Lateinamerika in der Globalisierung 9783964563316

Basis dieses Buches ist das Weingartener Lateinamerika- Gespräch 2002. Neben den ökonomischen werden auch die politische

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German Pages 191 [192] Year 2003

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika
Die politische Seite der Globalisierung in Lateinamerika
Lateinamerikas globale kulturelle Bindung
Lateinamerikas Volkswirtschaften im Prozess der Globalisierung
Auf dem Weg aus dem Labyrinth? Mexiko in der Globalisierung
Zwischen Globalisierungsdruck und defekter Demokratie: Staatliche Steuerungsfähigkeit im nach-autoritären Chile
Globalisierung, Internet und nationale Politik: Erfahrungen aus Argentinien, Peru, Costa Rica und Kuba
Global Governance aus lateinamerikanischer Perspektive
Globalisierungserfahrungen in Lateinamerika
Autoren
Literatur
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Lateinamerika in der Globalisierung
 9783964563316

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Manfred Mols/Rainer Öhlschläger (Hrsg.) Lateinamerika in der Globalisierung

Politik in der Gegenwart Band 6 Herausgegeben von Manfred Mols

Manfred Mols/Rainer Öhlschläger (Hrsg.)

Lateinamerika in der Globalisierung

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 2003

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 3-89354-486-0 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2003 Wielandstr. 40 - D-60318 Frankfurt am Main [email protected] www.ibero-americana.net

Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Stephan Schelenz Satz und Layout: R. Johanna Regnath, Tübingen Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Manfred Mols/Rainer Einfuhrung

Öhlschläger 7

Manfred Mols Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika

11

Andreas Boeckh Die politische Seite der Globalisierung in Lateinamerika

23

Nikolaus Werz Lateinamerikas globale kulturelle Bindung

43

Hartmut Sangmeister Lateinamerikas Volkswirtschaften im Prozess der Globalisierung Chancen, Risiken und Nebenwirkungen

61

Günther Maihold Auf dem Weg aus dem Labyrinth? Mexiko in der Globalisierung

81

Ingrid Wehr Zwischen Globalisierungsdruck und defekter Demokratie: Staatliche Steuerungsfahigkeit im nach-autoritären Chile

105

Roman Herzog/Bert Hoffmann Globalisierung, Internet und nationale Politik: Erfahrungen aus Argentinien, Peru, Costa Rica und Kuba

125

Dirk Messner Global Governance aus lateinamerikanischer Perspektive

145

Wolf Grabendorff Globalisierungserfahrungen in Lateinamerika

163

Autoren

173

Literatur

175

Manfred Mols/Rainer Öhlschläger

Einführung

Das achte Weingartener Lateinamerika-Gespräch war einer Thematik gewidmet, die zu einer zentralen Herausforderung für Staaten, Gesellschaften und Länder übergreifende Regionen geworden ist: der Globalisierung. Der Begriff selbst ist schwer zu fassen, sein empirischer Gehalt schillernd. Die Globalisierungsdiskussion wird daher weltweit kontrovers geführt. Zwei Interpretationsrichtungen stehen sich im Allgemeinen gegenüber: eine stärker auf ökonomische und technologische Fragen ausgerichtete Betrachtungsweise, und eine andere, die sich in etwa mit dem deckt, was der Forscherkreis um den Brasilianer Helio Jaguaribe de Mattos im Abschluss eines fünfjährigen UNESCO-Projektes mit dem Titel „A Critical Study of History" als Prozess der Ausbreitung einer sich immer stärker durchsetzenden planetarischen Zivilisation bezeichnet hat.1 Der gegenwärtige Stand der technologischen und kulturellen Modernisierung, so stark auch seine ökonomische Seite ausgeprägt sei, sei im Kern der kulturelle, im 15. Jahrhundert einsetzende Siegeszug von Westlichkeit, dem sich kein Staat und keine Gesellschaft entziehen könne. Globalisierung ist hier immer auch Weltgestaltung mit Blick auf die Zukunft der Menschheit. Es machte daher Sinn, wenn Manfred Mols in seinem Einleitungsreferat von einem breiten kulturell-historischen Ansatz ausging. Auch wenn in Weingarten, der Tradition der bisherigen Gespräche folgend, die regionalistische Perspektive im Vordergrund stand, lässt sich das Globalisierungsthema nur noch bedingt im Kontext von area studies diskutieren. Mols hat sich daher, in Anlehnung an Überlegungen nordamerikanischer Kollegen, der Frage gestellt, ob Lateinamerika zu den rule makers oder zu den rule takers im weltweiten Globalisierungsprozess gehört. Seine Antwort fällt in der Tendenz negativ aus (was sich mit den Urteilsrichtungen in fast allen nachfolgenden Beiträgen deckt), ohne indessen zu übersehen, dass es im abgelaufenen zwanzigsten Jahrhundert international ausstrahlende lateinamerikanische Diskurselemente gab, die auf praktische Gestaltungseffekte ausgerichtet waren.2 Was dies alles aus politikwissenschaftlicher Sicht bedeutet, thematisiert Andreas Boeckh. Es habe eine „Dekade der Hoffnung" gegeben. „Der alte liberale 1 Vgl. Jaguaribe 2000; ausfuhrlicher als: ders. 2001 bzw. ders. 2002 (jeweils 2 Bände); die volle englischsprachige Version ist in Vorbereitung. 2

Vgl. zu den Gestaltungspotentialen von Diskursen das von Thomas Heberer zusammengestellte Forschungsprofil der letzten Jahre: Heberer 2001.

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Manfred Mols/ Rainer

Öhlschläger

Traum von der Synthese von Macht und Demokratie schien sich nun auch für Lateinamerika zu verwirklichen." Von dieser Aufbruchstimmung sei heute nicht mehr viel übrig geblieben, was allerdings deutlicher fiir die Wirtschaft als für die Politik gelte, die ein erkennbares Maß an Krisenresistenz aufzuweisen habe. Es bedeute dies aber noch nicht, dass Lateinamerika für die politische Seite der Globalisierung ausreichend zugerüstet sei, was bei der Durchsicht der gängigen politikwissenschaftlichen Analyseebenen politics, polity und policies nachweisbar werde. Damit ist die Qualität von Staatlichkeit angesprochen, die nach Boeckh genauso zu wünschen übrig lasse wie die Fragmentierung und Atomisierung der Gesellschaften. Boeckh schließt mit der Feststellung, dass „die Herausforderungen des Globalisierungsprozesses und die ungleich verteilten Fähigkeiten, diesen zu begegnen", dazu gefuhrt hätten, „dass sich die Region wirtschaftlich, sozial und politisch weiter auseinander entwickelt." Nikolaus Werz widmet sich in seinem Beitrag wesentlichen Einzelheiten der kulturellen Seite der Globalisierungssituation Lateinamerikas. Bezeichnenderweise beginnt er mit einem Abschnitt über „Lateinamerikas Beitrag zur Weltzivilisation". Angesprochen werden Malerei, Literatur, Musik, Aspekte der Geisteswissenschaften und der Theologie und Architektur. Hier sei eine Form „der Modernität an der Peripherie" entstanden, die mit Blick auf die kulturelle Seite des Modernisierungsprozesses Effekte wechselseitiger Akkulturation zeige. Besonders in den USA finde längst eine Hybridisierung statt, die der alten Formel des US-Präsidenten „Amerika den Amerikanern" einen neuen Sinn der Annäherung zwischen beiden Amerikas gebe. Hartmut Sangmeister geht das Globalisierungsthema von der Seite des Ökonomen an. Dass Globalisierung zunächst einmal Chancen bedeutet, u.a. in Lateinamerika für weitreichende wirtschaftliche Reformen mit „beachtlichen makroökonomischen Erfolgen" in nicht wenigen seiner Länder, wird mit guten empirischen Belegen herausgearbeitet. Sangmeister verschweigt aber auch nicht, dass es neben Globalisierungsgewinnern auch Globalisierungsverlierer gibt. Globalisierung sei daher unübersehbar auch mit erheblichen Risiken verbunden. Sangmeister macht darauf aufmerksam, dass in Lateinamerika gerade im Ausbildungsbereich stärker auf die Anforderungen des begonnenen 21. Jahrhunderts mit einer breiteren Brücke zu den Technik- und Naturwissenschaften geachtet werden müsse. Der Beitrag schließt mit Bemerkungen zum vorhandenen sozialen Handlungspotential und dem Hinweis auf Gefahrdungen der Demokratie, falls die Unzufriedenheit über verspielte Globalisierungschancen noch anwachsen sollte. Politik - Kultur - Wirtschaft. Das Erfreuliche an diesen Beiträgen ist, dass sie nicht im Binnenraum reiner Perspektivenwahl und Fachbezogenheit bleiben. Es gibt zu begrüßende Überschneidungen, unübersehbare Hinweise auf lateinamerikanische Leistungen, aber auch - mit Ausnahme vielleicht des Beitrags von Werz eine genauso unübersehbare Skepsis mit Blick auf die weitere Zukunft Lateiname3

Unter politics versteht man in der Politikwissenschaft die akteursbezogenen politischen Prozesse. Polity ist die institutionelle und strukturelle Geiugtheit von Politik. Policies heben ab auf Gestaltungselemente und ihre Ergebnisse.

Einführung

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rikas in der Globalisierung. Es lag daher nahe, manches davon noch einmal an zwei Länderbeispielen gleichsam „durchzurechnen". Günther Maihold stellt daher ein Länderprofil Mexiko vor, Ingrid Wehr Chile. Günther Maihold beobachtet für Mexiko ein uneinheitliches fragmentiertes Bild, wie sich das Land der Globalisierungsrealität stellt. Es überwiegt ein ImageManagement als eine traditionell bevorzugte Verfahrensweise, um von eigenen Schwächen abzulenken. Mexiko betreibt eine wirtschaftliche Anpassungspolitik mit deutlicher Anlehnung an die USA. Gleichwohl versucht Mexiko, gerade im Hinblick auf die USA die Beziehungen auf verschiedenen Ebenen strategisch neu zu gestalten. Bislang zeigen diese Initiativen aber noch keine nachhaltigen Wirkungen. Ingrid Wehr richtet ihre Aufmerksamkeit auf das Problem, wie im nachautoritären Chile angesichts des weltweiten Globalisierungsdrucks die staatliche Steuerungsfähigkeit erhalten werden kann. Im Grunde genommen gehe es in Chile, das allgemein als Modellfall innerhalb der Philosophie des „Washington Konsens" angesehen werde, um eine aktivere Rolle des Staates und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit, ohne indessen zum „Staatsinterventionismus" alter Prägung zurückkehren zu wollen. Chile stelle sich politisch als eine defekte Demokratie dar. Vor allem überfallige Umverteilungs- und Lernprozesse erwiesen sich damit als schwierig. Die drei letzten Beiträge verweisen zum einen gezielt auf die Einbindung Lateinamerikas an die moderne Kommunikationswelt und in die Mechanismen eines „Global Governance", zum anderen wird eine Art abschließender Bewertung des Globalisierungsphänomens für die Regionen südlich des Rio Grande versucht. Roman Herzog und Bert Hoffmann thematisieren mit Blick auf Argentinien, Peru, Costa Rica und Kuba die auch Lateinamerika erfassende „rasante Verbreitung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien". Dass vieles nicht gehörig greife, hänge mit ordnungspolitischen Schwächen in Staat und Gesellschaft zusammen, im Falle Kubas auch mit der Furcht vor Außeninformationen und Außenkontakten, wie sie allen kommunistischen Regimen zu eigen sei. Es werde oft die Frage aufgeworfen, „ob Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft" für die Verbreitung der neuen Kommunikationstechnologien zuständig seien. Die Antwort der beiden Autoren fallt für die betrachteten Länder unterschiedlich aus, ohne indessen übersehen zu lassen, dass der Kontakt mit der modernen Kommunikationswelt bis auf weiteres eine Angelegenheit von Minderheiten bleibt. Ganz allgemein seien mit Ausnahme von Costa Rica unterschiedliche Spielformen von „Überwachung, Kontrolle und Einschüchterung" zu konstatieren. Die beiden Lateinamerikawissenschaftler stellen ihre Ergebnisse, die auf einem am Institut für Ibero-Amerika-Kunde (Hamburg) durchgeführten Forschungsprojekt beruhen 4 , noch einmal komprimiert in zwölf abschließenden Thesen zusammen. Auch der Beitrag von Dirk Messner basiert auf einem vorangegangenen Forschungsprojekt (des Instituts für Entwicklung und Frieden an der Universität Duis4 Vgl. Herzog/Hoffmann/Schulz 2002.

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Manfred Mols/ Rainer

Öhlschläger

bürg).5 Es sei deutlich, dass es „durchaus so etwas wie eine »lateinamerikanische Perspektive' auf die Probleme des Übergangs von der ,Epoche der Nationalstaaten' zum .Zeitalter von Globalisierung und Global Governance'" gebe. Diese laufe darauf hinaus, dass sich in einer global vernetzenden Welt die Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu Ungunsten der letzteren zu verändern drohten. Es zeige sich dies an der sozialen Polarisierung der Weltwirtschaft, an globalen Machtungleichgewichten und an einer globalen Sprachlosigkeit, sprich an ungleichen Artikulationsweisen bezüglich der mit der Globalisierung verbundenen Phänomene und Begriffe. Wolf Grabendorff versucht auf der Basis seiner jahrzehntelangen Lateinamerika-Erfahrung eine Art abschließender Wertung. Lateinamerika könne sich den tatsächlichen Folgen der Globalisierung nicht entziehen. Es zeige sich aber auch, „dass ... politische, innergesellschaftliche Werte wichtiger sind als wirtschaftliche Effizienz, ganz im Gegensatz zu den Postulaten der Globalisierung". Es seien klar erkennbare Abwehrpositionen aufgekommen, verbunden mit einer zunehmenden „Planungs- und Steuerungsunsicherheit". Zudem habe der relative „Rückgang staatlicher Aktivitäten und Entscheidungsbefugnisse" gezeigt, wer und wo die Verlierer seien, nämlich die zivile und militärische Bürokratie, das Gewerkschaftslager und selbst Teile der Unternehmerschaft. Ein Umbau des Staates und überhaupt ein Wandel auch des Gesellschaftsverständnisses seien eigentlich gefragt, wozu aber so gut wie jegliche historische Vorgabe fehle. Eine andere Folge der Globalisierung bedeuteten offensichtlich die zunehmenden Asymmetrien in den und zwischen den lateinamerikanischen Ländern. Vielleicht kämen auf diese Weise wieder verstärkte Überlegungen zu einer neuen Rolle lateinamerikanischer Integration auf. Grabendorff schließt mit einer provozierenden Frage: „Wie viel Globalisierung verträgt die Demokratie bzw. die politische Stabilität in Entwicklungsgesellschaften?" Wenn sich die beiden Träger der Weingartener Lateinamerika-Gespräche dafür aussprachen, die Überlegungen von Weingarten 2002 einem interessierten Publikum zugänglich zu machen, dann hat das überragende Niveau auch dieses Symposions den entscheidenden Anstoß gegeben. Unser Band wäre vollständiger, hätte man noch Teile der Diskussionen aufnehmen können. Wir glauben aber dennoch, Überlegungen vorlegen zu können, die heute ftir eine Großregion angestellt werden müssen, die wie keine zweite „entfernter Westen", aber eben „Westen" ist.

5 Veröffentlicht in: Maggi/Messner 2002.

Manfred Mols

Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika1

Zum Nachdenken über Globalisierung Unser Zeitalter wird als das der Globalisierung begriffen. McLuhans Wort vom „global village" scheint in Erfüllung zu gehen. Die alte Trennung zwischen „innen" und „außen", zwischen „domestic" und „international", und wenn wir an die Neuzeit denken, zwischen einer staatszentrierten und einer Grenzen überschreitenden Welt, ist weitgehend aufgehoben. 2 Globale Interdependenz ist zu einem wesentlichen phänomenologischen Charakteristikum der Welt geworden; und folglich denken auch wir Sozialwissenschaftler längst in Perspektiven, die eine Art Gesamtschau der Welt in den Vordergrund stellen, in denen global ausgreifende Vernetzungen den „focus of attention" unserer Aufmerksamkeit bilden. Aber was ist Globalisierung genauer? Es gibt kaum einen schillernderen Begriff als eben diesen der Globalisierung. Eine exponentiell angewachsene, weltweite Globalisierungsliteratur hat nicht für konzeptuelle Standards und Präzisierungen gesorgt, sondern hinterlässt eher den Eindruck, etwas Zerfließendes in der Hand zu haben. Wer Freude am Fabulieren im Sinne von Formulieren hat, wird mit Blick auf „Globalisierung" mit Worten spielen können. Die Verwirrung beruht freilich bei näherem Hinsehen darauf, dass Globalisierung fast immer nicht zur Gänze, sondern in Einzelaspekten diskutiert wird, die von den Kenntnissen, Sensibilitäten und Präferenzen der jeweiligen Diskutanten und ihrem beruflich oder akademisch erzeugten Problembewusstsein geprägt sind. Ökonomen werden auf die wachsende Interdependenz von Handel, Investitionen und Finanzströmen unter Wettbewerbsdruck 3 hinweisen und insgesamt gewachsene wirtschaftliche Verflechtungen in den Vordergrund stellen, Praktiker aus der Wirtschaft zusätzlich auf Standortfragen unter internationalen Konkurrenzbedingungen achten4, Soziologen gesonderten Wert legen auf die Herausstellung der Konturen einer Weltgesellschaft 5 . Politologen betonen den Abbau des National1 Ein Teil dieses Textes lehnt sich an: Mols 2001/2002; die Argumentation wurde weitergeführt in: Mols 2001. 2

Vgl. Heywood 1997: 139 ff.

3 Vgl. Porter 1999. 4

Vgl. Pierer 1998.

5 Vgl. Beck 1998.

12

Manfred Mols

staates oder zumindest die Relativierung seiner Bedeutung.6 Die Anhänger von Weltmodellen vertrauen auf durchgesetzte oder durchsetzbare Ordnungsformen, wobei der Kapitalismus (wie im Werk Immanuel Wallersteins) eine strukturbildende Rolle spielt.7 Politiker sehen zusätzlich transkontinentale Abstimmungszwänge in verschiedensten policy-Bereichen. Die Liste solcher „approaches" ließe sich, mit vielen Unterakzentuierungen, nahezu beliebig fortsetzen. Keine der eingeschlagenen Richtungen läuft ins Leere, aber auch keine befriedigt, und dies deshalb nicht, weil sie sich mehrheitlich in einer der Globalisierungsdebatte eigentümlichen Mischung aus schlichter Deskription oder Trendmeldung für spezifische Interdependenzen, Umstrukturierungen von Handlungssystemen und aus stimmungsmäßigen Bewertungen darbieten.8 Diese und viele andere Positionen sind allesamt zu bedenken. Aber was ist ihre Gemeinsamkeit? Und: Wie schaffen wir den Sprung nach Lateinamerika? Das Gemeinsame besteht darin, dass der gegenwärtige zivilisatorische Prozess des Planeten Erde gemeint ist, und zwar in seiner Gesamtheit von Verschränkungen, Abhängigkeiten und Reibungen. Wann und wo immer wir den Beginn dieser Entwicklung ansetzen wollen9, in ihrer historischen Substanz ist Globalisierung nicht zu trennen von einer mehrdimensionalen und spezifischen Kulturdiffusion, die wir Westlichkeit oder besser Verwestlichung nennen, die u.a. der britische Historiker J.M. Roberts in einem bemerkenswerten Buch mit dem Titel The Triumph of the West10 in seinen Schichtungen plastisch dargestellt hat und worüber jetzt eine sehr substantielle Forschungsarbeit vorliegt, die die Ergebnisse eines fünfjährigen, von Helio Jaguaribe (Brasilien) geleiteten UNESCO-Projektes zusammenfasst unter dem Titel A Critical Study ofHistoryu. Jede historisch fundierte Ableitung von sozusagen aktueller Westlichkeit wird mit dem Zeitalter der Entdeckungen und seinen imperialistischen Versuchungen anfangen. Hinzu trat damals sehr rasch der Siegeszug von Kapitalismus und Bürgertum. Nahezu zeitgleich folgte die Technisierung und Säkularisierung der Welt, dann mit der amerikanischen Revolution und dem 19. Jahrhundert jene Durchsetzung moderner, pluralistischer und für die Räume der Gesellschaft offener, moderner Staatlichkeit, die Francis Fukuyama offensichtlich vor Augen hatte, als er etwas voreilig vom Ende der Geschichte sprach (und auf die sich heute gerne Entwicklungspolitologen berufen, wenn sie die Elemente der Dahlschen Polyarchie als Beurteilungsmaßstab verkünden). Ein ganz entscheidender Impuls geht schließlich weiterhin von der exponentiell anwachsenden Kommunikations- und Informationsdichte unserer Zeitläufe aus. Globalisierung ist heute zu einem den ganzen Pla6 7 8 9 10 11

Vgl. Zürn 1998. Vgl. Viotti/Kauppi 1993. Typisch etwa Bergedorfer Gesprächskreis 2000. Vgl. Ferrer 1996. Roberts 1985; vgl. auch McNeill 1991. Der Verfasser hat zur Projekt-Gruppe gehört. Die englischsprachige Buchversion ist im Erscheinen. Portugiesisch- und spanischsprachige Fassungen liegen vor (Jaguaribe 2001 und 2002).

Bemerkungen zw Globalisierung

in Lateinamerika

13

neten betreffenden, vielschichtigen Akkulturationsprozess erhöhter Dichte und erhöhter Geschwindigkeit geworden. Kulturdiffiision bzw. großflächige Akkulturationsvorgänge (was die häufiger aufgegriffene Kategorie ist) durchziehen die ganze bekannte, d.h. durch schriftliche Quellen erschlossene menschliche Geschichte. Europa wäre ohne mehr als 2000 Jahre währende Akkusationsprozesse nicht denkbar, nämlich nicht in der uns bekannten Textur so geworden, wie es sich darstellt. Das angeblich so abgeschlossene und in sich selbst ruhende „Reich der Mitte", seinen Menschen so riesig erscheinend, dass sie es bereits vor mehr als 2000 Jahren als „,Alles-unter-demHimmeP auffassten, als die gesamte irdische Bühne, auf der menschliche Wesen das Drama der Zivilisation auffuhren" 12 , verdankt seine außerordentlichen Kulturleistungen der sich durch die Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende nachweisbaren Bereitschaft, Fremdes aufzunehmen und sich zu eigen zu machen. Indien, das ja in erster Linie ein riesiger Kulturraum ist, müsste historisch ähnlich interpretiert werden. 13 Man könnte dies ausweiten und vor allem darauf verweisen, dass jener zivilisatorische Generaldurchbruch, den Karl Jaspers als „Achsenzeit" 14 bezeichnet hat und womit so etwas wie ein Mündigwerden der Menschheit gemeint ist, den Beginn unseres Weltverständnisses abgibt. „Das Menschsein im Ganzen tut einen Sprung", heißt ein entscheidender Satz.15 Die Impulsgeber heißen Konfuzius und Buddha, Zarathustra, Elias, Jesaias und Jeremias, Homer, Heraklit, Plato. Sie stellen in einer sachlich erstaunlichen Ähnlichkeit radikale und bisher nicht aufgekommene Fragen. Diese philosophisch-frühwissenschaftlich-religiösen Problemstellungen sind auf Austausch angelegt, bleiben aber für lange Zeit Parallelentwicklungen, fiir die ein Begriff wie „Globalisierung" historisch schon deshalb unangemessen wäre, weil es nicht einmal Ansätze einer globalen Kommunikation gab. Es ist daher unter solchen Prämissen unerlässlich, Globalisierung nie ohne das Vorhandensein hinreichender Technologisierungspotentiale zu diskutieren.16 Ich bleibe dabei, dass jene enorm verdichteten Interdependenzen auf politischen, kulturellen, ordnungspolitischen, wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Gebieten Ausdruck einer immer eindeutiger heranreifenden planetarischen Zivilisation sind, welche die Marschrichtung unseres gegenwärtigen Geschichtsprozesses benennt und die nicht zu trennen ist von dem vorher angedeuteten, sich in Phasen abspielenden Prozess der allgemeinen Verwestlichung. Das Rad oder die Räder der Geschichte zurückzudrehen, wäre ein geradezu tollwütiges und übrigens auch vergebliches Geschäft. Wir bewegen uns in Wirtschaft und Technik, in Politik und Kultur und in allen denkbaren Informationsbereichen auf eine planetarische

12

Buckley Ebrey 1996: 13.

13

Vgl. Kulke/Rothermund 1982.

14

Jaspers 1959.

15

Ebd. 17.

16

Vgl. Bohret 1993.

14

Manfred Mols

Zivilisation zu. 17 Auch wenn es kulturelle Proteste und Regionalisierungsstrategien als Gegenbewegung gibt: Der Prozess der Globalisierung als Ganzer ist irreversibel. Mit dieser weiten Auffassung von Globalisierung weiche ich im Beobachten des ablaufenden Geschichtsprozesses ab von gängigen Konzeptionen. Ich schließe mich Henry Kissinger an, wenn ich mich weigere, die Geschichte als „eine Unterabteilung der Wirtschaft oder Psychiatrie" 18 anzusehen. Dies besagt nicht, dass es nicht Einzelaspekte in diesem historischen Ablauf der Globalisierung gibt, die eine gesteigerte oder (fach)spezifische Aufmerksamkeit verlangen (was ja auch in dem hier vorgelegten Sammelband bzw. in dem zugrunde liegenden Weingartener Symposium zum Ausdruck kommt). Ich bleibe aber dabei, dass wir es mit einem historischen Prozess zu tun haben, den man nur multifaktoriell und wegen seiner hohen Komplexität streng genommen nur hermeneutisch in den Griff bekommen kann. In diesen Zusammenhängen tauchen zwei Fragen auf. Nämlich: Welche Chancen oder Rollen hat oder sieht Lateinamerika in diesem Globalisierungsprozess? Oder in Anlehnung an führende nordamerikanische Lateinamerikanisten 19 formuliert: Ist Lateinamerika dabei auch gelegentlich rule-maker oder lediglich rule-takerl Und weiter: Wird oder müsste die planetarische Zivilisation eine weitestgehend westliche Prägung behalten? Die Fragen und adäquate Beantwortungen überschneiden sich, wie noch zu sehen sein wird, Beispiel Lateinamerika.

Globalisierung, planetarische Zivilisation, Verwestlichung Dass in solchen Fragen Beobachtungen und das Aufzeigen von Optionen ineinander übergehen, verstößt gegen den Geist analytischer Trennung in den modernen Sozialwissenschaften und kann nur mit zwei Argumenten entschuldigt werden: dass man zum einen als ausländischer Wissenschaftler auf dem schwierigen Gebiet der Globalisierungsdebatte in einem fremden Kontinent stärker mit Eindrücken als mit Detailkenntnissen arbeiten muss und dass es mir zweitens - in überzeugter Nachfolge des aristotelischen Gedankens von Politik als praktischer Wissenschaft - auch und nicht zuletzt um die res gerendae geht, um die weitere Ausgestaltung einer planetarischen Zivilisation, die langfristig unmöglich nur von etwa 10 bis maximal 15% der Weltbevölkerung als ihr Eigenes angesehen werden kann, will sie auf Akzeptanz stoßen. Westlichkeit ist der Gang der modernen Zivilisation in ihren manifesten Erscheinungsformen. Aber Westlichkeit hat sich längst nicht in allen Lebensbereichen bewährt, und reine Westlichkeit erhielte keine planetarische Legitimation von der großen Mehrheit der Menschheit. Die Schwierigkeit der hier anzustellenden Überlegungen besteht darin, dass keine sehr grundsätzliche Neuanlage oder Neuvermessung des einzuschlagenden historischen Weges mehr möglich ist - die Grundrichtung ist besetzt oder bis auf weiteres bestimmt oder schlicht durch die durchsetzungsfähigste Zivilisation ein17

Vgl. das Anm. 11 genannte UNESCO-Projekt.

18

Kissinger 2002: 7.

19

Tulchin/Espach 2001: 2.

Bemerkungen :ur Globalisierung in Lateinamerika

15

geschlagen, die sich sei etwa 500 Jahren, also seit dem Zeitalter der Entdeckungen, kontinuierlich in einer Mischung aus Gewalt und kulturell überlegener Diffusion global verbreitet hat. Dies zu betonen bedeutet aber keine Akzeptanz des Gedankens einer Philosophie des Endes der Geschichte. Vielmehr wird es darauf ankommen, über Mitwirkungschancen aus überseeischen Kulturen nachzudenken, die nicht Europa oder Nordamerika oder Australien heißen und die planetarisch greifbar sind. Korrekturen schließe ich daher ausdrücklich nicht aus, wohl aber sind radikale Alternativen, die die Durchsetzungsfahigkeit der westlichen Zivilisation schließlich erreichen und diese eventuell ablösen, in voraussehbaren Zeiträumen sehr unwahrscheinlich.

Lateinamerika und die Globalisierung Wird oder muss planetarisch-westliche Zivilisation weitgehend der Grundzug auch der in Lateinamerika ablaufenden Globalisierung sein? Dies in Ansehung sowohl der lateinamerikanischen Globalisierungsdebatte wie auch in Ansehung der historischen und strukturellen Situationen Lateinamerikas. Man wird die Frage mit einem wenig einzuschränkenden „Ja" beantworten dürfen. Lateinamerikas Chancen, am gegenwärtigen Großprojekt menschlicher Geschichte gestaltend mitzuwirken, sind begrenzt. Sie wurden partiell aufgegriffen und partiell verspielt, was Tulchin und Espach zu einem harten Urteil bewogen hat. „For their part, the nations of Latin America have been unassertive in projecting any importance in the global system beyond economics. In terms of international power, these nations - with the possible exception of Brazil - are still third- or fourth-tier players in international affairs ..." 20 . Allerdings: Reicht die Operationalisierung von Globalisierung über „Macht" zur Interpretation aus? Zunächst einmal mit Blick auf eine planetarische Zivilisation mit einer starken westlichen Komponente: Die eingeschlagene Grundrichtung gilt in Lateinamerika nur bedingt oder gar nicht als anstößig, d.h. man bekennt sich nach einem tercermundistischen21 Zwischenspiel in den 70er Jahren, an deren Spitze damals fuhrende lateinamerikanische Politiker wie der Mexikaner Luis Echeverría Alvarez22 oder der Venezolaner Carlos Andrés Pérez 23 standen, längst wieder, wie auch in früheren Zeiträumen, zu seiner Zugehörigkeit zur westlichen Welt. Es überwiegt heute eine realistische Situationseinschätzung der internationalen Situation. Der ,Beginn und die Ursprünge der Globalisation' - so fast wörtlich der bedeutende argentinische Ökonom Aldo Ferrer, der mit seinem früheren Buch „Vivir con lo nuestro" 24 und mit dem Einfluss und Ansehen, das er in der lateinamerikanischen Elite genießt, erheblich zur Öffnung Lateinamerikas beigetragen 20

Ebd.

21

Vgl. Grabendorff 1977.

22

Staatspräsident von 1970-1976.

23

Staatspräsident von 1974-1979 und noch einmal 1989-1993.

24

Ferrer 1983.

16

Manfred Mols

hatte - , haben mit unserer Hinwendung zum internationalen System zu tun, das wir Lateinamerikaner allerdings kaum definiert haben'.25 Wo die „centros de poder mundial" liegen, ist nicht weiter strittig, d.h. niemand in Lateinamerika gibt sich Illusionen darüber hin, dass die Weltgeschichte seit Generationen von Europa und dann immer mehr vom „Großen Nachbarn" im Norden des Rio Grande bestimmt wird. Zunehmend ist auch Asien-Pazifik ins Spiel gekommen, das in Lateinamerika mehr als in früheren Jahren zur Kenntnis genommen wird.26 Wenn der bedeutende französische Soziologe und spätere Botschafter von Paris in Brasilia, Alain Rouquié27, Lateinamerika als den „äußersten Westen" bezeichnete, dann bringt er ein Stück lateinamerikanischen Selbstbewusstseins auf die Formel, das sicher zeitweilig durch die tercermundismo-Debatte und in den ökonomischen und soziologischen Bereichen in den etwas länger in Mode befindlichen Dependencia-Theorien hinterfragt wurde, aus heutiger Sicht aber in der Substanz voll erhalten blieb.28 Durch die Neu- oder Wiedergewinnung von Demokratie und die Öffnung zu einer sich international orientierenden Marktwirtschaft stehen westliche Ordnungsformen in Politik und Wirtschaft im Vordergrund der theoretischen wie praktischen Überlegungen, gleichgültig, ob man den 1999 vorgelegten, breit angelegten Rechenschaftsbericht des im Jahre 2000 abgetretenen mexikanischen Staatspräsidenten Ernesto Zedillo studiert oder Einzelschriften aus politikwissenschaftlicher Feder wie die des Kolumbianers Edgar Reveiz: Democratizar para sobrevivir29, ein Buch, in dem es um nichts anderes geht als um ein „Proyecto Nacional" der staatlich-demokratischen Aussöhnung und Normalisierung auf der Basis westlicher Erfahrungswerte. In der Wirtschaft herrscht heute und seit etlichen Jahren eine neoliberalistisch gefärbte Akzentuierung von Marktöffnung nach innen und außen, von Deregulierung und Abbau des Staates sowie von fiskalischen Korrekturen und Öffiiungsstrategien für ausländische Investitionen vor, wie sie allesamt in dem berühmten Aktionspaket des „Washingtoner Konsens" von Weltbank und Weltwährungsfonds diskutiert und zusammengestellt worden sind.30 Die zentrale Globalisierungsmaxime aus berufener lateinamerikanischer Feder heißt daher in der mexikanischen Einfarbung (ich beziehe mich auf den international hoch angesehenen Ökonomen und Integrationisten Victor Urquidi, der zugleich Mitglied des Clubs von Rom ist): ,Gebt uns national wie international Platz und Zeit für eine nachhaltige Entwicklung, die uns in einer erkennbaren Zukunft den Anschluss finden lässt an die globale Entwicklung unter Bedingungen größerer Gleichberechtigung und Gleichheit.'31 Im Duktus fast identisch Ferrer: Er 25

Gespräch in Buenos Aires 1997. Vgl. auch Ferrer 1996.

26

Vgl. statt vieler Muürtua de Romaiia 1999.

27

Rouquié 1987.

28

Vgl. Mansilla 2000.

29

Reveiz 1989.

30

Einzelheiten Stiglitz 2002.

31

Vgl. Urquidi 1997 und 1999.

Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika

17

stellt einen Forderungskatalog auf, der ökonomisch, sozialpolitisch und politisch auf so etwas wie eine auf Ausgleich bedachte Modernisierung hinausläuft, d.h. nicht ein weiteres Mal Länder- und Regionen-spezifische Disprivilegierungen zulässt im Sinne der früheren und nicht unberechtigten Ängste der Dependenztheoretiker. Aber Ferrer und mit ihm viele weitere repräsentative lateinamerikanische Diskutanten weisen in anderen Zusammenhängen immer wieder daraufhin, dass es dafür keine Blaupausen geben sollte, die in Washington oder Brüssel oder Frankfurt 32 erarbeitet worden sind. Letztlich läuft daher diese Art der lateinamerikanischen Globalisierungsdiskussion auf ungestörte, von außen nicht behinderte und von innen weitgehend mitgetragene Entwicklung im Rahmen von im Wesentlichen im Westen entstandenen und durch ihn garantierten Normen und Verhaltensregeln hinaus. Und immer wieder stößt man auch auf den Hinweis einer durch die Globalisierung nicht aufgehobenen Vulnerabilität.33 Der Sinn von Korrekturen aus lateinamerikanischer Sicht bleibt nicht unausgesprochen, ohne dass eine überzeugende lateinamerikanische Mitwirkung an solchen Korrekturen (zum Beispiel im internationalen Finanzgebaren 34 oder in ordnungspolitischer Hinsicht oder gar auf technisch-technologischem Gebiet) unter Vorlage konkreter, realisierbarer Vorschläge augenfällig wird. Immerhin sei zu dem letzten Punkt bemerkt, dass eine entsprechende Diskussion darüber allmählich in Gang zu kommen scheint. Man findet selbst in durchschnittlich entwickelten Ländern wie Peru die ersten Monographien zum Thema „Research & Development" - ich verweise z.B. auf Rafael Urrelos „Capital Conocimiento. Ciencia y Tecnologia para el Desarrollo"35. Es fehlen aber selbst in Brasilien oder Mexiko, die auf diesen Gebieten sicher die relativ avanciertesten Länder Lateinamerikas sind, die strukturellen Voraussetzungen der Bearbeitung bzw. Einlösung, was u.a. mit einer Universitätstradition zusammenhängt, die auf Aufgreifen und Weitergabe von Diskussionen aus Europa und später aus Nordamerika ausgerichtet war, nicht dagegen auf eigenständige Forschung. Ich betone nochmals, die Dinge sind hier etwas in Fluss gekommen, ohne dass man von einer Trendwende sprechen könnte, die einen eigenständigen lateinamerikanischen Anschluss an „Research & Development" mit einer internationalen Ausstrahlung verbürgen würde. Es muss nachgetragen werden, dass Lateinamerikas Globalisierungsdiskurse, so sehr sie von Sensibilisierungen geprägt sind, in denen man noch den Nachhall der alten CEPALISMO-Debatten 36 und der Dependenztheorien spürt, keineswegs rein ökonomistisch eingefarbt bleiben. Urquidi und seine Arbeitsgruppe widmen einen substantiellen Teil ihrer Überlegungen sozialen, kulturellen und edukativen Fragen, insonderheit auch dem Phänomen der „gobernabilidad democrätica", der 32

Zur Erinnerung: Frankfurt am Main war jahrzehntelang Sitz der international sehr einflussreichen Deutschen Bundesbank.

33

Vgl. Munoz 2000.

34

Vgl. Teixeiro da Costa 2000 und Ocampo 2000.

35

Urrelos 2000.

36

Vgl. dazu Buisson/Mols 1983.

18

Manfred Mols

demokratischen Regierungsfähigkeit37 - ein Diskurs, der schon seit langem auf einem bemerkenswerten Niveau auch in Brasilien38 und anderen Ländern gefuhrt wird. Eine andere lateinamerikanische Version ist die Warnung vor den „desigualdades humanas" - den menschlichen Ungleichheiten, die bekanntlich durch die Globalisierung nicht signifikant abgebaut worden sind.39 Es bleibt gleichwohl die Frage, ob solche Grundüberlegungen in der Substanz über einen Anschluss an die global-moderne westliche Welt hinausgehen und damit eigene Eingaben bedeuten, eben rule-making. Wobei dieses rule-making in solchen Zusammenhängen ausdrücklich nicht verstanden werden darf als eine Strategie sich dominant auswirkender Eingaben, sondern als erkennbare Mitwirkung an dem Prozess globaler Zivilisation und ihrer Definitionsmerkmale und inhaltlichen Komponenten. Der hier ausgesprochene Verdacht vorhandener, vielleicht sogar eklatanter Defizite ließ sich nicht immer in dieser Form formulieren. Im Gefolge des „Manifiesto Latinoamericano" der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL40 war seit Beginn der 50er Jahre eine oben schon gestreifte, als CEPALISMO bezeichnete Entwicklungsdoktrin aufgekommen, die letztlich auf eine Mischung aus zeitweiser lateinamerikanischer Abkopplung aus dem Weltwirtschaftssystem und dessen grundsätzliche Neuordnung hinauslief. Der Nord-Süd-Dialog der 70er Jahre, für den man in Form des Lateinamerikanischen Wirtschaftssystems SELA41 1975 eine eigene lateinamerikanische Agentur schuf und dem man in der 1974 erfolgreich in die UNO eingebrachten „Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten" ein eigenes ideologisches und verhaltensrelevantes Fundament nach der Logik eines internationalen Regimes oder zumindest Para-Regimes geben wollte, war nichts anderes als ein weiterer Versuch, Struktur und Regeln des internationalen Systems mitzubestimmen.42 Dieser Mitbestimmungswille hat sich damals auch in anderen Hinsichten gezeigt: in der Theologie der Befreiung und in gründlichen ordnungspolitischen Diskussionen um wünschbare Gesellschaften für morgen, an denen lateinamerikanische Christ- und Sozialdemokraten und Liberale ihren maßgeblichen Anteil hatten und ohne deren Eingaben die Rückkehr zur Demokratie kaum möglich gewesen wäre. Ich erwähne statt vieler Francisco Rojas Aravena, Francisco Weffort, Eduardo Frei Montalva, Norbert Lechner und nicht zuletzt Juan Carlos Portantiero. Diese Liste ließe sich erheblich erweitern. Die These heißt nicht, dass in der Gegenwart eine qualifizierte ordnungspolitische Literatur ein politischer und wissenschaftlicher Fremdkörper wurde, sondern dass sie heute weniger prägend wirkt. Demokratie ist selbstverständlicher geworden als vor 20 oder gar 30 Jahren (ohne indessen aus den Krisen der Implementierung und Konsolidierung herauszukommen). Nachdem nun auch die großen Debatten um 37

Urquidi 1999: 129 ff. und passim.

38

Vgl. Jaguaribe u.a. 1985.

39

Vgl. Lamarca 2000.

40

CEP AL = Comisión Económica para América Latina.

41

SELA = Sistema Económico Latinoamericano.

42

Vgl. Mols u.a. 1995.

Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika

19

Verfassungsreform und - damit zusammenhängend - um Parlamentarismus versus Präsidentialismus abgeklungen sind, steht nicht mehr das Ringen um eine adäquate demokratische Ordnung 43 im Vordergrund der Überlegungen, sondern die Frage ihrer Stabilisierung bzw. in Ansehung der jüngeren Entwicklungen in Argentinien, Paraguay, Peru, Ekuador, Venezuela oder auch Zentralamerika ihrer Bedrohung. Müssten die unverzichtbaren Korrekturüberlegungen zu einer „guten Regierungsfahigkeit" folglich situations- oder „area"-spezifisch erfolgen oder lassen sie sich im Rahmen genereller „governance"-Erfahrungen anstellen? Ich habe bei letzterem Zweifel, aber die Alternativen oder konkreten Antworten müssten von lateinamerikanischer Seite kommen. So etwas sehe ich nicht in hinreichender Deutlichkeit. Daher vielleicht etwas pointiert ausgedrückt: Lateinamerika hat sich intellektuell eingeordnet in Diskussionen, die nicht von ihm ausgehen. Wenn vor ungefähr 10 Jahren der damalige mexikanische Staatspräsident Raul Sahnas de Gortari in einem seiner Rechenschaftsberichte vor dem Parlament seines Landes ausführte: „Wir wollen, dass Mexiko ein Land der Ersten Welt sei und nicht der Dritten" 44 , dann kommt hier in der praktischen Politik abermals eine Linie zum Ausdruck, die auf eine konzeptuelle Anpassung hinausläuft. Sofern damit ein Stück prodemokratischer oder propluralistischer Normalisierung verbunden ist - und gerade Mexiko hat hier in einem unerhört harten internen Ringen bis heute sozusagen Kurs gehalten und durch die letzten Präsidentschafts- und Kongresswahlen bekräftigt - , ist dies sicher zu begrüßen, passt aber voll in die von mir vorgetragene Auffassung, dass dann Westlichkeit und Globalisierung ineinander fallende Größen werden. Damit ist die lateinamerikanische Globalisierungsstory freilich noch nicht voll zu Ende erzählt. Denn es bleibt ein Stück kulturellen Unbehagens an einem zivilisatorischen Prozess, dem man sich ungleich mehr angeschlossen hat, als dass man ihn selbst zu definieren wusste, und dessen soziale Folgen niemanden mehr überzeugen. Es kommt dies gleichsam in Reinkultur bei einem der bedeutendsten Kultursoziologen des Kontinents, bei Felipe Mansilla, zum Ausdruck.,Unsere Eliten laufen nacheifernd und mit instrumentell-fiinktionalen Vorstellungen von eigenen Positionsverbesserungen einer von außen dominierten Modernität nach, die auf Homogenisierung und Verachtung des Besonderen hinausläuft, das immer auch im vormodern Eigenen angelegt ist' - so fast wörtlich der gerade auch in Deutschland beachtete Bolivianer.45 (Ähnlich Degregori und Portocarrero für Peru.46) Das Dilemma bestehe darin, dass das vormodern Eigene eine vielschichtige autoritäre Tradition bilde, die natürlich für sich selbst nicht attraktiv sein könne. Mansilla bekennt sich interessanterweise zu einem typisch westlichen intellektuellen Vorgehen: „Die Philosophie und die Wissenschaft wurden geboren aus ... der Bewunderung der Schönheit des Kosmos und dem Staunen über das Ungehörte und Unge-

43

Vgl. Nohlen/Solari 1988.

44

Zit. in Mols 1996: 259.

45

Vgl. Mansilla 1997: 259.

46

Vgl. Degregori/Portocarrero 2001.

20

Manfred Mols

wohnliche."47 Dies ist beste platonische und stoische Tradition und verweist auf eine Version von Westlichkeit, die bereits den Ansatz zur Selbstdistanzierung in sich trägt und die man bei dem bereits zitierten Oxforder Historiker Roberts, aber auch bei Arno Baruzzi48 nachlesen kann: Westlichkeit ist Entwurf und die Verfügungsgewalt darüber.

Zusammenfassung Auch in Lateinamerika zweifelt niemand daran, dass Globalisierung und Verwestlichung weitgehend zusammenfallen. Die von Asien ausgehenden Globalisierungsimpulse - sollten sie sich stabilisieren - werden auch in Lateinamerika gesehen, sind aber weder in Lateinamerika noch übrigens in Europa und den USA hinreichend korrekt aufgearbeitet worden. Lateinamerika hat mit der Gleichung Globalisierung = Verwestlichung deshalb keine grundsätzlichen Schwierigkeiten, weil es, nachdem die große Welle des tercermundismo abgeklungen ist, wieder eindeutig zu westlichen Werten zurückkehrte. Es geht realiter und im Wesentlichen nicht nur um eigenständige Eingaben in globale Vorstellungswelten und globale Strukturen, sondern um den Freiraum, in diese hineinzuwachsen, dies vielleicht sogar als der naheliegendste Schritt. Die Globalisierung, so wie sie bisher den meisten Lateinamerikanern jenseits von neu aufgekommenen Verteilungskoalitionen erscheint, schließt eine wachsende Kritik am neoliberalen Erscheinungsbild globaler Ökonomie nicht aus. Soweit erkennbar, werden aber keine Gegenmodelle entwickelt. Die frühere Alternative einer „sozialen Marktwirtschaft"49, die über die in Lateinamerika tätigen deutschen politischen Stiftungen in die Diskussion gebracht wurde und an vielen Stellen auf Akzeptanz oder zumindest Aufmerksamkeit stieß, wird heute skeptischer gesehen, weil die seinerzeitigen Vorzeigeländer Deutschland, die Niederlande oder auch Skandinavien an Paradigmenwert verloren haben. Letztlich läuft in Lateinamerika Globalisierung auf nachahmende Entwicklung hinaus. Hängt dies vielleicht damit zusammen, dass Lateinamerika keine Aufklärung kannte? Die letzte Frage lässt sich nur mit Vermutungen beantworten: Die europäische Aufklärung sollte sich als ein Langzeit-Impuls für die betroffenen Länder herausstellen. Jene Zeit der lateinamerikanischen Chancen, für die oben Beispiele angeführt worden sind, war vielleicht mehr ein Aufbegehren denn ein Stück Weltentwurf von Dauer. Bei all dem kann nicht verkannt werden, dass Lateinamerika zu keiner Zeit aus der Situation einer massiven externen Bevormundung, ja Kontrolle entlassen wurde. Hätte es sich anders, freier, autonomer usw. entwickeln können, wenn es jemals aus der Klientelsituation herausgekommen wäre? Wir wissen es nicht. Die 47

Ebd. 261.

48

Vgl. Baruzzi (1993).

49

Im Einzelfall konnte dies auch „Modell Deutschland" heißen.

Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika

21

Zeiten haben sich jedoch insofern geändert, als man heute nicht nur mit der überkommenen hegemonialen Kontrolle, sondern mit einer Interdependenz a u f fast allen zivilisatorischen Gebieten fertig werden muss, so dass es weniger um Abbau von Dependenz, sondern um mitprägende Partizipation geht. Reichen die Ressourcen, Erfahrungen, politischen Plateaus, sozialen Strukturiertheiten, Erziehungsniveaus usw. für eine solche gestaltende Mündigkeit aus? Und ist nicht auch Lateinamerika zeitlich überfordert? Felipe Mansilla hat mit seiner „kritischen Theorie der Modernisierung" 5 0 schon vor Jahren für einen Ausgleich zwischen den Nivellierungen der Moderne (zu denen j a auch die Globalisierung zählt) und kulturellen Traditionen gekämpft eine Überlegung, die auch in vielen seiner späteren Schriften immer wieder ihre Rolle spielt. Dem a u f einer gleichsam kulturell-empathischen Ebene zu folgen, ist weder schwierig noch abwegig. Doch es müsste, über Andeutungen hinaus, gesagt werden, was solche Traditionen Lateinamerikas oder Indo-Amerikas zum rulemaking im zivilisatorischen Prozess der Gegenwart beitragen. In Asien hat man begonnen, sich dieser intellektuellen Herausforderung zu stellen. 51 Und man rechnet dabei mit sehr langen Zeiträumen. Sollte sich Lateinamerika solchen Diskursstrategien anschließen? In diesen Überlegungen, die wir im Wesentlichen auch in dieser Form in Weingarten im Jahre 2 0 0 2 diskutiert haben, sind viele Fragen gestellt, die sich nicht so ohne weiteres beantworten lassen. Sie sollen Anstöße sein für ein weiteres Nachdenken, vielleicht auch zur Forschung über ein schwieriges Themenbündel.

50

Mansilla 1986.

51

Ibrahim 1 9 9 6 ; Mahbubani 1998.

Andreas Boeckh

Die politische Seite der Globalisierung in Lateinamerika

1. Die verlorene Hoffnung: Demokratisierung, Globalisierung, Marktreformen und Krisen „Die Dekade der Hoffnung" Wer vor ca. zehn Jahren die lateinamerikanische Debatte über die Globalisierung und ihre zu erwartenden Konsequenzen für Lateinamerika verfolgte, konnte bei aller Vielfalt der Positionen einen optimistischen Grundtenor ausmachen. Dass es entgegen vieler Prognosen - gelungen war, nach dem Kollaps des alten Entwicklungsmodells und der Abdankung mehr oder weniger diskreditierter Militärregime gleichzeitig eine profunde politische und ökonomische Transition zu bewerkstelligen, schien zunächst zu den schönsten Hoffnungen Anlass zu geben: Die ökonomischen Reformen versprachen nach der Stagnation bzw. Rezession der „verlorenen Dekade" Wachstum und einen Abbau der extremen sozialen Polarisierung, und sie versprachen auch, die Voraussetzung für eine zukunftsfähige Integration Lateinamerikas in einen Weltmarkt zu schaffen, den man, anders als früher, nun vor allem als Chance und nicht als Bedrohung wahrnahm. 1 Die seit den 50er Jahren fortschreitende weltwirtschaftliche Marginalisierung des Subkontinents, so die Erwartung, sollte sich nun umkehren. Bis Mitte der 90er Jahre war die Inflation fast im einstelligen Bereich, was nach Jahren der Hoch- und Hyperinflation schon als Wunder gelten durfte. Die dritte Welle der Demokratisierung 2 schließlich war umfassender als jede der vorausgegangenen Wellen, und es gab Anzeichen dafür, dass sie nicht mehr nur die Vorstufe für erneute autoritäre Regressionen darstellen würde. Noch nie wurden so viele Länder Lateinamerikas so lange demokratisch regiert.3 Der alte liberale Traum von der Symbiose von Markt und Demokratie schien sich nun auch für Lateinamerika zu verwirklichen. Die Brasilianer sahen sich mit ihrem unausrottbaren Optimismus sogleich in der weltwirtschaftlichen und machtpolitischen Oberliga, als „aufsteigender Riese", vergleichbar allenfalls mit China und Russland, 4 aber auch anderswo herrschte Aufbruchsstimmung. Die1 Hierzu siehe u.a. Velloso/Dupas 1991. 2

Huntington 1991.

3 Barrios/Boeckh 2000. 4

Präsident F. H. Cardoso in einem Interview im Spiegel vom 11.9.1995: 161.

24

Andreas Boeckh

se betraf nicht nur die Diskursebene der Bücher schreibenden Zunft. Auch die Bevölkerung war in einigen Ländern durchaus bereit, die Schmerzen der Anpassungspolitiken zu ertragen, sofern diese eine ökonomische Stabilisierung mit sich brachten und ein glaubwürdiges Versprechen einer besseren Zukunft beinhalteten.5 Sowohl in Argentinien wie auch in Peru wurden Präsidenten mit großer Mehrheit wieder gewählt, die ihren Ländern brutale Anpassungsprogramme zugemutet hatten.

Die ökonomische Bilanz Von der Aufbruchsstimmung ist heute nichts mehr zu spüren, im Gegenteil: Nicht nur in Argentinien wachsen die Enttäuschung und der Ärger über die dürftigen wirtschaftlichen und sozialen Resultate der bisherigen Anpassungspolitiken. Detlef Nolte stellte kürzlich fest, „dass die Mehrheit der Lateinamerikaner in der sogenannten .Dekade der Hoffnung' (d.h. in den 90er Jahren) über das Hoffen nicht hinausgekommen ist". Damit sind die bescheidenen Wachstumsraten der 90er Jahre angesprochen. Sie übertrafen zwar mit durchschnittlich 3,2% (1990-1998) die der 80er Jahre, aber sie lagen deutlich unter dem Niveau der Importsubstitutionsphase in den 50er bis 70er Jahren (5,5 %). Sie reichten nicht aus, um den Einkommensabstand zu den USA zu verringern. Mit der Ausnahme Chiles und Kolumbiens hat sich zwischen 1980 und 1995 fiir alle lateinamerikanischen Länder die Lücke zu den USA vergrößert. 6 Wichtiger noch: Sie waren auch nicht hinreichend, um die Armut in Lateinamerika signifikant zu reduzieren.7 Die allenthalben beklagte soziale Schuld wurde nicht einmal ansatzweise beglichen, wenngleich die Phase der Marktreformen nach 1990 eine bessere soziale Bilanz aufzuweisen hat als die vorausgegangene Phase der heterodoxen Anpassungsversuche. 8 Die Verletzlichkeit Lateinamerikas gegen externe Schocks ist nach wie vor sehr hoch. Jedes Land ist in den letzten acht Jahren mindestens einmal von einem solchen Schock betroffen worden, was mit z.T. erheblichen Wohlfahrtsverlusten verbunden war. Insgesamt waren es zwischen 1996 und 2002 drei rezessive Phasen. Für Argentinien endete kürzlich eine vierjährige Rezession in einem völligen wirtschaftlichen und politischen Kollaps. Gewiss ist die Gesamtbilanz der Reformen der 90er Jahre nicht nur düster. Mitte der 80er Jahre hätte niemand angesichts der raschen Abfolge von gescheiterten Anpassungsprogrammen das hohe Maß an makroökonomischer Stabilität vorhersagen mögen, das die 90er Jahre gekennzeichnet hat. Hier haben sich die lateinamerikanischen Volkswirtschaften als flexibel und die Wirtschaftspolitik als situationsadäquat erwiesen. Gleichwohl ist die Bilanz weitaus dürftiger ausgefallen als erwartet und versprochen. Der jüngste Jahresbericht der Interamerikanischen Ent5 Weyland 1998. 6 Nolte 1999: 52 f.; Zitat: 53. 7 Altimir 1998; Ocampo 1998. 8 Boeckh 2002.

Die politische Seile der Globalisierung

in

Lateinamerika

25

wicklungsbank beginnt mit der lapidaren Feststellung: „Das wirtschaftliche Wachstum in Lateinamerika war enttäuschend", und fährt fort: „Was die Sache schlimmer macht, ist die Tatsache, dass sich in fast allen Ländern der Region während der 90er Jahre die Einkommensverteilung verschlechtert hat, was die Wirkung des Wachstums auf die Armutsreduzierung beschränkt." 9 Wäre die Einkommensverteilung in Lateinamerika mit der in Ostasien vergleichbar, würde sich die Zahl der in Armut lebenden Personen in Lateinamerika halbieren. In den Worten des Generalsekretärs der CEPAL: „Die Unzufriedenheit mit den Resultaten der Reformen wächst ständig an. Der Handel und die direkten Auslandsinvestitionen haben zwar deutlich zugenommen, aber das ,Gelobte Land' der hohen Wachstumsraten wird zunehmend als Illusion wahrgenommen." Er verweist darauf, dass die politischen Manifestationen der Unzufriedenheit noch unorganisiert seien und dass ihre politische Agenda noch gefunden werden müsse. 10 Die Bevölkerung hat es offenbar satt, weitere Opfer für illusionäre Zukunftsversprechungen auf sich zu nehmen, und erwartet in vielen Ländern für die Zukunft keine wirtschaftlichen Verbesserungen mehr. Dies wird auch von Umfragen belegt." Sieht man von dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chävez und von Fidel Castro ab, die schon immer gewusst haben, dass die Globalisierung und der damit einhergehende „capitalismo salvaje" ins Elend führen, gibt es in Lateinamerika noch keinen nach vorne weisenden Gegendiskurs zur bisherigen Wirtschaftspolitik, und es gibt keine Elitegruppen, welche mit einem solchen Diskurs den Zorn über die enttäuschten Hoffnungen politisch bündeln könnten. 12 Allerdings hört man in letzter Zeit immer wieder alte, populistische Schlagworte, hinter denen jedoch keine zukunftsfahige wirtschaftspolitische Alternative steckt und deren Bedeutung uns später noch beschäftigen wird. Die Folge ist eine zunehmende Anomie, die sich in gelegentlichen Wutausbrüchen, Plünderungen, aber auch in einer wachsenden Selbstmordrate, vor allem aber in einer wachsenden Kriminalität manifestiert. Viele verfallen auch der Resignation. Laut einer Umfrage vom Ende des Jahres 2000 würden 30 % der Argentinier das Land verlassen, wenn sie nur könnten. 13 Den wirklich Armen steht diese „exit option" jedoch kaum zur Verfügung, jedenfalls nicht in Argentinien. Anders

9

Inter-American Development Bank 2001: 1.

10 0campo2001: 1. 11

Latinobarömetro 2000a.

12

Die Anti-Globalisierungsbewegung stützt sich vor allem auf NGOs. Die von ihnen artikulierte Ablehnung der Globalisierung und des Neoliberalismus korrespondiert (noch?) nicht mit einem kohärenten Gegenprojekt, das als Entwurf für eine andere Politik dienen könnte. Soweit man das im Moment beurteilen kann, sind bisher wichtige politische Parteien und Elitegruppen nicht auf den radikalen Anti-Globalisierungsdiskurs eingeschwenkt. Auch die PT in Brasilien, die man bisher im Lager der Globalisierungsgegner verorten konnte, scheint sich in letzter Zeit eher vorsichtig zu äußern.

13

El Pais vom 31.12.2000.

26

Andreas Boeckh

sieht es bei den jungen Hochschulabsolventen aus, von denen in der selben Umfrage 40 % die Absicht bekundet haben auszuwandern.14 Die politische

Bilanz

Was die politische Bilanz betrifft, d.h. die Frage der Konsolidierung der Demokratie, kann man darauf verweisen, dass sich die jungen Demokratien als überraschend krisenresistent erwiesen haben.15 In früheren Jahren hätte sich Argentinien kaum den Luxus von fünf Präsidenten in zwei Wochen leisten können, ohne dass das Militär dazwischen gegangen wäre. Außer in Kuba werden in Lateinamerika alle Länder von demokratisch gewählten Regierungen beherrscht. In einem Land, das in jüngster Zeit eine autoritäre Regression durchgemacht hat, nämlich Peru, ist dieser Prozess umgekehrt worden, und lediglich in zwei Ländern, nämlich Venezuela und Haiti, ist eine solche nicht mehr unwahrscheinlich. Im Vergleich zu früheren Dekaden ist dies ein hervorragendes Ergebnis. Dass die Stabilität demokratischer Verhältnisse auch durch ein verändertes internationales Umfeld befördert worden ist, tut dieser Bilanz keinen Abbruch. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts können autoritäre Regime keine Legitimität mehr als Bollwerk gegen den Kommunismus für sich beanspruchen, und in verschiedenen internationalen Vereinbarungen wird die Mitgliedschaft von demokratischen Verhältnissen abhängig gemacht.16 Die Wirksamkeit solcher Demokratieklauseln ist zwar begrenzt, wie die windelweiche Reaktion der OAS auf den offenkundigen Wahlbetrug bei der Wiederwahl Fujimoris im Jahre 2000 klar gemacht hat, doch steht zumindest außer Frage, dass autoritäre Regime im internationalen Umfeld keine schützenden Nischen mehr finden. Die Debatte um die Demokratie mit Adjektiven17 in den Transitionsgesellschaften macht jedoch deutlich, dass die dort entstandenen Demokratien nicht den Standards einer liberalen Demokratie entsprechen, welche einige Politikwissenschaftler offenbar als Ergebnis der Transition erwartet haben. Das mag nun auch ein politikwissenschaftliches Perzeptions- und Kategorisierungsproblem sein. Jedenfalls war es wenig wahrscheinlich, dass in Ländern mit schwachen Institutionen, schwachen Zivilgesellschaften, dürftigen demokratischen Traditionen und starken rewi-see£wg-Koalitionen am Ende des Transitionsprozesses liberale Demokratien entstehen würden. Außerdem hat man übersehen, dass Demokratien in den westlichen Industriestaaten ebenfalls eine Entwicklungsgeschichte haben. Auch sie trugen in früheren Phasen stark illiberale Züge: Nach heutigen Standards hätten die USA in den 50er Jahren als „defekte Demokratie" gegolten, um den etwas unglücklichen Begriff 14 15 16

Kem/Nolte 2001: 28. Barrios/Boeckh 2000. So haben inzwischen der Mercosur, die Verträge zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union und die FTAA-Vereinbarungen der Konferenz von Quebec im April 2001 Demokratieklauseln.

17

Collier/Levitsky 1997.

Die politische Seite der Globalisierung

in

Lateinamerika

27

von Merkel aufzugreifen, 18 da bestimmten ethnischen Gruppen in Teilen des Landes der Zugang zum politischen System de facto verwehrt war. Gleichwohl lassen sich aus der Diskussion um „delegative" 19 oder „defekte" Demokratien mehr Einsichten gewinnen als nur die, dass es zwischen Autoritarismus und liberaler Demokratie noch einiges gibt, was weder Fisch noch Fleisch ist und sich einer eindeutigen kategorialen Zuordnung entzieht, wenngleich diese Einsichten aus der Debatte selbst unmittelbar nicht ableitbar sind. Wenn man jedoch zeigen kann, dass die in der Diskussion angesprochenen Demokratiedefizite spezifische staatliche Performanzprobleme nach sich ziehen, welche wenigstens teilweise als Erklärung für die wirtschaftlichen Probleme und die unbefriedigende wirtschaftliche Bilanz in Lateinamerika dienen können, dann kommen wir schon weiter. Genau das soll nachfolgend versucht werden.

2.

Die politische Seite der Globalisierung

Die Frage, ob die Politik bzw. die spezifischen Merkmale der lateinamerikanischen Demokratien im Hinblick auf die aus dem Globalisierungsprozess resultierenden Anforderungen adäquat sind bzw. ob sie für die unbefriedigenden Resultate der ökonomischen Transformationen verantwortlich gemacht werden können, soll dabei auf drei Ebenen behandelt werden: • der Ebene der politics, bei der es um die Art des Konfliktaustrags und der Durchsetzung von Interessen geht; • der Ebene der polity, d.h. der institutionellen und strukturellen Seite der Politik, und • der Ebene der policies, womit in unserem Fall die inhaltliche Seite von bestimmten, im Globalisierungszusammenhang besonders wichtigen Teilbereichspolitiken und deren Resultate gemeint sind. Interessanterweise sind es heute die Ökonomen, die eine Art Kanon von Anforderungen liefern, dem ein Staat im Globalisierungsprozess genügen muss, wenn er in der internationalen Konkurrenz bestehen will. Wenn etwa im Weltentwicklungsbericht von 1997 20 und im Bericht der Interamerikanischen Entwicklungsbank des Jahres 2000 21 fast nur noch von Politik die Rede ist, wird deutlich, in welchem Maße man inzwischen auch in der Volkswirtschaftslehre die politischen Voraussetzungen und Blockaden von Entwicklungsprozessen verortet. Der von der sog. „Neuen Institutionenökonomie" zur Verfugung gestellte Anforderungskatalog, ergänzt um das Konzept der „systemischen Wettbewerbsfähigkeit" 22 und die darin beschlossenen staatlichen Performanzkriterien, kann eine Art Zielraster abgeben, welcher uns eine Beurteilung staatlicher Leistungen erlaubt. Dieses Verfahren birgt 18

Merkel/Croissant 2000.

19

O'Donnell 1994.

20

Weltbank 1997.

21

Inter-American Development Bank 2000.

22

Eßer u.a. 1996.

28

Andreas Boeckh

allerdings die Gefahr in sich, dass man mit diesem Zielkatalog eine ideale Welt entwirft, an der jede Realität scheitern muss. Man kann dieser Falle dadurch entgehen, dass man nicht die Frage stellt, ob die vorgefundene Welt den definierten Zielen entspricht, sondern ob die Dinge sich in Richtung auf diese Ziele hin entwickeln oder nicht und ob sie dies im Hinblick auf die Entwicklungstempi und vorsprünge in anderen Regionen mit hinreichender Geschwindigkeit tun. Es versteht sich von selbst, dass sich dieses Programm nur als erste und sehr grobe Skizze präsentieren lässt. Die Ebene der politics: Welche Anforderungen politische Prozessmuster? 1.

stellt die Globalisierung

an

Regelverlässlichkeit und Rechtsstaatlichkeit

Umfragen belegen, dass in Lateinamerika in den letzten Jahren das soziale Vertrauen stark abgenommen hat.23 Wenn sich Menschen immer weniger aufeinander verlassen können, wird es umso wichtiger, dass der Staat transparente Regeln aufstellt und diese effizient, und d.h. berechenbar, anwendet. Damit ist die Frage der Rechtsstaatlichkeit angesprochen, und zwar nicht nur die kodifizierte, sondern die im Alltag erfahrene Rechtsstaatlichkeit. Dass es in diesem Bereich in Lateinamerika erhebliche Defizite gibt, wird auch dort so gesehen, weshalb in vielen Ländern Justizreformen versucht oder wenigstens diskutiert werden. Oft hält sich der Staat nicht einmal an seine eigenen Regeln, geschweige denn, dass er sie verlässlich und nach dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz in der Gesellschaft durchsetzt. Laut Latinobarömetro glauben beispielsweise in Argentinien nur 10% der Bevölkerung an die Gleichheit vor dem Gesetz, in Brasilien 13 %.24 Gerade im Falle Brasiliens hat kürzlich eine Untersuchung gezeigt, dass das Rechtssystem de facto darauf angelegt ist, Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz zu verhindern.25 Bei der Defizitanalyse lateinamerikanischer Demokratien wird der Mangel an Rechtsstaatlichkeit fast immer zuerst genannt.26 Eine Justizreform, die Rechtssicherheit und ein höheres Maß an Gerechtigkeit schafft, ist ein Wert an sich und nimmt mittlerweile eine prominente Position in Programmen zur Demokratieförderung ein.27 Sie ist aber auch eine wesentliche Funktionsvoraussetzung für eine Marktwirtschaft, die auf intakte Regeln und Institutionen angewiesen ist und in der sich nicht mächtige Gruppen an allen etablierten Verfahren vorbei über informelle Kanäle durchsetzen können.28 Da mangelnde Rechtssicherheit bekanntlich die 23

Latinobarömetro 2000b.

24

Nolte 1999: 15.

25

v. Mandach 2000.

26

Méndez/O ' Donnell/Pinheiro 1999.

27

Ahrens/Nolte 1999; Ahrens 2000.

28

Boeckh/Rubiolo 1999; Faust 2000a.

Die politische Seile der Globalisierung

in

Lateinamerika

29

Transaktionskosten in einer Gesellschaft erhöht, werden die Rechts- und Justizreform inzwischen auch im Kontext des Standortwettbewerbs diskutiert, und es ist kein Zufall, dass gerade die Weltbank seit einiger Zeit auch Programme der Justizreform finanziert. Obwohl hier eine generelle gesellschaftliche Unzufriedenheit mit dem Stand der Dinge und ein klar definiertes wirtschaftliches Interesse zusammenkommen und in dieselbe Richtung wirken, hat sich auf diesem Gebiet erstaunlich wenig getan. Die venezolanische Justizreform, bei der massiv gegen korrupte Richter vorgegangen wurde, diente, ähnlich wie zuvor in Peru, offenbar nur dazu, die Justiz mit Personal zu besetzen, das der Regierung nahe steht. Mit anderen Worten: Eine ohnehin schon korrupte Institution wurde nun auch noch politisch korrumpiert.29 Allerdings gibt es in Lateinamerika auch andere Tendenzen: In Mexiko etwa scheint die polizeiliche und staatliche Willkür im Allgemeinen abzunehmen. Die besten institutionellen Reformen taugen nichts, wenn die politischen Eliten im Interesse des Machterhalts Institutionen beschädigen, Verfahren außer Kraft setzen und dabei jeden Anschein von Verfassungstreue vermeiden. Nicht nur in Venezuela und Peru wurden und werden Verfassungsbestimmungen und gesetzlich geregelte Verfahren aus machtpolitischen Kalkülen ignoriert;30 der Umgang mit Institutionen und Regeln durch die Regierung Menem war nicht weniger verwegen. Das Streben nach Machtperpetuierung hat vielerorts immer noch Vorrang vor der Stabilität von Institutionen und verregelten Verfahren. Auch in Ekuador gab es in den letzten Jahren mehrere Machtwechsel, bei denen die Verfassung des Landes in eklatanter Weise verletzt wurde.31 Respekt vor der Integrität von Institutionen sowie Verfahrens- und Regelverlässlichkeit, die den Ökonomen aus dem Umfeld der new institutionell economics aus guten Gründen so sehr am Herzen liegen, sind in vielen Ländern Lateinamerikas schlicht und einfach nicht vorhanden. Gleichwohl werden inzwischen im Machtkampf Grenzen akzeptiert, die früher in vielen Ländern des Subkontinents unüblich waren. Sieht man von Venezuela ab, gibt es in Lateinamerika keine Elitegruppen mehr, die bereit sind, unliebsame Wahlentscheidungen oder Politikergebnisse mit Hilfe des Militärs zu korrigieren. Die Zeiten, in denen, wie in Argentinien, das Militär als die Partei der Unternehmer galt oder in denen die Militärs die Macht übernahmen, bis zerstrittene Elitefraktionen sich auf einen neuen Modus der Machtverteilung geeinigt hatten, sind wohl endgültig vorbei. 2.

Informelle politische Prozesse und politische Transparenz

Analog zur Marktlogik, bei der das Funktionieren des Marktes von der Markttransparenz abhängt, wird von der Politik ein hohes Maß an Transparenz nicht nur bei der Anwendung von Regeln verlangt, sondern auch bei deren Setzung. Das heißt, auch politische Entscheidungsprozesse müssen verregelt und transparent 29

Boeckh 2001.

30

Ausführlich: Rösch 2001.

31

Münkner-Bunjer 2000.

30

Andreas Boeckh

sein. Den politischen Akteuren muss klar sein, auf welchen Ebenen und über welche Kanäle die Entscheidungsfindung beeinflusst werden kann. Informelle Beeinflussungen lassen sich weder in Lateinamerika noch anderswo ganz vermeiden, sie dürfen aber nicht die formellen Prozesse außer Kraft setzen. In Lateinamerika herrschte eine Zeit lang die Erwartung vor, dass mit der Durchsetzung von Marktregeln den rent-seeking-Koa\ itionen der Boden entzogen würde und dass infolgedessen auch die Informalität bei der politischen Entscheidungsfindung an Bedeutung verlieren würde. Diese Erwartung hat sich so nicht erfüllt. Für Mexiko hat Jörg Faust nachgewiesen, dass in den privatisierten Sektoren die Märkte politisch so konstruiert worden sind, dass sie von vornherein vermachtet waren und rent-seeking ermöglichten. Es waren Märkte ohne Wettbewerb. 32 Dieses Resultat kann man verallgemeinern. 33 Für die Region insgesamt wird von der Interamerikanischen Entwicklungsbank ein Mangel an Wettbewerb auch nach der Privatisierung konstatiert.34 Nun kann es bei der Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen unvermeidlich sein, wenigstens regionale Monopole zuzulassen, doch macht dies die Etablierung von effizienten Aufsichts- und Regulierungsbehörden notwendig. Wie wir bei der Betrachtung der polity-Aspekte, d.h. der institutionellen Seite der Politik, sehen werden, gibt es auf diesem Gebiet, abgesehen von Chile, erhebliche Defizite, gerade weil die rent-seeking-Koalitionen dies über informelle Politikkanäle zu verhindern wissen. Auch die Währungspolitik vieler Länder unterlag dem Kalkül einer Verteilungskoalition und endete in Mexiko nicht zuletzt deshalb 1994 in der Pesokrise. 35 Im Falle Brasiliens und Argentiniens habe ich in früheren Arbeiten zu zeigen versucht, dass das lange und überaus kostspielige Festhalten am Währungsanker als dem wichtigsten Instrument der Preisstabilität auf den Einfluss von Verteilungskoalitionen zurückzufuhren war, die damit längst überfallige Reformen bei der Steuer-, Haushalts- und Rentenpolitik hinausschieben konnten. 36 Hier zeigt sich, dass die informellen politischen Entscheidungsprozesse unmittelbar mit ursächlich sind für die hohe Anfälligkeit bei externen Schocks und die insgesamt enttäuschenden Resultate der ökonomischen Anpassung. Demokratiedefizite haben, wie schon angedeutet, durchaus abträgliche ökonomische Konsequenzen, indem sie wesentliche Teilbereichspolitiken (policies) dem rent-seeking-Interesse mächtiger Gruppen ausliefern. 37

32

Faust 2000b.

33

Es ist typisch für die Begriffsverwirrung, die in der Debatte über Anpassung und Anpassungskonzepte herrscht, wenn eine Privatisierung zugunsten alter oder neuer Verteilungskoalitionen unter weitgehender Vermeidung von Marktregeln als Ausdruck einer „neoliberalen" Strategie interpretiert wird.

34

Inter-American Development Bank 2001:5.

35

Faust 2000b.

36

Boeckh 2003 - im Erscheinen; Boeckh/Rubiolo 1999.

37

Faust 2000a.

Die politische Seile der Globalisierung

Polity. Die institutionelle

in

Lateinamerika

31

und strukturelle Seite der Politik

In diesem Abschnitt werden wir uns mit fünf Aspekten befassen: • der Frage, inwieweit die in Lateinamerika allenthalben diskutierte und z.T. auch implementierte politische und administrative Dezentralisierung zur Effizienzsteigerung staatlichen Handelns beigetragen hat; • damit zusammenhängend, ob die Entscheidungsstrukturen unterkomplex (d.h. überzentralisiert) oder den neuen Erfordernissen einer raschen und flexiblen Entscheidungsfindung unter Einbeziehung der relevanten Akteure angemessen sind; • ob der Staat über angemessene Steuerungs- und Regulierungsinstrumente in den Bereichen der Politik verfugt, in denen auch nach der marktorientierten Transformation staatliche Steuerung und Kontrolle notwendig sind; • mit dem Stand der Staats- und Verwaltungsreformen; • und schließlich mit der Frage, wie die Globalisierung die Strukturen der Zivilgesellschaft beeinflusst und welche Konsequenzen sich daraus für die Komplexität von Entscheidungsstrukturen und für die schon angesprochenen Demokratiedefizite ergeben. 1.

Dezentralisierung

In vielen Ländern Lateinamerikas war die administrative und oft auch politische Dezentralisierung das Kernstück von Reformen, bei denen es darum ging, durch größere Problemnähe die Effizienz der Verwaltung zu verbessern und durch die Schaffung neuer politischer Partizipationsebenen den Performanzdruck auf lokale und regionale Entscheidungsgremien zu erhöhen.38 Angesichts langer Traditionen der Überzentralisierung, die zu einer ständigen Überforderung der zentralen Verwaltung geführt haben, war es nahe liegend, durch Dezentralisierung die Effizienz staatlicher Handlungen zu erhöhen, nachdem man sich die enormen Reibungsverluste angesichts knapper Mittel nicht mehr glaubte leisten zu können. Das Ergebnis entsprach allerdings nur teilweise den Erwartungen. In Bolivien haben institutionelle Reformen in der Tat einen Innovationsschub ausgelöst,39 der jedoch, wie die jüngsten Erfahrungen zeigen, nicht unumkehrbar war. Die Ansätze einer administrativen und politischen Dezentralisierung sind in Peru unter Fujimori aus Gründen des Machtkalküls ausgehöhlt worden, und auch in Venezuela sind die Reformen der späten 80er und frühen 90er Jahre40 von der Regierung Chävez nach 1998 aus denselben Gründen de facto rückgängig gemacht worden. Wo der Föderalismus politisch wirklich Fuß fassen konnte, erwies er sich aber keineswegs immer nur als Mittel der Effizienzsteigerung und einer Modernisierung der Demokratie. In Argentinien wie in Brasilien haben wir es mit etwas zu tun, was Jörg Faust auf einer Tagung jüngst mit dem schönen Begriff des „predatory federalism", d.h. 38

von Haldenwang 1994.

39

Mercado 1996.

40

de la Cruz 1992, 1994.

32

Andreas

Boeckh

des „räuberischen Föderalismus", belegt hat,41 bei dem regionale Eliten den politischen Klientelismus auf die Spitze treiben und die Kosten auf die Bundesregierung abwälzen. In den ärmsten Provinzen Argentiniens zählen die Landesparlamente zu den teuersten der Welt: In der Provinz Salta kostet jeder Parlamentarier den Staat US-$ 1422,00 pro Tag. 42 Während die Zentralregierungen wenigstens Ansätze unternahmen, den aufgeblähten Staatsapparat zu verschlanken, wuchs die Zahl der Staatsbediensteten in den föderalen Einheiten oft exponentiell. Die Sanierung des Staatshaushaltes hatte in beiden Ländern die Durchsetzung eines Minimums an fiskalischer Disziplin in den Bundesstaaten zur Voraussetzung. In Brasilien konnte die Bundesregierung mit der Privatisierung der Landesbanken Fortschritte erzielen, da diese nun nicht mehr zur Finanzierung von Wahlgeschenken und Klientelnetzen zur Verfugung standen. In Argentinien waren die Gouverneure zu entsprechenden Gesprächen erst bereit, als der Staatsbankrott schon nicht mehr abzuwenden war. 2.

Flexibilität der Entscheidungsstrukturen

Der Vorstellung, dass eine Netzwerksteuerung unter Beteiligung der jeweils relevanten staatlichen und gesellschaftlichen Akteure im Zeitalter der Globalisierung die angemessene, da flexible und situationsadäquate Art der Steuerung sei,43 ist auch in Lateinamerika populär. Wie wir gleich noch sehen werden, gibt es in vielen Ländern auf dem Gebiet der Industrie- und Technologiepolitik Ansätze, um auf der Mesoebene entsprechende Strukturen zu schaffen, mit denen man Produktivitätslücken schließen und die internationale Konkurrenzfähigkeit steigern möchte. Diese Bemühungen sind nicht ohne Erfolg, werden aber oft durch Politiken auf der Makroebene konterkariert, welche die Exportfähigkeit der Länder beeinträchtigen. Damit ist die Steuerpolitik angesprochen, aber auch und insbesondere die Währungspolitik mit der notorischen Überbewertung der Währungen, welche Erfolge auf der Mesoebene zunichte machen. Argentinien hat in den 90er Jahren den höchsten Zuwachs bei der Faktorproduktivität in Lateinamerika aufzuweisen gehabt, 44 was sich aber wegen der Währungspolitik kaum als Verbesserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit auswirken konnte. Die in Lateinamerika häufig anzutreffende Tendenz, in Krisensituationen — in einigen Ländern wie in Venezuela aber auch schon habituell - der Exekutive legislative Vollmachten zu erteilen, fuhrt gerade auf wichtigen wirtschaftspolitischen Feldern zu hochzentralisierten Entscheidungen ohne Konsultation und Beteiligung von relevanten gesellschaftlichen Akteuren. Dies läuft den neuen Steuerungskonzepten völlig zuwider und fuhrt oft zu Entscheidungen, welche nicht situationsadäquat sind und Bemühungen auf der Mesoebene obsolet machen.

41

Expertentagung „Resistance to Globalization? A Comparison of Three World Regions", Universität Tübingen, 10.-14.10.2001.

42

Nohlen/Zilla 2000: 281.

43

Siehe u.a. Messner 1995.

44

Hofman 2000a: 31.

Die politische Seite der Globalisierung in Lateinamerika

3.

33

Staatliche Kontrolle und Regulierung

Die Privatisierung diente angesichts der Schulden- und Finanzkrise auch im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen vor allem der Konsolidierung der Staatsfinanzen. Dass private Monopole der staatlichen Regulierung bedürfen, wenn Mindeststandards der Versorgung gewahrt werden sollen, wurde erst relativ spät realisiert, zumal der damals vorherrschende Diskurs die Entstaatlichung und nicht staatliche Regulierung thematisierte. Die Qualität und Effizienz staatlicher Regulierungs- und Aufsichtsbehörden auf dem Gebiet von ehemals öffentlichen Dienstleistungen und der privatisierten Rentenkassen wird in der Regel recht skeptisch beurteilt. Die Interamerikanische Entwicklungsbank verweist auf den Mangel an Transparenz und Regelverlässlichkeit auch auf diesem Gebiet und konstatiert erhebliche institutionelle und rechtliche Defizite. 45 Wenn man weiß, wie leicht in Lateinamerika in der Vergangenheit Aufsichtsbehörden von den Gruppen kolonisiert worden sind, die sie eigentlich regulieren und kontrollieren sollten, handelt es sich hier durchaus um ein relevantes Thema. Es sei daran erinnert, dass die Bankenkrise von 1994 in Venezuela, die den Staat im Endeffekt 10 Mrd. US-$ gekostet hat, dadurch zustande gekommen ist, dass die durchaus vorhandenen Regeln der Bankenaufsichtsbehörde von einer Clique von Bankern und Politikern in krimineller Absicht mühelos außer Kraft gesetzt werden konnten. 46 4.

Die Reform des Staatsapparates

Es ist kaum umstritten, dass die makroökonomische Stabilisierung nur dann von Dauer sein wird, wenn der Staat sich auf seine wesentlichen Aufgaben konzentriert und diese - im Gegensatz zu früher - effizient ausfüllt. Einige der hierzu notwendigen Voraussetzungen sind schon angesprochen worden. Hier soll nur kurz und allgemein auf den Aspekt der Reform des Staatsapparates eingegangen werden. Es wurde deutlich, dass die notwendige Reduzierung der Zahl der Staatsbediensteten auf nationaler Ebene nur mühsam vorangekommen ist und oft auf regionaler und lokaler Ebene unterlaufen wurde. Von einer klaren Laufbahnregelung, welche die Karriere im öffentlichen Dienst an Qualifikationsvoraussetzungen bindet und die Besetzung von bürokratischen Posten der politischen Patronage entzieht, ist man in vielen Ländern Lateinamerikas noch weit entfernt. Es gibt zwar Inseln der Effizienz, 47 doch sind es oft Inseln in einem Meer von Mittelmäßigkeit und Unfähigkeit 4 8 Selbst bei strategisch wichtigen Behörden wie der Steuerbehörde sind Professionalisierungsbemühungen im Sande verlaufen bzw. wieder rückgängig gemacht worden, wie die Beispiele Argentinien, Peru und Venezuela zeigen. Rent-

45

Inter-American Development Bank 2001: 5.

46

Boeckh 1996.

47

In Brasilien etwa zählen dazu das Außenministerium und der diplomatische Dienst.

48

Einige Länder müssen hier ausgenommen werden: Chile, Costa Rica und zunehmend auch Mexiko.

34

Andreas Boeckh

seekers können mit jeder Steuergesetzgebung leben, solange sie nicht angewandt wird. 5.

Die soziale Fragmentierung/ind politische Atomisierung der Gesellschaft

Wenngleich die Effekte der Marktreformen auf die Einkommensverteilung in Lateinamerika durchaus noch umstritten sind,49 gibt es kaum noch Zweifel darüber, dass sich infolge des Globalisierungsdrucks und der Strukturreformen die soziale Heterogenität in Lateinamerika verstärkt und zu einer hochgradig fraktionierten sozialen Struktur geführt hat.50 Die Arbeitsverhältnisse unterliegen einem Trend zur Informalisierung, und auch innerhalb der einzelnen Branchen kann man oft eine starke Heterogenität der Lohnentwicklung feststellen. Dass sich dies vor allem dann, wenn der Liberalisierungsschock schon einige Zeit zurückliegt, positiv auf die Beschäftigungsentwicklung auswirken kann, soll nicht bestritten werden. 51 Die Fristen für eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt sind jedoch sehr lang, weshalb bei den Betroffenen leicht der Eindruck entstehen kann, dass auch diese Opfer letztendlich umsonst waren. Im Kontext unseres Argumentes ist jedoch vor allem ein anderer Aspekt von Bedeutung. Die soziale Fragmentierung und die Informalisierung der Arbeitsverhältnisse führen dazu, dass intermediäre Organisationen, insbesondere die Gewerkschaften, an Bedeutung verlieren. Eine stark fragmentierte Gesellschaft lässt sich kaum noch organisieren. Insofern politische Parteien dadurch ihre soziale Basis verlieren, werden sie politisch schnell obsolet und wandeln sich in kurzer Zeit von hegemonialen politischen Kräften zu marginalen Splittergruppen. Dies fuhrt nicht nur dazu, dass die politischen Strukturen gefährlich unterkomplex werden, sondern schafft die idealen strukturellen Voraussetzungen für die Entstehung eines mehr oder minder autoritären Neopopulismus, bei dem ein messianischer Führer einer großen Masse einer politisch ungebundenen und atomisierten Bevölkerung gegenübersteht. Wie so etwas geht, haben Alberto Fujimori in Peru und Hugo Chávez in Venezuela vorgemacht. In dem Maße, in dem die beschriebenen Strukturen sich auch in anderen Ländern herausbilden, geraten diese Länder in dieselbe Gefahr. Auch in Argentinien sind die geschilderten Fragmentierungsprozesse sichtbar, 52 und es schien für Teile der politischen Eliten nach dem Kollaps der Regierung de la Rua die populistische Versuchung übermächtig zu werden, nachdem ein Festhalten an den liberalen Marktreformen nach dem Staatsbankrott ökonomisch nicht mehr durch weitere Kredite prämiert wird und politisch ohnehin in eine Situation der Unregierbarkeit mündet. Damit verbindet sich zwar kein ökonomisch lebensfähiges Projekt, doch kann man sich davon immerhin eine kurzfristige legitimatorische Entlastung versprechen. Für eine völlig diskreditierte politische Kaste 49

Vgl. etwa Berry 1998 auf der einen Seite und Londoflo/Szekely 1998 auf der anderen, sowie Morley 2000.

50

Klein/Tokman 2000: 27-29.

51

Weller 2000: 38 f.

52

Einzelheiten bei Boeckh 2002.

Die politische Seile der Globalisierung

in

35

Lateinamerika

ist es nicht wenig, wenn sie sich - wenn auch nur fiir kurze Zeit - auf diese Weise Luft verschaffen kann. Die policy-Ebene: Teilbereichspolitiken

und

Politikresultate

Ich möchte mich hier auf eine Frage beschränken, die im Kontext der Globalisierung allerdings von großer Bedeutung ist: Inwieweit gelingt es dem Staat, Ressourcen in die Bereiche zu lenken, welche fiir die internationale Konkurrenzfähigkeit bedeutsam sind? Dabei unterstelle ich einfach, dass man sich nicht darüber streiten muss, dass es sich hier um eine sinnvolle Staatsaufgabe handelt. Ich beschränke mich dabei auf die Erziehungspolitik und auf die Industrie- und Technologiepolitik. 1.

Die Erziehungspolitik

Es ist inzwischen unstrittig, dass eine adäquate Erziehung eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines Landes, für die Förderung seiner Konkurrenzfähigkeit und die Bekämpfung der Armut ist. Nachdem sich die Erziehungsausgaben der lateinamerikanischen Regierungen in den 80er Jahren noch eher prozyklisch verhalten haben, weisen sie in den 90er Jahren kontinuierlich nach oben.53 Dabei ist auch von Bedeutung, dass mit den Ausnahmen Venezuelas und Perus inzwischen der weitaus größte Teil der Ausgaben im Bereich der Primär- und Sekundärerziehung getätigt wird, d.h. in einem Bereich, der sich progressiv auf die Einkommensverteilung auswirkt.54 Gleichwohl ist das lateinamerikanische Leistungsprofil auf dem Gebiet der Erziehungspolitik im interregionalen Vergleich unterdurchschnittlich.55 Trotz hoher Einschulungsquoten ist die Abbrecherquote nach wie vor sehr hoch, und die Qualität der Grundschulausbildung ist z.T. erschreckend schlecht. Ein Land wie Brasilien, das sich gerne auch wirtschaftlich als „aufsteigender Riese" sieht, verfügt über ein Erziehungssystem, das konsequent die falschen Prioritäten setzt, dessen Qualität vor allem im Primärbereich verheerend ist, und das nicht in der Lage ist, die für eine moderne Wirtschaft erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln.56 2.

Industrie- und Technologiepolitik und die internationale Konkurrenzfähigkeit

Auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung liegen die Ausgaben des öffentlichen und privaten Sektors zwar noch immer deutlich unter dem Durchschnitt vergleichbarer Länder in anderen Regionen, doch sind sie inzwischen wenigstens vorhanden.57 Wichtiger als die Ausgabenhöhe ist vielleicht, dass es auch Ansätze gibt, 53

Auf der Basis der pro-Kopf- Ausgaben und des prozentualen Anteils am BIP (UNDP 2001).

54

Sancho2001: 12.

55

Inter-American Development Bank 2000: Kap. 1: 10.

56

Birdsall 1996.

57

Zahlen in Inter-American Development Bank 2001: Kap. 16.

36

Andreas Boeckh

im Sinne der Netzwerkbildung zwischen staatlichen und privaten Akteuren technologische Pole zu bilden, welche die Diffusion von Technologien erleichtern. Diese Versuche sind, sieht man von Brasilien ab, in einem sehr frühen Stadium, was eine Bewertung noch nicht erlaubt, und z.T. sind sie auch durch die mangelnde Kompetenz dezentraler staatlicher Behörden behindert.58 Nicht selten ruinieren nicht kongruente Politiken auf der Makroebene die Bemühungen auf diesem Gebiet (s.o.). Dennoch aber wird deutlich, dass im Gegensatz zu früher die Bedeutung des Politikfeldes von Seiten des Staates erkannt wird und dass man beginnt, hier konzertierte Anstrengungen zu unternehmen. 59 Allerdings geben einige andere Faktoren, welche einen wesentlichen Einfluss auf die internationale Konkurrenzfähigkeit haben, wenig Anlass zum Optimismus. Die Entwicklung auf den Gebieten der Sparrate, Kapitalbildung und der Produktivitätsentwicklung lassen kaum den Schluss zu, dass sich an der schwachen Position Lateinamerikas in der Weltwirtschaft schnell etwas ändern wird. Mit der Ausnahme Chiles ist die interne Sparrate nach wie vor niedrig und im Vergleich zu 1980 oft noch stark gefallen. 1997 lag sie in Lateinamerika bei 2 0 % des BIP. 60 Das Wirtschaftswachstum und die Modernisierungsfähigkeit der Wirtschaft sind damit in hohem Maße von Kapitalimporten abhängig. Dies macht die Wirtschaft zugleich auch verwundbar, wenn bei externen Schocks der Kapitalzufluss abrupt zurückgeht, wie dies jüngst bei der Asienkrise geschehen ist. Zum Vergleich: Die interne Sparrate betrug in Thailand im Jahre 1998 (d.h. während der Asienkrise) 36 %, in Südkorea 34 %. 61 Die Kapitalbildung konzentriert sich vor allem auf die Errichtung von Bauten; im Bereich der Maschinen und der Ausrüstung ist sie immer noch sehr niedrig.62 Ein wichtiger Indikator für die Konkurrenzfähigkeit lateinamerikanischer Industrien ist das Außenhandelsprofil. Das steigende Exportvolumen und auch der rasch zunehmende Anteil von Industriegütern an den lateinamerikanischen Exporten kann nur bedingt als Trendwende gegenüber früheren Mustern interpretiert werden. Das Gros der Industriegüterexporte verbleibt in Lateinamerika, und was den Hochtechnologiebereich angeht, konzentriert sich der größte Teil auf Mexiko. 63 Insgesamt hat sich zwar der Anteil der Güter mit hohem Technologiegehalt an den lateinamerikanischen Exporten stark erhöht (1965: 0,7%, 1997: 6,9% - jeweils ohne Mexiko), doch sind die lateinamerikanischen Anteile auf diesem Gütersektor im Vergleich zu den Tigerstaaten und den osteuropäischen Staaten nach wie vor gering. 64 In anderen Worten: Mit der Konkurrenzfähigkeit lateinamerikanischer Industrien über die Grenzen des Subkontinents hinaus ist es noch nicht weit 58

Zu Brasilien: Meyer-Stamer 1996.

59

Siehe Peres 1997; Katz 1999.

60

Nolte 1999: 54.

61

Weltbank 1999: 254 f.

62

Hofman 2000a: 25.

63

CEPAL 1998, Anexo Estatistico: verschiedene Tabellen.

64

Nolte 1999: 54.

Die politische Seite der Globalisierung in Lateinamerika

37

her. Im jüngsten „World Competitiveness Report", in dem die internationale Konkurrenzfähigkeit eines Landes auf der Basis des makroökonomischen Umfelds, der Qualität der staatlichen Institutionen und der technologischen Fähigkeiten beurteilt wird, liegen nur Chile und Costa Rica oberhalb des Medians, während 7 der 11 niedrigsten Positionen weltweit von lateinamerikanischen Ländern eingenommen werden. 65 Nimmt man den lateinamerikanischen Anteil an den europäischen und US-amerikanischen Patenten als Indikator für die Innovationsfähigkeit der dortigen Volkswirtschaften, wird man mit der Lupe suchen müssen: 66 Er liegt in beiden Fällen bei 0,2 %, d.h. unter dem Anteil Ozeaniens und unwesentlich über dem von Afrika südlich der Sahara. 67 Der lateinamerikanische Anteil am Welthandel liegt auch nach den Handelsreformen noch unter 5 %.68 3.

Die Sozialpolitik

Gerade in der Phase der wirtschaftlichen Transition kommt es zu besonders heftigen sozialen Verwerfungen. Die entscheidende Frage lautet daher, inwieweit es der Sozialpolitik gelingt, die Verlierer des Umstrukturierungsprozesses aufzufangen und der sozialen Polarisierung in Lateinamerika entgegenzusteuern. Betrachtet man die staatlichen Sozialausgaben in ihrer Relation zu den Staatsausgaben insgesamt, dann ergibt sich ein positives Bild. Fast überall sind die Sozialausgaben im Vergleich zu dem „verlorenen Jahrzehnt" deutlich gestiegen und z.T. haben sie das Niveau von 1981 übertroffen. Allerdings verdient nicht alles, was unter der Überschrift „Sozialausgaben" zusammengefasst wird, diesen Namen. Ausgaben im sozialen Wohnungsbau kommen vor allem den Mittelschichten zugute, und auch von den Ausgaben im Gesundheitswesen profitieren die Armen am wenigsten. Mit einer stärkeren Zielgruppenorientierung der assistenzialistischen Sozialpolitik und der Abkehr von Konsumsubventionen, welche selten die wirklich Armen begünstigten, versucht man inzwischen, den enormen sozialpolitischen Aufgaben gerecht zu werden, die sich aus den Marktreformen ergeben. Die Ergebnisse sind bestenfalls gemischt. Das liegt einmal daran, dass neue Sozialprogramme in einigen Ländern unverhüllt nach politischen Opportunitätskriterien und ohne klare Vergaberegeln eingesetzt werden. Sie dienen bzw. dienten einer neopopulistischen Legitimationsgewinnung und eher sekundär der Armutsbekämpfung (Peru unter Fujimori, Mexiko unter Sahnas und Venezuela heute). Außerdem hat es gerade die Sozialpolitik in Lateinamerika mit einem gigantischen Effizienzproblem zu tun. Die Höhe der Sozialausgaben stand in Lateinamerika selten in einem vertretbaren Verhältnis zu den erzielten Resultaten. Daran hat sich wenig geändert. Oft dienen Sozialausgaben der Selbstprivilegierung von Schichten, die man mit dem besten Willen nicht als arm bezeichnen kann. Besonders ausgeprägt ist dieses Problem in Brasilien, wo sich strategisch gut platzierte 65

Zitiert in Inter-American Development Bank 2001: 18.

66

Siehe Grafik 1 im Anhang.

67

Inter-American Development Bank 2001: 220.

68

Grafik 2 im Anhang.

38

Andreas Boeckh

Gruppen im Staatsapparat äußerst kostspielige Sonderrechte verschafft haben, welche die Finanzierbarkeit des gesamten Rentensystems in Frage stellten und immer noch stellen. Im Jahre 2000 wurden in Argentinien 69 staatliche Lebensmittel-, Ernährungs-, Wohngeldprogramme etc. gezählt, deren Koordinationsmängel Verluste in Höhe von schätzungsweise 100 Mio. US-$ pro Jahr verursachten. 69 Vor allem in den Provinzen wird der größte Teil der Mittel für diese Programme in traditionell klientelistischer Weise für Personalkosten eingesetzt. Von einem bestimmten Programm kamen gerade mal 11 % der Mittel bei den Adressaten an, bei einem anderen 15 %. 70 Eine argentinische Institution (Sistema de Información, Monitoreo y Evaluación de Programas Sociales) schätzt, dass die Notprogramme 2 , 6 % aller Haushalte in Argentinien und nur 8,8 % der ärmsten Haushalte erreichen. 71

Fazit Das Resümee, das die Interamerikanische Entwicklungsbank im Hinblick auf das Abschneiden Lateinamerikas im weltweiten technologischen Rennen zieht, kann man auch auf viele andere Bereiche übertragen: „In absoluten Werten macht die Region Fortschritte, in relativen Werten fallt sie zurück." 72 Dies kann man auch mit einer ganz einfachen Statistik belegen: 73 Im Vergleich zum BIP pro Kopf der USA befand sich Lateinamerika im Jahre 1994 ungefähr da, wo man sich schon im Jahre 1900 befunden hatte, nämlich bei 28%, und dies, nachdem man die relativen Verluste aus dem „verlorenen Jahrzehnt" wenigstens teilweise wettgemacht hatte. Beginnend um 1950 haben die beiden damaligen europäischen Entwicklungsländer Spanien und Portugal sowie Taiwan und Südkorea von einem sehr viel niedrigeren Niveau aus zu einer Entwicklung angesetzt, welche Lateinamerika weit abgeschlagen zurücklässt. Auch die ökonomischen Reformen der späten 80er und der 90er Jahre haben an diesem Bild nichts Wesentliches geändert. Die Gründe dafür habe ich versucht, auf verschiedenen Ebenen der Politik zu lokalisieren. Von besonderer Bedeutung scheinen mir dabei die Kontinuität im Bereich der informellen Politik zu sein. Anders als erwartet, haben sich die politischen Prozessmuster in Lateinamerika nicht an die Erfordernisse der Marktsteuerung angepasst. Das zweite große Problem liegt im po/i/y-Bereich, d.h. bei den institutionellen Arrangements und der Qualität der Institutionen selbst, die ihrerseits für die defizitären Resultate im policyBereich verantwortlich sind. Zwar hat es hier auf vielen Gebieten Reformansätze gegeben, doch sind diese oft nur quälend langsam vorangekommen, und sie haben sich keineswegs als unumkehrbar erwiesen.

69 70

La Nación vom 16.11.2000. La Nación vom 12.11.2000.

71 72 73

http://www.lanacion.com/espec/grandes_temas/pobreza/notal .htm Inter-American Development Bank 2001: 220. Grafik 3 im Anhang.

Die politische Seile der Globalisierung

in

Lateinamerika

39

Die lateinamerikanische Neigung, sich in Krisenzeiten auf Notstandsregime einzulassen und, wie im Falle Perus und Venezuelas, neopopulistischen Lösungen den Vorzug zu geben, führt in die falsche Richtung: Die Entscheidungsstrukturen werden noch mehr unterkomplex und die Qualität von Institutionen wird noch weiter beschädigt. Als langfristig gefahrlich sowohl für die Komplexität der Entscheidungsstrukturen wie auch für die Demokratie selbst sind die zunehmende soziale Fragmentierung und politische Atomisierung der Bevölkerung: Sie verstärken den Trend zu „illiberalen", quasi-autoritären Demokratien von neopopulistischem Zuschnitt, deren Performanz in den im Globalisierungsprozess kritischen Politikbereichen notorisch schlecht ist. Die Chancen, die in der Krise der 80er Jahre beschlossen lagen und die man auch in Lateinamerika gesehen und begrüßt hat, sind für eine Reihe von wichtigen Ländern politisch verspielt worden. Die notwendigen politischen Reformen sind zu spät und unzureichend durchgesetzt und z.T. auch schon wieder rückgängig gemacht worden. Dies gilt nicht gleichermaßen für alle Länder. Die Herausforderungen des Globalisierungsprozesses und die ungleich verteilten Fähigkeiten, diesen politisch adäquat zu begegnen, führen dazu, dass sich die Region wirtschaftlich, sozial und politisch weiter auseinander entwickelt.

40

Andreas Boeckh

Anhang: Grafiken Grafik 1: Innovationskraft gemessen nach Anzahl der Patente 55.0 50,0 45.0 40,0 35,0 30.0 25,0 20,0 15,0 10,0

Westeuropa

Zentralu. Osteuropa

Commonwealth

• Europäische Patente 1995

47,4

0,4

0,4

33,4

0,2

0,2

0,2

E3U.S. Patente 1995

19,9

0,1

0,1

51,1

0,2

0,0

0,1

NordLateinamerika amerika

Arabische Staaten

Afrika südl. d. Sahara !

Indien u. SüdostZentralasien asien

Ostasien

China

16,6

0,1

0,0

0,0

1.3

27,3

0,2

0,0

0,0

0,6

• Europäische Patente 1995 i U S Patente 1995 '

Quelle: Inter-American Development Bank 2001: 26.

Grafik 2:

Quelle: verschiedene Statistiken der Vereinten Nationen und der Weltbank

Ozeanien

41

Die politische Seile der Globalisierung in Lateinamerika

Grafik 3: i Pro-Kopf BIP im Verhältnis zu den USA, USA = 100 (internationale Dollars von 1980) »Durchschnitt Lateinamerika •Durchschnitt Korea & Taiwan •"•"»Durchschnitt Spanien & Portugal 1900

1913

1929

Quelle: Hofman 2000b: 33.

1950

1973

1980

1989

1994

Nikolaus Werz

Lateinamerikas globale kulturelle Bindung

Seit dem 12. Oktober 1492, als der erste Eingeborene Christoph Kolumbus' ansichtig wurde, hat sich die Frage der kulturellen Verortung des späteren Lateinamerika gestellt. Von Anfang an hat es eine Vermischung zwischen dem realen und einem gedachten, möglicherweise erwünschten (Latein-)Amerika gegeben. Man hat sogar behauptet, Lateinamerika sei gar nicht entdeckt, sondern erfunden worden.1 Neben Darstellungen, in denen die Schrecken der Eroberung und der Kolonialzeit im Vordergrund stehen, finden sich Hinweise auf die Fähigkeit zur Synthese, die die spanische Kolonialherrschaft ebenfalls besaß. Als Beispiel dafür kann die Buchproduktion gelten: Lange vor der frühen Unabhängigkeit von Spanien und Portugal überwiegen bei den im Gebiet des heutigen Lateinamerika publizierten Schriften solche, die im Zusammenhang mit Amerika stehen. Der Uruguayer Alberto Zum Felde schreibt in seiner Literaturgeschichte: „Die historische Anziehungskraft des Kontinentes war so stark, dass wir sagen können, die Eroberer wurden erobert, und das bedeutet, Amerika hispanisiert sich, während sich gleichzeitig der Eroberer amerikanisiert."2 Dies mag als Hinweis darauf genügen, dass die Frage der Einbindung Lateinamerikas keineswegs neueren Datums ist, sondern eine Konstante im politischen und kulturellen Leben des Halbkontinentes darstellt, die seit der Unabhängigkeit der meisten spanischsprachigen Staaten Anfang des 19. Jahrhunderts in den Schriften lateinamerikanischer Politiker und Intellektueller immer wieder aufgegriffen wurde. Strittig war in diesem Zusammenhang eher das Ausmaß der Europäisierung bzw. später Nordamerikanisierung und die eigene Position dazu. Von daher kann die Kultur in Lateinamerika ein mehrfaches Interesse für sich in Anspruch nehmen: Zum einen, weil sie wahrscheinlich die früheste neuzeitliche Mischform von Kulturen darstellt - ein Vorgang, der aus religionswissenschaftlicher Perspektive als Synkretismus und aus der Sicht der auch von den lateinamerikanischen Regierungen im 20. Jahrhundert geforderten Mischung verschiedener Rassen als mestizaje bezeichnet wurde. Zum anderen, weil in Lateinamerika eigenständige Beiträge zu Kunst, Literatur und Kultur entstanden und dies teilweise in einer Re-Interpretation europäischer Kunsttraditionen. Und schließlich galten die Erfolge in der Kultur als „Kompensation der Fehler der Geschichte"3. 1 O'Gorman 1986. 2 Zum Felde 1954:23. 3 So der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes 1983: 20.

44

Nikolaus Werz

Auch wenn nach wie vor Formen der Diskriminierung der indigenen Bevölkerung vor allem im Andenraum, in Guatemala und Mexiko auftreten, fühlen sich die lateinamerikanischen Eliten, und zwar auch die Mestizen, dem Westen zugehörig. Seit den Gedenkveranstaltungen von 1992, als die Entdeckung/Eroberung 500 Jahre zurücklag, lässt sich ein gewisser Anstieg ethnisch begründeter Konflikte konstatieren (besonders in Ecuador), diese bleiben jedoch - verglichen mit anderen Weltgegenden - eher die Ausnahme in einer Region, wo rund 70 % der Menschen in Städten wohnen. Vor die von Samuel Huntington (1997) u.a. angesprochene Frage „Westernisierung ohne bzw. oder Modernisierung" gestellt, würde die Mehrheit der Lateinamerikaner wahrscheinlich antworten: Wir möchten beides. Die kulturellen Traditionen der Einwanderer aus Europa und die Ausrichtung an westlichen Vorbildern spielen dabei eine wichtige Rolle. Ein Teil des kulturellen Antiimperialismus der Vergangenheit und manche Verstimmungen bis in die Gegenwart lassen sich daraus erklären, dass einige sich als „arme Verwandte" 4 Europas empfunden haben oder noch empfinden. 5 Die jüngsten Migrationsbewegungen von Mitgliedern der Mittelschichten z.B. aus Argentinien in westliche Industriegesellschaften sind ein aktueller Beleg für diesen Zusammenhang. Das „Unterentwicklungsphänomen" und eine komplizierte Ausprägung des Wir-Gefühls bleiben indessen trotz der Zuordnung zum Westen während des gesamten 20. Jahrhunderts und auch in der jüngeren Globalisierung erhalten. 6

1. Lateinamerikas Beitrag zur Weltzivilisation Obwohl sie weitgehend bekannt sein dürften, sei stichwortartig an einige lateinamerikanische Beiträge zur Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts erinnert. Auf ältere Perioden - z.B. den lateinamerikanischen Barock 7 - kann hier nicht eingegangen werden. Malerei Am Anfang steht die Malerei. Die Gründe liegen im mexikanischen Muralismus, der eine Außenwirkung entfaltete, und zwar sowohl in den USA als auch in Frankreich und Europa sowie in verschiedenen staatssozialistischen Ländern. 8 In den letzten beiden Jahrzehnten erlangte die Malerei einen noch größeren Bekanntheitsgrad durch Ausstellungen zur mexikanischen, lateinamerikanischen und kubanischen Kunst in Deutschland. 9 Bei den bildenden Künstlern zeigte sich schon in den 1920er Jahren die globale Bindung: Meist gingen sie zum Studium ins Ausland, 4

Frei 1978.

5 Mansilla 2000. 6

Mols 2001: 461 f.

7

Morande 1984; Paz 1991: 21-96.

8

Billeter 1987.

9

Eine Liste der wichtigsten Ausstellungen enthält: Werz 1995: 77 f.

Lateinamerikas

globale

kulturelle

Bindung

45

und das hieß damals vor allem Frankreich oder die USA, danach kehrten sie in ihre Länder zurück und wirkten mit Sujets aus ihrem Umfeld auf den internationalen und europäischen Markt zurück. Der siebzigjährige Fernando Botero aus Kolumbien lebte 13 Jahre in New York, sein Durchbruch erfolgte allerdings erst in den fünfziger Jahren nach längeren Studien im Prado, im Louvre und in den Uffizien. Vargas Llosa attestierte ihm eine „schöpferische, ,kannibalische' Verarbeitung der europäischen Kunst"10. Spektakuläre Erfolge lateinamerikanischer Maler seit den 1980er Jahren haben aber auch mit der massenmedialen Vermittlung und einem gewissen Bedarf an Mythen zu tun. Das bekannteste Beispiel dafür ist die sog. Fridomania, d.h. der Kult um die mexikanische Malerin Frida Kahlo und ihre Lebensgeschichte. Mittlerweile sollen die Preise für ihre Bilder bei 5 Mio. US-$ liegen. Literatur Die lateinamerikanische Literatur hat mit dem sog. Boom der 1960er Jahre in Deutschland und Europa den Durchbruch erzielt." Der nahe liegende Zugang über die iberische Halbinsel wurde durch Diktaturen erschwert, denn die lateinamerikanischen Schriftsteller, aber auch die Philosophen und Sozialwissenschaftler vertraten modernere Ansätze und progressivere Ideen, als sie die in Spanien oder Portugal verbliebenen Intellektuellen äußern konnten oder wollten. Für nicht wenige europäische Akademiker wurde der Halbkontinent erst nach dem Sturz der Regierung der Volkseinheit unter Präsident Salvador Allende 1973 in Chile sichtbar; Impulse für das lesende Publikum im deutschsprachigen Raum gingen von der Frankfurter Buchmesse 1976 aus, die Lateinamerika gewidmet war. Dem Zeitgeist entsprechend stand zunächst eine revolutionäre Wahrnehmung des Kontinentes im Vordergrund, hinzu trat besonders die Frage nach der Identität. Nun setzte eine anhaltende Rezeption der lateinamerikanischen Literatur und politischen Essayistik ein, die sich um die Zauberformel des magischen Realismus und des wunderbar Wirklichen rankt. Die Vorstellung von Amerika als einer Projektion Europas bzw. der westlichen Welt findet hierin eine Fortsetzung; sie kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass nicht wenige der bekannten lateinamerikanischen Schriftsteller in Europa bzw. den USA leben, hin und wieder nach Süd- und Mittelamerika reisen und ihre Erfolgsgeschichten dort handeln lassen. Der Argentinier Julio Cortázar starb mit einem französischen Pass in Paris, der Peruaner Mario Vargas Llosa besitzt auch einen spanischen Ausweis. Die jüngeren Autorinnen des Post-Boom profitieren von dieser Lage, manche sind in Europa bekannter als in ihren Herkunftsländern. Sie zählen zu den „privilegierten Heimatlosen".

10

Zit. in: Spies 2002: 47.

11

Eine Vorreiterrolle spielten die Bücher von Günter W. Lorenz 1970, 1971.

46

Nikolaus Werz

Musik Auch der Anklang der lateinamerikanischen Musik setzte erst im Zuge sich wandelnder Reisegewohnheiten und der allgemeinen Tanzbarkeit ein.12 Zwar brachte die kurzlebige Ära engagierter Kunst der 1970/80er Jahre einen Aufschwung politischer Folklore, die Breitenwirkung resultiert jedoch aus Salsa, Merengue und sogar dem Tango, der besonders bei den ebenso melancholischen wie mittlerweile netzorientierten Finnen zutiefst rätselhafte Erfolge feiert. Die Rezeption lateinamerikanischer Musik steht im Zusammenhang mit einer allgemeinen Ethno-Welle. Zur Zeit findet die Vermittlung von Latino-Musik nicht zuletzt über MTV und damit über die USA statt. Die Verbindung von Körperbetonung und visuellen Effekten (Video-Kultur) prädestinieren sie dazu.

Geisteswissenschaften Die Geisteswissenschaften hatten stets einen internationalen Bezug. Oft gerät in Vergessenheit, dass die Kultur- und Geistesgeschichte der lateinamerikanischen Länder und ihrer Universitäten eine wesentlich längere Tradition hat als die Nordamerikas. Zur Internationalisierung hat im vergangenen Jahrhundert das spanische und europäische Exil in Mexiko und anderenorts beigetragen. Mexiko-Stadt und Buenos Aires waren wichtige Verlagsorte, sie leisteten im Zeitalter von Diktatur und Totalitarismus in Europa einen universellen Beitrag zum Bestand von Literatur und Kultur. Das europäische Exil in Lateinamerika hat dort seinerseits zur Begründung der Sozialwissenschaften gefuhrt. Schon 1940 erschien in Mexiko eine Übersetzung von Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft" ins Spanische, d.h. vor einer englischen oder französischen Fassung. Dagegen war die Wirkung der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften und theologisch-philosophischen Beiträge in Europa im Zeichen von dependencia und liberación, d.h. der Erklärung von Unterentwicklung aus der jahrhundertelangen Abhängigkeit von den späteren Industrienationen und der sich daraus ergebenden Forderung nach nationaler und gesellschaftlicher Befreiung, vergleichsweise kurzlebig und hing mit dem politischen Zeitgeist der 1970/80er Jahre zusammen. Die jüngeren Erfolge kulturwissenschaftlicher Ansätze (Estudios Culturales) reflektieren mindestens ebenso stark den weltweiten Einfluss des angelsächsischen Wissenschaftsbetriebs wie eigene Originalität.

Architektur, Theater und Film Die Architektur sollte zumindest erwähnt werden, wobei die Innovationen bei der modernen Architektur liegen, was auf einem Kontinent mit mehreren MegaStädten nicht verwundern sollte. Und schließlich seien Theater und Film genannt, die immer wieder Werke von Bedeutung hervorbringen. 13 12

Zur traditionellen Populärmusik vgl. das Nachschlagewerk von Ludwig 2001.

13

Rubin/Carlos 2001.

Lateinamerikas globale kulturelle Bindung

2.

47

Kulturwandel und Etappen des politischen Denkens in Lateinamerika

Da sowohl das politische Denken als auch die künstlerische Produktion mehrheitlich mit den Strömungen des Westens verbunden blieb, bildet Lateinamerika keine völlige Ausnahme von allgemeinen Tendenzen. Nicht wenige Bücher und Bildbände tragen den Zusatz „Der lateinamerikanische oder der mexikanische Beitrag zur Kunst des 20. Jahrhunderts". In einigen südamerikanischen Groß- und Mittelstaaten erlangten die Bildung und der Bildungsgedanke einen mit Frankreich und Deutschland vergleichbaren Stellenwert. Gedacht ist vor allem an Argentinien, Chile, Uruguay und das städtische Mexiko, aber auch in anderen Ländern besaßen das Erziehungssystem und der Zugang zu den Universitäten Priorität für die aufsteigenden Mittelschichten. Bildung und Kunstrezeption waren auf die ciudad letrada bezogen, 14 d.h. die vor allem in den Hauptstädten mögliche Aneignung des europäischen und nationalen Bildungsgutes durch Bücher, Zeitungen und klassische Musik. Gerade in den Ländern des Cono Sur, d.h. des Südzipfels des amerikanischen Kontinents, entstand eine Form der Kaffeehauskultur und der literarischen Öffentlichkeit, in der es dazugehörte, internationale Neuerscheinungen zu debattieren. Diese Phase einer von Modernisierung und Internationalität geprägten Kultur, die von 1870 bis 1929 reichte, wurde durch eine Phase nationalistischer Modernisierung abgelöst. Nicht selten waren ihre Vertreter Autodidakten. Radio und Film beginnen eine Rolle zu spielen, die von den populistischen Regimen der 1940/50er Jahre auch politisch genutzt wurde. Die 1960er Jahre stellten in Südamerika und Mexiko nochmals eine kurzlebige und konfliktreiche Blütezeit dar, die sich in einem Aufschwung der Buchproduktion sowie dem Aufkommen von neuen und teilweise radikalen politischen und kulturellen Reformideen manifestierte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte ein Kulturwandel ein, der vor allem aus dem frühzeitig privatisierten Fernsehen, aber auch aus der Öffnung des Erziehungssystems und einer keineswegs kontinuierlichen Verbreiterung der Mittelschichten resultierte. Zu der Hochkultur trat eine Populärkultur, die sich von den „authentischen Wurzeln" zunehmend einer globalisierten Unterhaltungskultur angenähert hat, ohne dabei regionale Bezüge völlig aufzugeben. 15 Neuere Studien zur Kommunikation stellen fest: Die Massenmedien nehmen mittlerweile die zentrale Rolle ein. Eine kleine Ober- und Mittelschicht partizipiert an Formen der klassischen Kultur (Theater, Oper, Konzert, Ballett). Auch die direkte Teilnahme an öffentlichen Schauspielen (Kinos, Konzerte, Sportveranstaltungen) fällt vergleichsweise schwach aus, die Mehrheit der Lateinamerikaner partizipiert über die Massenmedien an der Kultur. Die starke Zunahme des Fernseh- und Medienkonsums bedeutet indessen nicht, dass es zu einer Homogenisierung kommt; es zeigen sich vielmehr sehr unterschiedliche Präferenzen der (Video-) Konsumenten und 14

Rama 1984.

15

Werz 1991.

48

Nikolaus Werz

Spezifika der Medienproduktion in den einzelnen Ländern. Mit den Fernsehnovellen (telenovelas) wurde eine Darstellungsform gefunden, die sich mittlerweile auch in den östlichen und westlichen Gesellschaften durchgesetzt hat. 16 Diese Form des weitgehend medial vermittelten Kulturkonsums gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat Auswirkungen auf die Umgangsformen und die politische Kultur in Lateinamerika. Noch mehr Zeit als bei uns wird mit Fernsehen verbracht, direkte personale Kontakte nehmen auch dort ab. Die Medien informieren nicht nur, sondern greifen in die Politik ein und übernehmen teilweise die traditionellen Aufgaben von Parteien, Kirchen und Politikern. Einen zusätzlichen Wandel bringt das Internet. In Argentinien sollen 2 Mio. Personen einen Internetanschluss haben, 1997 waren es erst 70.000; 6 8 % gaben an, jeden Tag das Netz aufzusuchen. An erster Stelle stehen dabei Informationen über Reisen und Tourismus. 17 Beim Kinobesuch lässt sich in Buenos Aires in den 1990er Jahren ein Rückgang im Stadtzentrum konstatieren und ein Zuwachs in den neuen, auswärts gelegenen Wohnvierteln der Mittelschicht. Gleichzeitig wird in Argentinien und anderen Ländern von einem Kinosterben in der Provinz berichtet und einer Zunahme des Filmkonsums per Video. Hierbei dürften auch die Wirtschaftskrise bzw. die Sicherheitslage in vielen Städten eine Rolle spielen. All dies fuhrt auch zu einem Wandel der politischen Öffentlichkeit. In Zeiten der Globalisierung erfolgt eine rasante Zunahme von Kulturkontakten unabhängig vom jeweiligen Nationalstaat und damit in de-territorialisierter Form. Globalisierung ist insofern ein vielschichtiger Prozess, der nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den Industrieländern kulturelle Rückwirkungen hat.18 Zu dem nationalen Rahmen tritt ein globales Referenzsystem, wobei die Auslandsorientierung bei den oberen und mittleren Schichten in Lateinamerika aufgrund der spezifischen Geschichte schon früh vorhanden war und deshalb in ihrer aktuellen Wirkung nicht überschätzt werden sollte. Bei der breiten Bevölkerung hat sie sich im Zuge des Aufschwungs der Massenkommunikationsmittel nach dem Zweiten Weltkrieg und der neueren Migrations- und Reisebewegungen durchgesetzt. Im Weltmaßstab sind Produktion und Export von Gütern der Kulturindustrie sehr ungleich verteilt. In den USA macht der hauptsächlich audiovisuelle Sektor fast 6 % des BSP aus und beschäftigt 1,3 Mio. Personen, in Frankreich sollen es immerhin noch über 3 % des BSP sein. Und Brasilien, das bei der Produktion von Schallplatten an sechster Stelle liegt, soll 1998 mehr als 800 Mio. US-$ durch den Verkauf von musicals, Schallplatten und Videos eingenommen haben. Damit erzielen die USA 55 % der weltweiten Gewinne, es folgen die EU mit 25 %, vor Japan und Asien mit 15% und den iberoamerikanischen Ländern mit 5 %. 19 Es handelt sich um einen dynamischen Prozess: Im Bereich der Medien, Verlage, der Banken 16

Bisbai 2001. Vgl. dazu die Schriften von Martin-Barbero, hier: Martin-Barbero/Ochoa Gautier 2001.

17

Wortmann 2001: 137 f.

18

Breidenbach/Zubrigl 2000: 102.

19

Garcia Canclini 2001: 61.

Lateinamerikas globale kulturelle

Bindung

49

und der Fluglinien nahm Spanien in den großen und mittelgroßen lateinamerikanischen Ländern 1999 mit 28 % die zweite Stelle bei den Investitionen ein; in Argentinien lag es sogar an erster Stelle.20 UNESCO-Schätzungen belegen, dass 1996/97 die entwickelten Länder, die über 2 2 % der Weltbevölkerung und über 61 % des Bruttosozialproduktes verfügen, mehr als 94 % der weltweiten Ausgaben für wissenschaftliche und experimentelle Forschung aufbringen. Anders gewendet: Die sog. Entwicklungsländer, die 78 % der Weltbevölkerung und 39 % des gesamten BSP ausmachen, erbringen nur 16 % der weltweiten finanziellen Ausgaben für Forschung. Allerdings ist ihr Anteil an der Zahl der Forscher - wahrscheinlich aufgrund der schlechteren Bezahlung höher und liegt bei 28 %.21 Wie fallt der Anteil Lateinamerikas aus? Lateinamerika und die Karibik hatten 1996/97 487 Mio. Einwohner (8,9% der Weltbevölkerung) und erwirtschafteten 9,2 % des weltweiten Sozialprodukts, ihr Anteil an den Ausgaben lag bei 3,1 %. Per Einwohner gaben sie 1996/97 ganze 34 US-$ für wissenschaftliche und experimentelle Forschung aus, in den USA waren es 708 US-$, in der EU 370 US-$. Bei den prozentualen Ausgaben lagen Lateinamerika und die Karibik zwar hinter den asiatischen Schwellenländern und China, aber noch vor Indien, der Russischen Föderation und Afrika. Der Großteil der Forschungsforderung kommt von staatlicher Seite bzw. aus externen Quellen. 1990 lag der lateinamerikanische Anteil an Veröffentlichungen zu Wissenschaft und Technologie bei 1,4 % und 1997 bei 1,8 %. Er war 1990 mit knapp 40 % wiederum in den USA am höchsten, vor Europa mit 34%; 1997 lag er in den USA und Europa jeweils bei rund 37%. Im Unterschied zur Russischen Föderation ist der Anteil in Lateinamerika in den letzten Jahren leicht gestiegen, bei den High-Tech-Produkten ist der Halbkontinent allerdings nur schwach vertreten. Zwischen dem nur ansatzweise geschilderten Kulturwandel und den nachfolgend genannten Etappen im politischen Denken und der kulturellen Selbstreflexion lateinamerikanischer Intellektueller und Eliten besteht ein Zusammenhang. Gerade im Ausland wird angenommen, die Hauptaufgabe der lateinamerikanischen Intellektuellen läge in der Suche nach und dem Ringen um eine eigene Identität. Da frühzeitig moderne Verfassungen und politische Strukturen übernommen wurden, gälte es nun, die Diskrepanz zwischen den fortschrittlichen Texten und Ordnungsvorstellungen sowie einer vermeintlich ganz anderen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu überwinden. Identität und Modernität gerieten aus dieser Perspektive zu Gegensätzen. 22 Dadurch wurde verkannt, dass sich die Eliten, Künstler und Literaten in ihrer großen Mehrheit stets dem Westen zugehörig fühlten oder sich sogar als eine Verlängerung des Abendlandes empfanden. Zwar kam es nach dem lyrischen Kontinentalismus der Vorreiter der Unabhängigkeitsbewegung von Spanien, 20

Ebenda: 64.

21

The State 2001: 6.

22

Der mexikanische Kulturphilosoph Leopoldo Zea versuchte eine Geschichtsphilosophie aus lateinamerikanischer Sicht zu begründen und vertrat zunächst einen Lateinamerikanismus (latinoamericanismo), der 1992 auf eigenwillige Weise zu einem Iberoamerikanismus (iberoamericanismo) mutierte. Vgl. Zea 1963, 1989.

50

Nikolaus Werz

besonders deutlich bei dem Venezolaner Simón Bolívar (1783-1830) und - in abgeschwächter Form - bei dem Argentinier José San Martín (1778-1850) 23 , im 20. Jahrhundert zu einem auch die Massen ergreifenden Nationalismus sowie einem vor allem gegen die USA gerichteten kulturellen Antiimperialismus, wie beim politischen Denken entlang der Begriffe Abhängigkeit (dependencia), Befreiung (liberación) kam darin aber auch der Wunsch nach Anerkennung und nach einer Überwindung von Unterentwicklung ('subdesarrollo) zum Ausdruck. Vereinfachend können im 20. Jahrhundert drei Phasen bzw. Haupttendenzen festgehalten werden: • Das 19. Jahrhundert und der Beginn des 20. Jahrhunderts stehen unter dem Signum des Liberalismus bzw. des lateinamerikanischen Positivismus und einer starken Orientierung am Ausland. Diese Ausrichtung zeigt sich in den Verfassungsvorbildern, der Architektur und Stadtplanung, dem Erziehungswesen und der Wirtschaftspolitik. • Dagegen formieren sich - beginnend mit dem Jahr 1900 und dem Erscheinen von José Enrique Rodos Ariel24 - kulturnationalistische Strömungen, die seit den 1930er Jahren ihren Niederschlag in den Geschichtsinterpretationen fanden und zu einer partiellen Revision der bis dahin vorherrschenden liberalen Historiographie führten. Ihren politischen Ausdruck fanden sie in nationalistischen und antiimperialistischen Bewegungen, im Populismus lateinamerikanischer Prägung und im Wirtschaftskonzept der Importsubstitution (besonders in Argentinien und Brasilien). Auch die Dependencia-Ansätze und die Befreiungsphilosophie der 1960/70er Jahre können noch zu dieser Phase gerechnet werden. • Seit den 1980er Jahren haben Formen des postmodernen, fragmentierten und liberalen Denkens an Einfluss gewonnen. Die kaum noch zu überblickende Zahl der Beiträge firmiert unter den Sammelbezeichnungen Postmodernität und Estudios Culturales, auch die Kommunikationswissenschaften sind daran beteiligt. Zeitlich korrespondieren sie mit einer Öffnung der Außenwirtschaftspolitik und einer Annäherung an die USA; gleichzeitig ist - u.a. in den estudios subalternos - aber auch eine Globalisierungskritik vorhanden, die sich ebenfalls der neuen Medien bedient. Zusammenfassend lassen sich die jeweils dominierenden Strömungen im politischen Denken Lateinamerikas im 20. Jahrhundert in einem Dreischritt festhalten: Positivismus und Modernisierung - Nationalismus/Abhängigkeit/Befreiung - Liberalismus und Postmoderne.25 Dabei überlagern sich die verschiedenen Strömungen: Neben den Dependencia-Ansätzen der 1960/70er Jahre hat es auch liberale 23

Er lebte ab 1824 im französischen Exil.

24

In dem kulturphilosophischen Werk werden die aus Shakespeares Drama „Der Sturm" übernommenen Figuren dem angloamerikanischen bzw. dem lateinamerikanischen Kulturraum zugeordnet. Caliban steht fiir den Utilitarismus Nordamerikas („Ich bewundere sie, aber ich liebe sie nicht"), Ariel fiir das griechisch-lateinische Bildungsideal.

25

Werz 1992: 346 ff.

Lateinamerikas globale kulturelle Bindung

51

Interpretationen gegeben, und neben den Anhängern der Postmoderne finden sich weiterhin Vertreter einer traditionellen und am nationalstaatlichen Rahmen ausgerichteten Ideengeschichte. In den neueren Schriften ist allerdings kaum noch von einer lateinamerikanischen Identität die Rede, sondern allenfalls von Gruppenidentitäten oder Identifikationsmöglichkeiten.

3.

Identität oder Identitäten? Kulturwissenschaftliche Ansätze

Der Begriff Kultur lässt sich sowohl umgangssprachlich als auch im fachwissenschaftlichen Kontext nur schwer definieren: Erstens haben die Länder und ihre jeweiligen Kulturpolitiken traditionell abweichende Vorstellungen von Kultur, was in der Vergangenheit z.B. zu erheblichen Differenzen zwischen einem deutschen, französischen und angelsächsischen Wissenschaftsverständnis führte; zweitens wurde bis in die 1980er Jahre im mainstream der Ansätze davon ausgegangen, dass Kultur mit dem Nationalstaat zusammenfallt und sich die Persönlichkeit in Abhängigkeit zu der von einer bestimmten Gesellschaft geprägten Kultur konstituiert. Aus dieser Annahme heraus stellt jede Gesellschaft tendenziell eine eigenständige kulturelle Totalität dar, deren System durch bestimmte Werte gekennzeichnet ist. Die Wahrnehmung der „Wirklichkeit" wird immer von einem kulturellen System vermittelt, der Mensch lebt in einem von ihm geschaffenen symbolischen Umfeld - so lautet verkürzt die Aussage des Kulturalismus.26 Natürlich stellte diese Interpretation eine Vereinfachung dar, denn etliche Individuen unterlagen schon in der Vergangenheit nicht nur dem Einfluss einer Kultur, während die Vorstellungen der intellektuellen Elite immer international ausgerichtet waren. Mit Blick auf das deutsche Kulturverständnis lässt sich resümierend festhalten, dass der „Erhaltung kultureller Muster" ein höherer Stellenwert eingeräumt wurde als in der am achievement und damit stärker am Individualismus orientierten nordamerikanischen Kultur. Von daher wurde besonders von einigen ausländischen Autoren ein holistischer Grundzug der deutschen Tradition konstatiert.27 So gingen ältere kulturwissenschaftliche Studien zumeist von homogenen Identitäten und/oder Idealtypen aus. Bevorzugt wandte man sich beim Blick auf Lateinamerika der indianischen Bevölkerung und ihrer Vorstellungswelt bzw. dem ländlichen Amerika mit seinen („magischen") Symbolen zu. Die Aufgabe der Regional- und davor der Auslandswissenschaften wurde darin gesehen, die jeweilige Besonderheit von Kultur und Identität festzuhalten und zu begreifen. Neben den geschriebenen Texten zählten dazu Symbole und Überlieferungen unterschiedlichster Art und Herkunft. Solche Ansätze berücksichtigten lateinamerikanische Quellen und darüber hinaus ältere französische kulturanthropologische Interpretationen, weniger indessen die nordamerikanischen Ansätze aus den Modernisierungstheorien. Die Versuche nordamerikanischer Sozialwissenschaftler, kulturelle Erscheinungen mit empirischen Me26

Kulturalismus 1992: 284.

27

Ebenda: 286.

52

Nikolaus Werz

thoden zu untersuchen, wurden noch Anfang der 1990er Jahre skeptisch beurteilt.28 Die Kategorie des ,,Verstehens" galt als eine besondere Qualität der Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum, eine Sichtweise, der von der älteren Generation lateinamerikanischer Autoren, u.a. von dem mexikanischen Schriftsteller und Essayisten Octavio Paz (1914—2001), zumindest nicht widersprochen wurde. Lateinamerikanische und ausländische Wissenschaftler vollzogen lange Zeit eine Trennung zwischen einheimischer guter Volkskultur {cultura popular) und einer durch die Medien geprägten westlichen Massenkultur. Diese Unterscheidung, die in Lateinamerika besonders die Befreiungsphilosophen und -theologen in den 1960/70er Jahren vertraten, lässt sich in der Wirklichkeit nicht feststellen, denn im Alltag überschneiden sich - wie unter Punkt 2. angedeutet - die beiden Bereiche. Postmodern inspirierte Autoren aus Lateinamerika sprechen von einer schuldbeladenen „euro-nordamerikanischen Anthropologie, die die kulturelle Wirklichkeit in Lateinamerika nicht akzeptieren wolle" 29 . Spätestens in den 1990er Jahren machte sich unter einem Teil der lateinamerikanischen Kulturwissenschaftler ein Generations- und Richtungswechsel bemerkbar. Als bekanntester Vertreter kann der in Mexiko forschende Argentinier Néstor García Canclini gelten. Sein Buch Culturas híbridas, erstmals 1989 erschienen, entfaltete eine erhebliche Wirkung und dürfte zur Karriere der Begriffe „hybrid/Hybride" auch in Deutschland beigetragen haben. 30 Welche Vorstellung verbindet Garcia Canclini mit dem Terminus? Er bevorzugt ihn gegenüber den ebenfalls verwendeten Begriffen mestizaje und Synkretismus, da der eine sich besonders auf die Rassenmischung bezieht und der andere die religiöse Mixtur im Auge behält. Hybridisierung sei umfassend in der Lage, die interkulturellen Mischformen in Lateinamerika zu beschreiben. 31 Garcia Canclini teilt die Auffassung nicht mehr, die Modernität in Lateinamerika als eine Maske zu begreifen, hinter der sich eine ganz andere Realität versteckt, wie es Octavio Paz in frühen Texten und innerhalb der deutschsprachigen Lateinamerikaforschung vor allem Hanns-Albert Steger52 getan hatte. Ebenso verwirft er die Annahme, dass die Modernisierung nur zur Zerstörung der autochthonen Kulturen beiträgt. Vielmehr seien im Prozess der Modernisierung und durch das Fernsehen neue, eben hybride Kulturen in den Städten entstanden. „Durch die Verbindung mit Europa haben wir gelernt, Bürger zu sein, die Beziehungen zu den

28

Vgl. Steger 1992: 363.

29

So etwa Lanz 1998: 88.

30

Allerdings muss in diesem Zusammenhang auf einen Unterschied in der Wortbedeutung in der spanisch- und deutschsprachigen Welt hingewiesen werden. Im Diccionario ideolögico de la lengua espanola 1988 (15. Auflage) heißt es zu „hybrid": „Dicese de todo lo que es producto de elementos de diversa naturaleza", im Wahrig. Deutsches Wörterbuch von 1974 galt noch eine Art „Reinheitsgebot": „einen Bastard betreffend, dessen elterliche Geschlechtszellen sich in einer oder mehreren Eigenschaften unterscheiden".

31

Garcia Canclini 1990: 14f.

32

Steger 1989.

Lateinamerikas

globale

kulturelle

Bindung

53

USA verwandeln uns in Konsumenten."33 Damit verwirft er die Unterscheidung zwischen Volks- und Elitenkultur und legt einen weiten Kulturbegriff zugrunde. „Wir Anthropologen haben mehr Schwierigkeiten, in die Moderne einzusteigen, als die sozialen Gruppen, die wir untersuchen."34 Die Rolle des Konsums in der Kultur wird akzeptiert, Fernsehen, Video u.a.m. mit berücksichtigt. Identität, die traditionell aus dem Status und der Sesshaftigkeit, d.h. Herkunft, Arbeit und Habitat etc. resultiert, sieht sich durch die Geschwindigkeit des Wandels und die Migrationsbewegungen in Frage gestellt. Seine optimistische Sicht, was die deterritorialisierten Formen der Kultur anbelangt, erlebt im Verlaufe der 1990er Jahre einen Einbruch. Verstärkt plädiert er nun für intellektuelle Kritikfähigkeit und für eine kulturelle Gesetzgebung in den einzelnen Staaten.35 Neuere Aufsätze betonen die Notwendigkeit einer demokratischen Gesetzgebung im Bereich von Radio und Fernsehen, sie steckt im Unterschied zur rasanten Entwicklung der Medien erst in den Anfangen. Die Autorenrechte sind kaum geschützt. Diskussionen hat es auch wegen der Aneignung von folkloristischen und ethnologischen Melodien durch nordamerikanische bzw. internationale Künstler gegeben. Das bolivianische Lied El cöndor pasa wurde in der Vertonung von Simon und Garfunkel zu einem Welterfolg. Ebenso soll Harry Belafonte (geb. 1927) mit seiner Version von Liedern aus Jamaika, Trinidad und den Bahamas eine Menge Geld verdient haben, ohne dass die eigentlichen Urheber etwas davon erhalten hätten. Während Garcia Canclini die Mischformen und die Transdisziplinarität in den Vordergrund stellt, liegt bei Nelly Richard, einer in Frankreich geborenen Kulturhistorikerin, die seit 1970 in Chile lebt, der Akzent stärker auf der critica cultural und damit vor allem der Literaturbetrachtung. Von ihr und anderen Autorinnen werden die neue Vielfalt und der damit einhergehende politische Pragmatismus im Zusammenhang mit der Krise der Utopien gesehen.36

4.

Globalisierung und Kultur

Von den unzähligen Texten Uber die Globalisierung können hier nur wenige erwähnt werden, bei denen es explizit um Kultur geht. In dem viel diskutierten Buch (bzw. Buchtitel) von Samuel P. Huntington kommt Lateinamerika nur am Rande vor, der Verfasser plädiert für eine weitere Verwestlichung. Auch der Text von Benjamin R. Barber, Jihad vs Mc World (1996), törichterweise übersetzt mit „Coca-Cola und heiliger Krieg", enthält fast keine Ausführungen zu dem amerikanischen Halbkontinent, skizziert aber recht treffend mögliche Reaktionen auf die von Nordamerika ausgehende kulturelle Dominanz. Einen mehrfachen Bezug auf Lateinamerika enthält hingegen Manuel Castells dreibändiges Opus Magnum, The Information age: Economy, society and culture (1996 ff.). Es ist auch deshalb er33

Garcia Canclini 1995: 15.

34

Garcia Canclini 1990: 230.

35

Garcia Canclini 2001.

36

Richard 2001; Pagni 2001.

54

Nikolaus Werz

wähnenswert, weil es von der These ausgeht, dass kulturelle Fragen bzw. Identitätspolitiken in Zukunft entscheidend sein könnten. Natürlich lässt sich ein Werk, das umfangreicher als die Bibel und Das Kapital ausfällt, hier nicht darstellen. Nur einige Gedanken seien erwähnt: Der gebürtige Katalane Castells konstatiert fiir die Aktualität eine „bipolare Opposition zwischen dem Netz und dem Individuum". Dem entspricht - und da steht er in gewisser Hinsicht in einer marxistischen Tradition - eine Bipolarität zwischen einer globalisierten Elite mit ihrer Davos-Kultur und dem nennen wir es: „Weltvolk". Denn während die Eliten kosmopolitisch ausgerichtet sind, verhalten sich die Menschen lokal. Das Kapital ist koordiniert - eine globale Kapitalistenschicht besteht jedoch nicht (Bd. 1: 474), die Arbeit wird dagegen zunehmend individualisiert. Die multimediale Welt ist in zwei Großgruppen geteilt: diejenigen, die interagieren, und diejenigen, die sozusagen interagiert werden (Bd. 1: 371). Dabei spielen die Massenmedien und ihre virtuelle Realität eine wichtige Rolle, Raum und Zeit erhalten einen neuen Stellenwert. Entscheidend werden Strömungen (space of flows) und eine zeitlose Zeit (timeless timé), wobei die meisten Informationsströme in den USA (besonders zwischen New York und Los Angeles) ablaufen. Die globale Stadt figuriert nicht als ein Ort, sondern als Prozess mit einigen Innovationsstandorten wie z.B. Silicon Valley. Auf Wissen basiert die neue Informationsgesellschaft, sie organisiert sich in Netzwerken, fuhrt zu einer Verhäuslichung des Arbeitslebens und zu einem Strukturwandel der Städte. Die Kraft dieser (Informations-)Ströme ist stärker als die Impulse der Macht. Damit erscheint die soziale Morphologie, d.h. die Wirkung von Organisationsstrukturen, wichtiger zu sein als die soziale Aktion - ein Gedanke, mit dem sich Politikwissenschaftler nur schwer anfreunden können. Bei der Netzwerkgesellschaft handelt es sich um ein offenes, in hohem Maße dynamisches und kapitalistisches System (Bd. 1: 470). Im Informationszeitalter, so im Schlussabschnitt des ersten Bandes, besteht eine kulturelle Autonomie vis-á-vis den materiellen Grundlagen unserer Existenz (Bd. 1: 478). Nun dürfte nach dem Eingangsband klar sein, dass nicht alle Menschen, u.a. Castells selbst, diese Zustände in allen Aspekten erstrebenswert finden. Folgerichtig handelt denn auch der zweite Band von der (Gegen-)Macht der Identitäten. Als ausschlaggebend wird der Bruch zwischen den globalen Verhältnissen sowie den lokalen Bedingungen von Individuen und sozialen Gruppen gesehen (Bd. 2: 11). Gruppen konstituieren sich in diesem Prozess globaler sozialer Desintegration auch in Form eines kommunalen bzw. regionalen Widerstandes. Er bezeichnet dies als Identitätspolitiken. Neben der globalen Elitenbildung kommt es zu Formen von Rebellionen gegen die Globalisierung, und zwar von links und rechts: Auf der Rechten nennt er religiöse Fundamentalisten, den kulturellen Nationalismus und diverse territoriale Gemeinschaften. Auf der Linken finden sich u.a. die Zapatisten, die erste Guerilla des Informationszeitalters, die der Autor in ihrer Bedeutung möglicherweise überschätzt. Angesichts solcher und anderer Bewegungen - die Grünen, die Frauenbewegung und die Krise des Patriarchats werden ausfuhrlich behandelt - scheint der Staat an Bedeutung zu verlieren. Geschwächt sieht er sich vor allem aber durch die Globalisierung und eine wachsende Bedeutung personenorientierter Medieninszenierungen, die zu einer Nordamerikanisierung der europäi-

Lateinamerikas globale kulturelle Bindung

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sehen Politik beitragen. Castells beschreibt die Krisensymptome in den europäischen Parteiensystemen und konstatiert, dass die politische Demokratie zur leeren Schale gerät. Eine Wiedergeburt der Demokratie schließt er indessen nicht aus. Allerdings schwankt die sich abzeichnende Gesellschaft - und dazu verwendet er zwei deutschsprachige Begriffe - zwischen der alten Logik der Macht und der neuen Logik der Selbstanschauung (Bd. 2: 355). Neue Identitäten sind vorhanden, aber sie kommunizieren kaum miteinander und noch weniger mit dem Staat. So gelingt es ihnen nicht, zu sog. Projektidentitäten zu werden. Wo liegt nun die Macht in dieser neuen Konstellation? Nach wie vor ist sie vorhanden und übt eine Herrschaft aus. Die neue Macht liegt in den Informationskodizes, dagegen verliert die alte Arbeiterbewegung an Bedeutung. Zwei potenzielle Kräfte zeichnen sich ab: Da sind einmal die sog. Propheten. Es gibt deren gute und schlechte. Subcomandante Marcos, compadre Palenque in La Paz, aber eben auch Or aus Ashara, der Guru einer mörderischen japanischen Sekte. An zweiter Stelle nennt er die neuen sozialen Bewegungen und ihre alternativen Netzwerke als Gegenkräfte zur Logik der Informationsgesellschaft (Bd. 2: 361 f.). Der dritte Band mit dem suggestiven Titel End of Millenium (1998) weist nicht den Weg ins 21. Jahrhundert. Castells schildert die Krise des Etatismus/Staatssozialismus in der Sowjetunion, spricht von dem Entstehen einer „vierten Welt" in Afrika, geht auf die organisierte Kriminalität im Weltmaßstab ein und behandelt ausführlich die Entwicklung in Asien sowie - wesentlich kürzer - den Prozess der europäischen Einigung. Der Schlussakkord fällt ein wenig verhalten aus. Nochmals wird auf die Bedeutung der Kultur verwiesen: „Kulturkämpfe sind die Machtkämpfe des Informationszeitalters" (Bd. 3: 368). Sie werden weitgehend in den Medien ausgetragen, aber die Medien sind nicht die Macht, sie liegt vielmehr in den Netzwerken des Informationsaustausches und der Manipulation von Symbolen. Die letzten Zeilen plädieren für eine aktive Rolle des Intellektuellen bzw. Sozialwissenschaftlers. Nachdem sie im 20. Jahrhundert versucht hätten, die Welt zu verändern, solle es im 21. Jahrhundert darum gehen, sie anders zu interpretieren. Der Band endet mit einem Gedicht von Pablo Neruda. Auch wenn sich Castells als engagierter Wissenschaftler versteht, so lehnt er doch jeden Determinismus ab. Er ist kein Anhänger geschichtsphilosophischer Entwürfe, er betrachtet sich als Analytiker und verzichtet auf Prognose.3 Andere Arbeiten zum Thema können hier nicht dargestellt werden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie historischen Traditionen einen geringen Stellenwert beimessen, den Konsum als ein Konstitutionsmerkmal kultureller Identität betrachten und sich von monokulturellen Vorstellungen und dem Begriff einer nationalen Authentizität verabschieden. 38 Nur wenige von ihnen gehen dezidiert von den politischen Rahmenbedingungen aus, zumeist wird ein weiter Kulturbegriff zugrunde gelegt, der neben der Literatur auch die Musik sowie die neuen Medien mit einbezieht.

37

Castells 2001.

38

Robertson/Winter 2000; Castro-Gómez 1997.

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5. „Periphere Modernität" oder Postmoderne in der Peripherie? Es dürfte kein Zufall sein, dass wichtige Bücher zu diesem Thema in oder über Buenos Aires erschienen sind, d.h. einer Stadt, die sich immer als eine Verlängerung Europas in Südamerika verstanden hat. Zu nennen wäre hier Beatriz Sarlo Una modernidad periférica: Buenos Aires 1920 y 1930,39 die den Begriff „periphere Modernität" wahrscheinlich als Erste verwandte, um die urbane Kultur der aufstrebenden Weltstadt zu beschreiben. Zahlreiche Teilnehmer an der aktuellen Debatte über Postmoderne in Lateinamerika haben den Begriff aufgegriffen und dabei enthistorisiert. Sie sind nicht der Ansicht, dass sich die kulturelle Globalisierung auf die weltweite Populärkultur reduziert, sie sprechen ihr durchaus die Fähigkeit zur Authentizität zu40 und verweisen auf die Entscheidungsfreiheit des Individuums beim Kulturkonsum. Das Globale werde durch regionale bzw. lokale Einflüsse verändert. Nicht die Frage der Authentizität sei letztlich entscheidend, sondern die der Mischungen, wobei natürlich die Frage der „Wahlmöglichkeiten", die das Individuum jeweils hat, zu stellen wäre. Mit am interessantesten sind die kulturwissenschaftlichen Beiträge aus Chile. José Joquín Brunner hat einen geistreichen Essay unter Berücksichtigung der internationalen und besonders europäischen Literatur zu Globalisierung und Postmodernität vorgelegt.41 An anderer Stelle spricht er unter Bezugnahme auf das imaginäre Dorf in Gabriel García Márquez berühmtem Roman Hundert Jahre Einsamkeit aus dem Jahr 1967 von der Vitalität eines Macondo-América, mit dem die Lateinamerikaner einen kreativen Kontrapunkt gegenüber globalen Modernisierungszwängen setzen könnten. Grenzen sieht er aber insofern, als der Terminus suggeriert: Wir sind ganz anders als ihr - was so gar nicht zuträfe. Von jüngeren wird der Macondismo insofern karikiert, als sie von Mc Ondo sprechen. Mit fast spielerischem Unterton findet mittlerweile die Bezeichnung „heterogene periphere Modernität" Verwendung.42 Damit taucht der in den DependenciaAnsätzen negativ besetzte Begriff der Peripherie in einem neuen und vermeintlich positiven Bedeutungszusammenhang auf, was offenbar auch für den Begriff der „kulturellen Heterogenität" gilt, einen zentralen Terminus der Dependencia-Ansätze der 1960/70er Jahre, der damals eine negative Konnotation besaß. Die Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie scheinen zumindest im Bereich der Kultur aufgehoben zu sein. Ausgangspunkt ist ein Perspektivwechsel: „Mit dem Leitbegriff ,kulturelle Heterogenität' wird nun nicht allein das Gegeneinander, sondern auch das Nebeneinander und Miteinander verschiedener Kulturen im nationalstaatlichen Rahmen betont. Es ist auch nicht mehr nur die Kritik an der Fremdbestimmtheit, sondern vor allem die Suche nach neuen Formen der Selbstbestim39

Sarlo 1999, die erste Auflage erschien bereits 1988.

40

Ähnlich Breidenbach/Zubrigl 2000: 37.

41

Brunner 1998.

42

Herlinghaus/Walter 1994: 24.

Lateinamerikas globale kulturelle Bindung

57

mung, welche das Bild trägt ... Stattdessen beginnt man, Traditionelles und Modernes im widersprüchlichen, dramatischen Zusammenhang als hybride Formation (jetzt ohne negative Konnotationen), als Modernität sui generis und als Bezugsrahmen für Mehrfachidentitäten" 43 anzusehen. Die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre aufgekommene kulturtheoretische Debatte wurde im Zusammenhang mit einer Krise der Modernisierungstheorien gesehen. Nun gehe es um die „Besonderheit der Modernisierung in Lateinamerika" 44 . Periphere Postmoderne wäre dann auch nicht eine Endphase, wie manche Interpretationen besonders der deutschen Postmoderne-Rezeption suggerierten, sondern eine Form der Modernität in der Peripherie. Aufgrund seiner Vielfalt von Stilen und Mischformen sei Lateinamerika so etwas wie der postmoderne Kontinent avant la lettre.*5 Diese „modische" Variante der Postmoderne ist von Autorinnen wie Nelly Richard kritisiert worden. Die Positionen unter den Postisten sind bunt. Viele nehmen nicht direkt Bezug zum politischen Geschehen, dualistische Kriterien wie Unterdrücker/Unterdrückte, Tradition/Moderne, Volkskultur/Hochkultur werden ohnehin abgelehnt. 46 Kritiker haben ihnen deshalb vorgehalten, zumindest eine Begleiterscheinung des wirtschaftlichen Neoliberalismus seit den 1980er Jahren zu sein. 47

6. Zu einigen Merkmalen der Estudios Culturales in Lateinamerika Ausgangspunkt dieser neuen Studien ist ein erweiterter Textbegriff und die Annahme von einem anhaltenden Aufschwung sowie der Vorherrschaft der Massenmedien. Den estudios culturales liegt ein interdisziplinärer Ansatz zugrunde, sie berücksichtigen Bereiche, die bislang durch das „monokulturelle Paradigma der dominierenden westlichen Vernunft verschwiegen wurden" 48 . Halten wir einige Merkmale fest: • Geschichte und Politik spielen eine geringere Rolle als in den traditionellen Ideengeschichten, zentrale Texte der Nationalliteratur, philosophische Traditionen und streng getrennte Fachdisziplinen sind weniger wichtig; • alle sozialen Praktiken, die verbale oder non-verbale Botschaften enthalten, gelten als Bedeutungsträger; • die neueren Ansätze enthalten eine allerdings nicht offen formulierte Kritik an dem Lateinamerikanismus a la Leopoldo Zea und an nationalen bzw. kontinentalen Identitätsentwürfen;

43

Scharlau/Münzel/Garscha 1991: 8.

44

Rincón 1994: 13.

45

So auch Beverly 1995: 4 ff. und Gußmann 2002: 112.

46

Castro-Gómez 1997: 103.

47

Z.B.: Larrain2000: 186 f.

48

Richard 2001: 193.

58

Nikolaus Werz

m

es besteht die Gefahr eines Kulturrelativismus, was im Übrigen auch Verfechter dieser Ansätze zugeben; 49 sie wollen teilweise die vorhandenen Regionalwissenschaften (etwa zu Lateinamerika) ergänzen oder sogar ablösen.



Warum wurde dieses Thema, wenn wir von einigen allerdings wichtigen Vorläufern absehen 50 , besonders in den letzten fünfzehn Jahren aufgegriffen? Zum einen haben seit den 1980er Jahren die Massenmedien eine rasante Verbreitung erfahren, und zwar trotz anhaltender Wirtschaftskrisen, zum anderen setzte in Lateinamerika schon vor dem Ende des Kalten Krieges und der Bipolarität ein neues Interesse für interkulturelle und interdisziplinäre Studien ein. Bei den früher linksorientierten Sozial- und Kommunikationswissenschaftlern oder kulturnationalistisch orientierten Ideenhistorikern waren Vorstellungen von einer nationalen bzw. autochthonen Gegenkultur vorhanden. Dagegen legen die neueren Beiträge eine Vorliebe für fragmentiertes und assoziatives Denken an den Tag.

7.

Ausblick

In seinem zunächst 1976 in Mexiko erschienenen wissenschaftlichen Essay Gibt es Lateinamerika? hatte der brasilianische Kulturanthropologe Darcy Ribeiro (19221997) diese Frage trotz einzelner Bedenken bejaht. Aufgrund des Ideals der Rassenmischung, der iberischen Expansion und des daraus resultierenden Prozesses der ethnischen und sprachlichen Homogenisierung bilde Lateinamerika eine Einheit (Ribeiro 1980: 321). Ribeiro stellt - wie Rodo - Lateinamerika dem Begriff Anglo-Amerika gegenüber, „und zwar nicht nur in bezug auf die Kultur, sondern in bezug auf den sozio-ökonomischen Bereich". Es handelt sich also um eine „Negativabgrenzung" (Ribeiro 1980: 326). Der Brasilianer verstand sich als engagierter Intellektueller der Dritten Welt; neben der Abgrenzung von den USA ging er in seiner „dialektischen Anthropologie" kulturkritisch von einem Niedergang Europas aus, damit verband sich eine optimistische Sicht von der schnellen Übernahme des technologischen Fortschritts in Lateinamerika. Ribeiro stellte die Kulturen verschiedener Nationen und Völker recht global und unter dem Gesichtspunkt der Abhängigkeit gegenüber. Die gemeinsamen Interessen der Völker der Dritten Welt wurden dabei überschätzt, insofern können seine Bücher als ein Beispiel für die frühen Dependencia-Ansätze gelten (Werz 1986: 416 f.). Solche Aussagen gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Allgemein hat sich die Vorstellung von Einheit und Vielfalt mit Blick auf Lateinamerika durchgesetzt. Die Einheit liegt in der geographischen Bezeichnung, der Außenperzeption und den Gemeinsamkeiten in den Pendelbewegungen bei den politischen Regimeformen in Lateinamerika. Auf die Phase der Diktaturen in den 1960/70er Jahren folgte eine formale Re-Demokratisierung, die in einigen Ländern durch neopopulistische Regime in Frage gestellt wird. Die Vielfalt gilt für die jeweiligen Natio49 50

Ebenda: 193. Neben Rama 1984 vgl. vor allem die Bücher von Romero 1981.

Lateinamerikas globale kultureile Bindung

59

nalkulturen und die ohnehin vorhandene soziale und kulturelle Heterogenität in den einzelnen Gesellschaften. Sie wird auch in Zeiten der Globalisierung nicht abnehmen, sondern nur an der Oberfläche eine scheinbare Homogenisierung annehmen. Die intellektuelle Debatte und die kulturellen Formen werden in Zukunft durch Vielfalt gekennzeichnet sein. Im Unterschied zu früheren identitären Entwürfen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum noch übergreifende intellektuelle Entwürfe zu erwarten. Antiimperialistische Programme und nationale Projekte (proyectos nacionales), wie sie Mitte des 20. Jahrhunderts von Akademikern und verschiedenen Populisten vertreten wurden, in denen es auch um eine Antwort im nationalen Rahmen auf die Herausforderungen durch den Weltmarkt und internationale Entwicklungen ging, scheinen der Vergangenheit anzugehören. Die Intellektuellen haben ihre frühere und zum Teil selbsternannte Protagonistenrolle der 1960/70er Jahre aufgegeben bzw. an die Medien verloren. Ein Vorteil wird indessen nur dann daraus erwachsen, wenn die neue kulturelle Vielfalt von einem ökonomischen und sozialen Fortschritt begleitet wird. Kultur in Zeiten der Globalisierung bedeutet auch, noch stärker als bisher über die Grenzen Lateinamerikas hinaus zu blicken. Denn wenn die spanischsprachigen Bewohner der USA und die Spanier hinzugezählt werden, dann handelt es sich um fast 600 Mio. Menschen. Im internationalen Vergleich bilden sie eine Sprachgruppe mit einem hohen Alphabetisierungsgrad und einem starken Konsum von Kultur. Es gehört nicht viel prognostische Aussagekraft dazu, im Bereich der Kultur von einer weiteren Annäherung zwischen Nord- und Lateinamerika auszugehen. Der Satz „Amerika den Amerikanern", ursprünglich eine einseitige Erklärung des nordamerikanischen Präsidenten James Monroe aus dem Jahre 1823, erhält insofern eine neue Bedeutung. Eine Ausdehnung der massenmedial vermittelten Populärkultur (nord)amerikanischen Ursprungs darf als gesichert gelten. Sie wird - je nach dem Ausmaß der Zuwanderung in die USA - zunehmend Latino-Elemente enthalten, insofern trifft der Begriff Hybridisierung für diesen Vorgang durchaus zu. Die bereits in den vergangenen Jahrzehnten vorhandenen Übereinstimmungen zwischen Nord- und Südamerika, beim Städtebau und Verkehr, im Freizeit- und Konsumverhalten, bei den kulturellen Leitbildern, bei Sport und Spiel sowie der Wahl von Schönheitsköniginnen, werden sich verstärken. Ein Teil der kulturellen Ober- und Mittelschichten und damit ein Teil der potenziellen Gegenkräfte wird sich weiterhin an Europa orientieren. In den europäischen Ländern dürfte es bei kulturell interessierten Bürgern nicht anders sein. Einiges wird davon abhängen, ob Europa neben dem wirtschaftlichen und politischen Erfolgskonzept, das es in mehrfacher Hinsicht darstellt, auch wieder an kultureller Ausstrahlungskraft gewinnt. Die neueren estudios culturales beziehen sich vor allem auf den literarischen und kulturwissenschaftlichen Bereich. Noch ist ungewiss, ob die letztlich unlösbare Frage nach einer lateinamerikanischen Identität damit auch in der Politik ad acta gelegt wurde. In der Vergangenheit kam sie vor allem in Krisenperioden auf: So war es während der Phase der Eroberung und der Kolonialherrschaft, aus Anlass der Unabhängigkeitsbewegung von Spanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts, im

60

Nikolaus Werz

Zusammenhang mit der Krise der oligarchischen Herrschaft (1914—1930) und schließlich nach dem Niedergang des historischen Populismus sowie seiner Regime in den 1960er Jahren. 51 Im Zuge einer starken Wirtschaftskrise und bei erneuten Schließungstendenzen des nordamerikanischen Marktes könnte eine kulturnationalistische Identitätssuche eventuell wieder an Bedeutung gewinnen. Seit den 1990er Jahren haben sich Einzelne der neuen Populisten und auch Fidel Castro auf solche Identitätsmuster berufen, im Unterschied zu den 1960/70er Jahren besitzen sie jedoch einen geringen Rückhalt bei den Intellektuellen und stoßen auch bei der Bevölkerung nur begrenzt auf Zustimmung.

51 Larrain 2000: 7 ff.

Hartmut Sangmeister

Lateinamerikas Volkswirtschaften im Prozess der Globalisierung Chancen, Risiken und Nebenwirkungen Chancen der Globalisierung Wir befinden uns seit geraumer Zeit erneut in einem Prozess der Globalisierung, d.h. in einem Prozess der Herausbildung einer neuartigen Struktur und Intensität der weltwirtschaftlichen Verflechtungen, von dem auch die lateinamerikanischen Volkswirtschaften betroffen sind. Schon während der ersten Welle einer Intensivierung der weltwirtschaftlichen Integration - während des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges - hatten sich die Produktionsstrukturen in vielen Staaten grundlegend verändert und die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital eine zuvor kaum gekannte grenzüberschreitende Mobilität entwickelt. Die zweite Globalisierungswelle - nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis etwa 1980 - war hauptsächlich durch den Abbau von Handelsbarrieren zwischen den Industrieländern und die dadurch ausgelösten Spezialisierungsprozesse in deren Produktionsstrukturen gekennzeichnet; während dieser zweiten Phase der Globalisierung kam es zu einer enormen Steigerung des Austauschs von Waren und Dienstleistungen zwischen den wirtschaftlich fortgeschritteneren Volkswirtschaften, nicht aber auch zu einer signifikanten Intensivierung der grenzüberschreitenden Bewegungen von Kapital und Arbeit.1 Erst mit der neuen Globalisierungswelle seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts sind internationale Kapitalmobilität und Arbeitsmigration wieder deutlich angestiegen, und auch mehrere Entwicklungsländer haben als weltwirtschaftliche Akteure Bedeutung gewonnen, indem sie komparative Vorteile (vor allem bei der Herstellung arbeitsintensiver Güter) zu nutzen wussten und sich an rasch verändernde ökonomische Erfordernisse des Weltmarktes flexibel anpassen. Auf die neuen weltwirtschaftlichen Anforderungen der dritten Globalisierungswelle müssen sich auch die lateinamerikanischen Volkswirtschaften einstellen. Ressourcenbasierte Produktionsprozesse werden durch wissensbasierte Produktionsprozesse abgelöst, die mit Hilfe der neuen Transport- und Kommunikationstechnologien (fast) überall auf dem Globus angesiedelt werden können. Immer mehr Unternehmen sind weltweit präsent, die ihre Produktions- und Absatzplanung entlang der Wertschöpfungskette im globalen Maßstab optimieren. Den unternehmerischen Entscheidungen der global players liegen globale Kosten-NutzenKalküle zugrunde: In einer Strategie der gleichzeitigen Nutzung von Globalisie1

Vgl. World Bank 2002b: 28 f.

62

Hartmut

Sangmeister

rungs- und DifFerenzierungsvorteilen werden landesspezifische (komparative) Kostenvorteile mit unternehmensspezifischen (kompetitiven) Wettbewerbsvorteilen kombiniert, wobei die Bewertung nationaler Wirtschaftspolitiken unter einheitlichen Effizienz- und Renditegesichtspunkten in die ökonomischen Dispositionen der globalen Akteure eingeht. In dem Maße, in dem immer mehr Unternehmen Globalisierungsvorteile zu nutzen suchen, intensiviert sich grenzüberschreitend der Wettbewerb zwischen Produktionsstandorten. Immobile Standortfaktoren wie Infrastruktur, Boden, investiertes Sachkapital, sesshafte Arbeitnehmer sehen sich dem Wettbewerb mit anderen Standorten ausgesetzt, aber auch Gesetze, staatliche Regulierungen und ethische Normen stehen untereinander in Wettbewerb. Für diese immobilen Standortfaktoren geht es darum, attraktiv für die mobilen Produktionsfaktoren zu sein, d.h. vor allem: attraktiv für innovative Unternehmen, für Finanzkapital und für qualifizierte Arbeitskräfte. Die Attraktivität von Wirtschaftsstandorten für mobile Produktionsfaktoren hängt u.a. von ökonomischen Rahmenbedingungen ab, die - wie Steuergesetzgebung, Arbeitsmarktverfassung, Umweltschutzbestimmungen etc. von staatlicher Politik (mißgestaltet werden. Jedoch werden Regulierungskompetenz und Durchsetzungsmacht nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik bei fortschreitender globaler Integration von Güter- und Faktormärkten tendenziell immer geringer. Der Effizienzdruck von außen nimmt zu, so dass auch im InnenVerhältnis einer Volkswirtschaft immer mehr protektionistische staatliche Regulierungen aufgehoben und Verhaltensweisen verändert werden müssen. In vielen lateinamerikanischen Staaten sind seit Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts weitreichende wirtschaftspolitische Reformen eingeleitet worden.2 Mit dem Abschied von staatsinterventionistischen, importsubstituierenden Industrialisierungsstrategien früherer Dekaden hat in den Volkswirtschaften der Region marktkonformer Wettbewerb Einzug gehalten, der durch Deregulierung und Privatisierung gefordert wird; und mit der zunehmenden Liberalisierung der Außenwirtschaft ist auch die Weltmarktorientierung der Region gestärkt worden. Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung - konzeptionelle Eckpfeiler der lateinamerikanischen Wirtschaftsreformen ä la Washington Consensus - sind nicht Selbstzweck, sondern Mittel, um den Wettbewerb und damit die Effizienz der Wirtschaft zu erhöhen; letztendlich soll sich durch die Wirtschaftsreformen eine selektive Vorteilsbasis im internationalen Standortwettbewerb herausbilden. Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften können keine protektionistischen Reservate der Weltwirtschaft bleiben, sondern sie sind darauf angewiesen, sich erfolgreich in den Prozess der Globalisierung von Güterproduktion, Dienstleistungen und Finanzierungen zu integrieren.

2 Vgl. hierzu Sangmeister 2000.

Lateinamerikas

Volkswirtschaften im Prozess der

Globalisierung

63

Abbildung 1: Das Pro-Kopf-Einkommen* Lateinamerikas des Jahres 2000 im internationalen Vergleich (in US-Dollar)

* Bruttonationaleinkommen pro Kopf. Quelle: World Bank 2001.

Tatsächlich hat der wirtschaftspolitische Reformkurs der zurückliegenden Jahre in vielen Ländern Lateinamerikas zu beachtlichen makroökonomischen Erfolgen gefuhrt. Das aggregierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Region ist in dem Zeitraum 1990-2000 jährlich um durchschnittlich 3,3% gewachsen, in den meisten lateinamerikanischen Volkswirtschaften herrscht (relative) geldwirtschaftliche Stabilität und der Subkontinent hat an weltwirtschaftlicher Bedeutung gewonnen. 3 Im Vergleich mit anderen Entwicklungsländerregionen wurde im Jahr 2000 die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung Lateinamerikas in Höhe von 1.995 Mrd. US-Dollar nur in der Wirtschaftsregion Ostasien und Pazifik übertroffen (2.095 Mrd. USDollar), und mit einem Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen von 3.680 US-Dollar war Lateinamerika im Jahr 2000 die Entwicklungsländerregion mit der höchsten Wertschöpfiing per capita (vgl. Abbildung 1). Für ausländische Direktinvestoren war der Subkontinent 1999 attraktivste Anlageregion außerhalb der etablierten westlichen Industrieländer, wobei sich der Zufluss von Auslandskapital nach Lateinamerika in den zurückliegenden Jahren vervielfacht hat (Abbildung 2). Ausländische Direktinvestitionen und die mit diesen einhergehenden nichtmonetären Transfers (technisches Know-how, Management-Know-how etc.) bieten Produktivitätsnachzüglern wie den lateinamerikanischen Volkswirtschaften eine Möglich-

3

Soweit nicht andere Quellen genannt, sind die statistischen Daten in diesem Beitrag entnommen aus World Bank 2002a.

64

Hartmut

Sangmeister

keit, um Anschluss an die best-practice-Standards des Weltmarktes zu finden; für die Weltmarktintegration einer Volkswirtschaft haben daher ausländische Direktinvestitionen eine (noch) höhere strategische Bedeutung als die zunehmende Beteiligung am Welthandel. Abbildung 2: Ausländische Direktinvestitionen in Lateinamerika 1992-2001 (in Mio. US-Dollar) 80000

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3 O

14

70000

58278

60000 50000 40000 30000 20000 10000

0 1996

1997

Jahr * Vorläufiger Wert. Quelle: Datenbank IBEROSTAT«

Die Chancen des Globalisierungsprozesses der zurückliegenden Jahre konnten in den lateinamerikanischen Volkswirtschaften nicht gleichermaßen genutzt werden. Als eindeutige Globalisierungsgewinner gelten vielen Beobachtern Chile und Mexiko. In beiden Volkswirtschaften haben die Absage an die protektionistische Politik geschlossener Märkte und die konsequente Hinwendung zum Weltmarkt zu der Dynamisierung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums beigetragen. Die Erlöse aus dem Export von Waren und Dienstleistungen erreichten 1999 in Mexiko 31 % des BIP, in Chile 27%, im lateinamerikanischen Durchschnitt hingegen nur 16%4; das Pro-Kopf-BIP stieg während der Jahre 1996-2000 im lateinamerikanischen Durchschnitt nur um 1,5 % p.a., in Mexiko hingegen um fast 4 % und in Chile um 3 %5. Auch der Nettozufluss von Auslandskapital nach Mexiko und Chile wird als ein weiteres Indiz dafür gewertet, dass diese beiden Volkswirtschaften die Globalisierungschancen in besonderem Maße genutzt haben. Jedoch kann Mexiko nicht ohne weiteres anderen lateinamerikanischen Staaten als Modellvorlage einer gelungenen weltwirtschaftlichen Integration dienen. Das hohe Exportwachstum Mexikos während der zurückliegenden Jahre wurde überwiegend von den maquiladoras und dem Handel mit den nördlichen NAFTA-Partnern getragen - aber diese 4 World Bank 2001: 298-299. 5 CEPAL 2001: Cuadro A-2.

Lateinamerikas

Volkswirtschaften im Prozess der

65

Globalisierung

Dynamik ist mit dem Konjunktureinbruch in den USA im Jahr 2001 (vorläufig) zum Erliegen gekommen, mit der Folge von Massenentlassungen in den Lohnveredelungen der maquilas. Zwar hat der Globalisierungsprozess Mexiko wirtschaftliches Wachstum, technischen Fortschritt und ausländisches Kapital gebracht, aber mehr als ein Drittel der Einwohner des Landes, die in Armut leben, konnten von den Chancen der Globalisierung bislang nicht profitieren. Völlig gescheitert mit dem Versuch der Nutzung von Globalisierungschancen ist Argentinien. Das Land, das zeitweilig als „Musterschüler" bei der Umsetzung neoliberaler wirtschaftspolitischer Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderer internationaler Finanzinstitutionen galt, ist zum Sanierungsfall geworden. Früher und radikaler als in den meisten anderen lateinamerikanischen Volkswirtschaften war in Argentinien die Außenwirtschaft liberalisiert worden, wurden Teilmärkte dereguliert und staatliche Unternehmen privatisiert. Das Land galt Finanzmarktanalysten zeitweilig als einer der attraktivsten emerging markets, und dieser Einschätzung haben die Gläubiger (darunter auch viele private Kleinanleger in Europa) vertraut - bis die argentinische Regierung zum Jahreswechsel 2001/02 die internationale Zahlungsunfähigkeit erklären musste, da die „Schuldenfalle" der Auslandsverschuldung von über 150 Milliarden US-Dollar zugeschnappt war. Erneut hat sich die Strategie des „Verschuldungswachstums" (growth cum debt) als höchst risikoreich erwiesen. Abbildung 3: Lateinamerikas Auslandsverschuldung 1991-2000

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1992

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1997

1998

1999

2000

— S chuldendienst

0

Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern sehen kritische Beobachter jetzt wieder die Determinanten einer drohenden Schuldenkrise: Auslandsschulden jen-

66

Hartmut

Sangmeister

seits der Schuldendienstfähigkeit, hohe Leistungsbilanzdefizite und unzureichende Wettbewerbsfähigkeit auf dem devisenbringenden Weltmarkt. Lateinamerika war Ende 2001 mit insgesamt über 820 Mrd. US-Dollar im Ausland verschuldet und haftete damit für mehr als 30% der externen Kreditverpflichtungen aller Entwicklungsländer6; für den Schuldendienst müssen im lateinamerikanischen Durchschnitt inzwischen fast 50 % der Exporterlöse verwendet werden (vgl. Abbildung 3). Das aggregierte Leistungsbilanzdefizit der Region hat sich zwischen 1990 und 1998 mehr als verfünfzigfacht, auf über 90 Mrd. US-Dollar; es lag damit um fast 50 Mrd. US-Dollar über dem historischen Rekordstand des Jahres 1982, als der offene Ausbruch der lateinamerikanischen Verschuldungskrise in das „verlorene Jahrzehnt" der achtziger Jahre geführt hatte. Zu Beginn der neunziger Jahre hatte das Leistungsbilanzdefizit Lateinamerikas lediglich 0,1% des regionalen BIP betragen; gegen Ende des Jahrzehnts (1998) machte der Passivsaldo der lateinamerikanischen Leistungsbilanz fast 6 % der regionalen Wertschöpfiing aus.7 Die außenwirtschaftliche Fragilität, die sich in hohen strukturellen Defiziten der Leistungsbilanzen und einer steigenden Auslandsverschuldung widerspiegelt, deutet darauf hin, dass die meisten lateinamerikanischen Volkswirtschaften für die wirtschaftliche Globalisierung (noch) nicht sonderlich gut gerüstet sind.

Risiken der Globalisierung Mit dem Ziel einer stärkeren weltwirtschaftlichen Integration sind - mit unterschiedlichem Erfolg - fast überall in Lateinamerika Reformen in Richtung auf ein offenes, marktorientiertes Wirtschaftssystem durchgeführt worden. Die Nutzung von Globalisierungschancen ist bisher aber nur teilweise gelungen, während die Schattenseiten des globalisierungsbedingten Strukturwandels unübersehbar sind. Ungeachtet der makroökonomischen Stabilisierungserfolge und der Liberalisierung des Außenhandels spielt Lateinamerika im Welthandel nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle. Zwar konnte die Region ihre Exporte von Waren und Dienstleistungen in der Zehnjahresperiode 1990-99 jährlich um durchschnittlich fast 9 % steigern und lag damit deutlich über den jährlichen Zuwachsraten der globalen Ausfuhren, die während dieses Zeitraums knapp 7 % betrugen;8 dennoch erreichte der Anteil lateinamerikanischer Warenexporte an den weltweiten Exporten im Jahre 2000 lediglich 5,6 % - kaum mehr als zwanzig Jahre zuvor. Auf den ersten zehn Plätzen der Weltexporteure sind lateinamerikanische Volkswirtschaften nicht vertreten. In der Exportrangliste der World Trade Organization (WTO) für das Jahr 2000 ist erst auf Platz 13 mit Mexiko ein lateinamerikanisches Land platziert, und 6 Nach den Kriterien der Weltbank waren im Januar 2002 Argentinien, Brasilien, Ecuador, Guyana, Kuba, Nikaragua und Peru als „severely indebted" klassifiziert; ein Land gilt als im Ausland ernstlich verschuldet, wenn der Gegenwartswert des Schuldendienstes 80% seines Bruttosozialprodukts und 220 % seiner Exporterlöse übersteigt. 7

World Bank 2000: 75.

8 World Bank 2001: 295.

Lateinamerikas

Volkswirtschaften

im Prozess der

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Globalisierung

Brasilien - gemessen am BIP immerhin die neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt - nimmt bei der globalen Warenausfuhr lediglich den 28. Rang ein9. Neben diesen beiden Ländern ist Lateinamerika in der Liste der 50 größten Welthandelsländer bei den Exporten nur noch mit Venezuela, Argentinien und Chile auf hinteren Plätzen vertreten. Noch ungünstiger schneidet Lateinamerika bei den globalen Exporten kommerzieller Dienstleistungen ab: In der Rangliste der weltweit 50 größten Dienstleistungsexporteure werden lediglich Mexiko (Platz 27) und Brasilien (Platz 33) aufgeführt. 0 Während weltweit Dienstleistungen bereits knapp 19% der Ausfuhrerlöse ausmachen, erreichen sie im lateinamerikanischen Durchschnitt nur 14%. 11 Relativiert wurde die gesamtwirtschaftliche Bedeutung lateinamerikanischer Exporterfolge auch durch den noch stärkeren Anstieg der Importe im Zuge der außenwirtschaftlichen Liberalisierung, so dass die Handelsbilanz der Region während der neunziger Jahre fast immer negativ war (vgl. Abbildung 4). Abbildung 4: Lateinamerikas Außenhandel 1991-2000 (in Mrd. US$) Mrd. US-Î 45 0

1991

1992

1993

1994

W arenexport

1995

1996

Jahr

^

1997

1998

1999

2000

I W a r e n im p o r t

Quelle: Datenbank IBEROSTAT°

Lateinamerikas Außenwirtschaft hat sich von dem Exportmodell des Kolonialzeittyps zwar schon längst verabschiedet und es werden keineswegs mehr ausschließlich oder überwiegend unverarbeitete Primärgüter gegen Industriegüter getauscht. Aber der Anteil industriell verarbeiteter Produkte an der gesamten Warenausfuhr liegt in Lateinamerika mit 48 % noch erheblich unter dem entsprechenden Durch9

World Trade Organization 2001: 21.

10

Ebd.: 23.

11

Ebd.: 24.

68

Hartmut Sangmeister

schnittswert fiir alle Entwicklungsländer mit niedrigem und mittlerem Einkommen (64 %) und ist weit von dem Standard des Welthandels entfernt, bei dem im Jahre 1999 auf Industriegüter 7 9 % der Gesamtexporte entfielen. Die Ausfuhrerlöse fiir Industriegüter hoher technologischer Komplexität (wie z.B. Flugzeuge, Computer, Arzneimittel, wissenschaftliche Instrumente), die in der Regel das Ergebnis intensiver Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen sind, machen in Lateinamerika lediglich 14% der gesamten Einnahmen aus dem Export von Waren aus, in Ostasien hingegen über 3 0 % und bezogen auf den Welthandel 21 %. In Ländern wie Honduras, Paraguay und Venezuela beträgt der Anteil der High-tech-Produkte an der Warenausfuhr lediglich 3 %. Bei Produkten mit höherer Wertschöpfung, für die im Welthandel die höchsten Zuwachsraten registriert werden, sind lateinamerikanische Volkswirtschaften am Weltmarkt bislang nicht sonderlich erfolgreich. Es sind aber gerade diese Produkte, bei denen die Nachfrage bei steigenden Einkommen am stärksten zunimmt, während für Primärprodukte die Einkommenselastizitäten der Nachfrager in den Industrieländern Westeuropas und Nordamerikas - den Hauptabnehmern lateinamerikanischer Produkte - vergleichsweise niedrig sind. Die weltweite Ausfuhr von unverarbeiteten Agrarprodukten und Rohstoffen konnte in der zurückliegenden Dekade nur wesentlich geringer gesteigert werden als der Export von Industriegütern. Zwar profitierten einige lateinamerikanische Länder - Venezuela, Ekuador, Mexiko und Kolumbien - von dem zeitweiligen Preisanstieg für Rohöl, und auch bei Kupfer und Zucker wurden beachtliche Weltmarktpreiserhöhungen notiert, durch die sich die Deviseneinnahmen von Chile und mehreren karibischen Staaten verbesserten. Bei anderen Primärprodukten mussten lateinamerikanische Exporteure hingegen Preisabschläge hinnehmen, die bei Kaffee besonders ausgeprägt waren. Die Exporterlöse zentralamerikanischer Staaten gerieten durch die protektionistische Bananenmarktordnung der Europäischen Union (EU) unter Druck. Ohne eine stärkere Diversifizierung ihrer Ausfuhrpalette bleiben die lateinamerikanischen Volkswirtschaften den Risiken starker Weltmarktpreisschwankungen ihrer Hauptexportprodukte ausgesetzt und es bieten sich ihnen nur begrenzte Möglichkeiten, eine bedeutendere Rolle im Welthandel zu spielen. Um durch verstärkte Beteiligung am internationalen Handel mit Waren und Dienstleistungen zusätzliche Wachstumschancen nutzen zu können, müssen die lateinamerikanischen Volkswirtschaften auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sein. Aber auch in dieser Hinsicht schneiden Anbieter aus Lateinamerika bislang nicht sonderlich günstig ab: Im Ranking der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nehmen die meisten lateinamerikanischen Staaten nur hintere Plätze ein. In einem Vergleich der gesamtwirtschaftlichen Wachstumschancen und der Wettbewerbsfähigkeit von 75 Ländern, den das World Economic Forum (WEF) veröffentlicht hat, rangierten bei der internationalen Wettbewerbsfähigkeit auf den sechs letzten Plätzen fünf lateinamerikanische Volkswirtschaften - neben Bangladesch; und selbst Chile, das bestplatzierte lateinamerikanische Land, das innerhalb der Region ein Vorreiter bei marktorientierten wirtschaftspolitischen Reformen war, gelangte nur

Lateinamerikas

Volkswirtschaften im Prozess der

Globalisierung

69

auf Platz 29.12 Sofern internationale Wettbewerbsfähigkeit der Motor wirtschaftlichen Wachstums ist, sind die Zukunftsperspektiven für viele lateinamerikanische Volkswirtschaften nicht sonderlich günstig.1 Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften haben zwar die über mehrere Dekaden verfolgte importsubstituierende Industrialisierungsstrategie aufgegeben und sie streben zunehmend eine zumindest selektive Weltmarktintegration an; aber sich durch Liberalisierung der Außenwirtschaft und durch den Abbau von Zollmauern dem Wettbewerb von außen zu stellen, ist noch keine Gewähr für internationale Wettbewerbsfähigkeit. Internationale Wettbewerbsfähigkeit kann - in Analogie zu unternehmerischen Wettbewerbsstrategien - durch competitive advantages erreicht werden, d.h. durch Kostenführerschaft, Produktdifferenzierung sowie Konzentration auf Produktionsschwerpunkte mit komparativen Kostenvorteilen. Kostenführerschaft in einem Segment des Weltmarktes lässt sich in der Regel nur durch eine Kombination aus natürlichen Standortvorteilen, Lohnkostenvorteilen, volumenbedingter Kostendegression, modernen technischen Produktionsanlagen und günstigen Rahmenbedingungen erreichen. Die meisten lateinamerikanischen Volkswirtschaften können daher eine erfolgreiche Eingliederung in den Weltmarkt nur selektiv ansteuern, d.h. nur in denjenigen Bereichen, in denen es ihnen gelingt, auf der Basis des gegebenen Komplexes von natürlichen Ressourcen, Humankapital sowie Sach- und Finanzkapital eine international konkurrenzfähige industrielle Fertigungs- und Vermarktungskompetenz zu entwickeln. Allerdings: Nicht Staaten oder Volkswirtschaften stehen auf dem Weltmarkt miteinander in Wettbewerb, sondern es sind Unternehmen, die in verschiedenen Segmenten des Weltmarktes um Nachfrager konkurrieren. Um international wettbewerbsfähig agieren zu können, müssen Rahmenbedingungen vorhanden sein, welche die Attraktivität der Unternehmen als Anbieter im Leistungswettbewerb begünstigen. Neben einem Klima gesamtwirtschaftlicher Stabilität und außenwirtschaftlicher Offenheit gehören zu diesen Rahmenbedingungen die Qualität der öffentlichen Institutionen, technologische Kompetenz und die Akzeptanz von Innovationen in einer Gesellschaft. Wettbewerbsfähigkeit lässt sich heute nicht mehr auf der Nutzung natürlicher Ressourcen aufbauen, über die Lateinamerika reichlich verfügt; und Wettbewerbsfähigkeit entsteht auch nicht allein durch die Verfügbarkeit über Kapital, das man sich weltweit borgen kann. In einer globalisierten Wirtschaftswelt, deren Produktionsund Wertschöpfungsprozesse immer stärker auf Wissen basieren, setzt Wettbewerbsfähigkeit qualifiziertes Humankapital und Innovationskapital voraus, d.h. personen- und organisationsgebundenes Wissen, das auf in der Vergangenheit erlangten Erfahrungen aufbaut und in unternehmerischen Innovationsprozessen eingesetzt wird. Im internationalen Vergleich ist Lateinamerika kein Wirtschaftsraum mit komparativen Vorteilen bei der Nutzung unqualifizierter Arbeit. Die Region ist zwar noch weit entfernt von dem Ausbildungsniveau der Bevölkerung, wie es bei12

World Economic Forum 2001.

13

Vgl. IDB 2001; Sangmeister 2002a.

70

Hartmut

Sangmeister

spielsweise die ostasiatischen „Tigerstaaten" erreicht haben, aber der überwiegende Teil der lateinamerikanischen Bevölkerung hat mindestens eine abgeschlossene Primarschulbildung. Die Bildung von Produktionsschwerpunkten mit der Nutzung völlig unqualifizierter Arbeit - die es in anderen Weltregionen im Überfluss gibt stellt daher für Lateinamerika keinen Wettbewerbs vorteil dar. Entscheidend für Preis-Kosten-orientierte Wettbewerbsstrategien sind ohnehin nicht allein die absoluten Lohnkosten je Arbeitnehmer, sondern u.a. die Anpassung der Lohnkosten an die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, d.h. die LohosrtfcAkosten. Zwar ist die Arbeitsproduktivität in Lateinamerika im Verlauf der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts um 0,74 % p.a. angestiegen (während sie in der Vordekade sogar jährlich um durchschnittlich 1,4 % gesunken war), aber diese Produktivitätszuwächse waren sehr moderat im Vergleich mit den Verbesserungen der Arbeitsproduktivitäten, die während derselben Periode in Ostasien, Osteuropa und in den westlichen Industrieländern erzielt werden konnten.14 Als Gründe für die im internationalen Vergleich niedrige Arbeitsproduktivität in lateinamerikanischen Volkswirtschaften werden nicht nur Mängel der formalen Erziehungs- und Berufsausbildungssysteme genannt, sondern auch die (schlechte) Qualität der Arbeitsbeziehungen, d.h. der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf allen Ebenen. Meinungsumfragen zufolge glauben beispielsweise in Brasilien weniger als 10% der Arbeitnehmer, dass ihre Arbeitgeber vertrauenswürdig seien, in Argentinien und Paraguay sogar weniger als 5 %. 15 Große Bedeutung für die Verbesserung der Arbeitsproduktivität in Lateinamerika kommt einer breitenwirksamen Ausweitung der (institutionell gründlich reformierten) Sekundarschulbildung zu, mit der die Voraussetzungen für eine wettbewerbsfähige berufliche Qualifizierung der Arbeitskräfte geschaffen werden. Da sich die Qualifikationsprofile von Arbeit im Zuge der dynamischen Globalisierung der Märkte und der Internationalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten rasant ändern, müssen sich die lateinamerikanischen Bildungssysteme von tradierten Lehr- und Lernformen verabschieden und auch dem Weiterbildungsdruck Rechnung tragen, der durch drastisch verkürzte Halbwertzeiten von Wissen entsteht. Auch in den tertiären Bildungssystemen Lateinamerikas müssen die wissenschaftlichen Prioritäten den veränderten Anforderungen des 21. Jahrhunderts entsprechend gesetzt werden. Dies betrifft vor allem die überragende und noch zunehmende Bedeutung der Lebenswissenschaften sowie der Informations- und Kommunikationswissenschaften und der zugehörigen Technologien. Für die Humanund Sozialwissenschaften, die an lateinamerikanischen Universitäten traditionell eine starke Rolle spielen (und sich dem ibero-lusitanischen Erbe noch immer verpflichtet sehen mögen), geht es darum, Brücken zu den Naturwissenschaften zu finden.16

14

IDB 2001: 12.

15

Ebd.: 135.

16

Vgl. Brechignac 2000.

Lateinamerikas

Volkswirtschaften

im Prozess der

71

Globalisierung

Tabelle 1: Technologischer Fortschritt, Entwicklung und Humankapital in Lateinamerika Land

Technology

Human De-

BSP" pro

Durch-

Studierende

Ausgaben

Achieve-

velopment

Kopf

schnittliche

der Natur-

für For-

ment

Index

(in USS)

Dauer des

wissensch.

schung und

Index

1999

2000

Schul-

( i n % aller

Entwicklung

besuchs®

Studieren-

(in % des

(in Jahren)

den)

BSP)

2000

1995-97

1987-97

2001

Argentinien

0,381

0,842

7.440

8,8

12,0

0,4

Bolivien

0,277

0,648

1.000

5,6

7,7

0,5

Brasilien

0,311

0,750

3.570

4,9

3,4

0,8

Chile

0,357

0,825

4.600

7,6

13,2

0,7

Costa Rica

0,358

0,821

3.960

6,1

5,7

0,2

Dominikan.

0,244

0,722

2.100

4,9

5,7

Ekuador

0,253

0,726

1.210

6,4

6,0

El Salvador

0,253

0,701

1.990

5,2

3,6

Honduras

0,208

0,634

850

4,8

3,0

Jamaika

0,261

0,738

2.440

5,3

1,6

(Columbien

0,274

0,765

2.080

5,3

5,2

Mexiko

0,389

0,790

5.080

7,2

5,0

Nikaragua

0,185

0,635

420

4,6

3,8

Panama

0,321

0,784

3.260

8,6

8,5

Paraguay

0,254

0,738

1.450

6,2

2,2

Peru

0,271

0,743

2.100

7,6

7,5

Trinidad und

0,328

0,798

4.980

7,8

3,3

Uruguay

0,343

0,828

6.090

7,6

7,3

Zum Vergleich:

0,583

0,921

25.050

10,2

14,4

Republik

0,3

Tobago

2,4

Deutschland a

Fünfzehnjährige und älter, b Bruttosozialprodukt (Bruttonationaleinkommen),.. nicht verfugbar. Quelle: United Nations Development Programme: Bericht über die menschliche Entwicklung 2001, Bonn 2001; World Bank: World Development Report 2002, Washington, D.C. 2001.

72

Hartmut

Sangmeister

Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, sind die lateinamerikanischen Gesellschaften auf die Fähigkeiten für neue technologische Entwicklungen, für Innovationen und für die Assimilation neuer Technologien angewiesen. Lateinamerika ist keine Region der Technikfeindlichkeit, und es gibt vielfaltige Beispiele für eine erfolgreiche Übernahme technologischer Neuerungen und deren Anpassung an die örtlichen Verhältnisse (auch wenn dabei nicht immer die WTO-Regeln für Intellectual Property Rights eingehalten werden). Eigenständige, innovative Forschungs- und Entwicklungsleistungen hängen allerdings auch von hinreichenden Vorleistungen für die Schaffung von Humanressourcen ab. Für die Qualifikation ihrer Bevölkerungen und für Investitionen in technologische Innovationen wenden die lateinamerikanischen Gesellschaften jedoch nur relativ geringe Mittel auf (vgl. Tabelle 1). So waren beispielsweise in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in Mexiko nur 5 % der Studierenden in naturwissenschaftlichen Studiengängen (auf Hochschulniveau) immatrikuliert, in Brasilien sogar lediglich 3,4%. Je 1 Million Einwohner wurde 1998 in Mexiko und Kolumbien lediglich ein Patent erteilt. Forschungsergebnisse aus Lateinamerika, die Weltgeltung erreichen, sind bislang eher selten geblieben. Im internationalen Vergleich der Innovations- und Technologieneigung von Ländern mit Hilfe des Technology Achievement Index (TAI) liegen lateinamerikanische Staaten lediglich im Mittelfeld oder auf hinteren Rängen. 7 Kein lateinamerikanisches Land gehört zu der Gruppe der 18 Volkswirtschaften, die bei dem technologischen Fortschritt international führend sind. Immerhin werden Mexiko, Argentinien, Costa Rica und Chile zu den Ländern gerechnet, die bei dem technischen Fortschritt potenziell führend sein können, und für einige andere Länder in Lateinamerika (z.B. Uruguay, Panama, Brasilien und Kolumbien) wird eine dynamische Nutzung des technischen Fortschritts konstatiert.18 Länder wie Nikaragua, deren Bevölkerung für die Nutzung neuer Technologien kaum qualifiziert ist und wo selbst ältere Technologien (wie z.B. Elektrizität und Telefon) bei weiten Teilen der Bevölkerung noch nicht verbreitet sind, gelten im Hinblick auf den technischen Fortschritt als marginalisiert. Tendenziell erreichen Länder, die in der menschlichen Entwicklung - gemessen durch den Human Development Index (HDI) - wei-

17

UNDP 2001: 59 f. Der Technology Achievement Index (TAI) soll messen, wie gut ein Land Technologie entwickelt und verbreitet und wie die Einwohner dieses Landes für die Entwicklung und Verbreitung neuer Technologien qualifiziert sind; dabei werden vier Dimensionen der Kapazität eines Landes berücksichtigt, an den technologischen Innovationen zu partizipieren: (i) Entwicklung von Technologie; (ii) Verbreitung von Innovationen; (iii) Verbreitung älterer Innovationen; (iv) Qualifikation der Bevölkerung. Der TAI misst nicht, ob ein Land in der weltweiten technologischen Entwicklung führend ist, sondern wie gut dieses Land an der Entwicklung und Anwendung von Technologie partizipiert.

18

Länder mit TAI-Werten zwischen 0,35 und 0,49 werden als potenziell führende Länder klassifiziert, für Länder mit TAI-Werten zwischen 0,20 und 0,34 wird eine dynamische Nutzung neuer Technologien attestiert, während alle Länder mit TAI-Werten unter 0,20 als marginalisiert gelten; vgl. UNDP 2001:58.

Lateinamerikas

Volkswirtschaften im Prozess der

Globalisierung

73

ter fortgeschritten sind, auch bei der technologischen Entwicklung - gemessen durch den TAI - bessere Werte.19 In der Weltkarte des technologischen Fortschritts sind weite Teile Lateinamerikas weiße Flecken. Von weltweit 46 technologischen Innovationszentren liegen lediglich zwei in Lateinamerika: Säo Paulo sowie das ebenfalls im brasilianischen Bundesstaat Säo Paulo liegende Campinas.20 Neben diesen bedeutenden Zentren haben sich in verschiedenen Ländern Lateinamerikas aus Netzwerken von Hochschulen, Niederlassungen multinationaler Technologiekonzerne sowie lokalen Unternehmen Innovationssysteme mit begrenzter Reichweite gebildet, denen durch Anpassungsentwicklungen externer Innovationen und die Bildung von Akteursverbünden die Erschließung überregionaler Absatzmärkte gelingt. So ist beispielsweise im Umkreis des Instituto Tecnolögico de Costa Rica (ITCR) und der costaricanischen Niederlassung des /«te/-Konzerns ein Sofitware-Cluster entstanden, das erfolgreich Segmente des internationalen Technologiemarktes bedient; der Pro-Kopf-Wert der von Costa Rica exportierten Software ist höher als in jedem anderen lateinamerikanischen Land. Aber auch in Brasilien gehört die Informations- und Kommunikationstechnologie zu den dynamischsten Branchen.21

19

Für den Zusammenhang zwischen TA] 2001 und HDI 1999 ergibt sich bei der in Tabelle 1 aufgeführten lateinamerikanischen Ländergruppe ein Bravais-Pearsonsche-Korrelationskoffenzient r = 0,879; bezogen auf alle 72 Länder, für die TAl-Werte vorliegen (UNDP 2001), ergibt sich mit r = 0,897 eine etwas höhere Korrelation zwischen TAI 2001 und HDI 1999 als in der lateinamerikanischen Ländergruppe. Der Unterschied zwischen den beiden Korrelationskoeffizienten deutet daraufhin, dass der Zusammenhang zwischen den in dem HDI erfassten Messgrößen und dem TAI in Lateinamerika schwächer ausgeprägt ist als in der Gruppe der 72 Länder aus allen Weltregionen. Diese Interpretation wird auch durch die Ergebnisse gestützt, die man für die Korrelationskoeffizienten bei Berücksichtigung von größeren time-lags zwischen HDI und TAI erhält; für den Zusammenhang zwischen TAI 2001 und HDI 1995 sinkt r im Falle Lateinamerikas auf 0,866, für die weltweite Ländergruppe nur auf 0,894; bei einem rund zwanzigjährigen timelag (TAI 2001/HDI 1980) beträgt r für die lateinamerikanische Ländergruppe lediglich 0,815, für die größere Gruppe aber immer noch 0,865.

20

UNDP 2001: 56. Als technologische Innovationszentren werden Standorte klassifiziert, die vier Kriterien erfüllen: (i) das Vorhandensein von Hochschulen und Forschungseinrichtungen zur Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte oder zur Entwicklung neuer Technologien; (ii) die Präsenz etablierter Unternehmen oder multinationaler Großunternehmen zur Gewährleistung von technologischem Know-how und wirtschaftlicher Stabilität; (iii) die Bereitschaft zur Gründung neuer Unternehmen; (iv) die Verfügbarkeit von Wagniskapital für die Umsetzung von Erfindungen und Geschäftsideen in marktfähige Produkte.

21

Vgl. German 1999.

74

Hartmut

Sangmeister

Abbildung 5: Technologischer Fortschritt und Einkommensniveau in lateinamerikanischen Volkswirtschaften x

0,45

H

0,15

•u •o

II I N i l l

200

1200

2200

3200

4200

5200

6200

7200

Pro-Kopf-BSP 2000 (US$)

Quelle: Sangmeister 2002a: 18.

Abgesehen von einzelnen Erfolgsbeispielen ist die Gefahr nicht zu übersehen, dass Lateinamerika den Anschluss an die Wissensgesellschaft verpassen könnte und lateinamerikanische Volkswirtschaften im internationalen Wettbewerb weiter zurückzufallen drohen. Die höchsten Wohlstandsgewinne werden zukünftig vermutlich diejenigen Gesellschaften erzielen können, denen es gelingt, sich im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung auf Bereiche mit hohen technologischen Anforderungen zu spezialisieren. Ob es gelingt, technologische Kapazitäten aufzubauen, ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern hängt auch davon ab, wie Menschen in einem von Kreativität geprägten Umfeld agieren. Insofern ist es durchaus zukunftsweisend, wenn zumindest für einige lateinamerikanische Volkswirtschaften die TAI-Werte deutlich höher sind, als es entsprechend dem trendmäßigen Zusammenhang zwischen Pro-Kopf-Einkommen und technologischem Fortschritt zu erwarten wäre (vgl. Abbildung 5). Damit lateinamerikanische Unternehmen in wachstumsträchtigen Märkten mit höherer Wertschöpfiing erfolgreich sein können, sind nicht nur technologische Kompetenz und Innovationsbereitschaft auf der Mikroebene erforderlich. Benötigt werden auch funktionsfähige Finanzmärkte, die Wagniskapital bereitstellen, sowie eine gut ausgebaute materielle Infrastruktur, die sinkende Kommunikations- und Transaktionskosten ermöglicht. Erforderlich ist die Reorganisation und Verzahnung der Beziehungen zwischen öffentlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren auf allen Ebenen, um die Problemlösungskapazitäten möglichst vieler gesellschaftlicher Akteure zu mobilisieren, um damit eine der zentralen Ursachen für die

Lateinamerikas

Volkswirtschaften im Prozess der

Globalisierung

75

geringe Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der lateinamerikanischen Wirtschaft zu überwinden: ihre unzureichende systemische Integration.22

Nebenwirkungen der Globalisierung Um den Erfordernissen von Wettbewerbsgesellschaften zu entsprechen, die sich an der globalen Ökonomie orientieren, bedarf es in Lateinamerika weiterer Reformen, die jedoch über die Orthodoxie des Washingtoner Consensus hinausgehen müssen und auch die sozialen Dimensionen von Entwicklung zu berücksichtigen haben und das nicht nur auf der rhetorischen Ebene von Wahlkämpfen.23 In den meisten Staaten des lateinamerikanischen Subkontinents kann die Reformagenda noch keineswegs als abgeschlossen betrachtet werden; dies gilt auch unter der Annahme, dass mit den Wirtschaftsreformen den Herausforderungen des Globalisierungsprozesses entsprochen werden soll, denen sich die Volkswirtschaften Lateinamerikas stellen müssen. Immerhin kann der Globalisierungsdruck dazu beitragen, den wirtschaftspolitischen Reformstau zu überwinden, und er fordert die Bereitschaft zu grenzüberschreitender Kooperation und wirtschaftlicher Integration innerhalb Lateinamerikas. Die „neuen" Integrationsprojekte unterscheiden sich von früheren (meist fehlgeschlagenen) lateinamerikanischen Integrationsversuchen u.a. auch dadurch, dass sie auf allzu ambitionierte (oder unrealistische) Zielsetzungen und aufwendige bürokratische Strukturen verzichten und stattdessen auf wechselseitige Marktöffnung durch graduelle Zollsenkungsprogramme setzen. Aus der Perspektive selektiver Weltmarktintegration haben erweiterte Regionalmärkte nicht lediglich die Funktion zusätzlicher Absatzmärkte, die gegebenenfalls auch um den Preis handelsablenkender Effekte gebildet werden; mit der Schaffung regionaler Integrationsformen werden institutionelle Lernprozesse in Gang gesetzt, und den nationalen Produzenten werden infolge des Abbaus ökonomischer Grenzhürden Erprobungsfelder für die international üblichen Produktionstechniken und Kommerzialisierungsstrategien erschlossen, ohne deren Beherrschung eine stärkere Präsenz auf den anspruchsvollen Märkten der etablierten Industrieländer kaum möglich wird. In den meisten lateinamerikanischen Volkswirtschaften wurde nach der „Schuldenkrise" der achtziger Jahre - nach der década perdida - versucht, sich dem main stream neoliberaler Wirtschaftspolitik anzupassen - zumindest auf der rhetorischen Ebene. Aber im Rückblick auf die neunziger Jahre zeigt sich, dass das gesamtwirtschaftliche Wachstumspotenzial marktorientierter Reformen in Lateinamerika nur teilweise mobilisiert werden konnte, da diese Reformen inkonsistent

22

Altenburg 2001: 125.

23

Als Reformen der „zweiten Generation" werden insbesondere Reformen in den Bereichen der Arbeitsbeziehungen und staatlichen Arbeitsmarktpolitik, der sozialen Sicherungssysteme sowie der Bildungs- und Ausbildungssysteme für notwendig erachtet; vgl. hierzu Sangmeister 2000: 251 f. Eine umfassendere Vision notwendiger „Post-Washington-Consensus"-Reformen in Lateinamerika bietet Ocampo 1998.

76

Hartmut

Sangmeister

waren und von begrenzter Reichweite blieben. 24 Märkte wurden dereguliert, ohne eine staatliche Wettbewerbspolitik zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit von Märkten zu entwickeln. Staatliche Dienstleistungen wurden privatisiert, ohne die dabei entstandenen privaten Monopole und Oligopole Preis-, Effizienz- und Investitions-Kontrollen zu unterwerfen. Institutionen wurden aufgehoben, ohne im Bedarfsfalle an ihrer Stelle neue, effiziente Institutionen zu schaffen. Und ohne Maßnahmen zur Effizienzsteigerung und Stabilisierung der staatlichen Budgetsysteme sowie ohne Verwaltungsreformen des öffentlichen Dienstes, die sich an dem Leitbild des aktivierenden Staates orientieren, bleiben die Wirtschaftsreformen notwendigerweise Stückwerk. Berechnungen der Inter-American Development Bank zufolge lassen sich knapp 60 % der Differenz des lateinamerikanischen ProKopf-Einkommens gegenüber dem durchschnittlichen Einkommensniveau in den Industrieländern darauf zurückfuhren, dass in Lateinamerika die öffentlichen Institutionen korrupter sind als in Westeuropa und Nordamerika, dass sie weniger effektiv sind und weniger regelkonform handeln.25 Die Reformresistenz der öffentlichen Verwaltungen ist fast überall in Lateinamerika erheblich, und es tauchen in dem Meer bürokratischer Ineffizienz nur vereinzelte Inseln öffentlicher Verwaltungen auf, die erfolgreich nach dem Konzept des New Public Management modernisiert wurden. Reformansätze folgen meist inkrementalistischen Strategien und sie setzen weniger auf eine gezielte Veränderung der Anreizstrukturen in der öffentlichen Verwaltung, sondern vorrangig nur auf eine Verbesserung der Finanzkontrollen. 26 Wie die lateinamerikanischen Erfahrungen gezeigt haben, hängen Qualität und Intensität des wirtschaftspolitischen Reformprozesses maßgeblich auch von der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Institutionen ab. Die Umstellung der staatlichen Bürokratien von der traditionellen, zentralistischen Regelsteuerung auf eine dezentralisierte und ergebnisorientierte Verwaltung ist eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichende Erfolgsvoraussetzung für marktorientierte Wirtschaftsreformen, durch die Lateinamerikas internationale Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden soll. Im internationalen Standortwettbewerb kann jedoch nur mithalten, wer auch über das notwendige Humankapital verfugt. Aber gerade bei der Schaffung von Humankapital, d.h. in den Bereichen der schulischen Bildung und der beruflichen Ausbildung, bestehen in den lateinamerikanischen Gesellschaften erhebliche Defizite. Wenn beispielsweise in einem Land wie Brasilien 10% der männlichen Jugendlichen (im Alter von 15-24 Jahren) und 7 % der weiblichen Jugendlichen offiziell als Analphabeten klassifiziert werden, dann ist dies nicht nur das Ergebnis ungenutzter Möglichkeiten in der Vergangenheit, sondern bedeutet auch eine schwere Hypothek für das zukünftige Entwicklungspotenzial. 27 Ein grobes Indiz 24

Vgl. hierzu Fernández-Arias/Montiel 2001. Ökonometrische Schätzungen der Wachstumseffekte wirtschaftspolitischer Reformen in Lateinamerika kommen allerdings zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen; vgl. Lora/Panizza 2002: 12 f.

25

IDB 2000: 28.

26

Fuhr 2000:479 f.

27

Sangmeister 2002b: 576; vgl. hierzu auch Birdsall/Sabot 1996.

Lateinamerikas

Volkswirtschaften im Prozess der

Globalisierung

77

für die defizitäre Bildungssituation in lateinamerikanischen Ländern ist die durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs; der „typische" Erwerbstätige in Lateinamerika hat die Schule lediglich 4,8 Jahre besucht, während der entsprechende Vergleichswert für Südostasien über 6 Jahre beträgt. Zwar beginnen heute in fast allen südamerikanischen Ländern nahezu 100% der Kinder eine Schulausbildung, aber 40 % der Kinder aus armen Familien verlassen das Schulsystem bereits im fünften Jahr. 28 Es ist die Gruppe der Nicht- oder nur Geringqualifizierten, die in Zukunft auch in Lateinamerika das höchste Arbeitsmarktrisiko trägt. Im Zuge der dynamischen Globalisierung der Märkte und der Internationalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten geht zwar nicht die Arbeit aus, aber das Qualifikationsprofil von Arbeit ändert sich rasant. Die mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien neu entstehenden Arbeitsplätze werden von besser ausgebildeten (und jüngeren) Arbeitskräften besetzt, während schlechter oder nicht Ausgebildete eine weitere Statusverschlechterung erleiden oder sogar völlig aus dem formalen System herausfallen. Je mehr sich im Zuge des Globalisierungsprozesses das Wachstum exportbestimmter Produktion von Waren und Dienstleistungen verstärkt, um so stärker wird sich die Einkommensstruktur zugunsten der relativ besser qualifizierten (jüngeren) Arbeitskräfte verschieben. Mitentscheidend für die internationale Konkurrenzfähigkeit einer Volkswirtschaft ist ihre technologische Innovationsfahigkeit. Denn die Fähigkeit, neues technisches Wissen hervorzubringen, es durch Produkt- und/oder Prozessinnovationen ökonomisch nutzbar zu machen, erhöht die Arbeitsproduktivität und damit auch das Realeinkommen. In den zukunftsfahigen, wissensbasierten Produktionsprozessen werden ausgebildete Arbeitskräfte benötigt, die über Wissen verfügen und die Kompetenz besitzen, dieses Wissen anzuwenden. Der wirtschaftliche Nutzen von Wissen entsteht nicht durch Besitz, sondern durch die Anwendung von Wissen. Dem müssen die lateinamerikanischen (Aus-)Bildungssysteme durch zeitgemäße Lernorganisation und die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen Rechnung tragen. Zudem müssen sich die Bildungssysteme dem Weiterbildungsdruck anpassen, der durch drastisch verkürzte Halbwertzeiten von Wissen entsteht. Um für die Weltmarktintegration gerüstet zu sein, sind in Lateinamerika zielgerichtete Investitionen in die Humankapitalbildung dringend notwendig. Nicht die Quantität von Arbeitskräften ist in den zukunftsfähigen, wissensbasierten Produktionsprozessen von Bedeutung, sondern deren Qualität. Die Beherrschung der neuen technologischen Systeme - eine der wesentlichen Voraussetzungen internationaler Wettbewerbsfähigkeit - setzt mehr besser ausgebildete Arbeitskräfte voraus.29 Die breitenwirksame Qualifizierung von Humankapital erfordert eine klar definierte Erziehungs-, Wissenschafts- und Technologiepolitik; hier liegen die vielleicht größten politischen Herausforderungen für Lateinamerika mit seinen derzeit schätzungsweise über 60 Millionen erwachsenen Analphabeten. Anstatt 28

IDB 1998: 45 f.

29

Vgl. Lall 2001: 128f.

78

Hartmut Sangmeister

Bildungsausgaben zu kürzen, wie dies angesichts staatlicher Budgetdefizite vielerorts in der Region praktiziert wurde, müssen massive Investitionen in das Bildungswesen getätigt werden. Denn diejenigen lateinamerikanischen Länder, die zu geringe Investitionen in Humankapital tätigen und zudem institutionelle Defizite aufweisen, werden die Chancen des Globalisierungsprozesses nicht nutzen können. Diese Länder sind nicht nur für das zunehmend international mobile Kapital relativ unattraktiv (interessant allenfalls für umweltintensive Produktionen ohne größere Beschäftigungseffekte), sondern aus diesen Ländern werden auch andere mobile Produktionsfaktoren (insbesondere Humankapital) abwandern und damit die internen Entwicklungshemmnisse verstärken. Ein alarmierendes Beispiel ist Argentinien, das bis gegen Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts als attraktives Einwanderungsland mit seinem wirtschaftlichen Wohlstand Millionen Zuwanderer aus Europa anzog; diese Anziehungskraft ist jedoch verloren gegangen, und unter dem Eindruck des wirtschaftlichen Chaos, in dem das Land zu versinken droht, wollen immer mehr seiner qualitativ besser ausgebildeten Einwohner auswandern. Dass die zunehmende Einbindung lateinamerikanischer Volkswirtschaften in den Globalisierungsprozess auch erhebliche negative Nebenwirkungen auslösen kann, ist unübersehbar. Sozialer Unterbietungswettbewerb geht mit fortschreitender Segregation in den lateinamerikanischen Gesellschaften einher. Die Einkommenskonzentration hat sich weiter verschärft, und auch die Mittelschichten sind von Informalisierung ihrer Erwerbstätigkeit und sozialem Abstieg bedroht. Gewalt, Kriminalität und Korruption lassen das „Sozialkapital" an Vertrauen, Verantwortungsbewusstsein und Gemeinsinn weiter erodieren. Mit der Zunahme des Wettbewerbsdrucks steigt tendenziell die Bereitschaft der wirtschaftspolitischen Akteure zu einer Abkehr von der Weltmarktorientierung und zu einer Rückkehr zu staatsinterventionistischen Politikmustern vergangener Dekaden. Neopopulistische Regime können versuchen, als „Chaos-Mächte" dem drohenden weltwirtschaftlichen Bedeutungsverlust ihrer Länder entgegenzuwirken. Potenzielle Gewinner einer stärkeren Einbindung ihrer Ökonomien in die Weltwirtschaft fordern von der Politik so lange weitergehende Marktöffnungen und Deregulierungen, bis der Grenznutzen ihrer erwarteten Ertragszuwächse den Grenzkosten ihrer politischen Lobbyaktivitäten entspricht. Ebenso unterwerfen auch potenzielle Globalisierungsverlierer, die sich politisch organisieren und artikulieren können, die Lobbyarbeit zum Schutz ihrer Märkte einem ökonomischen Kalkül: Je höher der Nutzenzuwachs staatlicher Protektion ist, umso mehr Aufwand wird für Lobbying betrieben - sowohl für die Mobilisierung von Wählerstimmen als auch in Form von direkten und indirekten Zuwendungen an die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger (vulgo: Korruption). Zudem melden sich in der lateinamerikanischen Globalisierungsdebatte auch viele Heuchler zu Wort. Die einen wiederholen papageienhaft die Schlüsselwörter der neoklassischen Orthodoxie, sie fordern Wettbewerb und offene Märkte, solange ihre eigenen Privilegien davon nicht betroffen sind; die anderen machen für die wirtschaftlichen und sozialen Übel im eigenen Lande die „Achse des Bösen" verantwortlich - unter der hegemonialen Führung der USA gebildet aus IWF, WTO und der Gruppe der reichen

Lateinamerikas Volkswirtschaften im Prozess der Globalisierung

79

Industrieländer (G8) - , aber übersehen dabei geflissentlich die Verantwortlichkeiten in der eigenen Gesellschaft. Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften sind in der Weltwirtschaft nur sekundäre Akteure, deren Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der „Spielregeln" nahe Null liegen.30 Aber auch als weltwirtschaftlicher rule taker muss Lateinamerika keineswegs in seiner bisherigen Rolle passiver Weltmarktintegration auf der Basis von Faktorkostenvorteilen bei Rohstoffen und wissensextensiven Industriegütern verharren. Prinzipiell können auch technologische Nachzügler durch Mobilisierung der Lernfähigkeit ihrer Gesellschaften in wissensintensivere Bereiche vordringen und damit auch in wertschöpfiingsintensivere Produktionsbereiche. Aber eine weltmarktorientierte Wirtschaftspolitik ist ohne Komplettierung durch eine zielgruppenorientierte Sozialpolitik auf Dauer nicht tragfahig. Für innergesellschaftliche Umverteilungsmaßnahmen bleiben auch bei marktorientierten Reformen Spielräume - vorausgesetzt, staatliche Regulierungen gewährleisten den Solidarausgleich. Auch in Zeiten der Globalisierung lässt sich ein intragesellschaftlicher Solidarausgleich national organisieren. Es bedarf allerdings eines gesellschaftlichen Konsenses über die funktionale Bedeutung von Sozialpolitik für die wirtschaftliche Entwicklung und die demokratische Ordnung; von einer solchen Konsensbildung sind die meisten lateinamerikanischen Gesellschaften aber noch weit entfernt. Es hängt von den Präferenzen einer Gesellschaft ab, welchen Aufwand für soziale Absicherung, zur Vorsorge für materielle Risiken und für die Solidarität mit den sozial Schwachen sie zu akzeptieren bereit ist. Auch in Zeiten der Globalisierung bleiben staatliche Regulierungsleistungen zur Korrektur von Marktunvollkommenheiten und zur Durchsetzung öffentlicher Interessen unverzichtbar. Das Dilemma zwischen Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, in das der Globalisierungsprozess geradewegs zu führen scheint, wird allein im Vertrauen auf die „unsichtbare Hand" des Marktmechanismus nicht zu lösen sein. Eine marktkonforme, wettbewerbsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik stellt für sich alleine genommen noch kein Patentrezept für die Überwindung der drängenden Probleme Lateinamerikas dar. Erforderlich ist eine aktive Rolle des Staates, aber mit einem gegenüber den „guten, alten Tagen" lateinamerikanischer Importsubstituierungsstrategien völlig veränderten Regulierungsmandat. Wie die lateinamerikanischen Erfahrungen der zurückliegenden Jahre gezeigt haben, ist der Versuch, mit tiefgreifenden wirtschaftspolitischen Reformbemühungen einen neuen Entwicklungspfad einzuschlagen, in den meisten Volkswirtschaften der Region offensichtlich an Grenzen gestoßen; und vieles deutet darauf hin, dass eine der Ursachen für die vermutlich pfadabhängigkeitsbedingte Inflexibilität von Institutionen tradierte Denkschemata in den lateinamerikanischen Gesellschaften sind. Trotz dieses Beharrungsvermögens mentaler Modelle, von Regeln und Verhaltensweisen, zwingt der Globalisierungsprozess die lateinamerikanischen Gesellschaften, sich mit den Risiken von Übergangszeiten auseinander zu setzen, in denen ein alter Zustand unhaltbar geworden ist, aber ein neuer Zustand noch 30

Ferrer 1997: 183.

80

Hartmut Sangmeister

nicht definitiv erkennbar wird. Aus einer Perspektive zynischer Vernunft könnten gerade diejenigen Segmente der lateinamerikanischen Gesellschaften als für die wettbewerblichen Herausforderungen der Globalisierung am ehesten gerüstet bezeichnet werden, die bislang von der Teilhabe an dem Einkommens- und Vermögenszuwachs ihrer Volkswirtschaften weitgehend ausgeschlossen waren; denn für die sozioökonomisch marginalisierten Gesellschaftsschichten Lateinamerikas war eine „Kultur der Anstrengung" schon immer überlebenswichtig, nicht erst jetzt, wenn eine gesamtgesellschaftliche culture of effort angemahnt wird, um für die Globalisierung gerüstet zu sein. Bislang sind die erwarteten Erträge der Reformprozesse in Lateinamerika bei großen Teilen der lateinamerikanischen Bevölkerung nicht angekommen und Enttäuschung macht sich breit über die „BLASTStrategie", über den Blood, Sweat and 7ears-Ansatz, wie der Nobelpreisträger Amartya Sen das dominierende entwicklungsstrategische Paradigma der neunziger Jahre bezeichnet hat.31 Die wachsende Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation, wie sie in öffentlichen Meinungsumfragen für die Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten zum Ausdruck kommt, lässt auch die Unterstützung der demokratischen Regierungssysteme erodieren, die noch keineswegs überall in Lateinamerika als konsolidiert gelten können. 32

31

Sen 1997: 533 f.

32

Vgl. Nolte 2001; Lora/Panizza 2002: 8 f.

Günther Maihold

Auf dem Weg aus dem Labyrinth? Mexiko in der Globalisierung

Mexikanische Globalisierungserfahrungen müssen sich auch heute noch auf die Figur des Labyrinths beziehen, das Octavio Paz in seinem auch heute noch maßgeblichen Buch als eines der „Einsamkeit" bezeichnet hat. Mexikos Suche nach einer Orientierung an anderen, die schnelle Bereitschaft, Masken aufzusetzen, um das eigene Sein zu verschleiern, scheinen auch heute noch angesichts der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierungsprozesse präsent zu sein. Imitative Praktiken stehen dabei in Konkurrenz mit den Versuchen, ein eigenes Profil angesichts neuer Herausforderungen zu gewinnen. Das Image-Management bleibt insofern auch weiter eine bevorzugte Verfahrensweise, um von eigenen Schwächen abzulenken. Multiple Mitgliedschaften in einer Fülle von Freihandelsabkommen, ein präferenzieller Zugang zum nordamerikanischen Markt über die NAFTA-Mitgliedschaft, ein privilegierter Ort für ausländische Direktinvestitionen sowie eine dynamische Rolle in der internationalen Politik sind jene Elemente, die aus der Sicht eines Vertreters der mexikanischen Regierung beim Thema Globalisierung zur Kennzeichnung der eigenen Lage angeführt würden. Globalisierungskritiker würden sicherlich die Exklusion breiter Bevölkerungsschichten durch negative Verteilungseffekte der Integration in den Weltmarkt, die Präsenz einer globalisiert auftretenden Widerstandsbewegung in Gestalt der zapatistischen Guerilla der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) sowie die weiterhin fehlende rechtsstaatliche Absicherung von Menschen- und Bürgerrechten in der Regierungs- und Verwaltungspraxis hervorheben. „Los diablos del nuevo siglo (die Teufel des neuen Jahrhunderts)" nennt der Guerilla-Führer Sub-Comandante Marcos in einen Kindergedicht all jene, die von den „Wohltaten" der Globalisierung ausgeschlossen bleiben. So bleibt - gerade auch im Falle Mexikos - das Bild einer uneinheitlichen, fragmentierten und fragmentierenden Globalisierungsrealität bestehen, die das Land in unterschiedlicher Intensität durchzieht und seine strukturierende Kraft entfaltet.

1. Mexiko - neoliberaler front-runner und politischer late-comer Mit der Strukturanpassungs- und Marktöffnungspolitik Mexikos seit der Zahlungsunfähigkeit im Gefolge der Verschuldungskrise im Jahre 1982 hat das Land

82

Günther Maihold

sich international in immer stärkerem Maße als „Musterschüler" des IWF und der Weltbank einen Namen gemacht. Das Land setzte in den Regierungen Miguel de la Madrid (1982-1988) und Carlos Salinas de Gortari (1988-1994) mustergültig die Privatisierungs- und Anpassungspolitik um, brachte seine Verschuldung sowie die anderen makroökonomischen Rahmendaten in Ordnung und erzielte mit dem Abschluss des NAFTA-Abkommens im Jahre 1994 einen Durchbruch in Richtung des privilegierten Marktzugangs zu seinen nördlichen Nachbarn. Auf diesem Wege hat das Land seine Einbindung in die Weltwirtschaft fortgesetzt und gilt heute mit über 70 bilateralen Freihandelsabkommen als Vorreiter einer Politik der Einbindung in die Weltwirtschaft unter Ausnutzung seiner spezifischen komparativen Vorteile. Mexiko galt als Beispiel erfolgreicher Strukturanpassung bis zur Übernahme der Regierungsverantwortung durch Ernesto Zedillo (1984-2000), als das Image erfolgreicher Marktöffhung unter dem Druck kurzfristiger Dollarverschuldung und unzureichender Abwertung des Peso zusammenbrach und in einer massiven Rezession der mexikanischen Wirtschaft endete. Gleichwohl konnte Mexiko durch die massive Unterstützung seitens der USA seine akute Krise kontrollieren und erneut den Versuch unternehmen, sich mit dieser Stützungspolitik wieder auf einen Wachstumspfad zu begeben, der dem Land bis heute eine relativ günstige wirtschaftliche Lage trotz der Krisen in Argentinien und Uruguay ermöglichte. Die mexikanischen Börsenwerte erscheinen Mitte 2002 wie abgekoppelt von den Schwankungen auf anderen lateinamerikanischen Börsenplätzen, die nationale Wirtschaft zeigt trotz der Kontraktionen der US-Wirtschaft in den Wachstumszahlen nach oben, der Peso scheint als relativ stabile Währung zu fungieren und die Reallöhne steigen. Mexikos krisengeschüttelter Weg einer wirtschaftlichen Anpassungspolitik mit deutlicher Anlehnung an die USA 1 scheint gegenwärtig im lateinamerikanischen Vergleich wieder auf Erfolgskurs zu sein. Zahlt sich das neoliberale Vorbildverhalten aus? Dem wirtschaftlichen Weg in die OECD und zum bilateralen Freihandelsabkommen mit der EU stand ein deutliches Nachhinken des Landes auf dem Weg der Demokratisierung des politischen Regimes entgegen. Während die meisten lateinamerikanischen Länder die Transitions- und Konsolidierungsphase ihrer Demokratien durchliefen, schien Mexiko sich noch immer im Zeichen einer „transición sin fin (unendlichen Transition)" zu bewegen. Das seit über 70 Jahren regierende PRISystem hatte sich mit vielen Metamorphosen doch als widerstandsfähiger und flexibler erwiesen, als manche Beobachter angenommen hatten. Mit der von oben diskretionär eingeführten Ermöglichung von Wahlsiegen der Oppositionsparteien auf der Ebene der Bundesstaaten bereits in der Regierungszeit von Salinas de Gortari deuteten sich erste politische Öffhungstendenzen an, aber der präsidentielle Machtapparat und die Kontrolle des PRI-Regimes über die Gesellschaft wiesen bereits deutliche Zeichen der Schwäche auf. Dem Nachfolger von Salinas, Ernesto Zedillo, mochte es nicht mehr gelingen, die Dominanz des Präsidenten über die vielfaltigen Verzweigungen der Bürokratie und die klientelistischen Verstrickun1 Zur Auseinandersetzung mit diesem Entwicklungsweg vgl. Boris 1996.

Auf dem Weg aus dem Labyrinth?

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gen des PRJ-Systems zu sichern, beide Apparate entglitten und entzogen sich zunehmend - nicht zuletzt aufgrund reduzierter Ressourcen - immer stärker der Einwirkung der bis dahin zentralen Machtinstanz. Auch international geriet Mexiko mit seiner spezifischen Art von „Demokratie" immer stärker in eine Randlage, die aber erst mit dem historischen Wahlsieg des PAN-Kandidaten Vicente Fox im Jahre 2000 auf Bundesebene überwunden werden konnte. Damit gelang dem Land mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Übergang zur Demokratie in Lateinamerika der Anschluss an die regionale Norm, ein Schritt, der bis heute für die mexikanische Gesellschaft in seiner Tragweite noch nicht ganz übersehbar scheint.

2.

Die Geschichte eines Kreuzes - 280 Frauen verschwinden in Ciudad Juárez/Chihuahua

Im November 2001 wurde auf dem Plaza Hidalgo in Ciudad Juárez gegenüber dem Regierungspalast des Bundesstaates Chihuahua ein rot bemaltes Kreuz errichtet, auf dem - zum damaligen Zeitpunkt - 260 Nägel mit den Namen von Frauen eingeschlagen wurden, die in dieser Stadt umgebracht wurden. Unter der Überschrift „Ni una más - Nicht eine mehr" versuchten Frauenorganisationen auf diese Weise, Aufmerksamkeit für die Misshandlung, Vergewaltigung und Ermordung von Frauen in Ciudad Juárez und im Bundesstaat Chihuahua zu gewinnen, da die staatlichen Autoritäten sich unfähig gezeigt hätten, diese Verbrechen aufzuklären. Zwei Monate später ließ der neue PRI-Gouverneur des Bundesstaates das Kreuz entfernen, ein Streit begann, der noch bis heute angesichts der fehlenden Aufklärung der Delikte anhält. Für viele Frauen in Mexiko wird Globalisierung in Gestalt der Aufnahme von Tätigkeiten in der sog. Maquila, der Lohnveredelungsproduktion erfahren. Obwohl nach wie vor 75 % der Maquila-Betriebe in den Staaten Baja California, Sonora, Chihuahua, Coahuila, Nuevo León und Tamaulipas an der Nordgrenze des Landes angesiedelt sind2, hat sich die Maquiladora-Industrie inzwischen auch auf das Zentrum und den Süden Mexikos ausgedehnt und versucht, das Lohndifferential zwischen Billigproduktion in den USA und Mexiko zu nutzen. Dabei werden insbesondere solche Produktionsprozesse ausgegliedert, die sich als lohnintensiv erweisen, d.h. in der ersten Generation der Maquila insbesondere all jene Bereiche der Textilproduktion, die in Mexiko billiger zu realisieren sind. Gerade für diese Tätigkeiten werden weibliche Arbeitskräfte eingesetzt, die zudem in der Grenzregion durch die Migration der Männer in die USA in konzentrierter Weise vorhanden sind. Es handelt sich dabei oftmals um junge, alleinstehende und alleinerziehende Frauen, die zum Lebensunterhalt gezwungen sind, Tätigkeiten in der Maquila nachzugehen. Im Bundesstaat Chihuahua ist die Beschäftigung in den 1990er Jahren daher jährlich um ca. 10,8% gestiegen, allerdings sind offensichtlich weder die Betriebe noch die Sicherheitsorgane in der Lage und willens, den Arbeiterinnen Sicherheit und Schutz gewähren zu können. 2 Calderón Villareal/Ponce Rodríguez 2001.

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3.

Günther Maihold

„Nie mehr ein Mexiko ohne uns" - Marcos, die EZLN und die Perspektiven des Konfliktes in Chiapas

Chiapas, einer der ärmsten mexikanischen Bundesstaaten, in dem ca. 3,5 Mio. Einwohner zu Hause sind, war durch den zwölf Tage andauernden Kampf im Jahre 1994 der zapatistisehen Guerilla EZLN in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit geraten. Ihr Auftreten, gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des NAFTA-Vertrages zwischen Kanada, Mexiko und den USA am 1. Januar 1992, ist eng mit dem Weg des Landes in die Globalisierung verbunden, sei es mit Hinblick auf die Marktöffnung oder auch die dynamische Rolle des Landes bei der Suche nach weiteren Partnern für bilaterale Freihandelsabkommen. Nach sieben Jahren ist trotz der Abwahl des 71 Jahre andauernden PRI-Regimes und der Wahl eines von der PAN sowie der PRD getragenen Gouverneurs im Januar 2002 keine Lösung erkennbar. Der Z APATOUR, dem am 24. Februar 2001 begonnenen und 40 Tage dauernden Zug von Delegierten der Guerilla durch 12 Bundesstaaten Mexikos in die Hauptstadt des Landes, die am 12. März 2001 erreicht wurde, ist damit bislang der durchschlagene Erfolg vorenthalten geblieben. Zwar konnte eine breite Mobilisierung der indigenen Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Gruppen erreicht werden, der sich auch die offizielle Politik nicht entziehen konnte. Der Einzug des Sub-Comandante Marcos und weiterer 23 Comandantes der EZLN in MexikoStadt vor 200.000 begeisterten Zuschauern prägte ein Bild der offenen Gesellschaft, das die neue Regierung auch jenseits der nationalen Gesellschaft projizieren wollte. Präsident Fox erklärte denn auch in einem Interview: „Ich habe einen Freund in Chiapas, er heißt Marcos." Die Konkurrenz der medialen Inszenierungen des Präsidenten und von Marcos hat vielleicht den Erfolg der inhaltlichen Bemühungen zur Verbesserung der Lage der indigenen Bevölkerung - von Marcos in der Formel „nie mehr ein Mexiko ohne uns" zusammengefasst - beeinträchtigt.3 Die von der EZLN erhobenen drei Forderungen, nach der Räumung von Militärlagern in Chiapas, die Freilassung von Gefangenen und die Verabschiedung des Gesetzes der indigenen Rechte, konnte die Regierung jedoch nur teilweise erfüllen. Die Reduzierung der Militärpräsenz in der Konfliktregion und die Einladung an die EZLN-Führung zu einem Auftritt vor dem Kongress schienen den Weg für eine positive Lösung des Konfliktes durch die neue Regierung zu bahnen. Die mit der EZLN vereinbarten Regelungen von San Andrés Larráinzar und die dort festgelegte Einrichtung der Friedenskommission COCOPA (Comisión de Concordia y Participación) hatten zu einem gemeinsamen Verfassungsreformgesetz geführt, das der Präsident in den Kongress eingebracht hatte. Die darin enthaltene Forderung nach Garantie der „freien Selbstbestimmung und Autonomie der indigenen Völker" wurde in der Diskussion im Parlament als Verletzung der nationalen Souveränität betrachtet, so dass die Gründung eines unabhängigen Indígena-Staates auf mexikanischem Territorium ermöglicht werde. Auch weitere Regelungen wie die eigene indigene Rechtssprechung, die Anerkennung der indigenen Gemein3

Huffschmidt 2001.

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Schäften als Einrichtungen des öffentlichen Rechts und die Anerkennung der Gebiete indigener Gemeinschaften riefen Befürchtungen hervor, dass die Grundlagen der staatlichen Ordnung des Landes durch die Verfassungsreformen verletzt würden. insofern nahmen Teile der Regierungspartei zusammen mit der Opposition Änderungen am Gesetzesentwurf vor, der in der dann von der Mehrheit der Parlamente der Bundesstaaten verabschiedeten Fassung von der EZLN nicht mehr anerkannt wurde. Damit war der im Frühjahr 2001 mit erheblichem Medienrummel durchgeführte Marsch der EZLN in die Hauptstadt ohne politisches Ergebnis geblieben, so dass sich die Guerilla-Organisation vom Dialog mit der Regierung wieder zurückzog. Wirtschaftliche

Globalisierung

Die Performance sog. emerging markets wird traditionell daran gemessen, ob es den in dieser Kategorie zusammengefassten Ländern gelingt, international mobile Produktionsfaktoren anzulocken, weltweit verfügbare Technologien zu nutzen und Wettbewerbsfähigkeit auch in jenen industriellen Sektoren zu erreichen, die traditionell von den Industrieländern besetzt waren.4 Als Rahmenbedingungen dafür werden die multilaterale Handelsliberalisierung, sinkende Transaktionskosten auf den Güter- und Faktormärkten, die gestiegene Kapitalmobilität sowie die Aufspaltung von Wertschöpfungsketten durch outsourcing etc. angeführt. Mexiko gilt in der Nutzung dieser neuen Marktbedingungen in breiten Kreisen als Erfolgsfall, was nicht zuletzt mit dem außergewöhnlichen Exportwachstum des Landes in den 1990er Jahren begründet wird. Zudem hat sich die Zusammensetzung der Exporte gewandelt; so hat sich der Anteil an verarbeiteten Produkten innerhalb einer Dekade beinahe verdoppelt, während sich jener der Nahrungsmittel mehr als halbiert hat. Strukturwandel der mexikanischen Exporte 1990-1999 Warenexporte (in Mio. US-$) 1990 40.771 1999 136.703

Nahrungsmittel (%) 12 5

Landwirtschaft und andere Rohstoffe (%) 2 1

Kraftstoffe

(%) 38 7

(%)

Metalle

verarbeitete Produkte

6 1

43 85

(%)

Quelle: Dussel Peters 2000.

Auf den ersten Blick scheint das Land den Anschluss an die OECD-Welt gewonnen zu haben, anderseits spiegelt dieser Wandel der Exportstruktur auch die Zerrissenheit des Landes zwischen modernen Wachstumspolen im Norden und im Zentrum einerseits und die Kontinuität traditioneller landwirtschaftlicher Produktion im Süden wider. Mit der für 2003 anstehenden weitgehenden Handelsliberalisierung 4 Nunnenkamp 2002: 31.

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im Agrarsektor im Rahmen des NAFTA-Verbundes wird damit jener Sektor seiner Schutzzölle entkleidet, die ihn bislang vor der Konkurrenz auf dem nordamerikanischen Markt bewahrt haben. Es wird insofern für diesen Sektor der mexikanischen Wirtschaft noch erheblicher struktureller Umbrüche bedürfen, um die bislang an Subsistenzwirtschaft und nationalem Konsum orientierten Sektoren nicht noch weiter zu marginalisieren. Mexiko hat die Globalisierung in zweierlei Hinsicht erfahren: zum einen durch die Marktöffhung als massive Expansion des Handelsvolumens durch den Abschluss des NAFTA-Vertrages 1994 und zum anderen durch die zum Jahreswechsel 1994/1995 auftretende tiefe Krise durch den massiven Abzug von Auslandskapital im Portfolio-Bereich bzw. die Unfähigkeit des Landes, seine kurzfristigen Dollarschulden bedienen zu können. Betrachtet man die Entwicklung der Exporte des Landes, so wird deutlich, dass als Folge der NAFTA-Integration die Zentrierung des Handels auf die USA noch weiter zugenommen hat. 5 Zielmärkte der Exporte Mexikos (%) 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 USA

Kanada

LA

Europa

Asien

Rest d. Welt

• 1980 S 1 9 8 5 • 1990 D 1 9 9 5 0 1 9 9 8 So hat sich das Volumen der Im- und Exporte innerhalb des NAFTA-Verbundes in der Zeitspanne von 1990-2000 nahezu verdreifacht und beträgt für das Jahr 2001 622 Mrd. US-Dollar, so dass die drei Mitglieder des NAFTA untereinander 56 % ihrer Im- und Exporte abwickeln. 6 Dieser hohe Regionalisierungsgrad des Handels bedeutet für Mexiko, dass eine extreme Konzentration auf den US-Markt dominiert, die sich bei einer Kontraktion der Konjunktur in den USA meist unmittelbar in einer inneren Wirtschaftskrise niederschlägt. Dies wird zudem noch deutlicher 5 Vgl. die Daten bei Alba Vega 2000: 15. 6 Gratius 2002: 155.

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erkennbar, wenn man sich vor Augen führt, dass vom gesamten Bruttosozialprodukt des NAFTA 90 % in den USA, 4 % in Mexiko und 6 % in Kanada erwirtschaftet werden. Globalisierung, hier verstanden als Regionalisierung, wird damit für Mexiko zu einer asymmetrischen Integration in den für seine geostrategische Lage maßgeblichen Wirtschaftsraum. Wenn heute 34% des BIP Mexikos durch Exporte erwirtschaftet werden (im Vergleich zu 15 % Anfang der 1990er Jahre), so wird erkennbar, wie stark sich dieser Weg einer assoziierten wirtschaftlichen Entwicklung sowohl positiv wie auch negativ für den Wohlstand in Mexiko auswirken kann. Insofern ist die Verletzlichkeit der mexikanischen Wirtschaft für Schwankungen der US-Ökonomie sehr hoch, eine Abhängigkeit, der das Land durch Diversifizierung seiner wirtschaftlichen Außenbeziehungen entgegenzusteuern versuchte. Mit der Vereinbarung eines Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union im Jahre 2000 sowie dem Abschluss einer Fülle von weiteren Abkommen zur Handelsliberalisierung mit Partnern in Lateinamerika und darüber hinaus wurde versucht, ein Gegengewicht zur Zentrierung auf die USA zu schaffen. Allerdings birgt diese Nähe zum „Koloss des Nordens" auch gewisse Sicherheiten, auf die Mexiko während seiner schweren Wirtschaftskrise 1994/1995 bauen konnte. Auf den Beistand durch Großkredite, die das Land innerhalb kürzester Zeit bei seinem nördlichen Nachbarn und den internationalen Finanzorganisationen erreichen konnte, kann Argentinien gegenwärtig nicht hoffen. Somit steht Mexiko vor der Aufgabe, ein Wirtschaftsmodell zu finden, das Stabilität bei den Makrodaten mit Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaft und regional ausgewogene Verteilung der modernen Produktionssektoren sichert. Weithin ist die Öffnung der mexikanischen Wirtschaft auf den industriellen Teil beschränkt; im landwirtschaftlichen Bereich, der im Jahre 2003 auch von der Senkung der Zollbarrieren im Rahmen des NAFTA-Abkommens betroffen sein wird, sind weithin keine konkurrenzfähigen Strukturen entwickelt worden. Maquila-Industrie Der Aufbau der Lohnveredelungsindustrie (Maquila) in der nördlichen Grenzregion seit 1988 hatte über Jahre die Chancen zur Verbesserung des Produktionsstandortes ermöglicht. Die bislang immer expandierende Beschäftigung im Bereich der Maquila-Industrie des Nordens fiel bereits in den ersten 6 Monaten des Jahres 2001 um 1,5 %, eine Vertiefung dieser Tendenz nach dem 11. September 2001 war nicht vermeidbar. Dabei hatte sich die Maquila-Industrie über Jahre hinweg als der maßgebliche Motor der mexikanischen Wirtschaft erwiesen. Das Wachstum der Betriebe dieses Sektors in der Dekade der 1990er Jahre führte diesen Wirtschaftszweig an die Spitze des Wachstums und sicherte gleichzeitig die Expansion der Beschäftigtenzahlen.7

7 Daten aus Alba Vega 2000: 28.

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Im Zeitraum von 19801998 wuchs dieser Sektor von ca. 600 Betrieben auf 3000 an, ein Prozess, der mit einer entsprechenden Ausweitung der Infrastruktur insbesondere in den nördlichen Grenzstädten verbunden war. Allerdings blieb in Tijuana oder Ciudad Juärez das Wachstum der sozialen Infrastruktur erheblich hinter der wirtschaftlichen zurück, so dass durch migrationsbe1980 1985 1990 1995 1998 dingten sozialen Druck oftmals dramatische soziale Verhältnisse noch vertieft wurden. Die Maquila als Wachstumsmodell für Mexiko war somit das tragende Konzept für den Aufstieg des Landes in einem industriellen Sektor, der zunächst vor allem bei der Schaffung von Arbeitsplätzen als einzige nationalen Effekt zeitigte. Die Beschäftigtenzahlen entwickelten sich im selben Zeitraum ebenfalls exponentiell: 1 Mio. Arbeitsplätze konnten so geschaffen werden, die sich jedoch weithin durch ihren prekären Charakter auszeichnen. Allerdings muss fraglich bleiben, ob das EntZahl der Beschäftigten in der wicklungsmodell „Maquila" exportorientierten Maquila-Industrie Mexiko dauerhaft in die Rolle einer verlängerten Werkbank der USA zwingen wird: Zum einen weisen jüngste Untersuchungen aus, dass durch die Gründung von „Zwillingsfabriken" (eine kapitalintensiv arbeitende auf der US-Seite, eine lohnintensiv arbeitende auf der mexikanischen Seite) dieses Modell dauerhaften Charakter erhalten könnte, zu anderen suchen gerade mexikanische Unternehmen ein „modelo posmaquila" für die mexikanische Wirtschaft zu Zahl der Betriebe in der exportorientierten Maquila-Industrie

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entwickeln, das in entscheidender Weise vom Aufbau eigener industrieller Dynamiken leben müsste. Ein erster Schritt in diese Richtung stellen die Versuche dar, die nationalen Inputs für die Maquila-Produktion zu erhöhen, eine Tendenz, die insbesondere in der stärker im Zentrum des Landes angesiedelten Maquila erkennbar ist. Nationale Inputs für die Export-Maquila 1991-1996 in % 50 38,8

40 30

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