschaulicht lokale muslimische Ordnungspolitiken zur Strukturierung der gesellschaftlichen Zeit am Beispiel von Aspekten des kalendarischen Jahreslaufes und der korrespondierenden zeitlichen Rhythmisierung von wöchentlichen und täglichen Abläufen in der Gesellschaft der Wolof.
175 176 177
Vgl. ebd.: 7, 9, 11, 30. Vigne 1907: 157. Chivas-Baron 2009: 82.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
In der Gesellschaft der Wolof hatte sich eine zeitliche Strukturierung des Jahreslaufes etabliert, die einer lunisolaren Kalenderzählung folgte. Letztere umging einige der Abstimmungsprobleme und zeitlichen Diskrepanzen, die aus der Notwendigkeit des Abgleichs der Länge des Sonnenjahres (ca. 365½ Tage) und der Länge des Mondjahres (ca. 355 Tage) hervorgingen.178 Den trotz der lunisolaren Kalenderzählung noch bestehenden zeitrechnerischen Abstimmungsproblemen wurde in den lokalen muslimischen Gesellschaften begegnet, indem zum Abgleich des Beginns von Mond- und Sonnenjahr zunächst die Regelung eingeführt wurde, den Jahresbeginn jeweils mit dem Erscheinen des ersten Neumonds nach der Wintersonnenwende einzuleiten.179 Die Jahre im lokalen Mondkalender beinhalteten daher manchmal zwölf, manchmal jedoch auch über 13 Mondumläufe, wobei der Wechsel zwischen Jahren mit zwölf und 13 Mondumläufen Dauer einen regelmäßigen Zyklus bildete, der sich alle acht Jahre wiederholte: »Par exemple, l’année correspondant à 1920 a commencé le 22 décembre 1919 pour se terminer le 9 janvier 1921 (treize lunaisons ou mois); l’année suivante ira du 10 janvier au 29 décembre 1921 (douze mois), la suivante du 30 décembre 1921 au 16 janvier 1923 (treize mois), et ainsi de suite jusqu’à former un cycle de huit années 178
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Aus Perspektive genauer astronomischer Zeit variierten die zeitliche Ausrichtung der Festivitäten in einem rein nach dem Mondumlauf berechneten Kalender bzw. der gesamte Kalender von Jahr zu Jahr, da die Erde eben nicht um den Mond, sondern um die Sonne kreist. Auf Basis des Sonnenumlaufes berechnete Kalendarien weisen daher in Hinsicht auf die zeitliche Übereinstimmung mit dem natürlichen saisonalen Jahreslauf immer eine weitaus größere Genauigkeit auf, als jene, die allein auf Basis des Mondumlaufes kalkuliert werden. Die aus der zeitlichen Diskrepanz zwischen der Länge des Sonnenjahres (ca. 365½ Tage) und der Länge des Mondjahres (ca. 355 Tage) entstehende Problematik der Abstimmung der zwölf Mondmonate des islamischen Kalenders mit dem naturgegebenen Sonnenlauf wird in einer sogenannten lunisolaren Kalenderzählung jedoch weitgehend vermieden. In lunisolaren Kalendersystemen wird, ähnlich wie bei den im gregorianischen System angewandten Schaltjahren, die Abstimmung zwischen lunaren und solaren Rhythmen durch die Einführung einer Übergangsperiode bzw. eines Schaltmonats, erreicht. Zum lokalen Vorkommen des Schaltmonats siehe Delafosse 1921: 112. Der im arabischen »nasī“ (»Verschiebung“) genannte Schaltmonat wird in lunisolaren Kalendersystemen alle zwei bis drei Jahre als 13. Monat im Jahr angefügt und dient vornehmlich dazu, den Jahresanfang immer zur selben Zeit im natürlichen saisonalen Jahreslauf zu verorten. (Vgl. Moberg 1993: 977, siehe dazu auch im Folgenden) Die von den lokalen Bevölkerungsgruppen in Senegal praktizierte Variante der Kalenderzählung orientiert sich insofern nicht an der islamischen, rein auf dem Mondumlauf basierenden Kalenderzählung, sondern repräsentiert vielmehr eine lokale Variante eines lunisolaren prä-islamischen arabischen Kalenders, auf dem darüber hinaus auch der bis heute angewandte klassische islamische Mondkalender basiert. Bzgl. der Verbindung zwischen islamischem Mondkalender und altarabischem Kalender vgl. ebd. Vgl. Delafosse 1921: 112. Ein neuer Mondmonat begann immer am Abend eines Neumonds. (Vgl. ebd: 106; siehe ferner King 1993: 30)
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dont la 1ere compte 13 mois, la 2e douze mois, la 3e treize mois, la 4e et 5e douze, la 6e treize, la 7e et la 8e douze, après quoi le cycle recommence dans les mêmes conditions.«180 Da trotz dieser Maßnahme das grundsätzliche Problem der im Vergleich zum natürlichen solaren Rhythmus fehlenden Zeit jedoch noch nicht gelöst war, wurde zudem in jedem Jahr mit 13 Mondumläufen ein Schaltmonat eingefügt. D.h. zumeist wurde der dritte Mondmonat einfach wiederholt, um die islamische Zählung mit dem naturgegebenen saisonalen Jahreslauf und insbesondere dem Beginn der landwirtschaftlichen Saison abzustimmen. Ungeachtet dieser Angleichungsversuche konnte sich der Beginn des Frühlings nach islamischer Kalkulation im Vergleich zur gregorianischen Zählung dennoch um bis zu 25 Tage verschieben: »De cette façon, la saison printanière […] se trouve toujours commencer en avril, quoiqu’il puisse y avoir un écart de vingt-cinq jours entre les dates extrêmes de son début. En 1920, le premier jour du mois [de la saison printanière] tombait le 18 avril; sauf erreur, il tombera le 9 avril en 1921, le 27 avril en 1922, le 16 avril en 1923, le 5 avril en 1924, le 24 avril en 1925, le 12 avril en 1926 et le 2 avril en 1927.«181 Zur sprachlichen Auszeichnung der einzelnen Monate im nach lunisolarer, islamischer Kalenderzählung berechneten Jahreslauf wurden in der Gesellschaft der Wolof keine Begriffe aus dem Arabischen übernommen, sondern vielmehr Bezeichnungspraxen aus der eigenen Sprache genutzt. Die zur Benennung der zwölf Mondmonate herangezogenen Bezeichnungspraxen der Wolof sind in ihrer Bedeutung des Weiteren zum Teil auf die vier zentralen jährlichen Feiertage Tamkharet, Gamou, Korité und Tabaski bezogen bzw. durch eine entsprechende namentliche Bezeichnung mit einem dieser Feste im Jahreslauf verbunden.182 Die folgende Aufzählung der Wolof-Monatsnamen verdeutlicht diese Form der assoziativen Bezeichnungspraxis: »1 tamkharet, 2 digui-gamou (qui précède le gamou), 3 gamou, 4 raki-gamou (le puîné de gamou), 5 rakati-gamou (l’autre frère puiné de gamou), 6 mam-ou-kor (la grand’mère de kor), 7 ndei kor (la mère de kor), 8 barakhlou, 9 kor (ce môt veut dire jeûne), 10 kori (cessation du jeûne), 11 digui-tabaski (qui précède le tabaski), 12 tabaski.«183
180 181 182 183
Delafosse 1921 : 112-113. Ebd. : 113. Vgl. Faye 2000: 307; Delafosse 1921: 106-108. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861 : 9, Hervorhebungen im Original; vgl. auch Boilat 1853 : 358.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Anders als die Bezeichnungen der Monatsnamen stimmen die Bezeichnungen der Wochentage in der Sprache der Wolof bis auf die Bezeichnung für den Sonntag mit der Aussprache der arabischen Bezeichnungen der Wochentage überein:184 »Les oulofs donnent aux jours de la semaine, excepté dimanche qu’ils appellent diber, les noms arabes qu’ils prononcent ainsi : lundi altiné, mardi tlata, mercredi alarba, jeudi alkhamis, vendredi aldiouma, samedi acer.«185 Zur Auszeichnung bestimmter Zeitpunkte und -perioden im muslimischen Tages-, Wochen- oder Jahresrhythmus und zur zeitlichen Organisation des Gesellschaftslebens kamen, ebenso wie auch im christlichen Milieu, akustisch verkündete Lautsignale zur Anwendung. Neben der akustischen Auszeichnung der Zeiten des lokalen muslimischen Festkalenders bestimmten insbesondere die für die alltägliche zeitliche Orientierung zentralen Aufrufe zu den fünf täglichen Gebeten des Islam (fadjr, ẓuhr, ʿaṣr, maghrib, ʿishă ), die zeitspezifische akustische Kulisse in den Kommunen.186 Die Zeiten für die Ausübung der Gebete verteilten sich dabei grundsätzlich wie in Abbildung 10 dargestellt über den Tag: Die Gebetszeiten variierten dabei jedoch nach Jahreszeit und geographischem Breitengrad, da sie auf Basis der in den heiligen Schriften der Muslime festgelegten Definitionen anhand des Sonnenstandes in Relation zu einem lokalen Horizont ausgerichtet werden müssen.187 Sie wurden aufgrund der unterschiedlichen geo184 Vgl. Gouvernement du Sénégal et Dépendances 1861 : 9. 185 Ebd., Hervorhebungen im Original; vgl. auch ANS 13G 67, Marty, P. : L’Islam au Sénégal, L’Islam dans les coutumes sociales, 15. August 1915, fol. 55; Boilat 1853 : 357-358. Faye 2000 : 306 verweist in seiner Doktorarbeit über die urbane Bevölkerung in Senegal während der Kolonialperiode darauf, dass zwischen der phonetischen Aussprache der Wochentags-Namen in Wolof, Lébou, Serer und Tukulor (d.h. den einheimischen Gruppierungen, die die Masse der urbanen Bevölkerung in den vier Kommunen ausmachte) kaum Unterschiede bestehen und viele Benennungen daher in der Aussprache gleich klingen. Faye bietet zwar eine tabellarische Übersicht über die Bezeichnungen in den verschiedenen Sprachen, lässt leider jedoch nicht erkennen, wie sich diese Ähnlichkeiten entwickelten und auf welche Quellen er für diesen Vergleich zurückgegriffen hat. Siehe dazu die Tabelle zur vergleichenden Übersicht der Namen der Wochentage in Arabisch, Französisch, Serer und Wolof-Lebu und Tukulor in Anhang IX.A. Delafosse verweist ebenfalls auf die Übernahme arabischer Wochentags-Namen in den Dialekten der »Brignan […] Agni [et] Mandingue“, entsprechend sei auch die Anzahl der Wochentage in unterschiedlichen lokalen Bevölkerungsgruppen dem siebentägigen islamischen Rhythmus angepasst worden : »[O]n a substitué la semaine musulmane de sept jours à l’ancienne semaine indigène, qui était tantôt de quatre, tantôt de cinq et tantôt de six jours.« (1921 : 5) Lokale Bezeichnungen der Wochentage seien im Gegenzug oftmals in Vergessenheit geraten. (Vgl. ebd.) 186 Vgl. Faye 2000: 302-310, Orthographie der Arabischen Begriffe nach King 1993. 187 Vgl. King 1993: 28-29. In den heiligen Schriften der Muslime werden dabei spezifische Angaben für die zeitlichen Intervalle, in denen die Gebete ausgeübt werden dürfen, angeführt. Entsprechend ergeben sich folgende zeitliche Vorschriften. Für das Morgengebet (fadjr): »Its
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Abbildung 10 – Tageszeiten für die Ausrichtung der fünf Gebete.
Aus: Fig. 1, aus: King 1993: 29. Der Radius des Kreises entspricht hier der zeitlichen Dauer eines Tages. Der in Klammern gesetzte Begriff Ḍuḥā benennt ein optionales vormittägliches Gebet. (Vgl. ebd.)
time begins with the true dawn […], when faces can still not yet be recognised, and extends until the day-break as such, before the sun appears“, das Mittagsgebet (ẓuhr): »Its time begins when the sun, passing the zenith, commences its decline. It normally continues until the time when the shadow of objects is equal to their height“, das Nachmittagsgebet (ʿaṣr): »Its time begins when the shadow of objects is equal to their height, and it normally continues until the time when the light of the sun turns yellow; but this prayer may still be performed until the end of the day, before the setting of the sun“, das Gebet nach Sonnenuntergang (maghrib): »Its time begins when the sun has disappeared beneath the horizon, and normally continues until the disappearance of the twilight radiance“ und das Nachtgebet (ʿishă ): »[I]t [begins with] the disappearance of the […] redness of the sky which follows the setting of the sun […]. […] The normal time of the prayer […] extends until the end of the first third of the night.« (Monnot 1995: 928-929, Hervorhebungen im Original) Die in Hinsicht auf die Bestimmung der richtigen Zeiten zur Ausübung der Gebete zeitspezifisch vergleichsweise ungenauen Angaben werden dagegen in der ʿIlm al-mīḳ āt, der islamischen Wissenschaft zur astronomischen Zeiterfassung, mit einer präziseren Definition des Sonnenstands und entsprechenden Längen des Schattenwurfes erläutert: »[T]he Islamic day and the interval for the maghrib prayer begin when the disc of the sun has set over the horizon. The intervals for the ʿishă and fadjr prayers begin at nightfall and daybreak. The permitted time for the ẓuhr begins either when the sun has crossed the meridian, or when the shadow of any object has been observed to increase, or, in mediaeval Andalusian and Maghribī practice, when the shadow of any vertical object or gnomon has increased over its midday minimum by one-quarter of the length of
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graphischen Lage der Kommunen daher nicht in allen zur exakt selben Uhrzeit ausgeführt.188 Die Ausübung der muslimischen Gebetspraxis galt dabei auch für P. Marty, den zuvor erwähnten Begründer der Differenzierung zwischen Islam Maure und Islam Noir, als diejenige religiöse Pflicht, die von den lokalen Vertretern der islamischen Glaubenslehre am intensivsten praktiziert wurde: »La PRIERE est, de tous les devoirs, celui qui est pratiqué le plus strictement, et celui par lequel se manifeste le plus vivement la foi islamique des Sénégalais.«189 Entgegen dieser lokalen ›Vorliebe‹ für das Gebet und der zentralen religiösen Bedeutung der fünf Gebete sei die strikte und disziplinierte Einhaltung der religiösen Pflicht zur Ausübung der fünf täglichen Gebete entsprechend Marty jedoch noch in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh. nur unter den gläubigsten Vertretern des Islam Noir verbreitet gewesen: »Les cinq prières rituelles ne sont pas, à vrai dire, récités chaque jour, même par les marabouts. On ne dépasse guère le nombre de trois, et encore est-ce seulement chez les gens pieux : le matin, le midi, et le soir. Les prières les plus courantes sont celles du matin et surtout celles du soir.«190 Trotz dieser partiellen Einschränkungen diente die durch die muslimische Gebetspraxis gegebene zeitliche Strukturierung dennoch als prinzipielles Moment zur Gliederung des gesamten Alltagslebens der muslimischen Bevölkerung der Kommunen. Aufgrund der von Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozessen weitgehend ausgenommenen nicht-europäischen Stadtviertel zeigte sich das gesellschaftliche Alltagsleben von muslimischen und nicht-muslimischen Einheimischen hier jedoch auch durch eine ländlichen und landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen geschuldete zeitliche Rhythmisierung gekennzeichnet. the object. The interval for the ʿaṣr begins when the shadow increase equals the length of the gnomon and ends either when the shadow increase is twice the length of the gnomon or at sunset.« (King 1993: 28-29, Hervorhebungen im Original) Der islamische Tag beginnt dabei generell mit dem Sonnenuntergang, die Bezeichnungen der Gebete wurden von denjenigen der korrespondierenden Tageszeiten im prä-islamischen klassischen Arabisch abgeleitet. (Vgl. ebd.:29) 188 Im Zusammenspiel mit der unter die Definitionsmacht der unterschiedlichen SufiBruderschaften fallenden Autorität über die Bestimmung der Zeiten des lokalen muslimischen Festkalenders führt dies noch im heutigen Senegal dazu, dass zentrale muslimische Feiertage von den Anhängern unterschiedlicher Bruderschaften an unterschiedlichen Tagen gefeiert werden. 189 ANS 13G 67, Marty, P. : L’Islam au Sénégal, Les doctrines et la morale religieuse, 15. August 1915, fol. 15, Hervorhebungen im Original. 190 Ebd. Wobei es sich hier um eine Aussage handelt, die durchaus kritisch gewertet werden muss, da sie die Vorstellung von einer weniger ernsthaften Glaubenspraxis der Adepten des Islam Noir untermauert und die lokale Religiosität als minderwertig klassifiziert.
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In der überwiegenden Mehrheit der nicht-europäischen Stadtviertel außerhalb der Zentren und der ville blanche herrschten daher in Hinsicht auf die gesellschaftliche Organisation der Zeit ähnliche Zustände wie in den zahlreichen muslimisch geprägten Dörfern des Umlandes. Es kamen hier demzufolge zeitliche Handlungspraxen zur Geltung, die mit der Phrase »Vivre le temps du village«191 beschrieben werden können. Diese ›dörfliche Zeitordnung‹ basierte neben der durch die lokale muslimische Glaubenspraxis gegebenen zeitlichen Rhythmisierung in erster Linie auf klimatisch bedingten jahreszeitlichen Rhythmen und entsprechenden landwirtschaftlichen Abläufen und Handlungspraxen.192 Außerhalb von Zentren und ville blanche erfolgte die alltägliche Bestimmung der Zeit insofern die gesamte Untersuchungsperiode hinweg vermittels des Sonnenstandes193 und die Auszeichnung des morgendlichen Aufstehens wurde insofern ebenso durch den Sonnenaufgang, den Hahnenschrei194 und die typischen Laute von morgendlichen Aktivitäten wie dem Mörsern von Hirse oder Reis gekennzeichnet, wie auch durch den Aufruf des Muezzins zum Morgengebet.195 Saisonale landwirtschaftliche Arbeitsprozesse und entsprechende zeitliche Handlungspraxen bestimmten die täglichen Aktivitäten in enger Abstimmung mit denjenigen der muslimischen Glaubenspraxis. Die Verquickung der sich aus muslimischen und naturgegebenen Zyklen speisenden zeitlichen Rhythmisierung erstreckte sich dabei über den gesamten Tagesablauf, vom Morgen über die mit dem Einläuten des Mittagsgebetes beendete mittägliche Siesta, bis hin zum die Nacht und Schlafenszeit markierenden Nachtgebet.196 Entsprechend richtete sich bspw. die zeitliche Strukturierung der Unterrichtseinheiten im Koranschulwesen in den Kommunen an den Gebetszeiten aus. Die Unterrichtszeit war dabei in der Regel in zwei tägliche Einheiten gegliedert, von der die vormittägliche durch das Ende des Morgengebets (fadjr, auch subḥ genannt) eingeläutet wurde und die nachmittägliche durch den Abschluss des Mittagsgebetes (ẓuhr).197
191 192 193 194
Faye 2000: 302. Vgl. ebd.: 308. Vgl. ebd.: 305. Die Auszeichnung des morgendlichen Aufstehens vermittels des Hahnenschreis ist darüber hinaus auch für die nicht-muslimischen vornehmlich Landwirtschaft betreibenden Gesellschaften der Region verbürgt. So berichtet der Distriktkommandant des überwiegend von den Serer bewohnten Verwaltungsbezirkes Sine-Saloum E. Noirot bereits 1890 vom wandelnden Zeitgeber des Bour (lokalen Herrschers) von Saloum: »[S]on ›chronome‹ vivant: un coq blanc qui chante ponctuellement chaque matin à 4 heures et qu’une petite fille […] est chargée de porter.« (Noirot (1890) zit. in David 2012: 100) 195 Vgl. Faye 2000: 308-309. 196 Vgl. ebd.: 309. 197 Vgl. Loimeier 2001: 99, Orthographie der Arabischen Begriffe nach King 1993. Entsprechend den Ausführungen Martys unterschied sich die zeitliche Strukturierung der Unterrichtseinheiten im muslimischen Bildungswesen der Kommunen jedoch von derjenigen in den länd-
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Hinsichtlich der zeitlichen Orientierungen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft der Kommunen kam es während einer begrenzten Periode, die je nach Lokalität von Mitte oder Ende des 19. Jh. bis in die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jh. hineinreichte und nur in sehr eingeschränkten Bereichen an den Außengrenzen der kommunalen Zentren zu beobachten war198 , jedoch auch zu einer einzigartigen Ausnahme, im Zuge derer zumindest partiell von den überlieferten Praktiken der Zeitbestimmung abgesehen wurde und stattdessen uhrzeitbasierte Messungen als Grundlage der Zeitbestimmung herangezogen wurden. Dies belegen die architektonisch inkongruenten Uhreninstallationen an den ›Minaretten‹ der Moscheen in Dakar, Saint-Louis und Rufisque.199 Aus Randaus Schilderungen des Lebens in Dakar in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh. ist zu entnehmen, dass nicht nur die Zeitbestimmung, sondern auch die Zeitverkündung der muslimischen Gemeinschaft innerhalb einer bestimmten Periode durch aus dem europäischen Kontext übernommene Praktiken ersetzt wurde, wenn er schreibt, wie die Glocken der Moschee Mittags zwölfmal schlagen: »[…] quand les douze coups de midi sonnèrent à la mosquée proche.«200
lichen Regionen. Die Unterschiede zwischen den schulischen Zeitplänen in Stadt und Land resultierten dabei jedoch nicht aus unterschiedlichen Graden uhrzeitspezifischer Beeinflussung, sondern vielmehr aus den verschiedenen Formen, die das muslimische Bildungswesen hier jeweils annahm. Koranschulen im ländlichen Milieu zeichneten sich demzufolge in erster Linie auch durch ihren Internatscharakter aus, welcher sich in einem über mehrere Jahre andauernden Zusammenleben von Lehrern und Schülern sowie einem ausgefülltem Stundenplan ausdrückte: »De la première aurore à 8 heures, lecture; De 8 heures à 1 heure, travail manuel; De 1 à 4 heures, lecture; De 4 heures à 7 heures, récolte du bois de chauffage et d’éclairage, et quêtes. De 7 à 8 heures, lecture.«(Marty 1917: 70) 198 Die Moschee von Gorée steht vollkommen isoliert in einem nahezu unbewohnten und unzugänglichen Teil der Insel, diejenige in Dakar in einiger Entfernung zum europäischen Zentrum und diejenige in Saint-Louis im äußersten Norden der Flussinsel, d.h. in räumlicher Opposition zur christlichen Kirche im Süden. (Vgl. Cantone 2012: 123) Die Lokalisierung der Moscheen an den Außengrenzen der kommunalen Zentren trägt in erster Linie zweierlei Faktoren Rechnung. Einerseits stellte sie ein Zugeständnis an die mit Bürgerrechten ausgestatteten muslimischen Stadtbewohner dar, die auch die Hauptbevölkerung in eben diesen die europäischen Zentren umgebenden Stadtvierteln repräsentierten. Sie konnten daher nicht vollständig aus dem Stadtbild entfernt werden. Ihre relativ isolierte Positionierung in Hinsicht auf ihre Rolle als Fixpunkt der urbanen muslimischen Gemeinschaft erklärt sich andererseits jedoch auch daher, dass die von ihnen ausgehenden akustischen Lautsignale der Muezzins von den Europäern in den Zentren als Belästigung empfunden wurden. (Vgl. ebd.: 123, 127) 199 Vgl. ebd.: 139. Zeitgenössische historische Moscheen sind, wenn überhaupt, ansonsten immer mit Sonnenuhren ausgestattet. (Vgl. ebd.: 139, Fußnote 140) 200 Randau 1922: 132. Robert Randau ist das Pseudonym von Robert Arnaud, der von 1905 bis 1914 in der Zentralverwaltung in Dakar angestellt war. (Vgl. Brasseur 1975: 39-40)
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Abbildung 11 – Uhreninstallation an der Moschee in Rufisque (1900-1920).
Aus : Fortier (1900-1920) : Sénégal : N° 1885.
Darauf, dass die Uhreninstallationen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf eine kolonialherrschaftliche Einflussnahme zurückzuführen sind, verweist insbesondere auch der einer prestigeträchtigen Repräsentation des kolonialen Unternehmens geschuldete Baustil der »church-mosque« oder »colonial-mosque«.201 Die beiden in architektonischer Hinsicht nahezu identischen und in ebenjenem Stil errichteten Moscheen in Dakar und Saint-Louis, welche neben ihren beiden eckigen und glockenturmähnlich konstruierten Minaretten202 ursprünglich sogar an jedem ihrer beiden Türme über jeweils eine Uhreninstallation verfügten, veranschaulichen demnach einen beispiellosen kolonialherrschaftlichen Versuch zur uhrzeit201 Cantone 2012: 140. Die spezifische Mischung an christlichen und muslimischen Bauelementen beschreibt Cantone folgendermaßen: »The mosque of Saint-Louis could in fact be easily mistaken for a church: the double square minarets replace the square bell towers, the arches on the windows and arcades on the front veranda are pointed instead of semi-circular, and the towers are crowned by two small domes. In contrast to the church, however, the façade of the mosque is topped by a Classical triangular pediment and the towers, moreover, are surrounded on their lower part by a balustrade. Both these features are repeated on Mosquée Blanchot […].« (Ebd: 128) Neben diesen beiden Moscheen wird von Cantone nur noch diejenige von Gorée als architektonisches Beispiel für diesen speziellen Baustil angesehen. (Vgl. ebd.: 122, 140) 202 Vgl. Cantone 2012: 122.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Abbildung 12 – Uhreninstallation an der Moschee in Saint-Louis (1900-1920).
Aus: Fortier (1900-1920): Sénégal: N° 1967.
spezifischen Prägung und Beeinflussung der muslimischen Glaubenspraxis in den Kommunen:203 203 Moscheen und muslimische Gebetsplätze unter freiem Himmel waren keine Seltenheit im städtischen Raum der Kommunen und sind seit Beginn des 19. Jh. dokumentiert. (Vgl. Cantone 2012: 108ff.) Die Moscheen Saint-Louis und Dakar, erstere um ca. 1847 errichtet, letztere zwischen ca. 1879 und 1885, sowie auch die 1892 in Gorée gebaute, nehmen jedoch eine Ausnahmeposition ein, da sie die ersten in dauerhaften Baumaterialien wie Stein und Ziegel und mit finanzieller und bautechnischer Unterstützung der Kolonialverwaltung konstruierten Moscheen auf dem westafrikanischen Festland darstellten. (Vgl. ebd.: 120-125) Die Errichtung der Moscheen ist dabei mit der seit dem Beginn der kolonialen Expansion der Franzosen in der Mitte des 19. Jh. gepflegten Islampolitik verbunden. (Vgl. ebd.: 118) Sie diente in erster Linie der Förderung und Konsolidierung der Beziehungen zur großen islamischen Gemeinschaft in den Kommunen (vgl. ebd.: 125), worauf auch die Verwendung dauerhafter Baumaterialien verweist, die im zeitgenössischen Verständnis als Symbol für Fortschritt und Urbanisierung angesehen wurden und sich in dieser Zeit im Stadtbild der Kommunen durchzusetzen begannen. (Vgl. ebd.: 99) Dass die beiden Moscheen in Dakar und Saint-Louis eine nahezu identische Architektur aufweisen, resultierte wiederum aus finanziellen Sparzwängen. (Vgl. ebd.: 118) Die unter europäischer Einflussnahme entworfene Architektur der colonial-mosques entspricht dabei nicht den überlieferten lokalen Konstruktionsweisen, sondern steht vielmehr für einen hybriden Baustil, welcher christliche und nordafrikanische Elemente inkorporiert und letztendlich auf eine förderliche und prestigeträchtige Repräsentation des kolonialen Unternehmens abzielt. (Vgl. ebd.: 116, 216)
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Weltzeit im Kolonialstaat
»One is hard presses to assert that the towers in question bare any resemblance or remotely mimic the function oft he minaret which is to amplify the call to prayer by means oft he human voice as opposed to the Christian practice of employing bells to announce prayer times and also mark the time. Thus the mere presence of clocks on these supposed minarets undermine their true purpose while ensuring that the coloniser’s preoccupation with time and punctuality.«204 Die Uhren an den Moscheen von Dakar, Saint-Louis und Rufisque können letztendlich jedoch nur in idiosynkratischem Sinne verstanden werden205 und sind kein Ausdruck eines elaborierteren uhrzeitspezifischen Projektes der Kolonialadministration. Bereits in der nächsten, auf die initiale Ära des Baus von Stein- und Ziegelbauten, der die genannten Moscheen in Dakar und Saint-Louis zuzurechnen sind, folgenden Phase der Errichtung von Moscheen unter kolonialstaatlicher Obhut fanden Uhreninstallationen keine Verwendung mehr.206 Ein Beleg dafür, dass die Kolonialadministration in den betreffenden Kommunen jeweils nur für eine begrenzte Zeitspanne auf die Bestimmung der adäquaten Zeiten für die Ausrichtung der muslimischen Glaubenspraxis einwirken konnte und die damit einhergehende Autorität über die eigene gesellschaftliche Zeitordnung dann wieder von der muslimischen Gemeinde selbst in Anspruch genommen wurde: »Henceforth the role of timekeeping would be the sole domain of the muezzin.«207
3. Zeitkultur und zeitspezifische Handlungspraxen der urbanen Kolonialgesellschaft Die bisherige Diskussion konnte aufzeigen, dass Uhrzeiten und die europäische Zeitordnung neben ihrer grundsätzlichen Bedeutung in den Domänen der kolonialstaatlichen Organisation und der Kolonialökonomie auch als leitende Ordnungsprinzipien zur gesellschaftlichen Strukturierung der Zeit in der Kolonie herangezogen wurden. Entsprechend wurde auch die Einhaltung präziser zeitlicher Standards von Generalgouverneur Brévié in einem Rundschreiben von 1934 gekennzeichnet: »Cette observance, indispensable en effet, tant dans les relations postales ou télégraphiques et pour les observations astronomiques ou météorologiques que pour les constatations judiciaires est également utile pour assurer principale-
204 205 206 207
Ebd.: 139. Ebd.: 156-157. Vgl. ebd.: 224. Ebd.: 224, Hervorhebungen im Original.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
ment dans les centres de population européenne la régularité des transactions ou la ponctualité des fonctionnaires de tout ordre.«208 Umgeben von einer zahlenmäßig weitaus größeren lokalen Bevölkerung, die andere zeitliche Organisationsformen und Normen verfolgte als die eigene, repräsentierte die von der kleinen europäischen Gemeinschaft eingeführte und auf uhrzeitlichen Rhythmen basierende gesellschaftliche Zeitordnung unzweifelhaft eine Ausnahme. Die Durchsetzung einer auf Uhrzeiten basierenden gesellschaftlichen Organisation der Lebenswelt und die hinsichtlich des zivilisatorischen Auftrages eigentlich verbindliche Verwirklichung eines auf Grundlage der europäischen Zeitordnung strukturierten gesellschaftlichen Raum-Zeit-Gefüges konnte nur in räumlich sehr eingeschränktem Umfang realisiert werden. Die spezifische Konstitution der lokalen Kolonialherrschaft hatte mit ihrer, durch eine Politik der Instrumentalisierung geprägten und zwischen den Polen kultureller Inkorporation und Ablehnung changierenden, ambivalenten Haltung gegenüber der lokalen Bevölkerung zudem die Aufrechterhaltung von kultureller und zeitlicher Differenz befördert, die auch im unmittelbaren Einflussbereich der europäischen Zeitordnung zu einer heterogenen und hybriden gesellschaftlichen Organisation der Zeit beigetragen hat. Trotz der Aufrechterhaltung von kultureller Differenz und der vornehmlich entlang religiöser Trennlinien verlaufenden Unterschiede der Inanspruchnahme zeitlicher Referenzsysteme blieben die Partizipation an uhrzeitspezifischen Handlungsgesellschaften und die Ausübung entsprechender Handlungspraxen dabei jedoch keineswegs ausschließlich auf privilegierte und christliche Mitglieder der urbanen Gesellschaft beschränkt. Über den städtischen Arbeits- und Beschäftigungssektor wurden auch Mitglieder aller anderen Bevölkerungsgruppen der Kolonie in unterschiedlichem Grad mit der Weltzeitordnung konfrontiert und in entsprechende uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften und Handlungspraxen eingebunden. Darüber hinaus gab es sogar Versuche, das in religiösen Dimensionen fundierte zeitliche Referenzsystem der urbanen muslimischen Gemeinschaft anhand uhrzeitspezifischer Zeitnormen auszurichten. Die in den Kommunen partiell verwirklichte und weitgehend nach europäischen Maßstäben strukturierte Lebenswelt der Kolonialgesellschaft stellte dennoch die einzige Räumlichkeit innerhalb der Kolonie dar, in denen uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften und Handlungspraxen auch über den Arbeitssektor hinaus zu einem gewissen Grade die gesellschaftlichen Organisation der Zeit bestimmten. Auch hier jedoch zeichnet sich die Umsetzung dieser zeitspezifischen
208 ANS 18G 144 (108), Gouverneur Général Brévié, Circulaire au sujet de l’arrêté du 26 Février 1934 fixant l’heure légale en A.O.F., 20. März 1934, Hervorhebungen des Autors.
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Ordnungsprinzipien in erster Linie durch räumliche Begrenztheit, Exklusivität und Isolation aus. Die prinzipiellen kulturellen und zeitspezifischen Handlungspraxen der kleinen, vornehmlich europäischen Elite der Kolonialgesellschaft in den Kommunen sollen im Folgenden skizziert werden, wobei vor allem die einen Großteil dieser Gruppierung ausmachenden Angestellten der Kolonialverwaltung im Vordergrund der Betrachtungen stehen werden.
3.1. Die Isolation der französischen Zeitkultur in den Kommunen Die durch die Maßnahmen zur Segregation bewirkte Abgrenzung europäischer Lebensbereiche von der sie umgebenden Umwelt stellt ein charakteristisches Moment des kolonialen Umgangs mit Zeit dar. Einerseits wurde dadurch die Partizipation und gesellschaftliche Verbreitung von Weltzeitordnung und korrespondierenden uhrzeitspezifischen Handlungspraxen behindert, andererseits ging diese Vorgehensweise auch mit Veränderungen der zeitlichen Handlungspraxen ihrer Bewohner einher. Eine sich wiederum vor allem auch auf Basis religiöser Trennlinien manifestierende kulturelle Differenzierung und eine entsprechende Separation der Lebensbereiche innerhalb des städtischen Raums ist in Saint-Louis bereits spätestens seit der Mitte des 19. Jh. zu konstatieren.209 Bestehende Ideen kultureller Differenz werden dabei im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jh. vor allem durch sanitäre und hygienische Bedenken gefördert und während des fortschreitenden Ausbaus der europäischen Ansiedlungen auch in unveränderlicher Weise in die urbane räumliche Organisation eingeschrieben. Ab 1910 äußerte sich dies auch in einer geteilten Gesetzgebung, die sich im urbanen Raum nun entweder dezidiert auf europäische oder einheimische Habitate bezog.210 Die wohl bedeutendste der im Zuge dieser Verordnungen realisierten Maßnahmen zur Segregation der Lebenswelten stellte die infolge der Pestepidemie von 1914 realisierte räumliche Separation von europäischem (Plateau) und nicht-europäischem Stadtteil (Medina) in Dakar dar211 , welche in der Folgezeit als Modell für die Stadtentwicklung in ganz FranzösischWestafrika herangezogen wurde: »Separation of the European ›Plateau‹ from the African ›Medina‹ in Dakar was a reflection of common colonial practice in West Africa in the period. This physical division of facilities gave reality to the idea and sentiment of racial separation, which was not previously possible in the nineteenth-century settlements. It added
209 Vgl. Cantone 2012: 99, 107. 210 Vgl. Sinou 1993: 191. 211 Vgl. Pasquier 1960: 419-420.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
a new dimension to the relationship of ruler and ruled and to the framework of colonial domination.«212 Auch wenn die Segregationspolitik mit hygienischen und sanitären Notwendigkeiten begründet wurde, so basierte die Idee zur Segregation doch auf der Tatsache, dass sich die betreffenden Gruppierungen in zunehmend größerer Abneigung gegenüberstanden.213 Insbesondere die Europäer wahrten dabei gegenüber den Einheimischen kulturelle Distanz, standen sich untereinander solidarisch gegenüber und nutzten den sanitären Diskurs, um ihre vermeintliche ›rassische‹ und kulturelle Überlegenheit in die Siedlungsgeographie einzuschreiben.214 Zugleich suchten sie damit auch ihr soziokulturelles Leben vor fremdkulturellen Einflüssen zu schützen: »Derrière la crainte sanitaire transparaît évidemment la crainte sociale.«215 Die im Zuge der Maßnahmen zur Segregation getätigten Investitionen und Anstrengungen stellen auch einen bedeutenden Ausdruck der zentralistischen Investitionspolitik der Kolonialherrschaft dar und kamen letztendlich fast ausschließlich dem Ausbau der von Europäern bewohnten Stadtzentren und -viertel, der sogenannten ville blanche, zugute.216 Der Kontrast zwischen den Lebensbereichen verschärfte sich aufgrund dessen noch weiter. Zudem konnte der Ausbau der ville blanche in den meisten Fällen nur zu Lasten der nicht- europäischen Habitate realisiert werden, welche so zunehmend aus den kolonialstädtischen Zentren verdrängt wurden.217 Mit zunehmender Größe der europäischen Gemeinschaft kapselte sich diese somit immer mehr von ihrer Umgebung ab:218 »Da die Gesamtzahl der Europäer wächst, diese sich aber weiterhin ausschließlich in den Hauptstädten und Distrikthauptorten aufhalten, bilden sich dort immer stärker Enklaven heraus, in denen ein europäischer Lebensstil gepflegt werden kann. Obwohl die Europäer eine verschwindend kleine Minderheit in der Gesamtbevölkerung bilden (0,17 %) [in Bezug auf ganz Französisch Westafrika], können sie sich eine eigene, abgeschlossene Welt aufbauen. Sie verkehren ausschließlich untereinander und bestärken sich gegenseitig in ihrer Orientierung an Europa.«219 Ab den 1920er Jahren werden Isolation und Abgrenzung auch durch die Immigration der sogenannten »petit Blancs« noch einmal verschärft:
212 213 214 215 216 217 218 219
Cruise O’Brien 1972: 54. Vgl. Pasquier 1960: 419-420. Vgl. Sinou 1993: 192- 193; vgl. ferner Mercier 1965: 290. Vgl. Sinou 1993: 191. Vgl. ebd.: 300. Vgl. ebd.: 310. Vgl. Spittler 1981: 50; Mercier 1965: 294. Spittler 1981: 51; siehe auch Brunschwig 1983: 19, 41.
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»Such a people had everything to gain by demanding that superior status be awarded primarily on the basis of color, and by raising barriers against those few non-whites who were in higher or equivalent socio-economic positions in the colony.«220 Interkulturelle Interaktionen jedweder Art, die bis dahin eine Konstante und ein charakteristisches Merkmal der lokalen französischen Kolonialherrschaft darstellten, nahmen mit der Zeit immer mehr ab oder wurden im Bereich der ville blanche in weitgehend vordefinierte Bahnen gelenkt und in in wechselseitiger Hinsicht wenig invasive Formen der Auseinandersetzung umstrukturiert: »In 1934, it was noted that ›a visitor who spends a few hours in Dakar might reasonably wonder whether he is in Africa at all; except for the dockers and taxi drivers, there are not so many Negroes as are to be seen in Marseilles‹.«221 Außerhalb der von Europäern nur spärlich belebten Innenstädte und Wohnviertel blieben die Kolonialstädte dennoch Kernzentren der interkulturellen Auseinandersetzung, die als Herzstücke des kolonialen Projektes auch die prinzipiellen Kulminationspunkte von kulturellem Wandel, Austausch und Innovation darstellten. Nur dass soziokulturelle Aspekte der Weltzeitordnung dabei nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die Praxis der Segregation trug so auch dazu bei, dass der einheimischen Bevölkerung die verständnismäßige Einsicht in die wenigen überhaupt vorhandenen und intensiv durch uhrzeitspezifische Handlungsgesellschaften und Handlungspraxen geprägten Bereiche der Kolonie verwehrt blieb. Gesellschaftliche Exklusivität und Isolation beförderten somit die nur auf wenige Räumlichkeiten begrenzte Verbreitung europäischer Zeitnormen. Der letztendlich nicht umsetzbare Versuch, das eigene Milieu innerhalb der modellhaften ville blanche weitestgehend am metropolen Vorbild auszurichten und zu einer abgeschlossenen und von anderen kulturellen Einflüssen in höchstmöglichem Grade abgeschirmten Alltagswelt zu formen, entwickelte darüber hinaus auch eine Eigendynamik, die wiederum auf die zeitspezifischen Handlungspraxen ihrer Bewohner zurückwirkte und zu einer Abweichung von den eigentlich angestrebten metropolen Idealen der zeitlichen Organisation führte. Denn trotz weitgehender Isolation waren die Kolonialherren im Arbeits- und Privatleben dennoch auf die Unterstützung einheimischer Hilfskräfte angewiesen. Bereits die Notwendigkeit, mit diesen wenigen sich regelmäßig innerhalb der europäischen Lebensbereiche aufhaltenden Individuen umzugehen und zugleich kulturelle Distanz zu wahren, reichte jedoch aus, um die angestrebte Idealvorstellung ins Wanken zu
220 Cruise O’Brien 1972: 59. 221 Gorer (1935) zit. in Cruise O’Brien 1972: 55.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
bringen und zu einer Veränderung der zeitspezifischen Handlungspraxen und Umgangsformen beizutragen. Innerhalb der ville blanche beschränkte sich der Kontakt zwischen Europäern und Einheimischen dabei grundsätzlich auf die gewohnheitsmäßig und unerlässlicherweise gegenwärtigen Hausbediensteten, die sogenannten Domestiken222 , auf Interaktionen mit einheimischen Angestellten im Alltags- und Geschäftsleben sowie auf den Umgang mit diesen im Rahmen von Beschäftigungsverhältnissen:223 »Peu peuplé, ce quartier est peu fréquenté et se distingue par son ambiance feutrée des autres espaces urbains. Habité par quelques fonctionnaires et parcouru par quelques boys silencieux, il contraste avec les quartiers commerciaux, grouillants, aux maisons qui s’accordent plutôt mal que bien avec les normes administratives, et où la population est plus nombreuse et plus diversifiée.«224 Trotz der grundsätzlich bereits stark eingeengten Möglichkeiten zum interkulturellen Kontakt wurde versucht, die Begegnungssituation weiter zu reglementieren und insbesondere in Hinsicht auf die zeitliche Dauer weiter zu reduzieren und auf das absolut Nötigste zu beschränken. Einheimischen Hausangestellten war im kolonialen Haushalt daher bspw. ein »quartier réservé« vorbehalten, dass sie nur zu »certains moments« verlassen sollten, »afin d’éviter des contacts inopportuns avec maîtres et maîtresses.«225 Kolonialherrschaftliche Domizile verfügten dabei zumeist über einen separaten Nebeneingang fürs Personal und männliche Hausangestellte wurden entsprechend oft in Unterkünften außerhalb des Haupthauses, bspw. im Garten untergebracht.226 Die meisten der Franzosen kannten daher die sie umgebende lokale Bevölkerung kaum und organisierte ihren Alltag, wenn möglich, fast ausschließlich innerhalb der Grenzen der europäischen Viertel der Kolonialstädte:227 »Enfermés dans leurs ghetto doré, ils ignorent le reste de la ville.«228 Die diversen, im Zuge der bereits diskutierten Kommunalverordnungen erwähnten gesetzlich verankerten Verbote von lautstarken und lärmenden Aktivitäten, stellten weitere Reglementierungen dar, die vor allem zur Begrenzung der zeitlichen Dauer der Auseinandersetzung mit der die europäischen Viertel umgebenden einheimischen Bevölkerung darstellten. Als Ausdruck des französischen Willens zur zeitspezifischen Abgrenzung fallen dabei vor allem die zur Einhaltung der Nachtruhe vorgesehenen Verordnungen auf, welche anhand von auf der Messung von Uhrzeiten basierenden Zeitspannen definiert wurden. Bereits in der ers222 223 224 225 226 227 228
Vgl. Sinou 1993: 325; Spittler 1981: 51. Vgl. Cruise O’Brien 1972: 59; siehe ferner Lenzin 1999: 45. Sinou 1993 : 308-309. Ebd.: 323; siehe auch Gronemeyer 1991: 162. Sinou 1993: 323. Vgl. ebd.: 331; Mercier 1965: 296; siehe ferner Lenzin 1999: 45. Sinou 1993 : 325; siehe auch Pasquier 1960 : 425.
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ten Kommunalverordnung von 1870 wurde insofern verboten, in der Zeit zwischen 22 Uhr am Abend und 4 Uhr am Morgen Reis oder Hirse zu zerstampfen, weiterhin durfte vor 7 Uhr am Morgen keine Wäsche geklopft werden und die Nichteinhaltung dieser Restriktionen konnte mit Geldstrafen bis zu 5 Francs belegt werden.229 In der zweiten maßgeblichen Kommunalverordnung von 1889 wurden diese zeitspezifischen Restriktionen zur Gewährleistung der Nachtruhe präzisiert und in ihrer Dauer ausgeweitet. Die Verarbeitung von Reis oder Hirse war nun zwischen 18 Uhr am Abend und 4 Uhr am Morgen untersagt, Wäscheklopfen zwischen 20 Uhr am Abend und 4 Uhr am Morgen. Des Weiteren kam eine weitere zeitspezifische Einschränkung zur Lärmvermeidung hinzu, die nächtliches Singen, Klatschen und Musizieren unter Strafe stellte: »Après neuf heures du soir, il est défendu de battre le tam-tam, de battre des mains, de parcourir les rues en chantant et de faire aucun rassemblement, à moins d’une autorisation de l’autorité municipale.«230 Durch die in der Verordnung verwendete Begrifflichkeit tam-tam, welche von den Kolonialherren als abwertender Sammelbegriff für Freizeitaktivitäten festlichen Charakters innerhalb der einheimischen Bevölkerung verwendet wurde und die diskriminierenden stereotypen Betrachtungsweisen auf die Zeitlichkeit der einheimischen Gesellschaften spiegelt, richtete sich die zeitspezifische Restriktion hier auch im Wortlaut explizit gegen die von der lokalen Bevölkerung gepflegten zeitspezifischen Handlungspraxen. Lärmende Aktivitäten bildeten jedoch nicht nur im Zusammenhang mit der Einhaltung der Nachtruhe einen Grund für die Festlegung zeitspezifischer Restriktionen, sondern beeinträchtigten die Aufrechterhaltung eines an europäischen Maßstäben orientierten kolonialgesellschaftlichen Tagesablaufes im Allgemeinen: »Most of the Europeans who lived in the eccentric quarters complained that the Africans were making ›a lot of noise‹.«231 Zumindest in Saint-Louis wurden daher auch hinsichtlich der Einhaltung der für die körperliche und geistige Gesundheit der europäischen Kolonialen so bedeutsamen Mittagsruhe bzw. Siesta Reglemen-
229 ANS L11, Gouverneur du Sénégal Valière, Arrête concernant la salubrité publique et la police de la ville de Dakar, 29. September 1870, Art. 11. 230 ANS L11 , Maire de Dakar, Arrête sur la police municipale de la commune de Dakar, 25. Februar 1889, Art. 8. 231 Ngalamulume 2003: 75; zur Lärmproblematik siehe auch Chatelier 1997: 817-818. Nächtliche Ruhestörungen stellten auch in kleineren Ansiedlungen ein Problem für die Franzosen dar und begleiteten diese auch während nächtlicher Aufenthalte in ländlichen Regionen. (Vgl. Levaré 1928: 34; Simonis 2005: 56)
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
tierungen erlassen, die es Einheimischen untersagten, bestimmte Straßenzüge in der Nähe der weißen Wohnviertel während der »l’heure de la sieste«232 zu betreten. Die Politik der Segregation und daraus erwachsende zeitspezifische Restriktionen waren innerhalb der französischen Kolonialherrschaft jedoch bei weitem nicht so ausgeprägt, wie bspw. bei den britischen oder belgischen Kolonialherren. Auch nicht beruflich dazu verpflichteten Einheimischen war es insofern grundsätzlich erlaubt, das europäische Stadtviertel jederzeit zu betreten, »même si elle n’est pas toujours encouragée.«233 Aufgrund der sehr unterschiedlichen Gegebenheiten in den senegalesischen Kolonialstädten konnte zudem nie eine vollständige Segregation von einheimischen und europäischen Lebenswelten umgesetzt werden: »Si dans les anciens comptoirs de nombreux Africains continuent à résider dans les centres de villes, il n’en est plus de même dans les villes nouvelles, même si aucune ségrégation complète n’est réalisée.«234 Darüber hinaus wurde das Prinzip der Segregation in Französisch-Westafrika nie offiziell sanktioniert und eingeführt.235
3.2. Temporär begrenzte Aufenthalte in der Kolonie Die Praktik sich nur für eine begrenzte Zeitspanne in den Kolonialterritorien aufzuhalten, stellte über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg einen weiteren zentralen Aspekt zeitspezifischer Handlungspraxen dar, der insbesondere für die europäischen Mitglieder der Kolonialgesellschaft eine essentielle Bedeutung einnahm: »[T]he French in Senegal remained only for their working years – they were born and died in France.«236 Die in den Kolonien verbrachte Zeit stellte für die europäische Kolonialgesellschaft hinsichtlich der Ausgestaltung der individuellen Lebenszeit demzufolge eine der Arbeit gewidmete Lebensperiode dar, mit deren Beendigung zumeist auch der Aufenthalt in Übersee endete. Neben diese grundsätzliche temporäre Begrenzung der Anwesenheit vor Ort gesellte sich jedoch auch noch eine in unterschiedlichem Ausmaß gepflegte Praktik, in regelmäßigen Abständen in die französische Heimat zurückzureisen: »Tous propageaient la civilisation en Afrique, la tête tournée vers
232 Sinou 1993: 194. In Saint-Louis konnte aufgrund der bereits bestehenden und über Jahrhunderte gewachsenen Baustrukturen die räumliche und kulturelle Segregation nicht so konsequent durchgesetzt werden wie im Falle jüngerer oder neuerrichteter Ansiedlungen. (Vgl. ebd.: 192, 302). 233 Ebd.:194; vgl. auch Sinou/Sternadel/Poinsot 1989: 74. 234 Sinou/Sternadel/Poinsot 1989 : 76. 235 Vgl. Coquery-Vidrovitch 1993: 18. 236 Cruise O’Brien 1972: 57.
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la France«.237 Je nach Profession, persönlichen Präferenzen und finanzieller Situation taten sich hier jedoch große Unterschiede auf. Die präferierte Rückreisezeit zum Zwecke von Urlaubs- oder Ferienaufenthalten in der Heimat lag in der im überwiegenden Teil der senegalesischen Kolonialterritorien von Juli bis September/Oktober anhaltenden jährlichen Regenzeit: »[I]l n’y avait plus de réunions à Dakar du fait de l’hivernage et du départ de presque toutes les femmes de fonctionnaires, militaires et autres, avec leurs enfants, jusqu’à fin octobre.«238 Die, wie erwähnt, mit der französischen Bezeichnung hivernage betitelte Regenperiode zeichnete sich aus europäischer Perspektive durch nur schwer ertragbare klimatische Bedingungen aus und galt daher bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh. hinein auch als Periode, in der vermehrt Krankheitsepidemien ausbrachen und das lokale Klima die Sterblichkeitsraten der Europäer in die Höhe trieb.239 Aufgrund der an die nur kurze jährliche Regenzeit angepassten landwirtschaftlichen Saison konnte während dieser Zeitspanne zudem kaum Handel mit der lokalen Bevölkerung betrieben werden und das wirtschaftliche Leben kam fast zum Stillstand.240 Darüber hinaus führten auch die im Zusammenspiel mit Regenfällen, unbefestigten Straßenverkehrswegen und einer mangelhaften Drainage in den Siedlungen häufig auftretenden Überflutungen und Einschränkungen der Mobilität dazu, dass das soziale und ökonomische Leben in der Kolonie in dieser Jahreszeit zum Erliegen kam.241 Für alle im Bereich von Kolonialadministration und Handelsökonomie tätigen Europäer bot sich die die Rückreise innerhalb dieser Periode daher insbesondere an. Neben Urlaubs- und Ferienaufenthalten geschuldeten regelmäßigen Perioden der Abwesenheit stellten insbesondere Krankheiten eine Hauptursache für temporäre Rückreisen oder Aufenthaltsunterbrechungen dar. Diese wiederum ebenfalls primär den klimatischen Bedingungen geschuldete Vorgehensweise spielte bis zum Beginn des 20. Jh. für nahezu alle Europäer in den senegalesischen Kolonialterritorien eine nicht zu unterschätzende Rolle, da bis dahin die Praktik bestand, im Falle des Ausbruches von Krankheitsepidemien zumeist die gesamte europäische Bevölkerung betroffener Kommunen und Regionen zu evakuieren oder gar zu expatriieren.242 Bis zur Intensivierung hygienischer und sanitärer Vorsorgemaß237 238 239 240 241
Brunschwig 1983: 25. Delafosse 1974: 88; vgl. auch 82. Vgl. Sinou 1993: 222. Vgl. Lakroum 1979: 66. Vgl. Pheffer 1975: 12. In Saint-Louis waren saisonale Überschwemmungen der Uferregionen durch die anschwellenden Fluten des Senegal-Flusses gang und gäbe. (Vgl. ebd. 1975: 110) In der Regenzeit 1884 traten in Rufisque bspw. zweimal aufeinanderfolgend Überschwemmungen auf, »because that rapidly growing municipality had carelessly allowed new buildings to block the natural drainage of the locale.« (Ebd) 242 Vgl. Ngalamulume 2004: 188ff.; siehe ferner Cruise O’Brien 1972: 54; Sinou 1993: 19; Pheffer 1975: 303, 402. Ngalamulume liefert eine ausgiebige Diskussion der Problematik am Beispiel
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
nahmen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. kam es dabei in Ballungsgebieten während der Regenzeit regelmäßig zu Krankheitsepidemien.243 Noch infolge eines Gelbfieberausbruches in Saint-Louis und Dakar im Jahre 1900 wurden daher bspw. hunderte von Europäern244 nach Frankreich ausgeschifft, inklusive des Generalgouverneurs Jean-Baptiste Chaudié. Die französische Zeitung L’Echo de Paris berichtete daraufhin: »[A] complete anarchy exists in Senegal since the hasty departure of M. Chaudié and the shameful flight of some civil servants following the example of their chief; it is unacceptable that the telegraph no longer functions.«245 Auf Krankheiten zurückzuführende Anwesenheitsunterbrechungen stellten jedoch auch danach noch eine häufig vorkommende Praktik dar, die im Bereich der Kolonialadministration ein konstitutives Element der Arbeit der Kolonialbeamten darstellte. Auch weil die krankheitsbedingte Sterberate und das zu erwartende Lebensalter durch Aufenthalte in den Kolonialgebieten bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh. noch drastisch erhöht bzw. reduziert wurden: »Nearly all the administrators suffered from malaria attacks […] Most of those returning to France every two years on leave required prolonged hospitalization or rest cures. Tropical diseases took a heavy toll of the Corps; between 1887 and 1912, 135 out of 984 appointees (16 percent) died in the colonies. If they did not die there, the administrators‹ lives were nevertheless dramatically shortened. Retired colonial officials died seventeen years earlier than their contemporaries who had occupied metropolitan posts. Even though sanitation and preventive medicine had improved by the 1920s, nearly a third of the 16.000 Europeans living in A.O.F. in 1929 were hospitalized an average of fourteen days.«246
243 244 245 246
von Saint-Louis, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zahlreiche Epidemien, die zu panikartigen Zuständen, einem Zusammenbruch des Wirtschafts- und Soziallebens und vielen Toten geführt hatten, zu verzeichnen gewesen waren. (Vgl. 2004: 195-196) 1878 wurden infolge eines Gelbfieberausbruches bspw. 40 % der europäischen Population von Saint-Louis dahingerafft, 1881 starben dort 600 Europäer, ein Großteil wurde außerhalb der Stadt in Sicherheit gebracht. (Vgl. Sinou 1993: 222) Die Kolonialadministration reagierte darauf zuerst mit einer Reihe von provisorischen Maßnahmen, wie bspw. verschiedenen Quarantänebestimmungen und sogar der umfassenden Repatriierung von Kolonialpersonal. (Vgl. Ngalamulume 2004: 193-4) Erst infolge eines großangelegten Sanitärprogrammes, welches neben der Segregation der Lebenswelten von Einheimischen und Europäern umfassende polizeiliche Kontrollen, Bußgelder und sanitäre Erziehungsmaßnahmen beinhaltete, konnten vergleichbare Ausbrüche von Epidemien in der Kolonie effektiver kontrolliert und letztlich auch verhindert werden. (Vgl. ebd.: 201). Vgl. Sinou 1993: 222. Insgesamt 2900 Europäer auf Schiffen evakuiert. (Vgl. ebd.) L’Echo de Paris (5.9.1900) zit. in Ngalamulume 2004 : 197. Cohen 1971 : 23.
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Die Gefährdung der »santé des fonctionnaires […] sous un climat débilitant et défavorable aux Européens« stellte auch den Grund dar, weshalb die 1897 auf mindestens drei Jahre festgeschriebene vorschriftsmäßige Dienstzeit in der Kolonie Senegal im Jahre 1905 auf zwei Jahre reduziert wurde.247 In den offiziellen administrativen Berichten fast aller Administratoren ist abgesehen davon über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg kontinuierlich von Gesundheitsproblemen, Krankheit und Kuraufenthalten die Rede, die ihre langen Aufenthalte in Frankreich rechtfertigten sollten.248 Regelmäßige und häufige Urlaubszeiten, die den Beamten zur Erholung zugestanden worden waren und die oft durch Kuraufenthalte ergänzt wurden, begründeten in der Folge eine intensiv gepflegte Praktik der temporären Abwesenheit vom Dienst.249 Die von der Dauer her ausgiebigen und allen Angestellten der Kolonialverwaltung gleichermaßen zugesprochenen Möglichkeiten zur Inanspruchnahme von Urlaubszeiten verdeutlichen dabei, welch großen Stellenwert längerfristige Aufenthalte im französischen Heimatland innerhalb kolonialstaatlicher Berufsgattungen einnahmen. Die in der Kolonie Senegal ab 1905 vorschriftsmäßig zwei Jahre andauernde Dienstzeit berechtigte die Kolonialbeamten zur Inanspruchnahme von insgesamt sieben unterschiedlichen Formen von Urlaubsaufenthalten, die sich zumeist im Rahmen von mindestens sechs Monaten Dauer bewegten.250 Neben den vielgenutzten Congés de convalescence, die auf Basis von ärztlichen Attesten und entsprechenden Entscheidungen einer Gesundheitskommission bis zu 18 Monate unter voller Lohnfortzahlung umfassen konnten, finden sich hier die ebenfalls oft in Anspruch genommenen Congés pour faire usage des eaux, Kururlaube, deren Dauer die doppelte Länge der für die Kur beanspruchte Zeit umfasste.251 Unter den am häufigsten genutzten Formen der Beurlaubung fanden sich weiterhin auch die Congés administratifs, welche mit der Dauer der in den Kolonien geleisteten Dienstzeit korrespondierten und daher in regelmäßigen Abständen in Anspruch genommen werden konnten. Sie erstreckten sich maximal über ein Jahr und waren zusätzlich auch mit einer bis zu maximal neun Monate gewährleisteten
247 ANS 10D 3-0025, Lieutenant-Gouverneur du Sénégal Peuvergne, Circulaire au sujet du temps de séjour des fonctionnaires au Sénégal, 15. Februar 1910. 248 Vgl. Delafosse 1974: 95. 249 Vgl. Brunschwig 1983: 25-26. 250 Vgl. François 1908: 6-9. 251 Ebd.: 8-9, Hervorhebungen im Original.
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Lohnfortzahlung verknüpft.252 Die durchschnittliche Dienstzeit von Kolonialverwaltern in Senegal lag dabei zwischen 1880 und 1920 bei 6,4 Jahren.253 Die vermittels der verschiedenen Urlaubsansprüche begründete Praktik der temporären Abwesenheit vom Dienst konnte in höheren beruflichen Positionen wie dem Gouverneursrang eklatante Ausmaße annehmen, wie das Beispiel von Gustave Binger zeigt, der von seiner zwischen 1893 und 1896 insgesamt 50 Monate währenden Dienstzeit als Gouverneur der Elfenbeinküste 30 Monate in Frankreich verbrachte.254 Ein weiteres extremes Beispiel aus der späteren Kolonialperiode repräsentiert Raphaël Antonetti, der von 1924 bis 1934 als Generalgouverneur Französisch-Äquatorialafrikas eingesetzt war und von diesen zehn Jahren immer noch die vergleichsweise lange Zeitspanne von vier Jahren in Frankreich verbrachte.255 Delafosse beschreibt diesbezüglich, wie noch in den Jahren 1915 bis 1918 jeder Gouverneursposten in Französisch-Westafrika grundsätzlich mindestens sechs Monate im Jahr durch Interimsbeamte geführt wurde.256 Die durchschnittliche Dauer der Dienstjahre von Gouverneuren und Generalgouverneuren betrug zwischen 1900 und 1920 auf Ebene der Föderation Französisch-Westafrikas wie auch in der Kolonie Senegal insgesamt nur 3,1 Jahre.257 Wie diese Beispiele aus dem Arbeitsbereich der Kolonialadministration verdeutlichen, gab es jedoch, entsprechend der Positionierung innerhalb der beruflichen Hierarchie, grundsätzlich große Unterschiede bei den Möglichkeiten zur Inanspruchnahme von Urlaubszeiten. Auch in den anderen Domänen der Kolonialgesellschaft dominierten letztendlich berufs- und klassenbasierte Unterschiede die Inanspruchnahme von temporären Auszeiten vom Leben in Übersee. Wo die
252 Ebd.: 8, Hervorhebungen im Original. Neben diesen vermittels der in den Kolonien geleisteten Dienstzeit begründeten Urlaubszeiten wurden jedoch auch Congés pour affaires personnelles, d.h. Urlaubsaufenthalte aus persönlichen Gründen gewährleistet. Diese konnten nur vom Kolonialminister oder Gouverneuren bewilligt werden und durften die Dauer eines Jahres nicht überschreiten (davon bis zu sechs Monate unter Lohnfortzahlung). Des Weiteren existierten Ansprüche auf Urlaub zur Weiterbildung, die sogenannten Congés pour examens (nur vom Kolonialminister zu gewähren, bis zu sechs Monate Lohnfortzahlung); Urlaub um in der kolonialen Sache dienlichen privatwirtschaftlichen Unternehmen zu arbeiten, die Congés pour servir au commerce et à l’industrie (nur vom Kolonialminister zu gewähren, bis zu drei Jahre ohne Lohnfortzahlung, jedoch mit weiterbestehenden Rentenansprüchen) und eine Art von Urlaub zur Resozialisierung, die Congés aux fonctionnaires métropolitains en expectative de réintégration dans leur département für Beamte aus dem Mutterland, die in ihre dortigen Herkunftsregionen zurückzukehren gedachten (Dauer bis zu einem Jahr, davon die Hälfte bei voller Lohnfortzahlung, die andere Hälfte bei halber). (Vgl. ebd.: 8-9) 253 Vgl. Cohen 1971: 217. 254 Vgl. Brunschwig 1983: 26. 255 Vgl. Cohen 1978: 36. 256 Vgl. Delafosse 1974: 95. 257 Vgl. Cohen 1978: 37.
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Angestellten der französischen Kolonialverwaltung noch auf die regelmäßige berufsbedingte Finanzierung eines Heimataufenthaltes zurückgreifen konnten, den sie sich sonst nicht hätten leisten können, blieb der Mehrheit der einfachen Angestellten in den Handelskompanien oder den einfachen selbständigen Händlern je nach Arbeitsvertrag oder persönlicher finanzieller Situation nichts anderes übrig als darauf zu verzichten.
3.3. Alltags- und Freizeitkultur nach französischem Vorbild Das sich in den Strategien zur Isolation der europäischen Alltagswelt und der temporären Begrenzung der Aufenthaltsdauer äußernde Bedürfnis zum Ausleben eigenkultureller zeitspezifischer Handlungspraxen wurde infolge der Vergrößerung der europäischen Bevölkerungsanteile und der Intensivierung der wirtschaftlichen und administrativen Organisation zunehmend auch durch eine Ausweitung der innerhalb der Kolonie verfügbaren Elemente französischen Alltags- und Freizeitkultur befriedigt.258 Das Angebot an Freizeitaktivitäten war für die Mitglieder der Kolonialgesellschaft vor 1900 noch recht eingeschränkt.259 Die ungleiche Entwicklung der französischen Kolonialstädte, welche in Senegal vor allem der ungleichen Dauer der französischen Präsenz in den jeweiligen Lokalitäten geschuldet war, den ökonomischen Entwicklungen in der Kolonie und zu einem gewissen Grade auch den infrastrukturellen und städtebaulichen Rahmenbedingungen260 , beinhaltete dabei auch eine ungleichmäßige Ausbildung von Freizeitkultur. Saint-Louis, das Gravitationszentrum der senegalesischen Kolonialgesellschaft des 19. Jh., hatte bspw. den Ruf einer Stadt, in der Vergnügungen aller Art eine besondere Bedeutung zugeschrieben wurde: »[…] Saint-Louis […] qui présente la particularité d’avoir toujours eu le goût et le sens des fêtes […].«261 In der langjährigen Hauptstadt der Kolonie Senegal, die von 1895 bis 1902 auch als Zentrum von ganz Französisch-Westafrika
258 Die Entwicklung der französischen Kolonialstädte in Senegal verlief dabei jedoch grundsätzlich nach einem uneinheitlichen Schema, was vor allem der ungleichen Dauer der europäischen Präsenz in den jeweiligen Lokalitäten, den jeweils vorherrschenden ökonomischen Bedingungen und zu einem gewissen Grade auch den infrastrukturellen und städtebaulichen Rahmenbedingungen geschuldet war. (Vgl. Glinga 1990: 405) 259 Vgl. Cruise O’Brien 1972: 33; Ngalamulume 2003: 75. 260 Dies betrifft vor allem Gorée, die älteste europäische Ansiedlung unter den vier Kommunen. Trotz der lange währenden europäischen Präsenz vor Ort erwies sich der für städtische Bebauung verfügbare Raum auf der dem Festland vorgelagerten Insel schon früh als zu begrenzt, um als Zentrum einer weitergehenden kolonialen Expansionspolitik fungieren zu können und eine größere städtische Population zu beherbergen. (Vgl. Sinou 1993: 192, 302) 261 Dieng 1999: 37
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gedient hatte262 , entwickelte sich schon vor 1900 eine recht umfangreiche städtische Kultur nach französischem Vorbild, die auch ein breiteres Angebot an Freizeitaktivitäten ermöglichte: »Monteil, a French explorer and soldier who worked in various capacities in SaintLouis between 1877 and 1879, reported that leisure for the French military officers was reduced to promenades on the Place du Gouvernement, theatre from time to time, (paid) baths in the ›Bruisants‹, a reception and a party at the Governor’s residence once or twice a year, the Church great festival at Christmas, and the public national holiday’s, New Year’s Day and the Fourteenth of July.«263 Neben diesen Aktivitäten erfreute sich vor allem die Mitgliedschaft in den zeitgenössischen Gesellschaftsclubs besonderer Beliebtheit. Diese beruflichen, philosophischen oder politischen Vereinigungen, die den Gentlemen’s clubs der britischen Upper Class entsprachen, waren ein wichtiges Symbol der Kolonialherrschaft und stellten eine der wichtigsten Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung in der bis dahin fast ausschließlich von Männern bevölkerten Kolonialgesellschaft dar: »The oldest club was the Freemasonry, The Grand Orient de France, which had created three lodges in Saint-Louis, that is the Saint-Jacques de la Vertu (1787), the Parfaite Union (1824), and Union Sénégalaise (1874-1876, 1880). Freemasons were famous for their anti-clericalism and ›civilizing‹ ambitions. […] Other clubs included the Cercle de la Concorde founded in 1885 by the administration employees, the Cercle des Bons Amis created in 1892, and the Aurore (1910) by a group of Senegalese who participated in the political process.«264 Die Freizeitkultur in den Kolonialstädten schloss auch die Einführung von verschiedenen dem metropolen Modell entnommenen Sportarten mit ein. Sportvereine und Clubs waren in der Anfangszeit ausschließlich Mitgliedern der Kolonialgesellschaft vorbehalten. Als 1923 in Dakar das erste Fußballspiel Senegals veranstaltet wurde, fand dieses daher auch zwischen Franzosen statt.265 Aus Sicht vieler französischer Besucher wurde das Leben in Saint-Louis dennoch als monoton wahrgenommen266 und die Stadt hatte für viele Betrachter eine »l’ambiance funèbre«.267 Dies änderte sich qualitativ wie auch quantitativ erst durch die weitere Zunahme des europäischen Bevölkerungsanteils und dem Ausbau der Stadt in den 1880er und 1890er Jahren:
262 263 264 265 266 267
Vgl. Sinou 1993: 169ff.; Robinson 2000: 62. Ngalamulume 2003: 76. Ebd.: 78; siehe auch Benoist 2008: 278. Vgl. Deville-Danthu 1997:11-12. Vgl. Ngalamulume 2003 : 76. Sinou 1993 : 222.
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»New public leisure facilities opened, including cafes, cafes-restaurants, and taverns. […] Other facilities available to women and children were A. Salomon’s beauty salon […] and the bookstore, Librairie Sénégalaise […] The annual Fourteenth of July celebration became more sophisticated, involving the procession along the city streets, coups de canon and horse races in the Champs de Mars, fireworks at the Place du Gouvernement, and a reception at the Governor’s residence. […] The electrification of Saint-Louis that began in 1887 revolutionized leisure. […] Electricity extended leisure time to 1 a.m. when it was turned off, but places such as the Café de la Poste remained open until 2 a.m.«268 In Dakar, das seine Blütezeit erst in späterer Zeit erleben sollte, lässt sich mit einiger zeitlicher Verzögerung eine ähnliche Entwicklung konstatieren. So beschränkten sich die Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung vor 1900 noch auf Treffen mit anderen Mitgliedern der Kolonialgesellschaft, auf folkloristische Musik- und Tanzaufführungen der Einheimischen, auf Spaziergänge, Reit- und Jagdausflüge, einige »cafés and restaurants where men met to drink together, discuss and play cards«269 sowie die allseits beliebten kalendarischen Feste und Feiern. Im Zuge des Bedeutungsgewinns, den Dakar als Hauptstadt von Französisch-Westafrika nach 1904 zugesprochen bekam, entwickelte sich die Freizeitkultur jedoch bis Mitte der 1930er Jahre zu einer, dem Leben in der französischen Metropole nachempfundenen bürgerlichen Unterhaltungsindustrie: »During the dry season, when the climate was good, there were balls at the Governor-General’s palace, Sunday band concerts, travelling theatre and operetta groups from France and comedians who mocked the colonial life to the amusement of the audience.«270 In einem Les Folles Nuits de Dakar betitelten Zeitungsartikel von 1932 wird die moralische Verwerflichkeit des Nachtlebens von Dakar gerügt, welches zu dieser Zeit bereits mit »transvestites, strippers, epileptic dancers and exhibitionists«271 aufwarten konnte. Ab den 1920er Jahren wurde Dakar daher auch als »le ›petit Paris‹ de l’Afrique«272 bezeichnet. In den anderen Kommunen Gorée und Rufisque hingegen, sowie auch in den meisten anderen größeren Ansiedlungen, entwickelte sich innerhalb der Untersuchungsperiode nie ein vergleichbar elaboriertes Spektrum an Alltags- und Freizeit-
268 269 270 271 272
Ngalamulume 2003 : 76-77. Cruise O’Brien 1972 : 33. Ebd. : 58. L’Indépendant Colonial in Cruise O’Brien 1972 : 58. Johnson 1971: 34; siehe ferner Randau 1922: 10, wo der Protagonist bereits in der Vorkriegszeit die Verkommenheit von Dakar mit seinen vielen Prostituierten rügt. Auch europäische Frauen waren demnach von Prostitution nicht ausgenommen. (Vgl. ebd.: 17, 57)
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kultur, auch wenn diese zeitweise einer rapiden demographischen Vergrößerung und institutionellen Weiterentwicklung unterlagen.
3.4. Familiäre und bürgerliche Aspekte der kolonialgesellschaftlichen Zeitkultur Ein weiterer Aspekt der zeitspezifischen Handlungspraxen der Kolonialgesellschaft, welcher mit der Vergrößerung der europäischen Gesellschaft, der Verbesserung der internationalen Kommunikation und des Komforts273 sowie auch der Ausweitung von Alltags- und Freizeitkultur einherging und die zeitliche Organisation in der Kolonie in starkem Maß beeinflusste, war die sich in zunehmendem Maße etablierende Praxis, zusammen mit den in kolonialen Diensten angestellten Männern auch deren Ehefrauen und Kinder in der Kolonie anzusiedeln: »The growing presence of European women in the colony, nearly 1500 by 1926, had a marked effect on the character of the white society. It is reflected in the colonial literature in which the solitary and celibate aspects of the nineteenth century give way to a much more domestic scene, with a conscious attempt to bring life in the colonies closer to family life in France.«274 Zu Veränderungen der der zeitspezifischen Handlungspraxen führte der Zuzug europäischer Frauen und Familien dabei insbesondere auch, weil sich die fast ausschließlich von Männern bevölkerte Kolonialgesellschaft275 bis dato oftmals den institutionalisierten Praktiken von Konkubinat und »mariage à la mode du pays«276 bedient hatte, um die Einsamkeit der kolonialen Situation erträglicher erscheinen zu lassen.277 Die mariage à la mode du pays stellte dabei eine Art informelle und temporäre Hochzeit dar und war über lange Zeit ein Gewohnheitsrecht in den senegalesischen Überseebesitzungen der Franzosen.278 Sie wurde gegenüber dem Konkubinat als moralischere Form der geschlechtlichen Liaison angesehen279 und kennzeichnete 273 Vgl. Cohen 1978: 44. 274 Cruise O’Brien 1972: 57; »1936 kommen in FWA [Französisch-Westafrika] auf zwei europäische Männer schon eine europäische Frau und ein Kind.« (Spittler 1981: 50) 275 Vgl. Sinou 1993: 320; Knibiehler/Goutalier 1985: 17. Wie Lenzin diesbezüglich anmerkt waren »[d]ie vorkolonialen militärischen, wissenschaftlichen, merkantilen und missionarischen Expeditionen nach Afrika […] eine reine Männerangelegenheit. Auch während der nachfolgenden Etablierung kolonialer Herrschaft lebten zur Mehrzahl europäische Männer in den neuen Überseeterritorien, so dass die koloniale Welt ausgesprochen männliche Züge annahm.« (1999: 50) 276 Glinga 1990: 414, Hervorhebungen im Original. 277 Vgl. Ebd.; Knibiehler/Goutalier 1985: 58. 278 Vgl. ebd.: 57; Glinga 1990: 414; Johnson 1971: 21. 279 Vgl. Knibiehler/Goutalier 1985: 61.
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eine nach einem genau festgelegten Heiratsvertrag abgeschlossene Ehe zwischen einem europäischen Mann und einer einheimischen Frau, die jedoch nur solange als gültig erachtet wurde, bis der Ehemann nach Europa zurückkehrte: »Der Bewerber mußte beim Vater um die Hand der Geliebten anhalten. Es wurden Mitgift und Vermögenslage beider Partner genauestens debattiert, [darüber hinaus gab es auch] einen Hochzeitszug mit Griots und Verwandten, [sowie einen] öffentlichen Jungfräulichkeitsbeweis […].«280 Die auch mit der Figur der signares und der Entwicklung der kreolischen Bevölkerung in den senegalesischen Kolonialterritorien zusammenhängende Praxis281 wird noch im 19. Jh. als Methode gekennzeichnet, die empfohlen wurde, um den vor allem aus Männern bestehenden europäischen Gemeinschaften in Übersee zu helfen, das Leben in der Abgeschiedenheit und Isolation von europäischen Frauen zu überwinden und im Falle von zu dieser Zeit noch vermehrt vorkommenden Kampfhandlungen mit Einheimischen gegebenenfalls auch Desertionen zu verhindern.282 Barot betont noch in seinem 1902 veröffentlichten Ratgeber für das Leben in den Kolonien, »daß Europäer ohne afrikanische Frauen nur ein geringes Ansehen bei ihren Soldaten und Hausangestellten besäßen. Er empfahl die Liaison mit Afrikanerinnen auch unter dem Gesichtspunkt der Landeskenntnis. Nach seiner Meinung war dies eine der besten Möglichkeiten, Sprache und Sitte eines Landes kennenzulernen. Siedlern riet er, Ehen mit Afrikanerinnen einzugehen. Die daraus hervorgehenden Mischlingskinder seinen schön, stark, intelligent und ermöglichten es, Westafrika zu französisieren.«283 Die Praxis geriet im Zuge der 1830 erfolgten Einführung des code civil immer mehr in Misskredit und reguläre Heiratsbündnisse traten in der Folge mit der Zeit an die Stelle der mariage à la mode du pays. Da Ehefrauen im Rahmen des code civil nur der soziale Status von Minderjährigen zugesprochen wurde, ging mit dieser Umstellung letztendlich auch der Verlust der ursprünglich einflussreichen und selbstständigen Stellung der temporären Ehefrauen und der Niedergang der signares einher.284 Der von 1854 bis 1861 und 1863 bis 1865 amtierende Gouverneur Senegals,
280 Glinga 1990: 414; siehe auch Knibiehler/Goutalier 1985: 57. Im Zusammenhang mit der Figur der signare ist anzumerken, dass es für diese nicht unüblich war, aufeinanderfolgend in mehrere temporäre Hochzeiten einzuwilligen: »[I]l n’était pas rare qu’après le départ du premier époux, la même femme célébrât d’autres mariages, souvent avec les remplaçants de ce dernier.« (Ebd.) 281 Vgl. Knibiehler/Goutalier 1985: 55-58; Glinga 1990: 414; Johnson 1971: 21; Benoist 2008: 68-69, 282 Vgl. Cruise O’Brien 1972: 33. 283 Spittler 1981: 51. 284 Vgl. Knibiehler/Goutalier 1985: 65-67.
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Faidherbe, war der letzte Vertreter dieses Amtes, der offiziell in temporärer Ehe mit einer Einheimischen lebte und auch mehrere Kinder mit dieser hatte.285 Neben der temporären Eheschließung existierte über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg auch eine weitverbreitete Praxis des Konkubinats, welche ebenfalls als Mittel zu Förderung der Adaption sowie zur Bekämpfung depressiver Gemütszustände und zur Erhaltung der geistigen ›Hygiene‹ der männlichen Mitglieder der Kolonialgesellschaft angepriesen wurde, wie die diesbezüglichen von Barot geäußerten Empfehlungen verdeutlichen: »L’hygiène. L’Européen qui a une femme indigène, si elle n’est pas trop inintelligente, finit par s’attacher un peu à elle, elle le tire, le soigne, dissipe son ennui et parfois l’empêche de se livrer à l’alcoolisme et aux dépravations sexuelles malheureusement si fréquentes aux pays chauds.«286 Wie im Zitat angedeutet, galt die Praxis, sich für eine begrenzte Zeitspanne einheimische Frauen als Gefährtinnen zu wählen, auch als Instrument zur Vermeidung eines ungezügelten, häufige Wechsel von Sexualpartnern beinhaltenden Sexualverhaltens. Letzteres blieb, ebenso wie auch das Konkubinat, nicht nur im petit Paris de l’Afrique, sondern auch unter Kolonialbeamten auf Inlandsreisen noch bis in die 1930er Jahre bestehen. Von Marie. F. J. Clozel, der ab 1912 auch als Generalgouverneur Französisch-Westafrikas diente, ist aus seiner Zeit als Gouverneur der Elfenbeinküste zwischen 1903 und 1905 überliefert, dass er auf Tourneen täglich einheimische Frauen zum Beischlaf einforderte, genauso wie auch fast alle anderen Mitglieder seiner Entourage.287 In Senegal wird ein als »Don Juan colonial« charakterisierter Kolonialverwalter noch 1917 in der kolonialkritischen Zeitung La Démocratie du Sénégal öffentlich angeprangert288 und Grivot spricht noch in seinem Ratgeber für Kolonialbeamte aus dem Jahre 1930 wie beiläufig davon, dass sich viele Verwalter in isolierten Bezirken einheimische Frauen nehmen würden.289 In einigen Regionen der französischen Kolonialterritorien in Afrika hatte sich dabei sogar die Praxis etabliert, Kolonialbeamten bei deren Ankunft provisorisch Frauen zur Verfügung zu stellen, die zuvor von ihren Dorfchefs unter Zwang dazu auserwählt worden waren.290 Der Kolonialverwalter R. Colin berichtet diesbezüglich
285 Vgl. Cohen 1978: 44. Randau lässt in seinem Roman jedoch auch noch die dem von 1908 bis 1915 amtierenden Generalgouverneur Merleaud-Ponty zugeschriebene Figur die mariage à la mode du pays verteidigen. (Vgl. 1922 : 25) 286 Barot 1902 : 329. 287 Vgl. Nebout (1995) zit. in Simonis 2005 : 58. 288 La Démocratie du Sénégal, 28. Oktober 1917. 289 Vgl. Grivot 1930: 8. Zum allgemeinen Kontinuität dieser Praxis bis in die 1930er Jahre vgl. auch Cohen 1978: 44. 290 Vgl. Mazenot (1956) zit. in Simonis 2005: 57. Zu diesem Sachverhalt vgl. auch Niang 1999: 49-50.
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noch 1952 aus dem Sudan : »Les gens d’ici ont toujours été contraints de donner au commandant de passage une fille pour la nuit.«291 Die kolonialgesellschaftliche Akzeptanz von Konkubinat und mariage à la mode du pays änderte sich jedoch bereits im Verlauf der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jh., als in vermehrtem Maße auch Frauen und Kinder begannen, temporär in die Überseeterritorien zu emigrieren.292 Anlässlich der 1897 bewerkstelligten Gründung der Société Française d’Émigration des Femmes sprach der Generalsekretär der Union Coloniale Française jedoch noch davon, dass es der Kolonialgesellschaft an Dauerhaftigkeit mangele.293 Der Zuzug von Ehefrauen sollte den »homme isolé, qui ne pense que retourner à la mère patrie« dazu bewegen, sich längerfristig in den Kolonien anzusiedeln und hatte im Denken zeitgenössischer Protagonisten zugleich einen moralisierenden und vor allem disziplinierenden Effekt auf die kolonialen Ehemänner, die gegen negative lokale Einflüsse geschützt werden sollten.294 Die Übersiedelung ganzer Familien in die Kolonialterritorien führte insofern dazu, dass die Isolation und Abgrenzung der europäischen Lebenswelten innerhalb der ville blanche noch weiter vergrößert wurde.295 Die Präsenz weißer Frauen steigerte dabei vor allem die sexuelle Unabhängigkeit der europäischen Kolonialgesellschaft und erleichterte damit die Distanzierung gegenüber dem lokalen Umfeld.296 Die Disziplinierung des weißen Mannes und dessen Bewahrung vor dem Verlust von kultureller Distanzierung gegenüber dem lokalen Umfeld297 , die Schaffung von rassischer Distanz und Separation, die Aufrechterhaltung des französischen Prestige298 und in zeitspezifischer Hinsicht die Rückkehr zu Ordnung und Regelmäßigkeit stellten daher die primären Zielsetzungen dieser mission civilisatrice au féminin299 dar. Die Kolonialgesellschafterhielt infolge des familiären Zuzugs eine insgesamt familienfreundlichere Ausrichtung und entwickelte eine »civilité bourgeoise«.300 Die ideale europäische Ehefrau wurde dabei vor allem als eine die Moral stabilisierende Instanz angesehen, die dem kolonialen Alltag eine dem französischen Vorbild entsprechende häusliche und bürgerliche Ordnung geben würde:
291 292 293 294 295 296 297 298 299 300
Colin (2004) zit. in Simonis 2005: 58. Vgl. Johnson 1971: 106; siehe ferner Lenzin 1999: 51-52. Vgl. Chailley-Bert (1897) zit. in Ha 2009: vii. Vgl. ebd.: viiff.; siehe ferner Stoler 1992: 332. Vgl. Cruise O’Brien 1972: 59; Spittler 1981: 50; siehe ferner Lenzin 1999: 45. Vgl. Cruise O’Brien 1972: 59; siehe ferner Stoler 1992: 332; Lenzin 1999: 48, 51-52. Zum Verlust der kulturellen Distanzierung siehe im folgenden Kapitel VII.3.6. Vgl. Ha 2009: vii, xii-xiv, xxi, xxiv. Vgl. Ha 2009: viii. Sinou 1993: 320.
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»[L]’épouse modèle […] doit […] consacrer tout son temps à la promotion d’un art de vivre colonial. Elle est l’artisan d’un ordre domestique dans la ville blanche et peut ainsi s’identifier aux maîtresses de maison de la bourgeoisie française.«301 Einige der kolonialen Ehegattinnen, die sich in diesem Sinne als besonders mustergültig erwiesen hatten, wurden sogar als Vorbilder inszeniert und zur Anwerbung weiterer möglicher Kandidatinnen für ein Leben in den Kolonien instrumentalisiert.302 Die Präsenz von französischen Frauen in der Kolonie wurde insofern grundsätzlich begrüßt und gefördert. Ihre Anwesenheit galt dennoch auch als problematisch, da ihnen »inactivity, boredom and depressions«303 zugeschrieben wurden, die als potentielle häusliche Unruheherde zu einer Beeinträchtigung der Arbeit ihrer Ehegatten führen konnten. Eintönigkeit, Langeweile und psychische Instabilität waren dabei z.T. Resultat der spezifisch kolonialen Lebensumstände, in denen einheimische Hausbedienstete nahezu alle häuslichen Arbeiten erledigten, so dass den französischen Frauen diese ‒ im Geiste der Epoche eigentlich ihnen vorbehaltenen ‒ Tätigkeitsbereiche fehlten.304 Im Rahmen familiärer uhrzeitspezifischer Handlungsgemeinschaften mussten daher im kolonialen Kontext verstärkt auch Beschäftigungsmöglichkeiten für die bürgerliche Hausfrau bereitgestellt werden. Vorschläge für die Beschäftigung europäischer Frauen beinhalteten bspw. »social work, care of African children, and studies of flora and fauna.«305 Die mit der Präsenz der französischen Frau verbundene ›bürgerliche Häuslichkeit‹ und die daraus resultierende Notwendigkeit, die zeitliche Organisation des Alltags zu modifizieren, fand dann spätestens ab 1907 auch Eingang in Ratgeber und Leitfäden für das Leben in den Kolonien. Vigne verdeutlicht dies mit seinen Vorschlägen, einer Art standardisierter, auf das Leben in verschiedenen Kolonialgebieten anwendbarer Formel für weibliche Gesellschaftsaktivitäten in Übersee: »[T]outes ces dames ont un jour, à ce point que le carnet de visites s’impose et qu’il aura un calendrier à tenir […] Donc voilà! que ce soit à Saigon, à Nouméa, à Conakry, à Fort de France, et que le thermomètre accuse ou non les 28, 30, 32 et 35 degrés, c’est aujourd’hui mercredi, le jour de Mme X…, de Mme Y…, toutes plus femmes de Gouverneur, de Colonel, de Président, de Trésorier payeur, de commerçants et de planteurs les unes que les autres. Ces dames reçoivent d’ordinaire chaque semaine, tous les quinze jours, de cinq heures à sept heures du soir, ou le 301 302 303 304 305
Ebd. : 321. Vgl. Cruise O’Brien 1972: 57. Cruise O’Brien 1972: 57; vgl. auch Ha 2009: xvi-xvii. Vgl. Stoler 1992: 333; Lenzin 1999: 52. Cruise O’Brien 1972: 57; siehe ferner Lenzin 1999: 52. Der kolonialen Ehefrau oblag es dabei im Generellen, die ›Eroberung der Herzen‹ der Kolonisierten voranzutreiben und einen allgemeinen positiven moralischen Einfluss auszuüben. (Vgl. Ha 2009 : xxiii)
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dimanche à l’issue de la messe. Aujourd’hui mercredi, deux visites à faire et une chemise à mettre! Pour le mari, ca va encore; on s’est entendu et tout est prêt à son retour du bureau. Mais pour le garçon!… aussi bien, c’est vite fait.«306 Gesellschaftliche Anlässe, der regelmäßige Empfang von Gästen in luxuriösem bürgerlichen Ambiente, wurden insofern auch als Mittel angesehen, den zeitspezifischen Bedürfnissen, die den kolonialen Frauen zugesprochen wurden, entgegenzukommen.307 In Senegalfinden sich seit den 1890er Jahren Belege für die Gewohnheit, abendliche Empfänge beim Gouverneur zu veranstalten.308 Spätestens in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. waren Gesellschaftsabende und Empfänge dann zu bestimmenden Merkmalen im Tages- und Wochenrhythmus der Kolonialgesellschaft geworden.309 Die vermehrte Übersiedelung von Familien in die Kolonialgebiete markierte somit in gewisser Weise ein wichtiges Etappenziel in einer ganzen Reihe von kolonialgesellschaftlichen Wandlungsprozessen, die sich die Angleichung von europäischer und kolonialgesellschaftlicher Freizeit- und Alltagskultur zum Ziel gesetzt hatten.
3.5. Kulturelle und zeitspezifische Provinzialität Die zeitspezifische Prägung der mit der Implementierung der Weltzeitordnung betrauten französischen Kolonialakteure übte einen nicht zu unterschätzenden, aufgrund der heterogenen Zusammensetzung dieser Gruppe jedoch nur schwerlich genauer zu bestimmenden Einfluss auf die Umsetzung zeitlicher Ordnungen in den Kolonialgebieten aus. Ohne hier den Anspruch zu verfolgen, eine abschließende Bewertung der zeitspezifischen Sozialisation und des Grades der Internalisierung von standardisierten Zeitnormen durch französische Kolonialakteure leisten zu wollen, kann dennoch eine rudimentäre diesbezügliche Einschätzung vorgenommen werden. Trotz einschlägiger Entwicklungen zur Industrialisierung und Verbreitung strikt uhrzeitspezifischer Organisationsformen im Kontext von Verstädterung und industriellen Produktionsprozessen spielten zeitliche Standards und die Orientierung anhand von Uhrzeiten im Alltagsleben der Gesamtheit des zeitgenössischen französischen Mutterlandes mit seinen zahlreichen abgelegenen und isolierten Provinzen bis gegen Ende der Untersuchungsperiode nur eine untergeordnete Rolle. Außer bei den sich aus Paris oder anderen städtischen und industriellen Zentren rekrutierenden Kolonialen, die insgesamt jedoch nur einen vergleichsweise geringen Anteil emigrationswilliger Franzosen stellten, ist daher 306 307 308 309
Vigne 1907 : 148-189. Vgl. Lenzin 1999 : 52; Ha 2009 : xxiv. ANS L11 , Gouvernement du Sénégal, Etat-Major du Gouverneur, Januar 1887, fol. 1. Siehe dazu Randau 1922: 32,65, 86, 95, 221ff.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
von einer ebenfalls nur eingeschränkten uhrzeitspezifischen Sozialisierung und einer nur wenig ausgeprägten Orientierung an industriellen zeitlichen Standards auszugehen. Entgegen der Einführung ebenjener Standards im Zuge der Ausbildung des Weltzeitzonensystems organisierte die Masse der französischen Bevölkerung ihren Tagesablauf insofern noch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh. hinein nach der zeitlichen Maßeinheit der mittleren Ortszeit. Ein Befund, der letztendlich auch durch die eingangs erwähnte vergleichsweise langandauernde Abstimmung der verschiedenen Lokalzeiten in Frankreich bestätigt wird. In der französischen Provinz überdauerten jedoch nicht nur überkommene zeitliche Standards bis ins 20. Jh. hinein, vielmehr verfügten große Teile der ländlichen Bevölkerung Frankreichs um die Jahrhundertwende weder über eine ausgeprägte lineare Zeitvorstellung noch über ein historisches Geschichtsbewusstsein.310 Die Verwendung exakter chronologischer Zeitangaben und das Beurteilen von historischen Zeitperioden bzw. das Einschätzen der zeitlichen Dauer, die ein bestimmtes Ereignis in der Vergangenheit zurückliegt, hatten für die meisten der zeitgenössischen französischen Protagonisten des fin-de-siècle insofern noch keine alltagsweltliche Bedeutung erlangt.311 Gegenwart und Vergangenheit wurden dementsprechend weniger als kausale Abfolge verschiedener Zeitabschnitte gedeutet, sondern vielmehr als einheitliche zeitliche Größe wahrgenommen: »Past and present were not two but one: a continuum of time lived, not a series of units measured by the clock.«312 In den Reihen der französischen Landbevölkerung, insbesondere in den eher abgeschiedenen Regionen Frankreichs, konnten sich insofern bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh. hinein zahlreiche Elemente vorindustrieller Zeitkultur erhalten. Diese ›traditionelle bäuerliche Zeitkultur‹ war vom Grundsatz her durch die jahreszeitlichen Rhythmen des Agrarjahres bestimmt und basierte auf überlieferten Kenntnissen und Fähigkeiten sowie damit assoziierten zeitspezifischen Gewohnheiten und Handlungsroutinen:313 »The calendar year meant nothing, the rhythm of seasons everything.«314 Die Messung bestimmter Zeitspannen orientierte sich dabei zumeist an lokal verfügbaren naturgegebenen Zeitgebern wie bspw. dem Ruf
310 Vgl. Weber 1976: 108f. Weber zitiert bspw. Befragungen von Militärrekruten aus den Jahren 1901, 1906 und 1914 über ihre historischen Kenntnisse, die belegen, dass ein erstaunlich großer Anteil der jungen Männer gar keine oder – hinsichtlich ihrer Berufswahl – nur sehr unzureichende Kenntnisse über die jüngere militärische Geschichte ihrer Nation vorzuweisen wusste. Darüber hinaus konnte bspw. nur ein Viertel der Befragten erklären, warum der 14. Juli der französische Nationalfeiertag ist. (Ebd.: 110) 311 Ebd.: 109. 312 Ebd.: 482. 313 Vgl. ebd.: 479-484. 314 Ebd.: 483.
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des Hahnes, dem Stand der Sterne oder dem Sonnenstand, der bisweilen anhand der Position des eigenen Schattens bestimmt wurde.315 Die ländliche Herkunft und Provinzialität der Zeitkultur vieler Protagonisten der Kolonialgesellschaft spiegelte sich letztendlich auch innerhalb der Kolonie. Aufgrund des im asymmetrischen kolonialen Machtverhältnis verfestigten Selbstverständnisses der kulturellen und ›rassischen‹ Überlegenheit der Europäer und der damit verbundenen großen Bedeutung von hierarchischen Strukturen war »der Lebensstil in den Kolonien [hier jedoch] in der Regel höher als in Europa.«316 Die vermittels der kolonialen Stadtentwicklung auch in die städtische Geographie eingeschriebenen sozialen Grenzen sahen insofern ein durch Exklusivität und luxuriöse Lebensumstände gekennzeichnetes Privatleben der kolonialstaatlichen Akteure vor, dessen Orientierung am metropolen bürgerlichen Lebensstil für die Mehrheit mit einer Art von sozialem Aufstieg einherging.317 Die provinziell geprägte Konstitution der Kolonialgesellschaft führte in Verbindung mit Exklusivität und bürgerlichen Idealen zu einer eigenständigen kolonialgesellschaftlichen Entwicklung in Übersee. Letztere drückte sich in erster Linie darin aus, dass sich die kleine europäische Gemeinschaft einerseits durch große innerliche Solidarität und eine konservative Gesinnung auszeichnete318 , andererseits zugleich auch stark durch Missgunst, sozialen Neid und Kleinlichkeit geprägt war,
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Vgl. ebd.: 483. Das Überdauern vorindustrieller Standards in den isolierten Regionen des Landes äußerte sich dabei nicht nur in zeitlicher Hinsicht, sondern betraf in genereller Hinsicht auch zahlreiche andere Maßeinheiten. (Vgl. ebd.: 30ff.) Die ursprünglich am 28. März 1803 offiziell eingeführte nationale Gemeinschaftswährung, der franc, musste daher in einigen Regionen noch fast bis in die 1920er Jahre hinein mit älteren Währungen wie bspw. dem écu oder dem sol konkurrieren. (Vgl. ebd.: 30, 33) Das seit 1. Januar 1840 gesetzlich geltende metrische System hingegen war um 1900 sogar z.T. noch völlig unbekannt: »In Tarn in 1893 Henri Baudrillard found the decimal system in its infancy, the hectare unknown, and measures varying even from one parish to another. A few years later a priest could aver that the metric system was non-existent in nearby Corrèze.« (Ebd.: 32) Lenzin 1999: 43. Vgl. ebd.: 45. Vgl. Delafosse 1974: 91, 113. Lenzin bietet in seiner Diskussion der schweizerischen Kolonialgesellschaft in Ghana eine gute Erklärung des allgemein konservativen Charakters europäischer Kolonialgesellschaften in Westafrika: »Erinnerungen an die ferne Heimat prägten die Wertvorstellungen und Umgangsformen in den Kolonien. Wer sein Leben in nostalgischer Weise nach fernen Gepflogenheiten ausrichtet, neigt auch zur Verklärung und Idealisierung dieser Gepflogenheiten. Deshalb nahm der koloniale Lebensstil zwangsläufig konservativen Charakter an. Gerade angesichts einer Umgebung, die als minderwertig definiert wurde, strebte die Kolonialgesellschaft nach Institutionalisierung ihrer Verhaltensweise. Einmal eingeführte Regeln und Werte mussten als Beweis von Prestige und Überlegenheit der weißen ›Rasse‹ beibehalten werden. So überlebten Wertvorstellungen und soziale Verhaltensmuster, die in den Metropolen schon lange aus der Mode gekommen waren, für die Kolonialgesellschaft aber immer noch aktuelle metropole Werte darstellten.« (1999: 47)
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
was sich insbesondere in zahlreichen und komplexen Streitigkeiten über soziale Stellung, Protokoll und berufliche Rangfolge äußerte.319 Männliche wie weibliche Mitglieder der Kolonialgesellschaft zeigten sich dabei gleichermaßen betroffen: »The provincial town of the tropics had a cultural and intellectual aridity which shocked the uninitiated, and which lent itself easily to social pettiness and a taste for exaggerated formality.«320 Die zwar die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft Frankreichs spiegelnde europäische Gemeinschaft in der Kolonie entwickelte so spezifisch koloniale Ausprägungen des ›Europäischseins‹. Auch die senegalesische Kolonialgesellschaft ist insofern durch die charakteristischen Merkmale der in B. Andersons Konzeption der »tropical gothic« ausgezeichneten »imagined communities« geprägt und repräsentiert eine Art von »middle-class aristocracy«, welche ihre Unterschiedlichkeit gegenüber den Kolonisierten ebenso kultivierte wie auch die untereinander bestehenden soziokulturellen Differenzen.321 Dies äußerte sich auch in Hinsicht auf die Entwicklung einer eigenständigen gesellschaftlichen Organisation der Zeit. Alle europäischen Mitglieder der Kolonialgesellschaft in Senegal befanden sich, wie auch ihre Landsleute im provinziellen französischen Mutterland322 , dabei grundsätzlich über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg in einem noch nicht abgeschlossenem Prozess des Erlernens der durch Weltzeitstandard und industrielle Rhythmen neugeschaffenen Zeitordnung sowie der damit verbundenen Werte und Normen. Bürgerliche Lebensweise und damit auch die bürgerliche Zeit und entsprechende zeitspezifische Handlungspraxen waren für die kolonialen Protagonisten insofern nicht gegeben, sondern Aspekte einer angestrebten, innerhalb der Untersuchungsperiode in der Kolonie jedoch nur partiell und auf weitgehend imaginäre Art und Weise realisierten Lebenswelt: »Le modèle des ›beaux quartiers‹ hante les colons qui aspirent à vivre sur les plateaux à la manière des ›bourgeois‹ des villes occidentales.«323 319
Vgl. Cohen 1978: 44; ferner Randau 1922: 77, 222. Zur allgemein großen Bedeutung von hierarchischen Strukturen für das koloniale Herrschaftsmodell siehe Lenzin 1999: 45-46. 320 Cruise O’Brien 1972: 58; siehe ferner Knibiehler/Goutalier 1985: 133-136. 321 Anderson (1983) zit. in Stoler 1992: 321. 322 Vgl. Corbin 1993: 9-18 u. 1995: 159-169, wo dieser die in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten bis ins 20. Jh. hineinreichenden zeitspezifischen Lernprozesse und die zunehmende uhrzeitspezifische Normierung der Zeit in Frankreich beschreibt. Gerade in ländlichen Regionen der verschiedenen Provinzen blieben dabei noch lange unterschiedliche Rhythmen bestehen. Die Standardisierung der Zeit ist für Corbin in den meisten Regionen Frankreichs daher noch um 1914 nicht abgeschlossen. (Vgl. 1995: 168) 323 Sinou 1993: 308-309. Siehe auch Chivas-Baron, welche noch zwischen ›falschem‹ und ›richtigem‹ bürgerlichen Verhalten unterscheidet und die zukünftigen kolonialen Ehefrauen zum ›richtigen‹ Verhalten anzuleiten gedenkt: »La coloniale modèle doit être avant tout une épouse bourgeoise, capable, où qu’elle aille, de reconstituer l’ordre bourgeois.« (2009: 82)
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Die isolierte, mit zahlreichen Privilegien ausgestattete und auf bürgerliche Lebensstandards abzielende Konzeption der städtischen Institutionen und Wohnquartiere innerhalb der ville blanche strebte dabei zwar stets das metropole Vorbild an, konnte zugleich jedoch nicht über die nur in geringfügigem Maße industrialisierte, kaum metropolen Standards entsprechende und durch die lokale Umgebung konterkarierte Realität der kolonialen Situation hinwegtäuschen. Das sich innerhalb der Kolonialgesellschaft trotzdem ausbildende bürgerliche Selbstverständnis, welches mitunter aristokratische Züge annahm, »notre vie de bohème«324 , sowie der damit verbundene Lebensrhythmus wurden vielmehr durch Kleingeistigkeit und Provinzialität bestimmt und repräsentierten eine oftmals durch Fiktion und Imagination verzerrte gesellschaftliche Wirklichkeit. Auch in zeitspezifischer Hinsicht kam es dabei zur Herausbildung eines weitgehend konstruierten gesellschaftlichen Lebensrhythmus, der zwar auf die Angleichung der temporalen Verhältnisse an diejenigen des zeitgenössischen industrialisierten Frankreich abzielte, dessen Frequenz und Tempo jedoch nie auch nur annähernd erreichte und daher ins Imaginäre abglitt, um zu einer verzerrten, aber eigenständigen kolonialgesellschaftlichen Reproduktion provinzieller französischer Zeitkultur beizutragen. Die in den vorherigen Abschnitten erläuterten Aspekten der urbanen Zeitkultur, welche sich vor allem durch die asymmetrischen Machtverhältnisse der kolonialen Situation, die Einseitigkeit des Zeitkulturtransfers, die auf bürgerliche Verhältnisse abzielende französische Lebensweise und die lokalen klimatischen Bedingungen beeinflusst sahen, können dabei als Kernelemente dieses spezifisch kolonialgesellschaftlichen Lebensrhythmus angesehen werden. Die alltäglichen Routinen dieses Lebensrhythmus waren, abseits von Arbeitsund Beschäftigungsverhältnissen, einerseits durch luxuriöse Lebensumstände und ein immer größer werdendes Repertoire an Freizeitaktivitäten gekennzeichnet, andererseits durch eine generelle Abgeschiedenheit, zeitliche Begrenztheit, bürgerliche Häuslichkeit, eine gewisse Gemächlichkeit und das Bedürfnis zur Entspannung und Erholung. Es verwundert insofern nicht, dass Sinou diesen vor allem durch Langeweile und fortwährenden Müßiggang gekennzeichneten Lebensrhythmus, insbesondere auch im Zusammenhang mit dem im Umfeld der vier Kom324 Randau 1922: 24; siehe auch Delafosse 1974: 81. Konservatismus und Provinzialität des kolonialen Landadels verschreckte nicht initiierte Beobachter dabei noch bis zum Ende der Kolonialperiode. In einem Artikel über das soziale Leben in der Föderationshauptstadt Dakar wird daher noch 1957 über die »200 familles [qui] constituent la gentry dakaroise“ berichtet: »Elle a ses rites; on n’a pas de noms, seulement des prénoms comme dans les cours royales.« (Richard (1957) zit. in Faye 1990: 199) Innerhalb der administrativen Leitungsebene fand die Entwicklung dieses bürgerlichen Selbstverständnisses und der oftmals damit verbundene soziale Aufstieg in Form einer veritablen Aristokratisierung bereits zu Beginn der Untersuchungsperiode seine Fortsetzung. Zur Aristokratisierung leitender Kolonialbeamter siehe Fall 2005: 296-298; Niang 1999: 49.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
munen vorherrschenden relativ milden Küstenklima, welches zu bestimmten Jahreszeiten den klimatischen Bedingungen des mediterranen Sommers ähnelt325 , als einen Typus von Lebensrhythmus charakterisiert, der oft zur Beschreibung des Lebens in den südlichen mediterranen Regionen Europas herangezogen wird: »L’oisiveté des fonctionnaires, la faible activité qui règne dans ces villes ne sont pas sans évoquer les rythmes de vie des stations balnéaires. […] Ils [les fonctionnaires] aspirent à en [des villes] faire des lieux qui rappellent les espaces de villégiature, susceptibles de séduire les Français enquête d’un luxe de vie auquel ils ne peuvent prétendre en Métropole, L’espace sera à l’image des activités des classes supérieures, non pas centrée sur la production mais sur les loisirs. Quant à l’inactivité de cette population mise en valeur par toute une littérature coloniale, elle deviendra matière à repos du corps et de l’esprit, qui ainsi résisteront mieux au climat et aux tentations.«326
3.6. Aufrechterhaltung und Verlust erlernter Zeitnormen und Handlungspraxen Alle bisher genannten Aspekte der kolonialgesellschaftlichen Zeitkultur, d.h. die Tendenz zur Abgrenzung der europäischen Alltagswelt, die Kurzfristigkeit und temporäre Begrenzung der Aufenthalte in den Kolonien, die Ausweitung von europäischer Alltags- und Freizeitkultur und des familiären Privatlebens verfolgten in erster Linie die Zielsetzung der Wahrung von kultureller und zeitlicher Distanz zwischen Kolonialgesellschaft und der sie umgebenden einheimischen Bevölkerung. Allein schon die Aufrechterhaltung der zeitlichen Werte, Normen und Standards der französischen Lebensweise und die Erhaltung der eigenen kulturellen Orientierungen stellte für die nur kleine europäische Gemeinschaft in Übersee demzufolge eine zentrale Anstrengung und nicht zu unterschätzende Belastungsprobe dar. Die insofern weniger der Implementierung der Weltzeitordnung innerhalb der lokalen Bevölkerung, sondern primär nur der Aufrechterhaltung von französischer Zeitkultur in der europäischen Kolonialgesellschaft dienenden Maßnahmen verweisen somit auf eine wechselseitige Dimension von Kulturtransfer und Kulturkontakt, welche der Idee der Zivilisierungsmission und dem Selbstverständnis der mit ihrer Umsetzung betrauten kolonialen Protagonisten diametral gegenüberstand. Der europäische Kolonialismus zeigt sich in diesem Zusammenhang als ein »umfassendes Phänomen interkultureller Begegnung«327 , welches sich vor
325 Vgl. Sinou 1993: 329. 326 Ebd. : 329-330. 327 Osterhammel (2001) zit. in Frank 2006: 9.
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allem auch durch »Kulturverflechtung«328 oder »Transkulturation«329 , d.h. das Vorkommen einer: »wechselseitigen Übertragung bestimmter Kulturelemente«330 auszeichnete. Die »Dominanz des europäischen kulturellen Engagements«331 bzw. die »Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf Fremdanpassung und der Bereitschaft zur Selbstanpassung«332 seitens der europäischen Kolonialherren sowie das stark asymmetrische koloniale Machtverhältnis gingen dabei jedoch nicht unweigerlich auch mit einer größeren kulturellen Beeinflussung durch die Europäer einher.333 Vielmehr stand »[d]em Widerstand der kolonisierten Gesellschaften gegen die europäischen Missionierungs- und Zivilisierungsbemühungen […]eine Bereitschaft – beziehungsweise, negativ formuliert, Anfälligkeit – seitens der Kolonisten gegenüber, die fremde Lebensweise zu übernehmen oder sich ihr doch anzunähern.«334 Die in den vorherigen Abschnitten erläuterte, nur wenig souveräne und beständige Konstitution der kolonialgesellschaftlichen Zeitkultur verdeutlicht die Anfälligkeit gegenüber zeitspezifischer kultureller Beeinflussung und die Entwicklung einer diesbezüglichen Abwehrhaltung, darüber hinaus zeigt sich jedoch auch, dass alle ergriffenen zeitspezifischen Maßnahmen nur bedingte Wirksamkeit entfalteten und zudem nur in räumlich sehr eingeschränkten Bereichen effektiv Anwendung fanden. An eine umfassende Implementierung der Weltzeitordnung und gesamtgesellschaftliche Umsetzung französischer Zeitkultur war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Die restriktiven und abweisenden Maßnahmen zur Erhaltung französischer Zeitkultur konnten zudem auch die wechselseitige zeitspezifische Beeinflussung nicht vollständig ausschließen. Die damit einhergehende Gefahr des »[d]énivellement […] des ›valeurs‹ européens«335 , d.h. der Diskreditierung zeitspezifischer europäischer Werte und Normen, stellte über die gesamte Untersuchungsperiode ein Charakteristikum der kolonialen Situation dar: »[Les F]rançais s’acculturent au contact des hommes de la brousse en s’imprégnant de leurs mœurs et symboliques.«336 Für die kolonialen Protagonisten resultierte die permanente fremdkulturelle Beeinflussung dabei vor allem in einer intensiven Konfliktsituation, die auf ihre personale Identität zurückwirkte und in der ihre kulturelle Orientierung und damit verbundene Überzeugungen stark in Frage gestellt wurden:
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Bitterli (1991) zit. in Frank 2006: 10. Burke (2000) zit. in Frank 2006: 10. Bitterli (1991) zit. Frank 2006: 10. Ebd. Frank 2006: 11. Ebd.: 14. Ebd. Bergmann 2000: 175. Ebd.: 191.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
»Der Ethnologe Fritz Kramer spricht [in dieser Hinsicht] von einer ›Angst‹ des Europäers, in den Tropen ›seine kulturelle Identität zu verlieren‹:’Der in den Tropen von seiner Kultur isolierte Europäer fühlt sich bedroht und zugleich versucht. […] Das autoritäre Moment des europäischen Ethnozentrismus korrespondiert mit einer irrationalen Angst, im Anderen […] unterzugehen‹.«337 Der Beeinflussung und Veränderung zeitlicher und räumlicher Wertvorstellungen kam innerhalb dieser Prozesse der personellen Erosion und des Identitätsverlustes dabei eine besondere Rolle zu, da Zeit und Raum in ihrer Funktion als Kategorien zur allgemeinen Ordnung und Strukturierung lebensweltlicher Phänomene eine übergeordnete Position einnehmen und die Änderung ihres Bedeutungsgehaltes daher immer auch auf die Gesamtheit des zugrundeliegenden Verständnisses der Lebenswelt zurückwirkt: »En effet, les valeurs d’un peuple, c’est-à-dire les attitudes, comportements, idées, concepts correspondent à une certaine perception du temps, d’espace et de relations qui se nouent entre les hommes et se concrétisent à travers les coutumes.«338 Zeit- und Raumkonzeption stehen insofern in unmittelbarer Wechselwirkung mit allen anderen kulturellen Orientierungen und Überzeugungen innerhalb einer bestimmten Lebenswelt. Jedwede interkulturelle Interaktion, die eine intensive Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Konzeptionen von Zeit und Raum beinhaltet, führt demzufolge zwangsweise auch zu einer Vermischung und Neuausrichtung der übergeordneten kulturellen Bezüge und Ordnungsprinzipien und wirkt sich damit auf die gesamte lebensweltliche Orientierung der Akteure aus: »Les valeurs s’exprimant dans la pratique des mœurs et dans la moralité de fait, déterminent un ›acquis‹. Ainsi certaines conduites appliquées à une autre civilisation donnée dont l’acquis se sédimente et se transmet lui aussi à travers les temps, troublent la perception initiale et manquent l’objectif.«339 Die intensive Konfrontation mit den zeitlichen und räumlichen Wert- und Glaubensvorstellungen, den Verhaltensweisen und Gewohnheiten der einheimischen ›Anderen‹ führte insofern in erster Linie auch zu einem Durcheinander der kulturellen Referenzsysteme der kolonialen Protagonisten und ihrer »vision normée du monde«.340 Die Problematik des Verlustes von kultureller Distanz, die »Angst vor der Verwandlung und Entfremdung«341 und die mit dem referentiellen Durcheinander korre337 338 339 340 341
Kramer (1977) zit. in Frank 2006: 14. Bergmann 2000 : 176. Ebd. : 176-177. Ebd.: 179. Frank 2006: 16, Hervorhebungen im Original.
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spondierenden Identitätskonflikte waren auch für die koloniale Situation in Senegal charakteristisch. Bei der Auszeichnung des Verlustes kultureller Distanz nahm das Konzept der ›Verkafferung’’342 , dessen Bedeutungsgehalt sich in der französischen Bezeichnung »cafarder«343 spiegelt, eine zentrale Position ein. Letztere korrespondiert auch mit der Rede vom »cafard colonial« und wird, anders als der Begriff der ›Verkafferung‹, in erster Linie zur Auszeichnung einer durch die Konfrontation mit der kolonialen Situation hervorgerufenen Depressivität verwendet, deren Bedeutungsinhalt jedoch ebenfalls eng mit dem Verlust von zeitspezifischer Orientierung verknüpft ist.344
342 Vgl. Axster 2005: 39-53. Siehe auch Lenzin 1999: 38-39, wobei dieser den Verlust von kultureller Distanz mit dem Begriff ›Vernegerung‹ kennzeichnet. Die Begrifflichkeit korrespondiert zudem mit der negativ verstandenen Überidentifikation mit einem Untersuchungsgegenstand und dem Verlust von Objektivität im Rahmen quantitativer Sozialforschung, wo dies unter dem englischen Terminus des going native diskutiert wird. (Atteslander 2003: 106) 343 Vgl. Tison/Guillemain 2013: 118; Chivas-Baron 2009: 89; Randau 1922: 119; ferner Bergmann 2000: 179, 182-185. Neben diese französische Begrifflichkeit tritt nach dem Ersten Weltkrieg auch noch diejenige der »bounioulisation“, die bspw. von Chivas-Baron 2009: 98 verwendet wird und eine Übernahme der Verhaltensweisen der verunglimpfend auch als »bounioul“ oder »bicot“ [Letzteres in Übersetzung etwa »dreckiger Araber, Nordafrikaner“] bezeichneten Soldaten nordafrikanischen Herkunft bezieht, die zwischen 1914 und 1918 auf französischer Seite kämpften. (Vgl. Löscher 2006: 83, 93 bzw. Eintrag zu »bougnoul“ in Guerard 1989: 121) 344 Vgl. Tison/Guillemain 2013 : 118; Chivas-Baron 2009 : 89. Siehe auch Houssin 1916, dessen unter dem Titel Le cafard est-il une psychose coloniale? veröffentlichte Arbeit sich gänzlich mit dem depressiven Krankheitsbild des cafard auseinandersetzt, ebenso wie auch das von Hout und Voivenel herausgegebene Werk Le cafard 1918. Der für die beiden genannten Veröffentlichungen zentrale Begriff des cafard steht dabei jedoch anders als der cafard colonial vor allem mit den depressiven Gemütszuständen der Soldaten im ersten Weltkrieg in Verbindung. Wie Tison und Guillemain herausarbeiten konnten, fand in diesem Zusammenhang eine begriffliche Übertragung vom älteren Ausdruck cafard colonial statt, welcher wiederum selbst einen Sammelbegriff darstellte, der aus Bezeichnungspraxen von als krankhaft empfundenen Gemütszuständen in unterschiedlichen Bereichen des französischen Kolonialimperiums hervorging: »[L]es médecins des colonies […] relevaient chez les soldats engagés des formes d’asthénie nouvelles provoquées par l’immersion du sujet dans un milieu soumis aux influences morbides du climat (on parle de ›psychose de chaleur‹). Le soldat colonial, nostalgique de la métropole, épuisé par le paludisme et les mauvaises conditions alimentaires, présentait tous les symptômes de cette maladie dont le nom varie au gré des contrées colonisées : soudanite, sénégalite, tonkinite, cochinchinite, guyanite, calédonite … ou plus largement ›colonite‹. ›Placez, lit-on dans une thèse, n’importe quel individu, sain et absolument normal dans des conditions d’abandon, d’oisiveté, d’ennui, de surmenage aussi, les résultats seront les mêmes que cet individu soit en France ou aux colonies.‹ La transposition du cafard colonial au cafard des soldats des tranchées s’effectue facilement.« (Tison/Guillemain 2013: 117-118) Zur Übersetzung des Begriffes cafarder, siehe Eintrag Nr. 3 zu cafard in Guerard 1989: 142; vgl. auch Löscher 2006: 103.
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Marquis-Sébie bietet eine ausführliche und auf das koloniale Leben bezogene Beschreibung der mit dem Begriff des cafard colonial verbundenen depressiven Gemütszustände: »Il arrive qu’une sorte de langueur nous envahit, langueur qui est la somme d’un acclimatement pénible, […] quelquefois qui agit sur les nerfs, d’un surcroit de fatigues, de soucis, de pensées lointaines; cette disposition influe fatalement sur notre appétit, sur notre sommeil, sur notre entrain, entrave le travail, au risque même de provoquer un désarroi dans notre moral. […] C’est le parasite du spleen colonial baptisé ›Cafard‹. Très avisé, il choisit particulièrement, pour champ de carnage, l’homme désarmé, et il arrive que sa victime attribue à ses ravages ce que d’autres rejettent sur l’injustice du siècle et l’inharmonie du monde.«345 Das Zitat verdeutlicht das breite Spektrum an körperlichen und geistigen Gebrechen, die in der zeitgenössischen Vorstellung durch diese Art der Depressivität hervorgerufen werden konnten. Insbesondere Kolonialbeamte und andere intensiv in die interkulturelle Auseinandersetzung eingebundene koloniale Protagonisten zeigten sich diesbezüglich besonders gefährdet, wie aus zahlreichen ihrer Selbstzeugnissen zu entnehmen ist:346 »Les administrateurs, par leurs pouvoirs, leur politique de distance par rapport à ›leurs sujets‹, leur train de vie et leur comportement, sont plus proches des réalités africaines et très éloignés de leurs collègues restés en France.«347 Veränderungen der eigenkulturellen Referenzsysteme und Verhaltensweisen sowie deren Annäherung und Vermischung mit denjenigen der lokalen Bevölkerung unterlagen in diesem Kontext jedoch letztendlich einer veränderten Bewertung bzw. die damit verbundenen Auswirkungen wurden nicht nur als negativ angesehen, sondern galten vielmehr auch als essentieller Bestandteil der Arbeit der Kolonialbeamten. In begrifflicher Hinsicht kann die Annäherung an und Übernahme von einheimischen Perspektiven und Verhaltensweisen hier am ehesten vermittels des Ausdrucks der Akkulturation oder Adaptierung europäischer Kolonialbeamter gefasst werden. Ausdruck fand dies dabei über die gesamte Untersuchungsperiode bereits in der Unterscheidung der zur Beschreibung der Kolonialbeamten herangezogenen Charaktertypen von Bürokraten und broussards.348 Insbesondere der Typus des 345 Marquis-Sébie 1928 : 1012-1013. 346 Vgl. Randau 1922: 119. Bergmann 2000: 175-202 bietet eine ausführliche Analyse der Identitätskonflikte, Gemütshaltungen und der Beeinträchtigungen des eigenkulturellen Wertesystems in den Selbstzeugnissen zahlreicher ehemaliger Kolonialbeamter. 347 Fall 2005 : 298. 348 Die Unterscheidung wird bspw. von M. Delafosse und R. Delavignette, »den beiden einflußreichsten Lehrern der Ecole coloniale“ vertreten, die zahlreiche Distriktkommandanten präg-
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Weltzeit im Kolonialstaat
Buschverwalters korrespondierte dabei mit der Vorstellung von der Aneignung einheimischer Verhaltensweisen.349 Der von Delavignette als Naturalisierung oder Adaptierung an die lokalen Gegebenheiten beschriebene Prozess äußerte sich in der Praxis in erster Linie in einer durch Machtfülle und Handlungsfreiheit begleiteten Annahme aristokratischer und auch despotischer Verhaltensweisen350 , welche sich auch in selbstgewählten Beinamen wie »Rois de la brousse« oder »Les vraies chefs de l’empire«351 spiegeln. Aristokratische und despotische Verhaltensweisen wurden dabei primär als Charakteristika der einheimischen Führungseliten angesehen, zu deren Abschaffung bzw. Zivilisierung die französischen Kolonialbeamten ja unter anderem eigentlich angetreten waren, weshalb gerade die Übernahme dieser als negativ angesehenen Verhaltensweisen nicht auch einer gewissen Ironie zu entbehren vermag. Bergmann gibt in ihrer breiten Analyse der literarischen Zeugnisse ehemaliger Distriktkommandanten einen guten Überblick über die verschiedenen selbstgewählten Eigenbezeichnungen, denen sich die Kommandanten nach erfolgter Adaptierung bezichtigten:
ten. (Spittler 1981: 61) Delafosse drückt in zwei seiner bedeutendsten Werke (Les états d’âme d’un colonial, 1909; Broussard ou les états d’âme d’un colonial, suivi de ses propos et opinions, 1922), ähnlich wie Delavignette (Les vrais chefs de l’Empire, 1939) seine offensichtliche Verachtung für die Bürokratie deutlich aus. Der Begriff des broussard wird spätestens seit Delafosses Veröffentlichung von 1909 zur Kennzeichnung von französischen Kolonialbeamte verwendet, welche die Arbeit im ›Busch‹ derjenigen der Bürokraten in den Verwaltungsposten und –zentren vorzogen. Entsprechend Alexandre war die Unterscheidung zwischen Posten und tournée zu allen Zeiten so bedeutsam, dass sich die Beamten schon bei der Einstellung entweder zur Arbeit im ›Busch‹, oder für eine Berufung zur Arbeit im Posten aussprachen. (Vgl. Ebd.:1970: 13) 349 R. Delavignette, einer der einflussreichsten Befürworter dieses Typus von Distriktkommandanten, empfahl eine Übernahme einheimischer Verhaltensweisen geradezu und sah diese als einen essentiellen Voraussetzung an, die nötig wäre, um den Beruf des Kommandanten in angemessener Weise ausüben zu können. (Vgl. Ebd. 1966: 35) 350 Vgl. Spittler 1981: 67, 76. Der durch Willkür und Machtmissbrauch geprägte despotische Charakter des Verwaltungshandelns vieler Kolonialbeamter ist hinreichend bekannt, siehe dazu Cohen 1971: 26, 63-64, 79-83. Hinsichtlich der zudem in vielen Fällen auch aristokratische Züge annehmenden Verhaltensweisen der Kolonialbeamten siehe Fall 2005: 296-299. Dieser vergleicht die luxuriösen Lebensumstände, die zumeist umfangreiche Entourage an Hausbediensteten, die hohen Lebenshaltungskosten und das Selbstbild der Kolonialbeamten mit den Zuständen innerhalb der einheimischen Aristokratie. 351 Auf die zentrale Bedeutung dieser Beinamen wird schon in den Titeln einiger der bekanntesten autobiographischen Werke ehemaliger Kolonialbeamter angespielt, darunter R. Delavignettes Les vrais chefs de l’Empire (1939), E. Gentils Derniers chefs d’un empire (1972) oder H. Deschamps Roi de la brousse (1975).
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
»En fin de séjour ils [les administrateurs] se ressentent plus comme des ›bandits‹, des ›hors de la lois‹, des ›chefs noirs‹, des ›Empereurs de nègres‹, des ›sultans‹ des ›épaves‹ que des administrateurs européens.«352 Selbst die infolge der Akkulturation erreichte Adaption an die Handlungspraxen der Einheimischen verhinderte jedoch nicht, dass deren Vorstellungswelten diejenigen der kolonialen Protagonisten weiterhin durcheinanderbrachten.353 Die Konfrontation mit der Lebenswelt der Kolonisierten führte aufgrund der fehlenden Intelligibilität vor allem auf psychischer und emotionaler Ebene zu Beeinträchtigungen:354 »En fait, agir simultanément à travers les voiles de deux coutumes ou de milieux troublent et ébranlent les convictions et les visions du monde«.355 Der durch den cafard colonial ausgelöste Schwermut wurde entsprechend als in der Psyche verortete degenerierte Verhaltensweise angesehen, die in erster Linie aus der Beeinflussung durch die klimatischen Bedingungen in Übersee resultierte356 und sich in zeitspezifischer Hinsicht vor allem in einer Beeinträchtigung von Tatendrang und Arbeits- bzw. Zeitdisziplin ausdrückte. Minderungen der individuellen Zeitdisziplin und Störungen der zeitlichen Orientierung sind als Ausdruck eines graduellen Identitätsverlustes entsprechend Bergmann insbesondere als Folge der mit der kolonialen Situation verbundenen Oszillation zwischen zwei Welten und der daraus resultierenden Instabilität der
352 Bergmann 2000 : 192. 353 Vgl. ebd. 2000: 185. 354 Zum Zusammenhang von fehlender intellektueller Einsicht und den emotionalen Auswirkungen der in diesem Kontext angesprochenen interkulturellen Auseinandersetzung siehe auch die ausführliche diesbezügliche Diskussion von Bergmann 2000: 182-192. 355 Ebd.: 189. 356 Sie steht insofern letztendlich im Zusammenhang mit einer ganzen Reihen von zeitgenössischen Vorstellungen über fremdkulturelle klimatische und ›rassische‹ Einwirkungen, von denen angenommen wurde, sie würden zur Ausbildung von negativen körperlichen und geistigen Veränderungen führen: »[B]eide Formen des Fremdeinflusses, der rassische und der klimatische, [waren] mit der Vorstellung verbunden, dass sie mehr oder weniger langfristig zu Degeneration führen würden, einer sowohl körperlichen als auch seelischen Transformation, die sich im äußeren Erscheinungsbild des Betroffenen ebenso manifestieren würde wie in seinen Verhaltensweisen.« (Frank 2006: 17) Die große Bedeutung die den Gefahren klimatischer und rassischer Beeinflussung zugeschrieben wurde, äußerte sich auch in zeitlicher Dimension. In Hinsicht auf die Bedrohungen klimatischer Einflussnahme äußerte sich dies darin, dass die für die Rückreise nach Frankreich, Urlaubs- und Ferienzeiten präferierte Periode mit derjenigen der Regenzeit übereinstimmte, sowie auch im kolonialgesellschaftlichen Tagesablauf, der darauf abzielte hohe Temperaturen zu vermeiden. Der Kampf gegen Gefährdungen durch ›rassische‹ Einflüsse zeigte sich in zeitlicher Dimension dagegen am Beispiel der Bekämpfung von Konkubinat und temporären Eheschließungen durch den Zuzug europäischer Frauen und die Ausweitung des familiären Privatlebens nach europäischem Modell.
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Weltzeit im Kolonialstaat
kulturellen Referenzsysteme anzusehen.357 In zeitspezifischer Hinsicht gehen diese Instabilität und die fehlende zeitliche Orientierung dabei mit einem zeitlichen Bruch einher, d.h. einer gewissen Unterwanderung des Rhythmus und der Kontinuität des historischen Zeit- und Geschichtsbewusstseins der Europäer358 : »En effet, l’apparition inattendue de l’histoire de l’Autre déstabilise le présent de l’homme blanc en mission en Afrique en lui montrant qu’à ce moment là, en Afrique, il n’est pas dans son unité de temps. Le temps pour lui ne bouge plus en un seul mouvement d’un bout à l’autre; l’avenir ne répond plus à un passé en venant présent. Autrement dit, il faut de la temporalité pour qu’autrui apparaisse.«359 Als allgegenwärtige und zugleich gefürchtete Bestandteile der europäischen Lebensweise in Übersee verdeutlichen diese sich in der Depressivität des cafard colonial spiegelnden zeitspezifischen Beeinträchtigungen, wie sehr die koloniale Situation die Orientierung anhand von europäischen Zeitnormen auf individueller Ebene erschwerte. Wie auch die in den vorherigen Abschnitten diskutierten Aspekte der gesellschaftlichen Zeitkultur in den europäischen Gemeinschaften verweist die Symptomatik des cafard colonial insofern darauf, dass die Aufrechterhaltung europäischer Zeitordnungen und die Einhaltung einer entsprechenden Zeitdisziplin unter kolonialen Bedingungen in Übersee über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg große Anstrengung erforderte, keineswegs selbstverständlich war und sich oft auch ins Gegenteil verkehrte. Der Verlust der zeitlichen Orientierung und eine ins Gegenteil verkehrte europäische Zeitdisziplin fanden letztlich wiederum in der Begrifflichkeit des Müßiggangs bzw. der Faulheit Ausdruck, welche auch schon im Kontext der Diskussion der Kolonialideologie, im erwähnten ›weißen Kreuzzug gegen den schwarzen Müßiggang‹, eine zentrale Position einnahm. Auch Marquis-Sébie vergaß seiner Beschreibung insofern nicht hinzuzufügen, dass die Hauptursache des cafard colonial und damit »[l]e pire des ennemis« des Kolonialen im Müßiggang läge und daher gelte: »Agissez pour ne pas être agi.«360 Grivot verweist in seinem Ratgeber diesbezüglich ebenfalls darauf, dass zu viel Müßiggang unter Bedingungen des »climat africain« schnell zu Verblödung führe und empfiehlt, sich ›stattdessen‹ mit Freizeitaktivitäten wie u.a. dem Sammeln von Pflanzen, Steinen, Insekten oder Masken auseinanderzusetzen.361 357 358 359 360 361
Vgl. Bergmann 2000: 179-185. Vgl. ebd.:189-200. Ebd. : 198. Marquis-Sébie 1928: 1013. Grivot 1930: 8. Die große Gefahr, die mit einem überbordenden Hang zum Müßiggang verbunden wird, äußert sich auch in anderen kolonialen Ratgebern und Leitfäden aus dieser Epoche. In den entsprechenden Werken werden dabei insbesondere Vorschläge zur individuellen Gestaltung von Tagesablauf und Freizeit betont, die einer möglicherweise entste-
VII. Zeitspezifische Ordnungspolitiken und Handlungspraxen der urbanen Gesellschaft
Von der Umkehrung europäischer Zeitnormen und der Vernachlässigung von Zeitdisziplin, die von den Europäern ja in erster Linie den einheimischen Bevölkerungen vorgeworfen wurde, waren insofern letztendlich auch die Europäer in Übersee selbst nicht ausgenommen. Das rational-progressive Zeitverständnis und die dadurch geprägte zeitgenössische Definition industriekapitalistischer Arbeitsund Zeitdisziplin bildeten insofern auch den Maßstab für die Klassifizierung der Verhaltensweisen von Europäern in der kolonialen Situation. Die im Kontext der Diskussionen um den cafard colonial gemachten Beschreibungen von übermäßigem europäischem Müßiggang erwiesen sich, anders als die Zuschreibungen von Faulheit oder Trägheit an die Einheimischen nicht als völlig unbegründet, sondern kennzeichneten vielmehr eine, auch ohne krankhafte Dimensionen annehmen zu müssen, gängige Realität in der herrschaftlichen und zumeist auch luxuriösen Lebenswelt der europäischen Kolonialherren.
henden Langeweile und damit zusammenhängendem Müßiggang entgegenwirken sollten. Zugleich findet immer wieder auch die große Bedeutung von Arbeit Betonung. Vigne stellt seinem Ratgeber bspw. das aus einem zeitgenössischen Arbeiterlied entnommene Zitat »Si tu veux forcer ton destin, Travaille!“ voran, versichert, das das koloniale Leben nicht nur durch Langeweile, Siestas und Dahindämmern unter Bananenpflanzen charakterisiert sei (1907: 155-156) und bietet ausführliche Hinweise zur Tages- und Freizeitgestaltung. (Ebd.: 156-164) Levaré gibt neben zahlreichen Ratschlägen dafür, wie man sein Hauspersonal zur Pünktlichkeit anleitet und den Tagesablauf minutiös ausgestaltet (1928: 22-36), bspw. auch umfassende Anweisungen zur Einrichtung eines Hausgartens (Ebd. 142-158) und bietet eine Liste von Utensilien zur Freizeitgestaltung. (Ebd. 229) Chivas- Baron wiederum ergeht sich in zahlreichen generellen Hinweisen für die Gestaltung des Tagesablaufes der kolonialen Ehegattin (2009: 80-98), erörtert die Tagesplanung (Ebd. 119-124), betont häufig zur Bekämpfung von Monotonie geeignete Instrumentarien und Vorgehensweisen und vergisst nicht die heilsame Bedeutung von Arbeit hervorzuheben: »Souvenez-vous du vieux dicton: un travail n’est jamais perdu. […] Travaillez avec sincérité, avec conscience.« (Ebd. 90)
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VIII. Abschließende Bemerkungen
Die im Verlauf der vorliegenden Arbeit gewonnenen Schlussfolgerungen über den Stellenwert der Implementierung von zeitspezifischen Ordnungspolitiken und exakten zeitlichen Standards im Kontext von kolonialer Herrschaft und Staatsbildung werden im Folgenden noch einmal im Rahmen einer abschließenden Betrachtung zusammengeführt. Letztere verfolgt eine Gliederung, welche die Hauptargumentationslinien entsprechend der zentralen theoretischen und praktischen Dimensionen, in denen die zeitspezifischen Prozesse diskutiert wurden, d.h. in ideologischer, machtpolitischer, administrativ-organisatorischer, ökonomischer und soziokultureller Hinsicht nachvollzieht. Wie zu Beginn der Untersuchung dargestellt, hatten sich die Zeitvorstellungen und Zeitnormen, die der kolonialen Reorganisation der Zeit in Senegal zugrunde gelegt werden sollten, bereits im Verlaufe des 19. Jh. auf Basis eines wenig umfangreichen Konglomerates von in den allermeisten Fällen nichtwissenschaftlichen und in erster Linie diskriminierenden Annahmen über die Ordnung der Zeit in verschiedenen außereuropäischen Gesellschaften entwickelt. Die abwertende zeitspezifische Klassifikation der ›Anderen‹ stand dabei in einem wechselseitigen Verhältnis zur Entwicklung des rational-progressiven Zeitverständnisses und der Arbeitszeitdisziplin der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kolonisierenden Gesellschaften. Der Faktor Zeit operierte in diesem Zusammenhang vor allem als Medium, vermittels dessen kulturelle Differenzen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten zu einem zeitlichen Entwicklungsunterschied stilisiert wurden. Im Rahmen von zeitgenössischen Theoriebildungen wurde die Gesellschaft der Kolonisierenden als evolutionär am weitesten entwickelte angesehen, wohingegen diejenige der Einheimischen in den westafrikanischen Kolonialterritorien am anderen Ende des Entwicklungsspektrums verortet wurde. Entsprechend dieser theoretischen Grundgedanken kam Vorstellungen von der richtigen Ordnung der Zeit und der moralischen Notwendigkeit, ebenjene auch an vermeintlich weniger weit entwickelte Gesellschaften zu vermitteln, ein axiomatischer Stellenwert zu. Entwicklungsstufenmodelle, Fortschrittsdenken und dementsprechende zeitspezifische Normen standen an der Basis jedweder theoretischen Erörterung über das
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Weltzeit im Kolonialstaat
Verhältnis zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten. Als Bestandteile einer in die koloniale Situation hineingetragenen ideologischen Grundauffassung strukturierten sie letztendlich auch die koloniale Praxis in allumfassender Art und Weise. Fand der Faktor Zeit noch gegen Ende des 19. Jh. in erster Linie als Bestandteil von Argumentationen zur Legitimation von kolonialer Situation und mission civilisatrice Verwendung, so stellte er in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. vielmehr ein zentrales Element von Diskursen über die in den Kolonialterritorien umzusetzende mise en valeur, Arbeitsethik und Arbeitsgesetzgebung dar. Zeitspezifische Vorstellungen, die zuvor auf einer vor allem theoretischen Ebene verortet waren, wurden im Zuge dessen weiter akzentuiert und auf eine praxisorientiertere, jedoch primär wirtschaftlichen Effizienzkriterien unterworfene Ebene transferiert. Aus einer zentralen Legitimationsgrundlage der mission civilisatrice entwickelte sich somit letztendlich die argumentative Basis für die französische Variante des sogenannten ›weißen Kreuzzuges gegen den schwarzen Müßiggang‹. Auch wenn sich die theoretischen Grundannahmen über die Unterschiede der Ordnung der Zeit in den Gesellschaften von Kolonisierenden und Kolonisierten im Verlauf dieses Prozesses im Kern nicht änderten, lässt sich dennoch eine in erster Linie an die Bedürfnisse der jeweiligen Argumentationszusammenhänge angepasste Interpretation der diskriminierenden Perspektive auf die Ordnung der Zeit in den einheimischen Gesellschaften der Kolonialterritorien nachweisen, die in der Ausprägung von unterschiedlichen zeitspezifischen Stereotypenbildern kulminierte. Trotz dieser interpretatorischen Variationen stellte der Mythos vom ›Faulen Neger‹ jedoch über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg den Dreh- und Angelpunkt der diskriminierenden Perspektive auf die Zeit der ›Anderen‹ dar. Die Zeitvorstellungen und Zeitnormen der französischen Kolonialideologie zeigten sich dementsprechend schon auf theoretischer Ebene als empirisch unbegründete, jedoch folgenreiche Faktoren zur Festschreibung von kultureller Differenz, welche in der oftmals diskriminierenden und menschenverachtenden Praxis der kolonialherrschaftlichen Akteure in Übersee ihre Fortsetzung fanden. Ironischerweise kam die diskriminierende kolonialideologische Perspektive auf die Ordnung der Zeit in der einheimischen Gesellschaft der Kolonialterritorien dem kolonialen ›Zeitprojekt‹ jedoch nicht nur zugute, sondern stand dem Anliegen der Kolonialherren, die Zeit nach europäischen Maßstäben zu standardisieren und an die Weltzeitordnung anzugleichen, auch auf nicht unerhebliche Weise im Wege. Dies äußerte sich bereits auf der höchsten und für die letztendliche praktische Ausgestaltung der Standardisierung der Zeit in den Kolonialgebieten richtungsweisenden organisatorischen Ebene des französischen Kolonialministeriums. Der dort vom Kolonialminister auf Grundlage der vorurteilsbehafteten ideologischen Auffassungen getroffene anwendungsbezogene Entschluss, die vermeintlich faulen Gewohnheiten der Einheimischen zu einem gewissen Grad zu berücksichtigen bzw. Abweichungen vom Weltzeitstandard zu tolerieren und
VIII. Abschließende Bemerkungen
die letztendliche Verfügungsgewalt über die Ordnung der Zeit aus diesem Grunde den federführenden Beamten in Übersee zu überantworten, stellte den programmatischen Ausgangspunkt für die bis in die 1950er Jahre anhaltende mangelhafte zeitliche Synchronisation innerhalb des französischen Kolonialimperiums dar. Die über verschiedene hierarchische administrative Ebenen hinab delegierte absolute zeitspezifische Verfügungsgewalt der jeweils ranghöchsten Beamten vor Ort sorgte darüber hinaus dafür, dass die bereits auf imperialer bürokratischer Ebene etablierte Vorgehensweise auch auf die untergeordneten Organisationsebenen von Föderation, Kolonialstaat und Verwaltungsbezirk übertragen wurde. Zentrale, für die Angleichung an die Weltzeitordnung und die Standardisierung der Zeit in den senegalesischen Kolonialterritorien eigentlich unabdingliche zeitspezifische Regelungen und Gesetzeswerke konnten von den zuständigen Beamten vor Ort infolgedessen auf gesetzlich legitimierter Basis verwässert, vertagt oder gar ganz ausgesetzt werden. Die diskriminierenden und unbegründeten kolonialideologischen Annahmen über die zeitspezifischen Verhaltensweisen der Einheimischen wurden folglich von vorneherein in legislative Vorgaben übertragen, die sich für das Vorhaben der Standardisierung der Zeit in schwerwiegendem Maße kontraproduktiv erwiesen. Die wenig nachhaltige Implementierung von Weltzeitordnung und präzisen zeitlichen Standards in Senegal ist jedoch nicht allein auf die auf diskriminierenden Annahmen beruhenden und wenig verbindlichen legislativen Vorgaben zurückzuführen, sondern nährte sich in erster Linie daraus, dass exakten zeitlichen Standards in der kolonialen Praxis in Senegal generell nur wenig Bedeutung zugesprochen wurde. Die sich in der Kolonialideologie niederschlagende überragende Bedeutsamkeit von rigiden zeitlichen Normen und präzisen zeitlichen Standards war entsprechend vor allem von rhetorischem Charakter. Die große ideologische Wertschätzung fand in der kolonialen Wirklichkeit in Senegal weder hinsichtlich der im Konzept der mission civilisatrice eingeschriebenen soziokulturellen Dimension der Implementierung europäischer Zeitnormen noch hinsichtlich der in der Idee der mise en valeur verkörperten ökonomischen Dimension der Etablierung europäischer Zeitregimes eine den ideologischen Vorgaben angemessene praktische Entsprechung. Die Standardisierung der Zeit nahm im senegalesischen Kolonialstaat insofern keineswegs die Form eines umfassenden zivilisatorischen Projektes an, welches vornehmlich auf die kulturelle Vermittlung des europäischen Zeitverständnisses abzielte, sondern verfolgte in programmatischer Hinsicht vor allem die in machtpolitischen, administrativ-organisatorischen und ökonomischen Dimensionen angesiedelten Leitmotive der internationalen Prozesse zur temporalen Globalisierung und Standardisierung. Selbst in diesen Kernbereichen reduzierten sich die Entwicklungen jedoch aufs absolut Notwendigste und waren entsprechend durch verspätete, unzulängliche und wenig nachhaltige Maßnahmen gekennzeichnet.
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Weltzeit im Kolonialstaat
Trotz der insgesamt nur in geringfügigem Maße den ideologischen Vorstellungen und Vorgaben entsprechenden Umsetzung von europäischen Zeitnormen im kolonialen Kontext reproduzierten die in Senegal letztendlich tatsächlich implementierten zeitspezifischen Ordnungspolitiken in Grundzügen dennoch die bereits auf ideologischer Ebene angelegten Ideen von zeitlicher Standardisierung und übersetzten diese, ebenso wie auch die korrespondierenden Vorstellungen von zeitspezifischer kultureller Differenz, in die administrativen, wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Organisationsstrukturen und Ordnungsmechanismen von Föderation und Kolonialstaat. Zu einer vergleichsweise normkonformen und nachhaltigen Umsetzung von in Europa erdachten zeitspezifischen ideologischen Vorgaben kam es letztendlich jedoch nur auf machtpolitischer und administrativ-organisatorischer Ebene. Im Rahmen von kolonialer Herrschaft, Staatsbildung und Verwaltung erlangten zeitliche Standards einen umfassenden Geltungsbereich. Sie operierten als bedeutende Instrumente zur Beförderung einer intensiveren Vernetzung des französischen Kolonialimperiums und dienten darüber hinaus als zentrale Mittel zur zeitspezifischen Organisation, Hierarchisierung, Differenzierung und Kompartmentalisierung der kolonialstaatlichen Lebenswelt. Die koloniale Implementierung der Weltzeitordnung fügte sich insofern in den Ausbau und die Ausdifferenzierung eines transnationalen zeitspezifischen Ordnungsschemas, das die bereits auf globaler Ebene angelegten hierarchischen und zentralistischen Strukturen auf kolonialstaatlicher Ebene spiegelte. In der Folge etablierte sich in Analogie zum Aufbau von Weltzeitzonensystem und französischem Kolonialimperium auch in FranzösischWestafrika ein System von föderalen und kolonialstaatlichen ›Zeitzonen‹, dessen Zentrum in Dakar verortet war. Innerhalb dieses raum-zeitlichen Koordinatensystems verringerten sich die Verfügbarkeit von präzisen zeitlichen Standards und das Vorkommen von auf exakte Zeitangaben angewiesenen zeitspezifischen Handlungsgesellschaften und Handlungspraxen, je weiter sich die zeitgenössischen Akteure von seinem Zentrum und den angegliederten Achsen entfernten. Das raum-zeitliche Koordinatensystem des französischen Kolonialismus reproduzierte dabei jedoch zugleich auch die zeitspezifischen kulturellen Differenzierungen, die in den kolonialideologischen Entwicklungsstufenmodellen angelegt worden waren. Die sich in einer abgestuften Hierarchie über alle Räumlichkeiten von Föderation und Kolonie erstreckende raum-zeitliche Strukturierung spiegelte daher nicht nur das Ausmaß der kolonialkulturellen Durchdringung, sondern ging zugleich auch mit einer zeitspezifischen Verortung der einzelnen Gebiete einher. Die Kolonialterritorien wurden in der Folge auch mit zeitspezifischen Zuschreibungen belegt, die sich in einem Spektrum bewegten, das von der Vorstellung eines lokalen ›Altertums‹ zu derjenigen einer europäischen ›Moderne‹ reichte. Zusätzlich zu dieser in die hierarchische Strukturierung des Systems eingeschriebenen zeitspezifischen Uneinheitlichkeit zeigte sich die ›Zeitlandschaft‹ innerhalb des fran-
VIII. Abschließende Bemerkungen
zösischen Kolonialimperiums jedoch auch noch durch eine weitaus folgenreichere und realere Ungleichzeitigkeit geprägt, die daraus resultierte, dass das System kolonialer ›Zeitzonen‹ an sich nur wenig Kohärenz aufwies und auf allen Ebenen der Territorialorganisation durch zahlreiche Übergangszonen, Graubereiche und sogar schwarze Löcher, d.h. Gebiete, in denen weder koloniale Herrschaft noch zeitliche Richtlinien durchgesetzt werden konnten, gekennzeichnet war. Das Gros der Lebenswelt der Kolonie Senegal war dabei über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg in nur geringfügig bis gar nicht zeitlich standardisierten, peripheren Bereichen dieses Systems von kolonialen ›Zeitzonen‹ verortet. Neben der machtpolitisch und administrativ-organisatorisch definierten Dimension der Implementierung zeitspezifischer Ordnungspolitiken bildete die mit der Einführung präziser zeitlicher Standards intrinsisch verbundene ökonomische Dimension zeitlebens die bedeutendste Triebfeder der Prozesse zur Standardisierung der Zeit auf Ebene des Kolonialstaates. Der ökonomischen Dimension der Implementierung der Weltzeitordnung wurde, trotz ihrer grundsätzlich zentralen Bedeutsamkeit, jedoch erst mit einiger Verspätung gegenüber den korrespondierenden Entwicklungen in Frankreich ausschlaggebendere Relevanz für die Realität des kolonialen Projektes in Senegal zugesprochen. Die in erster Linie an die Entwicklung der exportorientierten Handelswirtschaft gekoppelten und auf die Synchronisierung von imperialen Wirtschaftskreisläufen und lokalen wirtschaftlichen Produktionsprozessen abzielenden Maßnahmen zur ökonomischen Standardisierung der Zeit erlangten dementsprechend erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. eine größere Bedeutung. Als zentraler Profiteur der Implementierung präziserer zeitlicher Standards entwickelte sich die koloniale Handelswirtschaft in der Folgezeit dennoch zum Rückgrat der Durchsetzung der Weltzeitordnung in der Kolonie. Errichtung und Arrangement der für die Verbreitung und Gewährleistung der wirtschaftlichen Nutzung des Weltzeitstandards notwendigen temporalen Infrastrukturen und der entsprechenden industriezeitlich getakteten technischmaschinellen Ensembles fügten sich dabei zwar in die bereits existierenden Strukturen der kolonialstaatlichen Organisation ein, bewirkten als bedeutende Momente der zeitlichen Standardisierung jedoch zugleich eine zunehmende zeitspezifische Differenzierung und Akzentuierung des bis dahin etablierten kolonialstaatlichen Raum-Zeit-Gefüges. Die Implementierung präziserer zeitlicher Standards innerhalb der Handelswirtschaft führte demnach zu einer Verstärkung der auf Ebene von machtpolitischen Erwägungen und administrativer Territorialorganisation durch hierarchische, zentralistische und diffusionistische Ordnungsprinzipien begründeten raum-zeitlichen Dichotomie zwischen der in den kolonialstädtischen Zentren verorteten europäischen ›Moderne‹ und dem in der ländlichen Peripherie verorteten lokalen ›Altertum‹.
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Die zeitspezifische Charakteristik dieses an den machtpolitischen, administrativ-organisatorischen und vor allem ökonomischen Bedürfnissen von Kolonialstaat und Kolonialimperium orientierten und die zeitgenössischen Entwicklungsstufenmodelle reproduzierenden raum-zeitlichen Koordinatensystems bestimmte letztendlich auch die soziokulturellen Dimensionen der Prozesse zur Standardisierung der Zeit in der Kolonie. Dies zeigt sich insbesondere an den strukturellen Kontrasten, die vermittels der entwicklungspolitischen Doktrinen von Assimilation und Assoziation in die kolonialstaatliche Organisation eingeschrieben wurden und mit den erläuterten raum-zeitlichen Ordnungsmechanismen korrespondierten. Infolge der an der Vorstellung von einer europäisch geprägten Zukunft orientierten Doktrin der Assimilation wurden die städtischen Räume der prinzipiellen Kolonialstädte zu den privilegierten Foyers für die zivilisatorischen Anstrengungen der Kolonialherrschaft, wohingegen die Entwicklung der ländlichen Räume, bedingt durch die an einer künstlichen Vorstellung der lokalen Vergangenheit ausgerichtete Doktrin der Assoziation, in zivilisatorischer Hinsicht weitgehend sich selbst überlassen wurden. Auf soziokultureller Ebene kam es daher letztendlich nur in den assimilierten städtischen Foyers der ›Moderne‹ zu einer vergleichsweise flächendeckenden Verbreitung von Uhren, präzisen zeitlichen Standards, der Durchsetzung einer an europäischen Maßstäben ausgerichteten bürgerlichen Zeitordnung und der Herausbildung einer kleinen, partiell akkulturierten nicht-europäischen Elite, die auf individueller wie kollektiver Ebene nahezu dieselben zeitlichen Rechte und Pflichten in Anspruch nehmen konnte, die auch den Europäern in der Kolonie zugesprochen wurden. In den nur assoziierten ländlichen Regionen fanden sich hingegen kaum temporale Infrastrukturen, präzise zeitliche Standards spielten keine Rolle und die Ordnung der Zeit wurde ausschließlich in militärrechtlichen und polizeilichen Dimensionen verhandelt, in denen zeitliche Rechte für die dort ansässige einheimische Bevölkerung nicht vorgesehen waren und zeitliche Pflichten der Definitionsmacht des durch Despotie und Willkür geprägten kolonialherrschaftlichen Gewaltmonopols unterworfen waren. Innerhalb der den überwiegenden Teil des Territoriums der Kolonie ausmachenden assoziierten Gebiete fanden europäische Zeitnormen insofern ausschließlich als Mittel zur sozialen Disziplinierung und Sanktionierung von zeitspezifischer Devianz Verwendung. Die in diesem Zusammenhang statuierten zeitspezifischen Ordnungspolitiken waren hier, anders als im Falle der assimilierten Enklaven, jedoch grundsätzlich kaum von Bedeutung, da die von machtpolitischen und ökonomischen Zielsetzungen sowie opportunistischen Bedürfnissen motivierte Vorgehensweise der verantwortlichen Kolonialbeamten vor Ort in den allermeisten Fällen in der Ausprägung von auf Willkür und Despotie beruhenden habituellen zeitspezifischen Ordnungspolitiken resultierte.
VIII. Abschließende Bemerkungen
Trotz der grundsätzlich rigorosen zeitspezifischen Hierarchisierung, Differenzierung und Kompartmentalisierung des kolonialstaatlichen Raum-Zeit-Gefüges war die Umsetzung zeitspezifischer Ordnungspolitiken nicht nur in den assoziierten Territorien den Prämissen von machtpolitischen und ökonomischen Zielsetzungen sowie den opportunistischen Bedürfnissen der zuständigen Beamten unterworfen, sondern vielmehr in allen kolonialstaatlichen ›Zeitzonen‹ gleichermaßen. Statuierte Zeitordnungen wurden insofern im gesamten Kolonialstaat je nach Bedarf verformt, angepasst, verzögert oder gleich ganz ausgesetzt. Die fast immer zweckgebundene und willkürliche Interpretation jedweder statuierter zeitspezifischer Ordnungspolitiken konnte insbesondere im Rahmen der Diskussion der kolonialstaatlichen Erscheinungsform des charakteristischsten gesellschaftlichen Anwendungsgebietes industrieller Zeitnormen, d.h. des Arbeitssektors, aufgezeigt werden. Statuierte Zeitordnungen spielten hier eine grundsätzlich nur untergeordnete Rolle, insbesondere weil sich in der Handelskolonie Senegal auf Basis der Prämissen von kolonialem Profitstreben und ökonomischer Ausbeutung eine kolonialstaatliche Arbeitsorganisation herausbildete, in der von vorneherein in weiten Teilen auf eine staatlich regulierte Organisation der Produktionsbedingungen und eine korrespondierende Regulierung von Arbeitszeiten verzichtet werden konnte. Der Großteil der Produktions- und Arbeitsleistung der Kolonie wurde entsprechend im Rahmen der (nur) indirekten Zeit- und Arbeitszwängen unterliegenden und in arbeitszeitspezifischer Hinsicht nicht reglementierten präindustriellen landwirtschaftlichen Rohstofferzeugung der einheimischen Bevölkerung erwirtschaftet. Darüber hinaus konstituierte sich der kolonialstaatliche Arbeitssektor in erster Linie aus verschiedenen Formen von Zwangsarbeitsverhältnissen, die zwar direkten Zeit- und Arbeitszwängen unterlagen, in denen die Zeitnormen der industrialisierten Welt jedoch ebenfalls keine Rolle spielten. Die Ausgestaltung der Arbeitszeiten war hier allein den ökonomischen Zielsetzungen und der durch Despotie und Willkür geprägten Arbeitsorganisation der kolonialherrschaftlichen Autoritäten unterworfen. In den nur in rudimentärster Weise an die zeitliche Ordnung industrieller Arbeitswelten angegliederten kolonialstaatlichen Arbeitsbereichen von landwirtschaftlicher Rohstoffproduktion und Zwangsarbeitsmaßnahmen kam den präzisen zeitlichen Standards der Weltzeitordnung und exakt bemessenen, minutiös getakteten zeitlichen Arbeitsabläufen keine Bedeutung zu. Die fehlende Verbindlichkeit zeitspezifischer Standards und Ordnungspolitiken, die sich im Zusammenhang mit diesen beiden, vor allem in den assoziierten Gebieten zu verortenden und die Masse aller Arbeitsverhältnisse im senegalesischen Kolonialstaat ausmachenden Arbeitsbereichen äußerte, kennzeichnete in nur geringfügig eingeschränkter Art und Weise auch die Arbeitsbereiche innerhalb der assimilierten Territorien. Selbst im vor allem im Umfeld dieser privilegierten Räumlichkeiten angesiedelten und nur sehr kleinen kolonialstaatlichen Lohn-
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arbeitssektor wurde präzisen zeitlichen Standards und einer daran orientierten Arbeitsorganisation entsprechend kaum Bedeutung zugesprochen. Dabei existierte der kolonialstaatliche Lohnarbeitssektor bis auf wenige Ausnahmen über die gesamte Untersuchungsperiode fast vollständig im informellen Bereich und bestand in erster Linie aus temporär begrenzten saisonalen Beschäftigungsverhältnissen, deren Rahmenbedingungen diejenigen zeitgenössischer regulärer Lohnarbeitsverhältnisse in vielerlei Hinsicht nicht erfüllten. Die kolonialherrschaftliche Verfahrensweise, eine nicht-spezialisierte Hilfsarbeiterschaft stoßweise und kurzfristig auf temporär begrenzter oder aufgabenbezogener Basis anzustellen, erübrigte auch in diesem Bereich jedwede detailliertere Normierung und Reglementierung von Arbeitszeit und den Rückgriff auf präzise zeitliche Standards. Trotz einer weitaus intensiveren arbeitsrechtlichen Reglementierung waren exakte zeitliche Standards letzten Endes sogar im Rahmen der absolut exklusiven und nur vereinzelt vorkommenden formellen bzw. vertragspflichtigen regulären Lohnarbeitsverhältnisse von nur geringfügiger Bedeutung. Vorschriften zur Dauer von Arbeitszeiten wurden selbst in diesen privilegierten Beschäftigungsverhältnissen zumeist nicht eingehalten und zwischen dem Umgang mit vertraglich ›abgesicherten‹ Lohnarbeitern und Zwangsarbeitern existierten letztendlich über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg kaum Unterschiede. Arbeits- und Zeitzwang sowie die konsequente Abweichung von jeder arbeitszeitspezifischen Normierung zugunsten von wirtschaftlichen Profiten stellten folglich essentielle Funktionsbestandteile der zeitlichen Ökonomie im Kolonialstaat dar. Die zahlreichen nicht existenten oder nicht eingehaltenen arbeitszeitspezifischen Regelungen, die institutionalisierten Graubereiche und Abweichungen von jedweder arbeitsrechtlichen Norm offenbaren im gesamten kolonialstaatlichen Arbeitssektor einen Umgang mit Zeit, der dem eigentlichen Anliegen der kolonialen Implementierung der Weltzeitordnung, d.h. der zeitspezifischen Standardisierung und Synchronisation, zutiefst zuwiderlief. Eine partielle und jeweils situationsspezifische Abkehr von europäischen Zeitnormen und den Zielsetzungen der globalen Standardisierung der Zeit prägte nicht zuletzt auch die soziokulturelle Dimension der Prozesse zur Implementierung der Weltzeitordnung im senegalesischen Kolonialstaat. Abänderungen von statuierten Zeitordnungen zugunsten von habituellen Zeitordnungen, die den jeweiligen machtpolitischen, administrativ-organisatorischen, ökonomischen und opportunistischen Beweggründen der Kolonialherren in weitaus größerem Maße entgegenkamen als die legislativen Vorgaben aus der Metropole, bestimmten dementsprechend auch die Entwicklung der kolonialgesellschaftlichen Organisation der Zeit in Senegal. Darüber hinaus zeigen sich in diesem Zusammenhang jedoch auch die nicht allein durch das kolonialherrschaftliche Vorgehen bedingten Grenzen der Implementierung der Weltzeitordnung, da diesbezügliche Abweichungen vom Ideal der zeitspezifischen Standardisierung nach europäischem Vorbild in
VIII. Abschließende Bemerkungen
weiten Teilen auf die zeitspezifische Eigenständigkeit und Einflussnahme der Kolonisierten zurückzuführen sind. Diese vermochten dem kolonialen Vorhaben zur Implementierung von Ordnungspolitiken zur Rhythmisierung des Gesellschaftslebens effektiv lokale zeitliche Orientierungsmuster entgegenzusetzen. Auf soziokultureller Ebene war die koloniale Situation in Senegal in erster Linie durch wechselseitige Prozesse des zeitspezifischen Kulturtransfers gekennzeichnet. Trotz gegenteiliger Entwicklungen operierten europäische Ordnungspolitiken im Grundsatz dennoch von Beginn an als Leitmotive der kolonialgesellschaftlichen Organisation der Zeit. Der gregorianische Kalender und entsprechende Monats-, Wochen- und Tagesrhythmen bildeten insofern die Grundlage für eine uhrzeitlich bemessene und infolge der Angliederung an die Weltzeitordnung auch zunehmend standardisierte bürgerliche Zeitordnung. Letztere fand primär über zeitspezifische bürgerrechtliche Statuten und kommunale Ordnungspolitiken Eingang in den kolonialgesellschaftlichen Alltag. Gerade der frühe Beginn der Auseinandersetzungen über eine gemeinsame gesellschaftliche Ordnung der Zeit in den von Kolonisierenden wie auch Kolonisierten bewohnten assimilierten Territorien begründete jedoch eine langwährende und konfliktreiche zeitspezifische kulturelle Interaktion, die schon vor Beginn der Untersuchungsperiode zu einer partiellen, legislativ verbürgten Akzeptanz der lokalen Erscheinungsformen von muslimischen Ordnungspolitiken der Zeit führte. Der Verschiedenartigkeit der zur kolonialgesellschaftlichen Ordnung der Zeit herangezogenen kulturellen Referenzsysteme wurde in Form des hybriden senegalesischen ›Kolonialkalenders‹ zeitweise sogar auf Ebene der statuierten zeitspezifischen Ordnungspolitiken des Kolonialstaates explizit Ausdruck verliehen. Die durch die Akzeptanz und partielle Integration muslimischer Ordnungspolitiken der Zeit auf statuiertem Niveau repräsentierte Vielfalt kultureller Referenzsysteme wurde auf Ebene der tatsächlich gelebten habituellen zeitspezifischen Ordnungspolitiken durch eine noch weitaus größere Heterogenität der Bezugssysteme ergänzt. Letztere variierte auf Basis der jeweiligen Bevölkerungszusammensetzung der Kommunen und fand vor allem in unterschiedlichen annuellen Festkalendern Ausdruck. Trotz zahlreicher individueller und kollektiver Nuancen verfolgte der weitaus größte Teil aller in den Kommunen ansässigen Bewohner letztendlich eine gesellschaftliche Organisation der Zeit, die sich aus einer Melange von lokalen bäuerlichen und muslimischen Elementen der zeitlichen Strukturierung zusammensetzte. Ein Umstand, der über die Untersuchungsperiode hinweg einen immer größeren Stellenwert einnahm und in den Reihen der Kolonisierten in der mehr oder weniger gesamtgesellschaftlichen Adaption der muslimischen Zeitordnung mündete. Selbst in den privilegiertesten Foyers der ›Moderne‹, den in Hinsicht auf die Prozesse zur Implementierung der Weltzeitordnung eigentlich zur Mustergültigkeit bestimmten Kolonialstädten, konnten die zeitspezifischen Ordnungspolitiken
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und Handlungspraktiken der Europäer insofern keinen alleinigen Anspruch auf die ›richtige‹ Ordnung und Ausgestaltung der Zeit beanspruchen. Sie stellten zwar eine für die gesellschaftliche Zeitordnung im Kolonialstaat allgemeinverbindliche, zugleich jedoch auch absolut exklusive Ausnahme dar, die in ständiger Konkurrenz und wechselseitiger Auseinandersetzung mit einem multipolaren Feld lokaler zeitlicher Referenzsysteme und Handlungspraxen stand. Die sonderbare Diskrepanz zwischen Allgemeinverbindlichkeit und Exklusivität des europäischen Zeitregimes resultierte auf Seiten der federführenden Kolonialherren auch aus dem Unterschied, der sich zwischen den als Leitmotiven operierenden, auf standardisierten zeitlichen Maßstäben basierenden statuierten zeitspezifischen Ordnungspolitiken und den tatsächlich gelebten, habituellen zeitspezifischen Ordnungspolitiken, welche die federführenden Kolonialherren letztendlich im kolonialgesellschaftlichen Alltag etablierten, ergab. Denn trotz des allgemeinverbindlichen Anspruches und entgegen der hohen Wertschätzung, die der zeitspezifischen Dimension von Zivilisierungsprozessen in der Kolonialideologie zugesprochen wurde, gelang es den kolonialherrschaftlichen Akteuren vor Ort nie, diesem Anspruch auf soziokulturellem Niveau auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Es wurden insofern kaum Maßnahmen zur gesamtgesellschaftlichen Ausweitung der Verfügbarkeit und Anwendbarkeit von präzisen zeitlichen Standards und bürgerlicher Zeitordnung vorgenommen. Wie in allen anderen Dimensionen der Implementierung zeitspezifischer Ordnungspolitiken blieben auch die diesbezüglich auf soziokultureller Ebene getätigten Maßnahmen auf das absolut Notwendigste beschränkt. Die wenigen faktisch umgesetzten Maßnahmen zur zeitspezifischen Standardisierung und Synchronisation der soziokulturellen Lebenswelt nach europäischem Vorbild kamen fast ausschließlich den kolonialherrschaftlichen Akteuren zugute. Wie die vorangegangenen Maßnahmen zur zeitspezifischen ›Zivilisierung‹ stellte auch die Implementierung der Weltzeitordnung insofern nie ein für die Masse der lokalen Bevölkerung in die Wege geleitetes Projekt dar, sondern vielmehr ein von vorneherein auf nur wenige, zumeist ausschließlich den kolonialherrschaftlichen Akteuren vorbehaltene gesellschaftliche Bereiche beschränktes Vorhaben. Für die einheimische Bevölkerung bot sich, über die gelegentlichen privilegierten kolonialstaatlichen Arbeitsverhältnisse und einige wenige Interaktionen im Alltags- und Geschäftsleben hinaus, dementsprechend keinerlei Möglichkeiten, am neuen Zeitregime in einer sinnhaften, nutzbringenden und lebensweltlich integrierten Art und Weise teilzuhaben, denn in ihrer eigenen alltäglichen Lebenswirklichkeit fand sich praktisch kein gesellschaftlicher Bereich, in dem die importierte Zeitordnung und präzise zeitliche Standards von umfassenderer Bedeutung gewesen wären. Das die europäische Gesellschaftsentwicklung dominierende und formende Regime der koordinierten Weltzeitordnung nahm in der kolonialen Situation in erster Linie die Züge eines wirklichkeitsfremden und exklusiven Instru-
VIII. Abschließende Bemerkungen
mentariums zur Gewährleistung soziokultureller Distanzierung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten an. Es verwundert insofern nicht, dass sich die als Alternative anbietende und von der Kolonialherrschaft sogar partiell geförderte muslimische Zeitordnung letztlich als zentrales zeitspezifisches gesellschaftliches Orientierungsmuster durchzusetzen vermochte. Darüber hinaus zeigte sich selbst die Realisierung eines segregierten und auf die kolonialgesellschaftliche Elite reduzierten Geltungsspektrums von Weltzeitordnung und präzisen zeitlichen Standards die gesamte Untersuchungsperiode über als nur allzu fragiles Vorhaben, das jederzeit zu kollabieren drohte. Viele der kolonialherrschaftlichen Akteure sahen sich im nicht-europäischen Umfeld der kolonialen Situation permanent bedroht, ihre eigenen zeitlichen Wertvorstellungen einzubüßen. Die nur allzu kleine, provinziell geprägte und in zeitspezifischer Hinsicht selbst noch in einem Lern- und Umstellungsprozess befindliche Gruppierung kolonialherrschaftlicher Akteure musste entsprechend ständig daran arbeiten, ihre kolonialgesellschaftliche Interpretation der metropolen bürgerlichen Zeitordnung zu kultivieren und dem Schwund der eigenen zeitlichen Wertvorstellungen entgegenzuwirken. Als bedeutende zeitspezifische Handlungspraxen der Kolonialherren dienten Isolation, Segregation, die Fixierung auf die luxuriöse Ausgestaltung der eigenen Lebenszeit im Rahmen von in zunehmendem Maße familiären Lebensumständen und die stetig weiter nach metropolem Vorbild ausgebaute Alltagsund Freizeitkultur somit in erster Linie als Mittel zur Aufrechterhaltung der zeitlichen Orientierungen und Wertvorstellungen. Die fortlaufend elaborierten zeitspezifischen Handlungspraktiken der Kolonialherren und die sie auf soziokultureller Ebene begleitenden zeitspezifischen Maßnahmen zur Etablierung einer bürgerlichen Zeitordnung vermitteln entsprechend nicht den Eindruck, diese seien primär zugunsten einer zunehmenden Standardisierung und Synchronisierung der kolonialstaatlichen Lebenswelt veranlasst worden, sondern verweisen vielmehr darauf, dass sie in vielerlei Hinsicht nur realisiert wurden, um den kolonialherrschaftlichen Akteuren zu ermöglichen, sich der Diskreditierung ihrer eigenen zeitlichen Wertvorstellungen besser erwehren zu können. Der nur wenig normkonforme, opportunistische und vor allem exklusive soziokulturelle Umgang der Kolonialherren mit den unter ihrer Verantwortlichkeit eingeführten europäischen Zeitnormen und Ordnungspolitiken kann insofern als weiteres Element zu den ideologischen, machtpolitischen, administrativ-organisatorischen und ökonomischen Bedingungen gerechnet werden, welche die nachhaltige Verbreitung und Aneignung des importierten Zeitregimes in der einheimischen Gesellschaft auf folgenschwere Art und Weise beeinträchtigten. In ihrer Gesamtheit stellen sich die mit der Standardisierung und Synchronisierung der Zeit in der Kolonie Senegal verbundenen Prozesse insofern grundsätzlich als ein komplexes, multipolares und insgesamt über eine große Zeitspanne erstreckendes Projekt dar. Zentrale und in zeitspezifischer Hinsicht richtungswei-
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sende Entwicklungen bahnten sich in vielen Fällen bereits in den Anfangsjahren der französischen Vorherrschaft in der Region an und beeinflussten die in der Folgezeit getätigten Maßnahmen auf maßgebliche Art und Weise. Die von den Kolonialherren in den als Pilotkolonien betrachteten frühen senegalesischen Kolonialterritorien getroffenen zeitspezifischen Maßnahmen standen dabei in direkter Auswirkung zur Ausformung erster zeitspezifischer kolonialtheoretischer und -ideologischer Standpunkte. Entgegen dieser teilweise sehr engen Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis war die Realität der kolonialen Situation jedoch vielmehr durch eine große und die gesamte Untersuchungsperiode überdauernde Diskrepanz zwischen den in erster Linie auf theoretischem Niveau angelegten zeitspezifischen Idealvorstellungen der Kolonialherren und den von diesen in der kolonialen Situation tatsächlich umgesetzten zeitspezifischen Realisationen gekennzeichnet. Die zahlreichen praktischen Abweichungen von den zeitspezifischen Idealvorstellungen verweisen dabei kursorisch auf die fragmentarisierenden Tendenzen im vornehmlich als Mittel zur weltweiten temporalen Homogenisierung verstandenen Prozess der Globalisierung der Weltzeitordnung. In Senegal resultierten die kolonialstaatlich initiierten Prozesse zur Standardisierung der Zeit demzufolge nicht nur in einer Vereinheitlichung der zeitlichen Ordnungen, sondern zugleich auch in der Förderung, Ausbildung und Festschreibung neuer Formen von zeitlichen Referenzsystemen und einer neuen Art von Ungleichzeitigkeit. In ähnlicher Weise deutet auch der letztendliche Verlauf der zeitspezifischen Synchronisation zwischen Kolonie und kolonialem Mutterland an, dass sich die Prozesse zur weltweiten Standardisierung der Zeit keineswegs einheitlich gestalteten. Denn trotz der administrativen Gleichstellung der senegalesischen Kommunen mit denen im zeitgenössischen Frankreich und der vergleichsweise langen kolonialgeschichtlichen Vorlaufzeit, die zeitspezifische Synchronisationsprozesse in den senegalesischen Kolonialterritorien in Anspruch nehmen konnten, setzten auch die für die Implementierung der Weltzeitordnung notwendigen Maßnahmen erst mit einiger Verspätung gegenüber denjenigen im französischen Mutterland ein. Darüber hinaus blieben die ergriffenen Maßnahmen, obwohl der Verlauf der Standardisierung der Zeit in der Kolonie in der Folge grundsätzliche Übereinstimmungen mit den entsprechenden zeitspezifischen Entwicklungen innerhalb zeitgenössischer europäischer Nationen aufwies, über die gesamte Untersuchungsperiode hinweg im Rückstand und auf die Umsetzung der notwendigsten Voraussetzungen zur Gewährleistung präziser zeitlicher Standards beschränkt. Abgesehen von den grundlegenden zeitspezifischen Implikationen der radikalen soziokulturellen Wandlungsprozesse, die durch das koloniale Unternehmen an sich herbeigeführt wurden, lassen sich infolge der kolonialen Implementierung von zeitspezifischen Ordnungspolitiken und Standards jedoch keine den tiefgreifenden Transformationsprozessen, die die Standardisierung der Zeit innerhalb der eu-
VIII. Abschließende Bemerkungen
ropäischen Gesellschaftsentwicklung begleiteten, entsprechenden Veränderungen der zeitspezifischen Organisation im senegalesischen Kolonialstaat ausmachen. Zusammengenommen betrachtet, stellt sich vielmehr unzweifelhaft dar, dass es unter den gegebenen Bedingungen zu keinem nachhaltigen und tiefgreifenden zeitspezifischen Kulturtransfer und korrespondierenden Transformationsprozessen nach europäischem Vorbild kommen konnte. Davon, in diesem Zusammenhang von einem vollständigen Scheitern des zeitspezifischen Kulturtransfers und der Implementierung der Weltzeitordnung zu sprechen, wird hier trotzdem abgesehen. Denn innerhalb der Kolonialperiode konnten – wenn auch nur auf eine oberflächliche Art und Weise – einige grundlegende zeitspezifische Ordnungspolitiken in die kolonialstaatliche Organisation eingeschrieben werden, die den souveränen postkolonialen Staat in Senegal bis in die heutige Zeit kennzeichnen. Zu den am nachhaltigsten implementierten Elementen europäischer Ordnungspolitiken der Zeit, die bereits in der frühen Kolonialperiode in Grundzügen angelegt wurden, können in dieser Hinsicht folgende gerechnet werden: •
•
•
Die auf machtpolitischer und administrativ-organisatorischer Ebene relevanten zeitlichen bzw. raum-zeitlichen Ordnungen in Administration und Staatswesen Die auf ökonomischer Ebene wirksame Eingliederung in die zeitlichen Strukturen von Handelswirtschaft und Rohstoffproduktion in der weltwirtschaftlichen Peripherie und die arbeitszeitliche Rhythmisierung im formellen staatlichen Beschäftigungssektor Der auf soziokultureller Ebene bedeutsame exklusive gesellschaftliche Stellenwert europäischer Zeitkultur
Schlussendlich gilt es noch einmal zu betonen, dass im Verlauf der vorliegenden Arbeit erstmals ein umfangreiches und vergleichsweise detailliertes Bild des Stellenwertes des Faktors Zeit im Rahmen von Prozessen kolonialer Herrschaft und Staatsbildung herausgearbeitet werden konnte. Die Studie wirft insofern ein Schlaglicht auf die frühe Konstitution zeitspezifischer transnationaler Vernetzung und die Auswirkungen des gegen Ende des 19. Jh. angestoßenen Prozesses der Globalisierung der Weltzeitordnung in den Kolonialgebieten. Des Weiteren wurde die, im Kontext der Debatte um die Frühphase der Globalisierung der Weltzeitordnung bisher zumeist nur auf Grundlage unzureichend begründeter Annahmen diskutierte, jedoch kaum empirisch untersuchte transnationale Verbreitung und Nutzung von zeitspezifischen Ordnungspolitiken und zeitlichen Standards einer eigenständigen zeitspezifischen Analyse unterzogen, um einen Beitrag zur Erforschung eines bisher wenig bekannten Forschungsfeldes zu liefern und ein Fundament für zukünftige Studien bereitstellen zu können.
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Auch wenn im Rahmen der vorliegenden Arbeit Grundlagen erarbeitet werden konnten, bleiben dessen ungeachtet nach wie vor viele Fragen offen. Um das bisher nur wenig beachtete Forschungsfeld weiter zu ergründen und die zahlreichen noch existenten Forschungslücken zu schließen, sind weitere eingehende Studien der Rolle des Faktors Zeit im Kontext von Kolonialismus und Globalisierung erforderlich. Wichtige und umfangreiche Elemente von frühen zeitspezifischen Kulturtransfers, wie bspw. die im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausgesparten zeitspezifischen Entwicklungen im kolonialstaatlichen Bildungssektor verlangen noch nach ausführlicher wissenschaftlicher Erforschung. Zukünftige Untersuchungen der Bedeutung der Zeit in anderen westafrikanischen Kolonialterritorien, Vergleichsstudien zwischen der zeitlichen Spezifik unterschiedlicher Formen von kolonialer Herrschaft und Analysen des Stellenwertes von Zeit in der späten Kolonialepoche lassen auf die Erstellung eines komplexeren und geschlossenen Bildes von der Kolonisierung und Globalisierung der Zeit sowie eine genauere Bestimmung der Konstitution früher transnationaler zeitspezifischer Kulturtransfers hoffen. Im letztgenannten Zusammenhang ist dann auch die Erarbeitung neuer Perspektiven auf die korrespondierenden zeitspezifischen Entwicklungen in den zeitgenössischen europäischen Kolonialnationen von Relevanz. Darüber hinaus erweist es sich gleichermaßen als zwingend, dass infolge einer intensivierten Beachtung des Forschungsfeldes auch die zeitlichen Orientierungsmuster und Zeitkonzeptionen der Kolonisierten stärker in den Fokus der wissenschaftlichen Untersuchung rücken. Eine derart intensive Auseinandersetzung mit der Rolle des Faktors Zeit im Kolonialismus würde letztlich auch Rückschlüsse über gegenwärtige zeitspezifische Problematiken ehemaliger Kolonialstaaten ermöglichen. Eine systematische, empirisch begründete historische Grundlage der Bedeutung des Faktors Zeit würde zudem auch ein Überdenken der Zusammenhänge zwischen Zeitkonzeptionen und Entwicklungstheorien erlauben, was im besten Falle zu einer Verringerung der Misserfolge entwicklungspolitischer Maßnahmen beitragen könnte. Es bleibt zu hoffen, dass die wissenschaftliche Erforschung der zeitlichen Dimensionen von Kolonialismus und Globalisierung in Zukunft einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Situation postkolonialer Staaten zu leisten vermag.
IX. Anhang
A. Tabelle: Vergleichende Übersicht der Namen der Wochentage in Arabisch, Französisch, Serer und Wolof-Lebu und Tukulor Französisch
Arabisch
Wolof-Lebu
Serer
Tukulëur
Lundi
Yaum al-ithnain
Al tine
Tening
Al tine
Mardi
Yaum ath-thalatāʾ
Talata
Talata
Talata
Mercredi
Yaum arbaʿā
al-
Alarba
Ardaba
Alarba
Jeudi
Yaum cḫamis
al-
Al Xermes
Ar Xermes
Al Xermes
Vendredi
Yaum aldschumʿa
Ajuma
Jumaling
Al Juma
Samedi
Yaum as-sabt
Gaaw
Fugaaw
Aset
Dimanche
Yaum al-āḥad (1)
Aseet/Diber
Diboor
Aleet
Übersicht zusammengestellt aus Faye 2000: 306, Fußnote 747, Tabelle N°1; ergänzt durch Bezeichnungen der Wochentage im Arabischen aus Schimmel 2001: 150.
[1 - Die Silbe Yaum bedeutet Tag, sie wird jedoch oft ausgelassen. Da der Sonntag den ersten Tag der arabischen Woche darstellt, sind die Namen der Wochentage von Sonntag bis Donnerstag somit als erster bis fünfter Tag zu übersetzen, Freitag bedeutet dagegen in der Übersetzung „Tag der Zusammenkunft“ und Samstag „Sabbat-Tag“. (Vgl. Schimmel 2001: 27-37, 150)]
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Série M – Tribunal Judiciaires M216 – Peines disciplinaires. Pouvoirs disciplinaires des administrateurs… 19041915. M219 – Peines disciplinaires. Réforme du régime des peines disciplinaires 19171919. M220 – Contrôle des peines disciplinaires. Sénégal 1914-1919. Sous-Série 6M – Justice indigène (Sénégal) 1838-1954. 6M –161 Observations faites dans les cercles … sur la justice indigène 1912-1921. Série O – Transport et transmissions (1809- 1920). O259 – Signal horaire et heure légale en A.O.F. 1905-1911.
B. Bildmaterial Fortier, Edmond 1900-1920 Cartes postales anciennes d’Afrique de l’Ouest, Centre Edmond Fortier (CEF).
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Wesseling, Hendrik L. 1988 The Berlin Conference and the Expansion of Europe: A Conclusion. In: Stig Förster, Wolfgang J. Mommsen und Ronald Robinson (Hg.): Bismarck, Europe, and Africa. The Berlin Africa Conference 1884-1885 and the Onset of Partition. Oxford [u.a.], S. 527-541. Whipp, Richard 1987 A time to every purpose. An essay on time and work. In: Patrick Joyce (Hg.): The historical meanings of work. Cambridge, S. 210-236. Whitrow, Gerald J. 1989 Time in history. Views from prehistory to the present day. Oxford [u.a.]. Wirz, Albert 1983 Klio in Afrika. »Geschichtslosigkeit« als historisches Problem. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34, S. 98-108. 2003 Körper, Raum und Zeit der Herrschaft. In: Albert Wirz, Andreas Eckert und Katrin Bromber (Hg.): Alles unter Kontrolle. Disziplinierungsprozesse im kolonialen Tansania 1850-1960. Köln, S. 5-36. Wirz, Albert; Eckert, Andreas 2004 The scramble for Africa! Icon and idiom of modernity. In: Olivier PétréGrenouilleau (Hg.): From slave trade to empire. Europe and the colonisation of Black Africa 1780s-1880s. London [u.a.], S. 133-153.
Geschichtswissenschaft Reinhard Bernbeck
Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., 33 SW-Abbildungen, 33 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8
Gertrude Cepl-Kaufmann
1919 – Zeit der Utopien Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres 2018, 382 S., Hardcover, 39 SW-Abbildungen, 35 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4654-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4654-6
Thomas Etzemüller (Hg.)
Der Auftritt Performanz in der Wissenschaft 2019, 428 S., kart., 42 SW-Abbildungen, 44 Farbabbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4659-7 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4659-1
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Geschichtswissenschaft Nina Kleinöder, Stefan Müller, Karsten Uhl (Hg.)
»Humanisierung der Arbeit« Aufbrüche und Konflikte in der rationalisierten Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts 2019, 336 S., kart., 1 Farbabbildung 34,99 € (DE), 978-3-8376-4653-5 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4653-9
Alexandra Przyrembel, Claudia Scheel (Hg.)
Europa und Erinnerung Erinnerungsorte und Medien im 19. und 20. Jahrhundert 2019, 260 S., kart., 10 SW-Abbildungen, 2 Farbabbildungen 24,99 € (DE), 978-3-8376-4876-8 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4876-2
Eva von Contzen, Tobias Huff, Peter Itzen (Hg.)
Risikogesellschaften Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven 2018, 272 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4323-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4323-1
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