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German Pages 324 [321] Year 2015
WBG Deutsch-Französische Geschichte Herausgegeben im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Paris von Gudrun Gersmann und Michael Werner
Corine Defrance/Ulrich Pfeil
Eine Nachkriegsgeschichte in Europa 1945 bis 1963 Aus dem Französischen übersetzt von Jochen Grube
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Die Übersetzung des Bandes wurde von der Robert Bosch Stiftung gefördert.
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ISBN 978-3-534-14708-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72043-9 eBook (epub): 978-3-534-72044-6
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 9 Der Ost-West-Konflikt als Katalysator der deutsch-französischen Annäherung 10 Die europäische Integration als Subsystem des Globalkonflikts 11 Deutschland und Frankreich im Kalten Krieg 13 Eine Beziehungsgeschichte in der Nachkriegszeit 14
I. Überblick 1. Wege aus dem Krieg: Franzosen und Deutsche im Jahre 1945 21 Bilanz des Zweiten Weltkriegs 21 Soziale Not 25 Entwurzelung 27 Säuberungen 30 Vom memoriellen Umgang mit der Vergangenheit 35 2. Que faire de l’Allemagne (1945 –1949)? 43 Die französische Deutschlandpolitik 43 Die französische Besatzungspolitik in Deutschland 54 3. Europäische Integration durch deutsch-französische Annäherung (1949–1954) 62 Frankreich und die Gründung der beiden deutschen Staaten 62 Frankreich und die europäische Integration: Sicherheit durch Integration 65 Die Bundesrepublik und die europäische Integration: Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht 67 Der Schuman-Plan 70 Der Pleven-Plan und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft 75 4. Normalisierung und Annäherung (1955 –1958) 83 Die Lösung bilateraler Probleme 83 Kräfteverhältnisse im Wandel 90 Die Relance européenne und die deutsch-französischen Beziehungen 93 5. Der politische Weg zum Élysée-Vertrag (1958 –1963) 98 Neues Vertrauen auf tönernen Füßen 99
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Inhaltsverzeichnis
Rambouillet: die deutsch-französische Kooperation im multilateralen Rahmen 102 Vom Scheitern der Fouchet-Pläne zum Élysée-Vertrag: auf dem Weg zu einer privilegierten bilateralen Kooperation 109 6. Bilanz der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Jahre 1963 115 Die militärische Kooperation: eine permanente Herausforderung 116 Erziehung, Jugend und Wissenschaft: ein Engagement für die Zukunft 123 Keine Priorität mehr für den traditionellen Kulturaustausch 128 Die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen: eine privilegierte Partnerschaft 134
II. Fragen und Perspektiven 1. „Die düstere Franzosenzeit“? Historiographische Debatten zur französischen Besatzungspolitik in Deutschland 145 Zeitzeugen und Archive im Konflikt um historische Deutungsmacht 145 Dominanz, Integration oder doppelte Deutschlandpolitik? 150 Die Kontroversen über die „Pfeiler“ der französischen Besatzungspolitik 154 2. Zivilgesellschaft und sozio-kulturelle Beziehungen 160 Die Zivilgesellschaft als Forschungsfeld der deutsch-französischen Beziehungen 161 Bilanz und Perspektiven 165 3. Frankreich, die Bundesrepublik und die DDR: eine asymmetrische Dreiecksbeziehung 178 Der Platz der DDR in den deutsch-französischen Beziehungen 178 Das inoffizielle Dreiecksverhältnis – eine politische Perspektive 181 Das inoffizielle Dreiecksverhältnis – eine bilderreiche Perspektive 184 4. Perzeption und politisches Handeln 192 Der Mythos vom „Erbfeind“ 194 Das Deutschlandbild im kommunistischen Milieu Frankreichs 198 Zwischen „Rapallo-Komplex“ und Versöhnungsabsichten 199 Die visuelle Inszenierung der deutsch-französischen Freundschaft 203 L’Allemagne, les deux Allemagnes oder les Allemagnes 205 5. Geschichte als Vektor der Annäherung 209 Eine deutsch-französische Beziehungsgeschichte 209 Die Last der Vergangenheit 210 Der „Geist von Speyer“ 216
Inhaltsverzeichnis
Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche 218 Das Mainzer Institut für Europäische Geschichte 220 Das Deutsche Historische Institut Paris 222 6. Gesellschaftlicher Wandel und Modernisierung in Deutschland und Frankreich 226 Radioskopie der wichtigsten Veränderungen 228 Amerikanisierung, Europäisierung, Westernisierung oder Globalisierung? 236 Schlussbetrachtung
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III. Bibliographie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
Dokumentationen, Editionen, Quellensammlungen 251 Briefwechsel, Memoiren, Reden, Tagebücher 252 Biographische Studien 253 Historiographische Fragen und methodische Ansätze 255 Internationale Beziehungen 258 Allgemeine Darstellungen 265 Politische Beziehungen 271 Sozio-kulturelle Beziehungen 280 Wirtschaftliche und technologische Beziehungen 290 Strategische und militärische Beziehungen 293 Perzeption und Rezeption 295 Historikerbeziehungen 298 Erinnerung und Geschichtspolitik 302 Gesellschaftsvergleich 305
Zeittafel 313 Karten 320, 321 Namensregister 322
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Einleitung
Einleitung
Als Folge des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung Frankreichs hatte der Hass der Franzosen auf den deutschen Nachbarn im Jahre 1945 einen neuerlichen Höhepunkt erreicht. Das in der Vergangenheit immer wieder bemühte Bild vom „Erbfeind“ schien seine Bestätigung gefunden zu haben, der Antagonismus unüberbrückbar. Doch während militärische Auseinandersetzungen auf anderen Gebieten der Weltkugel auch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Tagesordnung gehörten, gelang es Deutschen und Franzosen nach Kriegsende, ihre Beziehungen in einen Prozess der Verständigung, Annäherung, Aussöhnung, Kooperation und Partnerschaft zu überführen, der zugleich auf ganz (West-)Europa friedensstiftend wirkte. So kann es nicht überraschen, dass die Geschichtsschreibung zu den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 vor allem nach den Ursachen für diesen Wandel und den Wegen fragte, die Deutsche und Franzosen beschritten1, um aus der kriegerischen Spirale herauszufinden und einen neuen normativen bzw. moralischen Rahmen für die bilateralen Beziehungen zu schaffen2. Musste es für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber der übrigen Welt darum gehen, selbst verspieltes Vertrauen zurückzugewinnen3, so galt es zwischen Deutschland und Frankreich ein Vertrauenspotenzial aufzubauen, das in den vorangegangenen Jahrzehnten nie existiert hatte4. Einen grundlegenden „aktiven politischen Prozess der Konflikttransformation“5 mussten die verständigungsorientierten Frauen und Männer auf beiden Seiten des Rheins folglich leisten, um über den Weg der Handlung, Sprache, Kommunikation und Gestik neue deeskalierende und friedensstiftende Elemente im bilateralen Verhältnis zu verankern. Erinnert werden soll hier nur an die persönliche Einladung von de Gaulle an Adenauer, der als einziger ausländischer Staatsgast im September 1958 das Privileg besaß, im Rahmen seines Staatsbesuches auch im Privathaus 1 Danken möchten wir an dieser Stelle für die kritische Lektüre: Prof. Dr. Jacques Bariéty (Paris), Prof. Dr. Hans Manfred Bock (Kassel), Dr. Florence Gauzy (München), Prof. Dr. Rainer Hudemann (Saarbrücken), Bernard Ludwig (Paris), Prof. Dr. Werner Paravicini (Kiel), Prof. Dr. Andreas Wilkens (Metz). 2 Vgl. Poidevin, Bariéty 1977 [487]; Lappenküper 2001 [468]; vgl. auch die anders akzentuierte Studie von Ziebura 1997 [503]. Vgl. zur Bedeutung von Gilbert Ziebura für die deutsch-französische Geschichtsschreibung: Bock, Kimmel, Uterwedde 2003 [70]; Kimmel 2005 [77]. 3 Vgl. Zielinski 1995 [183]. 4 Vgl. Frevert 2000 [127]; Bluhm 2003 [725]. 5 Hauswedell 2006 [129], S. 12.
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Einleitung
des Generals in Colombey-les-deux-Églises zu nächtigen, wo dieser ihm die „Vertrauensfrage“6 stellte.
Der Ost-West-Konflikt als Katalysator der deutsch-französischen Annäherung Der Ost-West-Konflikt als Katalysator
Antworten auf die Frage nach den Faktoren für die Wandlungen zwischen Deutschland und Frankreich sind nicht alleine aus der Analyse des bilateralen Verhältnisses zu erwarten. Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 waren Teil eines mehrdimensionalen Koordinatensystems, dessen Ausrichtung maßgeblich vom Ost-West-Konflikt und der ohne ihn nur schwerlich vorstellbaren europäischen Integration bestimmt war. Da sich beide in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander befanden und bisweilen aufeinander angewiesen waren, verliefen entscheidende Schritte der europäischen Integration nicht zufällig parallel zu den heißen Phasen des Kalten Krieges. Während die Traditionen des autonomen Nationalstaats in der Zwischenkriegszeit noch ungebrochen und die Mächte noch zu überzeugt von ihrem Großmachtstatus gewesen waren, um beim Ausgleich vitaler Interessen untereinander Eingriffe von außen zu akzeptieren, stellte sich die Situation nach Ende des Zweiten Weltkriegs anders dar. Der deutsche Nationalstaat hatte aufgehört zu existieren, Frankreich und Großbritannien waren zwar Siegermacht, doch durch die Auswirkungen des Krieges zu geschwächt, um ihren Großmachtstatus aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig zeigten sich die USA anders als nach 1918 schnell entschlossen, nicht in ihre splendid isolation zurückzukehren, um „ihre ökonomische und politische Macht zur Durchsetzung amerikanischer Interessen einzusetzen und einen Rückfall Europas in die Krisen und Probleme der Zwischenkriegszeit zu verhindern“7. Zu diesem Zweck unterstützten sie nicht alleine die westeuropäische Integration, sondern auch die Überwindung des deutsch-französischen Gegensatzes. Damit stellt sich die in diesem Band zu behandelnde Beziehungsgeschichte als ein Teilelement einer globalen Nachkriegszeit dar, die ein neues politisches und wirtschaftliches System hervorbrachte, das, wie es Eckart Conze formuliert, „auf die Handlungsmuster nationaler und internationaler, staatlicher und nicht-staatlicher Akteure“ einwirkte, dessen Strukturbedingungen aber zugleich auch von diesen verändert wurden8. Bei allen Wandlungen im internationalen Koordinatensystem und tiefgreifenden Umbrüchen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in Europa begann mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine völlig neue Epoche. Vielmehr war der Ost-West-Konflikt ein Kind der Zwischenkriegszeit, der im Kampf der 6 De Gaulle 2000 [46], S. 1032. 7 Conze 2007 [314], S. 269. 8 Conze 2007 [115], S. 43.
Die europäische Integration als Subsystem des Globalkonflikts
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Anti-Hitler-Koalition gegen das nationalsozialistische Deutschland seine Virulenz vorläufig verloren hatte, doch mit der Kapitulation des „Dritten Reiches“ wenn auch nicht militärisch, so doch ideologisch9 und geopolitisch umgehend wieder ausbrach, so dass Tony Judt nicht zu Unrecht die Zeit zwischen 1945 und 1990 als „Auslaufphase eines noch unerledigten Konfliktes“10 bezeichnet. Schon im Mai 1944 hatte Churchill erklärt, dass die Beziehungen zur Sowjetunion nach der Niederlage Deutschlands keinen wirklichen Frieden, sondern lediglich „einen verlängerten Waffenstillstand“11 erlauben würden. So wurde Deutschland innerhalb weniger Monate vom „Modellfall alliierter Kooperationsbereitschaft“12 zum Testfall für den sich anbahnenden Kalten Krieg13, der mit seinen verschiedenen Entspannungs- und Eskalationsphasen als Aggregatzustand des Ost-West-Konflikts14 eine „weitgehend entgrenzte politisch-ideologische, ökonomische, technologisch-wissenschaftliche und kulturell-soziale Auseinandersetzung [darstellte], die ihre Auswirkung bis in den Alltag zeitigte“15. Während sich innerhalb der entstehenden Blöcke friedensstiftende Mechanismen herausbildeten, schob sich parallel dazu über die Nachkriegsgesellschaften in Europa eine aggressive Kultur des Kalten Krieges, die ihre Grenzen nicht zuletzt durch das atomare Patt definierte.
Die europäische Integration als Subsystem des Globalkonflikts Die europäische Integration als Subsystem des Globalkonflikts
Der Ost-West-Konflikt als globale Systemkonfrontation blieb über 40 Jahre die zentrale Determinante der äußeren und inneren Entwicklung in Europa, wie James Sheehan am Beispiel der westeuropäischen Integration zeigt: „Dieses System war der Brutkasten für die allmähliche Transformation der westeuropäischen Staaten. Sie wurden zivile Staaten, die zwar die Fähigkeit behielten, gegeneinander Krieg zu führen, aber jedes Interesse daran verloren […]. Der Untergang der Gewalt ging schrittweise vor sich. Es war eine langsame, lautlose Revolution, die leicht zu übersehen war, dennoch war sie ebenso wichtig wie jede andere Revolution in der europäischen Geschichte“16.
Zweifellos stellte der Ost-West-Konflikt das Beziehungsgefüge zwischen den westeuropäischen Staaten auf eine neue Grundlage und wirkte stabilitätsfördernd, doch bezahlten gerade die osteuropäischen Gesellschaften einen hohen 9 10 11 12 13 14 15 16
Vgl. du Bois 2003 [247]. Judt 2006 [322], S. 16. Moran 1966 [83], S. 193. Görtemaker 1999 [401], S. 35. Vgl. Gaddis 2007 [252], S. 18. Vgl. Loth 2000 [259], S. 285. Stöver 2007 [267], S. 21. Sheehan 2008 [342], S. 21.
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Einleitung
Preis in dieser von den Amerikanern und Sowjets durchgesetzten Bipolarität. Das Bild vom „Eisernen Vorhang“ und die Realität der Berliner Mauer suggerieren dabei das Schema einer eindeutigen dualistischen Konfrontation, doch bleiben bei dieser Betrachtung die Subsysteme des Kalten Krieges mit ihren genuinen Interessenlagen ausgeblendet. Dass diese aber immer wieder auf den Hauptkonflikt einwirkten, unterstreichen die Forschungen der letzten Jahre. Zu diesen Subsystemen gehörte die europäische Integration, die ihre Ursprünge zweifellos in der Europabegeisterung der Nachkriegszeit hatte, ihre eigentliche Dynamik aber erst aus der neuen Bedrohungslage des Kalten Krieges gewann, welche die Kooperationsbereitschaft bzw. die Tendenz zu neuen Bündnissen zu beschleunigen und dem europäischen Integrationsprojekt eine postnationale Ausrichtung zu geben half. Die ersten Integrationsschritte waren dabei von dem Bestreben dominiert, „den jahrhundertealten Pendelschwung des europäischen Staatensystems zwischen Gleichgewicht und Hegemonie“17 abzulösen und dem unkontrollierten Wiederaufstieg (west-)deutscher Macht einen Riegel vorzuschieben, um die Rückkehr in eine von nationalistischem Denken geprägte Politik zu verhindern. Um diesen Gründungskonsens der europäischen Integration zu realisieren, galt es jedoch primär, „die Ursachen für die deutsch-französische ,Erzfeindschaft‘ zu beseitigen“18, was vom Kalten Krieg maßgeblich beschleunigt wurde. Die sich steigernde Angst vor dem ideologischen Gegenüber ebnete traditionelle Feindbilder nach und nach ein19, so dass die deutsch-französische Annäherung weniger ein „Wunder unserer Zeit“ war20, sondern das Ergebnis einer sich wandelnden Interessenlage. Nicht zuletzt aus diesem Grund sollten sowohl für die europäische Integration als auch für die deutsch-französische Verständigung von Idealismus geprägte Motive und interessengeleitetes (nationales) Handeln als zwei Seiten derselben Medaille verstanden werden. Andreas Rödder wies unlängst zu Recht darauf hin, dass weder ein idealistischer Erklärungsversuch, der die selbstzivilisierenden Lernprozesse auf beiden Seiten des Rheins nach den Schrecken der beiden Weltkriege in den Mittelpunkt rückt, noch eine „hart realpolitische Lesart“, nach der einzig außen- und sicherheitspolitische sowie wirtschaftliche Interessen die treibende Kraft gewesen seien, ausschließliche Erklärungsmacht beanspruchen könnten. Einleuchtend ist daher sein Plädoyer für eine Analyse des Mischungsverhältnisses zwischen moralisch-weltanschaulichen und pragmatischen Ansätzen, zwischen Interessen und Idealen21.
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Boyer 2007 [108], S. 490. Elvert 2006 [316], S. 1. Vgl. Bock 1999 [108]. Vgl. Möller, Horst, Hildebrand, Klaus (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949–1963, München 1997, Bd. 3, bearbeitet von Herbert Elzer), S. 1. Vgl. dazu auch Kissener 2004 [825], S. 183; Lappenküper 2003 [469]. 21 Vgl. Rödder 2007 [664].
Deutschland und Frankreich im Kalten Krieg
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Deutschland und Frankreich im Kalten Krieg Deutschland und Frankreich im Kalten Krieg
Deutschland stand bis zum Ende des Kalten Krieges in seinem Zentrum, stritten sich beide Supermächte doch um dieses Land in der Mitte Europas, das schließlich 1949 geteilt wurde, um den kalten nicht zu einem heißen Krieg ausufern zu lassen. „Die deutschen Staaten waren nicht nur die Frontstaaten ihrer Allianzen, sie fochten auch ihren eigenen Kampf miteinander aus. Im Unterschied zur übrigen Welt hatten sie den Kalten Krieg im eigenen Land“22, urteilt Peter Bender, der mit dieser Feststellung auch auf den entscheidenden Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich in der in diesem Band zu behandelnden Periode hinweist. Während die ganze deutsche Nation zwischen Rhein und Oder sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene in den Kalten Krieg involviert wurde, besonders im deutsch-deutschen Grenzgebiet und in Berlin immer wieder die direkte militärische Konfrontation fürchten musste23, waren die Franzosen von ihm nur mittelbar betroffen. Zwar gab er auch für die französische Außenpolitik den Handlungsrahmen vor und erreichte spätestens 1947 die französische Innenpolitik, als die von den Kommunisten angezettelte Streikbewegung das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte, doch durchdrang er nicht in gleicher Tiefe die politischen und gesellschaftlichen Strukturen Frankreichs24, das in der hier zu behandelnden Zeit weitaus stärker von den Rückwirkungen der Dekolonialisierung betroffen war. Während sich die „verspätete Siegermacht“ in dieser Zeit im westlichen Bündnis als schwieriger Partner gerieren konnte und es gar das Ziel de Gaulles war, das bipolare System des Kalten Krieges aufzubrechen („Vom Atlantik bis zum Ural“), blieb Deutschland wie kein anderes Land in Europa in die einander feindlichen Welten einbezogen. Nur so erklärt es sich, dass die Geschichte der Deutschen fast ein halbes Jahrhundert auch die Geschichte des Kalten Krieges war und dieser mit der Überwindung der deutschen Zweitstaatlichkeit 1989/90 sein Ende fand. Als Urheber und Verlierer des Krieges mussten die Deutschen in Ost und West ihren jeweiligen Vormächten „ihre Zuverlässigkeit als treue Gefolgsstaaten bekunden und beweisen, um sich den beständigen Rückhalt der Großen zu sichern, von denen ihre Existenz und ihre Stellung im Bündnis abhing“25. Als Frontstaaten nahm ihr Gewicht bei zunehmender Eskalierung jedoch kontinuierlich zu, so dass den Deutschen – schneller als alle zu Kriegsende dachten und bisweilen mit nicht zu überhörendem Zähneknirschen bei den Zeitgenossen – der Weg zurück in den Kreis der zivilisierten Völker eröffnet wurde.
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Bender 2007 [384], S. 43. Vgl. Greiner 2009 [254]. Vgl. Soutou 2003 [275]. Bender 2007 [384], S. 76.
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Einleitung
Eine Beziehungsgeschichte in der Nachkriegszeit Eine Beziehungsgeschichte in der Nachkriegszeit
Im Jahre 1945 lagen Frankreich und Deutschland ausgelaugt und blutleer am Boden und mussten ihren Weg aus dem Krieg heraus finden. Das befreite Frankreich hatte dabei zweifellos die besseren Ausgangsbedingungen, ging es aus dem Konflikt doch schließlich als Siegermacht hervor, die ihre Geschicke wieder in die eigenen Hände nehmen konnte26. Deutschland und seine Gesellschaft galt es im Rahmen der Politik des unconditional surrender vorläufig stillzulegen, um die Voraussetzungen für einen Neuanfang zu schaffen. Es stand als besiegtes und besetztes Land vor dem Scherbenhaufen seiner eigenen Geschichte. Trotz dieses Statusunterschiedes ist die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 auch die Geschichte zweier Nachbarn, die sich unter den spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit auf politischer, wirtschaftlicher, kultureller und mentaler Ebene einen Weg in eine neue Zukunft bahnen mussten, um die verloren gegangene Normalität in dieser Übergangszeit wiederzufinden. Die Trennungslinie zwischen Krieg und Nachkriegszeit ist dabei nicht immer einfach zu ziehen, verschwammen in dieser „Verwandlungszone“27 doch fortwährend die Grenzen zwischen vorher und nachher, wirkte der gerade überwundene offene Konflikt doch sowohl materiell als auch mental über sein Ende hinaus28. Nachkriegszeit kann folglich als eine Zeit verstanden werden, „die wesentlich durch die vielfältigen Folgen des Krieges geprägt ist“29. In der französischen Historiographie hat sich für solche Übergangsphasen der Begriff der sorties de guerre eingebürgert30, der stärker als der Begriff „Nachkriegszeit“ auf den Dynamiken insistiert und einen Prozess beschreiben will, „der soziale Dimensionen von großer Tragweite umfasst und der in gewisser Weise den Konflikt verlängert, sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene“31. Die in diesem Band zu behandelnde Periode zwischen 1945 und 1963 lässt sich folglich auf vielfältige Weise als sortie de guerre bezeichnen, in welcher der innere Frieden wiedergefunden werden musste, um auch das bilaterale Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland dauerhaft zu befrieden32 und den „negativen Frieden“ im Moment der deutschen Kapitulation in einen „positiven Frieden“ mit ausgesöhnter Friedenskultur zu überführen. Das Jahr 1963 als Schlusspunkt unseres Betrachtungsraumes mit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages am 22. Januar besitzt sozialgeschichtlich sicher-
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Vgl. Hüser 2003 [460]; Hüser 2005 [209]. Vgl. zur Terminologie: Loth, Rusinek 1998 [1320]. Vgl. Defrance, Echternkamp, Martens 2008 [117]; von Lingen 2009 [1254]. Vgl. Echternkamp, Martens 2007 [120], S. 1 f. Vgl. Audoin-Rouzeau, Prochasson 2008 [101]. Vgl. Rousso 2007 [1245], S. 273. Vgl. Senghaas 1995 [166].
Eine Beziehungsgeschichte in der Nachkriegszeit
15
lich keine Relevanz bei der Frage nach dem Ende der Nachkriegszeit33. Auch die einschlägigen Handbücher zur europäischen Integration sehen die Vertragsunterzeichnung nicht als Einschnitt, vielmehr als Nachgeschichte der Römischen Verträge „im Schatten de Gaulles“ bzw. als Reaktion auf die gescheiterten Fouchet-Pläne34. Sie stellt genauso wenig eine Zäsur im Kalten Krieg dar, die eher im Ende der Berlin- (1961) bzw. der Kubakrise (1962) zu suchen ist. Schon gar nicht ist das Datum in den ostdeutsch-französischen Beziehungen von großer Relevanz, auch wenn die SED nach dem 22. Januar 1963 eine Pressekampagne gegen die Vertragsunterzeichnung begann. Diese sagte jedoch nur wenig über den Charakter des Élysée-Vertrages aus, sondern war eher Ausdruck für einen neuerlichen Rückschlag in der von der DDR 1957/58 gegenüber Frankreich und den übrigen westlichen Ländern eingeleiteten „Anerkennungspolitik“35, die erst 1973 ihr Ziel erreichte. Wieder einmal konnte die DDR die von Bonn 1955 verkündete Hallstein-Doktrin nicht durchlöchern, welche die Aufnahme oder Unterhaltung diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten als unfreundlichen Akt definierte und mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen drohte36. Überholen ohne einzuholen musste daher auch auf diesem Feld das Ziel von OstBerlin bleiben37. Die mittlerweile zugänglichen Archive der DDR verdeutlichen dabei eindrücklich, dass es sich stets um eine ménage à trois im bipolaren Koordinatensystem des Kalten Krieges handelte. Folglich kann es nicht genügen, die ostdeutsch-französischen Beziehungen gesondert zu behandeln. Vielmehr gilt es den für die deutsche Nachkriegsgeschichte so charakteristischen direkten und indirekten Formen der asymmetrischen Verflechtung38 zwischen den beiden deutschen Staaten auch auf dem Feld des deutsch-deutsch-französischen Beziehungsgeflechts nachzuspüren. Das Jahr 1963 als Endpunkt dieser Studie richtet den Blick somit auf ein westdeutsch-französisches Schlüsselereignis. Der Kanzler und der General wollten mit diesem feierlichen Akt nicht nur das Ende der Nachkriegszeit im bilateralen Verhältnis, sondern zugleich die (west-)deutsch-französische „Versöhnung“ besiegeln, um nach einer Phase der Verständigung und Annäherung nun zur Normalität der Kooperation übergehen zu können. Dieser Ausdruck politischen Willens lässt bisweilen jedoch vergessen, dass Versöhnung – mit ihren religiösen bzw. moralischen Konnotationen39 und der für den westlichen Kulturkreis kennzeichnenden Komponente der Vergebung40 – keinen Endzustand beschreibt, gerade im Verhältnis zwischen zwei Staaten. Nicht nur das deutsch-französische 33 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. die Überlegungen zum Ende der Nachkriegszeit in: Defrance 2006 [116]. Brunn 2002 [310], S. 138 ff.; Bitsch 1999 [308], S. 241. Vgl. Pfeil 2001 [650]. Vgl. Kilian 2001 [211]; Gray 2005 [200]. Vgl. Pfeil 2004 [484]. Vgl. Klessmann 2005 [138]; Klessmann, Lautzas 2006 [411]. Vgl. Beestermöller, Reuter 2002 [103]. Vgl. Lefranc 2002 [145].
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Einleitung
Beispiel verdeutlicht, dass Versöhnung ein permanentes Handeln auf politischer und gesellschaftlicher Ebene erfordert, um den Prozess der Annäherung und Verständigung unumkehrbar zu machen. Der Begriff der Versöhnung ist auf dem Feld der zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen Beziehungen relativ jung und findet sich bezeichnenderweise in offiziellen und nicht-offiziellen Diskursen zur Zielbestimmung der deutsch-französischen Beziehungen in einer zuvor nicht gekannten Häufung ab Ende der 1950er Jahre. Heute verweist der Begriff der Versöhnung allgemein auf die Befriedung von Beziehungen und die Lösung von Konflikten zwischen zwei zuvor verfeindeten Gesellschaften oder Gemeinschaften. Doch richten wir den Blick noch einmal auf die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 zurück, für die der 22. Januar 1963 im aktuellen öffentlichen Bewusstsein nicht nur zu einem Schlüsseldatum geworden ist, sondern sogar den Status eines gemeinsamen Erinnerungsortes erreicht hat41, der nicht selten mit Mythen und harmonisierenden Betrachtungen versehen wird42. Die Bedingungsfaktoren für diesen Annäherungsprozess stellen sich jedoch in historischer Sicht komplexer dar, als es heute bisweilen erscheint. Mag man diese Beziehungsgeschichte vielleicht zu Recht mit dem Attribut der „Erfolgsgeschichte“ belegen, so sollten nicht die Blockaden, Misserfolge und Rückschläge aus dem Auge verloren werden, jedoch auch nicht die Mittel und Wege, mit denen es beiden Seiten in der Regel doch wieder gelang, abweichende Interessenlagen in Einklang zu bringen43. Gerade in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass das Interpretament von der „Erfolgsgeschichte“ zunehmend in den Hintergrund geriet. Neuere Studien fragen nach den von Politik, Geschichtswissenschaft und kollektivem Gedächtnis ausgeblendeten Aspekten der deutsch-französischen Beziehungen. Besonderes Interesse fand dabei die Frage der Wiedergutmachung und der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern im deutsch-französischen Kontext44. Weitere Arbeiten zur transnationalen Vergangenheitspolitik stehen aus. Ist die Periode zwischen 1945 und 1963 in vielerlei Hinsicht als Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs zu verstehen, so lässt sie sich zugleich als Vorgeschichte des „franco-allemand“ charakterisieren, eine von den Franzosen so bezeichnete Epoche, die sich durch die Herausbildung der „Paare“ Valéry Giscard d’Estaing/Helmut Schmidt, François Mitterrand/Helmut Kohl und Jacques Chirac/Gerhard Schröder auszeichnet, durch die Gründung binationaler Organisationen wie des Deutsch-Französischen Jugendwerks (7. Juli 1963)45, durch die Institutionalisierung und Ausweitung von Kooperation bzw. Begegnung auf
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Vgl. Frank 2005 [1211]. Vgl. Defrance, Pfeil 2005 [447]. Vgl. Marcowitz 2005 [632]. Vgl. weiter gehende Überlegungen zu dieser Frage in: Moisel 2004 [641], S. 10 f.; Delori 2007 [450], S. 11–19. 45 Vgl. Bock, Defrance, Krebs, Pfeil 2008 [741].
Eine Beziehungsgeschichte in der Nachkriegszeit
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allen Ebenen46 und durch den deutsch-französischen „Motor“ in Europa. Die Spannbreite dieses Beziehungsgeflechts ist jedoch das Thema des folgenden Bandes der Deutsch-Französischen Geschichte; hier wollen wir uns mit der These begnügen, dass die deutsch-französischen Beziehungen nicht erst mit dem Élysée-Vertrag begannen, wie man es bisweilen lesen kann, sondern die Unterzeichnung nur möglich war, weil die seit 1945 unternommene Verständigungsarbeit ihre Früchte getragen hatte47. Diese war nicht alleine das Werk großer Männer oder gar nur der beiden „Lichtgestalten“ Adenauer und de Gaulle48. Ein solch reduzierter Blick blendet vielmehr die Vielschichtigkeit eines Prozesses aus, an dem Akteure auf den unterschiedlichsten Ebenen teilhatten. Anders als in der Zwischenkriegszeit hatte das bilaterale Verhältnis mittlerweile eine sozio-kulturelle Unterfütterung und eine gesellschaftliche Rückbindung erhalten, die eine allgemeine Bereitschaft zu Vertrauen, Verständigung und Kooperation ermöglichte. Zum besseren Verständnis der deutsch-französischen Annäherung erscheint es daher entscheidend, die Interdependenz zwischen den unterschiedlichen Handlungs- und Akteursebenen zu beleuchten, um den Interaktionen, Schnittstellen und Komplementaritäten auf den verschiedenen Niveaus auf die Spur zu kommen. Neben den internationalen Rahmenbedingungen gilt es daher auch in besonderem Maße die transnationalen Dynamiken auf der Ebene der Zivilgesellschaft zu analysieren, um die grenzüberschreitenden Transfer- und Austauschprozesse, die wechselseitigen Wahrnehmungen und die verschiedenen Formen der Verflechtung zu beleuchten49. Überflüssig erscheint es auch auf diesem Feld, die verschiedenen Ansätze hierarchisieren bzw. in einen methodischen Wettbewerb stellen zu wollen, wie Johannes Paulmann zu Recht unterstreicht: „Um als Historiker aber überhaupt erkennen zu können, was bei einem interkulturellen Transfer vor sich geht, muss man vergleichen: die Stellung des untersuchten Gegenstands im alten mit der in seinem neuen Kontext, die soziale Herkunft der Vermittler und der Betroffenen in einem Land mit der im anderen, die Benennung in einer Sprache mit der in einer anderen und schließlich die Deutung eines Phänomens in der nationalen Kultur, aus der es stammt, mit der, in die es eingeführt wurde“50.
Welche Bedeutung einer sozialgeschichtlichen Erweiterung bei der Erforschung der Geschichte der internationalen Beziehungen zukommt, hatten in den 1950er Jahren bereits Pierre Renouvin und Jean-Baptiste Duroselle mit dem Hinweis auf die forces profondes51 unterstrichen. Mag die Begrifflichkeit dieses Kon-
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Vgl. Miard-Delacroix, Hudemann 2005 [480]. Vgl. Bock, Pfeil 2005 [738]. Vgl. zu dieser These auch die Beiträge in: Schwabe 2005 [490]. Vgl. Milza 1998 [153]; Patel 2004 [159]; Budde, Conrad, Janz 2006 [109]. Paulmann 1998 [160]. Vgl. als systematische Einführung in das Konzept: Renouvin, Duroselle 1991 [163].
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Einleitung
zeptes bisweilen auch veraltet scheinen52, so hat der Ansatz nichts von seiner Aktualität verloren, wie gerade die deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1945 und 1963 verdeutlichen. So ist auch die Forderung von Hartmut Kaelble zu verstehen, „die langsame, aber tiefgreifende Annäherung der Gesellschaftsstrukturen und Lebensweisen der beiden Länder“ im Rahmen der deutsch-französischen Aussöhnung stärker zu berücksichtigen: „Das lange Misstrauen der Bürger beider Länder hing nicht nur mit politischer Indoktrination und politischen Erfahrungen, sondern auch mit fundamentalen Unterschieden der gesellschaftlichen Strukturen und Lebensweisen zusammen, die jedes Verständnis außerordentlich erschwerte“53.
Die „Versöhnungsgeneration“ der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 tritt heute nach und nach ab und macht Platz für eine jüngere Generation, die das deutsch-französische Verhältnis als gelebten Austausch und konkrete Kooperation erfährt. Ihr wird der moralisch aufgeladene, bisweilen mit Pathosformeln versehene Versöhnungsdiskurs zunehmend fremd, so dass er nur noch schwer in ihre lebensweltliche Realität zu integrieren ist und für die Gegenwart und Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen oftmals kontraproduktiv wirkt. In den Zeiten einer Neubestimmung und Neuverhandlung des deutschfranzösischen Verhältnisses kommt dem Blick in die unmittelbare Vorgeschichte jedoch eine wichtige Orientierungsfunktion für zukünftiges Handeln zu.
52 Vgl. zur Einordnung in die französische Historiographiegeschichte: Frank 2003 [126]; Soutou 2000 [170]; Wirsching 2008 [179], S. 182 ff.; Marcowitz 2005 [149]; Martens 2007 [151]; Hudemann 2004 [135]. 53 Kaelble 1991 [588], S. 10.
I. Überblick
Karikatur von Klaus Pielert im Kölner Anzeiger, 5. Juli 1962
I. Überblick
1. Wege aus dem Krieg:
Franzosen und Deutsche im Jahre 1945
1. Wege aus dem Krieg
Als Deutschland am 8. Mai 1945 kapitulierte, war die NS-Herrschaft über Europa nun auch offiziell beendet1. Europa lag am Boden und bot ein Bild unbeschreiblicher Zerstörung. Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit kennzeichneten die Gesichtszüge der Menschen, deren Leben von dem ganz elementaren Wunsch nach Überleben bestimmt war2. Wie niemals zuvor in der europäischen Geschichte hatte ein moderner Staat seine sämtlichen Kräfte mobilisiert, um seine Nachbarn zu unterwerfen, auszubeuten und – im besonderen Maße im östlichen Europa – auszutilgen. Niemals zuvor war die Zivilbevölkerung in dieser Breite mobilisiert worden, in Deutschland, um dem „Weltanschauungskrieg“ zum Sieg zu verhelfen, in den angegriffenen und besetzten Ländern, um den deutschen Aggressor zurückzuschlagen und niederzuwerfen. Durch eine bis dahin unbekannte Vergesellschaftung von Gewalt hatte Deutschland über mehr als fünf Jahre eine Kultur des Krieges nach Europa getragen, die es nun in eine Kultur des Friedens zu überführen galt, damit Deutschland nicht noch einmal zu einer Gefahr für seine Nachbarn werden konnte3. Schnell zeigte sich den Beteiligten, dass der Krieg mit dem Kriegsende nicht zu Ende war und Kriegsende nicht synonym mit Frieden ist, sondern vielmehr einen kontinuierlichen Prozess tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Deeskalation erfordert4. In dieser Übergangszeit besaß somit auch in Frankreich und Deutschland die Lösung aller aus dem Krieg unmittelbar resultierenden Probleme oberste Priorität, um zu einer Friedensnormalität zurückzukehren.
Bilanz des Zweiten Weltkriegs Hatte der Erste Weltkrieg den Menschen bereits die Konsequenzen eines industriellen Krieges vor Augen geführt, wurde im Zweiten Weltkrieg als bis heute größtem Land-, Luft- und Seekampf alles Bisherige in den Schatten gestellt. Nie zuvor waren in einem solchen Ausmaße Industrie, Technik und Wissenschaft in 1 Vgl. Krebs, Oberländer 1997 [1283]; Herbert, Schildt 1998 [1274]; Rusinek 2004 [1294]; Vaïsse 2005 [691]; Müller, Ueberschär 2005 [421]. 2 Judt 2006 [322], S. 29 ff. 3 Vgl. Wegner 2002 [172]; Kühne 2000 [144]; Mazower 2009 [1285]. 4 Vgl. Bessel, Schumann 2002 [1267]; Defrance, Echternkamp, Martens 2008 [117].
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den Dienst der Vernichtung menschlichen Lebens gestellt worden. Nie zuvor waren die kriegsbedingten Verluste auf demographischer, ökonomischer, sozialer und emotionaler Ebene größer als nach 1945. Wer dabei eine vergleichende Bilanz von Zerstörung, Leid und Elend in Krieg und Nachkriegszeit versucht, begibt sich im deutschen Fall auf das sensible Feld der Opferdiskussion, die in der Vergangenheit vielfach unter dem Verdacht stand – hier jedoch vor allem im Verhältnis von Deutschland zu seinen östlichen Nachbarn –, „dass Leid mit Leid, Schuld mit Schuld verrechnet werden soll“5. Ausgangspunkt für eine solche Bilanz kann deshalb nicht der 8. Mai 1945 sein, sondern muss der Ausbruch des von Deutschland vom Zaun gebrochenen Krieges sein, der Frankreich zwischen 1940 und 1944/45 eine vierjährige Besatzung aufzwang. Heutige Schätzungen gehen von insgesamt über 60 Millionen Toten aus, darunter 25 Millionen Zivilisten, die durch Luftangriffe, Bodenkämpfe, Massenvernichtungen, Erschießungen, Arbeits- und Konzentrationslager, Deportation und Flucht ums Leben kamen. In Frankreich waren nach letzten Erkenntnissen ca. 400 000 Opfer (davon mehr als die Hälfte Zivilisten) zu beklagen6. Zu den ca. 150 000 Soldaten, unter ihnen auch die Kolonialtruppen und die von der Wehrmacht zwangseingezogenen Elsass-Lothringer, kommen weniger als 100 000 zivile Opfer auf französischem Territorium. Ungefähr 150 000 Franzosen wurden von den Deutschen außerhalb Frankreichs (vor allem in Deutschland und Polen) umgebracht, unter ihnen über 75 000 Juden, 21 000 Kriegsgefangene, weitere 20 000 nicht-jüdische Verhaftete und 10 000 bis 20 000 Zivilarbeiter. Deutschland zählte ca. sieben Millionen Opfer, davon 4,5 Millionen Wehrmachtstote aus dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 und über zwei Millionen Zivilisten. Dabei schwankte die Todesquote je nach Geburtsjahrgängen erheblich. Für die Jahrgänge 1910 bis 1925 lag sie in Deutschland durchschnittlich zwischen 20 und 40 %. Mindestens zwei Fünftel der Jahrgänge 1920 bis 1925 wurden nahezu ausgelöscht7. Zu den Folgen dieser demographischen Verwerfungen gehörten u. a. ein starker Frauenüberschuss und Vaterlosigkeit, unter der ca. ein Viertel der deutschen Kinder und Jugendlichen litten. Zu dieser Verlustgeschichte gehören auch die 170 000 ermordeten deutschen Juden und 100 000 nicht-jüdische deutsche Opfer, die von den Nationalsozialisten aus weltanschaulichen und politischen Gründen umgebracht worden waren. Die alliierten Bombenangriffe und die Kämpfe auf deutschem Territorium, aber auch Hitlers „Taktik der verbrannten Erde“ („Nerobefehl“ vom 19. März 1945) hatten weite Teile Deutschlands in den letzten Kriegsmonaten in eine Trümmerlandschaft verwandelt. Besonders betroffen waren jedoch die Wohngebiete und das Transportwesen. Die Alliierten mussten bei der Bombardierung der deutschen Industrieanlagen bisweilen selber schwere Verluste hinnehmen, so dass 5 Frevert 2003 [1213], S. 11. 6 Vgl. zur Problematik der Zählung: Lagrou 2002 [1284]. 7 Wehler 2003 [434], S. 942.
1. Wege aus dem Krieg
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der Schwerpunkt der Bombenangriffe ab März 1942 schon nicht mehr auf der Rüstungsindustrie gelegen hatte. Zudem mussten die alliierten Beobachter nach Kriegsende feststellen, dass ihre Luftangriffe auf die deutschen Industriezentren in den meisten Fällen kostspielige Fehlschläge gewesen waren8. Für den Produktionsrückgang ab Mitte 1944 war daher in erster Linie die Zerstörung des Transportsystems verantwortlich. So erklärt es sich, dass zu Kriegsende 40 % der Verkehrsanlagen vernichtet waren, während die Kriegszerstörungen in der deutschen Industrie nur ca. 20 % betrugen und ihre Leistung 1946 nur ca. 30 % unter dem Stand von 1939 lag9. Mit gewissem Abstand zeigte es sich, dass das Ausmaß der Kriegszerstörungen im Moment des Kriegsendes stark überschätzt wurde. In der SBZ, in der die sowjetische Besatzungsmacht als strafender Sieger auftrat, richteten die Wiedergutmachungen an die Sowjetunion und die durchgeführten Demontagen größere Schäden an als die kriegsbedingten Zerstörungen10. Werner Abelshauser kommt gar zu dem Fazit, dass die Substanz des industriellen Anlagevermögens im Mai 1945 keineswegs entscheidend getroffen war und sich etwa auf dem Stand von 1938 befand11. Der eigentliche Leidtragende der im Jahre 1944 das deutsche Territorium erreichenden Kämpfe war die Zivilbevölkerung, die nun mit ganzer Härte erleben musste, wie die angegriffenen und besetzten Länder als Antwort auf die von Deutschen ausgegangene Gewalt zurückschlugen. In den letzten Kriegstagen wurden von der Roten Armee 40 000 Granaten auf Berlin abgefeuert, so dass die Reichshauptstadt einer Trümmerwüste glich, in der 75 % der Wohnungen unbewohnbar waren. Die anderen deutschen Großstädte erfuhren in der Regel ein ähnliches Schicksal: In Köln wurden 70 % des Wohnraums zerstört, ähnlich ging es Städten wie Dortmund (65,8 %), Duisburg (64,8 %), Kassel (63,9 %) und Kiel (58,1 %)12, während die Wohnverhältnisse auf dem Land und in den kleineren Orten deutlich besser waren. Insgesamt waren 40 % des Wohnraums in Deutschland vernichtet, 2,25 Millionen Wohnungen lagen gänzlich in Schutt und Asche, rund 2,5 Millionen Wohnungen waren schwer beschädigt13, so dass Lagerleben und vagabundierende Obdachlosigkeit für ca. 20 Millionen Deutsche zur Realität der Nachkriegszeit gehörten. Noch 1950 lebten auf dem Gebiet der Bundesrepublik über 900 000 Menschen in Notunterkünften und Massenlagern14. Jene Glücklichen, deren Wohnung intakt geblieben war, mussten diesen kostbaren Besitz schon bald mit anderen teilen, standen Einquartierungen in der Nachkriegszeit angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen doch auf der
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Süss 2007 [1249]. Manz 1985 [966]; Echternkamp 2003 [395], S. 20. Vgl. allgemein: Steiner 2004 [1441]. Abelshauser 2004 [380], S. 71. 1958 [11], S. 51–55. 1960 [12], S. 11–14. Plato, Leh 1997 [1291], S. 44 f.
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Tagesordnung. So lebten Ende 1946 durchschnittlich 4,2 Personen in einer Wohnung, 1948 waren es gar 5,4, wohingegen es 1939 nur 3,3 waren. Im Zonenvergleich war die SBZ am stärksten von dem Flüchtlingsstrom betroffen. Von den 20,5 Millionen Menschen waren über 4,3 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Ihr Anteil stieg bis zur Gründung der DDR auf 25 %. Zwar war der Wohnraum in der SBZ weniger in Mitleidenschaft gezogen als der im Westen (7,0 zu 15,3 %), doch infolge des höheren Flüchtlingsaufkommens herrschte noch über Jahre ein beachtlicher Wohnraummangel15. Dieses Zusammenleben auf engstem Raum mit dem damit einhergehenden Verlust an Privatsphäre schürte die innergesellschaftlichen Spannungen in einer Zeit, in welcher der Lebensmut der meisten Deutschen schwer angegriffen war16. Auch Frankreich musste in den Nachkriegsjahren die infolge der Bombardements und Kampfhandlungen entstandenen Trümmer beiseiteräumen. Hatte der Erste Weltkrieg nur 13 Départements getroffen, waren es während des Zweiten Weltkriegs 74. 500 000 Wohnungen waren nicht mehr bewohnbar, was einem Zerstörungsgrad von etwa 20 % entsprach. Die größten Schäden musste dabei die Normandie verzeichnen, deren Einwohnerschaft zudem unter dem harten Winter 1944/45 zu leiden hatte, den sie vielfach in Holzbaracken zu überleben versuchte17. Was als Provisorium gedacht war, blieb für viele Franzosen noch zehn Jahre bittere Realität. Diese Küstenregion hatte nicht alleine unter den heftigen Rückzugsgefechten der deutschen Wehrmacht gelitten, sondern war – zur Befreiung des eigenen Territoriums – auch Opfer von westalliierten Luftangriffen geworden, bei denen die Hafenstädte Le Havre (82 %), Caen (73 %), Saint-Lô (77 %) und Rouen (50 %) am stärksten in Mitleidenschaft gezogen wurden, während die französische Hauptstadt Paris den Krieg nahezu unversehrt überstanden hatte. Durch diese Zerstörungen waren die Kapazitäten der französischen Handelsflotte auf ein Minimum reduziert, so dass auch die Verteilung der zum Überleben notwendigen Güter weiter erschwert wurde; hinzu kamen zerstörte Straßen, Eisenbahnlinien und Brücken. Keine Brücke zwischen Paris und Le Havre war mehr intakt, nur noch eine über den Rhein, und gerade einmal 10 % des französischen Schienennetzes waren noch befahrbar, so dass das Land quasi stillstand. Doch nicht nur die Bevölkerung sah sich vor einem kaum zu überwindenden Berg von Problemen; auch die politische Führung befürchtete eine lang anhaltende Durststrecke, so auch de Gaulle, der im Oktober 1945 verkündete, dass Frankreich für den Wiederaufbau des Landes selbst bei unermüdlicher Arbeit 25 Jahre brauche. Doch bei aller Not zeigte sich auch hier, dass der Pessimismus der Nachkriegszeit nicht den wirtschaftlichen Realitäten entsprach. Bereits 1948 überschritt Frankreich wieder seine Vorkriegsproduktion an Kohle und Stahl. Bis
15 Vgl. Heydemann 2003 [403], S. 1. 16 Kossert 2008 [1282]. 17 Rioux 1980 [371], S. 33.
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1952 wurde schließlich der Steinkohlebergbau auf den Leistungsstand der Vorkriegsstand gebracht18.
Soziale Not Das Kriegsende hatte dem Massensterben ein Ende gesetzt, doch Existenzunsicherheit, soziale Not und insbesondere der Hunger als europäisches Phänomen der Nachkriegszeit machten das Überleben auch nach der Einstellung der Kampfhandlungen bisweilen zu einem schwierigen Unterfangen, waren sowohl Deutsche als auch Franzosen von der lebensnotwendigen Mindestkalorienmenge von ca. 2400 in der unmittelbaren Nachkriegszeit doch zumeist weit entfernt. In Paris brachte es ein Erwachsener im August 1944 gerade einmal auf 900 Kalorien; 1210 waren es im September und 1515 im Mai 194519. 70 % der französischen Männer und 55 % der Frauen hatten im Vergleich zur Vorkriegszeit an Gewicht verloren; ein Drittel aller Kinder litt an Wachstumsstörungen. So waren die französischen Jugendlichen im Jahre 1945 zwischen sieben und elf Zentimeter kleiner als ihre Altersgenossen 1935 und wogen zwischen sieben und neun Kilo weniger. Zudem begünstigte das Untergewicht die Anfälligkeit für Krankheiten und Seuchen, denen in erster Linie Kinder und Alte zum Opfer fielen. So kann es nur wenig überraschen, dass laut französischen Meinungsumfragen die Versorgung mit Brot, Fleisch sowie anderen Grundnahrungsmitteln das Denken der Franzosen bestimmte und den Schwarzmarkt florieren ließ20. Die Hoffnung vieler Franzosen, dass mit dem Ende der deutschen Besatzung und der damit einhergehenden Entnahmen aus der laufenden Produktion auch das Ende des Mangels gekommen sei, erwies sich als Illusion. Lebensmittelkarten gehörten bis 1949 zum Alltag der Franzosen, deren Unzufriedenheit sich nicht nur gegen die Politiker richtete, sondern auch gegen die Landwirte und Zwischenhändler, denen Wucher vorgeworfen wurde, so dass es immer wieder zu Plünderungen kam21. Trauer, Zerstörung und permanente Kaufkraft-, Nahrungsmittel-, Bekleidungs- und Brennmaterialnot ließen die Euphorie im Moment des Kriegsendes somit schnell Desillusion und moralischem Leid Platz machen. Nicht ohne Grund sprach der Schriftsteller und Journalist Joseph Kessel daher von einer „liberté sans joie“22. „Genießt den Krieg, der Frieden wird furchtbar!“ Mit diesem Satz hatte die Flüsterpropaganda während der letzten Kriegsmonate die Deutschen auf das Elend der Nachkriegszeit vorbereitet. Angesichts von körperlicher Verelendung 18 19 20 21 22
Vgl. Abelshauser 2004 [380], S. 236. Vgl. Mouvement économique en France de 1938 à 1948, Paris 1950. Rioux 1980 [371], S. 32; Grenard 2008 [1273]. Schor 2004 [375], S. 258. Vgl. Rioux 1985 [1292]; Hüser 2000 [1060].
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und Unterernährung sahen sich viele Deutsche in ihren Ängsten bestätigt23. Hatten die Deutschen im Durchschnitt 1940 und 1941 2445 Kalorien pro Tag und 1943 noch 2078 Kalorien zu sich genommen, brachten es die Menschen in München im Sommer 1945 nur auf 1300 Kalorien, in Stuttgart auf 1000, und die Kumpel im Ruhrgebiet mussten sich gar mit 700 bis 800 Kalorien begnügen. Neben regionalen Unterschieden lassen sich auch spürbare Differenzen zwischen den einzelnen Zonen feststellen. 1946 betrugen die amtlich festgesetzten Kalorienzahlen in der amerikanischen Zone 1330, in der sowjetischen 1083, in der britischen 1050 und in der französischen 900 Kalorien24. Nur 12 % der Kinder erreichten Ende 1945 das ihrem Alter entsprechende Normalgewicht, viele waren von Hungerödemen gezeichnet, insbesondere die Vertriebenenkinder25. Den Mangel versuchten die Deutschen über eine „Schattenwirtschaft“ auszugleichen, so dass Schwarzmarkt und Hamsterfahrten schnell zu den verbreiteten Erfahrungen der frühen Nachkriegsgesellschaft zählten. Dies umso mehr, weil die lebensnotwendige Versorgung durch die Zuteilungen aus Lebensmittelkarten nicht mehr gewährleistet wurde. Auch wenn sich die Versorgung mit Konsumgütern und Lebensmitteln in Westdeutschland nach der Währungsreform 1948 spürbar verbesserte, wurden die Rationierungen und damit auch die Lebensmittelkarten erst 1950, in der DDR erst 1958 abgeschafft. Mangel und Hunger waren in diesem Ausmaß in Deutschland ein Phänomen der Nachkriegszeit und hatten nicht bereits während des Krieges eingesetzt wie in Frankreich, das während der vierjährigen Besatzungszeit von den Deutschen ausgeplündert worden war, so dass es – wie die anderen von der Wehrmacht besetzten Länder auch – unfreiwillig einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Kriegsführung und zur Versorgung der deutschen „Heimatfront“ geleistet hatte, wie Tony Judt zutreffend konstatiert: „Die Nazis lebten, solange es ging, vom Reichtum ihrer Opfer – so dass die deutsche Zivilbevölkerung erst 1944 die Folgen der Versorgungsengpässe zu spüren bekam“26. Der 8. Mai 1945 war aus sozialgeschichtlicher Perspektive für die meisten Deutschen folglich keine einschneidende Zäsur. Viele empfanden die Nachkriegsjahre angesichts der physischen Realität der Zerstörung und der alltäglichen Not als „schlechte Zeit“, die erst mit der Währungsreform ihr Ende fand27.
23 Vgl. Echternkamp 2008 [1271]. 24 Schildt 2007 [425], S. 10; Rothenberger 1980 [1238]; Hudemann 1988 [564], S. 74 ff. 25 Vgl. zu ihrem besonderen Schicksal mit weiteren Literaturangaben: Hirsch 2003 [1277]. 26 Judt 2006 [322], S. 32. 27 Vgl. Broszat, Henke, Woller 1990 [1350].
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Entwurzelung Europa war im Zweiten Weltkrieg unterwegs gewesen28. Mit Kriegsende versiegten die umherziehenden Menschenströme jedoch nicht, im Gegenteil: „Aus einem Verschiebebahnhof unter den Bedingungen des Krieges wandelte sich Europa nach Kriegsende in einen Verschiebebahnhof unter den Hinterlassenschaften des Krieges: Zerstörungen, Grenzverschiebungen, Entwurzelung, Tod“29. In Belgien und Frankreich hatten diese Wanderungsbewegungen bereits mit der Westoffensive der deutschen Wehrmacht im Mai/Juni 1940 begonnen. Ungefähr sechs Millionen Belgier und Franzosen verließen ihre Heimat, um vor deutscher Besatzung und Gewalt zu fliehen30. Die meisten von ihnen kehrten bis September 1940 wieder nach Hause zurück, doch zum Stillstand kam die französische Gesellschaft während der années noires nicht. Diese Feststellung gilt in besonderem Maße für die Einwohner des Elsasses und von Lothringen, von denen über eine halbe Million vor den deutschen Besatzern Zuflucht in Innerfrankreich suchten. Die große Mehrheit kehrte nach dem Waffenstillstand zurück, doch noch im Jahre 1940 wurden im Rahmen der NS-Germanisierungspolitik wieder 45 000 Elsässer und 100 000 Lothringer ihrer Heimat verwiesen31. Auch in den folgenden Jahren hielten Krieg und Besatzungsmacht die französische Gesellschaft in Bewegung. Aus den von britischen und amerikanischen Verbänden zur Befreiung des französischen Territoriums bombardierten Städten wurden viele Einwohner evakuiert; andere blieben und mussten mit Geduld das Leid ertragen und die Wunden verbinden. Einschneidender für ganz Frankreich war jedoch die Anwerbung von Arbeitskräften durch die deutschen Besatzer angesichts des zunehmenden Arbeitskräftemangels in der deutschen Industrie, der Service du travail obligatoire (STO). Zu den 200 000 Franzosen, die sich freiwillig gemeldet hatten, kamen nun noch einmal zwischen 600 000 und 650 000 französische Zwangsarbeiter. Rassische Gründe hatten die gewaltsame Deportation von 75 721 französischen Juden nach Deutschland zur Folge, von denen nur 2500 nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager zurückkamen. Das Schicksal der Überlebenden spitzte sich insbesondere in den letzten Kriegsmonaten zu, als die Zwangsarbeiter, Gefangenen und Deportierten angesichts der vorrückenden alliierten Armeen oftmals von einem Lager ins nächste verschleppt wurden. Andere konnten zwar fliehen, mussten jedoch während ihrer Flucht durch Deutschland permanent um ihr Leben fürchten. Insgesamt 1,6 Millionen französische Kriegsgefangene waren zwischen 1940 und 1945 in 28 29 30 31
Vgl. Catturuzza 2008 [1268]. Beer 2005 [1265], S. 109. Miquel 2003 [365]. Vgl. zu den nicht immer übereinstimmenden Zahlen: Hochstuhl 1984 [361], S. 286 ff.; Erbe 2002 [358], S. 174 ff.; Vogler 1995 [377], S. 251 ff.; Parisse 1978 [368], S. 437 ff.
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Deutschland, zu Kriegsende waren es noch 1,2 Millionen, die bis Juni 1945 fast alle wieder heimgekehrt waren. Sie wurden vom neuen Ministerium für Kriegsgefangene, Deportierte und Flüchtlinge in Empfang genommen und in Auffanglagern untergebracht, bevor sie schließlich nach Hause zurückkehren konnten. Nach bisweilen mehrjähriger Abwesenheit verlief die Rückkehr in die Familie und die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt jedoch vielfach nicht ohne Komplikationen. Als der Krieg als Folge des „furiosen Gegenschlags gegen die nationalsozialistische Bevölkerungs- und Rassenpolitik im Osten“32 auch in Deutschland Millionen von Menschen aus ihren bisherigen Lebensverhältnissen riss, wurden Deutsche in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß zu Opfern. 15 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und zwangsumgesiedelte Deutsche mussten ab Herbst/ Winter 1944 ihre angestammte Heimat verlassen und reihten sich in eine der „wohl größten Wanderungsbewegungen in der neueren europäischen Geschichte“33 ein, bei der ca. 30 Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Die Hälfte der östlich von Oder und Neiße lebenden Deutschen sowie die volksdeutschen Minderheiten in Ost- und Südeuropa34 waren aus Furcht vor Racheakten in Richtung Westen geflohen. Wie berechtigt ihre Angst war, mussten in erster Linie die Frauen und Mädchen erfahren. Über 1,9 Millionen von ihnen wurden bei der Eroberung des Reichsgebietes und in den Folgemonaten durch die Soldaten der Roten Armee vergewaltigt35. Insgesamt starben über zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, die mit ihrem wenigen Hab und Gut in der Kälte des Winters zwischen die Fronten des Endkampfes gerieten und bisweilen nur mit großem Glück die Flucht überlebten. In der SBZ wurden 37,2 % von ihnen aufgenommen, in der britischen Zone 32,8 %, in der amerikanischen 28,2 % und in der französischen lediglich 1,4 %. Die soziale und berufliche Integration der Flüchtlinge in die deutsche Nachkriegsgesellschaft gelang relativ schell und wurde zu einer Grundlage für das sogenannte „Wirtschaftswunder“. Bis Ende der 1990er Jahre drang ihr spezifisches Leid jedoch nicht bis zum kollektiven Bewusstsein vor. Die Kommunikation der Erinnerung an Flucht und Vertreibung blieb auf die Familien beschränkt, die sich dem Schweigensdruck fügten und ihre Erinnerungen einkapselten: „Das Schweigen drückte weniger eine gelungene als eine erzwungene Integration aus: Man schwieg, um nicht als ,Fremder‘ in Distanz zu den Einheimischen zu geraten; man schwieg auch, weil man nicht mehr an die Vergangenheit denken wollte“36.
32 Wehler 2003 [434], S. 941. 33 Echternkamp 2003 [395], S. 41. 34 Vgl. Dokumentation der Vertreibung; Benz 1995 [1266]; Aust, Burgdorff 2003 [1264]. 35 Vgl. Naimark 1999 [422]; Kowalczuk, Wolle 2001 [412], S. 27 ff.; Merridale 2006 [264]; Gauger, Kittel 2006 [1272]. 36 Hirsch 2003 [1277], S. 21; vgl. für die SBZ/DDR: Amos 2009 [281].
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Einer unsicheren Zukunft gingen auch die ca. sechs Millionen Ausgebombten und Evakuierten entgegen, die in den letzten Kriegsmonaten vor den alliierten Luftangriffen aufs Land geflüchtet waren und bei ihrer Rückkehr vielfach vor den Ruinen ihres ehemaligen Zuhauses standen. Ungewiss war genauso das Schicksal der ca. zwölf Millionen Displaced Persons (DPs), bei denen es sich um Menschen handelte, die sich im Moment des Kriegsendes außerhalb ihres Landes befanden. In der Regel wollten diese in ihre Heimat zurückkehren oder sich eine neue Heimat suchen, doch gerade im Fall der sowjetischen DPs kam es zu Zwangsrepatriierungen37. Dabei bemühte sich besonders die französische Seite, jenen DPs, die nicht heimkehren wollten, eine Existenzgrundlage in Westeuropa zu verschaffen. Ungeklärt war zu diesem Zeitpunkt auch noch die Zukunft der während des „Dritten Reiches“ aus weltanschaulichen, rassischen und politischen Gründen ins Ausland emigrierten Deutschen. Zu integrieren galt es weiterhin die vielen Millionen von deutschen Kriegsgefangenen, von denen die letzten erst im Januar 1956 aus der Sowjetunion zurückkehrten. Nach der Kapitulation war ihre Zahl sprunghaft auf über 10 Millionen angestiegen, doch bis zum Frühjahr 1947 wurden bereits alle bis auf zwei Millionen entlassen. Die ehemaligen Wehrmachtssoldaten litten in alliierter Kriegsgefangenschaft unter Hunger, Kälte, Erschöpfung und Zwangsarbeit. Allein in sowjetischer Gefangenschaft verstarben etwa 1,3 Millionen oder blieben vermisst. Obgleich die Bedingungen in den westlichen Ländern in der Regel besser waren, kamen auch hier Tausende ums Leben. In Frankreich weilten zwischen 1945 und 1948 ca. eine Million ehemalige Wehrmachtssoldaten, deren Anwesenheit auf dem französischen Territorium ein Zeichen für den noch nicht abgeschlossenen Konflikt war. Die meisten von ihnen kehrten schließlich nach Deutschland zurück, nicht wenige blieben jedoch auch nach der Entlassung in Frankreich und suchten sich dort eine Arbeit, auch dies ein Zeichen für eine sich herausbildende Friedenskultur zwischen beiden Gesellschaften38. Die jahrelange Ungewissheit über das Schicksal ehemaliger Wehrmachtsangehöriger belastete die deutsche Nachkriegsgesellschaft nachhaltig, weil sie die Leidenserfahrung über den 8. Mai 1945 hinaus verlängerte und das Kriegsende in erfahrungsgeschichtlicher Perspektive hinausschob. Die Rückkehr der Überlebenden sorgte zwar für eine gewisse Beruhigung, doch verlief ihre Integration nicht immer schmerzlos. Viele fanden ein Zuhause vor, das ihnen fremd geworden war. Bezeichnend für diese gefühlte Entwurzelung war das Schicksal von Wolfgang Borcherts Hauptdarsteller Beckmann in „Draußen vor der Tür“ (1947), der nach überstandener Kriegsgefangenschaft zu jenen gehörte, „die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür“. 37 Vgl. Jacobmeyer 1985 [1280]. 38 Vgl. Cochet 1999 [1269]; Théofilakis 2004 [1296]; Théofilakis 2008 [1297]; Théofilakis 2008 [903]; Overmans 2008 [1288].
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Säuberungen Säuberungen verbinden in Phasen politischen Umbruchs unmittelbar die anbrechende neue Zeit, hier die Nachkriegszeit, mit der jüngsten Vergangenheit. Das galt in besonderem Maße für die Entnazifizierung in Deutschland, die auf Grundlage des in Potsdam von den Alliierten beschlossenen Minimalkonsenses durchgeführt wurde und das Ziel verfolgte, den Deutschen dauerhaft den „Bazillus des Nationalsozialismus“39 auszutreiben. Umgehend wurden daher die potenziell gefährlichen Deutschen (hohe Mitglieder von NSDAP, SS, Gestapo, SD, HJ und SA) interniert, politisch belastete Personen aus ihren Ämtern entfernt und die Kriegsverbrecher, soweit sie sich nicht durch Selbstmord der Bestrafung entzogen hatten, vor Gericht gestellt. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess stand die erste Garde des NS-Regimes vor dem Internationalen Militärgerichtshof, auf den sich Amerikaner, Sowjets, Briten und Franzosen am 8. August 1945 geeinigt hatten. Angeklagt wurden 22 ehemals führende nationalsozialistische Funktionsträger wegen Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und wegen Kriegsverbrechen. Dieses Verfahren besaß eine beispielhafte Aufklärungsfunktion und war – trotz des Vorwurfs der „Siegerjustiz“ und des Verstoßes gegen das Gebot „nullum crimen, nulla poena sine lege“ – präzedenzlos, wurden die Täter in Nürnberg doch ohne Rücksicht auf ihren Rang persönlich für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Die während der NS-Gewaltherrschaft verloren gegangenen Zivilisationsstandards sollten wiederhergestellt und Kriegsverbrechen durch Pönalisierung zukünftig eingeschränkt werden. Noch heute stellt die Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher – in zwölf Fällen zum Tode – einen wichtigen Präzedenzfall für die Ächtung neuer Angriffskriege dar40. Zu starken Spannungen zwischen Besatzern und Besetzten führte die bürokratische Handhabung der Entnazifizierung, die von jedem Alliierten in seiner Zone nach seiner Façon durchgeführt wurde41. Zur Inkarnation des Unrechts wurde dabei der zuerst in der amerikanischen Zone eingeführte Fragebogen, mit dem die US-Besatzungsmacht die Vergangenheit der Deutschen in ihrer Zone durchleuchten wollte, um im Anschluss über ihre Weiterverwendung zu entscheiden. Fünf Kategorien wurden nach der bis März 1946 durchgeführten Auswertung von immerhin 1,39 Millionen Fragebögen etabliert, nach der sich dann das Strafmaß richtete: (I) Hauptschuldige, (II) Belastete, (III) Minderbelastete, (IV) Mitläufer oder (V) Entlastete. Die Amerikaner beabsichtigten anfänglich eine systematische Entnazifizierung auf Grundlage der Direktive Nr. 1067 JCS (Joint 39 Echternkamp 2003 [395], S. 160. 40 Vgl. Wolfrum 2003 [182]; Weinke 2006 [1337]; Wieviorka 2006 [1339]; Görtemaker 2007 [1314]. 41 Vgl. Vollnhals 1991 [1335]; Borgstedt 2001 [1305]; Borgstedt 2008 [1309]; Vincent 2008 [1331].
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Chief of Staff), doch verfügten sie infolge des ausbrechenden Kalten Krieges weder über die Zeit noch über die erforderlichen finanziellen Mittel. Ab März 1946 wirkten schließlich an den Spruchkammerverfahren auch deutsche Einrichtungen als Laiengerichte mit. Die Franzosen praktizierten ihrerseits eine individuelle und pragmatische Entnazifizierung, zu der sie von Beginn an unbescholtene Deutsche hinzuzogen, so dass sich der Begriff der „Selbstsäuberung“ durchsetzte, um den Prozess in der französischen Besatzungszone zu charakterisieren. Anfänglich fand dieses flexiblere Verfahren bei den Deutschen eine größere Akzeptanz, doch als die Franzosen und die Briten ab Februar 1947 auf die amerikanische Linie einschwenkten, schwärzte sich auch ihr Bild ein42. Die Entnazifizierung endete in der Bundesrepublik offiziell im Jahre 1951, doch war dieser Prozess faktisch bereits im Frühjahr 1948 abgeschlossen worden, als der Kalte Krieg neue Prioritäten schuf. In diesen Jahren war es zu mehr als 3,6 Millionen Verfahren gekommen, in denen 1667 Personen als Hauptschuldige, 23 000 als Belastete, 150 425 als Minderbelastete und über eine Million als Mitläufer (95 %) eingestuft wurden. Vielen Deutschen drängte sich nach diesen Verfahren der Eindruck auf, dass sie die Minderbelasteten und Mitläufer über Gebühr benachteiligten, während die später verhandelten hohen Funktionäre mit gelinderen Strafen davonkamen. Die Entnazifizierung erschien ihnen ungerecht und inexakt, so dass die Verfahren und Prozesse eine Solidarisierung zwischen Mitläufern und immer noch dem Nationalsozialismus anhängenden Personen provozierten43. Diese Solidarität dehnte sich schließlich bis hin zu den Opfern des „Dritten Reiches“ aus, die den Angeklagten „Persilscheine“ ausstellten. Aus diesen Gründen wird die Entnazifizierung bisweilen auch als „Mitläuferfabrik“ bezeichnet44. Mag man die Entnazifizierung auch als „Strohfeuer“ bezeichnen, das nicht zu einem tiefgreifenden Austausch der Funktionseliten in Wirtschaft, Justiz, Verwaltung und Erziehungswesen geführt hat, so sollte auch nicht von einem Fehlschlag gesprochen werden. Axel Schildt weist auf die lang andauernde Existenzunsicherheit der Betroffenen hin, die sie in Zukunft in der Regel davon abhielt, sich ein weiteres Mal für dem Nationalsozialismus nahestehende Ideen zu engagieren45. Mit ihrem Wohlverhalten erkauften sie ihre Integration in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, die ihrerseits diesen Preis zu zahlen bereit war, um die politische Stabilität zu sichern. Integration stand auch in den allermeisten Fällen am Ende des Entnazifizierungsprozesses in der SBZ/DDR ab Sommer 1947, politisches Wohlverhalten und Engagement für den neuen Staat vorausgesetzt. So waren 1953 mindestens ein 42 Vgl. Grohnert 1991 [1315]; Möhler 1992 [1324]. 43 Reichel 2001 [1240], S. 36. 44 Vgl. Niethammer 1982 [1286]. Der „Mitläufer“ wurde sogar in den Kreis der deutschen Erinnerungsorte aufgenommen; vgl. Schwan 2001 [1247]. 45 Vgl. Schildt 2007 [425], S. 3.
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Viertel der Mitglieder der SED ehemals Angehörige der NSDAP oder ihrer Nebenorganisationen gewesen; andere fanden Aufnahme in der NDPD, einem gezielt gegründeten Auffangbecken für ehemalige NSDAP-Mitglieder. Trotz dieser Zahlen war die Säuberung im Osten zweifellos nachhaltiger, war die harte Entnazifizierung sowohl für die Besatzungsmacht als auch für die SED doch der schlagende Beweis für den Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und den vollzogenen antifaschistischen Wandel auf dem Weg in eine sozialistische Zukunft. In diesem Zusammenhang kam der 1935 von der Komintern formulierten Faschismusdefinition eine tragende Rolle zu, erlaubte sie doch in ihrer universellen Dimension eine Vereinnahmung der Vergangenheit zur Legitimation der Gegenwart: „Mit der verbindlichen Deutung des Faschismus als logischer Konsequenz des Imperialismus wurde der Aufbau des Sozialismus zur einzigen konsequenten Fortführung des antifaschistischen Kampfes“, der sich auch gegen die BRD – als „Machtinstrument der gleichen Klassenkräfte, die den Faschismus hervorgebracht haben“ – richten musste46. So war die Entnazifizierung zusammen mit den Bodenreformen und den Enteignungen integraler Bestandteil eines übergeordneten Projekts, das die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzung zum Ziel hatte. Bis zu ihrem Ende im Februar 1948 wurden 520 734 ehemalige Nationalsozialisten entlassen bzw. nicht wieder eingestellt, über 10 000 Angehörige der SS, 2000 der Gestapo und 4300 „politische Führer“ der NSDAP nach offiziellen Angaben der SED angeklagt, insgesamt 12 807 verurteilt, darunter 118 zum Tode47. Damit war es zur breiten Auswechslung des verantwortlichen Personals in Justiz, Wirtschaft, Verwaltung und Bildungswesen gekommen. Über 150 000 entnazifizierte Frauen und Männer kamen in eines der zehn „Speziallager“, die dem sowjetischen Geheimdienst unterstanden und wie Buchenwald und Oranienburg ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager waren; Tausende arbeitsfähige Gefangene wurden von hier aus in die UdSSR zur Zwangsarbeit verschleppt. Handelte es sich bei den Insassen in der Anfangszeit zumeist noch um belastete Nationalsozialisten, so dienten die Lager ab 1946 zunehmend der „Sicherung der sowjetischen Machtpolitik in Deutschland“48. Verhaftet wurden jetzt im Rahmen der Entnazifizierung tatsächliche oder vermeintliche Kritiker bzw. Oppositionelle, die sich der Sowjetisierung der SBZ entgegenstellten und als „bürgerliche Elemente“ diffamiert wurden49. Setzte die Säuberung in Deutschland – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erst mit dem Ende der Kampfhandlungen und dem Eintreffen der Alliierten ein, begann diese in Frankreich bereits vor der Libération50. Mit der Verordnung des in
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Heim 2005 [1316], S. 425. Weber 2000 [37], S. 10. Mählert 1998 [417], S. 29. Vgl. Meinicke 1984 [1322]; Welsh 1989 [1338]; Wille 1993 [1341]; Rössler 1994 [1326]; van Melis 1999 [1323]; Vogt 2000 [1334]. 50 Vgl. Henke, Woller 1991 [1317].
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Algier etablierten Comité Français de la Libération Nationale (CFLN) vom 18. August 1943 wurde eine Säuberungskommission eingesetzt, die verschiedene auf nordafrikanischem Boden festgesetzte Vichy-Beamte aburteilte51. In der Metropole begann die Épuration in vielen Fällen bereits, als die deutsche Wehrmacht an allen Fronten auf dem Rückzug war. Jene „wilden Säuberungen“ („épuration sauvage“) erfolgten zu diesem Zeitpunkt in der Regel ohne gerichtliche Grundlage. So konnte der amerikanische Historiker Peter Novick herausarbeiten, dass es bereits vor der alliierten Landung in der Normandie zu 5234 Exekutionen gekommen war, während die Zahl für die Monate danach niedriger lag (4439)52. Dass die „épuration sauvage“ mit der Befreiung von der deutschen Besatzung nicht zwangsläufig ihr Ende fand, lag vor allem an den langsam mahlenden Mühlen der Justiz, die die Mitglieder der Résistance nicht selten zur Verzweiflung trieb53. Sie wollten schnell und heftig zuschlagen, um die offenen Wunden der Besatzung rasch vernarben zu lassen und Vichy weitgehend aus dem öffentlichen Raum zu entfernen54. Henry Rousso sieht in der reinigenden Wirkung einer strengen Säuberung eine vielleicht unverzichtbare Grundlage für die Überwindung der vorangegangenen Mediokrität und damit den Ausgangspunkt für den Weg zu einer wiederaufgerichteten Nation. Zugleich kann sie als eine Form der Wiedergutmachung für die Opfer des nationalsozialistischen Terrors und des Vichy-Regimes verstanden werden55. Unter den Opfern fanden sich überdurchschnittlich viele Landarbeiter, Kleinbauern und Handwerker, während Industriearbeiter, Freiberufler und Führungskräfte unterdurchschnittlich vertreten waren. Das ländliche Frankreich zahlte somit den größten Blutzoll, während die Anonymität der größeren Städte die Verfolgung und Denunziation schwieriger gestaltete. Zudem gelang es den wohlhabenderen Kreisen eher, ihre Anwälte und Netzwerke zu mobilisieren, so dass sie sich oftmals ungerechtfertigt von ihrer Schuld reinwaschen konnten. Insgesamt kamen durch diese Form der Säuberung etwa 10 000 Franzosen ums Leben. Ein besonderer Platz unter den Opfern der Säuberung soll hier den ca. 20 000 zumeist jungen Frauen eingeräumt werden, die ein Verhältnis mit einem deutschen Soldaten unterhalten hatten („horizontale Kollaboration“) und jetzt als unreine Elemente gebrandmarkt wurden56. Sie sahen sich dem Vorwurf ausge-
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Buttin 1948 [1309]. Novick 1985 [1287]. Buton 2004 [1308]. Über den Charakter der Épuration und ihre Rechtmäßigkeit sind gerade in den letzten Jahren maßgebliche Studien veröffentlicht worden; vgl. Kupferman 1980 [1319]; Lottmann 1986 [1321]; Bourdrel 1988/1991 [1307]; Assouline 1990 [1301]; Rousso 1993 [1328]; Baruch 2003 [1303]; Vonau 2005 [1336]; Vergez-Chaignon 2010 [1330]. 55 Die „wilden Säuberungen“ entwickelten sich darüber hinaus schnell zu einem Wettlauf der verschiedenen politischen Gruppierungen, die sich in dieser Umbruchphase mit ihren revolutionären Zügen politische Legitimation für die Zukunft verschaffen wollten; vgl. Rousso 1992 [1327]. 56 Virgili 2004 [1333]; Virgili, Rouquet, Voldman 2007 [1299].
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setzt, die Nation verraten, sie mit ihrem eigenen Körper besudelt zu haben, als gehöre ihr Körper der nationalen Gemeinschaft. Ihre Ankläger schoren ihnen zur Strafe öffentlich das Kopfhaar; sie wurden durch die Straßen getrieben, oft nackt zur Schau gestellt und in Einzelfällen gar gesteinigt. Nicht selten befanden sich unter den Männern, die sich dieser Gewalttaten rühmten, sogenannte „Résistants de la dernière heure“, die zuvor mit den Deutschen dunkle Geschäfte gemacht hatten. Indem die Schmach über die vielfältigen Arrangements mit den deutschen Besatzern auf die machtlosen Frauen abgewälzt wurde, versuchten sich diese „verspäteten“ Widerstandskämpfer reinzuwaschen57. Durch die reinigende Wirkung dieser virilen Formen von Justiz sollte die kollektive Schuld einer Bevölkerung aufgehoben werden, die tagtäglich mit den Deutschen hatte umgehen müssen. Mit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung gingen rasch auch die „wilden Säuberungen“ zurück. Die Justiz internierte oft präventiv verdächtige Personen und setzte Wahrheitsfindungskommissionen ein, welche die Vergangenheit der Internierten durchleuchteten und im Anschluss ihr Urteil über das weitere Verfahren abgaben. Auf diese Weise rettete die Justiz viele Franzosen vor der Lynchjustiz bzw. der Exekution. Insgesamt wurden zwischen September 1944 und April 1945 über 126 000 Personen interniert, von denen 55 % schließlich wieder freigelassen und die übrigen 45 % der Justiz übergeben wurden. Anders als der Militärgerichtshof in Nürnberg unterließen es Politik und Justiz in dieser Phase jedoch, die Verbrechen zu definieren, bevor sie die Verantwortlichen verurteilten. Weder wurde die Frage gestellt, was ein Kollaborateur ist58, noch wurde nach den Verbindungen zwischen Kollaboration und nationaler Revolution gesucht. War der Beginn der Säuberungen in Frankreich von heftiger Gewalt geprägt gewesen, verlief sich ihr Ende in allgemeiner Gleichgültigkeit und Überdrüssigkeit. Größeres Interesse fanden nur noch die Prozesse gegen die führenden Köpfe der Kollaboration. Der mittlerweile 88 Jahre alte Philippe Pétain, der vor den nahenden alliierten Truppen nach Sigmaringen geflohen war und dort am 23. August 1944 eine Délégation gouvernementale pour la défense des intérêts français en Allemagne gebildet hatte59, wurde am 15. August 1945 zum Tode verurteilt, doch umgehend von de Gaulle persönlich begnadigt, so dass er seine lebenslange Haft auf der Île d’Yeu bis zu seinem Tod am 23. Juli 1951 absitzen konnte. Hingerichtet wurde hingegen am 15. Oktober 1945 Pierre Laval, der letzte Ministerpräsident des Vichy-Regimes. Mit diesen Strafmaßen rechnete das „andere Frankreich“ mit der Kollaboration ab. Die IV. Republik richtete den État français und wollte mit der Aburteilung der Hauptverantwortlichen den Bruch mit der Vergangenheit dokumentieren, gleichzeitig aber die Kontinuität der Republik über das Regime von Vichy hinweg belegen. 57 Vgl. Martens 2006 [364]. 58 Vgl. Ory 1977 [366]. 59 Rousso 1980 [373]; Cointet 2003 [357].
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Priorität vor einer konsequenten und lang anhaltenden Säuberungspolitik besaßen in der zweiten Jahreshälfte 1945 aber schon längst der Wiederaufbau und die Rückkehr Frankreichs in den Kreis der Großmächte, wofür die innere Stabilität des Landes eine wichtige Grundlage war. Der General traf mit dieser Haltung die Mehrheitsmeinung der Franzosen, die den Weg in die Normalität einschlagen und den Blick in die Zukunft richten wollten, was so manchem Kollaborateur zugute kam: „Je länger sich ein Kollaborateur diesen Säuberungsmaßnahmen entziehen konnte, um so glimpflicher kam er davon“60. Bis Dezember 1948 waren 69 % der Verurteilten wieder auf freiem Fuß; die Säuberungstribunale verschwanden bis Januar 1951 ohne großes öffentliches Aufsehen. Als am 6. August 1953 das Amnestiegesetz verabschiedet wurde, befand sich nur noch 1 % der Verurteilten hinter Gitter. Bereits im Jahre 1950 war die Reintegration von vormals verurteilten Beamten aus der Verwaltung und den Ministerien abgeschlossen worden61. Versöhnung erhielt den Vorzug vor weiter gehenden Säuberungen und sollte die innergesellschaftlichen Gräben schließen helfen62.
Vom memoriellen Umgang mit der Vergangenheit Der „Griff nach der Vorherrschaft über Europa“63 endete für die Deutschen am 8. Mai 1945 in einer totalen Niederlage. Während dieses Datum im französischen Erinnerungshaushalt den militärischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland bzw. den ehemaligen Besatzer versinnbildlicht und zum Staatsfeiertag erklärt wurde, taten sich die Deutschen über Jahrzehnte eher schwer mit dieser Interpretation, stand dieser Tag für die große Mehrheit doch eher für Zusammenbruch, Kapitulation und Niederlage des eigenen Landes64. Dass die DDR im Jahr 1950 den 8. Mai zum Tag der Befreiung erklärte und sich damit in einem geschichtspolitischen Geniestreich an die Seite der Sieger stellte65, ändert nichts an diesem erfahrungsgeschichtlichen Befund. Eine wichtige Etappe auf dem westdeutschen Weg zu einer geschichtspolitischen Umwertung bildete die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, so dass dieser Tag im Rückblick schließlich auch in der Bundesrepublik zum Tag der Befreiung mutieren konnte. Waren die „langen Schatten des Nationalsozialismus“ in der deutschen Nachkriegsgesellschaft auch nicht zu übersehen66, so war doch – anders als nach 60 Weisenfeld 1997 [379], S. 29. 61 Vgl. zur Verurteilung von Ministern und hohen Beamten den Überblick bei: Rousso 2007 [374], S. 104 f. 62 Vgl. als Überblick mit Fallbeispielen aus dem Elsass: Kohser-Spohn 2009 [1318], S . 370 –388. 63 Winkler 2000 [436], S. 116. 64 Vgl. Schröder 1997 [1246]; Kirsch, 1999 [1223]; Hurrelbrink 2005 [1219]. 65 Vgl. Wolle 2004 [438], S. 3 f. 66 Glienke, Paulmann, Perels 2008 [1376].
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dem Ersten Weltkrieg – für deutschen Revanchismus im Jahre 1945 kein Platz mehr, denn die Niederlage war zu eindeutig und die Präsenz der alliierten Truppen für jeden sichtbar. Durch die Verbrechen an den europäischen Juden und den anderen Völkern in von der Wehrmacht besetzten Gebieten richtete sich der Blick der Weltöffentlichkeit auf die Deutschen, die nunmehr ,von außen‘ mit ihrer Schuld konfrontiert wurden“67. Nachdem nicht wenige noch kurz zuvor in großdeutschen Machtphantasien geschwelgt hatten, mussten sie an diesem Tiefpunkt der deutschen Geschichte erleben, wie ihr Vaterland in den Abgrund eines besiegten und am Boden liegenden Objekts in den Händen der Sieger abstürzte, das seine Souveränität und zusätzlich 24 % seines Territoriums von 1937 verlor, auf dem mit ca. 10 Millionen Menschen etwa ein Siebtel der Vorkriegsbevölkerung gelebt hatte. Zu den wenigen Deutschen, die das Kriegsende bereits zum damaligen Zeitpunkt als Befreiung empfanden68, gehörten die Überlebenden der Konzentrationslager und der nationalsozialistischen Gefängnisse sowie die (zu wenigen) Regimegegner und Widerständler, die sich nun nicht mehr vor Repressionen zu fürchten brauchten. Wie die Deutschen das Kriegsende erlebten, hing also ganz entscheidend von ihrer persönlichen Situation, ihrem Aufenthaltsort, ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrem Verhältnis zum gerade untergegangenen Regime ab. Diese bisweilen widersprüchlichen Reaktionen zeichnen auch die von vielen damals beschworene, mittlerweile jedoch zum Mythos degradierte „Stunde Null“ aus: Für die einen war sie Ausdruck totaler Hoffnungslosigkeit angesichts von Zerstörung, Niederlage und Perspektivlosigkeit, für die anderen Anlass zur Hoffnung auf einen grundlegenden Neuanfang69. Aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive spricht Konrad H. Jarausch daher zu Recht von einer „Mischung aus Erleichterung, Hoffnung und Angst – Erleichterung wegen des eigenen Überlebens, Hoffnung auf eine bessere Zukunft und Angst vor einer möglichen Bestrafung“70. An eine bessere Zukunft dachten im Moment des Kriegsendes die wenigsten Deutschen; die meisten atmeten erst einmal durch, bedeutete die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht doch nicht nur das Ende der nächtlichen Luftangriffe und der Boden- bzw. Häuserkämpfe, sondern zugleich auch das Ende des nationalsozialistischen Terrors, der sich in den letzten Wochen des „amoklaufenden Regimes“71 immer stärker auch gegen die eigene Bevölkerung gerichtet hatte. Bei nicht wenigen ehemaligen Trägern des NS-Regimes endete die Desillusion im Selbstmord; andere flüchteten sich in Selbstmitleid bzw. Selbstentlastungsmechanismen. Neben einer Indifferenz gegenüber den Opfern gehörte zu dieser Selbst67 68 69 70 71
Gilcher-Holtey 2000 [1214], S. 61. Vgl. Defrance 2000 [768], S. 154. Vgl. Klessmann 2000 [1224]. Jarausch 2005 [1281], S. 231. Wolfrum 2006 [437], S. 20.
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viktimisierung, dass sich nach einer bis zu einem Hitlerkult gesteigerten Loyalität im Anschluss an die „Enttäuschungserfahrung“ das Gefühl breitmachte, vom „Führer“ verraten worden zu sein. Es ließ sich – so Hans Mommsen – aus einem apologetischen Bedürfnis heraus eine „Eskamotierung der Verantwortung nach oben“ beobachten72, um sich der moralischen Verantwortung für die nach und nach ans Tageslicht tretenden Verbrechen zu entziehen. Diese Strategie der Externalisierung führte dazu, dass der Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus lange zwischen Erinnerungspflicht und Verdrängungsneigung, zwischen Schweigen und einer selektiv kommunizierten Vergangenheit hin- und herpendelte, in der die jüdischen und ausländischen Opfer keinen Platz fanden73. In der SBZ/DDR wurde das kollektive Gedächtnis an den Krieg zunehmend in den parteilichen Erinnerungsbahnen der SED kanalisiert, für die das normierte Gedenken ein Mittel war, mit dem die kommunistische Parteiherrschaft abgesichert werden sollte74. Frankreich hatte sich 1944/45 einer dreifachen Belastung zu entledigen, der deutschen Besatzung, des Zweiten Weltkriegs und des autoritären Kollaborationsregimes von Vichy unter der Führung von Marschall Philippe Pétain. Ausgangspunkte für die Befreiung waren die alliierten Landungen in der Normandie am 6. Juni 1944 und in der Provence ab dem 15. August 194475. Dieser alliierten Militärmacht, zu der auch ca. 500 000 französische Soldaten – sie stammten zumeist aus Übersee – zählten, war die deutsche Wehrmacht in der Folge immer weniger gewachsen und sah sich darüber hinaus einer Résistance gegenüber, die seit den ersten Anzeichen für eine deutsche Niederlage einen verstärkten Zulauf verzeichnen konnte. Stadt um Stadt wurde unter dem Jubel und dem Überschwang der einheimischen Bevölkerung über die einrückenden Truppen nun befreit, Freudentaumel in den Straßen bestimmte diesen „drôle de paix“, die Trikolore schmückte als Zeichen wiedergefundener Freiheit die Häuser in mehr und mehr Städten Frankreichs, Glockengeläut und Musik schallten durch die Straßen, patriotische Zeremonien fanden in fast allen französischen Städten und Dörfern statt und waren Ausdruck von ehrlicher Freude und tiefer Erleichterung. Wie uneinheitlich aber die Erfahrungen zu dieser Zeit noch waren, dokumentiert der 25. August 1944: Während an diesem Tag die Befreiung von Paris mit großem Pomp gefeiert wurde, massakrierte eine deutsche Einheit 124 Einwohner des Dorfes Maillé unweit von Tours, nachdem bereits am 10. Juni Oradour-sur-Glane dem Erdboden gleichgemacht worden war76. Zum Jahreswechsel 1944/45 war schließlich fast das gesamte französische Territorium befreit; zu den wenigen Ausnahmen gehörten u. a. die
72 Mommsen 2003 [1233], S. 103. 73 Vgl. Solchany 1997 [1248]; Assmann, Frevert 1999 [1196]; Reichel 2001 [1240]; König 2003 [1225]; Longerich 2007 [1230]; Dörner 2007 [1205]. 74 Vgl. Danyel 1995 [1204]; Herf 1997 [1218]. 75 Simonnet 2004 [355]. 76 Vgl. Malinvaud, Plas, Pascal 2000 [1231].
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Atlantikhäfen La Rochelle und Saint-Nazaire, die für die nach Deutschland drängenden amerikanischen Truppen keine strategische Priorität mehr besaßen und deshalb erst nach dem 8. Mai 1945 kapitulierten. Dafür befand sich die 1. Panzerdivision von General de Lattre de Tassigny bereits seit dem 19. März 1945 auf deutschem Boden und blieb dort bis zur Auflösung des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF) am 14. Juli77. Am Ende dieses mehrschichtigen Übergangs vom Krieg zur Nachkriegszeit standen die Befreiung, die Rückkehr der Republik und die Aufnahme in den Kreis der Siegermächte. Freude, Gewalt und Angst mischten sich in Anbetracht einer ungewissen Zukunft78. Die Libération und die Kapitulation des „Dritten Reiches“ hatten noch nicht umgehend den inneren und äußeren Frieden gebracht, denn um zu der so sehr ersehnten Normalität zurückzukehren, bedurfte es zuerst einer kulturellen, mentalen und materiellen Demobilisierung. Die Toten waren zu zählen, die Rückkehrer zu integrieren, die Familien wieder zu vereinen und die Bilder des Krieges aus den Köpfen zu vertreiben. Diese kollektive Aufgabe rieb sich an den unterschiedlichen Erfahrungen, die Franzosen während des Zweiten Weltkriegs gemacht hatten79, war es für die mentalen Aufräumarbeiten doch von erheblicher Bedeutung, ob der Einzelne Soldat, Widerstandskämpfer, Häftling, Deportierter, Zwangsrekrutierter oder Zwangsarbeiter gewesen war80. Zu differenzieren galt es jedoch nicht nur bei den Überlebenden, sondern auch bei den Opfern, wie Henry Rousso betont: „Es gab große Unterschiede zwischen einem im Juni 1940 gefallenen Soldaten, einem in Buchenwald umgekommenen Widerstandskämpfer und einer in Auschwitz vergasten Familie“81. Doch die Realität war zu Kriegsende eine andere. Berichtet wurde über das Schicksal der „Franzosen“, der „Deportierten“, der „Häftlinge“82; eine Differenzierung des Leids unterblieb83. Die „gewöhnlichen Schrecken“ bestimmten das Bild vom Leid der Deportierten. Weitgehend ausgeblendet blieben hingegen die Erfahrungen der Massenvernichtung und der Extremtraumatisierung. Die den Gaskammern entkommene spätere erste Präsidentin des Europaparlaments, Simone Veil, erlebte nach ihrer Rückkehr eine französische Gesellschaft, die sich unfähig zur Kommunikation zeigte und Wahrnehmungssperren aufwies84. Da der großen Mehrheit der Franzosen die psychologischen und intel77 78 79 80 81 82 83 84
Willis 1962 [500], S. 6 f. Vgl. Azéma, Wieviorka 1993 [348]; Buton 2004 [355]; Knapp 2007 [363]. Vgl. Burrin 1995 [354]; Cointet 2000 [356]; Rousso 2007 [374]. Vgl. Herbert 1999 [1274]; Spoerer 2001 [1295]; Franck 1996 [359]; Barcellini 1996 [1199]; Dreyfus 2005 [1206]. »La guerre est finie« Entretien avec Henry Rousso, in: Les Collections de l’Histoire »Les drames de l’été 1945. Les procès, le deuil et l’espoird« 28 (2005), S. 7. Vgl. Nicole Gauthier, Comment la presse française a (dé)couvert la libération des camps, in: Libération, 20. 1. 2005. Wieviorka 1996 [1258]. Vgl. Veil 2007 [68], S. 98 ff.; Wieviorka 2003 [1259], S. 170.
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lektuellen Werkzeuge zu einem besseren Verständnis fehlten, sahen sich die Deportierten immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass ihnen nicht ausreichend Aufmerksamkeit in Anbetracht ihres Leidens entgegengebracht wurde85. Sie erlebten eine tief gespaltene französische Gesellschaft, die das Trauma der Niederlage und der Besatzung so schnell wie möglich vergessen wollte86, und einen Staat, der das Regime von Vichy für illegal und illegitim erklärte und es auf diese Weise über Jahre tabuisierte: „Diese Ausgrenzung der Regierung der Jahre 1940 – 44 aus der französischen Geschichte ermöglichte es, die Résistance als einzige legitime Repräsentantin Frankreichs zu sehen und zugleich die nationale Identität und Kontinuität über den geleisteten Widerstand zu definieren“87.
Viele Überlebende der Vernichtungslager waren dabei hin- und hergerissen zwischen dem eigenen Verlangen, das Erlebte mitzuteilen, und der eigenen Unfähigkeit, es in Worte zu fassen. Jene wenigen, die in der Lage waren Zeugnis abzulegen, stießen sich vielfach an dem Schweigen anderer Überlebender. Nach Marginalisierung, Stigmatisierung und Deportation schien für die Mehrheit der überlebenden französischen Juden das Schweigen ein Weg, um in die nationale Gemeinschaft zurückzufinden88. Man wollte der von der großen Masse herbeigesehnten Rückkehr zur Normalität nicht im Weg stehen und nahm dafür in Kauf, dass das spezifische Leid der jüdischen Opfer über lange Jahre ausgeblendet blieb. Keinen Platz im offiziellen Erinnerungsdiskurs der Nachkriegszeit fanden die „Kinder der Liebe“, die aus Beziehungen zwischen deutschen Soldaten und französischen Frauen hervorgegangen waren und in Frankreich das Licht der Welt erblickt hatten89. Ihnen haftete jetzt der Makel an, „Kinder der Schande“ zu sein, passten doch die Liebesbeziehungen zwischen deutschen Soldaten und Französinnen nicht zu dem in der Nachkriegszeit so gerne präsentierten Bild des moralischen Siegers – und schon gar nicht die daraus hervorgegangenen Kinder90. Ihre Erinnerungen fördern heute die Pluralisierung der deutsch-französischen Erinnerungslandschaft91 – manchen mögen sie gar wie Vorboten der Aussöhnung erscheinen –, in der Nachkriegszeit fanden ihre Stimmen jedoch kein Echo; ein Schicksal, das sie mit jenen Kindern teilen mussten, die aus den Bezie85 Lalieu 2001 [1228]. 86 Vgl. Conan, Rousso 1996 [1203]; Rousso 1990 [1243]; Frank 2000 [1210]; Gilzmer 2002 [1215]; François 2003 [1209]; Pfeil 2006 [1238]. 87 Gilcher-Holtey 2000 [1214], S. 63; vgl. zur Historisierung der Résistance: Bédarida 2003 [102], S. 165 ff. 88 Vgl. Wieviorka [1259] 2003. 89 Mit dem Schicksal der der Besatzungskinder in den Niederlanden, Dänemark, aber vor allem in Norwegen beschäftigt sich Drolshagen 2005 [788]. 90 Vgl. Virgili 2005 [912]; Virgili 2009 [913]; Picaper, Norz 2004 [1289]. 91 Im Februar 2009 machte die Bundesregierung dieser Personengruppe das Angebot, die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben zu können.
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hungen zwischen den während des Krieges in Deutschland weilenden französischen Zwangsarbeitern bzw. Kriegsgefangenen und deutschen Frauen hervorgegangen waren. Ihre deutschen Mütter schwiegen in der Regel über die wahre Herkunft der Väter, nachdem sie gerade in den letzten Kriegsjahren vielfach Opfer von Verfolgung und Denunziation geworden waren92. Wenig besser erging es den Kindern, die mit ihren deutsch-französischen Elternpaaren nach Kriegsende nach Frankreich übersiedelten, wo ihnen von den Familien ihrer lange abwesenden Väter oftmals Feindseligkeit entgegenschlug93. Auf empfangsbereite Ohren mussten auch die Elsässer lange warten, die dem Zweiten Weltkrieg nur mit tiefen seelischen Wunden entkommen waren. Die besondere Situation dieses „Landes dazwischen“ hatte Traumata und tragische Schicksale geschaffen, die nicht nur das Verhältnis des Elsasses zu Deutschland über mehrere Jahrzehnte belasten sollten, sondern im besonderen Maße auch die Beziehungen der Elsässer zu den „Français de l’intérieur“94. Hier herrschte eine komplexe Bewusstseinslage, hatte das Elsass doch wie 1870 und 1914 den Krieg auf der Seite der Verlierer beendet, um sich aber schließlich wieder auf der Seite der Sieger zu befinden. Nach Kriegsende bedurfte es nicht nur großer materieller Anstrengungen, sondern zugleich eines politisch-historischen Taktgefühls, um die Wunden der Vergangenheit vernarben zu lassen und die Elsässer untereinander zu versöhnen, denn ihre Schicksale und Erfahrungen waren uneinheitlich95. So galt es, die in der Provinz Gebliebenen und die nach der Evakuierung zurückgekehrte Bevölkerung mit den demobilisierten Zwangseingezogenen, den Malgré-nous (André Weckmann: „Der Unterdrückte musste die Stiefel der Unterdrücker anziehen“), den aus den deutschen und sowjetischen Gefangenenlagern entlassenen Kriegsgefangenen, den Widerstandskämpfern, den in ganz Europa und den im übrigen Frankreich versprengten Elsässern wieder zusammenzuführen. Diese geographischen, kulturellen und mentalen Entwurzelungen durch die Evakuierungen, die Schicksale der Malgré-nous (vgl. Kap. I.4) und die Germanisierungsversuche der Nationalsozialisten hatten die moralische Widerstandskraft der Elsässer noch weiter beeinträchtigt und hinterließen im Jahre 1945 ein Erbe, das mit dem restlichen schwerlich in Einklang zu bringen war: „Die Nichtübereinstimmung des offiziellen kollektiven Gedächtnisses und der elsässischen Erinnerungen war stärker als die vordergründige patriotische Einhelligkeit. 92 Vgl. Picaper 2005 [1290]. 93 Vgl. Cochet 2005 [1270]. 94 Symptomatisch für die Spannungen war der Prozess von Bordeaux (1953) gegen die das Massaker von Oradour-sur-Glane verantwortende SS-Panzerdivision „Das Reich“, in deren Reihen auch über zwölf Elsässer (Malgré-nous) gedient hatten. Während Politik und Justiz keine Einwände gegen einen gemeinsamen Prozess hatten, forderten alle führenden politischen Vertreter (außer den Kommunisten) aus dem Elsass, die Verhandlungen gegen die französischen (elsässischen) Angeklagten von dem Verfahren gegen die deutschen Täter abzutrennen; vgl. Vonau 2003 [692]; Moisel 2004 [645], S. 148 ff. 95 Vonau 2005 [1336].
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Die eigenen, authentischen Erfahrungen konnten nicht artikuliert werden, dafür mussten die Erinnerungen der Anderen, andere Erinnerungen übernommen werden“96.
Mit der spezifischen Last ihrer Vergangenheit gingen Deutschland und Frankreich beide – angesichts der aus dem Krieg resultierenden Bedingungen – in eine ungewisse Zukunft. Die französische Republik konnte sich in ihrem Status als Siegermacht einrichten, musste aber zugleich ihre Integrität und die von de Gaulle angestrebte „Größe“ der Nation wiederfinden97. Im besetzten Deutschland stand nach der totalen Niederlage die Zukunft der Nation allgemein in Frage. Gedanken über das Verhältnis zur eigenen Nation bestimmten jedoch nicht den Alltag der Nachkriegszeit. Beide Gesellschaften hatten neben dem Wiederaufbau des eigenen Landes in erster Linie gewaltige Integrationsleistungen zu bewältigen. Auf beiden Seiten des Rheins hatte der Krieg zu einer sozialen Desintegration geführt, die sich parallel zur politischen Neuordnung zur größten Herausforderung entwickelte. Die Franzosen konnten beim Wiederaufbau ihres politischen Lebens an ihre republikanischen Traditionen anknüpfen, während der Weimarer Republik in Deutschland der Ruch des Untergangs und des Versagens anhing, so dass es den Vätern des Grundgesetzes darum gehen musste, die „Lehren aus Weimar“ zu ziehen und die strukturellen Schwächen der Weimarer Verfassung zu beheben, um den (West-)Deutschen eine streitbare und wehrhafte Demokratie zu geben98. Die Inkommensurabilität von Vichy-Regime und „Drittem Reich“ steht außer Frage, doch gerade auf biographisch-existentieller Ebene lassen sich Ähnlichkeiten im Umgang mit der gerade überwundenen Vergangenheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht übersehen. Franzosen und Deutsche richteten auf ihre Weise den Blick vor allem nach vorne, suchten nach Lösungen für die materiellen Probleme und erinnerten sich an den Krieg nur auf sehr selektive und sprachlich dekonkretisierte Weise. Nach dem weiterhin virulenten „Syndrom von 1940“ und dem auf das Debakel folgenden Trauma der Besatzungszeit gelang de Gaulle der positive Bezug auf die Vergangenheit mit dem von ihm entworfenen Résistance-Mythos, den er zum Zweck der nationalen Versöhnung und zur Stärkung des positiven Selbstbildes ins Leben rief. Die Erinnerung an Widerstandshelden bzw. Märtyrer ließ nur wenig Platz für abweichende Narrative. Von dieser selektiven Erinnerung waren neben den Überlebenden der Vernichtungslager und den Elsässern auch die französischen Opfer der angloamerikanischen Bombenangriffe betroffen, die über ihr Leid auch deswegen nicht sprachen, weil sie es in der Regel als unumgängliche Vorleistung für die Befreiung ihres Landes von den Deutschen ansahen.
96 Hartweg 1996 [1216], S. 268 f. Vgl. auch Hartweg 1997 [1217]. 97 Vgl. Namer 1983 [1234]. 98 Vgl. Ullrich 2009 [1252].
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Angesichts der von den Deutschen entfesselten exzessiven Gewalt, die im aggressiven Angriffskrieg begann und in der Shoah kulminierte, hatte Deutschland „jegliche Selbstdeutung in der heroischen Semantik der Ehre verwirkt“99. Dafür verschaffte sich ein selbstbezogener Opfer- und Verlustnarrativ Raum, der den „fundamentalen Unrechtscharakter des NS-Regimes und seines Eroberungskrieges aus dem kollektiven Bewusstsein“100 ausblendete. Nur die wenigsten wollten sehen, dass es ohne die Verbrechen von Deutschen keine Verbrechen an Deutschen gegeben hätte. Die Mehrheit sah sich als Opfer des Krieges, der wie ein Naturereignis über die Welt gekommen zu sein schien. Vor diesem Hintergrund kann es nur wenig überraschen, dass im Nachkriegsdeutschland „schuldverdrängende Verharmlosung, Vergangenheitsabwehr und Schuldabwälzung“101 überwogen. Nach den massiven Gewalterfahrungen während des Krieges verloren sich die Deutschen mehrheitlich in einem passiven und resignativen Selbstmitleid und suchten nach Schutz bzw. materieller Sicherheit für die Zukunft. Sie bildeten eine „Exkulpationssolidarität“102 aus, die als Meistererzählung bis Ende der 1950er Jahre eine gesellschaftliche Integrationskraft entfalten konnte. Ob mit dieser Schlussstrichmentalität ein neuer demokratischer Staat aufzubauen war, musste sich erst noch herausstellen.
99 100 101 102
Assmann 2006 [1197], S. 67. Frei 2000 [1212], S. 80. Wolfrum 2001 [1261], S. 109. Kielmansegg 1989 [1222], S. 35.
2. Que faire de l’Allemagne (1945–1949)?
2. Que faire de l’Allemagne (1945–1949)?
Die französische Deutschlandpolitik Über Jahrzehnte hinweg wurde die französische Deutschlandpolitik nach 1945 von der deutschen Öffentlichkeit und den meisten Historikern im Vergleich zum Vorgehen der Amerikaner und Briten als ausgesprochen hart beschrieben1. Dieselben hielten auch die französische Deutschland- und die französische Besatzungspolitik in Deutschland lange für – im Ganzen gesehen – improvisiert (vgl. Kap. II.1). Erst in den letzten Jahren fand hier ein teilweises Umdenken statt, denn die zentrale Frage „Was tun mit Deutschland?“ hatte die französische Résistance schon vor Kriegsende beschäftigt2. Allerdings konnten die französischen Pläne weder in Bezug auf die gesamte Deutschlandpolitik noch hinsichtlich des Besatzungsregimes, das man im besiegten Deutschland einzurichten gedachte, so frühzeitig entwickelt werden wie bei den anderen alliierten Großmächten3, denn erst im November 1944 bahnte Churchill der „Provisorischen Regierung der französischen Republik“ den Weg in die Europäische Beratende Kommission in London, wo sich die Möglichkeit einer Beteiligung Frankreichs an der interalliierten Verwaltung Deutschlands abzeichnete. Und schließlich gelang es Churchill auch erst auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945, Stalin und Roosevelt vom Vorschlag einer eigenen französischen Besatzungszone zu überzeugen.
Erste Überlegungen zur französischen Deutschlandpolitik vor 1945 Die französischen Vorbereitungen nahmen um die Jahreswende 1944/45 Fahrt auf, doch hatten die ersten Überlegungen über die Art, wie man Deutschland für den Wiederaufbau Frankreichs und Europas nach der Niederlage des „Dritten Reiches“ heranziehen könne, schon zu einer Zeit eingesetzt, als der Sieg der Alliierten noch nicht feststand und die Beteiligung Frankreichs an der Beset-
1 Vgl. Lipgens 1973 [219], S. 52–102. 2 Vgl. Gérard 1943 [51]; Grappin 1945 [53]. 3 Vgl. Soutou 2001 [273], S. 51–58. In Moskau hatten die drei Großen die vollständige Besetzung Deutschlands beschlossen, das lange Zeit ihrer strengen Kontrolle unterworfen bleiben sollte. In Teheran verständigten sie sich auf die von Stalin gewollte Zerstörung Deutschlands.
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zung Deutschlands eher unwahrscheinlich schien. Nicht umsonst notierte Andreas Wilkens: „Der Nullpunkt der französischen Nachkriegsdiplomatie liegt nicht im Jahre 1945 oder 1944, er liegt im Jahre 1943“4. Überlegungen über die Zukunft Frankreichs, des besiegten Deutschlands und Gesamteuropas – alle drei untrennbar miteinander verbunden – hatte zuvor nicht nur die innere Résistance, sondern auch die France Libre angestellt. Hervorzuheben ist der Einfluss der Gruppe Combat um Henri Frenay und Claude Bourdet auf die Errichtung einer künftigen europäischen Föderation. Beide unterschieden zwischen dem NS-Regime und dem deutschen Volk und konnten sich das Europa der Zukunft ohne Deutschland nicht vorstellen5. Lange sahen verschiedene Historiker in diesen Zirkeln die einzigen Vertreter einer integrativ-konstruktiven Politik für die Nachkriegszeit6. Die Genannten waren mit ihren Vorstellungen jedoch nicht allein, denn auch in Algier diskutierten und planten in der unmittelbaren Umgebung von de Gaulle7 im Herbst 1943 drei CFLN-Kommissare, Jean Monnet, Hervé Alphand und René Mayer, drei umfängliche Projekte. Mit einer Portion Realismus versehen beschäftigten sie sich im Rahmen ihrer Überlegungen zu „Wiederaufbau“ und „Modernisierung“ mit Fragen der Wirtschaftsordnung des zukünftigen Nachkriegseuropas, das nach ihren Vorstellungen nicht wieder in den Protektionismus der Vorkriegszeit verfallen sollte. Die Erfahrungen mit dem Wiederaufleben des deutschen Nationalismus als Folge des von den Deutschen als „Karthago-Friede“ empfundenen „Diktats von Versailles“ hatten diese Kräfte umdenken lassen. Ihnen schienen Reparationen zum eigenen wirtschaftlichen Wiederaufbau zwar genauso unverzichtbar, doch sollten die Deutschen nicht wie nach 1918 über Jahre am wirtschaftlichen Tropf hängen und sich desillusioniert politischen Laienpredigern an den Hals werfen. Auch aus innenpolitischer Perspektive und zur Stärkung der eigenen Wirtschaft hielten sie eine solche Politik für erfolgversprechender. Jean Monnet hatte aus dem Scheitern des Völkerbundes gelernt und strebte die Stabilisierung der europäischen Ordnung durch die Zusammenarbeit in übernationalen Strukturen an, um nicht wieder in einen wirtschaftlichen Nationalismus zu verfallen. Deutschland sollte nach seinem Dafürhalten als integraler Bestandteil in diese europäische Einheit eingebunden werden: „Man kann die politische Teilung Deutschlands anstreben, aber nur unter der Voraussetzung, dass jeder der deutschen Staaten ein Element des europäischen Ganzen bildet und wie die anderen Elemente die gleichen Vorzüge genießt. Anderenfalls werden die verschiedenen Länder des geteilten Deutschlands dazu neigen, sich wieder zu einem deutschen Flächenstaat im Zentrum Europas zu vereinigen“8.
4 5 6 7 8
Wilkens 1996 [695], S. 81. Vgl. Belot 2003 [69], S. 465–482; Lipgens 1968 [24]. Vgl. Lipgens 1977 [25], S. 194–198. Vgl. Linsel 1998 [614]. Zit. nach: Wilkens 1996 [695], S. 84.
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Der Wirtschaftskommissar der CFLN (und nach dem Krieg Direktor für Wirtschaftsfragen am Quai d’Orsay), Hervé Alphand, plante die Entstehung einer Zollunion zwischen Frankreich und den Beneluxländern, ohne sich direkt mit der deutschen Frage zu beschäftigen. In seinen späteren Notizen unterstrich er hingegen, dass es nicht genüge, die deutsche Wirtschaft zu kontrollieren und Reparationszahlungen durchzusetzen; die beste Kontrolle Deutschlands entstehe aus der Einbindung seiner Wirtschaft in das europäische Wirtschaftssystem9. In dem dritten, von René Mayer, dem Kommissar für das Verkehrswesen der CFLN (und künftigen Minister der IV. Republik sowie 1953 Ministerpräsident) verantworteten Projekt ging es um die Frage eines Rheinstaats. Mayer schwebte eine „westeuropäische Föderation“ der Länder Frankreich, Belgien, Luxemburg und Niederlande vor, die in einen Rheinstaat auch das Ruhrgebiet mit einschließen sollte und die Sicherheit der Rheinanrainerstaaten und vor allem die französischen Wirtschaftsinteressen schützen sollte. Um ein Gegengewicht zum deutschen Einfluss zu schaffen, war der Beitritt von Italien und Spanien angedacht10. Diese Projekte wurden im Oktober 194311 diskutiert und von de Gaulle schließlich entschieden. Der General bevorzugte das traditionelle Bündnissystem, von dem er sich größere Sicherheit für Frankreich versprach, blieb gleichzeitig aber auch offen für die Möglichkeit einer westeuropäischen Union mit Frankreich und den Beneluxstaaten als Kern. Er stellte klar, dass die rheinisch-westfälische Industrieregion mit der westeuropäischen Union zu vereinen sei12. Abgesehen vom Rheinstaat, den man „nach Maßgabe des Möglichen“ abtrennen müsse, beabsichtigte er keine Zerstückelung Deutschlands13. Damit war der integrative Ansatz von Jean Monnet weitgehend gescheitert. De Gaulle konnte sich damals eine spätere deutsch-französische Wirtschaftsunion noch nicht vorstellen und befürchtete, dass von der Konzeption seines Kommissars vor allem die deutsche Industrie profitieren würde. Ohne in Teleologie zu verfallen, lassen sich hier jedoch bereits konzeptionelle Gedanken ausmachen, die später im Schuman-Plan wieder aufgenommen wurden14. Anfang 1944 orientierten sich die französischen Überlegungen viel eher daran, die Frage der Neuorganisation Westeuropas aufgrund zweier Faktoren vom Problem der Behandlung Deutschlands abzutrennen. Zum einen wurde im Februar 1944 die sowjetische Absicht bekannt, alle deutschen Ostgebiete zu vereinnahmen, was de Gaulle veranlasste, die Frage einer Abtrennung von linkem Rheinufer und Ruhrgebiet zugunsten eines Rheinstaats nun mit aller gebotenen
9 Vgl. Hüser 1996 [459], S. 233; Lefèvre 1998 [962], S. XIII. 10 Vgl. Poidevin 1983 [658], S. 15 f.; Poidevin 1986 [228], S. 73 f.; Gerbet 1983 [318], S. 51. 11 Vgl. Poidevin 1983 [659], S. 406; Massigli 1978 [59], S. 39. 12 Vgl. Poidevin 1986 [660], S. 222 f.; Loth 1986 [620], S. 30. 13 Wilkens 1996 [695], S. 85 f. 14 Vgl. Soutou 2002 [680].
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Aufmerksamkeit zu verfolgen. Zum anderen erwiesen sich die einst so zahlreichen Gespräche mit den westeuropäischen Partnern über die geplante Union als zunehmend inhaltsleer. Die Belgier blieben zwar weiterhin interessiert, aber die Niederländer und Engländer zeigten sich zugeknöpft; die Sowjetunion betrachtete die Pläne eines westeuropäischen Zusammenschlusses15 ohnehin mit größtem Misstrauen.
Auf der Suche nach „Grandeur“ und Sicherheit Die Deutschlandpolitik de Gaulles in der unmittelbaren Nachkriegszeit rankte sich um die drei Pole: Rang, Sicherheit und Reparationen (besonders Kohle), wobei es ihm deutlich mehr auf Sicherheit als auf wirtschaftliche Überlegungen ankam16. Er hatte seine Lehren aus der Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gezogen, als die Politik gemäß der Parole „Der Boche wird alles bezahlen“ schließlich im Bankrott des Friedens17 geendet hatte. Die Juli-Direktiven 1945 spiegeln die Festsetzung der Prioritäten wieder, deutlich zugunsten der französischen Deutschlandpolitik vor der Politik in der französischen Besatzungszone in Deutschland18. De Gaulle hatte während des Zweiten Weltkriegs zu seinem großen Missfallen beobachten müssen, wie Frankreich in der Welt an Rang und Einfluss eingebüßt hatte. Als Provokation und Beleidigung musste er es verstehen, dass der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt Frankreich im Jahre 1944 noch als besiegte Nation behandeln und folglich dort ein Allied Military Government for the Occupied Territories (AMGOT) einsetzen wollte. Den von de Gaulle seinerseits angestrebten Rang als Siegermacht gedachte er u. a. durch die Beteiligung an den alliierten Konferenzen über die Zukunft Deutschlands und die Mitwirkung einer französischen Armee an der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus zu erreichen. Ein Ziel war erreicht, als die drei Alliierten seine Provisorische Regierung am 23. Oktober 1944 anerkannten, doch fühlte er sich ein weiteres Mal brüskiert, als sich Amerikaner, Sowjets und Briten einig zeigten, ihn nicht zur Konferenz von Jalta im Februar 1945 einzuladen. Es mag ihn nur wenig befriedigt haben, dass schließlich doch seiner Forderung entsprochen wurde, Frankreich eine eigene Besatzungszone und einen Platz im Alliierten Kontrollrat als oberster interalliierter Kontrollinstanz zuzugestehen19. Dieses Entgegenkommen war vor allem dem wachsenden Misstrauen Churchills gegenüber der UdSSR geschuldet, wollte sich Großbritannien doch nicht – im Falle eines bis dahin immer noch als 15 16 17 18 19
Vgl. Wilkens 1996 [695], S. 89 ff. Vgl. Defrance 1994 [762], S. 34; Hudemann 1997 [572], S. 33. Vgl. Maillard 1990 [58], S. 99 f. Vgl. die Direktiven in: Ménudier 1990 [419], S. 169–182. Vgl. Krautkrämer 1993 [600], S. 66 f.
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wahrscheinlich geltenden Abzugs der amerikanischen Truppen im Anschluss an den gewonnenen Krieg – als alleiniger Vertreter des westlichen Lagers der Sowjetunion gegenübersehen, wie der britische Premierminister de Gaulle bei seinem Besuch in der französischen Hauptstadt am 11. November 1944 erklärte20. Doch auch in der Haltung gegenüber dem zukünftigen Deutschland warf der Kalte Krieg seine Schatten voraus, wie Manfred Görtemaker betont: „Insbesondere Churchill und die britische Regierung gelangten bereits 1944 zunehmend zu der Einsicht, dass vielleicht schon in Kürze ein einheitliches Deutschland als Gegengewicht gegen eine übermächtige Sowjetunion auf dem europäischen Kontinent benötigt werde“21.
Anders als bei Churchill wog beim General zum damaligen Zeitpunkt die „Gefahr einer Renaissance deutschen Hegemonialstrebens schwerer als die Gefahr einer Expansion der Gegenseite im Ost-West-Konflikt“22. Der Chef des „Freien Frankreichs“ wollte die Einheit der Alliierten gegenüber der deutschen Gefahr wahren, weshalb er keine klare Stellung in dem aufkommenden Konflikt zwischen den Westmächten und Moskau bezog23. Das französische Selbstverständnis brachte Außenminister Georges Bidault in der ersten außenpolitischen Debatte nach der Libération vor der Provisorischen Beratenden Versammlung am 21. November 1944 zum Ausdruck: „Niemals wird Frankreich akzeptieren, auf den westlichen Teil der Welt beschränkt zu sein“24. Ausdruck fand dieses demonstrativ zur Schau gestellte Selbstbewusstsein wenige Wochen später, als der General im Dezember 1944 zum erklärten Missfallen von Churchill nach Moskau reiste, um mit der Sowjetunion eine tragfähige Allianz gegen Deutschland zu schmieden, die fortan Grundlage für die Sicherheit Frankreichs sein sollte. Die Reise nach Moskau schlug sich perspektivisch in einer Verhärtung der französischen Deutschlandpolitik nieder25. Neue Weisungen verlangten die Abtrennung von Ruhrgebiet und Rheinland sowie eine Reihe von rechtsrheinischen Brückenköpfen26 und die ständige Besetzung dieser Regionen durch Frankreich und andere europäische Länder. In seinen Gesprächen mit dem sowjetischen Diktator erklärte sich der General mit den sowjetischen Plänen einer Westverschiebung Polens einverstanden, musste jedoch seinerseits feststellen, dass Stalin seine Rhein-, Ruhr- und Saarpläne nicht teilte. Der Kremlchef hatte zum damaligen Zeitpunkt zum einen kein Interesse daran, die Beziehungen zu Engländern und Amerikanern zu belasten, zum anderen wollte er sich vor der Weltöffentlichkeit nicht als der Spalter, sondern als Garant der deutschen Einheit 20 21 22 23 24 25 26
Vgl. Soutou 2001 [273], S. 59 f. Görtemaker 2002 [402], S. 15 f. Loth 1986 [619], S. 38. Vgl. Frank 2000 [197]. Zit. nach: Ziebura 1997 [503], S. 57. Vgl. Poidevin 1991 [661]; Soutou 1994 [272]; Vaïsse 2006 [279]. Vgl. Poidevin 1986 [660] S. 223.
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präsentieren. Langfristig hatte die Kontrolle ganz Deutschlands somit den Vorzug vor einem Bündnis mit Frankreich. So einigten sich beide Seiten zum großen Leidwesen de Gaulles nur auf ein bilaterales Abkommen, das keine Koalition bzw. keine Allianz gegen einen Partner zuließ, aber die Oder-Neiße-Linie und die sowjetische Mitwirkung bei der Ruhrkontrolle anerkannte27. Auch de Gaulle beschäftigte sich nun mehr und mehr mit dem sowjetischen Risiko und äußerte gegenüber Briten seine Furcht vor den „Russen am Rhein“ bzw. vor einer sowjetisch dominierten deutschen Zentralregierung28. Als Folge der für ihn enttäuschend verlaufenen Moskau-Reise nahm er nun die Gedankenspiele vom Frühjahr 1944 zur Bildung einer europäischen Union wieder auf, der neben Frankreich auch die Niederlande, Belgien, Luxemburg und das westdeutsche Territorium angehören sollten29 und die als Westblock ein Gegengewicht gegen den sowjetischen Expansionismus bilden sollte. Mochte de Gaulle bisweilen auch ein „Mann ohne Augenmaß sein, der die Realitäten der Rolle, die Frankreich in diesem Krieg gespielt hat, nicht sehen will“30, wie Stalin gegenüber Roosevelt urteilte, so besaß doch zumindest der Quai d’Orsay eine klare Vorstellung von den eigenen machtpolitischen Schwächen, die Frankreich hinderten, eine unabhängige Außen- und Deutschlandpolitik zu führen. Die eigene Wirtschaftskrise war einzig über großzügige Kredithilfe aus den USA in den Griff zu bekommen, und die eigene Sicherheit schien angesichts der nicht zu übersehenden militärischen Schwäche nur durch die dauerhafte amerikanische Truppenstationierung in Westeuropa gewährleistet. Dass französische Vertreter nicht zur Potsdamer Konferenz (Juli/August 1945) eingeladen worden waren, zeigte den Verantwortlichen in Paris zudem, dass sich Frankreich weiterhin „mit der Fiktion einer Großmachtstellung begnügen“ musste31. Ziel sollte es aber bleiben, die Gefahr eines einseitigen Abhängigkeitsverhältnisses zu umgehen und das Beziehungsgeflecht zwischen beiden Ländern auf eine wechselseitige Grundlage zu stellen. Dabei kam es den Regierenden in Paris zugute, dass die USA den wachsenden Einfluss der PCF auf das politische und kulturelle Leben Frankreichs mit großem Misstrauen verfolgten und eine zunehmende Einflussnahme der Kommunisten auf die westeuropäische Politik befürchteten. Wie sahen die großen Linien der Deutschlandpolitik de Gaulles im Jahr 1945 aus? Aus Sicherheitsgründen verlangte der General vor allem die Aufteilung des ehemaligen Reiches mit aller Doppeldeutigkeit des Begriffs, die von „Zersplitterung“ (morcellement) bis „Dezentralisierung“ (décentralisation) reicht32. De Gaulle forderte aus hauptsächlich strategischen Gründen die Abtretung des lin27 28 29 30 31 32
Vgl. Narinski 1995 [267], S. 2–7; Dülffer 1998 [248], S. 191 f. Vgl. Hüser 1997 [579], S. 67. Vgl. Soutou 2001 [273], S. 66. Zit. nach: Duroselle 1974 [193], S. 395. Wolfrum 1999 [702], S. 62. „Nicht nochmal ein deutsches Reich unter zentraler Führung!“ schrieb er in seinen Memoiren: de Gaulle 2000 [46], S. 632.
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ken Rheinufers – inklusive des Saargebiets33 – und auch des Ruhrgebiets sowie seine Internationalisierung, um die Deutschen von ihrer Rüstungsindustrie abzuschneiden34. Bei einigen Reden im Herbst 1945 schlug er sogar annexionistische Töne an, obwohl er nur wenige Monate zuvor noch öffentlich erklärt hatte, er sei in diesem Punkt frei von jeglicher Versuchung. Die Reden während seines Besuchs in der französischen Besatzungszone im Oktober 1945 unterstreichen die Komplexität seines Standpunkts (vgl. Kap. II.1): Einerseits richtete er versöhnliche Botschaften an die Bevölkerung im Saar- und Rheinland; auf der anderen Seite hielt er vor französischen Offizieren in Baden-Baden eine Rede mit deutlich maximalistischen Untertönen: „Ziel unserer Aktion ist, Frankreich hier Fuß fassen zu lassen […], d. h. Frankreich diejenigen Gebiete zur Verfügung zu stellen, die von Natur aus mit ihm verbunden sind. Darunter verstehe ich das linke Rheinufer mit der Pfalz, Hessen, Rheinpreußen und das Saargebiet. […] Was den Rest der deutschen Länder angeht, so werden sie ihrem Schicksal, einem traurigen Schicksal, entgegengehen“35.
Kurz nach dieser Reise in die französische Besatzungszone wusste der Quai d’Orsay nicht mehr, wie er sich auf dem Felde der Rheinlandpolitik positionieren sollte, wie ein Vermerk vom 16. Oktober 1945 bekundet, der nicht mehr vom Rheinstaat sprach, sondern nur noch vom Rheinstatut und linksrheinisch „eine Art Bündnispolitik bzw. auf dem rechten Rheinufer eine Art Interessenpolitik verteidigte. Es herrschte die Vorstellung, Frankreich könne eine gewisse Mittlerfunktion für das Rheintal einnehmen, das für alle Austauschformen durchlässig sein sollte“36. Bis zur Moskauer Außenministerkonferenz im März 1947 bestand die offizielle französische Position notwendigerweise darin, die Abtrennung des linken Rheinufers, die Eingliederung des Saargebiets in den französischen Wirtschaftsverband und einen internationalen Status des Ruhrgebiets zu verlangen, selbst wenn sich in den Kulissen Alternativlösungen abzeichneten, was Dietmar Hüser die „doppelte Deutschlandpolitik Frankreichs“ nennt37 (vgl. Kap. II.1). Unabhängig von den westlichen Pufferzonen des ehemaligen Reiches beschäftigte sich de Gaulle auch mit dem Wiederaufbau der traditionellen deutschen Länder (bis auf Preußen, das endgültig von der Landkarte verschwinden sollte), die er sich als eine irgendwie geartete konföderale Verbindung38 vorstellte,
33 Rainer Hudemann und Armin Heinen legen Wert auf die Feststellung, dass weder während des Krieges noch nach Einstellung der Feindseligkeiten genaue Vorstellungen über die künftige französische Politik im Saarland existiert hätten, vgl. Hudemann, Heinen 2007 [576], S. 37. 34 Vgl. Fritsch-Bournazel 1984 [537]. 35 De Gaulle 1984 [45], S. 96 f. 36 Zit. nach: Poidevin 1985 [660], S. 235. 37 Hüser 1996 [459]. 38 Ministère des Affaires étrangères, Documents Diplomatiques Français, tome 1945/2, Paris 2000, Dok. 265 u. 290. Siehe auch Maelstaf 1999 [626].
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d. h., de Gaulle dachte eher an eine Dezentralisierung des ehemaligen Reichsgebiets als an sein Auseinanderbrechen. Der Rücktritt des Generals am 20. Januar 1946 bedeutete weder außennoch deutschlandpolitisch eine entscheidende Zäsur. In der Dreiparteien-Regierung unter der Führung des Sozialisten Félix Gouin setzte insbesondere der weiterhin als Außenminister amtierende Volksrepublikaner Georges Bidault auf eine territoriale Aufteilung Deutschlands und somit auf die Fortführung der vom General eingeleiteten Politik, was Andreas Wilkens zutreffend als „Stabilitätsbedingung der Koalition“ bezeichnet39. Nicht zu vergessen ist auch, dass sich der Revanchediskurs als integratives Mittel zur tripartistischen Einbindung der PCF anbot, solange die Kommunisten noch an der Regierung beteiligt waren (bis Mai 1947)40. Realistisch betrachtet waren die Aussichten zur Aufrechterhaltung einer „harten Politik“ im Jahre 1946 jedoch schon nicht mehr gegeben. Weder die USA und Großbritannien noch die Sowjetunion ließen sich zu einer Abtrennung von Rheinland und Ruhrgebiet bewegen; im Gegenteil, denn im Sommer 1946 begannen die amerikanisch-britischen Verhandlungen zur Einrichtung der Bizone. Die von Bidault weiterhin formulierten französischen Maximalforderungen erscheinen vor diesem Hintergrund eher taktischer Natur, um in den anstehenden Verhandlungen mit den anderen Alliierten zumindest die unmittelbaren wirtschaftlichen Ansprüche Frankreichs nach Kohlelieferungen von der Ruhr durchsetzen zu können. Paris versuchte daher, die innenpolitische Instabilität als Trumpf gegen den amerikanischen Druck einzusetzen. Dabei galt es, sich durch Starrsinnigkeit in deutschlandpolitischen Fragen als schwieriger Partner zu profilieren und offizielle Positionen erst dann aufzugeben, wenn die Obstination mehr Nach- als Vorteile zu versprechen schien, wie Dietmar Hüser betont: „Diese Konstellation ermöglichte es der französischen Regierung, die ,relative Stärke des Schwachen‘ gegenüber der ,relativen Schwäche des Starken‘ auszuspielen […]. Immer wieder wurde dabei versucht, die von den USA eingeforderten Korrekturen der Deutschlandpolitik an amerikanische Gegenleistungen zu koppeln, um die eigenen Handlungsspielräume zu erweitern“41.
Frankreich kam es nun zugute, dass es als Siegermacht zu den Mitgliedern bzw. Teilnehmern des Alliierten Kontrollrats und der Außenministerkonferenzen gehörte und dank seines doppelten Vetorechts über wichtige Trümpfe zur Verhinderung deutscher Zentralverwaltungen im zukünftigen Deutschland verfügte. Indem es das bei den Sitzungen und Treffen beider Instanzen geltende Prinzip der Einstimmigkeit rigoros zur Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen schien, galt Frankreich wegen dieser als Obstruktion wahrgenommenen Haltung vielfach 39 Wilkens 1991 [694], S. 6. 40 Vgl. Hüser 1997 [579], S. 84. 41 Hüser 2003 [581], S. 44.
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als Verantwortlicher für das Scheitern einer gemeinsamen Politik der „Vier“ (vgl. Kap. II.1). Die Gesetze deuten jedoch eher darauf hin, dass die Franzosen im Bereich der Sozialpolitik wesentlich mehr vom Kontrollrat initiierte Projekte realisierten als Amerikaner und Briten42.
Französische Deutschlandpolitik und Kalter Krieg Dass die Amerikaner gegenüber den Deutschen zu nachsichtig sein könnten, gehörte nach der Stuttgarter Rede von US-Außenminister James F. Byrnes am 6. September 1946 zu den Angstvorstellungen der französischen Öffentlichkeit. Dieser hatte nicht nur die Gründung der Bizone für den 1. Januar 1947 angekündigt und sich für die „baldige Bildung einer vorläufigen deutschen Regierung“ ausgesprochen, sondern den Deutschen auch versprochen, ihnen zu „einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt“ zu verhelfen43. Obwohl er den französischen Anspruch auf das Saarland anerkannt hatte und dem französischen Sicherheitsbedürfnis durch die Zusicherung einer militärischen Präsenz der USA in Europa entgegengekommen war, waren die Zugeständnisse sowohl für die französische Öffentlichkeit als auch für die Regierung in Paris schwer zu akzeptieren. Die Regierungsverantwortlichen in Paris konnten ihre Augen jedoch auch nicht vor dem Scheitern der Moskauer Außenministerkonferenz (10. März bis 24. April 1947) verschließen. Von nun an war an eine gemeinsame Verwaltung Deutschlands und eine Vermittlungsrolle Frankreichs zwischen den entstehenden Blöcken im Frühjahr 1947 nicht mehr zu denken. Dabei drängt sich bei näherem Hinsehen der Eindruck auf, dass Frankreich das Scheitern der Konferenz bereits vorhergesehen hatte und diesen „Misserfolg“ nutzen wollte, um nach dem sich abzeichnenden Auseinanderbrechen der alliierten Koalition progressiv auf die amerikanisch-britische Linie einzuschwenken. Immer stärker gewannen nun in Paris jene Kräfte die Oberhand, die auf eine langfristige politische und wirtschaftliche kooperative Kontrolle Deutschlands setzten. Vor der französischen Öffentlichkeit war eine solche Politik jedoch vorerst noch nicht vertretbar, so dass die wenig konzilianten Äußerungen der Pariser Regierung weniger an die Alliierten oder die Deutschen gerichtet waren als vielmehr an die französische Bevölkerung selber. Die zunehmende Bipolarisierung der Welt hatte Frankreichs Außenpolitik nicht unbedingt in eine Sackgasse geführt44, doch erforderten die neuen weltpolitischen Konstellationen einen Anpassungsprozess der französischen Deutschlandpolitik. Dieser Wandel lässt sich als ein seit 1946 nachweisbarer Entschei42 Vgl. Hudemann 1988 [564]; Hudemann 1990 [567], S. 227. 43 Zit. nach Görtemaker 1999 [401], S. 37. 44 Vgl. Bozo 1997 [187], S. 9.
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dungsfindungsprozess interpretieren, der durch die Bildung der Bizone und die Einigung von Amerikanern und Briten Ende Juni zur Konstituierung eines Wirtschaftsrates als Parlament des Vereinigten Wirtschaftsgebietes beschleunigt wurde. Nachdem der amerikanische Präsident am 12. März 1947 die nach ihm benannte „Truman-Doktrin“ verkündet hatte, in der er die Völker aufrief, sich zwischen Freiheit und Sklaverei zu entscheiden, und die Eindämmung (containment) des Kommunismus zum Ziel der amerikanischen Politik erklärte, konnte Frankreich die Rolle des troublemaker im westlichen Lager immer schwerer aufrechterhalten. Im Rahmen der „doppelten Deutschlandpolitik“ demonstrierte Paris aber weiterhin Hartnäckigkeit bei der Frage nach den föderalen Strukturen für das sich herausbildende Westdeutschland. Mit der Verkündung des Marshall-Plans am 5. Juni 1947 verstärkten die Amerikaner ihre integrierte Containment-Liberation-Strategie und damit ihre Bemühungen um die politische und wirtschaftliche Stabilisierung Westeuropas. Zwei Jahre nach Kriegsende standen verschiedene europäische Länder vor dem wirtschaftlichen und damit auch politischen Chaos. Soziale Instabilität barg in den Augen der Amerikaner jedoch das Risiko, zu einem fruchtbaren Nährboden für kommunistische Umsturzabsichten zu werden. Nach der Absage der Sowjetunion und dem von Moskau mit Adresse an die osteuropäischen Satellitenstaaten verkündeten Verbot, sich an dem multilateralen Wiederaufbauprogramm (European Recovery Program) zu beteiligen, konnte Washington nun daran gehen, die westeuropäischen Handelsschranken abzubauen und den Zahlungsverkehr zu vereinfachen, um auf diese Weise die Grundvoraussetzungen für einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen. Der Anreiz zu breiterer wirtschaftlicher Zusammenarbeit im westlichen Lager war somit immer mit dem Ziel verbunden, die drei westlichen Besatzungszonen in Deutschland zu integrieren und die politischen Bindungen in Westeuropa allgemein zu festigen. Der als Hilfe zur Selbsthilfe konzipierte Marshall-Plan eröffnete damit zum einen den Weg zur Integration der beteiligten Länder, machte er doch ein transnationales Vorgehen zur Bedingung, zum anderen ermöglichte er es Paris aber auch, eine neue Form der Kontrolle des deutschen Nachbarn zu praktizieren45. Nachdem die Pariser Regierung mittlerweile die ursprünglichen Pläne einer Abtrennung der linksrheinischen Gebiete aufgegeben hatte und das Rheinland nur noch als taktisches Spielmaterial benutzt wurde, konzentrierte sie sich nunmehr auf die symbolträchtige Region des Ruhrgebiets, die Waffenschmiede des deutschen Militarismus, die Paris unter internationale Kontrolle bringen wollte46. In der hochwertigen Ruhrgebiets-Kohle sah Paris eine wichtige Grundlage für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des eigenen Landes und zur Sicherung einer dauerhaften ökonomischen Überlegenheit in Europa. Ausgestattet mit einem Rekonstruktionsvorsprung und einer gestärkten Position auf dem internationa45 Herbst 1990 [321]; Hardach 1994 [319]. 46 Vgl. Knipping 1988 [595].
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len Parkett wollte Paris eine erfolgreiche Sicherheits-, Friedens- und integrationsorientierte Deutschlandpolitik führen. Nicht mehr Dominanz und Desillusion wie nach dem Ersten Weltkrieg, sondern Dominanz und Integration bestimmten zunehmend das Problem- und Machtbewusstsein eines Großteils der neuen politischen und administrativen Eliten47. Diese beiden Ziele galt es auch in den folgenden Jahren mit dem Wechselwirkungsmechanismus zwischen den Meinungsströmungen in der französischen Öffentlichkeit und dem Handlungsrahmen der politischen Entscheidungsträger in Einklang zu bringen. Das Einschwenken auf eine kooperative Politik gegenüber Deutschland wurde Paris durch den sich zuspitzenden Ost-West-Konflikt erleichtert, der auch in der französischen Gesellschaft am „Stalingrad-Effekt“ zu nagen begann48. Die Furcht vor einem gewaltsamen sowjetischen Übergreifen auf Westeuropa nährte parallel zum „Feindbild Deutschland“ ein „Feindbild Sowjetunion“, das die Antagonismen zwischen Frankreich und Westdeutschland zu verwischen begann. Diese Perzeptionsverschiebungen gingen auch auf eine innere Entwicklung in Frankreich zurück, wo eine von Moskau gesteuerte und von der PCF losgetretene Streikwelle im November 1947 bisweilen den Charakter eines allgemeinen Aufruhrs annahm und den Kalten Krieg „zu einer innenpolitischen Realität“49 werden ließ. Die Amerikaner konnten nun mit Genugtuung verfolgen, dass viele bisherige Gegner ihrer Integrationspläne das Ruder herumlegten und fortan die politische und wirtschaftliche Integration Westeuropas unterstützten. Dass innerhalb der französischen Führungskreise nun die moderaten Kräfte eine dominantere Rolle einnehmen konnten, lag nicht zuletzt auch am Bruch der Koalition des Tripartisme, den die Entlassung der kommunistischen Minister durch den sozialistischen Ministerpräsidenten Paul Ramadier im Mai 1947 herbeigeführt hatte. Mit den Gaullisten und Kommunisten befanden sich nun die beiden stärksten Verfechter der Maximalforderungen gemeinsam in der Opposition. Der sich im Laufe des Jahres 1947 nicht mehr nur in internen Konzepten, sondern auch öffentlich vollziehende Wandel der französischen Deutschlandpolitik war jedoch nicht allein eine Anpassung an amerikanische Positionen, sondern erhielt eine spürbare französische Note, die von den Experten schon länger als Alternative zur Separierung der Ruhr und des Rheinlandes angedacht worden war. Der Kreis um den seit Juli 1947 amtierenden Außenminister Robert Schuman setzte dabei auf die mit starken supranationalen Elementen versehene wirtschaftliche und politische Westintegration der sich herausbildenden Bundesrepublik, die zugleich als Gegenmodell zu einem möglichen ostdeutschen Zentralstaat unter Führung Moskaus konzipiert war (vgl. Kap. II.1). Während solche Integrationskonzepte in der unmittelbaren Nachkriegszeit eher als flankierende Maßnahme zur 47 Vgl. Hüser 2000 [580], S. 180 f. 48 Vgl. Weisenfeld 1986 [495], S. 36. 49 Loth 2000 [260], S. 189 f.; vgl. auch Soutou 1993 [676], S. 264.
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Absicherung der französischen Umstrukturierungspläne gedacht waren, gerieten sie nun in den Mittelpunkt der französischen Außenpolitik. Die Sicherheit vor Deutschland sollte nun durch seine Integration in einen europäischen Rahmen erreicht werden.
Die französische Besatzungspolitik in Deutschland Als die Alliierten am 5. Juni 1945 mit einer völkerrechtlichen Erklärung die Regierungsgewalt übernahmen, lag nicht nur das Schicksal Deutschlands, sondern auch die Verantwortung für die Deutschen in ihren Händen50. Den Franzosen stand nur wenig Vorbereitungszeit zur Verfügung51, um nicht nur die militärische Besatzung ihrer Zone, sondern zudem auch die Zivilverwaltung zu organisieren, deren administrative und kommunikationstechnische Infrastruktur es neu zu ordnen bzw. aufzubauen galt. Intensiviert wurde der Vorbereitungsprozess, als General Louis-Marie Koeltz im Herbst 1944 eine Mission militaire pour les Affaires allemandes (MMAA) bildete und ihr die Administration militaire française en Allemagne (AMFA) eingliederte, die sich um die Rekrutierung und Ausbildung des künftigen Besatzungspersonals kümmern sollte. Dafür wurden seit Dezember 194452 drei- bis vierwöchige Kurse eingerichtet. Dennoch stand zu wenig Zeit zur Verfügung, so dass die französischen Militärbehörden auf die Handbücher des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF) der Angloamerikaner zurückgriffen und diese kurzerhand ins Französische übersetzten53. Von Dezember 1944 bis Juni 1945 durchliefen 1200 bis 1500 Personen diese Kurse54. Nach der deutschen Kapitulation wurde die Festlegung eines Besatzungsprogramms für die „Provisorische Regierung der Republik“ zu einer Priorität. Deshalb nahm das Comité interministériel des Affaires allemandes et autrichiennes (CIAAA) unter dem Vorsitz de Gaulles höchstpersönlich am 7. Juli 1945 seine Arbeit auf und diktierte am 19./20. Juli noch vor der offiziellen Einsetzung der Militärregierung in der französischen Zone seine ersten „Direktiven für unser Vorgehen in Deutschland“. Sie legten den französischen Handlungsrahmen fest; der erste Teil des Werkes hieß „Die Kontrollpolitik der Vier Mächte“ und der zweite „Die Politik in der französischen Zone“55. Besatzungspolitik war für Frankreich Deutschlandpolitik und sollte in diesem Rahmen genauso die zukünftige Sicherheit des Landes vor Deutschland
50 51 52 53 54 55
Vgl. Hudemann 1995 [570], S. 432 f. Vgl. Defrance 2001 [770]. Vgl. Zauner 1994 [918], S. 59 f., 183–200. Vgl. Henke 1980 [553], S. 169–191. Vgl. Willis 1962 [500], S. 73. Diese Direktiven sind veröffentlicht in: Ménudier 1990 [419]; Hudemann 1987 [819], S. 17 f.
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garantieren. Als Ziel dieser Sicherheitspolitik sollten die Deutschen nach den zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur für die Demokratie gewonnen werden. Dabei galt es zum einen, die Entscheidungsebenen des öffentlichen Lebens in der Zone zu entnazifizieren, um die Struktur des Landes und die Mentalitäten zu verändern, zum anderen sollten die Deutschen mit der Demokratie vertraut gemacht und deren Vorzüge den Menschen bewusst gemacht werden. Der Entnazifizierung kam nach Meinung von Corine Defrance somit eine doppelte Funktion zu: „Strictu sensu beschreibt Entnazifizierung den repressiven Prozess der Säuberung oder Épuration, gleichzeitig weist sie auf den konstruktiven Prozess der Umerziehung hin“56.
Die Besatzungszone – ein künstliches Gebilde Amerikaner und Briten waren zwar bereit gewesen, den Franzosen aus den ihnen zugedachten Besatzungszonen Gebiete abzutreten, doch zeigten sie sich wenig geneigt, Frankreich deutsche Kernregionen zu überlassen, so dass die französische Besatzungszone eine ungünstige geographische Struktur besaß. Die französische Militärregierung unter General Pierre Koenig verfügte schließlich über ein Gebiet, das im Norden die linksrheinischen Gebiete nördlich von Karlsruhe bis zur Nahe sowie rechtsrheinische Teile Hessens (Hessen-Nassau) umfasste und im August 1946 zum Land Rheinland-Pfalz zusammengefasst wurde. Eine besondere Entwicklung durchlief dabei im nördlichen Teil der Zone das Saarland. Nach seiner Besetzung durch US-Streitkräfte wurde das Saarland im Juli 1945 der französischen Militärregierung unterstellt und zunächst in die französische Besatzungszone eingegliedert, wobei die französischen Pläne anfänglich zwiespältig waren. Obwohl neuere Arbeiten die annexionistischen Absichten Frankreichs entkräften, muss doch eingeräumt werden, dass die französische Politik gegenüber dem Saarland, das von Restdeutschland abgetrennt werden sollte und seine Autonomie im Rahmen einer engen Union mit Frankreich („Assimilierungspolitik“) beibehalten sollte, zumindest bis 1947 relativ vage blieb57. Die jüngsten Studien unterstreichen das Gewicht französischer Wirtschaftsinteressen – die Saarkohle sollte den wirtschaftlichen Wiederaufbau Frankreichs mitfinanzieren –, das zunächst schwerer wog als die territorialen Ansprüche, die in den traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit wurzelten (vgl. auch die Saarpolitik nach dem Ersten Weltkrieg), und die außerordentliche Sensibilität von Strömungen in der öffentlichen Meinung dieser Grenzregion58. Trotz starker sowjetischer Einwände beschlossen die Westalliierten 1946 schließlich die Ausgliederung des Saarlandes aus der französischen Besatzungszone. Um 81 56 Defrance 2003 [1310], S. 43. 57 Vgl. Hudemann, Heinen 2007 [576], S. 39. 58 Vgl. Hüser 1996 [581], S. 534.
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rheinland-pfälzische Gemeinden vergrößert, schied das Saarland ab 1. Januar 1947 aus der Zuständigkeit der Militärregierung in Baden-Baden aus und war damit auch der Aufsicht des Alliierten Kontrollrats entzogen. Das Saarland bildete nun eine in sich geschlossene territoriale Einheit und unterstand der Kontrolle des französischen Hochkommissars General Gilbert Grandval; zudem war es seit dem 20. Dezember 1946 durch eine Zollschranke von Restdeutschland abgetrennt. Die wirtschaftliche Eingliederung der Saar in das französische Staatsgebiet wurde sodann durch eine Reihe von Maßnahmen vorbereitet; hier sind besonders die Währungs- und Zollunion zu nennen. Ab dem 20. November 1947 war der Franc das alleinige Zahlungsmittel und ersetzte die erst 1945 eingeführte Saar-Mark. Saarländische Regierungsräte unter der Führung von Johannes Hoffmann59 stimmten am 15. Dezember 1947 einer Verfassung zu, aus der das Saarland als echter, international anerkannter Staat mit eigener Souveränität hervorging. So konnte es beispielsweise als eigener Staat an den Olympischen Spielen von 1952 teilnehmen, und seine Fußballnationalmannschaft traf im Rahmen der Qualifikationsrunde für die Fußballweltmeisterschaft von 195460 auf die deutsche Nationalmannschaft. Die Verfassung und die „Saarkonventionen“ veranlassten die französische Regierung zu einer Revision ihrer Wirtschafts-, insbesondere ihrer Kohlepolitik und zur Reorganisation des Kohlebergbaus61, was insbesondere die Lebensbedingungen der saarländischen Bergleute hinsichtlich Verpflegung und Löhnen etc. bedeutend verbesserte, obwohl sich gerade am Management der Kohlegruben heftige Konflikte entzündeten. Auf kultureller Ebene bestanden enge Verbindungen und eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich – wie die Entstehung der Universität des Saarlandes und des Saarländischen Rundfunks unterstreichen –, die Brücken für die Zukunft bauten (vgl. Kap. I.6). Trotzdem entwickelte sich das Saarland in den folgenden Jahren zu einem permanenten politischen Zankapfel sowohl innerhalb der französischen Administration wie auch zwischen Franzosen und Deutschen (vgl. Kap. I.4). Der südliche Teil der Zone setzte sich aus den südlichen Teilen Badens und Württembergs unter Einbeziehung des bayrischen Kreises Lindau zusammen, der die gemeinsame Grenze mit der französischen Besatzungszone in Österreich sicherte. Die französische Besatzungszone in Deutschland zerfiel somit in zwei künstliche Verwaltungseinheiten mit Freiburg als Hauptstadt von Süd-Baden und Tübingen als Hauptstadt von Württemberg-Hohenzollern, Württemberg ohne Stuttgart, Baden ohne Karlsruhe und das Rheinland ohne Köln: Damit lagen die traditionellen Zentren dieser Regionen außerhalb der französischen Besatzungszone, die weder in politischer noch in ökonomischer Hinsicht zusammenhing. Da die Amerikaner nicht bereit gewesen waren, die logistische Kon59 Vgl. Küppers 2008 [79]. 60 Vgl. Harres 1997 [548]; Bernardi 2004 [515]. 61 Vgl. Hudemann, Heinen 2007 [576,], S. 42.
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trolle über die Autobahn Karlsruhe–Stuttgart–München aufzugeben, fehlte es der französischen Zone zum Leidwesen der Verantwortlichen zudem an durchgehenden Verkehrswegen. Nicht weniger problematisch stellte sich die Situation in Berlin dar, wo die genauen Sektorengrenzen bei Kriegsende noch nicht abgesteckt waren. Auch hier machte sich Frankreichs Status als „verspätete Siegermacht“ bemerkbar, konnten die Franzosen doch erst am 12. August 1945 ihre beiden Bezirke Reinickendorf und Wedding offiziell von den Briten übernehmen62 und ihre Besatzungsaufgaben im nunmehrigen französischen Sektor wahrnehmen63.
Die französische Besatzungszone zwischen Dezentralisierung und Zentralismus Wie die anderen Alliierten sah sich Frankreich von Beginn an mit dem Problem konfrontiert, die Behandlung von Deutschland als Ganzem mit den Anforderungen der Besatzungspolitik in seiner Zone in Einklang bringen zu müssen. Als wichtigste Akteure sind auf dieser Ebene die Regierungsstellen in Paris, die Militärregierung in Baden-Baden und die französische Kontrollratsgruppe in Berlin auszumachen, deren Interessen nicht immer konvergierten. Während Paris die internationale und innerfranzösische Ebene berücksichtigen musste, sahen sich die Besatzungsbehörden vor Ort mit den politischen, ökonomischen und administrativen Realitäten konfrontiert. Der interne Schriftverkehr verdeutlicht dabei, dass die offiziellen Richtlinien nur ein eingeschränktes Bild der Besatzungspolitik wiedergeben, denn gerade die Verantwortlichen in Baden-Baden wurden sich der Unhaltbarkeit von Maximalpositionen früh bewusst und fürchteten um den französischen Einfluss auf die Gestaltung Nachkriegsdeutschlands, so dass sie Regierungsverordnungen zur politischen Isolierung der Zone nicht konsequent umsetzten64. Doch auch innerhalb der Zone bestand keine einheitliche Position. Während das Oberkommando in Baden-Baden unter General Koenig an einer zentralisierten Verwaltung der Zone interessiert war, um eine straffe Kontrolle zu gewährleisten, forderte der Generalverwalter Émile Laffon angesichts des administrativen Chaos im September 1945 eine Dezentralisierung der französischen Verwaltung mit Ausnahme der Wirtschaftsverwaltung, um die eigene Politik effizienter durchführen zu können65. Die Frage der wirtschaftlichen Einheit stellte sich dabei sowohl auf zonaler wie auf interzonaler Ebene, nachdem die USA, Großbritannien und die Sowjet62 Vgl. Buffet 1991 [521]; Julien 1999 [585]; Führe 2001 [539]. 63 Vgl. Genton 1998 [797]; Hinz, Buffet, Genton, Jardin 1999 [817]; Ciesla, Lemke, Lindenberger 2000 [283]; Jeschonnek, Riedel, Durie 2002 [583]. 64 Vgl. Lattard 1988 [611]. 65 Vgl. Lattard 1989 [612]; Lattard 1991 [613].
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union auf der Potsdamer Konferenz hinsichtlich der Reparationen die Entnahme auf Zonenbasis vereinbart hatten. Das Ausmaß der Reparationen mag man im Vergleich zum Versailler Vertrag als maßvoll bezeichnen, doch stellte diese Entscheidung die zuvor proklamierte Wirtschaftseinheit Deutschlands in Frage. Frankreichs Ziel war von Beginn an, die Wirtschaftskraft der Zone für den Wiederaufbau des eigenen Landes zu nutzen, doch stießen sich diese Absichten schnell an der konkreten Lage vor Ort. Im Falle einer ökonomischen Ausplünderung hätte sich die ohnehin schon dramatische Versorgungslage noch weiter verschlechtert und seitens der Besatzungsmacht Maßnahmen zur Linderung erfordert. Aus Paris und aus der Zone kamen zudem vermehrt Stimmen, die vor zu großen Belastungen für die französische Wirtschaft durch die Besetzung Deutschlands warnten. Diese Mahnungen ließen es nur wenig opportun erscheinen, die ohnehin strukturschwache französische Zone durch eine Politik der Absonderung von ihren Absatzmärkten im übrigen Deutschland abzuschneiden, denn eine solche Entscheidung hätte sie zu einem permanenten Pflegefall degradiert. Auf politischer Ebene besaß die Dezentralisierung eindeutig Priorität. Mit verstärktem Elan wurden ab Anfang 1946 der Aufbau der Länder und die Verfestigung der Länderstrukturen vorangetrieben. Nachdem die Briten am 28. Juni 1946 die Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen verkündet hatten und mit diesem Schritt den französischen Hoffnungen auf eine Internationalisierung der Ruhr und die Abtrennung des linken Rheinufers einen schweren Dämpfer verpasst hatten, kündigte Frankreich in der Ordonnance 57 vom 30. August 1946 die Gründung des Landes Rheinland-Pfalz an66. Während Baden und Württemberg in den französischen Überlegungen immer mehr in den Hintergrund traten und sich in den Prioritäten ein West-Ost-Gefälle ergab, setzten Paris und Baden-Baden in der Folgezeit ganz darauf, dem historisch heterogenen Rheinland-Pfalz eine politische und administrative Infrastruktur zu geben. Die Militärregierung vor Ort konzentrierte sich dabei auf eine Konsolidierung des nach territorialer Kohäsion suchenden Landes Rheinland-Pfalz. Mit dieser Politik hielt sich Frankreich zwei Optionen offen: Sie ermöglichte weiterhin die Schaffung eines abgetrennten Rheinlandstaates, besaß aber zugleich genügend Entwicklungspotenzial, um die Grundlage für einen föderalen Bundesstaat zu bilden (vgl. Kap. II.1). Das in der Tat nicht leicht zu durchschauende Spannungsverhältnis von Zentralisierungszwängen und Dezentralisierungsabsichten wurde von den Deutschen zumeist als Kompetenzwirrwarr und Besatzungswillkür wahrgenommen. Wenige Sympathien erwarben sich die Franzosen auch mit ihrer Haltung gegenüber den politischen Parteien und Gewerkschaften in der ehemaligen Reichshauptstadt. Deren Forderungen nach nationaler Einheit entsprachen nicht den Dezentralisierungsplänen der französischen Besatzer, die aus diesem Grund nur demokratische Organisationen ohne deutschlandpolitische Ambitionen zuließen, so dass Frauenausschüsse und Jugendorganisationen die Gunst der Franzo66 Vgl. Heyen 1984 [558]; Küppers 1990 [602]; Kissener 2006 [594].
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sen fanden, während sie zu den großen deutschen Parteien auf Distanz blieben. Indem sie sich weigerten, diesen entscheidenden politischen Trägern Rückhalt zu gewährleisten, beraubten sie sich selber weitgehend der Möglichkeit, sich an der politischen Mitgestaltung zu beteiligen67. Der Blick zurück in die Besatzungszone zeigt jedoch auch, dass es sich die Deutschen zu einfach machten, wenn sie für jegliche Missstände die französische Besatzungsmacht zur Rechenschaft zogen. Sie übersahen dabei, dass die deutschen Stellen in den einzelnen Ländern der französischen Zone nur ein eingeschränktes Interesse an einer stärkeren zonalen Zusammenarbeit an den Tag legten. Hier wirkten sich der inkohärente Charakter und die absonderliche geographische Struktur der Zone aus, in der sich Südbaden nur wenig für die Geschehnisse im Rheinland und Württemberg nur am Rande für die Entwicklung der Pfalz interessierte. Die französische Besatzungspolitik zwischen 1945 und 1949 lässt sich aber nicht allein auf eine Dezentralisierungs- und Zersplitterungspolitik reduzieren. Als Folge der Besatzungspraxis und des wachsenden amerikanischen Drucks gewannen Konzeptionen nach und nach Oberhand, die länder- und zonenübergreifende Aktivitäten ermöglichten und den Thesen einer konsequenten Isolierungspolitik widersprachen. Nachdem die französische Weigerung gegen deutsche Zentralinstanzen lange Jahre als Teil einer Obstruktionspolitik im Kreise der Alliierten galt, legen Studien seit Ende der 1980er Jahre in diesem Punkt Zurückhaltung nahe. Rainer Hudemann betont, dass sich die französische Regierung nicht allgemein gegen Zentralverwaltungen gewehrt habe, sondern verhindern wollte, „die künftige politische Gestaltung Deutschlands durch Zentralverwaltungen unter deutscher Leitung ohne eingehende Prüfung bereits zu präjudizieren“68.
Die „Zeit der schönen Not“ Im Gegensatz zum harten Besatzungsalltag wurde die französische Kulturpolitik von den Deutschen zumeist als generöser Versuch zur Versöhnung wahrgenommen, so dass sich im Volksmund das geflügelte Wort von der „Zeit der schönen Not“ herausbildete (vgl. Kap. II.1). Hinter der französischen Kulturpolitik, die sich in Westdeutschland vor allem als „Umerziehungspolitik“ verstand (Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Demokratisierung), standen die folgenden Hauptziele: in erster Linie Sicherheit (durch die Demokratisierung der Deutschen und die Veränderung ihrer politischen Einstellung), Rang (durch Einfluss und Prestige) und sogar Reparationen im Sinne einer Rückgabe von Kunstwerken, die die Nazis während der Besatzungszeit geraubt hatten69. 67 Vgl. Führe 2003 [539]. 68 Hudemann 1987 [562], S. 184. 69 Defrance 1994 [761].
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Diese Politik war bereits vor Ende des Krieges von Raymond Schmittlein und Irène Giron vorbereitet worden, den späteren Hauptverantwortlichen der Abteilungen Erziehung und Bildung in der Militärregierung, die in Algier unter René Capitant, dem Kommissar für Schul- und Hochschulwesen, an Reformprojekten für das französischen Bildungswesen70 gearbeitet hatten, die auch zur Grundlage für ihre Politik in der französischen Besatzungszone nach 1945 wurden, z. B. bei der Verwaltungshochschule in Speyer, deren Gründung zum Teil auf Pläne für die französische École nationale d’administration (ENA) zurückging. Darüber hinaus gründete das französische Außenministerium im März 1945 eine „Kommission für die Umerziehung des deutschen Volkes“ unter dem Vorsitz von Edmond Vermeil, Professor für Germanistik an der Sorbonne, der einen Plan mit folgenden Punkten vorlegte: zunächst Schließung der deutschen Schulen und Säuberung des Lehrkörpers sowie im Anschluss an die Wiedereröffnung der Schulen eine reformierte Lehrerausbildung. Sein Bericht wurde im März 1946 in der Kommission kontrovers diskutiert. Die Pessimisten (Germanisten) empfahlen eine eher harte Linie, während die Politiker und Diplomaten Deutschland schnellstmöglich eine Zukunftsoption bieten wollten. Vermeils Plan wirkte sich auf die ersten Maßnahmen Schmittleins insofern aus, als alle Angehörigen des NS-Lehrerbundes und andere NS-Sympathisanten aus der deutschen Lehrerschaft entfernt, die Ausbildung neuer Lehrer vorangetrieben, die Bildungspläne und Schulbücher von NS-Gedankengut entrümpelt werden sollten und Französisch im Stundenplan festgeschrieben wurde. Gleichwohl ging Schmittlein über Vermeils Programm hinaus und schlug eine Neuorganisation der Bildungsstrukturen im Primar- und Sekundarbereich, die „Umerziehung“ der Jugend außerhalb der Schule (deutsch-französische Jugendtreffen und breitenwirksame Kulturprogramme) und die Entwicklung eines umfassenden Bildungsplans für die künftige Führungselite sowie die Neugliederung des Hochschulwesens vor71. Die Analyse der action culturelle française in dem künstlichen „Bindestrichland“ Rheinland-Pfalz vermittelt dabei Aufschlüsse zum Beitrag Frankreichs am Wiederaufbau des politischen und kulturellen Lebens im Westen Deutschlands (vgl. Kap. II.1)72. Bei einem Blick auf die Karte fällt auf, dass die Universität Mainz73, das Dolmetscherinstitut in Germersheim74, die Verwaltungshochschule in Speyer75, das Institut für Europäische Geschichte76 und die Akademie der Wissenschaften und der Literatur77 (beide in Mainz) alle auf dem linken Rheinufer, genauer in der Pfalz bzw. in Mainz, angesiedelt wurden, was die engen Verbin70 71 72 73 74 75 76 77
Vgl. Defrance 2005 [74]; Schunck 2005 [91]; Defrance 2005 [73]. Vgl. Defrance 1996 [764], S. 208 f.; Marmetschke 2008 [839]. Vgl. Defrance 1994 [762]. Vgl. Just, Mathy 1965 [823]; Defrance 1994 [1119]; Kissener, Mathy 2005 [826]. Vgl. Cuer 1987 [759]. Vgl. Ruppert 2007 [887]; Morsey 1987 [852]. Vgl. Schulze, Defrance 1992 [1119]. Vgl. Defrance 2008 [781].
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dungen zwischen dem politischen und kulturellen Handeln der französischen Besatzungspolitik unterstreicht. Während aber die ersten Schritte zur Neugründung der Universität noch von dem Willen zur Abtrennung des Rheinlandes geprägt waren und den Rheinländern mit der Universität eine Institution zur Ausbildung eigener neuer Eliten zur Verfügung gestellt werden sollte, zielten die dann folgenden Einrichtungen bereits auf die Konsolidierung des Landes RheinlandPfalz ab, dessen Zusammenhalt gerade 1947 immer wieder in Frage gestellt war78. Mainz wurde zu einer kulturellen Mittelpunktstadt ausgebaut, schien die Gutenberg-Stadt doch der einzig mögliche Kompromiss zwischen der Pfalz und den ehemaligen südlichen Rheinprovinzen Preußens79. Mit erheblichen finanziellen Mitteln aus der Schatulle der französischen Militärregierung konnte der kulturelle Wiederaufbau angegangen werden, der dann als politisches Argument diente, um die Wahl von Mainz zur Landeshauptstadt und den Abzug der entsprechenden Funktionen aus Koblenz (Mai 1950) zu begründen.
78 Vgl. für den Bereich der Universitäten allgemein: Defrance 2000 [768]; Defrance 2000 [767]. 79 Vgl. Defrance 1991 [761]; Defrance 2003 [772].
3. Europäische Integration durch
deutsch-französische Annäherung (1949–1954)
3. Europäische Integration durch deutsch-französische Annäherung
Frankreich und die Gründung der beiden deutschen Staaten Mit dem Ausbruch des Kalten Krieges im Jahre 1947 drängten die USA und die UdSSR nun verstärkt auf die Konsolidierung der sich herausbildenden antagonistischen Blöcke. Nachdem Rumänien bereits Ende 1947 unter sowjetischen Einfluss geraten war, setzte Stalin ein weiteres Zeichen, als er im Februar 1948 ein kommunistisches Regime in der Tschechoslowakei installierte und damit im übrigen Europa die Angst vor einer sowjetischen Expansion weiter steigerte1. Der Westen reagierte mit dem Brüsseler Pakt, der am 27. März 1948 von Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg unterzeichnet wurde und die Verteidigung Westeuropas für 50 Jahre sichern sollte. Zwar war im Gründungstext weiterhin von der deutschen Gefahr die Rede, „aber kaum einen Monat nach dem Prager Umsturz war die Zusammenfassung der militärischen Ressourcen und Planungen Westeuropas doch implizit schon klar gegen die sowjetische Bedrohung gerichtet“2. Die von den USA ihrerseits bekundete Bereitschaft, nicht wieder in ihren traditionellen Isolationismus zurückzufallen, erleichterte insbesondere Frankreich, in die Londoner Sechsmächtekonferenz (Februar bis Juni 1948) einzuwilligen, nach deren Abschluss die Londoner Empfehlungen veröffentlicht wurden. Den westdeutschen Ministerpräsidenten wurden am 1. Juli 1948 in Frankfurt jene Dokumente von Vertretern der westlichen alliierten Besatzungsmächte übergeben, in denen die Bedingungen zur Gründung eines westdeutschen Staates enthalten waren („Frankfurter Dokumente“)3. Die von de Gaulle lauthals geforderte Ablehnung und die knappe Zustimmung zur Trizone durch die französische Nationalversammlung (296: 287) spiegelten das Unbehagen bei vielen Abgeordneten wider. Als Konzession muss es verstanden werden, dass der Pariser Regierung der wirtschaftliche Anschluss des Saarlandes an Frankreich zugestanden wurde. Nichtsdestotrotz versuchte die französische Regierung die Gründung eines westdeutschen Staates so weit es ging zu bremsen, um in dieser Formie-
1 Vgl. zur Außenpolitik Stalins: Zubok 2007 [280]. 2 Dülffer 1998 [248], S. 232. 3 Vgl. Blank 1995 [388].
3. Europäische Integration durch deutsch-französische Annäherung
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rungsphase ein Höchstmaß an föderativen Elementen in die staatlichen Strukturen des östlichen Nachbarn zu integrieren. Einflussreiche politische Kreise in Paris fürchteten, dass es in Reaktion auf die Bildung der Trizone zur Gründung eines auf Berlin zentrierten Einheitsstaates in der SBZ mit einem innerdeutschen Duell zwischen Berlin und Frankfurt kommen könne. In dieser Annahme entwickelte Berlin eine hohe Symbolkraft, denn für eine Reihe von einflussreichen Politikern in Paris stellte die „Wiege des Preußentums“ den Ausgangspunkt für einen möglichen Wiederaufstieg des deutschen Militarismus und Großmachtdenkens in einem zentralistischen Land unter der Ägide Moskaus dar. In Anlehnung an die Schaffung der deutschen Einheit zwischen 1864 und 1871 vermuteten sie eine Entwicklung in Ost-West-Richtung und ein Fortdauern preußischer Mentalitäten4. Nicht wenige französische Politiker waren von der Überlegenheit des SED-Modells überzeugt und befürchteten eine neue Mobilisierung für die nationale Sache, um Deutschland doch noch in den eigenen Machtbereich zu ziehen. Und in der Tat aktivierte Moskau in den folgenden Wochen seine Propaganda für ein neutrales Gesamtdeutschland5. Nachdem das Grundgesetz am 8. Mai 1949 in dritter Lesung vom Parlamentarischen Rat verabschiedet und wenig später von den westalliierten Militärgouverneuren genehmigt worden war, konnte die Bundesrepublik Deutschland mit der Proklamation des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 gegründet werden. Um nicht von der deutschen Öffentlichkeit und dem Osten als alleiniger Verantwortlicher für die deutsche Teilung beschuldigt zu werden, betonten die Westmächte auf ihrer Außenministerkonferenz in New York (12.–18. September 1950) den provisorischen Charakter der Bundesrepublik und die Beschränkung ihrer politischen wie territorialen Rechte6. Indem die Alliierten die Oberhoheit unter Einschluss der Sowjetunion behielten, sicherten sie sich das Exklusivrecht bei Verhandlungen über die deutsche Frage. Dieser Anspruch wurde gerade von Frankreich immer wieder betont, das sich auf diese Weise seinen Platz im Konzert der Großen sichern wollte. Gleichzeitig teilte der französische Hohe Kommissar André François-Poncet7 dem Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und Chef der sowjetischen Kontrollkommission in der DDR, General Wassili Tschuikow, am 9. Oktober 1950, zwei Tage nach Gründung der DDR, offiziell mit, dass die französische Regierung den Bonner Alleinvertretungsanspruch anerkenne, weil der Bundestag die einzig frei gewählte Vertretung des deutschen Volkes sei. Als wichtige Voraussetzung für eine Vereinigung schlug er die Durchführung von
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Vgl. Maelstaf 2000 [626], S. 135. Vgl. Ersil 1993 [285], S. 164; Amos 1999 [281]. Vgl. Maelstaf 1997 [625]. Vgl. zur französischen Berichterstattung: Les rapports mensuels d’André François-Poncet, Haut-Commissaire français en Allemagne 1949–1955, hg. von Hans Manfred Bock, 2 Bde., Paris 1996; Miard-Delacroix 2004 [1071].
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freien gesamtdeutschen Wahlen vor8. Das SED-Regime war für die französischen Verantwortlichen in Paris nicht mehr als eine Marionettenregierung ohne eigene Handlungsbefugnisse. Dass die SED Wahlen regelmäßig hinausschob, interpretierte Paris als Zeichen für die fehlende Legitimation von Regierung bzw. Volkskammer. Um die Nichtanerkennungspolitik des Westens gegenüber der DDR zu koordinieren, wurde für November 1949 eine Besprechung im Konsultativrat des Brüsseler Beistandspakts in Paris einberufen. Bei dieser Gelegenheit sagte der französische Außenminister Robert Schuman, dass sein Land mit Ostdeutschland keine Abkommen schließen werde und die gesamten Kontakte der französischen Zone auf interzonaler Basis abwickeln wolle9. So lehnte Paris in der Folge konsequent den von der DDR angestrebten Beitritt zu den internationalen Konventionen und Verträgen ab, für die Frankreich Depositärstaat war. Auf der Folgekonferenz am 8. Dezember 1949 beschlossen Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Staaten eine Politik der Nichtanerkennung – de jure und de facto – gegenüber der DDR und beabsichtigten auf diese Weise, die deutsche Frage offenzuhalten. Jegliche Kontakte mit der DDR sollten inoffiziellen Charakter besitzen und wie bei wirtschaftlichen Transaktionen über private Organisationen (z. B. Handelskammern) abgewickelt werden. Weiterhin galten die sowjetischen Behörden für sie als die Verantwortlichen für Vorgänge in ihrer Zone. Nicht zu umgehende Kontakte mit offiziellen ostdeutschen Stellen waren auf niedrigster Ebene anzusiedeln10. Trotz dieser völkerrechtlichen Winkelzüge konzentrierte Frankreich seine Deutschlandpolitik ganz auf den westdeutschen Teilstaat, konnte einzig dieser doch zur damaligen Zeit die Garantie für ein demokratisches und parlamentarisches System bieten, weshalb Frankreich die Bundesrepublik durch eine Aufwertung des ostdeutschen Regimes nicht unnötig in Bedrängnis bringen wollte. Gleichzeitig unterstrich es aber sein Statut als Siegermacht und war auch Anfang der 1950er Jahre noch nicht bereit, mit der Bundesrepublik auf einer Augenhöhe zu reden11. Als der vom „Potsdam-Syndrom“ infizierte Adenauer forderte, dass die Bundesregierung im Falle einer Einigung der westlichen Siegermächte mit der UdSSR über Deutschland konsultiert werden müsse, lehnte André François-Poncet ein solch weitreichendes Entgegenkommen ab12.
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Vgl. dazu Lohse 1995 [616], S. 82 f. Vgl. Becker 1991 [282], S. 71 ff. Vgl. Pfeil 2004 [483], S. 61. Vgl. Soutou 2005 [681]. Télégramme du haut commissaire de la République française au ministère des Affaires étrangères, 3 novembre 1951; MAE, EU 44–60, ALL, 681, Bl. 71 f. Die Deutschlandperzeption des französischen Hochkommissars war von seinen Impressionen der Zwischenkriegszeit dominiert, so dass seine Analysen oftmals an den Realitäten vorbeigingen; vgl. zu André François-Poncet: Bock 1987 [444]; Miard-Delacroix 2004 [1071].
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Frankreich und die europäische Integration: Sicherheit durch Integration „Ohne den breiten Diskurs in der europäischen Öffentlichkeit über Europa, ohne die Europakonzepte des Widerstands13, ohne die Diskreditierung des Nationalstaats in weiten Kreisen der kontinentalen europäischen Bevölkerung, ohne die Europabewegungen der Nachkriegszeit wären die damaligen Weichenstellungen kaum möglich gewesen, weder die Einrichtung des intergouvernementalen Europarats 1949 noch die Durchsetzung der Montanunion 1950“, betont Hartmut Kaelble in seinen Überlegungen zur Startphase der europäischen Integration14. Auch Wilfried Loth sieht in der Hybris des Nationalstaates eine der wichtigsten Antriebskräfte für den Integrationsprozess und spricht in Bezug auf die Situation der europäischen Nationalstaaten von einem Defizitbündel, das neue Bewegungen ausgelöst habe, „die auf eine Relativierung des nationalstaatlichen Ordnungsprinzips zielten“15. Im Mittelpunkt der nach dem Krieg einsetzenden Überlegungen standen aber naturgemäß Deutschland bzw. die Frage, wie Europa Sicherheit vor dem deutschen Nachbarn erreichen könne16. Lösungen mussten gefunden werden, um Deutschland mit seinem schwerindustriellen Kriegspotenzial zu kontrollieren, ohne jedoch wie nach dem Ersten Weltkrieg einen neuen Revanchismus herauszufordern. Diese Erkenntnis leitete gerade das politische Handeln von Robert Schuman, der sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie für eine neue Politik auf Grundlage des Versöhnungsgedankens stark machte17. Doch auch bei Schuman wäre es falsch, davon auszugehen, dass „Frankreich damals in einem Anfall von unvergleichbarer Großzügigkeit gegenüber seinem ehemaligen Feind diese Politik einschlug“18. Zwar spielte der Geist der Versöhnung eine entscheidende Rolle, doch zugleich verband dieser sich mit vitalen nationalen bzw. „realistischen“ Interessen19. Der Zweite Weltkrieg hatte die Kräfteverhältnisse durchgreifend verändert und Europa eines Großteils seiner ökonomischen Potenziale beraubt, wohingegen die USA auf wirtschaftlicher Ebene die eigentliche Siegermacht war. Nationaler Protektionismus wäre die falsche Antwort auf diese Veränderungen gewesen, 13 Vgl. zur Deklaration über die europäische Zusammenarbeit vom Frühjahr 1944: Gasteyger 2001 [417], S. 38 f.; Lipgens 1968 [24]. 14 Kaelble 2000 [323], S. 253; Kaelble 2005 [324]; vgl. allgemein zur Europäischen Integration: Bitsch 1999 [308]; Gerbet 1983 [318]. 15 Loth 2000 [332], S. 30. 16 Nicht vergessen werden sollte, dass Frankreich und Großbritannien noch im Februar 1947 mit dem Vertrag von Dünkirchen eine Defensivallianz unterzeichneten, in der sich beide Länder im Falle eines deutschen Angriffes Unterstützung zusagten. 17 Vgl. Poidevin 1976 [657]; Poidevin 1986 [88]. 18 Bariéty 2005 [512], S. 64. 19 Vgl. Trausch 1995 [345].
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so dass es zur Wiedergewinnung von Produktivität nur darum gehen konnte, einen gemeinsamen europäischen Markt zu schaffen. Diese wirtschaftlichen Motivationen waren stets mit politischen Erwägungen verknüpft, drohten die USA doch über die wirtschaftliche Vormacht auch politische Dominanz im Westen zu erringen. War die Notwendigkeit zur europäischen Integration auch von vielen Politikern erkannt worden, so stellte sich die Frage ihrer Umsetzung, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit weiterhin auf vielfache Blockaden stieß, wie Andreas Wirsching unterstreicht: „In der Praxis bestanden zunächst zu viele nationale Interessen fort, die faktisch jeden Plan einer kohärenten Integrationspolitik blockierten“20. Nachdem die Europabewegung Ende der 1940er Jahre ihren Zenit überschritten hatte, bedurfte es des Ausbruchs des Kalten Krieges, um die Einigung Westeuropas auf die politische Tagesordnung zu setzen. Zum einen verloren durch die Angst vor der Sowjetunion als stärkster Militärmacht auf dem europäischen Kontinent bisherige Interessendivergenzen an Bedeutung, zum anderen erhöhten die USA den Druck auf Westeuropa. Nachdem Großbritannien sich geweigert hatte, die Führungsrolle in dem Integrationsprozess zu übernehmen, richtete sich der Blick Washingtons auf Frankreich, das angesichts der eigenen Schwäche auf amerikanische Wirtschafts- und Militärhilfe angewiesen war. Paris konnte es sich daher nicht erlauben, amerikanische Forderungen nach supranationalen Integrationsstrukturen schlicht zurückzuweisen, was auch für die integrale Einbeziehung des sich herausbildenden deutschen Weststaates galt. Dem wachsenden Druck zur europäischen Einbindung begegnete der französische Außenminister Georges Bidault schließlich auf einer Sitzung des Konsultativrates der Brüsseler Mächte am 20. Juli 1948 – nur zehn Tage nach dem Haager Kongress der europäischen Einigungsbewegung – mit einem Appell zur Einberufung einer Europäischen Parlamentarischen Versammlung, die über die Modalitäten eines europäischen Zusammenschlusses und die Vorbereitung einer Wirtschaftsund Währungsunion beraten sollte. Dieses Datum gilt heute allgemein als Wende bzw. als Ausgangspunkt im Prozess der europäischen Integration21. Kurzfristig gelang jedoch – nicht zuletzt wegen der zurückhaltenden Rolle der Briten – nur die Gründung des Europarats am 5. Mai 1950, der die Einheit und Zusammenarbeit in Europa fördern sollte, jedoch nie über die Rolle eines Ideengebers hinauskam, der von dem Wohlwollen der nationalen Regierungen abhängig blieb22. Die von den Amerikanern immer offensichtlicher betriebene politische und wirtschaftliche Stärkung Westdeutschlands blieb eine permanente Herausforderung für die französischen Sicherheitsinteressen. Insbesondere der vorauszusehende Wiederaufbau der deutschen Schwerindustrie entwickelte sich für Paris zum Bedrohungsszenario, galten Kohle, Eisen und Stahl doch auch in der zweiten 20 Wirsching 2007 [346], S. 157. 21 Vgl. Duroselle 1990 [315], S. 570. 22 Vgl. Loth 1991 [331], S. 73 f.
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Nachkriegszeit immer noch als Grundlage für militärische Stärke und Großmachtpolitik. Eile war also geboten, um die politisch-wirtschaftliche Einbindung des östlichen Nachbarn möglichst bald zu vollenden23. Angesichts dieser Lage sahen die Handlungsträger in der französischen Hauptstadt den einzigen Ausweg in einer „Flucht nach vorn“24, die Frankreich die Möglichkeit bieten sollte, das industrielle Ungleichgewicht im Vergleich zum östlichen Nachbarn zu seinen Gunsten zu verändern, um damit zugleich die Zügel des europäischen Zusammenwachsens in seinen Händen zu halten. Die von den Amerikanern betriebene europäische Integration lag somit auch im genuinen nationalen Interesse Frankreichs und weist auf die zentrale Rolle der Nationalstaaten und ihrer Regierungen im Prozess der europäischen Integration hin25.
Die Bundesrepublik und die europäische Integration: Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht Ausgangspunkt für die politische Westwendung (West-)Deutschlands war nach Auffassung von Konrad H. Jarausch „die Verschiebung des deutschen Territoriums nach Westen durch die Verfestigung der Potsdamer Beschlüsse im Gefolge des Zweiten Weltkriegs“, was die Westdeutschen vor dem Hintergrund des sich senkenden „Eisernen Vorhangs“ gezwungen habe, „sich politisch auf die westlichen Nachbarländer auszurichten“26. Diese Entwicklung traf sich mit den Interessen von Konrad Adenauer, der Westdeutschland schon vor der Übernahme der Kanzlerschaft fest in den abendländischen Kulturkreis einbinden und mit der deutschen „Schaukelpolitik“ Schluss machen wollte, die den Westmächten aus der Zwischenkriegszeit noch in schlechter Erinnerung war und sich in der politischen Klasse Frankreichs als „Rapallo-Komplex“ festgesetzt hatte. Die auch von Adenauer befürwortete Integrationspolitik sollte aber nicht nur Grundlage für einen zukünftigen Frieden und die Überwindung des deutsch-französischen Gegensatzes sein, sondern der Bundesrepublik zugleich die Möglichkeit bieten, möglichst rasch ein gleichberechtigter Staat zu werden. Multilateralismus und Einbindung in integrative Bündnisse waren damit von Beginn an die Handlungsmaximen Adenauers, der Souveränität gewinnen wollte, indem er auf Souveränität verzichtete, über die er zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht verfügte („Politik der kleinen Schritte“). Dabei war er sich im Klaren, dass die Rückgewinnung von Handlungsfähigkeit nur im Einklang mit den westlichen Verbündeten zu erreichen sei und nicht in nationalen Alleingängen. Im Moment seiner Gründung sah sich der junge westdeutsche Teilstaat noch 23 24 25 26
Vgl. Hudemann 2005 [575]. Schöllgen 1999 [233], S. 28. Wirsching 2007 [346], S. 158. Jarausch 2004 [405], S. 148.
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mit einem Besatzungsstatut konfrontiert, das am 21. September 1949 in Kraft trat und die bundesdeutsche Handlungsfähigkeit bis zu seiner Ablösung im Jahre 1955 erheblich einschränkte. An die Stelle der bisherigen Militärregierungen trat nun die zivile Alliierte Hohe Kommission als „Oberregierung“; mit der Einrichtung eines militärischen Sicherheitsamtes am 17. Januar 1949 und der Internationalen Ruhrbehörde wurden der Bundesrepublik wichtige Bereiche der Sicherheits-, Außen- und Außenhandelspolitik vorenthalten, so dass sie nur über eine „geknickte Souveränität“ (Theodor Heuss) verfügte27. Waren die Handlungsspielräume der Adenauer-Regierung anfänglich auch nur gering, so weist die Kodifizierung des Verhältnisses zu den Alliierten doch auf einen gravierenden Unterschied in den Beziehungen der „Überregierungen“ zu ihren ehemaligen Besatzungszonen hin. Während die junge Bundesrepublik mit dem Besatzungsstatut eine Rechtsgrundlage besaß, verzichtete die Sowjetunion auf eine Kodifizierung, was für sie und die SED den Vorteil zu bieten schien, die Regierung Adenauer als „Lakaien“ der Westmächte darstellen zu können28. In der Realität war es in den folgenden Jahren jedoch eher der Fall, dass Moskau die DDR für die eigenen Bedürfnisse benutzte und keine Rückkoppelungen zuließ29. Adenauer konnte seinerseits darauf bauen, dass die Bundesrepublik in dem sich zuspitzenden Kalten Krieg zunehmend als Verbündeter und Partner gebraucht wurde, was sich bereits am 31. Oktober 1949 bestätigte, als die Bundesrepublik der OEEC beitreten durfte. Der Kanzler ließ sich daher auch nicht von dem Vorwurf abschrecken, „Bundeskanzler der Alliierten“ (Kurt Schumacher) zu sein, und ging weiterhin in „Vorleistung“, um die Eingliederung der Bundesrepublik in den Westen bzw. eine geistig-kulturelle Wertegemeinschaft voranzutreiben und bei den Westalliierten das Vertrauen in den neuen westdeutschen Staat zu stärken. Ausdruck dieser Politik war Ende 1949 seine Zusage zum Beitritt der Bundesrepublik in die Internationale Ruhrbehörde, die auf Grundlage des Ruhrstatuts vom Dezember 1948 den drei Westmächten und den Beneluxstaaten die Möglichkeit verschaffte, die Förderung und Verteilung von Kohle und Stahl aus dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet zu kontrollieren. Im Gegenzug räumten die Hochkommissare den Westdeutschen im „Petersberger Abkommen“ vom 22. November 1949 das Recht ein, konsularische und Handelsbeziehungen zu anderen Staaten aufzunehmen. Von besonderer Bedeutung war zudem, dass der Druck durch die Demontagen gelindert wurde, so dass – nach der Währungsreform von 1948 – eine weitere Voraussetzung für einen wirtschaftlichen Aufschwung gegeben war. Der Bundeskanzler nahm nach heftigen Diskussionen mit Schuman auch das Angebot des Ministerrats des im Mai 1949 gegründeten Europarats an, genauso wie das Saarland assoziiertes Mitglied des Europarats zu werden, doch lehnte er weiterhin eine definitive Abtrennung des Saarlandes von 27 Vgl. Birke 1997 [387], S. 17. 28 Vgl. Pfeil 2004 [483], S. 59 ff. 29 Vgl. Lemke 1997 [289], S. 42.
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Deutschland ab und verwies zur endgültigen Lösung des Problems auf den zukünftigen Friedensvertrag zwischen den Alliierten und Deutschland. Während die Sozialdemokraten unter Kurt Schumacher in dem von Robert Schuman initiierten Angebot einen „Sieg französischer Hegemonialpolitik“ sahen, um das Saarland endgültig von Deutschland abzutrennen, glaubte Adenauer der Souveränität wieder einen Schritt näher gekommen zu sein; und in der Tat erhielt die Bundesrepublik im Mai 1951 den Status eines vollberechtigten Mitglieds, während das Saarland assoziiertes Mitglied blieb. Zu diesem Zeitpunkt war es aber praktisch noch ein französisches „Protektorat“, denn infolge der von Robert Schuman und dem saarländischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann am 3. März 1950 unterzeichneten „Saar-Konventionen“ hatte Frankreich nicht nur die wirtschaftliche Kontrolle übernommen, sondern auch den militärischen Schutz und die diplomatische Vertretung30. Die schrittweise Aufnahme der Bundesrepublik in den Kreis der westlichen Staaten ließ die Westdeutschen jedoch einen hohen Preis zahlen, wie Gregor Schöllgen betont: „Die Verankerung ihres Rumpfstaates in der westlichen Welt ging mit der Teilung der Welt, des Kontinents und des Landes einher“31. Stalin, der dem Nationalismus weiterhin „eine überragende, alle Bevölkerungsschichten – einschließlich vieler Kommunisten – umfassende Ausprägung“ einräumte32, gedachte daraus Profit zu ziehen und verschrieb der SED in dieser weltanschaulichen und machtpolitischen Konkurrenzsituation ein Vorgehen, das Züge des revisionistischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit trug und Kontinuitäten mit den politisch-kulturellen Ressentiments gegenüber der westlichen Moderne aufwies. Ein einiges Deutschland (langfristig unter sowjetischen Vorzeichen) gegen eine ins westliche Bündnis integrierte Bundesrepublik hieß nun die Devise33. Adenauer versuchte Vorwürfe aus Ost-Berlin, „Verräter“ der nationalen Sache zu sein, zu kontern, indem er das Wiedervereinigungsgebot stets als integralen Bestandteil seiner Außen- und Deutschlandpolitik bezeichnete und sich wie selbstverständlich eine deutsche Vereinigung nur in den Grenzen von 1937, also unter Einbeziehung der Bundesrepublik, der DDR und der im Potsdamer Abkommen unter polnische Verwaltung gestellten Gebiete östlich der Oder-NeißeLinie, vorstellen konnte. Für den Kanzler stellte die Westorientierung hingegen keinen Widerspruch zum Grundgesetz dar, denn eine bündnispolitisch in den Westen eingebundene prosperierende Bundesrepublik sollte die Anziehungskraft auf die Bevölkerung der DDR mehren und mit ihrem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem schließlich die Grundlage für ein vereinigtes Deutschland bilden. Diese sogenannte „Magnettheorie“ fand ihre Entsprechung in Ost-Berlin, wo die SED-Führung die DDR als einen provisorischen Staat bezeichnete, der genauso 30 31 32 33
Vgl. Bariéty, Defrance 1999 [511], S. 221–223; Hudemann, Heinen 2007 [576]. Schöllgen 1999 [233], S. 20. Pfeiler 1995 [294], S. 2013 f. Vgl. Wettig 2000 [305], S. 412.
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als „Mutter- oder Kernland für ein künftiges gesamtdeutsches Staatswesen fungieren“34 sollte. Mit ihrer Magnet- bzw. Kernstaattheorie35 gedachten die beiden deutschen Staaten die Anziehungskraft des innerdeutschen Konkurrenten zu „demagnetisieren“, um schließlich als Sieger aus dem „deutschen Sonderkonflikt“ hervorzugehen.
Der Schuman-Plan Eine neue Möglichkeit, die Bundesrepublik unumkehrbar mit dem Westen zu verbinden und gleichzeitig Punktegewinne im innerdeutschen Wettbewerb zu verzeichnen, bot sich Konrad Adenauer, als der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 im Uhrensaal des französischen Außenministeriums einen für die Weltöffentlichkeit unerwarteten Vorschlag unterbreitete36, der Frankreichs Sicherheitsbedürfnis in doppelter Hinsicht Rechnung trug, wie Jacques Bariéty schreibt: „Diese Lösung erlaubte einerseits durch die Bindung des neuen Deutschlands an den Westen, der Gefahr einer deutsch-sowjetischen Verbindung vorzubeugen, und andererseits durch die Integration des neuen Deutschlands in eine westeuropäische Gemeinschaft, es einzufügen, es zu kontrollieren, ja sogar ihm bestimmte Attribute der nationalen Souveränität, besonders im Bereich der Sicherheit, zu versagen“37.
Schumans Vorschlag setzte sich deutlich von den traditionellen sicherheitspolitischen Konzepten Frankreichs ab und definierte in Anlehnung an die von Monnet bereits 1943 in Algier formulierten Pläne (vgl. Kap. I.2) eine für Europa völlig neue Friedensstrategie, die im Kontext der damaligen Zeit als kühne Tat bezeichnet werden muss. Der erste Grundsatz sei, so Hartmut Kaelble, „die Friedenssicherung durch wechselseitige Kontrolle zwischen Siegern und Besiegten, durch intensive Kontakte, durch fortwährenden Informationsaustausch, und durch Vermeidung von Phobien, Einkreisungsängsten, Fehleinschätzung des anderen“38. Was lag da näher, als Frankreich und Westdeutschland durch ein gemeinsames Projekt einander anzunähern, das den Wirtschaften beider Länder die Gelegenheit bot, aus ihrer Komplementarität Profit zu ziehen. Schuman schlug deshalb vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohlen- und Stahlproduktion unter eine oberste Aufsichtsbehörde zu stellen, welche die wechselseitige Kontrolle garantieren und auch anderen Staaten offenstehen sollte. Ziel war es, 34 35 36 37 38
Kaiser 1999 [286], S. 197. Vgl. Lemke 1998 [216], S. 52. Vgl. Lappenkürper 1994 [604]. Bariéty 1994 [509], S. 178 f. Hartmut Kaelble, Europa zwischen Krieg und Frieden. Robert Schumans Konzept einer Sicherheitspolitik und die Präsenz der Amerikaner, in: Süddeutsche Zeitung, 9. 5. 2003.
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gemeinsam mit Italien und den Beneluxstaaten einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl zu bilden, um einer umfassenden wirtschaftlichen und politischen Einigung den Weg zu ebnen. Gleichzeitig zeigte er eine Antwort auf die bis dahin noch ungelöste Frage auf, welche Folgen es für die mehr denn je auf die deutsche Kokskohle angewiesene französische Stahlindustrie haben würde, wenn Deutschland den Export drosselte, um den steigenden Eigenbedarf für die Stahlproduktion zu decken. Frankreich hatte aus den Fehlern von Versailles gelernt und mit dem Schuman-Plan39 „einen reizvollen Kompromiss zwischen der fortbestehenden Kontrolle des Ruhrgebiets und der Aufhebung verschiedener wirtschaftlicher Restriktionen“40 vorgeschlagen, der über den ökonomischen Wiederaufbau und die Integration der Kriegsverlierer den Frieden in Europa sichern sollte. Anders als der Völkerbund in der Zwischenkriegszeit bot die supranationale Struktur der Montanunion die Möglichkeit zur wechselseitigen Kontrolle, denn sie erlaubte sogar dem Kriegsverlierer die Rüstungsindustrie des Siegers mitzukontrollieren. Gerade Jean Monnet41, Leiter der französischen Planungsbehörde und eigentlicher Vater des Schuman-Plans, war es darum gegangen, die europäische Integration durch konkrete Projekte und erfahrbare Solidarität ein gutes Stück voranzubringen. Vertreter jener Interpretationen, die in dem Schuman-Plan eine „erste Etappe der europäischen Föderation“ sehen oder dem französischen Außenminister gar postnationales bzw. postnationalstaatliches Denken zubilligen, sollten jedoch nicht vergessen, dass der internationale Druck auf Schuman stetig zugenommen hatte und sowohl die Amerikaner als auch die Briten Paris immer stärker drängten, einer Aufhebung der Begrenzung der westdeutschen Stahlproduktion zuzustimmen42. In der Tat hatte sich die Regierung in Paris zum damaligen Zeitpunkt in eine Sackgasse manövriert und war Gefahr gelaufen, vom Steuerplatz der alliierten Deutschlandpolitik verdrängt zu werden. Die Briten gingen gar davon aus, dass der Schuman-Plan in erster Linie eine Folge französischer Frustrationen sei, die Maximalforderungen ihrer Deutschlandpolitik nur unvollkommen umgesetzt zu haben. Sie unterstellten dem französischen Außenminister, dass seine Initiative nur dem Zweck diene, „eine international akzeptable Tarnung für dieselbe Politik zu finden, die Frankreich bisher verfolgt hatte“43, wie Herbst schreibt. Ob der Schuman-Plan eine „Mischung von großem Anspruch und Minderwertigkeitskomplexen“44 gegenüber dem deutschen Nachbarn war, sei dahingestellt, gewiss lässt er sich aber als präventive Maßnahme
39 40 41 42 43 44
Vgl. Kipping 1996 [592]; Catala 2001 [311]; Bitsch 2001 [443]; Wilkens 2004 [701]. Jarausch, Geyer 2005 [406], S. 212. Vgl. Duchêne 1994 [75]; Wilkens 1999 [696]; Wilkens, Bossuat 1999 [697]. Vgl. Bariéty 2005 [512], S. 65. Zit. nach Herbst 1989 [320], S. 79. Brunn 2002 [310], S. 76.
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interpretieren, um nicht die Kontrolle über die politische und wirtschaftliche Entwicklung zu verlieren und die Grundlagen der französischen Außen- und Sicherheitspolitik zu garantieren. Die Gleichberechtigung des westdeutschen Nachbarn stand bei dieser Konzeption erst am Ende eines Verhandlungsprozesses, der die Bundesrepublik unter Druck belassen und eventuelle neue Abwege verhindern sollte. Eine solche Sicht auf die Dinge würde in gewisser Hinsicht die These von Alan Milward stützen, der in der europäischen Integration die Voraussetzung dafür sieht, dass sich die europäischen Nationalstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg behaupten konnten45. Um ihren Bestand zu sichern, seien sie fallweise aus nationalen Eigeninteressen zu integrativen Lösungen bereit gewesen, die ihnen auf wirtschaftlichem Feld zudem häufig die Gelegenheit geboten hätten, „einige Bereiche traditioneller Staatlichkeit auf europäische Instanzen [zu] übertragen, weil sie dort besser, billiger oder politisch zweckmäßiger zu regeln seien“46. Angemessener scheint es aber wohl zu sein, bei der Suche nach den Motiven für den Schuman-Plan im Besonderen wie für die europäische Integration im Allgemeinen von einem ganzen Bündel an Beweggründen auszugehen, die eng miteinander verflochten waren, wie abschließend ein praktisches Beispiel verdeutlichen soll. Da Deutschland seinen Stahl zu einem Preis produzieren konnte, mit dem Frankreich nicht zu konkurrieren vermochte, hatte Jean Monnet in den Plan Mechanismen eingebaut, die der französischen Industrie die gleiche Ausgangssituation bescheren sollten wie der deutschen. Beide Wirtschaften galt es zu den gleichen Bedingungen mit Kohle und Stahl zu versorgen, die Exporte gegenseitig abzustimmen, Löhne, Sozialleistungen, Preise und Frachtkosten anzugleichen sowie Zollschranken abzubauen. Diese Maßnahmen sollten die französische Wirtschaft jedoch nicht nur vor dem immer noch übermächtig scheinenden deutschen Konkurrenten schützen, sondern sie gleichzeitig modernisieren und durch einen Zuwachs an Wettbewerb rationalisieren47. Ökonomische Kompetitivität brauchte Frankreich dabei nicht nur zur Lösung der inneren Probleme, sondern zugleich als Grundlage für eine zukünftige Führungsrolle in Kontinentaleuropa. Die besondere Bedeutung des Schuman-Plans für alle Beteiligten und das politische Zusammenwachsen Europas fasst Klaus Schwabe prägnant zusammen: „Der Schuman-Plan wurde so eine Art deutsch-französischer Friedensvertrag auf der Grundlage beiderseitiger freiwilliger Zustimmung sowie internationaler Gleichberechtigung und stand damit in einem scharfen Kontrast zum Versailler Frieden. Hinter dieser erweiterungsfähigen deutsch-französischen Interessengemeinschaft
45 Vgl. Milward 1992 [336]. 46 Vgl. neben dem Zitat eine Zusammenfassung der verschiedenen Deutungsmuster in: Dülffer 2004 [250], S. 149 f. Vgl. zur Historiographie auch: Loth 2008 [334], S. 9 – 26. 47 Vgl. zu den unterschiedlichen Branchen der französischen Wirtschaft: Kipping 1996 [592].
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stand […] die Perspektive einer politischen Föderation, die weltpolitisch als dritte Kraft ein Eigengewicht entwickeln konnte“48.
Adenauer, den der französische Außenminister im Vorfeld seiner berühmten Rede von seinen Plänen in Kenntnis gesetzt hatte, konnte den französischen Vorschlag als Bestätigung seiner Politik empfinden. Er hatte bereits in einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Joseph Kingsbury-Smith am 8. März 1950 „eine vollständige Union zwischen Deutschland und Frankreich mit einem einzigen Parlament“ vorgeschlagen und diese Verbindung als „Grundstein der Vereinigten Staaten von Europa“ bezeichnet. Nach Vorbild des Deutschen Zollvereins von 1834 hatte er zudem die Bildung eines „deutsch-französischen Wirtschaftsparlaments“ angeregt, das die „organische Verflechtung“ im wirtschaftlichen Bereich vorantreiben sollte, um schließlich den Weg einer Integration Europas zu gehen. Seine Begeisterung und sein prinzipielles Einverständnis mit dem Schuman-Plan erklärten sich jedoch nicht alleine mit der bei ihm zweifellos vorhandenen Vision von einer gemeinsamen (west-)europäischen Zukunft, sondern natürlich auch mit der großen Gelegenheit für den westdeutschen Teilstaat, fünf Jahre nach Kriegsende eine weitere Klippe auf dem Weg zurück in die europäische Staatengemeinschaft zu umschiffen. Das deutsch-französische Verhältnis der damaligen Zeit lässt sich dabei sicherlich noch nicht als partnerschaftlich bezeichnen, doch hatte der Kalte Krieg die beiden ehemaligen Kriegsgegner nun zu Verbündeten gemacht, die sich gemeinsam auf der gleichen Seite des „Eisernen Vorhangs“ befanden49. Dass diese für viele unerwartete Konstellation aber zum damaligen Zeitpunkt immer noch Unbehagen auf französischer Seite auslöste, kam in der Geschwindigkeit zum Ausdruck, auf die Paris in den am 20. Juni 1950 beginnenden Verhandlungen mit der Bundesrepublik, Italien und den drei Benelux-Staaten drängte. Die Verhandlungen mündeten nach mühsamem Verlauf und kontroversen Diskussionen um die demokratische Legitimierung der supranationalen Institutionen schließlich am 18. April 1951 in die Unterzeichnung des Vertrages über die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS). In diesem auf 50 Jahre angelegten Abkommen fanden sich mit dem wirtschaftlichen Verbund der westeuropäischen Schwerindustrie mit supranationaler Lenkungsbehörde Elemente wieder, die Robert Schuman im Mai 1950 vorgeschlagen hatte, die jedoch jetzt durch das stärkere Gewicht des Ministerrats an Bedeutung verloren hatten. Gedanken an eine Marktregulierung hatten sich hingegen erübrigt, denn durch den Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juni 1950 war die Nachfrage nach Stahl sprunghaft angestiegen, so dass die Voraussetzungen, auf die sich der Schuman-Plan gegründet hatte, auf diesem Feld überholt waren und die beteiligten Staaten ihre Pläne auf eine Erweiterung der Produktion richteten. Trotzdem blieb 48 Schwabe 2007 [667], S. 25. 49 Vgl. Schwabe 1988 [666].
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die Bilanz für Frankreich positiv, das zwar durch die supranationalen Strukturen des Schuman-Plans an Souveränität eingebüßt hatte, doch zugleich zum bevorzugten Verbündeten der USA in Europa geworden war. Doch auch die Bundesrepublik hatte einen Meilenstein auf dem Weg zur Souveränität zurücklegen können. Am 11. Januar 1952 verabschiedete der Bundestag den Vertrag über die EGKS, womit sowohl die Internationale Ruhrbehörde als auch das Ruhrstatut der Vergangenheit angehörten. Zugleich waren die „Weichen für die Ausweitung der Montanunion zu einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“50 gestellt. Adenauers frühe Entscheidung, die Westintegration und eine aktive Europapolitik zur bundesrepublikanischen Staatsraison zu erheben, hatte sich folglich als richtig herausgestellt. Die Bonner Republik hatte sich als verlässlicher Verbündeter erwiesen, dem in den anderen europäischen Hauptstädten auch bereits wieder ansatzweise Vertrauen entgegengebracht wurde. Der Ostblock unter der Führung der Sowjetunion hatte auf den SchumanPlan unverzüglich mit einer heftigen Pressekampagne reagiert und ihn in plakativer und propagandistischer Form als Idee der „amerikanischen Kriegsbrandstifter“ diffamiert51. Moskau sah im Vorschlag des französischen Außenministers ein weiteres Mosaiksteinchen im Prozess der westlichen Aufrüstung in politischer Kontinuität zu Marshall-Plan (5. Juni 1947), Brüsseler Pakt (17. April 1948) und NATO-Gründung (4. April 1949)52 bei der Herausbildung einer antisowjetischen Weltkoalition53. Im Zuge der östlichen Propagandafeldzüge entwickelte sich auch Frankreich zu einem wichtigen Aktionsfeld, schienen die Möglichkeiten zur Schaffung einer Massenbewegung doch günstig. Gerade die PCF und die von ihr angeleiteten Vorfeldorganisationen entfalteten nun eine besondere Aktivität, um ihre Führungsrolle in der Arbeiterbewegung zu demonstrieren und darüber hinaus die Machtfrage im Land zu stellen. Auch in Deutschland war der Kampf um den Schuman-Plan Ausdruck des ideologischen Gegensatzes, doch neben der Spaltung der politischen Landschaft in der Bundesrepublik vertiefte er auch die Gräben zwischen den beiden deutschen Staaten. Da sie die Schaufenster der konkurrierenden Weltanschauungen waren, stand nicht nur der Beweis für die Überlegenheit einer Politik auf dem Spiel, sondern die Existenz einer der beiden deutschen Staaten. Die DDR stellte ihren Kampf gegen die Westintegration der Bundesrepublik ab Anfang 1951 unter das Motto „Deutsche an einen Tisch“ und wollte damit den Einheitswillen der Bevölkerung in Ost und West stärken. Diese Formel bot darüber hinaus den Vorteil, die Alliierten aus dem Spiel zu lassen. Neun Tage vor der Unterzeichnung des Vertrages über die EGKS, am 5. April 1951, beschloss der DDR-Ministerrat daher eine Erklärung gegen seine Paraphierung durch die Bun50 51 52 53
Winkler 2000 [436], S. 143. Prawda, 23. 5. 1950, in: AdG, 23. 5. 1950, S. 2396. Vgl. Gersdorf 2009 [1003]. Vgl. Daschitschew 2000 [284].
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desregierung, in der Adenauer die Schuld an der Spaltung Deutschlands gegeben und zum „nationalen Widerstand“ aufgerufen wurde. Der Schuman-Plan sei ein „Verrat an der Unabhängigkeit des [deutschen] Volkes“, weil er die „Lostrennung des Ruhrgebiets von Deutschland“ und die gleichzeitige „Annexion des Saargebiets“ durch Frankreich bedeute. Damit vertiefe die Bundesregierung „die Spaltung unseres deutschen Vaterlandes“ und begünstige die Remilitarisierung Westdeutschlands54. Weiterhin argumentierte die SED, dass die Bundesregierung die Teilung Deutschlands vertieft habe, weil der Warenaustausch mit der DDR die Zustimmung der Hohen Behörde finden müsse, was sie zollpolitisch zum Ausland mache55. Mitte 1951 stand der Schuman-Plan aber schon nicht mehr im Zentrum der östlichen Propaganda. Der Kampf gegen die wirtschaftliche Integration hatte endgültig der Agitation gegen die militärische Integration Platz gemacht, weil eine solche Ausrichtung gerade in Frankreich die Möglichkeit bot, über die Widerstände gegen eine deutsche Wiederbewaffnung Schuman-Plan und Europaarmee gemeinsam zum Scheitern zu bringen56.
Der Pleven-Plan und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft Die Hoffnung in Moskau und Ost-Berlin auf unüberwindliche Differenzen zwischen Bonn und Paris war nicht unbegründet. Zum einen verweigerten sich führende französische Politiker wie Robert Schuman und Vincent Auriol weiterhin einer deutschen Beteiligung an einem westlichen Militärbündnis57, zum anderen besaß das Maß an Supranationalität, das die verantwortlichen Politiker dem Integrationsprozess zugestehen wollten, ein stetiges Konfliktpotenzial. Während Westdeutschland nur wenig nationale Souveränität „auf dem Altar der Supranationalität“ opferte58, bedeutete die europäische Integration für Frankreich in vielerlei Hinsicht Verzicht und lieferte den Befürwortern französischer Unabhängigkeit willkommene Argumente. Die Franzosen konnten allerdings auch die Augen nicht davor verschließen, dass sich die Kräfteverhältnisse in der Welt mit der Zündung der ersten sowjetischen Atombombe im Sommer 1949 und dem Angriff der nordkoreanischen Truppen auf den südlichen Landesteil verändert hatten. Da die Westeuropäer eine kommunistische Aggression auf dem europäischen Schauplatz nicht mehr ausschließen wollten und die politische Sicherheitsgarantie der USA für nicht ausreichend erachtet wurde, waren immer
54 AdG, 5. 4. 1951, S. 2893. 55 Vgl. Pfeil 2004 [483], S. 71 f. 56 Vgl. zu dem Kalkül von Jean Monnet in dieser Frage: Wilkens 1999 [699], S. 89; Wilkens 1999 [698]. 57 Vgl. Monnet 1978 [61], S. 426. 58 Herbst 1989 [320], S. 86.
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mehr Stimmen zu hören, die den Aufbau einer westeuropäischen Militärmacht forderten. Der Koreakrieg und der Aufbau einer Volkspolizei bzw. paramilitärischer Betriebskampfgruppen in der DDR schürten die Ängste vor einer militärischen Auseinandersetzung in Mitteleuropa, die Adenauer nicht ohne Hintergedanken am Lodern hielt, denn indem er die Bedrohungslage bewusst überzeichnete, erhöhte er den Wert der Bundesrepublik für die gemeinsame Verteidigung des Westens. Unterstützung für westdeutsche Aufrüstungspläne vermutete der Kanzler vor allem bei den verantwortlichen Politikern in Washington. Wollte Frankreich eine deutsche Nationalarmee verhindern und nicht von den in Bewegung geratenen Ereignissen überrollt werden, musste es eine ernst zu nehmende Alternative anbieten. Paris befand sich dabei keineswegs in einer Position der Stärke, brauchte es doch die amerikanische Finanz- und Militärhilfe, um den Krieg in Indochina erfolgreich fortführen zu können und seine Streitkräfte in Europa gefechtsbereit zu halten. Wollte Frankreich in dieser Situation die Zügel wieder in die Hand bekommen, um die Wirkungen des Schuman-Plans nicht verpuffen zu lassen, musste es ein weiteres Mal die Flucht nach vorn antreten. Am 24. Oktober 1950 legte schließlich der französische Ministerpräsident René Pleven einen Plan vor, der eine europäische Armee für eine gemeinsame Verteidigung Westeuropas vorsah und einen westdeutschen Wehrbeitrag ermöglichen wollte, ohne eine westdeutsche Nationalarmee zu schaffen. Nach Vorbild der Montanunion war eine oberste militärische Behörde mit einem europäischen Verteidigungsminister vorgesehen, der einer europäischen Versammlung verantwortlich und einem Ministerrat untergeordnet sein sollte. Der Vorschlag beinhaltete zudem einen integrierten Generalstab mit einem französischen General an der Spitze und zielte auf eine indirekte Kontrolle der westdeutschen Wiederaufrüstung ab. Während Paris die nationale Führung über Teile seiner in Frankreich stationierten Truppen sowie der Kolonialtruppen und der Marine behalten sollte, wurde den Deutschen nicht gestattet, Teile ihrer nationalen Armee außerhalb der Europaarmee zu halten. Auf der Basis „kleinstmöglicher Einheiten“ sollten die westdeutschen Soldaten integriert und unter die Befehlsgewalt eines integrierten Kommandos gestellt werden, während die anderen Mitglieder das Recht behielten, „mit ihren nationalen Armeen auch weiterhin eine eigene Verteidigungs- und Kolonialpolitik zu betreiben“59. Das Echo in den westlichen Hauptstädten war verhaltener als noch einige Wochen zuvor beim Schuman-Plan. Washington vermutete hinter der französischen Initiative ein Ablenkungs- und Verzögerungsmanöver; London machte sich über die mangelnde Effizienz des Vorschlages lustig, eine Meinung, die auch von französischen Militärs geteilt wurde, und in Bonn sah Adenauer die Bundesrepublik nicht als gleichberechtigten Partner akzeptiert60. Auch aus heutiger Sicht lässt sich der französische Vorschlag als Diskriminierung der Deutschen bezeich59 Brunn 2002 [310], S. 94. 60 Vgl. Adenauer 1983 [38], S. 341 f.
3. Europäische Integration durch deutsch-französische Annäherung
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nen61. Hans-Peter Schwarz geht noch weiter und spricht von einer „europäisch drapierten Fremdenlegion“62. Bei aller berechtigter Kritik stellt sich jedoch auch die Frage, ob es nicht erstaunlich ist, „dass ein französischer Ministerpräsident fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt den Vorschlag machte, deutsche Soldaten aufzustellen“63. Eher pragmatisch verhielt sich in der Folge auch Adenauer, der die westdeutschen Möglichkeiten in einer ersten Phase ausloten wollte. Da eine NATOLösung in Paris vorerst nicht durchzusetzen war und er den Bruch mit Frankreich nicht riskieren wollte, schien die Idee der Europaarmee für den Moment die praktikabelste Lösung. Für sein Entgegenkommen in den EVG-Verhandlungen und die formelle Anerkennung der deutschen Auslandsschulden wurden der Bundesrepublik am 6. März 1951 weitere Lockerungen des Besatzungsstatuts zugestanden, so dass u. a. am 15. März 1951 die Wiedereröffnung des Auswärtigen Amts feierlich begangen werden konnte, auch wenn die Bundesrepublik noch keine diplomatischen Beziehungen aufnehmen durfte. Für die europäische Integration und damit auch die deutsch-französischen Beziehungen begann jedoch mit der Verkündung des Pleven-Plans eine vierjährige europäische Leidensgeschichte, denn neben der fehlenden Integration Großbritanniens und dem ungeklärten Verhältnis der sich abzeichnenden Europaarmee zur NATO sorgten insbesondere die in dem Vorschlag formulierten supranationalen Strukturen („eine vollständige Verschmelzung von Mannschaften und Ausrüstungen herbeizuführen“) in Frankreich für heftigen Widerspruch, den Moskau immer wieder zu schüren versuchte, um die Öffentlichkeit gegen die westlichen Vorhaben aufzubringen und die Verhandlungen auf diese Weise zum Scheitern zu bringen. Am 11. September 1951 sandte die Sowjetunion eine Note an Großbritannien und Frankreich und warf beiden vor, der Bundesrepublik freie Hand bei ihren Kriegsvorbereitungen zu lassen64. Dem Kreml war zudem nicht entgangen, dass die am 15. Februar 1951 von den beteiligten Staaten aufgenommenen Verhandlungen schnell ins Stocken gerieten, was Stalin mutmaßen ließ, die militärische Integration der Bundesrepublik über die Mobilisierung der dortigen Öffentlichkeit zum Scheitern bringen zu können65. Eingebunden in diese Kampagne war auch die DDR, die mit nationaler Rhetorik Pluspunkte gegenüber dem westdeutschen Rivalen gewinnen sollte66. Am 10. März 1952 erfolgte schließlich das überraschende Angebot Stalins, die Einheit Deutschlands durch freie Wahlen wiederherzustellen und dem vereinigten Deutschland einen neutralen Status zu verleihen. Die sogenannte „Sta-
61 62 63 64 65 66
Vgl. Wolfrum 2006 [437], S. 110. Schwarz 1981 [427], S. 135. Herbst 1989 [320], S. 88. AdG, 11. 9. 1951, S. 3110. Vgl. Wettig 1999 [301], S. 214. Vgl. Rupieper 1994 [296], S. 211.
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lin-Note“ sah weiterhin vor, die Streitkräfte der Besatzungsmächte abzuziehen und Deutschland eine eigene Armee zur Verteidigung des Landes zuzugestehen. Als Gegenleistung forderte er eine strikte Bündnisfreiheit und die dauerhafte Fixierung der Oder-Neiße-Linie. Ob Stalins Angebot ernst gemeint war, bildete über lange Jahre Stoff für Diskussionen unter Politikern und Historikern, die bis heute andauern67. Die Vorschläge des sowjetischen Führers entwickelten sich in Deutschland wie in Frankreich zu einem „Zankapfel“68. Die DDR stellte sich ihrerseits als Garant des Friedens zwischen Deutschen und Franzosen dar, wie in der im November 1952 veröffentlichten Erklärung von Wilhelm Pieck, in der er sich direkt an das französische Volk wandte und proklamierte, dass es die DDR „nie und nimmer dulden [werde], dass von deutscher Seite jemals wieder Krieg gegen das französische Volk geführt wird“69. Diese Kampagnen konnten jedoch nicht verhindern, dass die Bundesrepublik mit den drei Westmächten am 26. Mai 1952 den Generalvertrag bzw. den Deutschlandvertrag „auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ unterzeichnete und damit die „volle Macht“ über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten erhalten sollte. Dafür sicherten sich die Alliierten gewisse Vorbehaltsrechte in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung. Eine endgültige Festlegung der deutschen Grenzen wurde bis zum Abschluss eines Friedensvertrags aufgeschoben; bis dahin wollten die Vertragspartner auf ein „gemeinsames Ziel“ hinarbeiten, „ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung ähnlich wie die Bundesrepublik besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist“70. Am nächsten Tag unterzeichneten die Außenminister von Frankreich, der Bundesrepublik, Italiens, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), der nicht nur chronologisch in direktem Zusammenhang mit dem Deutschlandvertrag stand. Da Frankreich stets darauf achtete, die Bundesrepublik erst in die Souveränität zu entlassen, nachdem die Modalitäten der militärischen Integration abschließend geregelt waren, hatte es auf einem Junktim zwischen beiden Vertragswerken bestanden: Das Besatzungsstatut sollte erst mit der Ratifizierung des EVG-Vertrages aufgehoben werden. Nach leidenschaftlichen Debatten im Bundestag und dem Scheitern einer von der SPD beim Bundesverfassungsgericht angestrengten Normenkontrollklage erfolgte die Verabschiedung von Deutschland- und EVGVertrag am 19. März 1953; die Ratifizierung im Bundesrat geschah zwei Monate
67 Vgl. zur Stalin-Note insbesondere: Zarusky 2002 [306]; Laufer 2004 [287]; Wettig 2007 [303]; Loth 2007 [292]; Ruggenthaler 2007 [295]. 68 Vgl. Morsey 2000 [420], S. 35; Weisenfeld 1997 [379], S. 81; Rupieper 1994 [296], S. 203 f. 69 L’Humanité, 13. 11. 1952. 70 Bundesgesetzblatt 1955, Teil II, S. 309.
3. Europäische Integration durch deutsch-französische Annäherung
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später, am 15. Mai. Damit hatten die Vertragswerke die parlamentarischen Hürden in der Bundesrepublik genommen, so dass Frankreich nun am Zug war, wo die Ratifizierung durch die Nationalversammlung immer noch ausstand. Welche Ängste ein wiedervereinigtes Deutschland nicht nur in Frankreich weiterhin auslöste71, zeigte sich wenige Monate später, als in der DDR der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ausbrach72. Entsprechend der von Georges-Henri Soutou so bezeichneten Politik der „doppelten Sicherheit“73 blieb die Aufmerksamkeit der französischen Betrachter immer auf die Rückwirkungen des Aufstandes hinsichtlich einer deutschen Wiedervereinigung und damit zusammenhängend auf die sowjetische Deutschlandpolitik konzentriert. In der Furcht vor einer neuerlichen deutschen „Schaukelpolitik“ auf der Basis einer gesamtdeutschen Bewegung „von unten“ drängten die verantwortlichen französischen Politiker und Diplomaten in Paris, Bonn und Berlin immer wieder auf Ruhe, Deeskalation und Rückkehr zur Normalität. Weil der Bundeskanzler in dieser die Gemüter bewegenden Phase den Primat der Westintegration jedoch nicht in Frage gestellt hatte74, entwickelte er sich für viele französische Politiker zu einer Art Lebensversicherung vor gesamtdeutschen Phantasien. Die inneren Verbindungen zwischen den Ereignissen vom 17. Juni 1953 und den französischen Diskussionen um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft waren nicht zu übersehen, als letztere in den folgenden Wochen in ihre entscheidende Phase traten. Vom ursprünglichen Pleven-Plan war in den Gesprächen und Verhandlungen nur wenig übrig geblieben, denn ein gemeinsames Verteidigungsministerium hatte einem neunköpfigen Kommissariat mit vornehmlich technischen Befugnissen Platz gemacht, das über 40 Divisionen à 13 000 Mann, davon 14 französische und 12 deutsche, und ein gemeinsames Budget verfügte. Die militärischen Einheiten sollten sich nun unterhalb des Armeekorps aus national-homogenen Truppen zusammensetzen, so dass die Integration nicht mehr auf der Basis der kleinstmöglichen Einheit, sondern auf der Ebene des Armeekorps vollzogen wurde. Alle wesentlichen Entscheidungen hatte ein Ministerrat einstimmig zu treffen, und die Ausbildung sowie Rekrutierung der Soldaten oblag auch weiterhin der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Jean Monnet stellte bedauernd fest, dass von der Supranationalität einzig die gemeinsame Uniform geblieben sei. Demgegenüber hatte Frankreich zwei seiner wichtigsten Ziele erreicht: Die westdeutsche Aufrüstung war verzögert worden, und die Bundesrepublik besaß keine Spielräume mehr für eine wie auch immer zu denkende Neutralitätspolitik. Gleichzeitig, und das wog bei den innerfranzösischen Diskussionen nun immer schwerer, wurde Frankreich stärker als ursprünglich gedacht „in die Zucht einer EVG“75 genommen, in der alle Mitgliedsstaaten mit gleichem 71 72 73 74 75
Vgl. Faure 1984 [49], S. 317. Vgl. Pfeil 2003 [654]; Pfeil 2003 [655]. Vgl. Soutou 1988 [298]; Soutou 1996 [678]; Soutou 2003 [275]. Vgl. zum Forschungsstand: Stöver 2002 [430], S. 30 ff., 102 ff. Wolfrum 2006 [437], S. 110.
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Recht ausgestattet sein sollten, während die anfänglich im Pleven-Plan noch enthaltenen Diskriminierungen gegenüber der Bundesrepublik – nicht zuletzt auf amerikanischen Druck hin – einem gleichberechtigteren Verhältnis Platz gemacht hatten. Aufgrund der kritischen Haltung in der französischen Öffentlichkeit und der sich daraus ergebenden realen politischen Kräfteverhältnisse wagte es Ministerpräsident René Mayer (8. Januar–21. Mai 1953) auf der einen Seite nicht, die Verträge der französischen Nationalversammlung zur Abstimmung zu stellen, auf der anderen bemühte er sich bei den EVG-Vertragspartnern um „Präzisierungen“, die vor allen Dingen den „nationalen“ Sektor der französischen Streitkräfte stärken sollten76. Dass Paris die gewünschten Änderungen nicht erreichen konnte, erklärt u. a., warum die Ratifizierung der EVG schließlich in der französischen Nationalversammlung am 30. August 1954 mit 319 zu 294 Stimmen scheiterte. Selbst der französische Ministerpräsident Pierre Mendès France (Juni 1954– Oktober 1955), der anfänglich zu den Befürwortern einer Europaarmee gehört hatte, enthielt sich bei der entscheidenden Abstimmung in der Nationalversammlung der Stimme. Adenauer bezeichnete die französische Entscheidung als „großes Unglück“77 bzw. als „entscheidenden Rückschlag“78, drohte sich die Übertragung der Souveränitätsrechte auf den westdeutschen Staat doch nun wegen des Junktims zwischen Wehrbeitrag und dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrages weiter hinauszuzögern. Bei der Suche nach den Gründen für diesen „schwarzen Tag für Europa“ (Adenauer) stoßen wir auf ein ganzes Ursachenbündel. Zum einen blieb „die Sorge um die Unberechenbarkeit der wirtschaftlich wiedererstarkenden Deutschen“79 in Frankreich weiterhin virulent, zum anderen muss die missliche Lage der französischen Streitkräfte in Indochina angeführt werden, die am 7. Mai 1954 in Dien Bien Phu eine empfindliche Niederlage erlitten hatten. Durch die erwartete, aber ausgebliebene amerikanische Unterstützung in den entscheidenden Momenten der militärischen Auseinandersetzung sowie die vermittelnde Rolle der Sowjetunion fühlten sich jene Kräfte bestätigt, die angesichts der mangelnden amerikanische Solidarität auch in Zukunft nicht auf nationale französische Streitkräfte verzichten wollten und weiterhin direkte Verhandlungen mit Moskau forderten. Anders als die Regierungen in Washington, London und Bonn nahmen sie gerade nach dem Tod von Stalin die Moskauer Vorstöße und Angebote ernst und sahen in ihnen keineswegs nur simple Manöver, um die EVG zum Scheitern zu bringen. Über das kommunistische80 und gaullistische Milieu hinaus wartete man nur auf ein akzeptables sowjetisches Angebot und forderte, den Sowjets eine 76 77 78 79 80
Vgl. Poidevin 1984 [228], S. 85 f. Adenauer 1983 [38], S. 351. Adenauer 1986 [1], S. 181. Bock 1999 [1035], S. 43. Risso 2007 [663].
3. Europäische Integration durch deutsch-französische Annäherung
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letzte Chance für Verhandlungen einzuräumen81. Manche sahen eine Bestätigung in dem Moskauer Vorschlag zur Schaffung eines Systems kollektiver Sicherheit in Europa, das der sowjetische Außenminister bei den vierseitigen Verhandlungen in Berlin (25. Januar –18. Februar 1954) seinen Gesprächspartnern als Alternative zur westlichen Bündnispolitik vorschlug. Zum großen Gelächter der westlichen Delegationen war jedoch vorgesehen, die USA an diesem Zusammenschluss nicht zu beteiligen, so dass sich die Frage stellt, ob die Sowjetunion selbst an die Annahme dieses Vorschlags glaubte82. Der Kreis um Robert Schuman unterstellte dem Kreml nunmehr, die Gespräche und Konferenzen um einen Friedensvertrag in die Länge zu ziehen und zu einer Viermächtekontrolle zurückkehren zu wollen, um die Integrationsanstrengungen des Westens zu unterlaufen und seinen eigenen Einfluss weiter nach Westen auszudehnen83. Waldemar Besson urteilte vor längerem, dass Paris als Gegenleistung für das sowjetische Verhalten zu weit reichenden Konzessionen bereit gewesen sei: „Die Opferung der EVG war der Preis, den Mendès France für den Frieden in Indochina zahlte“84. Georges-Henri Soutou verweist solche Vermutungen jedoch in das Reich der Legenden. Plausibler erscheint in der Tat, dass es der französischen Regierung bei realistischer Einschätzung der intersystemischen Möglichkeiten in der bipolaren Weltordnung doch eher darum ging, den Beweis für die Kompromissunfähigkeit der Sowjets zu erbringen. So musste Paris erst einmal auf Zeit spielen und eine Viermächtekonferenz sorgfältig vorbereiten, um den Sowjets keinen Vorwand zu geben, dem Westen die Schuld für ein Scheitern in die Schuhe zu schieben. Bidaults Annahme, dass die Sowjetunion in der deutschen Frage zu keinen weiteren Zugeständnissen bereit sei, förderte seine Bereitschaft zu einer Gipfelkonferenz, denn ihr eingeplantes Scheitern bot die Gelegenheit, den EVG-Gegnern in Frankreich den fehlenden Willen Moskaus zu einer Einigung vor Augen zu führen85. Für Jacques Bariéty ist es darüber hinaus entscheidend gewesen, dass die französischen Militärs erste Anstrengungen zum Aufbau einer eigenständigen Atomstreitmacht unternommen hatten, der jedoch die potenziellen Beschränkungen der französischen Souveränität im waffentechnischen Bereich im Rahmen einer supranationalen europäischen Armee im Wege gestanden hätten86. So konnte auch die Konferenz der Außenminister der Sechs Mächte in Brüssel im August 195487 das Scheitern der EVG
81 82 83 84 85 86 87
Vgl. Bariéty 1994 [509], S. 184 ff. Vgl. Wettig 2005 [304], S. 288. Vgl. Soutou 2002 [274], S. 37 ff. Besson 1970 [185], S. 151. Vgl. Soutou 1991 [674]; Guillen 1996 [547]. Vgl. Bariéty 1993 [508]. Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium des Innern und vom Bundesarchiv, II. Reihe/Bd. 4: Die Außenminister-Konferenzen von Brüssel, London und Paris 8. August bis 25. Oktober 1954, München 2003.
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nicht mehr verhindern, womit sowohl die europäische Integration als auch die deutsch-französischen Beziehungen vor dem Nichts zu stehen schienen. Schnell zeigte sich jedoch, dass der Misserfolg bereits den Keim für seine Überwindung enthielt.
4. Normalisierung und Annäherung (1955–1958)
4. Normalisierung und Annäherung (1955–1958)
Als die EVG am 30. August 1954 zu Grabe getragen wurde, schienen auch die politische Gemeinschaft und der gemeinsame Markt vor dem Aus zu stehen. Niemand konnte in diesem Moment voraussehen, dass sich die in der Montanunion zusammengeschlossenen Länder bereits drei Jahre später auf eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) einigen würden. Diese neuen Anstrengungen für ein integriertes Europa waren von besonderer Bedeutung nach dem Scheitern der EVG sowie angesichts der neuerlichen Zweifel an dem politischen Einfluss der europäischen Staaten und insbesondere Frankreichs, die wegen der Suezkrise und der ersten Zuckungen der Dekolonisation Nordafrikas aufgekommen waren. Sie standen auch im Zentrum der deutsch-französischen Beziehungen in diesen Jahren. Die dornigsten Probleme (deutsche Wiederbewaffnung, Saarfrage und Entschädigung der französischen Opfer der NS-Herrschaft) zwischen beiden Ländern konnten gelöst werden, was sowohl die bilaterale Zusammenarbeit, insbesondere auf militärischem Gebiet, wie auch den Dialog zwischen Frankreich und Westdeutschland erleichterte, so dass die europäischen Einigungsbestrebungen einen neuen Anlauf nehmen konnten.
Die Lösung bilateraler Probleme Saarfrage Der Schock des Scheiterns der EVG wirkte sich fast unmittelbar aus, wurde die Saarfrage doch nun umgehend wieder aufgerollt. Während Bonn von der Aufnahme der Bundesrepublik in die Westeuropäische Union (WEU) und kurz darauf in die NATO politisch wie militärisch zum einen stärker profitierte als von der Teilnahme an der geplanten europäischen Armee, bot zum anderen einer der bilateralen Verträge, die am 23. Oktober 1954 in Paris unterzeichnet wurden, den Hebel für die Regelung der Saarfrage, welche die deutsch-französische Annäherung seit 19491 regelmäßig blockiert hatte. Seit Bekanntwerden des Schuman-Plans 1950 hatte sich die Saarfrage immer mehr zum Zankapfel zwischen Frankreich, der jungen Bundesrepublik und dem Saargebiet selbst entwickelt, denn es blieb u. a. ungeklärt, ob die Saar als voll1 Vgl. Thoss 1990 [689].
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gültiges Mitglied an der EGKS teilnehmen oder von Frankreich repräsentiert werden solle. De facto ging es bei dieser Debatte jedoch um die Autonomie des Landes. Deshalb und um weder den Aufbau Europas noch die Westbindung der Bundesrepublik oder die deutsch-französische Annäherung zu behindern, trug Robert Schuman 1952 den Vorschlag einer Europäisierung des Saargebiets vor, den zuvor schon dessen Ministerpräsident Johannes Hoffmann erwogen hatte. Diese Europäisierung stand im Mittelpunkt der Pariser Verträge bzw. des von Pierre Mendès France und Konrad Adenauer ausgehandelten Saarstatuts, das die westeuropäische Kontrolle der Saar bei fortbestehender wirtschaftlicher Anbindung an Frankreich vorsah. Im Vergleich zur Situation von 1945 und selbst von 1949 oder von 1952/53 hatten sich die absehbaren Lösungen und die Gefühle der Saarbevölkerung, die bis dahin die Autonomie des Landes kräftig unterstützt hatte, jedoch deutlich verändert. Nunmehr wirkte der wirtschaftliche Aufschwung der Bundesrepublik wie ein Magnet auf die Saarländer, die sich in der Nachkriegszeit angesichts der Kriegszerstörungen in Deutschland eher dem französischen Wirtschaftsraum angenähert hatten. Als die Bundesrepublik sich Mitte der 1950er Jahre anschickte, Frankreich auf ökonomischem Gebiet zu überholen und sich die saarländische Kohle bzw. die Produkte der saarländischen Eisen- und Stahlproduktion auf dem französischen Markt mit steigenden Absatz- und Abnahmeproblemen konfrontiert sahen, war in der saarländischen Bevölkerung ein Meinungsumschwung zu beobachten. Und das umso mehr, als Frankreich damals wegen seiner inneren Krisen, seiner Dekolonisationsprobleme und der Stagnation seiner Wirtschaft2 als „kranker Mann im Westen“ erschien. Darüber hinaus wurde den Saarländern eine Mitbestimmung in der Montanindustrie verwehrt; zudem schwächte das geltende Tarif- und Streikrecht die Gewerkschaften, so dass die Saarländer am 23. Oktober 1955 das Saarstatut mit deutlicher Mehrheit (67,7 %) ablehnten und damit gleichzeitig für eine Rückgliederung an die Bundesrepublik votierten. Dieses Ergebnis ließ bei Adenauer die Befürchtung neuer westdeutsch-französischer Spannungen aufkommen. Mit Erleichterung beobachtete er jedoch, wie die Regierung in Paris den Rücktritt der Regierung Hoffmann akzeptierte, die bei den Wahlen am 18. Dezember 1955 nur noch 28 % der Stimmen erhalten hatte, so dass Handlungsbedarf auf beiden Seiten des Rheins entstanden war. Angesichts der großen Schwierigkeiten Frankreichs in Nordafrika hielt es die französische Regierung für ratsamer, dem Willen der Saarbevölkerung nachzukommen und dem politischen Anschluss des Saarlandes an die Bundesrepublik nicht im Weg zu stehen, im Gegenzug dafür aber auf wirtschaftliche Konzessionen zu drängen. So konnten sich Adenauer und Mollet am 4. Juni 1956 auf die Angliederung der Saar an das Bundesgebiet einigen, die am 27. Oktober 1956 vertraglich kodifiziert (Luxemburger Vertrag) und am 1. Januar 1957 nach Artikel 23 des Grundgesetzes vollzogen wurde. Das Saarland bildete künftig also das zehnte 2 Vgl. Heinen 2005 [552], S. 133.
4. Normalisierung und Annäherung (1955 –1958)
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Bundesland. Es dauerte allerdings bis 1959, ehe es auch wirtschaftlich wieder mit Deutschland vereinigt wurde3. Mit diesem Übereinkommen war eine wichtige Etappe auf dem Weg zur westdeutsch-französischen Aussöhnung zurückgelegt worden. Auf offensichtlich paradoxe Weise hat das Scheitern der Europäisierung des Saarlandes damit den Weg für die Römischen Verträge bereitet, denn, wie insbesondere Armin Heinen gezeigt hat, konnte die europäische Einigung nur durch die Zustimmung der Nationalstaaten vorankommen4. Die Lösung der Saarfrage erleichterte somit sowohl die deutsch-französische „Aussöhnung“ als auch die europäische Integration sowie die Westbindung der Bundesrepublik.
Wiedergutmachung und Kriegsverbrecherpolitik Alle zwischen Frankreich und der Bundesrepublik ausstehenden Fragen waren jedoch noch nicht gelöst. Seit der ersten Hälfte der 1950er Jahre belastete die Frage der Wiedergutmachung für NS-Opfer aus Frankreich und anderen westlichen Ländern die westdeutsch-französischen Beziehungen. Die nicht-deutschen Opfer des Nationalsozialismus waren vom Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 19535 nicht erfasst worden, was zur Mobilisierung ausländischer Opferorganisationen führte, die nunmehr Druck auf ihre Regierungen ausübten. Im Juni 1956 waren neben Frankreich auch Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Dänemark, Norwegen, Griechenland und Großbritannien in einer konzertierten Aktion an die Bundesregierung herangetreten, um auf multilateralem Weg den Druck auf Bonn zu erhöhen. Die Bundesregierung war sich der schweren außenpolitischen Belastung bewusst, versuchte in dieser Frage jedoch auf Zeit zu spielen, obwohl die westeuropäischen Regierungen deutlich zu verstehen gaben, dass Deutschland eine moralische Verpflichtung gegenüber den ausländischen Deportierten und Konzentrationslagerhäftlingen habe. Die bundesdeutsche Seite legte weiterhin größte Zurückhaltung an den Tag, wollte sie doch im Hinblick auf die osteuropäischen Länder, wo die meisten der Betroffenen lebten, keinen Präzedenzfall schaffen. Auffällig war, dass weder die Gruppe der acht Staaten mit der Bundesregierung noch die acht Staaten untereinander eine Einigung über die Definition der „Opfer des Nazismus“ erzielen konnten. Deshalb sah man 1958 von multilateralen Verhandlungen ab und ging bevorzugt bilateral vor. So kamen bis 1964 elf Verträge zustande6, u. a. das deutsch-französische Abkommen vom 15. Juli 1960, das die Entschädigung von mehr als 112 000 Personen ermöglichte. Die deutsch-französischen Verhandlungen gestalteten sich wegen der Kategorisierung der Opfer und der Höhe der Entschädigungszahlungen mühsam. 3 4 5 6
Vgl. Fischer 1959 [535]; Cahn 1985 [522]; Hudemann, Heinen 2007 [576]. Vgl. Heinen 2005 [552], S. 136 f. Vgl. Hudemann 1987 [563]; Hockerts 2001 [559]; Goschler 2005 [543]. Vgl. Féaux de la Croix 1985 [534].
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Während sich die deutsche Seite anfangs weigerte, Angehörige der Résistance in den Kreis der Entschädigungsempfänger aufzunehmen, blieb Paris in diesem Punkt hartnäckig und bestand auf der Tatsache, dass Résistanceangehörige wegen ihrer „Weltanschauung“ deportiert worden seien. Die französische Regierung setzte auch durch, dass die Familien toter Opfer entschädigt wurden. Als nach der Machtübernahme de Gaulles 1958 die Résistance eine geschichtspolitische Aufwertung erfuhr und damit auch ehemalige Résistancekämpfer in den Ministerien und in der Verwaltung über einen steigenden Einfluss verfügten, wuchs der Druck auf Bonn weiter, die bisher eingenommene Blockadehaltung aufzugeben. Zugleich musste die Bundesregierung auch bei der Höhe der Entschädigungszahlungen Entgegenkommen zeigen, bestand 1959 zwischen den französischen Forderungen (800 Millionen DM) und dem bundesdeutschen Angebot (100 Millionen DM) doch noch eine große Diskrepanz. Die französische Regierung drängte die Bonner Gesprächspartner 1959/60 mehrfach dazu, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, so dass es im Mai 1960 endgültig zum Durchbruch kam. Bonn akzeptierte, als Wiedergutmachungsleistung 400 Millionen DM an Frankreich zu zahlen, was sich auf die allgemeinen deutsch-französischen Beziehungen deutlich beruhigend auswirkte, handelte es sich doch um die höchste Summe, die Bonn an ein westeuropäisches Land zahlte7. Nach Ulrich Lappenküper beeinflusste der politische Kontext – Berlinkrise im Herbst 1958, die deutsch-französische Solidarität im Anschluss und der gescheiterte Pariser Gipfel im Jahr 1960 (vgl. Kap. I.5) – entscheidend die Bonner Konzessionsbereitschaft8. Claudia Moisel verweist jedoch auch auf die Lebensläufe der an den Verhandlungen beteiligten Diplomaten: Jean Laloy, ehemaliger Résistancekämpfer, den die Nazis verschleppt hatten, saßen auf deutscher Seite Alexander Böker und Friedrich Janz gegenüber; beide hatten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gekämpft und standen für eine Wiedergutmachung aus moralischen Gründen und – unter Einbeziehung der Résistancekämpfer – für die Stärkung der deutsch-französischen Beziehungen ein9. Die Vereinbarung vom 15. Juli stellte schließlich folgende vier Gruppen von Opfern und Entschädigungsberechtigten fest: 1. die Gruppe der in ein KZ oder Vernichtungslager Verschleppten; 2. die Gruppe der in einem deutschen Internierungslager außerhalb Frankreichs gefangen gehaltenen Résistanceangehörigen; 3. die Gruppe der ebenfalls deportierten bzw. internierten „politischen Gefangenen“ (hauptsächlich jüdische Opfer) und 4. – kraft Sonderregelung – die Opfer pseudomedizinischer Versuche (Zahlungen an 97 Personen bei 446 Anträgen).
7 Vgl. Moisel 2006 [644], S. 282. 8 Vgl. Lappenküper 2001 [608], S. 91. 9 Vgl. Moisel 2006 [644], S. 260.
4. Normalisierung und Annäherung (1955 –1958)
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Die Benennung der entschädigungsberechtigten Personen und die Verteilung der Entschädigungsgelder oblagen allein der französischen Seite. Wer diese Einteilung genauer betrachtet, entdeckt hinsichtlich der Erinnerung an den Krieg eine seltsame, in der französischen Gesellschaft und in den Ministerien aber durchaus geläufige Hierarchisierung: Hatte die französische Regierung im Mai 1945 noch alle Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter, Deportierten und Internierten als Kriegsopfer eingestuft10, so veränderten die Gesetze vom August und September 1948 den Status der verschleppten und gefangenen Résistancekämpfer zum einen und der deportierten und internierten „Politischen“ zum anderen dergestalt11, dass bei der deutsch-französischen Vereinbarung von 1960 bestimmte Kategorien von Opfern von Entschädigungsansprüchen ausgeschlossen wurden, z. B. die Kriegsgefangenen (trotz der Misshandlungen, die sie zu erdulden gehabt hatten), die Zwangsarbeiter und -verpflichteten in der deutschen Wehrmacht wie die Malgré-nous aus dem Elsass und von der Mosel, die deportierten Sinti und Roma sowie auch Homosexuelle. Nach der Entschädigungspraxis der französischen Behörden bis Mitte der 1970er Jahre galten die „résistants patriotes“ als die Elite der Kriegsopfer12, gefolgt von den jüdischen Opfern, den Kriegsgefangenen und schließlich den Zwangsarbeitern13. Erst später kam unter dem Druck der Opferverbände am 31. März 1981 ein deutsch-französisches Abkommen über die Entschädigung der Malgré-nous in Höhe von 250 Mio. DM zustande, die an die Fondation Entente Franco-Allemande14 gezahlt wurden. Seit 1989/90 können sich ehemalige französische Zwangsarbeiter an die Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ wenden, die zur International Organization for Migration (IOM) zählt. Anfang der 1960er Jahre waren sich Bonn und Paris genau bewusst15, dass die Entschädigungszahlungen an die französischen Opfer ein Problem entschärften, das in der französischen Öffentlichkeit zu deutschfeindlichen Turbulenzen hätte führen können. Auf scheinbar paradoxe Art und Weise ließ sich parallel zur Regelung der Entschädigungsfrage im Laufe der 1950er und Anfang der 1960er Jahre eine eher nachsichtige Behandlung von deutschen Kriegsverbrechern beobachten, obwohl die provisorische französische Regierung in traumatischer Erinnerung an die Leipziger Prozesse nach dem Ersten Weltkrieg, als die deutsche Justiz Kriegsverbrecher hatte straflos laufen lassen, auf einer strengen Ahndung der gleichen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bestanden hatte. Abgesehen von der Handvoll höchster nationalsozialistischer Würdenträger, die in Nürnberg abgeurteilt worden waren, sollten deutsche Kriegsverbrecher, die ihre Taten im
10 11 12 13 14 15
Vgl. Moisel 2005 [642], S. 316–322; Wieviorka 1992 [1259], S. 141. Vgl. Lalieu 1994 [1227]. Vgl. Rousso 1987 [1243]. Vgl. Bories-Sawala 2000 [1201]. Vgl. Riedweg 1995 [370]; Kempf 1997 [1221]. Vgl. Moisel 2006 [644], S. 257.
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Ausland begangen hatten, vor Militärgerichte ebendieser Länder gestellt werden16. 1945/46 hatten französische Militärgerichte noch harte Strafen in der Erwartung verhängt, dass die französische Öffentlichkeit mit NS-Verbrechern und französischen Kollaborateuren endlich abschließen wollte. Aber bis auf einige herausragende Fälle, z. B. das Verfahren gegen den früheren Chef der elsässischen Zivilverwaltung, Robert Wagner, der zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet wurde, waren diese Gerichte noch gar nicht in die Prüfung der schlimmsten Fälle eingestiegen, weil sie ebenso langwierige wie höchst komplizierte Verhandlungen erwarteten. Erst in den 1950er Jahren, als die Justiz unter dem Druck politischer Kreise17 „nachsichtiger“ geworden war, wurden viele dieser Fälle entschieden. Die französische Regierung trug schließlich den neuen Prioritäten des Kalten Krieges und des europäischen Wiederaufbaus Rechnung, nachdem Briten und Amerikaner ihre Politik gegenüber Verbrechern des „Dritten Reiches“ bereits im Sommer 1947 merklich verändert hatten. Auf französischer Seite wirkte sich nun auch der Algerienkrieg auf diese Frage aus, wollte Paris doch in dieser heiklen außen- und innenpolitischen Situation Spannungen mit Bonn vermeiden18. Und in der Tat reklamierte die deutsche Öffentlichkeit, unterstützt von fast allen Parteien, die Freilassung deutscher Kriegsverbrecher im Ausland. Die strengen französischen Haftstrafen wurden immer stärker kritisiert und begünstigten sogar die Reintegration dieser Verbrecher in die deutsche Gesellschaft, wo sie in einer Art Reflex gemeinhin als Opfer der Siegerjustiz betrachtet wurden19. Nicht zuletzt als Folge dieses öffentlichen Drucks intervenierte die Bundesregierung regelmäßig bei der französischen Regierung mit dem Gesuch um Amnestie, andere Gnadenerweise oder gar die Einstellung von Strafverfahren20. Robert Schuman sah in dem Problem der deutschen Kriegsverbrecher sogar einen „Störfaktor“ der europäischen Integration und ganz besonders der EVG21. In diesem Sinn drängten französische Regierungskreise zum großen Verdruss von Kommunisten sowie Résistance- und Deportiertenverbänden vielfach auf wohlwollendere Urteile der Justiz, so dass vornehmlich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre die Zahl der Verfahren ebenso zurückging wie die Zahl der Angeklagten: 1951 saßen dort 465 Verurteilte ein, 1954 noch 147 und 1958 nur noch 1022. Von insgesamt etwa 20 000 in Frankreich festgestellten deutschen Kriegsverbrechen stuften die französischen Behörden mehr als 16 000 Fälle als „folgenlos“ ein. So fällt die Bilanz eher zwiespältig aus: Bis 1956 wurden nur 2345 Urteile gefällt und davon 1314 in Abwesenheit der Angeklagten. Von den 800 Todesurteilen kamen
16 17 18 19 20 21 22
Vgl. Brunner 2004 [518], S. 85 f. Vgl. Moisel 2004 [641]. Vgl. Poidevin, Bariéty 1982 [488], S. 434. Vgl. Brunner 2004 [518], S. 16. Vgl. Frei [1312], S. 234 f. Vgl. Moisel 2004 [641], S. 240. Vgl. Brunner 2004 [518], S. 90.
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nur 47 tatsächlich zur Vollstreckung23. Kurz vor der Unterzeichnung des ÉlyséeVertrages ließ de Gaulle die letzten deutschen Kriegsverbrecher frei, die noch in französischen Gefängnissen saßen, um – wie er glaubte – dieses delikate Kapitel zwischen den beiden Ländern abzuschließen. Zu diesen letzten Freigelassenen zählten insbesondere Carl Oberg, Hauptverantwortlicher der SS und Polizeichef in Paris von 1942 bis 1944, und Helmut Knochen, ehemals Chef der Sicherheitspolizei im besetzten Frankreich. Beide waren 1955 zum Tode verurteilt worden, doch hatte Staatspräsident René Coty 195824 die Umwandlung in lebenslange Haftstrafen verfügt. Nach Abschluss des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages stellten die französischen Gerichte ihre Ermittlungen ein. Die deutsche Justiz sah sich hingegen erst einige Jahre später in der Lage, sich mit diesen NS-Verbrechen ernsthaft zu beschäftigen. Claudia Moisel zog daraus folgenden Schluss: „Die Annäherung der ehemaligen Erbfeinde war somit von der Ausgrenzung der als problematisch empfundenen Erinnerung an die Kriegsjahre begleitet“25. Halten wir jedoch fest, dass mit der Einrichtung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“ in Ludwigsburg 195826 die Bundesrepublik ihre „Vergangenheitspolitik“27 einer ernsthaften Revision unterzog und die notwendigen Untersuchungsmittel bereitstellte, um in den folgenden Jahren Nazi-Verbrechen zu verfolgen und die Täter abzuurteilen. Welche Sensibilität dieses Thema auch Mitte der 1960er Jahre noch hatte, zeigte sich während der 1964 in der Bundesrepublik stattfindenden Debatten über die für den 8. Mai 1965 vorgesehene Verjährung von NS-Verbrechen, die vehemente Proteste weiter Teile der französischen Öffentlichkeit und vieler Parlamentarier in Paris hervorrief, was auch die deutsch-französischen Beziehungen erneut belastete. Diese Reaktionen, die in eklatantem Widerspruch zu den Gnadenerweisen und Begnadigungen während des Übergangs von der IV. zur V. Republik standen, brachten zudem die Regierung in Bonn in Verlegenheit28. Nachdem die Kreise ehemaliger Résistancekämpfer und Deportierter die Entschädigung für die Opfer des Nationalsozialismus durchgesetzt hatten, trugen ihre Proteste damit maßgeblich zur weiteren Verfolgung von NS-Verbrechern und ihrer Verurteilung vor deutschen Gerichten bei.
23 24 25 26 27 28
Vgl. Moisel 2004 [641], S. 8 f. Vgl. Rousso 1987 [1243], S. 79. Moisel 2004 [641], S. 240. Vgl. Weinke 2008 [1257]. Vgl. Frei 1999 [1312]. Vgl. Brunner 2004 [518]; Moisel 2004 [641].
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Kräfteverhältnisse im Wandel Praktizierte Solidarität während der Suezkrise Nachdem Frankreich, Großbritannien und Israel Ende Oktober 1956 eine Militäraktion gegen Ägypten begonnen hatten, um die Kontrolle über den Suezkanal zurückzugewinnen, forderten die USA und die UdSSR die drei Staaten Anfang November ultimativ auf, sich wieder aus Ägypten zurückzuziehen29. Während die Verantwortlichen in Paris über das Ultimatum berieten, das für Frankreich eine unzweifelhafte Demütigung bedeutete und ihm seinen gesunkenen diplomatischen Einfluss in den internationalen Beziehungen wieder einmal vor Augen führte, traf Bundeskanzler Adenauer am 6. November 1956 wie geplant zu einem Staatsbesuch in Paris ein. Diese Reise war bereits im September mit der französischen Seite vereinbart worden, doch gab es in Bonn zwischenzeitlich Stimmen, die dem Kanzler angesichts der Suezkrise nahelegten, den Termin für das Zusammentreffen mit Guy Mollet zu verschieben. Auch das Auswärtige Amt riet Adenauer ab und plädierte für einen neutralen Kurs, um das „bislang so erfolgreiche Navigieren zwischen den Klippen von westlichem Misstrauen in die Zuverlässigkeit des neuen Deutschlands und der Flucht der arabischen Welt in die nur zu aufnahmebereiten Arme der DDR“30 fortsetzen zu können. Der Kanzler begegnete den Amerikanern aber zum damaligen Zeitpunkt mit ausgesprochen kritischer Distanz, unterstellte er ihnen doch mit Blick auf die deutsche Frage, sich mit dem Kreml über die Aufteilung der Welt in zwei exklusive Einflusssphären geeinigt zu haben. Weil er darüber hinaus fürchtete, die USA könnten ihren Bündnisverpflichtungen nicht nachkommen, setzte er auf die europäische Karte und wollte die Suezkrise nutzen, um gemeinsam mit Frankreich die europäische Integration weiter zu vertiefen. Mit diesen Intentionen traf er in Paris durchaus auf offene Ohren, sahen die französischen Regierenden in einer stärkeren Nähe zur Bundesrepublik und in der Perspektive eines europäischen Zusammenschlusses doch ein probates Mittel, um der amerikanischen Vormundschaft zu begegnen und wieder neue Handlungsspielräume zu gewinnen. Die französische Öffentlichkeit hatte es dem Bundeskanzler in dieser Phase zudem hoch angerechnet, dass er der in die diplomatische Defensive geratenen französischen Regierung seine demonstrative Solidarität erklärt und sich in dieser Situation als verlässlicher Verbündeter verhalten hatte. 1956/57 sollten also Jahre einer intensiven Zusammenarbeit der beiden Regierungen werden, besonders auf militärischem Gebiet (Bewaffnung) 29 Vgl. Carlton 1981 [246]; Louis, Owen 1992 [261]; Vaïsse 1997 [278]; Heinemann, Wiggershaus 1999 [256]; Dülffer 2003 [249]; Pfeil 2006 [268]; Hoerber, Leishman 2008 [208]. 30 Pfeiffer 2000 [224], S. 225.
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bis hin zu gemeinsamen Projekten im Nuklearbereich. Nach Soutou besaß diese Kooperation, die auch Italien weit offenstand, das Potenzial „einer echten strategischen Gemeinschaft“, obwohl deren konkrete Resultate letztendlich eher enttäuschten (vgl. Kap. I.6). „Im Geiste unverbrüchlichen Vertrauens“31 wollten Guy Mollet und Konrad Adenauer mit diesen Projekten und der Wiederankurbelung der europäischen Integration Europa aus der Lethargie reißen, in die es nicht zuletzt durch den Kalten Krieg und die Beben der Entkolonialisierung geraten war.
Die Bundesrepublik und die französische Dekolonialisierung Als im Oktober 1954 die Pariser Verträge unterzeichnet wurden, hatte Frankreich den Indochinakrieg verloren und stand kurz vor dem Algerienkrieg. Wie Jean-Paul Cahn bemerkte, gewann Bonn Zug um Zug seine Souveränität zurück, während „Paris zwischen zwei schmerzhaften Phasen der Erosion seines Kolonialreichs stand […]. Das Kräfteverhältnis war in Bewegung geraten“32. In den vorausgegangenen Jahren hatte Adenauer die französischen Operationen in Indochina unterstützt und das finanzielle Engagement begrüßt, das die Amerikaner Frankreich in diesem Krieg gewährten, der sich in die Geschichte der Entkolonialisierung wie auch des Kalten Krieges gleichermaßen einschrieb. Der Bundeskanzler hatte sich klar für eine Containmentpolitik angesichts des kommunistischen Vordrängens ausgesprochen und bei der Unterzeichnung der Genfer Verträge 1954 befürchtet, dass der Waffenstillstand in Indochina gegen das Scheitern der EVG aufgerechnet werden und sogar die Neutralisierung Deutschlands mit sich bringen könnte33. Aber abgesehen vom Problem der deutschen Fremdenlegionäre in Indochina und bald auch in Algerien34, deren Engagement nicht nur von einem großen Teil der deutschen, sondern auch von der französischen Öffentlichkeit erregt diskutiert wurde, besaß der Indochinakrieg keine größere Bedeutung für die Beziehungen zwischen Paris und Bonn. Er hatte zwar die Schwäche Frankreichs offenbart, aber gerade daraus erwuchs ein zusätzliches Element der Annäherung der beiden Länder. Völlig anders verhielt es sich mit dem Algerienkrieg, dem die französische Regierung zum damaligen Zeitpunkt (und bis 1999) das Prädikat „Krieg“ verweigerte. Während dieses bewaffneten Konflikts forderte Paris beharrlich die westdeutsche Solidarität ein, was die Bonner Regierung vor Probleme stellte, wollte sie doch ihre diplomatischen Handlungsspielräume nicht eingeschränkt sehen und ihre eigenen Interessen vertreten: Machte sich die Bundesrepublik die französi31 32 33 34
Lappenküper 2005 [609], S. 84; Vgl. dazu auch ders. 2001 [468], S. 914 ff. Cahn 2005 [526], S. 139. Vgl. Scholtyseck 1999 [665], S. 426. Vgl. Michels 1999 [640]; Cahn 1997 [523].
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sche These zu eigen, beim Algerienkonflikt handele es sich um eine „innere Angelegenheit Frankreichs“, riskierte sie Spannungen mit einer Reihe von arabischen Staaten, die die nationale Befreiungsfront Front de Libération nationale (FLN) in Algerien unterstützten und mit der Anerkennung der DDR drohten. Nichtsdestotrotz versicherte Adenauer Paris seiner Solidarität35, weil ihn de Gaulle in der Berlinkrise von 1958 auch nicht im Stich gelassen hatte, wie auf den folgenden Seiten noch zu sehen sein wird. Für die Bundesregierung stellte sich die Situation äußerst delikat dar. Sie verdächtigte Kommunisten als Hintermänner der Unruhen in Algerien36 und ahnte, dass sich die FLN ausgerechnet die Bundesrepublik als einen ihrer Stützpunkte für ihre diplomatischen Ränkespiele – in der tunesischen Botschaft in Bonn gab es ein FLN-Büro – und für ihre Waffentransporte, insbesondere über den Hamburger Hafen, ausgesucht hatte. Paris verlangte damals für die französischen Konsulate in der Bundesrepublik sogar das Recht, alle dort lebenden Algerier kontrollieren zu dürfen, was Bonn im Namen seiner Souveränität jedoch ablehnte, und forderte darüber hinaus, dass die Bundesregierung Deserteure und besonders militante Kräfte ausliefere. Frankreich zögerte dabei nicht, gegen die FLN-Führer mit gewaltsamen Aktionen und Attentaten vorzugehen. In diesen trüben Gewässern fischte vor allem die Organisation Main rouge, die in enger Verbindung zum französischen Geheimdienst stand. In dieser Situation ging Bonn zwischen 1956 und 1958 von einer „asymmetrischen Spagatpolitik“ zu einer vorsichtigen Diplomatie der Äquidistanz über, welche der FLN nicht so ablehnend gegenüberstand wie die Verantwortlichen in Paris. Diese Haltung beruhte auf Erwägungen des Auswärtigen Amtes in Bezug auf die allgemeine Politik des Westens gegenüber den arabischen Staaten und die vorauszusehende Unabhängigkeit Algeriens. Während der Kanzler Frankreich seiner Unterstützung immer wieder versicherte, achteten die Bonner Diplomaten stärker auf die Beziehungen zu den arabischen Staaten, besonders nach 1958. Mit dieser Haltung wahrte die Bundesrepublik in Algier ihren privilegierten Status in der Konkurrenzsituation zur DDR37, ohne die westdeutsch-französischen Beziehungen zu belasten. Die durch ihre Algerienpolitik geschwächte Pariser Regierung brauchte in dieser Situation die Bonner Unterstützung zur Umsetzung anderer Vorhaben, insbesondere auf europäischer Ebene.
35 Vgl. Cahn, Müller 2003 [525]; Lappenküper 1999 [606]. 36 Vgl. Marcowitz 1999 [631]. 37 Vgl. Wentker 2007 [241].
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Die Relance européenne und die deutsch-französischen Beziehungen Das zukünftige Europa: horizontale oder vertikale Integration? Nach dem Scheitern der EVG im französischen Parlament am 30. August 1954 sah sich Paris gezwungen, sich wieder stärker mit dem europäischen Integrationsprozess zu beschäftigen. Da der Weg für ein politisch wie militärisch geeintes Europa nunmehr blockiert war, musste der Schwerpunkt nun auf das wirtschaftliche Feld verlagert werden38. Auf Initiative von Jean Monnet ergriffen im Frühjahr 1955 der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak und sein niederländischer Kollege Johan Willem Beyen das Ruder. Sie riefen am 4. April 1955 zur Bildung eines gemeinsamen europäischen Marktes auf, der mit einer Zollunion beginnen und danach in eine Wirtschaftsgemeinschaft39 münden sollte, d. h., sie schlugen ein „ganzheitliches Herangehen“ an die europäische Integration vor40. In Frankreich, wo die Ereignisse in Nordafrika nationalistische Fieberstöße ausgelöst hatten, stieß dieser Vorschlag auf große Widerstände. Dort lancierte Louis Armand, der Präsident der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF und Vorsitzende des Ausschusses für Atomenergie, die Idee eines „Atompools“, die Jean Monnet und das Kabinett Edgar Faure sofort aufgriffen – der eine, weil er die „sektorielle, vertikale Integration“ auf das Transportwesen und den Energiebereich41 ausdehnen wollte, und die Regierung, weil sie klarstellen konnte, dass es nur um Kernenergie für den zivilen Gebrauch gehen könne, wollte sie doch die militärische Nutzung allein der nationalen Verfügungsgewalt unterstellt wissen42. Die Bundesregierung nahm derartige Pläne sehr zurückhaltend auf und ließ dadurch große Unterschiede zwischen westdeutscher und französischer Konzeption des neuen Europas erkennen. Paris setzte eher auf eine sektorielle Integration und wollte darüber hinaus die Kompetenzen der Montanunion nicht erweitern, weshalb es sich für neue Organe ohne supranationale Kompetenzen aussprach. Dabei musste Paris vor allem auf die eigene Wirtschaft Rücksicht nehmen, die man auf einem vielfach geregelten kleinen europäischen Markt nicht einmal für konkurrenzfähig hielt, nachdem sie traditionell „staatlich gehätschelt und durch protektionistische Maßnahmen vor harter ausländischer Konkurrenz geschützt“43 worden war.
38 39 40 41 42 43
Vgl. Gerbet 1999 [542], S. 44. Vgl. allgemein Küsters 1982 [330]. Vgl. Krüger 2003 [329], S. 369–372. Vgl. Wilkens 1999 [700]. Vgl. Guillen 1993 [546]. Brunn 2002 [310], S. 103.
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Protektionismus, Handelsschranken und Zölle waren jedoch ein rotes Tuch für Wirtschaftsminister Ludwig Erhard44, der das Projekt einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für „volkswirtschaftlichen Unsinn“ (NZZ, 21. 3. 1957) hielt und für die westdeutsche Exportwirtschaft von der Devise „Unser Feld ist die Welt“ ausging. Erhards uneingeschränktes Plädoyer für den Freihandel traf jedoch auch bei Kanzler Adenauer auf kein vorbehaltlos positives Echo, der seinerseits von einem Primat der Politik über die Wirtschaft ausging und außen- sowie wirtschaftspolitisch eine andere Linie vertrat als sein Wirtschaftsminister. In ihren Divergenzen zeichnete sich bereits der Konflikt zwischen den sogenannten „Atlantikern“ und „Gaullisten“ im bundesdeutschen Regierungslager ab, der das Verhältnis zu Frankreich Anfang der 1960er Jahre belastete. Die Grundpositionen fasst Christian Hacke prägnant zusammen: „Aber während Adenauer im Kern westeuropäisch orientiert blieb, war Erhard Atlantiker. Während Adenauer das außenpolitische Wirken auf das Westeuropa der Sechs und auf Frankreich abstellte, suchte Erhard die Integration und Kooperation mit den Angelsachsen […]. Setzte Adenauer auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, so strebte Erhard von Anfang an für die Bundesrepublik eine weltwirtschaftliche Rolle an“45.
Beim Thema „Atompool“ suchte Franz Josef Strauß, der seit Oktober 1955 für Nuklearfragen zuständige Minister, eher die Zusammenarbeit mit den Briten und Amerikanern, die in puncto Nukleartechnik schon weiter fortgeschritten waren als die Franzosen. Adenauer hingegen fürchtete, dass die aufgetretenen Divergenzen um die wirtschaftliche Integration den Gesamtprozess der europäischen Integration ins Stocken bringen könnten46. Diese Klippe konnte umschifft werden durch den allgemeinen politischen Willen, das Projekt „Europa“ voranzubringen. Am 9. Mai 1955 sprach sich die Versammlung der Mitglieder der Montanunion einstimmig für die Weiterführung der europäischen Einigung aus, indem die sektorielle Methode mit dem Globalansatz kombiniert werden sollte47. Wie Pierre Gerbet unterstreicht, „akzeptiere die Bundesrepublik EURATOM, um den Gemeinsamen Markt zu bekommen, während sich Frankreich mit dem Gemeinsamen Markt abfinde, um EURATOM zu erhalten“48. Ministerpräsident Edgar Faure erklärte im Mai 1955, der Gemeinsame Markt scheitere nicht an Frankreich, und auch Bonn akzeptierte am 27. Mai 1955 den Gemeinsamen Markt der Sechs49.
44 45 46 47 48 49
Vgl. Lappenküper 1999 [607]. Hacke 1997 [203], S. 100. Vgl. Loth 1989 [623]. Vgl. Berstein, Milza 2006 [307], S. 273. Gerbet 1999 [542], S. 45. Vgl. Küsters 1982 [330].
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Von der Konferenz von Messina zu den Römischen Verträgen Am 3. Juni 1955 tagte die Außenminister-Konferenz in Messina und verabschiedete eine Resolution, in der die sechs Länder versicherten, sie wollten „eine neue Etappe zurücklegen“. Gleichzeitig wurde ein Komitee von Experten und Delegierten aus den sechs Ländern der EGKS eingerichtet, das unter der Leitung von Paul-Henri Spaak mehrere Monate im Schloss von Val-Duchesse nahe Brüssel arbeitete und am 21. April 1956 seinen Bericht vorlegte. Es hatte nur unter großen Schwierigkeiten eine durchaus mögliche Sackgasse umfahren können, wollten sich die Franzosen doch noch nicht auf die Gründung eines gemeinsamen Marktes festlegen und die Deutschen noch nicht auf eine europäische Atomgemeinschaft50. Ein weiteres Mal kam der heilsame Impuls von oben: Adenauer wollte keinen Misserfolg akzeptieren, und der seit dem 31. Januar 1956 amtierende französische Ministerpräsident, der Sozialist Guy Mollet, war wie sein Außenminister Christian Pineau ein überzeugter Europäer51. Als sich Adenauer und Mollet Anfang November 1956 während der Suezkrise in Paris trafen, erklärten beide Regierungschefs übereinstimmend: „Machen wir Europa“52. Frankreich, das sich insbesondere einer Neuverteilung der Verantwortlichkeiten bei EURATOM nicht mehr entgegenstellte53, zeigte sich umso kompromissbereiter, als bei den Verhandlungen in Venedig im Mai 1956 seiner Forderung stattgegeben wurde, seine Kolonien und die Überseeprodukte in den gemeinsamen Markt einzubeziehen54. Der Bundesrepublik wurde im Gegenzug zugestanden, das 1951 installierte System des „Interzonenhandels“ zwischen Bonn und Ost-Berlin beizubehalten, so dass die innerdeutsche Grenze als Handelsgrenze offen blieb und der DDR bis zu ihrem Ende 1989/90 eine besondere Beziehung zur europäischen Gemeinschaft sicherte55. Wenn die Verhandlungen auch schwierig blieben, mündeten sie gleichwohl in die Unterschrift der Sechs unter die Verträge zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zur Europäischen Atomgemeinschaft auf dem Kapitol in Rom am 25. März 1957. Diese beiden Verträge, die im Laufe des Jahres 1957 in den sechs Teilnehmerstaaten ratifiziert wurden, ließen den Gemeinsamen Markt am 1. Januar 1959 in Kraft treten56. Während der Verhandlungen kam es, insbesondere zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, in jedem Punkt zu Kompromissen (Sozialleistungen, Steuern, Harmonisierung der Arbeitskosten und Arbeitsbedingungen, Außenzölle, Einbeziehung der Landwirtschaft in den Gemeinsamen Markt etc.), so dass 50 51 52 53 54 55 56
Vgl. Dumoulin 1989 [531]. Vgl. Laffon 2006 [80], S. 491–499. Schwarz 1991 [93], S. 296. Vgl. Weilemann 1983 [693]. Vgl. Guillen 1988 [545]. Vgl. Nakath 2004 [649]. Vgl. Segers 2008 [340].
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Wilfried Loth diese Verträge als „zweiten Akt – nach der Montanunion – des deutsch-französischen Friedensschlusses“57 bezeichnet. Auf den Verlauf dieser gleich mehrfach vom Scheitern bedrohten Verhandlungen wirkten gleichwohl mehrere günstige Faktoren ein: Das „Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa“, das Jean Monnet im Oktober 1955 gegründet hatte, scheute keine Mühen und diente sowohl den Regierungen wie der öffentlichen Meinung ihrer Länder als Vermittler und wurde darin durch die Aktionen europäisch orientierter Bewegungen unterstützt, die nach der Konferenz von Messina58 einen neuen Elan verzeichnen konnten; auch die enge Beziehung zwischen der Suezkrise und dem allgemeinen Wunsch, die europäische Integration zu stärken, kann nicht genug unterstrichen werden59. Die Sperrung des Suezkanals durch Ägypten und die sich daraus erschwerenden Öltransporte nach Europa beflügelten die Politiker in Westeuropa, die Entwicklung neuer Energiequellen zu fördern. Diese neuerlichen Initiativen mündeten schließlich in die Unterzeichnung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM, welche die energiepolitische Grundlage zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedsstaaten bilden sollte60. Eindeutiger stellte sich die Situation beim Gemeinsamen Markt dar, weil sich Monnet und Adenauer bei ihren Pariser Gesprächen auf einen gemeinsamen Fahrplan einigen konnten61. Die Suezkrise bedeutet daher eine wichtige Etappe nicht nur auf dem Weg der deutsch-französischen Annäherung62, sondern zugleich für die Integrationsbestrebungen in Westeuropa bzw. die Unterzeichnung der Römischen Verträge63. Weitere Erfolge auf dem Weg der europäischen Einigung erhofften sich Monnet und Adenauer vom sogenannten „Spill-over-Effekt“, d. h. der Erwartung, die zunächst lediglich ökonomischen Bindungen würden schließlich die politische Integration sowie das Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa fördern. Doch im Vergleich zur Montanunion war die EWG ein integrationspolitischer Rückschritt, denn von den ursprünglich vorgesehenen supranationalen Strukturen war wenig übrig geblieben, funktionierten die beiden neuen Gemeinschaften doch eben nicht auf dieser Grundlage. Ebenso wenig wie die Bundesrepublik, die just zu dem Zeitpunkt ihre volle Souveränität erlangte, wollte auch das vom Scheitern der EVG gezeichnete Frankreich supranationale Institutionen. Die parlamentarische Versammlung, die aus Abgeordneten der Nationalparlamente be57 Loth 2007 [624], S. 29–34; vgl. allgemein zu den Agrarkonflikten und -kompromissen: Thiemeyer 1999 [688]. 58 Vgl. Berstein, Milza 2006 [307], S. 274. 59 Vgl. Lappenküper 2007 [610], S. 35. 60 Vgl. Bitsch 1999 [308], S. 114. 61 Vgl. Brunn 2002 [310], S. 113 f. 62 Vgl. Cahn, Müller 2003 [525], S. 86 ff. 63 Wichtige Absprachen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich für die Römischen Verträge waren allerdings bereits bei den Verhandlungen in La Celle-Saint-Cloud im Oktober 1954 erfolgt; vgl. Thiemeyer 1999 [688], S. 127 ff.
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stand, durfte nur beraten, und die Europäische Kommission in Brüssel besaß gegenüber dem allein entscheidungsbefugten Ministerrat nur ein Vorschlagsrecht bzw. führte dessen – einstimmig getroffene – Beschlüsse aus. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft verfügte weder über eigene Einnahmen für ihr Budget noch durfte sie eine eigene Geldpolitik betreiben. Sie war eher ein Koppelungsgeschäft, das der westdeutschen Industrie freien Zugang zum französischen Markt gewährte und als Gegenleistung der französischen Landwirtschaft, die weiter von den Unannehmlichkeiten der freien Marktwirtschaft abgeschirmt blieb, den deutschen Markt öffnete. Kaum war die „relance européenne“ auf den Weg gebracht, beförderten die Ereignisse in Nordafrika de Gaulle wieder an die Macht in Paris, der nach seinem Rücktritt am 20. Januar 1946 von Colombey-les-deux-Églises aus gegen den Schuman-Plan, die EGKS64 und im Anschluss gegen die EVG gewettert hatte. Zwar stellte er die Römischen Verträge nach seiner Machtübernahme nicht mehr in Frage65, doch misstraute er den möglichen föderalistischen Versuchungen und den Forderungen, die von der Brüsseler Kommission auf Frankreich zukamen, aber die, wie er gleichzeitig anmerkte, der Modernisierung der französischen Wirtschaft66 vielleicht auch dienlich sein konnten. Nicht nur in der Bundesrepublik stellte man sich die Frage, wie sich der General nun gegenüber der europäischen Integration verhalten würde, die zur großen Herausforderung für Frankreich, Deutschland und Westeuropa werden sollte.
64 De Gaulle hatte die EGKS als „Betrug“ bezeichnet, vgl. Peyrefitte 1997 [64], S. 267. 65 Vgl. Roussel 2002 [90]. 66 Soutou 2007, http://www.traitederome.fr/fr/histoire-du-traite-de-rome/les-traites-derome-par-le-professeur-georges-henri-soutou.html (3. 9. 2008).
5. Der politische Weg zum Élysée-Vertrag (1958–1963)
5. Der politische Weg zum Élysée-Vertrag (1958–1963)
Als General de Gaulle wegen der Ereignisse in Algier am 29. Mai 1958 wieder an die Macht zurückgerufen wurde, kam in Bonn wie in Ost-Berlin Unruhe auf. Die SED startete sofort eine Propagandakampagne gegen den „reaktionären General“, den ihre Presseorgane mit dem spanischen Diktator Franco verglichen. Sie sahen in ihm einen Vertreter jener Kräfte, die die Krisenhaftigkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu nutzen gedachten, um eine imperialistische bzw. faschistische Herrschaft zu errichten. Auch wenn diese ideologische Feindschaft bis zum Rücktritt de Gaulles 1969 bestehen blieb, konnte sie doch auch von anderen politischen Prioritäten überlagert werden. Die diplomatische Anerkennung der DDR durch Frankreich konnte nur über den General laufen, dem die SED in den folgenden Jahren eine besondere Aufmerksamkeit schenkte1. Auch die Bundesregierung und viel mehr noch die westdeutsche Öffentlichkeit verhielten sich dem General gegenüber reserviert, weil sie negative Folgen für die Zukunft der bilateralen Zusammenarbeit befürchteten2. Wie würde er vor allem zur europäischen Integration stehen, die Bonn als eines der Hauptziele seiner Politik definiert hatte? Außerdem hatte Adenauer nicht vergessen, dass de Gaulle die treibende Kraft des französisch-sowjetischen Vertrages vom Dezember 1944 (vgl. Kap. I.2) gewesen war. Würde es Paris also von Neuem mit der Schaukelpolitik zwischen Moskau und Washington versuchen, während für die junge Bundesrepublik die Einbindung in den Westen und die enge Verbundenheit mit den USA im Kalten Krieg doch lebenswichtig waren3? Schließlich war auch offen, ob der Algerienkrieg und die inneren Reformen – u. a. der Verfassung –, die für die französische Regierung sehr wichtige Politikfelder waren, Paris nicht dazu verleiten würden, seine Beziehungen zum deutschen Nachbarn auf ein Nebengleis zu schieben4. Im Folgenden soll nunmehr untersucht werden, wie die westdeutschen Befürchtungen zerstreut wurden und wodurch sich das gegenseitige Vertrauen so weit festigen konnte, dass Bonn und Paris am 22. Januar 1963 – u. a. zum Verdruss der DDR – einen Vertrag über enge bilaterale Zusammenarbeit schlossen5, 1 2 3 4 5
Vgl. Pfeil 2004 [483], S. 90 f. Vgl. Lappenküper 2007 [610], S. 35. Vgl. Conze 1995 [527], S. 72 f. Vgl. Köhler 1994 [78], S. 999–1003; Steinkühler 2002 [687], S. 22 ff. Vgl. Bariéty 1992 [507]; Schwarz 1991 [668]; ders. 1992 [492].
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den Ost-Berlin umgehend als „Kriegspakt“ denunzierte, „entsprungen aus den Köpfen zweier hinterhältiger und verlogener Greise“6.
Neues Vertrauen auf tönernen Füßen Colombey-les-deux-Églises: zwischen Hoffnung und Desillusion Kurz nach seiner Machtübernahme lud de Gaulle, der um die Sorgen Bonns wusste, Adenauer zu einem Vier-Augen-Gespräch in die „Boisserie“, seinen privaten Wohnsitz, nach Colombey-les-deux-Églises ein. Dieses erste Treffen am 14./ 15. September 1958, das aufgrund seines persönlichen Charakters einmalig zwischen den Staats- und Regierungschefs der beiden Länder war7, bot die Gelegenheit zu einem allgemeinen Gedankenaustausch8: Man war sich über die Notwendigkeit einer Weiterführung der deutsch-französischen Zusammenarbeit und den Wunsch einig, Europa auf der Basis der Römischen Verträge weiterzuentwickeln, aber keines der vielleicht wichtigsten Themen wie die Frage der nuklearen Bewaffnung (vgl. Kap. I.6), die Berlinfrage, das Problem der Oder-Neiße-Grenze oder des anderen deutschen Staates kam zur Sprache. Dennoch sollte sich diese erste Kontaktaufnahme später als grundsätzlich erweisen und den Beginn einer engen Konsultation zwischen den beiden Regierungschefs begründen: Zwischen 1958 und 1962 trafen sie sich fünfzehnmal und sprachen dabei mehr als 100 Stunden miteinander9. Das in Colombey mühsam aufgebaute Vertrauen wurde jedoch umgehend auf eine schwere Probe gestellt, als Adenauer im Oktober 1958 vom britischen Premierminister Harold Macmillan vom französischen Plan eines atlantischen Dreibunds in Kenntnis gesetzt wurde, von dem ihm de Gaulle in Colombey nichts erzählt hatte10. Am 17. September, also zwei Tage nach dem Gespräch, schickte de Gaulle ein Memorandum nach Washington und London, in dem er eine Neuorganisation der NATO vorschlug. Diese Initiative verstand der General
6 Zit. nach: Metzger 2006 [639], S. 58. 7 Vgl. Bariéty 1985 [506], S. 12–27. 8 Vgl. de Gaulle 2000 [46], S. 1032–1037; DDF 1958, Bd. 13, Dok. 155, S. 341– 345. Das französische Protokoll über das Treffen lässt die Nuancierung der Beziehung erkennen, die de Gaulle dem Treffen in seinen Memoiren von 1970 selbst beimaß. Das Protokoll über das Gespräch stützte sich auf die Aufzeichnungen des französischen Dolmetschers Jean Meyer, der als Einziger dem tête-à-tête beiwohnte. Da kein deutscher Übersetzer das Treffen begleitete und das französische Protokoll nicht ins Deutsche übersetzt wurde, wie eigentlich vereinbart, brachte Adenauer künftig stets seinen eigenen Dolmetscher mit. Vgl. Falkenburger 2006 [48], S. 85 f. 9 Bariéty 2005 [512], S. 28. 10 Vgl. den Brief Adenauers vom 10. Oktober 1958 an de Gaulle und die vage Antwort des Generals vom 15. Oktober in: de Gaulle 1985 [45], S. 109–110.
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als Teil der von ihm angestrebten NATO-Reform, die Frankreich die gleichberechtigte Beteiligung an den strategischen Entscheidungen des Militärbündnisses bringen sollte11. Hätten die Angloamerikaner diesen Vorschlag akzeptiert, wäre de Gaulle nicht nur seinem Ziel nähergekommen, Frankreich als Großmacht neben den USA zu platzieren, sondern auch denkbar günstig an Atomwaffen gekommen, „denn billiger als durch Kooptation konnte er die Schaffung einer französischen Atommacht nicht bekommen“12. Neuere Forschungen legen jedoch die Vermutung nahe, dass de Gaulle sich keine Illusionen über die Reaktionen der Amerikaner machte und seine weitreichenden Forderungen nur ein Test bzw. ein Vorwand waren, um Frankreich nach der eingeplanten Ablehnung Schritt für Schritt aus den integrierten Strukturen der NATO herauszulösen13. Die Bundesrepublik beobachtete die Avancen de Gaulles gegenüber Washington und London mit Sorge und Verärgerung, ließ er den Bonner Partner mit seinem Vorstoß doch spüren, welche Rangordnung er ihm in der Zweierbeziehung zudachte. Für de Gaulle sollte der Besitz von Atomwaffen, auf deren Herstellung die Bundesrepublik 1954 verzichtet hatte, Grundlage für Frankreichs Führungsrolle in Europa sein. Mit der von Frankreich anvisierten Force de frappe wurde „im militärischen Bereich also eine Art ,Atomgrenze‘ gezogen“14 (vgl. Kap. I.6). Das forsche Vorgehen des Generals gegenüber Amerikanern und Briten ließ den Kanzler auch aufgrund der sich zuspitzenden Situation in Berlin grollen, denn nichts fürchtete er in diesen Monaten mehr als eine Schwächung des westlichen Lagers angesichts der sowjetischen Drohungen15. Die Bonner Vorahnungen waren nicht unberechtigt, wie sich am 10. November 1958 zeigte. An diesem Tag kündigte Nikita Chruschtschow an, die Sowjetunion werde ihre Besatzungsrechte in Berlin auf die DDR übertragen, so dass die Westmächte künftig alle Berlin betreffenden Fragen direkt mit der DDR-Regierung regeln müssten. Noch stärker geriet die gesamte deutsche Frage in Bewegung, als der Kremlchef am 27. November an die drei Westmächte und die beiden deutschen Regierungen eine Note übermittelte, in der er die Umwandlung West-Berlins in eine entmilitarisierte „Freie Stadt“ und eine Verständigung mit der DDR „über Garantien für einen ungehinderten Verkehr zwischen der Freien Stadt und der Außenwelt“ verlangte. Diese Forderungen kamen einem Ultimatum gleich, denn für den Fall, dass entsprechende Regelungen nicht innerhalb von sechs Monaten vereinbart würden, kündigte er ein separates Abkommen mit der DDR an, das ihr die volle „Souveränität zu Lande, zu Wasser und in der Luft“ verschaffen sollte. Nicht nur Bonn war nunmehr herausgefordert, sondern in vielleicht noch stärkerem Maße die Regierenden in Washington, London und Paris, wären von einem solchen 11 12 13 14 15
Vgl. Vaïsse 1989 [691], S. 253–268. Herbst 1989 [320], S. 194. Vgl. Vaïsse 1998 [238], S. 121. Herbst 1989 [230], S. 194. Wettig 2006 [302].
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Separatfrieden doch auch die Kontrollen über die Zufahrtswege nach Berlin betroffen gewesen16. Während Amerikaner und Briten Verhandlungsbereitschaft signalisierten, lehnte de Gaulle mit aller Entschlossenheit Gespräche ab und sprach sich in Übereinstimmung mit Adenauer für eine geschlossene Haltung des Westens aus17. Notfalls wollte er den Weg nach Berlin gar mit Waffengewalt offen halten18. Durch die geostrategische Situation West-Berlins sah er die Westalliierten in einer Position der Schwäche und erwartete von Gesprächen mit den Sowjets nur unvorteilhafte Kompromisse19. Mit dieser Haltung präsentierte er sich stärker als Washington und London als Fürsprecher (west-)deutscher Interessen und unterstützte die Bonner Position in der Wiedervereinigungsfrage und den Status quo in Berlin. Diese Entscheidung wurde ihm nicht zuletzt dadurch erleichtert, dass die Vereinigung der beiden deutschen Staaten während der Berlinkrise außerhalb jeder Vorstellung lag und Frankreich seinen Großmachtstatus durch die Viermächteregelung abgesichert hatte. So konnte de Gaulle sich relativ ungefährdet in regelmäßigen Abständen für die Überwindung der deutschen Teilung aussprechen, auch wenn die Sanktionierung der deutschen Zweistaatlichkeit den Interessen des französischen Staatspräsidenten viel eher entsprach. Die Viermächteverantwortlichkeit für Deutschland als Ganzes gab Frankreich die Möglichkeit, Politik auf einer Stufe mit den Weltmächten zu führen, was stets das erklärte Ziel de Gaulles war und bis zum Ende seiner Amtszeit blieb.
Deutsch-französische Solidarität während der Berlinkrise Im Jahr 1959 und in den ersten Wochen des Jahres 1960 zeichneten sich die Beziehungen zwischen Bonn und Paris als Folge der Berlinkrise20 durch eine besondere Solidarität aus. De Gaulle schlug am 4. März 1959 in Marly-le-Roi die Aufnahme privilegierter Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich „sowohl innerhalb wie außerhalb des Bündnisses“21 vor. Ende 1959 besuchte Adenauer Paris und dankte dem General für seine Standfestigkeit während der Berlinkrise. Dabei trat auch er für eine Intensivierung des Verhältnisses zwischen den beiden Ländern ein. Adenauer verwandte dafür zum ersten Mal das Wort „Verträge“ (im Plural)22. Außer der sowjetischen Bedrohung Berlins brachte auch der Einzug Eisenhowers ins Weiße Haus Adenauer und de Gaulle einander
16 17 18 19 20 21 22
Vgl. Harrison 1997 [1009], S. 105–122; Fursenko, Naftali 2006 [251]. Vgl. Soutou 1996 [1018], S. 123 f. Vgl. Vaïsse 1998 [238], S. 146 f.; Steininger 2001 [299], S. 99. Vgl. Grosser 1984 [202], S. 199. Vgl. Soutou 2001 [273], S. 375. DDF 1959, Bd. 14, Dok. 131, hier S. 279. Vgl. Bariéty 2005 [512], S. 71.
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näher: Gerade der Kanzler, der dem neuen US-Präsidenten eine zu große Kompromissbereitschaft in Bezug auf die Entspannung zwischen den Blöcken sowie die Neigung unterstellte, sich aus Europa zurückziehen zu wollen, lehnte sich trotz seines klaren Wissens, dass die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland hauptsächlich von Washington abhing, immer stärker an Paris an. Ende Mai 1960 verschlechterte sich das Klima zwischen den beiden Partnern jedoch erneut, weil de Gaulle in seiner Fernsehansprache am 31. Mai die „europäische Entente zwischen Atlantik und Ural“ erwähnte. Er hatte diesen Terminus zwar nicht zum ersten Mal benutzt23, aber diese Vision Europas war für die Deutschen mit Befürchtungen bezüglich der künftigen Pariser Atompolitik verbunden (die erste französische Atombombe war im Februar 1960 in der Sahara explodiert): Würde Paris darüber nicht seine konventionellen Streitkräfte vernachlässigen und dadurch – mitten im Kalten Krieg – die militärische Sicherheit in Europa schwächen? Und strebte de Gaulle schließlich nicht auch noch ein Dreierdirektorium in der Allianz an, was Adenauer als doppeltes Spiel betrachtete, denn eine derartige politische Umgestaltung hätte die Bundesrepublik auf den Status einer zweitrangigen Macht verwiesen24. Ende Mai hatte das Misstrauen des Kanzlers den Punkt erreicht, dass er die Absage des anstehenden Treffens in Rambouillet erwog25. In diesem Moment machte sich auch die DDR wieder neue Hoffnungen auf französisches Entgegenkommen in der Anerkennungsfrage und setzte dabei ganz auf ihre Theorie von den wachsenden Spannungen zwischen den „imperialistischen Mächten“, die gesetzmäßig zum Zerwürfnis zwischen ihnen führen müssen26.
Rambouillet: die deutsch-französische Kooperation im multilateralen Rahmen Strategische Fragen In Rambouillet diskutierten die beiden Staats- und Regierungschefs am 29. und 30. Juli 196027 in erster Linie ihre strategischen Vorstellungen hinsichtlich der NATO und den Vorschlag de Gaulles einer politischen Organisation Europas28. Aus Überzeugung, dass sich die Amerikaner und Briten einem gemeinsamen Oberkommando der drei Atommächte in der NATO dauerhaft verweigern
23 Vgl. De Gaulle 1970 [44, Bd. 3], S. 217–221. Er hatte den Terminus bereits in seiner Pressekonferenz vom 25. März 1959 benutzt. 24 Vgl. Bariéty 1997 [510], S. 169. 25 Vgl. Baumann 2002 [513], S. 15. 26 Vgl. Pfeil 2004 [483], S. 93. 27 Vgl. DDF 1960, Bd. 18, Dok. 54, S. 163–179; Bariéty 1997 [510], S. 167–176. 28 Vgl. Soutou 1997 [675], S. 211–220.
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würden, weihte de Gaulle Adenauer in seinen Plan einer Allianz der europäischen Staaten auf politischem, wirtschaftlichem, militärischem und kulturellem Gebiet ein. Dieser Vorschlag sollte das vorübergehende Zerwürfnis beenden29, aber auch zu einigen Mehrdeutigkeiten Anlass geben. Was die strategischen Planungen betraf, nahm de Gaulle die Kritik Adenauers an Erklärungen von Ministerpräsident Debré über die französische Kernenergie auf – Debré hatte darin die Länder, die über keine eigene Atomenergie verfügten, als „Satellitenstaaten“ bezeichnet30 –, um dem Kanzler seine Vorstellungen über die Reform der NATO zu präsentieren; der General befürwortete das Bündnis, aber nicht seine integrierte Organisation. Es ging dem General zudem darum, Adenauer von der Notwendigkeit einer größeren Unabhängigkeit Europas von den USA zu überzeugen31. So unterstrich er besonders die Verbindung zwischen seinen strategischen Zielen und seinem Plan einer politischen Zusammenarbeit in Europa: „So wie Europa organisiert ist, bedarf es einer Reform der NATO […]. Wir müssen in Europa eine Organisation aufbauen, zu der sich die Völker bekennen und für deren Verteidigung sie sich verantwortlich fühlen. Das trifft auf die NATO nicht zu, die Tag für Tag immer mehr zu einem künstlichen Gebilde wird“32.
In einer persönlichen Note an Adenauer am 30. Juli fasste der General seine Vorstellungen noch schärfer: „Diese Konzeption anzunehmen, d. h. Europa als ,strukturiertes Zusammenleben europäischer Staaten‘ zu begreifen, heißt auf der anderen Seite aber, die Art der amerikanischen Integration zu beenden, die gegenwärtig das nordatlantische Bündnis prägt und einem Europa widerspricht, das – international gesehen – Persönlichkeit und Verantwortungsbewusstsein besitzt. Die atlantische Gemeinschaft muss auf einer neuen Basis neu gegründet werden und es liegt an Europa, an diese neue Basis zu erinnern“33.
Er schlug dem Kanzler eine klassische Allianz von Nationalstaaten mit einem gemeinsamen Oberkommando vor, wobei die Regierungen über ihre Streitkräfte verfügen sollten. Georges-Henri Soutou geht davon aus, dass der General bei diesen Gesprächen sogar zur Bildung einer echten strategischen Gemeinschaft bereit gewesen sei. Für diese These spreche, dass de Gaulle in der Praxis weitaus pragmatischer gehandelt habe, als vielfach behauptet werde. Obwohl er sich gegen eine Verfestigung der integrativen Strukturen ausgesprochen habe, sei er doch nie so weit gegangen, an der nötigen engen militärischen Zusammenarbeit im Bündnis zu rütteln, „und sei es auch nur, um Deutschland zu kontrol29 30 31 32 33
Vgl. Bariéty 1997 [510], S. 170. Vgl. Bariéty 2005 [512], S. 72. Vgl. Bariéty 1997 [510], S. 171. Soutou 1996 [1018], S. 159–160. De Gaulle [45], S. 382 f.
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lieren“34. Die Sicherheitspolitik war damit zum einen ein politisches Instrument de Gaulles, um Europa aus der Abhängigkeit von den USA zu lösen, sie muss zum anderen aber auch als Urzelle der europapolitischen Vorstellungen des Generals verstanden werden. So erkläre es sich nach Soutou, dass die von de Gaulle in Rambouillet in Aussicht gestellte strategische nukleare deutsch-französische Gemeinschaft nicht nur als ein taktisches Manöver zu verstehen sei. Dabei sollte jedoch auch nicht vergessen werden, dass der Machtschwerpunkt einer wie auch immer gearteten deutsch-französischen Konföderation bzw. einer politischen europäischen Union für de Gaulle wie selbstverständlich in Paris lag. In die gleiche Richtung gehen die Ausführungen von Gilbert Ziebura35, der auf die Perzeption der amerikanischen Politik durch de Gaulle hinweist. Der Besitz von Interkontinentalraketen habe die Amerikaner in die Situation versetzt, ihr Land vom eigenen Territorium aus verteidigen zu können, das sich infolge der sowjetischen Fortschritte in der Raketentechnik („Sputnik-Schock“ 1957) erstmals einer direkten Bedrohung ausgesetzt gesehen habe, so dass der General davon ausgegangen sei, die USA würden sich über kurz oder lang aus Europa zurückziehen. Immer wieder habe der Hausherr des Élysée-Palastes auf die Interessenunterschiede zwischen den USA und Europa hingewiesen, um Adenauer für seine Pläne zur Selbstverteidigung Europas zu gewinnen. Der Kanzler war damit in eine schwierige Situation geraten, denn der von de Gaulle anvisierte Bruch mit Washington hätte von ihm eine Entscheidung zwischen Paris und Washington verlangt. Das war jedoch nicht im Sinne des Kanzlers, dem, wenngleich er bei dem Treffen in Rambouillet dem Abschluss militärischer Vereinbarungen zustimmte, doch bewusst war, dass das Abkommen vom 20. Oktober 1960 (vgl. Kap. I.6) kein Ersatz für die amerikanischen Sicherheitsgarantien sein konnte36. Immer mehr zu denken gab dem weiterhin auf atlantische Integration setzenden Adenauer jedoch im Verlaufe des Jahres 1961, dass die amerikanische Administration unter dem neuen Präsidenten John F. Kennedy, der sich seit dem 20. Januar im Amt befand, angesichts der nuklearen Aufrüstung der Sowjetunion die atomare Schwelle erhöhen wollte und damit in den Augen des Kanzlers die Möglichkeit für einen konventionellen Krieg in Europa heraufbeschwor. Im Mai 1962 hatte US-Verteidigungsminister Robert McNamara den Europäern bei der Ministerratssitzung in Athen die neue Nuklearstrategie dargelegt, die von einem „nuklearen Schild“ ausging, der die Sowjets vom Gebrauch atomarer Waffen abhalten sollte, gleichzeitig aber auch ein „konventionelles Schwert“ vorsah, um einen konventionellen Krieg in Europa führen zu können37. Durch die amerikanischen Vorstellungen sah Adenauer das bis dahin stets 34 35 36 37
Soutou 1995 [1017], S. 497; ders. 1996 [1018], S. 158 –166. Vgl. Ziebura 1997 [503], S. 148 f. Vgl. Soutou 1995 [1017], S. 498 f. Vgl. Schöllgen 1999 [233], S. 62.
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geltende Prinzip der Abschreckung in Frage gestellt, das im Osten gar nicht erst die Hoffnung aufkommen lassen sollte, lokale Siege unterhalb der nuklearen Schwelle seien denkbar. Das amerikanische Umdenken ließ nicht nur bei den Deutschen Zweifel aufkommen, ob sich die USA in Europa wie bisher engagieren würden oder nicht vielmehr erste Schritte für einen Rückzug unternahmen. Für besondere Irritationen sorgte in Bonn, dass Washington im Herbst 1961 Pläne verfolgte, die den Abschluss einer Nichtangriffsvereinbarung zwischen Ost und West und die Einrichtung einer permanenten Viermächtekommission zur Regelung der Berlin- und Deutschlandfrage zum Ziel hatten. Die Sowjetunion hätte damit wieder ein Mitspracherecht in deutschen Angelegenheiten gehabt, was Adenauer stets zu verhindern suchte. Als die Amerikaner den Sowjets im April 1962 ein Dokument mit einem entsprechenden Inhalt übersandten, brachten sowohl Adenauer wie auch de Gaulle ihre Verärgerung über einen derartigen Schritt zum Ausdruck38. Die Absicht Kennedys, die Entspannung zwischen den beiden Großmächten durch eine Entnuklearisierung Deutschlands zu erreichen, löste in Bonn einen Schock aus, denn damit stieg das Risiko eines konventionellen Konflikts bzw. eines begrenzten nuklearen Schlages in Mitteleuropa.
Die europäische politische Union und die Fouchet-Pläne De Gaulle selbst hatte Adenauer im Sommer 1960 in Rambouillet erklärt, dass seine strategischen Vorschläge untrennbar mit seinen politischen Plänen für Europa verbunden seien. Der General schlug dem Kanzler damals vor, die Initiative für den Aufbau eines politischen Europas zu ergreifen, das dadurch gegenüber den Vereinigten Staaten an Gewicht gewinnen würde – ein Plan, der gleichsam auf Umwegen auf die Frage einer Reform der nordatlantischen Allianz zielte39. Beim Treffen vom 29. Juli 1960 sagte de Gaulle zu Adenauer: „Diese Situation beinhaltet unbestreitbar eine Union zwischen Frankreich und Deutschland und wird ohne Zweifel ab einem bestimmten Zeitpunkt diese [die Bundesrepublik oder eine deutsch-französische Union?; J. B.] mit einbeziehen sowie über Nuklearwaffen verfügen“40.
Am nächsten Tag schickte der General dem Kanzler eine schriftliche Notiz, die vor allem „eine organisierte Zusammenarbeit der Staaten […] ausgehend von Frankreich und Deutschland“ vorsah, „an der zunächst Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg teilnehmen sollten“41. Dem erwähnten europäischen 38 Vgl. Schwarz 1967 [427], S. 736 f. 39 Vgl. Soutou 1997 [675], S. 212 f.; Soutou 1996 [1018], S. 158 –166; Bariéty 1997 [510], S. 169. 40 Zit. in: Bariéty 2005 [512], S. 73. 41 «Note au sujet de l’organisation de l’Europe», 30 juillet 1960, in: De Gaulle 1985 [45], S. 382 f.
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Zusammenwirken auf Regierungsebene seien keinerlei sektorielle Grenzen gesetzt: Erwähnt wurden die Teilgebiete Politik, Wirtschaft, Kultur und Verteidigung. Über diesem Projekt hatten – daran sei zuallererst erinnert – französische Außenpolitiker in den vorangehenden Monaten ausgiebig gebrütet. Schon im März 1959 hatte de Gaulle bei französisch-italienischen Gesprächen in Paris mit Ministerpräsident Antonio Segni über eine politische Kooperation zwischen Frankreich, Deutschland und Italien diskutiert, die auch anderen Partnern offenstehen sollte. Der Plan regelmäßiger politischer Konsultationen wurde dann während eines Treffens der Außenminister der Sechs in Brüssel präsentiert und einige Wochen später in Straßburg angenommen. Die beiden ersten Treffen dieser Art fanden in Rom am 25. Januar und in Luxemburg am 5. Mai 196042 statt. Der gescheiterte Gipfel der vier Großmächte (inklusive des Skandals, den Chruschtschow um das amerikanische Spionageflugzeug U-2 am 16. Mai 1960 inszenierte) veranlasste de Gaulle, ein noch ambitionierteres politisches Ziel für Europa wieder aufzugreifen, das er der französischen Öffentlichkeit in einer Fernsehansprache am 31. Mai vorstellte: „Durch den Zusammenschluss auf politischem, wirtschaftlichem, kulturellem und humanem Gebiet dazu beizutragen, ein Westeuropa aufzubauen, das handeln, Fortschritte erzielen und sich verteidigen kann – darum will sich Frankreich bemühen […]. Eine organisierte Zusammenarbeit der Staaten, aus der in Zukunft vielleicht ein Staatenbund entsteht“43.
In den folgenden Wochen legte der Quai d’Orsay weitere Pläne vor, auf denen der Vorschlag de Gaulles an Adenauer vom 29. Juli basierte44. Es besteht kein Zweifel, dass de Gaulle die Bedeutung der supranationalen Institutionen im werdenden Europa beschneiden wollte, um die Zusammenarbeit souveräner Staaten zu stärken, wie aus seinem Vermerk vom 30. Juli an Adenauer unmissverständlich hervorgeht: „Die Entscheidung für diese Konzeption bedeutet aber auch das Eingeständnis, dass sich die ,supranationalen Behörden‘ der Sechs, die sich unvermeidlich und missbräuchlich zu Superstaaten ohne Verantwortung entwickeln, in Zukunft reformiert und den Regierungen für ihre normalen Aufgaben der Beratung und Umsetzung wieder unterstellt werden“45.
Wenn Adenauer auch ein gewisser „Gigantismus“ der Kommission in Brüssel aufgefallen war, so kam es ihm doch nicht in den Sinn, an den bestehenden gemeinsamen Institutionen oder den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten bzw. der NATO zu zweifeln46. So antwortete er de Gaulle, dass „man in dieser europäischen Schöpfung den deutsch-französischen Beziehungen einen Sonderplatz 42 43 44 45 46
Vgl. Bariéty 1997 [510], S. 168 f.; Baumann 2002 [513], S. 12 f. De Gaulle 1970 [44], S. 217–221. Vgl. Bariéty 1997 [510], S. 170. De Gaulle 1985 [45], S. 382. Vgl. Ebd.; Adenauer 1968 [38], S. 59–67.
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einräumen“ müsse. Diese Wendung verleitet Jacques Bariéty zu der These, dass damals nicht de Gaulle, sondern der Kanzler „die Perspektive einer privilegierten, deutsch-französischen Beziehung“ im europäischen Multilateralismus suchte47. Trotz des französischen Drucks schien sich der Plan wegen der Befürchtungen, die bis in die Umgebung des Kanzlers zu beobachten gewesen waren, zunächst festzulaufen – diese privilegierte Form von Zusammenarbeit schien von der traditionellen deutschen Vorstellung von Europa und der NATO doch zu weit entfernt48. De Gaulle war von der deutschen Zurückhaltung zuerst bitter enttäuscht49, ließ sein Vorhaben aber in den folgenden Monaten überarbeiten, um es wenigstens nach außen besser mit der EWG und der NATO in Einklang zu bringen50. Als er Adenauer am 9. Februar 1961 begegnete, waren alle Wirtschaftsfragen von der geplanten Abstimmung ausgeklammert, um jeden neuen, offenen Zweifel an der EWG zu vermeiden. Auch die militärische Zusammenarbeit hatte de Gaulle zurückgestellt51. In der revidierten Fassung hieß es jetzt nur noch, das werdende gemeinsame Europa solle über regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs sowie der Außen- und Kulturminister politisch „verlängert“ werden. Als de Gaulle und Adenauer diesen Plan ihren vier Partnern am nächsten Tag in der Europäischen Konferenz in Paris vorstellten, gab es zwar Einwände, besonders seitens der Niederlande, aber die Sechs beschlossen trotzdem, ihn an die Kommission zur Prüfung weiterer Vorschläge zu übergeben. Anfang März 1961 begannen die Verhandlungen über die politische Einigung Europas. Auf dem europäischen Gipfel in Bonn (Juli 1961) wurde ein Kompromiss gefunden, der in der gemeinsamen Erklärung zum Ausdruck kam: „Die politische Kooperation soll im Blick auf die europäische Einheit weiterentwickelt und gleichzeitig das schon begonnene Werk in den gemeinsamen europäischen Institutionen weiter verfolgt werden“. De Gaulle hatte bekommen, was er wollte, nämlich die politische intergouvernementale Zusammenarbeit zwischen den Staaten, und auch die Anhänger der europäischen Gemeinschaftsinstitutionen und der NATO kamen auf ihre Kosten, weil die Abschlusserklärung präzisierte, man müsse „die politische Union Europas fördern, um so die atlantische Allianz zu stärken“. Danach beauftragten die sechs EWG-Länder eine Kommission unter dem Vorsitz des französischen Diplomaten Christian Fouchet, Projekte für die politische Union vorzubereiten52. 47 Bariéty 1997 [510], S. 173. 48 Vgl. Bariéty 2005 [512], S. 73; über die Reaktionen auf deutscher Seite s. Fischer 1993 [536], S. 105; Buchstab 1991 [519]S. 98; Schwarz 1967 [93], S. 573; Görtemaker 1999 [401], S. 387; Koopmann 2000 [465]. S. 144 f. 49 Vgl. Linsel 1998 [614], S. 178. 50 Vgl. Baumann 2002 [513], S. 23. 51 Vgl. Bericht über die beiden Unterredungen vom 9. Februar 1961, in: DDF 1961, Bd. 19, Dok. 59, S. 168–177; Adenauer 1968 [38], S. 80–88. 52 Siehe den Bericht in: DDF 1961, Bd. 20, Dok. 36, S. 105 –125; die sog. Bad Godesberger Erklärung vom 18. Juli 1961 in: Gerbet, de la Serre, Nafilyan 1998 [15], S. 113 f.; Osterheld 1987 [63], S. 40–43.
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Als Frankreich den 1. „Fouchet-Plan“ am 19. Oktober 1961 präsentierte, hatte sich seit dem Gipfeltreffen im Juli das internationale Umfeld stark verändert. Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 hatte nicht nur letzte (deutsche) Hoffnungen auf eine schnelle Wiedervereinigung beendet, sondern auch das Verhältnis der (West-)Deutschen zu den westlichen Alliierten belastet53. Mag Washington auch während der Konfrontation der sowjetischen und amerikanischen Panzer am „Checkpoint Charlie“ am 27./28. Oktober militärische Präsenz gezeigt haben, so hatten sich die Reaktionen der Westmächte unmittelbar nach dem Mauerbau doch in Grenzen gehalten. Washington hielt es sogar für möglich, dass die Mauer die Berlinfrage in irgendeiner Form regeln und Moskau von nun an auf weiteren Druck auf West-Berlin verzichten würde54. Natürlich wurden in der Bundesrepublik und vor allem in West-Berlin Stimmen laut, die die fehlende Reaktion Washingtons55 beklagten. Nicht wenige Deutsche fühlten sich sogar von den Westmächten im Stich gelassen; nichtsdestotrotz stimmten Adenauer und Kennedy der Weiterführung der amerikanisch-sowjetischen Gespräche zu. De Gaulle hingegen lehnte eine Teilnahme an ihnen kompromisslos ab: Er wollte mit Moskau nicht über den Berlin-Status verhandeln, der ein für Frankreich außerordentlich sensibles Problem darstellte, weil es seinen Rang als „Groß- und Siegermacht“56 des Zweiten Weltkrieges berührte. Diese Unnachgiebigkeit beunruhigte Bonn zu einem Zeitpunkt, als es darum ging, die Solidarität des Westblocks unter Beweis zu stellen. Die offizielle Präsentation und Diskussion des 1. Fouchet-Plans erfolgten also in einem Kontext, der von leichten deutsch-französischen Spannungen geprägt war57. Der Plan umfasste die drei Teile Außenpolitik, Verteidigungspolitik sowie Vorschläge zur interuniversitären und wissenschaftlichen Zusammenarbeit, somit die drei Bereiche, die sich einige Monate später auch im Élysée-Vertrag58 wiederfanden. Es kann hier nicht darum gehen, die Geschichte der Fouchet-Pläne bis ins Detail zurückzuverfolgen, aber es bleibt festzuhalten, dass damals, als sich die Verhandlungen auf gutem Wege befanden und nur noch ein paar Korrekturen an „Plan I“ anzubringen waren, die französische Regierung am 18. Januar 1962 einen neuen Plan (Plan II) präsentierte, den der General eigenhändig59 korrigiert hatte und der anstatt einiger erwarteter Öffnungen die Rücknahme einer ganzen Reihe wichtiger Konzessionen enthielt. So wurde beispielsweise das Thema Wirtschaft wieder dem Stichwort politische Union zugeordnet, wohingegen die Formulierungen nicht mehr auftauchten, welche die Wahrung der bestehenden 53 Vgl. Schwarz 1985 [297]; Steininger 2001 [299]. 54 Vgl. Ludwig 2007 [293], S. 286–309. 55 Vgl. Conze 1995 [527], S. 210; Mayer 1996 [263]; Ausland 1996 [244]; Schild 1999 [269], S. 147–156. 56 Vgl. Buffet 1989 [520], S. 347–358. 57 Vgl. Baumann 2002 [513], S. 25–26. 58 Vgl. Soutou 1992 [676], S. 135. 59 Vgl. Debré 1988 [47], Bd. III, S. 440.
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Gemeinschaften sicherten und sich auf die NATO60 bezogen. Dieser neue Entwurf, den de Gaulle anstelle der vom Quai d’Orsay verbreiteten Vorlage mit aller Macht durchsetzen wollte, war für die europäischen Partner unannehmbar61, so dass die Verhandlungen im April 1962 abgebrochen wurden, obwohl der General einige seiner Positionen inzwischen revidiert hatte. Bis Herbst 1962 misslang jeder Versuch, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Zu den Anfangsdifferenzen über die europäischen Gemeinschaften, die gemeinsame Verteidigungspolitik und die Beziehungen zur NATO traten nun auch die Probleme wegen des Beitrittsgesuchs von Großbritannien zum Gemeinsamen Markt (10. August 196162) und seiner Einbindung in die Beratungen zur politischen Union, auf der die Niederlande und Belgien beharrten. Adenauer wiederum wollte verhindern, dass sich im Gefolge von Großbritannien auch das gesamte Commonwealth Europa anschloss63. Als im Februar 1962 die allgemeine Erregung über den 2. Fouchet-Plan ihren Höhepunkt erreicht hatte, trafen sich Adenauer und de Gaulle in BadenBaden64. Der Kanzler blieb standhaft und verteidigte die bestehenden europäischen Gemeinschaften. Damit rang er de Gaulle zumindest die Bereitschaft ab, seinen Entwurf vom Januar zu korrigieren. Während Hans-Peter Schwarz dieses Treffen als den Beginn „einer relativ harmonischen Zusammenarbeit“ zwischen den beiden Staatsmännern einstuft, die erst mit dem Rücktritt Adenauers im Herbst 1963 endete65, betont Andreas Wilkens, dass diese Zusammenarbeit auf keiner „identischen oder auch nur ähnlichen Bewertung der europäischen Zusammenhänge und deren weiterer Entwicklung“66 beruhte.
Vom Scheitern der Fouchet-Pläne zum Élysée-Vertrag: auf dem Weg zu einer privilegierten bilateralen Kooperation Die Inszenierung der deutsch-französischen Aussöhnung Schon während der Verhandlungen um die Fouchet-Pläne hatten Adenauer und de Gaulle am 20. Mai 1961 die Möglichkeit eines politischen Zusammengehens beider Staaten für den Fall erwogen, dass die Zusammenarbeit der Sechs scheitern würde67. Immerhin signalisierten der europäischen Öffentlichkeit seit 1961 klare symbolische Gesten die Annäherung und Zusammenarbeit zwischen 60 61 62 63 64 65 66 67
Vgl. Gerbet, de la Serre, Nafilyan 1998 [15], S. 114 –120. Vgl. Bitsch 1997 [516], S. 284–287. Vgl. de la Serre 1987 [341]; Ludlow 1997 [262]. Vgl. Osterheld 1987 [63], S. 122 f. Vgl. DDF 1962, Bd. 21, Dok. 55, S. 157–170. Schwarz 1967 [93], S. 736. Wilkens 2005 [990], S. 176. Vgl. DDF 1961, Bd. 19, Dok. 249, S. 612–624.
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I. Überblick
der Bundesrepublik und Frankreich. So hatte de Gaulle im März 1961 das Palais Beauharnais als Amtssitz der bundesdeutschen Botschaft herrichten lassen, und im Juni reiste Bundespräsident Heinrich Lübke zu einem Staatsbesuch nach Frankreich. 1962 erklommen die beiden Länder mit den gegenseitigen Besuchen ihrer Staats- und Regierungschefs eine neue Stufe in der symbolischen Rangordnung: Es begann eine Phase offizieller Symbolpolitik, welche die Öffentlichkeit in beiden Ländern auf diese privilegierte Zusammenarbeit mit dem Nachbarn einstimmen sollte oder, wie es Hans-Peter Schwarz ausdrückt: „Nie vorher und danach in der Geschichte der Bundesrepublik ist die Kraft geschichtlicher Erinnerungen und Bilder so souverän eingesetzt worden, um die Öffentlichkeit für eine außenpolitische Grundorientierung zu gewinnen“68. Einen Tag nach dem Scheitern des 2. Fouchet-Plans lud de Gaulle Adenauer am 26. April 1962 zu einem offiziellen Staatsbesuch ein69. Nach dem Waffenstillstand in Algerien am 19. März konnte sich der General nun neuen Prioritäten zuwenden und sich auf seine Hauptinteressen in Europa konzentrieren70. Die Reise des Kanzlers vom 2. bis 8. Juli 1962 war gespickt mit bedeutungsschweren symbolischen Handlungen. Nach der Teilnahme an einer Militärparade auf dem Truppenübungsplatz Mourmelon begaben sich General und Kanzler nach Reims, der „Märtyrerstadt“ des Ersten Weltkriegs71. Ihre Kathedrale bot die erste Bühne für die Inszenierung der neuen deutsch-französischen Einigkeit. Nach einer Messe und dem Te Deum, dem Adenauer und de Gaulle gemeinsam beiwohnten, zeichnete ein deutscher Karikaturist die deutsch-französische „Hochzeit“ zum ersten Mal als Verbindung von Marianne und Michel (das Zeichen für ein freundlichverbindliches Deutschland im Gegensatz zur Germania, die ein drohendes Deutschland verkörperte), die von dem General und dem Kanzler zum Altar begleitet wurden und denen im Hochzeitszug u. a. Briand und Stresemann, Voltaire und Friedrich II. und am Schluss Karl der Große folgten72. Bei ihren Gesprächen am 5. Juli fragte de Gaulle Adenauer, ob er, wenn der Fouchet-Plan endgültig Schiffbruch erleiden sollte, bereit wäre, die europäische Einigung als gemeinsames deutsch-französisches Ziel wieder aufzunehmen, was Adenauer akzeptierte73, ohne die Tür aber für andere Partner zuzuschlagen. Über die Art und Weise einer solchen Verbindung wurde in der Unterhaltung jedoch nicht näher gesprochen. Als Folge dieser Reise lud Adenauer de Gaulle seinerseits zu einem Staatsbesuch nach Deutschland ein, der vom 4. bis 9. September 1962 erfolgte. In jeder Stadt, durch die de Gaulle reiste, erlebte er einen triumphalen
68 69 70 71 72
Schwarz 1983 [427], S. 259. Vgl. De Gaulle 1986 [45], S. 234–235. Vgl. Debré 1988 [47], S. 236. Vgl. Frank 2005 [1211]. Vgl. Klaus Pielert, Die Liebe des Jahrhunderts, Kölner Stadt-Anzeiger, 5. Juli 1962. Die Karikatur taucht auch in Dietrich, Fekl 1988 [1045], S. 40 f. auf. 73 Vgl. Ebda., S. 40 f.; Kusterer 1997 [603] S. 196; ders. 1995 [57].
5. Der politische Weg zum Élysée-Vertrag (1958 –1963)
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Empfang74; der Dolmetscher Hermann Kusterer bezeichnete die Reise in seinen Erinnerungen sogar als „Krönungsreise“75. Hier bot sich die Gelegenheit, an einer deutsch-französischen „Meistererzählung“ weiterzufeilen. Einer ihrer Aspekte war die Reverenz an die Einheit beider Völker, auf die sich die Idee von einer brüderlichen Verbundenheit der „großen Völker“ stützen sollte, welche die Zivilisationen hervorbringen, wie de Gaulle es bei dieser Staatsvisite ausdrückte76. Zu dieser Erzählung gehörte auch die Anerkennung der Wunden, Verletzungen und Leiden, die dem einen durch den anderen zugefügt worden waren. Bundespräsident Heinrich Lübke drückte sein „schmerzliches Bedauern“ aus, das bei ihm der Blick in die Vergangenheit hervorrufe77. Bei seiner Reise nach Reims hatte Adenauer bereits der „ville martyre“ des Ersten Weltkrieges seine Reverenz erwiesen und war in seiner Rede auf den Ort der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation im Westen im Jahre 1945 zurückgekommen. Dadurch hatte er für die schmerzvolle und unmittelbare Vergangenheit symbolisch Verantwortung übernommen. Im gleichen Sinn hielt de Gaulle während seines Aufenthalts in München an der Feldherrnhalle, um die Toten von 1870/71 und des Ersten Weltkrieges zu ehren. Wie Valérie Rosoux anmerkte, sind die „historisch verbundenen Völker“ auch Völker, die „sich gegenseitig verletzten“. Ihre offiziellen Vertreter waren nun gefordert, die „Last der Vergangenheit in ihrer ganzen Komplexität“78 aufzunehmen und die engen nationalen Meistererzählungen zu öffnen für die Erinnerung und die Erinnerungsorte des ehemaligen Gegners79.
Protokoll oder Vertrag? De Gaulle und Adenauer waren mittlerweile zu der Einsicht gekommen, die künftige gemeinsame Arbeit durch eine politische Vereinbarung abzusichern, „um die Bande wirksam zu verstärken, die bereits auf zahlreichen Gebieten bestehen“80. Adenauer schlug am 5. September vor, ihm ein diesbezügliches Memorandum zu schicken. Das vom Quai d’Orsay vorbereitete Dokument wurde dann
74 75 76 77 78 79
Vgl. Moll 2002 [646], S. 54–62; Kramer, Katzer 2006 [598], S. 403 – 417. Kusterer 1995 [57], S. 250. Vgl. Notes et Études documentaires, 21 décembre 1962, n° 2947, S. 7, 20 f. Vgl. Rosoux 2001 [1241], S. 33. Rosoux 2007 [1242], S. 24. Die Zeremonie in Reims 1962 unterschied sich grundsätzlich von dem, was man 1984 in Verdun demonstrieren wollte: Im Juni 1962 ehrte die Bundesrepublik einen zentralen Ort des französischen Gedenkens. 1984 gedachten François Mitterrand und Helmut Kohl zusammen der französischen und der deutschen im Krieg gefallenen Soldaten. Dadurch wollten sie ein Zeichen für die gemeinsame Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, d. h. für eine gemeinsame und versöhnliche Aufarbeitung, setzen und die gleiche Aufgabe im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg anregen; vgl. Pfeil 2008 [1239]. 80 Text des Kommuniqués vom 7. September 1962 in: Europa-Archiv 17 (1962), S. D 457 f.
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am 19. September nach Bonn übersandt und bildete mit seinen drei Feldern der Zusammenarbeit (Außenpolitik, Verteidigung, Bildungs- und Jugendpolitik) schon das Grundgerüst des Élysée-Vertrages. Hinzu kam das Ziel regelmäßiger Treffen der Regierungschefs und ihrer Minister. Verzögert durch internationale Ereignisse wie die Kubakrise81 erreichte die deutsche Antwort Paris erst am 12. November, wo sie hinter den Kulissen als enttäuschend empfunden wurde: Ganz offensichtlich hatte der deutsche Partner mit der Vereinbarkeit von NATOBindung und gemeinsamer deutsch-französischer Verteidigungspolitik seine Schwierigkeiten. Diese Situation warf ein Licht auf die wachsende Opposition gegen die Frankreichpolitik des Bundeskanzlers, die sich sowohl bei der Opposition als auch in seiner eigenen Mehrheit gebildet hatte. Darüber hinaus schwächte die „Spiegel-Affäre“82 die Position des Kanzlers zusätzlich, der schließlich zu dem Versprechen gezwungen wurde, im Herbst 1963 aus dem Bundeskanzleramt auszuscheiden83. Unter diesen Bedingungen verdient die Frage Beachtung, welche Interessen Adenauer zu einem deutsch-französischen Bilateralismus bewogen hatten. So klar die privilegierte deutsch-französische Zusammenarbeit für de Gaulle ein Ersatz für das Scheitern der von ihm angestrebten europäischen politischen Union war und ihm zudem größere Bewegungsfreiheit gegenüber den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Europäischen Gemeinschaft ermöglichen sollte, so komplex war die Position Adenauers. Hans-Peter Schwarz konstatiert fünf Gründe für die Entscheidung des Kanzlers84: 1. den stets gleichbleibenden Willen Adenauers, mit dem ehemaligen „Erbfeind“ eine enge Zusammenarbeit einzugehen; 2. das mangelnde Vertrauen Bonns in die US-Präsidenten Eisenhower und Kennedy als Folge der Berlinkrise (Berlin-Ultimatum 1958 und Mauerbau85); 3. die Vorstellung, die deutsch-französische Beziehung als Druckmittel gegen die USA einzusetzen; 4. die Sorge, Frankreich im westlichen Lager zu verankern, den General für die Sache der europäischen Integration zu gewinnen und ihn dadurch daran zu hindern, sich zu offensichtlich von den USA und der NATO zu entfernen; 5. die Absicht, das Schreckgespenst einer neuen französisch-sowjetischen Allianz zu vertreiben. Angesichts der politischen Isolierung Adenauers stellt sich eine weitere Frage: Warum ist er von der Vorstellung abgewichen, eine simple Niederschrift 81 82 83 84 85
Vgl. Vaïsse 1993 [277]; Brauburger 2002 [245]; Münger 2003 [266]. Vgl. Görtemaker 1999 [401], S. 386; Merseburger 2007 [81]. Vgl. Osterheld 1987 [63], S. 166. Vgl. Schwarz 2005 [669], S. 53–56. Vgl. Lemke 1995 [288].
5. Der politische Weg zum Élysée-Vertrag (1958 –1963)
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oder ein Protokoll zu unterzeichnen, um seine Unterschrift schließlich unter einen regelrechten Staatsvertrag zu setzen, der in den beiden Parlamenten erst ratifiziert werden musste? Erinnern wir uns, dass nach dem Austausch der Memoranden im Herbst ein Treffen zwischen Adenauer und de Gaulle im Januar in Paris vorgesehen war, um ein gemeinsames „Protokoll“ zu unterschreiben. Auch de Gaulle dachte zu diesem Zeitpunkt an nichts anderes. Am 18. Januar ließ Adenauer dann aber den französischen Staatspräsidenten wissen, dass er das Protokoll in einen veritablen „Vertrag“ umzuwandeln gedenke86. Vermutlich schien ihm die spezielle Form eines Vertrags als geeignetes Mittel, um seine Nachfolger zu binden87. Im Übrigen hatte die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes betont, dass der Themenkomplex „Bildung“ als Bestandteil der vorgesehenen Zusammenarbeit nach dem Grundgesetz unter die Kompetenz der Länder falle. Um zu vermeiden, dass ein Bundesland das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anrufe, müsse der Vereinbarung daher die höchste juristische Weihe verliehen werden88. Darüber hinaus wollten weder Bundesaußenminister Schröder noch Adenauer neue Verhandlungen und am 22. Januar etwa mit leeren Händen nach Paris kommen. Es blieb also nichts anderes übrig, als aus dem vorgesehenen Protokoll in aller Eile einen Vertrag zu machen. Die letzten Misslichkeiten während seiner Unterzeichnung zeugten von der Eile. So waren die Diplomaten der deutschen Delegation nicht darüber unterrichtet, welcher Natur die Vereinbarung sein sollte, so dass sie die zur Besiegelung eines Staatsvertrags notwendigen Utensilien nicht eingepackt hatten89. Alles spricht also dafür, dass der Élysée-Vertrag improvisiert wurde! Es bleibt allerdings anzumerken, dass sich die Situation zu dem Zeitpunkt, als Adenauer Paris um die Unterzeichnung eines Vertrags bat, im Vergleich zum Herbst 1962 beträchtlich verschärft hatte. Inzwischen hatte de Gaulle in einer minutiös inszenierten Pressekonferenz am 14. Januar 1963 den Beitritt Großbritanniens zur EWG abgelehnt und damit nicht nur Kennedys atlantisches grand design, das auf eine von den USA beherrschte atlantische Partnerschaft hinauslaufen sollte, sondern auch noch den Grundsatz der Bipolarität als Prinzip des Kalten Krieges in Frage gestellt90. Adenauer bezeichnete diese Position des Generals später als „fürchterlich“ und einen „Irrtum“!91 Auch für die SPD war der von de Gaulle betriebene Ausschluss Großbritanniens der eigentliche Grund für ihre Kritik am Élysée-Vertrag, nicht etwa eine
86 87 88 89 90
Vgl. DDF 1963, Bd. 23, Dok. 26, S. 62–63. Vgl. Lappenküper 2001 [468], S. 1767. Vgl. Schwarz 2005 [669], S. 57. Vgl. Bericht von Per Fischer in Schwarz 1985 [491], S. 48. Vgl. Berstein 2002 [352], S. 298 f.; Bitsch 1999 [308], S. 152 f.; Brunn 2002 [310], S. 148 f.; Knipping 2004 [327], S. 127 f.; König, Schulz 2004 [328]. 91 Vgl. Schwarz 2005 [669], S. 52.
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Feindseligkeit gegenüber Frankreich, dem die Sozialdemokraten nach den Worten ihres Vorsitzenden Erich Ollenhauer stets freundschaftlich verbunden waren92. Auch in den Reihen der CDU/CSU wuchsen die schon offen zu Tage getretenen Spannungen infolge der Pressekonferenz des französischen Präsidenten: Auf der einen Seite standen als Stütze des Kanzlers die „Gaullisten“ um Franz Josef Strauß, den CSU-Verteidigungsminister, der im Zuge der „Spiegel-Affäre“ schon viel politischen Kredit verspielt hatte, und auf der anderen die „Atlantiker“ um die beiden Hauptbewerber um Adenauers Nachfolge, Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und Außenminister Gerhard Schröder93. Dabei reduzieren die Begriffe „Gaullisten“ und „Atlantiker“ die Realität jedoch in unzulässiger Weise, denn weder wollten die einen die deutsch-amerikanischen Beziehungen zugunsten der deutsch-französischen Annäherung aufgeben noch die anderen einer Vertiefung der deutsch-französischen Partnerschaft im Wege stehen94. Das „Nein“ de Gaulles am 14. Januar erschütterte auch die FDP als politischen Partner innerhalb der Regierungskoalition heftig95. Unter diesen Bedingungen zeichnete sich bereits vor der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags der Weg zu einer Präambel ab, welche vor allem die Verpflichtung zu engen politischen, wirtschaftlichen und verteidigungspolitischen Beziehungen mit den USA, Großbritannien und der NATO bekräftigte. Hatte es kurzzeitig nach einem Übergewicht der „Gaullisten“ zuungunsten der „Atlantiker“ ausgesehen, war nun das Gleichgewicht in der bundesdeutschen Außenpolitik wiederhergestellt, das der Bundestag durchgesetzt hatte und über das er im Juni 1963 abstimmte. In den Augen de Gaulles war der Élysée-Vertrag damit aber seines Sinnes entleert, so dass der General das Bild einer missratenen Hochzeitsnacht wählte, nach der er sich – so seine Worte – weiterhin jungfräulich fühlte. Andere sprachen hinsichtlich des Élysée-Vertrages von einer Todgeburt, die zu neuem Leben erweckt werden musste, worin für Bonn und Paris die Herausforderung in den folgenden Jahrzehnten lag.
92 93 94 95
Vgl. Defrance, Pfeil 2005 [448], S. 22. Vgl. Oppelland 2002 [86]; Marcowitz 1996 [629]; ders. 1997 [630], S. 59 – 64. Vgl. Marcowitz 1995 [633], S. 90; Baumann 2004 [514], S. 66 – 85. Vgl. Defrance, Pfeil 2005 [448], S. 22 f.
6. Bilanz der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Jahre 1963
6. Bilanz der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Jahre 1963
Am 22. Januar 1963 unterzeichneten General de Gaulle, Bundeskanzler Adenauer, Premierminister Georges Pompidou sowie die beiden Außenminister Gerhard Schröder und Maurice Couve de Murville im Salon Murat des ÉlyséePalastes den Deutsch-Französischen Vertrag. In der gemeinsamen Erklärung vor der Unterzeichnung bekräftigten der französische Staatschef und der deutsche Bundeskanzler ihre Überzeugung, dass „die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk, die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein geschichtliches Ereignis darstellt, das das Verhältnis der beiden Völker zueinander von Grund auf neu gestaltet“. Die Verwendung des Begriffs „Versöhnung“, der im Vertragstext nicht auftaucht, war in der damaligen Sprache der Diplomatie neu. 1959 hatte man ihn offenbar zum ersten Mal in einem Dokument des Quai d’Orsay1 gebraucht. Jenseits eines „normalen“ Vertrags zwischen zwei Staaten sollte der Élysée-Vertrag die „Solidarität“ bestätigen und die „Freundschaft“ zwischen den beiden Völkern besiegeln. Das eigentliche Vertragsziel bestand in der Ausgestaltung der Zusammenarbeit. Der erste Teil des Vertragsdokumentes legt unter dem Titel „Organisation“ die regelmäßigen Konsultationen der Staatsund Regierungschefs sowie der zuständigen Fachministerien und die Treffen der interministeriellen Kommission in beiden Ländern fest. Der zweite Teil, das „Programm“, behandelt die deutsch-französische Zusammenarbeit in den Teilbereichen Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Bildung und Jugend. Markierte dieser Vertrag, so wie er damals – und auch noch heute – als „Gründungsakt“ der bilateralen Beziehungen verstanden wurde bzw. wird, den Start in eine „deutsch-französische Ära“ oder fügte er sich in die Reihe früherer Bemühungen um Annäherung und Zusammenarbeit ein? Jenseits der Frage zu Brüchen und Kontinuitäten, zu Zäsuren und Wendepunkten richtet sich der Blick auf die Akteure, die eine solche Vereinbarung ermöglicht haben. Neben dem offenkundigen Engagement von de Gaulle und Adenauer gilt es die Rolle der Zivilgesellschaft und ihren Beitrag zum Zustandekommen des Vertrages zu beleuchten. Nachdem im vorherigen Kapitel der politische Weg zum Vertrag nachgezeichnet wurde, soll auf den folgenden Seiten eine Bilanz der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu Jahresbeginn 1963 gezogen werden. Im Mittelpunkt soll dabei die Frage stehen, auf welche Errungenschaften sich der Vertrag stützen konnte und welche neuen Ziele er definierte, um den deutsch-französischen Be1 Vgl. Defrance, Pfeil 2005 [448], S. 28 f.
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ziehungen neue Impulse einzuhauchen. Ebenso müssen wir nach den Gründen fragen, die dazu führten, dass Wirtschaft und Kultur (mit Ausnahme der Bildungs- und Jugendpolitik) im Vertrag nur am Rande behandelt wurden. Diese sektorielle Analyse wird zudem die Kooperationen zwischen Frankreich und der DDR einbeziehen und sie in Verbindung zu den westdeutsch-französischen Beziehungen setzen.
Die militärische Kooperation: eine permanente Herausforderung Die Verteidigungspolitik stellte angesichts der unterschiedlichen französischen und bundesrepublikanischen Positionen (vor allem im Hinblick auf die USA2) ein besonders mühseliges Terrain der Zusammenarbeit dar, obwohl die im Élysée-Vertrag genannten Handlungsebenen den festen Willen dokumentieren, die sensibelsten Punkte offen und direkt anzugehen. Dabei begann die deutschfranzösische Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet nicht erst mit dem Vertrag: Schon seit der Besatzungszeit bestand eine – damals jedoch einseitige – Beziehung zwischen der französischen Regierung und deutschen Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern, die in Frankreich für die französische Armee arbeiteten3. Die französischen Behörden holten das ehemalige Institut für Ballistik der „Technischen Akademie der Luftwaffe“, das gegen Kriegsende von Berlin-Gatow nach Biberach/Riss4 in Württemberg verlegt worden war, mitsamt Personal im August 1945 in das elsässische Saint-Louis. Von 1945 bis 1950 arbeiteten mehrere Hundert deutsche Spezialisten in der französischen Waffenindustrie, deren Fortentwicklung vom wissenschaftlich-technischen Know-how der Deutschen profitierte. Nach 1950 machte die Tätigkeit deutscher Fachspezialisten in der französischen Waffenindustrie nach und nach den ersten Kooperationen Platz, die Ende der 1950er Jahre die Entwicklung des Transportflugzeugs Transall und Anfang der 1970er Jahre die des leichten Jagdbombers Alpha-Jet ermöglichten5. Die sich damals im Wandel befindliche Luftfahrtindustrie genoss dabei die volle Unterstützung der französischen Regierung, die in ihr das Herzstück ihrer Waffenpolitik sah, mit der sie die waffentechnische Unabhängigkeit Frankreichs und seinen Status als „Großmacht“6 untermauern wollte. Über die waffentechnische Zusammenarbeit hinaus verabredeten die militärischen Führungsstäbe im Rahmen der Pariser Konferenz zum Pleven-Plan (vgl.
2 Vgl. Pommerin 1996 [1011]. 3 Vgl. Ludmann-Obier 1986 [964], S. 197; Bar-Zohar 1965 [923]; Mick 2000 [967], S. 432 f.; Defrance 2001 [942]. 4 Vgl. Schall 1988 [976]. 5 Vgl. Bohnekamp 2002 [992]. 6 Vgl. Seiller 2008 [670], S. 60.
6. Bilanz der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Jahre 1963 117
Kap. I.3) sehr früh Konsultationsformen und stellten Arbeitsbeziehungen her. An einen tieferen strategischen Austausch war dabei angesichts der Hintergedanken auf beiden Seiten aber noch nicht zu denken: Paris wollte auf die militärische Kontrolle über die Bundesrepublik nicht verzichten, und Bonn strebte nach seiner Souveränität7. Erst nach dem Scheitern der EVG8 und als Folge der Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 gewann der deutsch-französische Dialog im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU) und der NATO in einer – zuweilen – ausgeprägt bilateralen Dimension an Substanz9. Der Bundesrepublik unter Kanzler Adenauer ging es in ihren sicherheitspolitischen Überlegungen nach der Aufnahme in die NATO nicht nur um die Verteidigung des westdeutschen Territoriums, sondern auch um die rechtliche Gleichstellung innerhalb der atlantischen Allianz sowie um die unbedingte Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung, die Adenauer als Versicherung gegen einen neuen Krieg in Mitteleuropa verstand. Als die Amerikaner infolge der nuklearen Aufrüstung der Sowjetunion ab Mitte der 1950er Jahre ihre Strategie der „massiven Vergeltung“ zu überdenken begannen (auf sie folgte die Doktrin der „flexible response“10), sah der Kanzler eigenen Handlungsbedarf, weil die amerikanische Neuorientierung die Gefahr lang andauernder Kämpfe auf deutschem Gebiet und die mögliche Aufgabe eines Teils des deutschen Territoriums barg. Um den eigenen vitalen Interessen stärkeren Nachdruck zu verleihen, bemühte sich Adenauer sodann um eine deutsche Beteiligung an der taktischen Nuklearrüstung der NATO. Er bot den Verantwortlichen in Washington Trägersysteme der Bundeswehr für ihre nuklearen Sprengköpfe an, die bis unmittelbar vor ihrem Abschuss unter amerikanischer Kontrolle gestanden hätten, so dass die Bundesrepublik nicht gegen ihre Verpflichtung verstieß, auf Massenvernichtungswaffen zu verzichten11 (vgl. Kap. I.4). Adenauer hoffte zudem, sich an der Formulierung der amerikanischen Nuklearstrategie für Europa beteiligen zu können, was sich jedoch zum damaligen Zeitpunkt als utopisches Unterfangen herausstellte. Da er sich aber nicht in einseitige Abhängigkeit zu den Amerikanern begeben wollte, suchte er zugleich die Nähe Frankreichs und sondierte die Möglichkeiten für eine nukleare Kooperation. Mit dieser Option wollte der Kanzler jedoch nicht die atlantische Integration in Frage stellen oder sich von den Vereinigten Staaten entfernen, sondern sich Einfluss auf den amerikanischen Entscheidungsprozess sichern12. Auch die französische Regierung unterstützte die bilaterale Annäherung auf militärischem Gebiet ausdrücklich: Zum einen ging es ihr um die Überwindung
7 8 9 10 11 12
Vgl. Soutou 1996 [1018], S. 13, 20; ders. 2006 [1020]. Vgl. Bariéty 1993 [508]. Vgl. Dietl 1999 [998]; Heuser 1997 [1006]. Vgl. Pommerin 1995 [1010]. Vgl. Küsters 1994 [1008]; Pommerin 1999 [1012], S. 329 f.; Schwarz 1989 [1015]. Vgl. Soutou 1995 [1017], S. 492.
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des Schocks, den das Scheitern der EVG ausgelöst hatte, zum anderen wollte sie vermeiden, von Amerikanern und Briten überholt zu werden, die gerne engere militärische Beziehungen zu dem westdeutschen Partner knüpfen wollten13. Zudem besaß die militärische Kooperation ganz unbestritten einen symbolischen Aspekt, sollte sie doch – das Ende des Zweiten Weltkrieges lag schließlich erst zehn Jahre zurück – die psychologische Barriere zwischen Deutschen und Franzosen überwinden. Man wollte die Vergangenheit gewiss nicht vergessen, aber im neuen Kontext des Kalten Krieges musste die Überwindung mentaler Hindernisse im Vordergrund stehen. Für General Pierre Koenig, den damaligen französischen Verteidigungsminister, stellte sie eine „zwingende Notwendigkeit zur Rettung unserer gemeinsamen Kultur“ dar14. Diesen Weg schlug die französische Regierung schon kurz nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge ein, die den baldigen Beitritt der Bundesrepublik zur NATO vorsahen. Neben dem Ausbau der Zusammenarbeit und der Teilung von Kosten und Risiken boten diese Verträge zugleich die Möglichkeit zur Überwachung der militärischen Entwicklung der Bundesrepublik und der zivilen Nutzung ihrer Nukleartechnik. Deshalb schlug Paris Bonn 1955 vor, eine Anlage zur Isotopentrennung zu bauen, um die Kosten der Nuklearforschung zu teilen. Die deutsche Seite, die auf dem militärischen Sektor bereits wirtschaftliche Verbindungen mit den Vereinigten Staaten geknüpft hatte und sich der Tatsache bewusst war, dass ihre Sicherheit nur von den USA garantiert werden konnte, antwortete auf den französischen Vorschlag zunächst sehr reserviert (zu einer Vereinbarung sollte es erst in einem trilateralen Vertrag 1958 zusammen mit Italien kommen). Die einzigen Resultate dieser ersten, von Frankreich ausgehenden Öffnungsphase führten zur Umwandlung des früheren Instituts für Ballistik in das „Deutsch-Französische Forschungsinstitut Saint-Louis“ (ISL) 195815 und zur Unterzeichnung einiger Kaufverträge für militärische Ausrüstung. Am 30. Juni 1955 formulierte Paris „Allgemeine Grundsätze der deutsch-französischen Kooperation hinsichtlich von Militärgütern“, die den Verkauf französischer Militärausrüstung an die Bundesrepublik regelten und eine Vereinbarung der beiden Führungsstäbe über die Definition und Verwendung dieser Güter enthielten. Trotz der bescheidenen Anfänge markierten die „Grundsätze“ den Beginn einer strategischen Zusammenarbeit16. Vor allem unter der Regierung Guy Mollet intensivierten sich die Beziehungen seit Januar 1956. Das Konzept der „strategischen deutsch-französischen Partnerschaft“ innerhalb der NATO beinhaltete das Ende der Vorstellungen, die Bundesrepublik militärisch kontrollieren zu können. Stattdessen ging man nun zur Kooperation über. Die Gelegenheit dazu boten die Entwicklung der internationa13 Vgl. Bossuat 1993 [993], S. 605; Kocs 1995 [1007a], S. 81; Lappenküper 2001 [468], S. 1155 f. 14 Zit. nach Seiller 2008 [670], S. 63. 15 Vgl. Baumann 2007 [924]; Haumeton 1999 [1004], S. 283– 287. 16 Vgl. Soutou 1996 [1018], S. 47.
6. Bilanz der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Jahre 1963 119
len Beziehungen und die US-Nuklearstrategie, die Bonn und Paris beunruhigten und französische Regierungskreise zu neuen Offerten an die Bundesrepublik veranlassten. So schlugen sie eine strategisch begründete waffentechnische Zusammenarbeit, die Verabschiedung einer gemeinsamen Militärdoktrin und die gemeinsame Ausbildung der Führungsstäbe vor. Dieses Mal reagierte der neue Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß positiv. Am 6. November 1956 vereinbarten Mollet und Adenauer eine gemeinsame Nuklearpolitik für Europa, der sich Großbritannien anschließen sollte (diese Hoffnung verflüchtigte sich allerdings Anfang Januar 1957)17. Im Jahre 1957 kam es dann zu weiteren, nicht unbedeutenden Vereinbarungen, z. B. dem Abkommen von Colomb-Béchar über die deutsch-französische Zusammenarbeit in Fragen der Verteidigung und Bewaffnung vom 17. Januar 1957, aus dem ein deutsch-französisches Militärkomitee hervorging, und dem deutsch-französisch-italienischen Protokoll vom 28. November 1957, unterzeichnet von Jacques Chaban-Delmas, Franz Josef Strauß und Emilio Taviani, das einen schon bestehenden Vertrag bestätigte und auf Atomwaffen ausdehnte18. Dieses Protokoll definierte die Grundlagen einer gemeinsamen europäischen Militärpolitik: Es sollte zu einer wirklichen Gemeinschaft für die Forschung und Produktion von Waffen, inklusive Nuklearwaffen auf der Basis gemeinsam abgestimmter strategischer Konzepte führen. Gleichzeitig präzisierte es aber auch, dass die drei Länder ihre Zusammenarbeit in dem bestehenden institutionellen Rahmen durchführen (NATO und WEU) und die Realität der spezifisch europäischen Probleme berücksichtigen wollten. Allerdings band dieses Protokoll nur die unterzeichnenden Minister und nicht ihre Regierungen, so dass es totes Papier blieb, sogar noch vor der Rückkehr de Gaulles an die Macht. Wie Florence Gauzy unterstreicht, strebten weder Paris noch Bonn zwischen 1956 und 1958 nach einer europäischen Atommacht, was die Interpretation der beiden Abkommen und des Protokolls zwiespältig macht: Zielten die drei Länder auf den Aufbau einer bi- oder trilateralen Kooperation in Europa oder wollten sie nur die USA dazu veranlassen, mit ihnen eine engere strategisch-nukleare Verbindung einzugehen? In Paris jedenfalls achteten die politischen Handlungsträger darauf, mit Washington nicht in Konflikt zu geraten19. Im Sommer 1958 brachte de Gaulle Klarheit in die Situation, indem er auch die letzten Hoffnungen auf eine wissenschaftliche Zusammenarbeit im Nuklearbereich beendete. Selbst der Plan für den Bau einer Isotopentrennanlage wurde damals aufgegeben20. Dem General ging es darum, Frankreichs Großmachtanspruch und seine Führungsambitionen in Kontinentaleuropa zu untermauern. Er ließ in dieser Hinsicht niemals Zweifel aufkommen, dass der Weg dahin nur über 17 Vgl. Doise, Vaïsse 1987 [192], S. 599; Dietl 2002 [999]; ders. 2005 [1000], S. 52 f. 18 Vgl. Bougherara 2002 [994]; dies. 2006 [517], S. 35 f.; Conze 1990 [997]; Barbier 1990 [505]; Fischer 1992 [1001]; Schwarz 1991 [93], S. 396. 19 Vgl. Gauzy 2005 [1002], S. 132. 20 Bariéty 2005 [512], S. 69; Lappenküper 2001 [468], S. 1196 f.
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den Aufbau einer eigenen französischen Atomstreitmacht führen konnte21. In dieser Haltung kam seine Aversion gegen Blockbildung, Unterordnung und Anpassung bzw. sein Hang zu einer internationalen multipolaren Ordnung zum Ausdruck22. Wie kein anderer Entscheidungsträger der IV. Republik vor ihm verband er Außen- und Verteidigungspolitik, um die Sicherheit eines starken und unabhängigen Frankreich im Kreise souveräner Nationalstaaten auf der Grundlage militärischer Stärke zu sichern23. Durch die NATO-Integration sah er die nationale Verantwortung für die Landesverteidigung beeinträchtigt und damit die Legitimation seiner eigenen Position und die seiner Regierung bedroht. Ihm schwebte daher eine Allianz von souveränen Nationalstaaten vor, in der jedem Mitglied eine bestimmte Rolle zukam. In der damaligen Situation des Kalten Krieges schrieb er der Bundesrepublik die Rolle der Vorhut zu, während er Frankreich in der zweiten Reihe sah, das gegenhalten und die „avant-garde“ unterstützen müsse, solange die USA die Reserve stellten24. In diesem Kontext fiel die Entscheidung der Bundesrepublik vom Oktober 1958, das US-Kampfflugzeug F-104 Starfighter (und nicht die Mirage III aus dem Hause Dassault) zu kaufen, was die deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der konventionellen Bewaffnung in Frage stellte und oft als Vergeltungsmaßnahme für die Verhängung einer Blockade in der nuklearen Zusammenarbeit durch Paris bezeichnet wurde. Dieser These widerspricht zum einen, dass die bundesdeutschen Militärs immer wieder betonten, dass die Mirage III nur unzureichend den Erfordernissen der Luftwaffe entspreche25, zum anderen, dass 1959 weitere Abkommen geschlossen wurden, vor allem über die Lagerung deutscher Munition in Frankreich oder den Bau des Transportflugzeugs Transall26. Nichtsdestotrotz war eine deutliche Abkühlung der deutsch-französischen Rüstungszusammenarbeit zwischen 1958 und 1960 zu beobachten, die nicht zuletzt auch durch den erfolglosen Versuch de Gaulles verursacht wurde, sich den Amerikanern zu nähern27. Erst ab 1960 intensivierte sich der Dialog in einem veränderten Kontext wieder, nachdem sich die internationalen Spannungen nach dem gescheiterten Viermächtegipfel in Paris (Mai 1960) und dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 verschärft hatten28. Zudem rückten Frankreich und die Bundesrepublik zwischen 1960 und 1962 wegen des von französischer Seite betriebenen Projekts einer politischen Union Europas29 strategisch wieder 21 22 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. Ziebura 1997 [503], S. 137. Vgl. Fernsehansprache vom 27. April 1965, in: de Gaulle 1970 [44], S. 354 – 358. Vgl. Vaïsse 1995 [1022], S. 482. Vgl. Vaïsse 1998 [238], S. 121. Vgl. Seiller 2008 [670], S. 78 f. Vgl. Soutou 1996 [1018], S. 142 f.; Bittner 1986 [991]. Vgl. Conze 1995 [527], S. 77 ff.; Vaïsse 1998 [238]; Bozo 1996 [995], S. 21– 45. Vgl. Pommerin 1995 [1009]. Vgl. Soutou 1989 [1016]; ders. 1997 [675]; Conze 1995 [528].
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enger zusammen. Dabei ließ sich in einer ersten Phase beim Kanzler beobachten, dass er die amerikanische Karte noch nicht aus der Hand geben wollte30. Das ausgeprägte Sicherheitsbedürfnis mag Adenauer schließlich auch bewogen haben, im September 1960 das von NATO-Oberbefehlshaber General Lauris Norstad ausgearbeitete Projekt der Bildung einer mit Polaris-Raketen bewaffneten Flotte unter multilateralem NATO-Kommando zu unterstützen und de Gaulle für diese Idee zu gewinnen, legte dieses Projekt doch die Verantwortung für den Einsatz von Atomwaffen in mehrere Hände. Dieses multilaterale Vorläuferprojekt der MLF besaß nach Einschätzung von Soutou die Priorität des Kanzlers, der jedoch aus taktischen Gründen den General nicht brüskieren wollte31. So erklärt es sich, dass nach dem Treffen von Rambouillet am 25. Oktober 1960 die beiden Verteidigungsminister Strauß und Messmer eine Vereinbarung unterzeichneten, die es der Bundeswehr erlaubte, in Frankreich Nachschubdepots anzulegen, und der Luftwaffe, ihre Maschinen auf französischen Stützpunkten zu warten und zu betanken. Zu gleicher Zeit begannen auch die regelmäßigen Konsultationen zwischen den Führungsstäben der beiden Streitkräfte. Damit hatte die Bonner Regierung eine bilaterale militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich außerhalb der NATO akzeptiert32. Vor dem Hintergrund der damaligen US-Außenpolitik, die in Europa vielfach als Abschwächung der amerikanischen Schutzgarantie wahrgenommen wurde33, bemühten sich Bonn und Paris um die Festigung der zwischen ihnen bestehenden bilateralen Bande. Auf Bitten Adenauers fanden wieder Abstimmungsgespräche über politisch-strategische Fragen von gemeinsamem Interesse statt. Außerdem setzten beide Länder einen gemeinsamen deutsch-französischen Führungsstab ein. In diesen Gesprächen ergab sich Übereinstimmung über die Notwendigkeit der Erstnutzung von taktischen Atomwaffen im Falle eines sowjetischen Angriffes. Einig war man sich auch über die Notwendigkeit, die Bundesrepublik so weit wie möglich im Osten zu verteidigen. Nachdem der Plan einer politischen Union Europas gescheitert war, blieb nichts anderes übrig, als die geplanten Vereinbarungen auf bilateraler Basis wieder aufzunehmen. In den Jahren 1962/63 trieb die Unruhe Adenauers und de Gaulles über die amerikanische Außenpolitik die beiden Politiker dazu, im Gefühl einer strategischen Schicksalsgemeinschaft noch näher zusammenzurücken. Während des offiziellen Staatsbesuchs Adenauers in Frankreich vom 2. bis 8. Juli 1962 kamen beide überein, ihre strategische Zusammenarbeit zu vertiefen. Sie sollte sich nicht gegen die Vereinigten Staaten richten, sondern den Europäern in der NATO mehr Gewicht verleihen, um mehr Einfluss auf die amerikanische Strategie zu erhalten. In dem französischen Memorandum vom 18. September 30 31 32 33
Vgl. Soutou 1995 [1017], S. 498 f. Vgl. Soutou [1017], S. 501. Vgl. Gauzy 2005 [1002], S. 132. Vgl. Soutou 1999 [1019], S. 108.
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1962, dem Grundgerüst des künftigen Vertrags, hatte Paris regelmäßige Konsultationen der beiden Verteidigungsminister und der obersten militärischen Führungsebenen, Zusammenarbeit in der Bewaffnung, Austausch von Offizieren und Einheiten, die Schaffung gemeinsamer militärischer Operationszentren und die Einsetzung von taktisch-strategischen Dokumentationen zum gemeinsamen Gebrauch angeregt. Nach langen Diskussionen, die von deutscher Seite aus eher zurückhaltend geführt wurden, tauchten diese Maßnahmen im Vertragstext wieder auf. In einem Punkt allerdings blieb Paris hart: Als der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Strauß am 3. Oktober 1962 bei seinem französischen Amtskollegen Pierre Messmer die 1958 unterbrochenen Gespräche über die nukleare Kooperation wieder auf die Agenda setzen wollte, lehnte die französische Regierung die Zusammenarbeit auf diesem Feld ab. De Gaulle weigerte sich, Bonn den Zugang zu Atomwaffen zu gewähren (für ihn bestand immer noch ein Unterschied zwischen der Sieger- und unabhängigen Macht Frankreich und dem besiegten und abhängigen Deutschland34), aber er war nicht gegen die Abstimmung von politisch-strategischen Konzepten rund um die atomare Bewaffnung mit dem deutschen Partner35. Der Élysée-Vertrag griff diese militärpolitischen Vereinbarungen auf und zielte auf eine Erweiterung der Kooperation, um die Grundlage für ein deutschfranzösisches Gemeinschaftswerk zu schaffen, das durch eine Annäherung der Auffassungen auf dem Gebiet der Strategie und der Taktik und die Verwendung gleicher Ausrüstungen zusammengehalten werden sollte. Militärfachleute aus beiden Ländern sollten in den vorgesehenen deutsch-französischen Operationszentren ihre jeweiligen militärischen Grundsätze einander annähern, um sich schließlich auf gemeinsame Konzeptionen zu einigen. Der Austausch von Soldaten aller Dienstgrade war ebenso vorgesehen wie die gemeinsame Forschung auf den Gebieten Waffen- und Materialkunde. Laut Vertrag müssen die beiden Verteidigungsminister regelmäßig, aber spätestens alle drei Monate zusammenkommen, und die obersten militärischen Führungsorgane alle zwei Monate. Letztere sollten zugleich an den Sitzungen des deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats teilnehmen, der mit dem Auftrag betraut war, die im Vertrag vorgesehenen Vereinbarungen zu garantieren. Zum besseren Verständnis der Schwierigkeiten, die die militärische Zusammenarbeit für die Zukunft bereithielt, sei hier nur an die Ereignisse im Dezember 1962 erinnert. Damals wollten die in Nassau versammelten Briten und Amerikaner de Gaulle zur Teilnahme an dem Projekt einer Multilateralen Nuklearflotte (Multilateral Force, MLF) innerhalb der NATO bewegen. Dieser Vorschlag ging in die Richtung eines Dreierdirektoriums, das der General selber im Jahre 1958 gefordert hatte. Georges-Henri Soutou vertritt die These, dass de Gaulle nun einen anderen Weg bevorzugte und sich ganz auf die bilaterale, deutsch-französische 34 Vgl. Heuser 2005 [1005], S. 89. 35 Vgl. Soutou 1996 [1018], S. 204–209.
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Zusammenarbeit konzentrierte36. Ralph Dietl führt die Weigerung des Generals indes auf einen anderen Grund zurück: Gerade weil Washington London zur Teilnahme an einem Projekt gezwungen habe, das Europa innerhalb der NATOHierarchie unweigerlich in den Hintergrund gedrängt und die bipolaren Strukturen des Kalten Krieges stabilisiert hätte, konnte de Gaulle die Initiative der Amerikaner nicht akzeptieren. Eine Partnerschaft mit der Bundesrepublik sollte vielmehr eine pax atomica auf Grundlage von Absprachen der beiden Supermächte zulasten Europas37 unmöglich machen. Adenauer akzeptierte hingegen am 14. Januar 1963 den Beitritt seines Landes zur MLF, was nach Meinung von Hans-Peter Schwarz verdeutlicht, dass der Kanzler seine Verteidigungspolitik nicht allein an Paris ausrichten wollte. Vielmehr verfolgte er eine doppelte Westpolitik: Annäherung an Frankreich angesichts eines amerikanischen Verbündeten, dem er nicht recht traute, aber Festzurren der Verbindungen mit den Vereinigten Staaten, von denen die Sicherheit der Bundesrepublik abhing38. Der Streit zwischen den sogenannten „Gaullisten“ und den „Atlantikern“, der die politische Landschaft in der Bundesrepublik während der Ratifizierungsdebatte des Élysée-Vertrages im Deutschen Bundestag spaltete, war also schon angelegt39. Unter diesen Umständen erstaunt es nur wenig, dass sich der politische Widerstand gegen den Vertrag in der Bundesrepublik und jenseits des Atlantiks am deutlichsten an der Verteidigungspolitik artikulierte.
Erziehung, Jugend und Wissenschaft: ein Engagement für die Zukunft In den Bereichen Erziehung und Jugend schrieb der Élysée-Vertrag eine Tendenz fort, die bereits unmittelbar nach Kriegsende eingesetzt hatte. Mit der Einbeziehung nur dieser beiden „kulturellen“ Felder in den Vertrag hatten sich die beiden Regierungen für zwei Gebiete entschieden, die die Idee der Aussöhnung in den öffentlichen Meinungen Frankreichs und der Bundesrepublik verankern helfen konnten, wobei das Feld der Erziehung bisher besondere Schwierigkeiten gezeitigt hatte und eine sehr unbefriedigende Bilanz aufwies, während die Jugend die besten Voraussetzungen für eine umfassende Vertiefung der Zusammenarbeit bot. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die französische Besatzungsmacht in den Schulen ihrer Zone Französisch zur ersten obligatorischen Fremdsprache gemacht, doch war von dieser Maßnahme im Jahre 1963 – mit Ausnahme des Saarlandes – nicht mehr viel übrig geblieben. Als den Kultusbehörden der Länder ab 36 37 38 39
Vgl. Soutou 1996 [1018], S. 239 f. Vgl. Dietl 2005 [1000], S. 60. Vgl. Schwarz 2005 [669], S. 54 f. Vgl. Conze 2003 [529]; Marcowitz 1996 [629]; Geiger 2008 [541].
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1947 die Kulturhoheit übertragen wurde40, hebelten sie sukzessive die Anordnungen der französischen Schulpolitik aus. Trotz dieser „Normalisierung“ blieb der Französischunterricht eine Priorität der auswärtigen französischen Kulturpolitik in Deutschland während der gesamten 1950er Jahre, so dass Fragen des Fremdsprachenunterrichts sowie der Austausch von Schülern und Studenten auch das Kernstück des im Oktober 1954 zwischen Bonn und Paris vereinbarten Kulturabkommens bildeten41. Aber diese Vereinbarung, die für Bundeskanzler Adenauer im Namen der Gleichberechtigung zweifellos einen diplomatischen Erfolg darstellte, trug nicht die erwarteten Früchte42. Als Hauptstolperstein auf deutscher Seite erwies sich der Kompetenzkonflikt zwischen dem Bund und den Ländern: War Ersterer für die Außenpolitik der Bundesrepublik zuständig, pochten die anderen auf ihre Kulturhoheit43. An diesem Dilemma scheiterte eine ganze Reihe von im Kulturabkommen formulierten Initiativen, mit denen das Erlernen der Partnersprache gefördert werden sollte. Zudem war die Organisation der vorgesehenen Kooperation einer gemischten Kommission übertragen worden, die jedoch erst 1957 das erste Mal zusammentrat und nicht zuletzt wegen ihrer nur konsultativen Funktion keine effektive Arbeit leisten konnte. Darüber hinaus unterzeichneten die Ministerpräsidenten der Länder am 17. Februar 1955 das sogenannte Düsseldorfer Abkommen, das mit Ausnahme des Saarlandes44 im gesamten Bundesgebiet Englisch als erste Fremdsprache und Französisch in Konkurrenz zu Latein als zweite Fremdsprache etablierte45. So kann es nicht überraschen, dass der Anteil des Französischen als erste Fremdsprache in der Bundesrepublik seit Anfang der 1960er Jahre kontinuierlich zurückging46 und schließlich weniger Französisch in der Bundesrepublik als Deutsch in Frankreich unterrichtet wurde. Das Erlernen der Sprache des Nachbarn war somit bereits als eines der drängendsten Probleme identifiziert47. Der Kulturaustausch auf Universitätsebene bot ein differenzierteres Bild: 1963 zählte man 2 000 deutsche Studenten an französischen Universitäten und 600 französische Studierende an deutschen Hochschulen (davon 200 an der Universität des Saarlandes), so dass von einem lebhaften, aber unausgewogenen Studentenaustausch gesprochen werden kann48. Zwischen 1945 und der Unterzeichnung des Deutsch-Französischen Vertrags waren auf diesem Feld also wichtige Etappen zurückgelegt worden. Bereits vor 1949 hatte die französische Besat40 41 42 43 44 45 46
Vgl. Cuer 1987 [758]; Doublier 2002 [786]; Defrance 1994 [762], S. 149. Vgl. Möller, Hildebrand 1997 [32], S. 184–188. Vgl. Lappenküper 1996 [832]; Sturm 1983 [898]; Defrance 2005 [774]. Vgl. Baumann 2003 [719], S. 99. Vgl. Küppers 1984 [829]. Vgl. Baumann 2005 [720], S. 136 f. Diese Feststellung gilt auch für die Entwicklung in der DDR, hatte dort jedoch andere Gründe, vgl. Pfeil 2007 [869]. 47 Vgl. Baumann 2002 [718], S. 57 f. 48 Vgl. Defrance 2002 [771].
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zungsmacht zahlreiche Weichen für die zukünftige westdeutsche Hochschullandschaft gestellt49 und neben der Universität des Saarlandes (1948)50 weitere Bildungsinstitutionen gegründet, die sich in den 1950er Jahren zu Pfeilern des universitären Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich entwickeln und so an eine Politik anknüpfen konnten, die vor dem Ersten Weltkrieg begonnen und in der kurzen Zeitspanne des „Locarno intellectuel“ von 1925 bis 1930 wiederaufgenommen worden war. Zudem profitierte die Zusammenarbeit auf Hochschulebene von Anregungen aus der Zivilgesellschaft (Universitätspartnerschaften, gemeinsame Treffen, die vom Comité français d’Échanges avec l’Allemagne nouvelle und dem Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg organisiert wurden) und einer Institutionalisierung der deutsch-französischen Beziehungen, die sich im Bau des „Deutschen Hauses“ in der Cité internationale universitaire in Paris51, in der Einsetzung der Deutsch-Französischen Rektorenkonferenz 1958, in der Errichtung des Deutschen Historischen Instituts (DHI) 1958 in Paris52 und in der Eröffnung des DAAD-Büros in Paris 196353 niederschlugen. Demgegenüber trugen die Regierungsanweisungen und Richtlinien aus Bonn und Paris wenig Früchte. Als Beispiel sei hier die fehlende gegenseitige Anerkennung von Studiengängen und -abschlüssen, eine Grundvoraussetzung für studentische Mobilität und die Intensivierung von Austauschbeziehungen, genannt, die selbst das Deutsch-Französische Kulturabkommen von 1954 nicht voranbringen konnte. Erst die Deutsch-Französische Rektorenkonferenz bereitete erste Maßnahmen zur gegenseitigen Anerkennung von Universitätsdiplomen vor, doch lag bis 1963 kein einziger konkreter Beschluss vor54. Insgesamt verharrte die deutsch-französische Kooperation in diesem Bereich noch lange im Stadium des Kennenlernens des Partners, so dass weder bedeutende gemeinsame Forschungsprojekte noch gemeinsame Instrumentarien55 vorzuweisen waren. Im Jahre 1963 bedurfte dieses Kooperationsfeld folglich eines neuen Elans56. Mehr am Rande des Sektors Bildung verpflichtete der Élysée-Vertrag die beiden Staaten auf das Ziel einer noch engeren wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Diese hatte sich in den 1950er Jahren in Form von einzelnen Partnerschaften zwischen deutschen und französischen Universitäten entwickelt, aber auch im Rahmen der militärischen Zusammenarbeit. Zu Beginn der 1960er Jahre zählte man bereits dreißig bilaterale Forschungsprojekte zwischen Universitäten beider Länder. Der Élysée-Vertrag und das in ihm genannte Ziel, die Zusammenarbeit 49 50 51 52 53 54 55 56
Vgl. Defrance 1995 [163], S. 43–64; dies. 2000 [768]. Vgl. Hudemann 1989 [565], S. 10; Müller 1997 [854]. Vgl. Bock 1998 [731]; Lappenküper 1998 [833]. Vgl. Werner 1983 [1193]; Paravicini 1994 [1153]; ders. 2002 [1154]; Pfeil 2005 [1160]; Pfeil 2007 [1159], S. 281–308; Pfeil 2007 [1158]. Vgl. Bock 2000 [707]; ders. 2004 [736]; Pfeil 2005 [868], S. 53 – 56; ders. 2007 [871]. Vgl. Gosselin 2000 [800], S. 257. Vgl. Coing 1984 [757]; Defrance 2002 [771]; Reynaud 1979 [879]. Vgl. Meyer-Kalkus 1993 [844], S. 115; ders. 1994 [845], S. 87.
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auf dem Gebiet des Informationswesens weiter auszubauen, führte zu einer weiteren Vertiefung der Kontakte nach 1963, insbesondere auf dem Feld der wissenschaftlich-technologischen Kooperation und hier der Fernsehtechnik. Sie konnte an Verbindungen anknüpfen, die sich schon während der deutschen Besatzung Frankreichs entwickelt hatten und nach dem Krieg weiterbestanden. Vor der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages verliefen die frühen Formen der Kooperation in einem europäischen Rahmen, wie die Gründung der Eurovision im Jahre 1954 unterstreicht57. Als unmittelbare Folge des Kulturabkommens von 1954 (und von ihm ermutigt) war bereits 1955 zwischen den Rundfunkanstalten Radiodiffusion Télévision Française (RTF) und der ARD58 (mit ihren grenznahen Sendern Südwestfunk und Saarländischer Rundfunk) ein Fernsehvertrag geschlossen worden. Man musste allerdings bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre warten, bevor diese Ebene der deutsch-französischen Beziehungen zum Durchbruch gelangte. Vorher schränkte ein technisch-politisches Konkurrenzdenken insbesondere im Zusammenhang mit den Sendenormen für Farbfernsehen (PAL- oder SECAMSystem)59 die Möglichkeiten für eine engere Zusammenarbeit ein. Dass auch das Thema Jugend in den Vertrag aufgenommen wurde, löste lebhafte Proteste durch die DDR aus. Auch einige Monate später hagelte es bei der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) wütende Proteste seitens der Ost-Berliner Führung, für die der Élysée-Vertrag einen herben Rückschlag bei ihren Bestrebungen nach internationaler Anerkennung bedeutete60. Dass sich zwei Staaten in einem Vertrag auf eine privilegierte Zusammenarbeit ihrer Gesellschaften verständigten, gab den DDR-Bürgern zudem ein weiteres Mal zu verstehen, dass die deutsche Teilung sie Schritt um Schritt vom Westen entfernte. Es gehört in der Tat zu den Besonderheiten des Deutsch-Französischen Vertrages, dass er die Jugendfragen aufwertete, indem sie gleichberechtigt neben der Außen-, Verteidigungs- und Bildungspolitik standen, was den spezifischen Wert unterstreicht, den die vertragsschließenden Parteien diesem Bereich zumaßen. Im Vergleich zum Kulturabkommen von 1954 sah der Vertrag von 1963 den raschen Einstieg in die Kooperationsphase vor, indem die Austauschmöglichkeiten ausgebaut wurden und die Gründung des DFJW angekündigt wurde; Letzteres nahm seine Arbeit offiziell am 5. Juli 1963 auf und war zweifellos der einzige kurzfristige Erfolg des Élysée-Vertrages61. Die Gründung des DFJW und die damit vollzogene Integration des „erweiterten Kulturbegriffes“ (vgl. Kap II.2) in den Vertrag war möglich geworden, weil im sozio-kulturellen Bereich schon viel Basisarbeit für die deutsch-französische 57 58 59 60 61
Vgl. Degenhardt, Strautz 1999 [783]. Vgl. Baumann 2005 [721]. Vgl. Pfeil 2006 [971]; ders. 2005 [970]; Fickers 2007 [949]; ders. 2005 [948]. Vgl. Pfeil 1997 [862], S. 72–79; ders. 2003 [864], S. 55 –60. Vgl. Bock 2003 [735]; Bock, Defrance, Krebs, Pfeil 2008 [741]; Plum 1999 [875].
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Annäherung geleistet worden war. Ab 1945 hatte sich die französische Militärregierung gezielt für die Umerziehung der deutschen Jugend in ihrer Zone eingesetzt, von der die Zukunft Deutschlands und seine Demokratisierung abhängen sollte. Deshalb richtete sie eine Dienststelle für Jugendfragen und Sport ein, die alle außerschulischen Aktivitäten, insbesondere Volkserziehung und Jugendtreffen62, regelte. Bereits ab 1946 organisierte die französische Militärregierung derartige Treffen in ihrer Zone, denen zu dieser Zeit eine große Bedeutung zukam, war an Besuche deutscher Jugendlicher in Frankreich angesichts der deutschfeindlichen Tendenzen in der französischen Öffentlichkeit doch noch nicht zu denken. Um den Erfolg dieser Jugendarbeit sicherzustellen, legte die Militärregierung diese Aufgabe in die Hände von zivilgesellschaftlichen Mittlern und Fachleuten für Volkserziehung63. Bestens bekannt ist in diesem Zusammenhang das Wirken von Joseph Rovan, einem Mitarbeiter der Gesellschaft Peuple et Culture64, der die Leitung des Büros Éducation populaire übernahm. Die Militärregierung arbeitete bei ihren Umerziehungsbemühungen aber auch mit Privatorganisationen zusammen, wie dem 1945 gegründeten Bureau international de Liaison et de Documentation (BILD) des Jesuitenpaters Jean du Rivau, dem Comité français d’Échanges avec l’Allemagne nouvelle (vgl. Kap. II.2), und bald auch dem Bundesjugendring und den Jugendorganisationen der Kirchen, Gewerkschaften sowie politischen Parteien. Dabei standen die von Baden-Baden aus gelenkte offizielle Umerziehungspolitik und die von zivilgesellschaftlichen Kräften organisierten Begegnungen in keiner Konkurrenz zueinander, sondern waren von Komplementarität gekennzeichnet65. Während der Amtszeit des französischen Hochkommissars bestand das eigentliche Ziel der Direction des Affaires culturelles darin, die Begegnungs- und Austauschaktivitäten auch für die Zukunft zu sichern, weshalb sie ihre Aktivitäten mehr und mehr in die Hände von französischen und deutschen Privatverbänden legte66. In dieser Hinsicht war das internationale Jugendtreffen auf der Lorelei symptomatisch, an dem im Sommer 1951 35 000 Jugendliche teilnahmen. Hier übergab die französische Militärregierung endgültig den Staffelstab an die (west-)deutschen und französischen Jugendorganisationen67. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es wegen der Bedeutung, die man auf französischer Seite der deutschen Jugend für den Demokratisierungsprozess ihres Landes und für die deutsch-französische Annäherung beimaß, zu einer gründlichen Umorientierung in der französischen Kulturpolitik und ihrer Adressaten. Nun erschien es jenseits aller bisherigen Wechselbeziehungen intellektueller,
62 Vgl. Woite-Wehle 2001 [917]. 63 Vgl. Defrance 1994 [762], S. 121 f.; Zauner 1994 [918], S. 183 – 200; Mombert 1993 [848]; dies. 1995 [849]; Moreau 1984 [850]. 64 Vgl. Rovan 1999 [65], S. 234 f.; Moisel 2009 [82]; Vincent [910] 2010, S. 89 – 92. 65 Vgl. Moreau 1993 [851]. 66 Vgl. Plum 2007 [877]. 67 Vgl. Plum 2002 [876].
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künstlerischer, schulischer und universitärer Art wichtig, die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten der Partnerländer näher kennenzulernen68. Mitte der 1950er Jahre kehrten die französischen Verantwortlichen wegen Budgetkürzungen und zulasten des Programms direkter „Begegnungen“69 jedoch wieder eher zu den traditionellen Formen des Kulturaustausches zurück, die von den Kulturinstituten getragen wurden und weniger den Begegnungsaspekt im Blick hatten. Im Jahre 1954 wurde der direkte Jugendaustausch zwar noch im Kulturabkommen erwähnt, doch war es bereits Ausdruck für die Rückkehr zu einer schon überkommen geglaubten Form von Kulturpolitik im Ausland. So kann es nicht überraschen, dass die zivilgesellschaftlichen Austauschorganisationen dem Wortlaut des Abkommens eher skeptisch gegenüberstanden. Sie fürchteten die staatliche Bevormundung bezüglich ihrer Arbeit und schlossen sich daher zusammen, um eine verbesserte transnationale Koordination zu erreichen und gegenüber ihrer jeweiligen Regierung selbstbewusster aufzutreten70. Während der Blockade der offiziellen Kulturbeziehungen in den folgenden Jahren erhielten gerade diese Organisationen die kulturelle Mittlerarbeit aufrecht, indem sie die Begegnungsaktivitäten wie vor allem die Städtepartnerschaft weiter ausbauten. Ihnen vor allem kam das Verdienst zu, die kulturelle Aufwärtsbewegung und die Stärkung der transnationalen Kommunikation getragen zu haben. Die Wichtigkeit ihrer Arbeit erkannte de Gaulle bei seiner Rede an die deutsche Jugend im September 1962 auch ausdrücklich mit dem Versprechen an, sich für ihre Weiterentwicklung einzusetzen. Diese Beteuerung fand ihren expliziten Niederschlag in den Ausführungsbestimmungen des Élysée-Vertrages, die eine erneute Wende in der auswärtigen Kulturpolitik Frankreichs gegenüber der Bundesrepublik dokumentieren, wurde der Kulturbegriff doch wiederum um seine sozio-kulturellen Ausprägungen erweitert71.
Keine Priorität mehr für den traditionellen Kulturaustausch Der Begriff „Kultur“ und alles, was mit ihm zusammenhängt, insbesondere die Kunst und Literatur, fand im Élysée-Vertrag von 1963 keine Erwähnung. Die Verantwortung daran trägt vor allem die französische Seite, die in ihrem Memorandum vom 19. September 1962 ausschließlich von „Bildung“ und „Jugend“ sprach. Die deutsche Seite hingegen schlug in ihrem Gegenmemorandum ausdrücklich die Aufnahme des künstlerischen und literarischen Austausches sowie der Forschung in die (zu vereinbarende) Zusammenarbeit vor, weil sie sich um ihrer kulturellen Selbstdarstellung im Ausland willen nicht allein auf ihre techni68 69 70 71
Vgl. Defrance 2005 [775], S. 251. Vgl. Defrance 1991 [761]. Vgl. Bock 2008 [740]. Vgl. De Gaulle 1970 [44], S. 15–17.
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schen Kenntnisse und Fähigkeiten beschränkt sehen wollte72. Aber zur gleichen Zeit ordnete der Quai d’Orsay unter dem Druck der Dekolonisation seine kulturellen Auslandsdienste neu, die fortan besonderen Wert auf wissenschaftliche Zusammenarbeit und Sprachenpolitik legen sollten73. Im Vergleich zur unmittelbaren Nachkriegszeit bahnte sich also in jedem der beiden Staaten ein Umbau der Prioritäten auf kulturellem Gebiet an. Abgesehen von den unterschiedlichen Konzeptionen wollte das französische Außenministerium das 1959 neu geschaffene Kulturministerium von André Malraux nicht zuletzt aus Kompetenzstreitigkeiten aus den bilateralen Beratungen mit der Bundesrepublik heraushalten und bei der Leerstelle der „Kultur“ im Élysée-Vertrag seinen exklusiven Einfluss geltend machen74. Beide Parteien konnten das Fehlen der Kultur im Vertrag weder mit der asymmetrischen Situation (französischer Zentralismus vs. Kulturhoheit der Länder in der Bundesrepublik), für die man durch die Schaffung des Postens eines Kulturbevollmächtigten75 schon eine Lösung gefunden hatte, noch mit dem Verweis auf die kulturelle Zusammenarbeit im europäischen Rahmen rechtfertigen. Die leckte nämlich noch ihre Wunden nach dem Scheitern der Kulturvereinbarungen im Rahmen des Fouchet-Plans und quälte sich mit dem Versuch zur Gründung eines europäischen Universitätsinstituts in Florenz76. Genauso wenig konnten sich Paris und Bonn auf den Lorbeeren einer zufriedenstellenden Bilanz ihres kulturellen Austauschs ausruhen. Das die 1950er Jahre prägende Ungleichgewicht im deutsch-französischen Austausch war auch 1963 noch nicht in allen Bereichen überwunden77. Während Frankreich die Bundesrepublik mit einem Netz von Kulturinstituten überzogen hatte78, öffneten die Goethe-Institute im Nachbarland nur zaghaft ihre Pforten; in der französischen Hauptstadt stand den an deutscher Kultur interessierten Parisern selbst im Jahre 1963 noch kein Goethe-Institut zur Verfügung79. Da der Élysée-Vertrag sich mit Kultur im eigentlichen Sinn nicht beschäftigte, bot nur das Kulturabkommen vom Oktober 1954 eine Grundlage für den kulturellen Austausch beider Staaten. Doch war die im Abkommen vorgesehene Unterkommission für künstlerische Angelegenheiten 1963 immer noch nicht gebildet worden, so dass das Abkommen von 1954 keine zuverlässige Basis für den Ausbau intellektuell-künstlerischer Beziehungen darstellte. Nachdem Frankreich im besetzten Deutschland eine vergleichsweise voluntaristische Kulturpolitik verfolgt hatte, zieht sich das relative Desinteresse der 72 Vgl. Paulmann 2005 [1080], S. 1; Arnold 1980 [184]; Stoll 2005 [94]; Schulte 2000 [235], S. 44 f. 73 Vgl. Raymond 2000 [229], S. 22 f.; Roche, Piniau 1995 [231], S. 91 f.; Salon 1983 [232]. 74 Vgl. Defrance 2005 [773], S. 202 f. 75 Vgl. Baumann 2003 [719]. 76 Vgl. Defrance 1997 [766]; Palayret 1996 [860]. 77 Vgl. Defrance 2005 [775]. 78 Vgl. Defrance 2001 [769]; Bonniot 2004 [743]; dies. 2007 [744]. 79 Vgl. Znined-Brand 1999 [919]; Michels 2001 [847].
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französischen Regierung an künstlerischen Kontakten mit dem Nachbarland wie ein roter Faden durch die 1950er Jahre. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren Ausstellungen, Konzerte und Theaterabende (man erinnere sich nur an die denkwürdige Aufführung der „Fliegen“ von Jean-Paul Sartre im Hebbel-Theater in Berlin80) an der Tagesordnung gewesen, selbst außerhalb der französischen Zone81. Die Kulturabteilung der französischen Militärregierung hatte selbst eine ambitionierte Kinopolitik entwickelt, die nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen künstlerischen Aspekt aufwies82. Sie sollte nicht nur der „Umerziehung des deutschen Volkes“ dienen, sondern war zugleich Prestigepolitik: Frankreich wollte den Deutschen und den Alliierten beweisen, dass es weiterhin eine große Kulturnation sei. Nach einem nicht wegzudiskutierenden politischwirtschaftlichen Niedergang auf internationaler Bühne kam der Kunst im Rahmen der Kulturpolitik damit die Funktion einer „Machtersatzpolitik“ zu, mit der Frankreich seinen „Rang“ aufrechterhalten wollte83. Die Franzosen stellten anfänglich gegenständliche Kunst vom Ende des 19. Jahrhunderts aus, doch war schon bald eine Neuorientierung zu beobachten. 1949/50 war das Ziel zu erkennen, der bilateralen Annäherung einen größeren Platz einzuräumen als dem französischen Ausstrahlungsbedürfnis. Neue künstlerische Akzente wurden gesetzt (Ausstellung der Werke abstrakter Maler wie Pierre Soulages) und neue Formen der Zusammenarbeit setzten sich durch. So organisierten die Franzosen selber weniger Ausstellungen und unterstützen dafür stärker deutsche Initiativen. Dabei wurden die Ausstellungen unter französischer Federführung vom deutschen Publikum gut besucht und wirkten nachhaltig auf die junge deutsche Avantgarde ein, die auf Distanz zur künstlerischen Tradition ihres eigenen Landes bedacht war84, wie die erste „documenta“ in Kassel 1955 verdeutlichte85. Als sich die Bundesrepublik in der Lage fühlte, erste Schritte zu einem gleichberechtigten Kulturaustausch mit Frankreich zu machen und mit dem im Juli 1950 in Paris eingerichteten Generalkonsulat über eine institutionelle Grundlage verfügte86, verstärkte sie umgehend ihre kulturelle Arbeit westlich des Rheins. Adenauer hatte mit der Ernennung eines ausgewiesenen Kenners der französischen Kunst und Kulturgeschichte zum Generalkonsul, Wilhelm Hausenstein, ostentativ die kulturelle Mission der deutschen Behörde unterstrichen. Hausenstein orientierte sich an der Kultur im klassischen Sinn des Begriffs, um das Bild Deutschlands in Frankreich zu verändern. Schon im Sommer 1950 entwarf er ein umfassendes Programm kultureller Veranstaltungen, das er wegen seines frostigen Empfangs auf französischer Seite jedoch zum großen Teil nicht 80 81 82 83 84 85 86
Vgl. Lusset 1981 [838]. Becker 2007 [722]. Vgl. Thaisy 2006 [901]; dies. 2000 [900]. Vgl. Defrance 1994 [762]. Vgl. zu Salm-Salm 2004 [920], S. 103. Vgl. Schieder 2004 [889]; ders. 2005 [890]. Vgl. Kroll 1990 [601].
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realisieren konnte. Die französische Öffentlichkeit war noch nicht bereit, mit der Bundesrepublik Kontakte anzuknüpfen; trotzdem wurde die Ausstellung „Impressionnistes et romantiques français dans les musées allemands“ zu einem Erfolg. Auf verschlungenen Wegen gelang es so, das französische Publikum für deutsche Kultur zu interessieren. Anders sah die Situation im musikalischen Bereich aus, in dem geringere Vorbehalte gegenüber Deutschland bestanden, weil sich die deutsche Musik weiterhin eines guten Rufes in Frankreich erfreute87. Der literarisch-intellektuelle Austausch gestaltete sich ebenfalls ohne größere Schwierigkeiten, weil er weder die Infrastruktur noch die finanziellen Mittel von großen Ausstellungen benötigte. Außerdem waren sich die staatlichen Organisatoren bewusst, dass auf diesem Gebiet nicht sie im Vordergrund standen, obwohl sie die Kontakte herstellten. Das erste Treffen deutsch-französischer Schriftsteller fand im August 1947 in Lahr zum Thema „Die Verantwortung des Schriftstellers in der Gesellschaft“ statt, zu dem etwa 40 deutsche und französische, hauptsächlich christlich und europäisch denkende Autoren und Journalisten kamen, u. a. die Herausgeber der „Frankfurter Hefte“, Walter Dirks und Eugen Kogon, sowie der französische Philosoph Emmanuel Mounier. Diesem Anfangsdialog folgte 1953 ein großes Treffen in Paris, an dem Heinrich Böll, Günther Weisenborn, Alfred Andersch, Hans Bender, Robert d’Harcourt, Edmond Vermeil, Robert Minder, Jean Schlumberger, Gaston Gallimard u. a. teilnahmen. Drei Jahre später traf man sich in Vézelay wieder, wo die deutschen Teilnehmer den „Nouveau Roman“ als neue literarische Gattung entdeckten88. Nach diesen vielversprechenden Anfängen, bei denen die Intellektuellen beider Länder betont hatten, sich in ihrer schriftstellerischen Arbeit gemeinsamen Maßstäben verpflichtet zu fühlen, verkümmerten die Kontakte jedoch schnell89. Die Tagung in Hamburg im Jahre 1960 führte die auseinanderdriftenden Interessen gleichsam symbolisch vor Augen. Während das Tagungsthema „Der Schriftsteller und die Möglichkeiten der audio-visuellen Verbreitung“ den Deutschen am Herzen lag (Rundfunkbeiträge betrachteten sie schon seit langem als eigenes literarisches Genre, und das Fernsehen breitete sich zwischen 1955 und 1957 massiv in deutschen Haushalten aus90), verließen französische Kollegen das Seminar, nicht zuletzt weil sie zum damaligen Zeitpunkt für die zukünftige Bedeutung der audiovisuellen Medien weniger empfänglich waren. Schon vorher hatte es einige Enttäuschungen gegeben, z. B. als Louis Clappier und Antoine Wiss-Verdier Anschluss an die „Gruppe 47“ von Hans Werner Richter gesucht hatten, ohne dass es ihnen gelungen war, sie für französische Schriftsteller zu öffnen91. 87 88 89 90 91
Vgl. Lappenküper 1995 [605]; Reuss 1995 [662]. Vgl. Wintzen 1990 [915]; vgl. zur Tradition vor 1945: Stierle 2008 [896]. Vgl. Christadler 1998 [752]. Vgl. Glaser 1991 [399], S. 254. Vgl. Vaillant 1991 [794].
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I. Überblick
Selbstverständlich bestanden auch andere Kanäle für den schriftstellerischen Austausch wie die Frankfurter Buchmesse, deutsche Verlage und Zeitschriften. Obwohl bei den großen Wochenmagazinen (Les Temps modernes, Esprit, „Der Monat“)92 immer ein gewisses Interesse am Nachbarn bestand, enthüllen vergleichende Studien der kulturellen Rezeption des jeweils anderen das bescheidene Maß an Aufmerksamkeit, die Beibehaltung von Stereotypen und das weiterhin bestehende Ungleichgewicht: Waren in der deutschen Buchproduktion der 1950er Jahren 19 % der Übersetzungen französischen Ursprungs, erreichte die Quote für Übersetzungen deutschsprachiger Werke in Frankreich nur 7,5 %93. Abgesehen von den seltenen Phasen intellektueller Konvergenz, etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, als es in Deutschland ein großes intellektuelles Interesse am französischen Existenzialismus gab94, was nach Joseph Jurt sogar ein „binationales literarisches Feld“95 schuf, herrschte mittlerweile vielfach Gleichgültigkeit für den jeweils anderen, was noch durch das Interesse der Jugend am American way of life gesteigert wurde. Dieses Auseinanderdriften lässt sich, abgesehen von gemeinsamen Interessen an hoch spezialisierten kulturellen Themen, auch an den insgesamt divergierenden Positionen in den großen Debatten der Zeit demonstrieren. Wie Ulrike Ackermann nachweist, vertraten die französischen Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend antifaschistische und anti-antikommunistische Ansichten, was viele von ihnen zu „Weggenossen“ der PCF machte. Die westdeutschen Intellektuellen hingegen, die zutiefst unter dem Riss der deutschen Identität litten und die kommunistische Gefahr vor ihrer Haustür hatten, versammelten sich überwiegend hinter dem Banner des Antitotalitarismus. Diese Frontlinien quer durch das intellektuelle Feld Frankreichs gerieten nach der sowjetischen Intervention in Ungarn 1956 in Bewegung und unterlagen nach der Unterdrückung des „Prager Frühlings“ weiteren Verwerfungen96. Vergessen werden sollte jedoch auch nicht, dass sich eine bestimmte Anzahl von Intellektuellen aus beiden Ländern wie Hannah Arendt, Albert Camus, François Bondy, Raymond Aron, Karl Jaspers, Eugen Kogon, David Rousset, Margarete BuberNeumann u. a. dem „Kongress für die Freiheit der Kultur“ anschlossen und in diesem Rahmen ihrer antikommunistischen Grundhaltung Ausdruck verliehen, die sich u. a. in den Zeitschriften Preuves und „Der Monat“ ein Echo schuf97. Unter den französischen Intellektuellen zeichneten ehemalige nicht-kommunistische Widerstandskämpfer, Katholiken und hier besonders Linkskatholiken wie Joseph Rovan und Emmanuel Mounier sowie einige protestantische Intellektuelle
92 93 94 95 96 97
Vgl. Zu den französischen Zeitschriften siehe Picard 1999 [873]. Vgl. Charle 2005 [746], S. 276, 279, 287. Vgl. Jurt 2008 [822]. Vgl. Christadler 1990 [750]; dies. 1995 [751], S. 37 f. Vgl. Lüsebrink 1998 [837], S. 79. Vgl. Ackermann 2000 [705].
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(Paul Ricœur, André Philip) ein eher positives Bild von Deutschland, was auch für Vertreter der jungen Generation (Joseph Rovan, Alfred Grosser) galt; Ähnliches lässt sich mit Einschränkung auch für eine ältere Generation (Edmond Vermeil, Robert d’Harcourt98, Paul Claudel u. a.) formulieren. Demgegenüber äußerten sich kommunistische Intellektuelle fast durchgängig negativ über Deutschland, was auch für Vertreter anderer geistiger und intellektueller Strömungen galt (François Mauriac, Georges Bernanos, Wladimir d’Ormesson)99. Über dieses relative Unverständnis zwischen französischen und westdeutschen Denkern und Schriftstellern schob sich in Frankreich zudem ein Interesse bestimmter Kreise für die kulturelle Produktion in der DDR, die über die Zirkel der PCF hinaus Wertschätzung fand, insbesondere in den Kreisen ehemaliger Widerstandskämpfer, die sich für das „antifaschistische“ Gründungsmythoskonstrukt des ostdeutschen Regimes durchaus sensibel zeigten. Nicht wenige französische Intellektuelle forderten den intellektuell-kulturellen Austausch mit beiden Teilen Deutschlands, so dass es auf Initiative der beiden Universitätsprofessoren Edmond Vermeil und Pierre George schon 1954 zu Protesten gegen das deutschfranzösischen Kulturabkommen kam: „Auf literarischem, wissenschaftlichem und künstlerischem Feld haben wir weder Grund noch Recht, uns zwischen unseren Kollegen in der Bundesrepublik und in der DDR zu entscheiden“100. In Kunst und Kultur führten die Kontakte zum „anderen Deutschland“ vor allem über das Theater: Im Juli 1954 gastierte das „Berliner Ensemble“ Bertolt Brechts in Paris, worauf ein Besuch des Théâtre National Populaire (TNP) von Jean Vilar im Jahr 1955 in Ost-Berlin folgte. Der Cercle Heinrich Heine, den die kommunistisch orientierten Germanisten Gilbert Badia und Émile Bottigelli 1952 für Hochschullehrer gegründet hatten101, engagierte sich für die Anerkennung der DDR-Kultur in Frankreich (z. B. durch die Einladung der Schriftsteller und Philosophen Anna Seghers, Hans Mayer und Stephan Hermlin). Aber die beste Anlaufstation für Ost-Berlin in Frankreich bot ganz unbestritten die seit 1958 bestehende französische Freundschaftsgesellschaft der DDR Échanges franco-allemands (EFA), die sich für die offizielle Anerkennung des „zweiten deutschen Staates“ in Frankreich einsetzte. Die PCF versuchte der EFA eine pluralistische Fassade zu verschaffen, gedachte jedoch nie, die Macht über diese Vereinigung aus ihren Händen zu geben. So erklärt sich die regelmäßige Wahl eines Nichtkommunisten zum Präsidenten wie auch der Umstand, dass die Aufnahme von Persönlichkeiten aller politischer Lager willkommen war; die Hebel der Macht hatte jedoch der Generalsekretär inne, der stets ein Kader der PCF war102. 98 99 100 101 102
Vgl. Grunewald 2008 [808]. Vgl. Grémion 1995 [801]; Hochgeschwender 1998 [818]. Zit. nach: Reynaud 1979 [879], S. 23. Vgl. Strickmann 2004 [897], S. 257. Vgl. Pfeil 2004 [483], S. 269 f.
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I. Überblick
Die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen: eine privilegierte Partnerschaft Neben der Kultur kommt auch die Wirtschaft als wichtiges Feld der bilateralen Kooperation im Deutsch-Französischen Vertrag von 1963 nicht vor. Dennoch scheint die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern im Vertragstext auf filigrane Weise durch: Zum einen waren die Wirtschaftsbeziehungen Gegenstand der verabredeten außenpolitischen Konsultationen, bei denen „Fragen der Europäischen Gemeinschaften und der europäischen politischen Zusammenarbeit“ diskutiert werden sollten, zum anderen wollten beide Regierungen die Mittel und Wege prüfen, „ihre Zusammenarbeit im Rahmen des Gemeinsamen Marktes in anderen wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik, z. B. der Land- und Forstwirtschaftspolitik, der Energiepolitik, der Verkehrs- und Transportfragen, der industriellen Entwicklung ebenso wie der Ausfuhrkreditpolitik, zu verstärken“. Andreas Wilkens verweist darauf, dass diese Formulierungen einen behutsamen Ansatz spiegeln, der sich auf die Erwähnung bestimmter Möglichkeiten beschränkte und die Nennung des Wortes „Handel“ vermied. Im Übrigen zählten weder die Wirtschafts- noch die Finanzminister zum Kreis der Regierungsverantwortlichen, die zu regelmäßigen Konsultationstreffen verpflichtet wurden103. Dass der Sektor Wirtschaft im Deutsch-Französischen Vertrag nicht auftaucht, erklärt sich in erster Linie aus dem Scheitern der Fouchet-Pläne. Seither bestand eine stillschweigende Übereinkunft, dass diese Fragen hauptsächlich im Ressort „Europäische Gemeinschaften“ verbleiben sollten. Darüber hinaus war man sich in Bonn und Paris bewusst, dass sich die Etablierung des Gemeinsamen Marktes bereits günstig auf den Warenaustausch innerhalb der EWG ausgewirkt hatte, von dem Frankreich und die Bundesrepublik in hohem Maße profitierten. Deshalb muss die Entscheidung Adenauers und de Gaulles, die Wirtschaft nicht in den Deutsch-Französischen Vertrag zu integrieren, als ein Akt der Neutralität und des Respekts vor den Europäischen Gemeinschaften verstanden werden104. Darüber hinaus funktionierte der bilaterale Handel schon so gut, dass sich Zusatzklauseln im Vertrag erübrigten, zählte der Handel doch zu den ersten, schon früh nach dem Zweiten Weltkrieg geknüpften Verbindungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik105. Um die Mechanismen zu begreifen, die zu dieser Kontaktaufnahme führten, genügt ein Blick auf die Ziele der französischen Wirtschaftspolitik im besetzten Deutschland106. Zuerst hatte die französische Regierung versucht, die eigene Abhängigkeit von der deutschen Kohle zu verrin103 104 105 106
Vgl. Wilkens 2005 [990]. Vgl. ebd. Vgl. allgemein Wilkens 1997 [986]. Vgl. Lefèvre 1998 [962]; Hüser 1996 [459]; Abelshauser 1983 [921].
6. Bilanz der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Jahre 1963 135
gern, was zum einen durch die Verfügungsgewalt über die Saarkohle107 und zum anderen durch die Internationalisierung des Ruhrgebiets gelingen sollte. Diese Absichten waren Ausdruck für das französische Sicherheitsbedürfnis gegenüber Deutschland, wären die Hochöfen der eisenverarbeitenden Industrie und der deutschen Waffenschmiede damit doch der internationalen Kontrolle unterworfen worden108. Unter dem Druck der USA, denen im Kalten Krieg an der Wiedergenesung der bundesdeutschen Industrie lag, zog sich die französische Regierung jedoch auf eine Politik der strategischen Kontrolle des westdeutschen Industriepotenzials zurück, indem sie der wirtschaftlichen Integration und der Einführung nicht-diskriminierender Bedingungen, besonders für Kohle, zustimmte. Genau diese von Frankreich unterstützte Politik führte zur Gründung der internationalen Ruhrbehörde109 und bewog Jean Monnet und Robert Schuman zu ihrem Plan, den sie am 9. Mai 1950 vorlegten und der 1951 in die Entstehung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS)110 mündete. Ein anderes Ziel des Schuman-Plans lag darin, die französischen Stahlproduzenten im Rahmen des gemeinsamen europäischen Marktes einer Konkurrenzsituation auszusetzen, um die französische Industrie zur Modernisierung zu zwingen111. Paris erwog zudem gemeinsame Projekte in Nord- und Schwarzafrika und zählte fest auf deutsche Investitionen, um die „Union française“ wirtschaftlich weiterzuentwickeln und die eigene politische Präsenz in den Kolonien zu sichern. Aber es ging auch um eine Aufteilung der Märkte, um eine zerstörerische Konkurrenz zu vermeiden. Die bilateralen Pläne sollten im europäischen Integrationsprozess auch anderen Ländern der Sechs offenstehen, aber die französischen Ausflüchte und Winkelzüge aus Angst, die Deutschen in all diesen Regionen Fuß fassen zu sehen, erklären die enttäuschende Bilanz dieser Kooperationsbemühungen112. Zu den Wirtschaftszielen der französischen Seite zählte auch – und das muss deutlich hervorgehoben werden – der Export landwirtschaftlicher Produkte aus Frankreich in die Bundesrepublik. Die deutsche Seite setzte u. a. auf die Wiederaufnahme von Wirtschaftsbeziehungen zu Frankreich, um der Rechtsgleichheit – ein eminent politisches Ziel – durch die Rückführung der Warenkontingentierungen und die Öffnung der Zollschranken ein Stück näher zu kommen. Die Beseitigung dieser Hindernisse war zudem von vitaler Bedeutung für die Steigerung der westdeutschen Ausfuhren. 107 Vgl. Heinen 1993 [952]; ders. 1996 [551]; Hudemann, Poidevin 1992 [571]; Poidevin 1985 [661]. 108 Vgl. Steininger 1990 [685]; Bührer 1997 [936]; Bitsch 1987 [931]. 109 Vgl. Defrance 2004 [530]. 110 Vgl. Wilkens 2004 [701]; Kipping 2002 [593]. 111 Vgl. Spierenburg, Poidevin 1993 [684]; Schwabe 1988 [666]; Bossuat 1996 [353], S. 165 f. 112 Vgl. Lefèvre 1993 [960]; Metzger 1994 [636]; dies. 1994 [637]; Wilkens 1999 [988]. Zum Thema der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Übersee spricht Jean-François Eck von einem „Wunder“, vgl. Eck 2003 [946], S. 271 f.
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Insgesamt gesehen hatten also beide Parteien ein eindeutiges Interesse an der Intensivierung ihrer Handelsbeziehungen. Der Beginn der „Europäischen Zahlungsunion“ (EZU) innerhalb der OECD im Herbst 1950 begünstigte die Liberalisierung des Handels durch die Konvertierbarkeit von EZU-Währungen, aber erst die folgende Eröffnung des Gemeinsamen Marktes intensivierte den Handel so stark, dass sich der Wert der zwischen Frankreich und der Bundesrepublik verkauften Waren im Zeitraum von 1957 bis 1963 auf das Dreifache steigerte113. Die Statistiken unterstreichen die Verdichtung dieser Handelsbeziehungen, obwohl die Kontingentierungsvorschriften und Zollbarrieren bis weit in die 1950er Jahre hinein bestanden. Von 1950 bis 1963 stieg der Wert der deutschen Importe aus Frankreich um das Achtfache und der deutschen Exporte nach Frankreich um das Zehnfache. Frankreich wurde nach den Vereinigten Staaten zum zweitbedeutendsten Exportland der Bundesrepublik; seit 1953 stieg diese zum wichtigsten Handelspartner Frankreichs auf und ab 1958 zum wichtigsten Importland für französische Waren114. Ab 1959 wuchs das deutsch-französische Handelsvolumen weiter und das sogar noch schneller als der weltweite Warenaustausch, befeuert durch die Gründung der EWG 1957 und die Entstehung des Gemeinsamen Marktes 1959. Dank einer sehr kräftigen Abwertung des Franc im Dezember 1958 war die monetäre Situation Frankreichs beim Eintritt in den Gemeinsamen Markt gründlich bereinigt, was zur Dynamisierung der französischen Wirtschaft, des Wachstums und folglich des Handelsverkehrs bis 1974115 beitrug. 1960 erreichte der Handel zwischen der Bundesrepublik und Frankreich einen Gesamtwert, der etwa dem Doppelten des Handels von 1930, dem besten Handelsjahr in der Zwischenkriegszeit zwischen beiden Staaten, entsprach; 1970 schließlich hatten beide Länder die siebenfach höhere Warenmenge als im Jahr 1930 erreicht116. Um die Mitte der 1950er Jahre besaßen beide Länder noch das gleiche ökonomische Gewicht, doch unterschieden sich ihre Wirtschaftsstrukturen weiterhin deutlich: Die westdeutsche Wirtschaft verfügte über eine solide Industriekultur, hauptsächlich im Maschinenbau, in der chemischen Industrie und in der Elektronik, während Frankreich noch lange dem Sektor der Landwirtschaft und Textilindustrie zugewandt blieb, allerdings mit Schwerpunkten in bestimmten Industriebranchen (Elektrotechnik und Elektronik, Luftfahrt und bald auch im Nuklearbereich). Bis 1963 charakterisierten den deutsch-französischen Handel zwei Ungleichgewichte: Das eine war der aus französischer Sicht defizitäre Saldo in der Handelsbilanz und das andere die Handelsstruktur beider Länder. Bis 1963 hatte sich im Vergleich zu den frühen 1950er Jahren der Warenaustausch 113 114 115 116
Vgl. Wilkens 2002 [989], S. 67 f.; Hentschel 1997 [953]. Vgl. Möller, Hildebrand 1997 [32]; Küsters 1988 [987]. Vgl. Wilkens 2002 [989]. Vgl. Eck 2007 [945], S. 150.
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verändert: Die Bundesrepublik importierte neben landwirtschaftlichen Erzeugnissen auch Textil-, Eisen- und Stahlprodukte, Maschinen, chemische sowie elektronische Erzeugnisse aus Frankreich. Frankreich importierte weiterhin Kohle, aber auch Industrieerzeugnisse mit hohem Mehrwert aus der Bundesrepublik; daher rührt auch das hin und wieder von Zeitgenossen formulierte Empfinden, Frankreich begebe sich in technologische Abhängigkeit zur Bundesrepublik. Trotz der erwähnten Ungleichgewichte erklärt sich der Aufschwung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen aus der hohen Komplementarität der beiden Wirtschaftssysteme: Frankreich stand mitten im industriellen Wandel und bot einen idealen Markt für die deutsche Ausrüstungsgüterindustrie, während die Bundesrepublik, die wichtige landwirtschaftliche Nutzflächen östlich der Elbe verloren hatte, der natürliche Abnehmer für die Produkte der französischen Landwirtschaft war117. In diesem Prozess der Wiederaufnahme und Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen kam der staatlichen Ebene eine bedeutende Rolle zu, um den – bilateralen und europäischen – Rahmen der Wirtschaftspolitik zu definieren und die wechselseitigen Konvergenzen zu begünstigen sowie die Unterschiede in den nationalen Strukturen abzuschwächen118. In diesem Sinn stimmten Adenauer und Pierre Mendès France nach dem Scheitern der EVG überein, dass die Annäherung nun über die Intensivierung der Handelsbeziehungen weiterbetrieben werden müsse. Während ihrer Gespräche in La-Celle-Saint-Cloud im Oktober 1954 legten der Bundeskanzler und der französische Ministerpräsident ein Programm für die wirtschaftliche Kooperation fest, das vor allem auf einem am 5. August 1955 unterzeichneten langfristigen Handelsabkommen (hauptsächlich über Getreidelieferungen), der Gründung einer deutsch-französischen Industrie- und Handelskammer, die im Juni 1955 eröffnet wurde, und einer gemischten Kommission auf Regierungsebene (Mai 1956) beruhte, die in regelmäßigen Abständen laufende Projekte überprüfen sollte119. Selbst die für Frankreich wichtige Frage der Moselkanalisierung zur Senkung der französischen Transportkosten beim Handel mit Süddeutschland wurde bei diesem Gespräch schon angeschnitten, obwohl Entscheidungen erst nach dem Plebiszit der Saarbevölkerung im Oktober 1955 getroffen werden sollten120. Dieser bilaterale Rahmen, den die beiden Regierungen festgelegt hatten, wirkte sich auf die direkte Verständigung der Unternehmer und Industriellen aus beiden Ländern positiv aus (bis 1947 hatte die französische Regierung die französischen Industriellen fast völlig aus der Wirtschaftspolitik ihrer Zone herausge117 Vgl. Wilkens 2002 [989], S. 73. 118 Vgl. Bührer 1986 [934]; Kipping 1996 [592]; Rhenisch 1999 [974]; Moguen-Toursel 2002 [968]; Schirmann 2006 [979], S. 80. 119 Vgl. Wilkens 1993 [984]. 120 Vgl. Vogel 2001 [983].
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halten121). Parallel zu den politischen Vereinbarungen unterzeichneten die Unternehmerorganisationen am 22. Oktober 1954 ein langfristiges Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit, was ein weiteres Mal die bedeutende Rolle der nicht-offiziellen Handlungsträger unterstreicht und ein Grund dafür ist, dass die Wirtschaft im Élysée-Vertrag keinen eigenständigen Platz fand122. Es ist geradezu symptomatisch, dass die deutschen und französischen Unternehmerverbände, der „Bundesverband der Deutschen Industrie“ (BDI) und der Conseil National du Patronat Français (CNPF) just zum Zeitpunkt der Vertragsunterschrift erklärten, dass sie das Dokument eigentlich für überflüssig hielten, denn für sie habe die Versöhnung angesichts der vielen seit 1947/1948123 geknüpften Verbindungen schon viel früher eingesetzt. So hatten die Wirtschaftsbeziehungen einen starken Einfluss auf die politische Annäherung und Zusammenarbeit der beiden Staaten. Hilfreich waren hier immer auch Mittlerpersönlichkeiten aus der Wirtschaft wie Daniel Goeudevert124, Gerhard Cromme, Simon Lazard, Roger Fauroux u. a.125. Zu ersten, noch isolierten wirtschaftlichen Einzelkontakten war es schon 1945/46126 gekommen, aber erst ab Herbst 1947 vervielfachten sie sich im Rahmen des Marshall-Plans und knüpften an frühere Tradition an127. Während des Krieges und der deutschen Besatzung Frankreichs waren gewisse Kooperationsformen aufrechterhalten worden, nicht selten um den Preis der Kollaboration. Im Herbst 1947 fanden Gespräche zwischen den Vertretern der französischen Stahlfamilie de Wendel, der luxemburgischen ARBED und dem deutschen Bankier Robert Pferdmenges statt, hinter dem deutsche Industriekreise aus dem Ruhrgebiet standen und der das Vertrauen Adenauers genoss. Diese Kontakte erhielten bald einen institutionellen Rahmen mit der – auf französischer Seite – Gründung der Association pour le Commerce et l’Industrie française en Allemagne und 1949 der Association française pour les Relations économiques avec l’Allemagne. Auf deutscher Seite waren es die 1948 in Frankfurt gegründete „Arbeitsgruppe Frankreich“ und danach die „Studienkommission für deutsch-französische Wirtschaftsbeziehungen“ in Düsseldorf sowie die „Deutsche Vereinigung zur Förderung der Wirtschaftsbeziehungen mit Frankreich“. Die Kooperation zwischen diesen Wirtschaftsorganisationen mündete 1955 in die Gründung der deutschfranzösischen Industrie- und Handelskammer (DFIHK)128. Diese Kontakte wurden begleitet von direkten Beziehungen zwischen deutschen und französischen Unternehmerverbänden, die sich schon bei Veranstal-
121 122 123 124 125 126 127 128
Vgl. Libera 2007 [963]. Vgl. Joly 1996 [956]; Fridenson 1994 [951]; Wilkens 1997 [985]. Vgl. Bührer 2005 [939]. Vgl. Goeudevert 1998 [52]. Vgl. Eck 2007 [945], S. 151. Lefèvre 1998 [958], S. 215–217. Vgl. Bührer 1998 [937]; Berger 1997 [521]; dies. 1997 [926]; dies. 2007 [928]. Vgl. Bührer 1991 [935].
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tungen auf europäischer oder internationaler Ebene getroffen hatten. 1951 gründeten deutsche und französische Großunternehmer ein Industrie-Komitee, das mindestens ein Mal pro Jahr zusammentrat. Nach der Unterzeichnung der „Römischen Verträge“ und der Entstehung der EWG drehten sich die Diskussionen hauptsächlich um die Verständigung in Integrationsfragen, ein wegen unterschiedlicher Auffassungen manchmal recht steiniges Gebiet. Der BDI betrachtete den Gemeinsamen Markt als eine Etappe zum Freihandel, während die CNPF eher zum Verbleib in der EWG neigte129. Am Rande der großen Unternehmerorganisationen hatten die Branchenverbände, besonders in der metallverarbeitenden Industrie, der Chemie und in der Auto- oder Elektroindustrie, ebenfalls ihre Beziehungen ausgeweitet. So kam es schon ab 1949 zu Kooperationsvereinbarungen zwischen dem „Deutschen Bauernverband“ und französischen Agrarverbänden130. Mit direkten Investitionen in das jeweils andere Land hielten sich die Wirtschaftspartner allerdings zurück131. Eine seltene Ausnahme stellte das Interesse eines französischen Konsortiums metallverarbeitender Unternehmen an der Aktienmehrheit der „Harpener Bergwerk AG“ in den 1950er Jahren dar132. JeanFrançois Eck verweist eigens auf dieses Beispiel, weil es in seinen Augen die Beständigkeit französischer Interessen an langfristiger Zusammenarbeit enthüllt, schließlich hätten sich französische Industrielle schon seit Beginn des Jahrhunderts für die deutsche Kohle interessiert. Kontinuität sieht er auch in der Ansiedlung französischer Unternehmen in grenznahen Regionen133. Zu industriellen Investitionen in großem Umfang134 kam es jedoch erst nach der Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Insgesamt bestanden also schon vor Mitte der 1950er Jahre intensive und institutionalisierte Beziehungen zwischen der deutschen und französischen Industrie. Aber erst im Kontext des allgemeinen Wirtschaftswachstums trugen die Regierungsmaßnahmen sowohl auf bilateraler wie auf europäischer Ebene ihre Früchte. In dieser Epoche bestanden wohlgemerkt keine engen Kontakte zwischen den Gewerkschaften beider Länder. Auf beiden Seiten beschränkten sie sich auf das Bemühen, ihre Forderungen bei ihrer jeweiligen Regierung durchzusetzen, was ihnen einen eher nationalen Charakter gab135. Zudem bestanden Unterschiede in der politischen Orientierung zwischen den westdeutschen, im „Deutschen Gewerkschaftsbund“ (DGB) zusammengeschlossenen Gewerkschaften, die politisch der SPD nahestanden, und vor allem der kommunistischen Confédération du Travail 129 130 131 132 133 134
Vgl. Möller, Hildebrand 1997 [32], S. 45; Wilkens 1998 [987]. Vgl. Noel 1995 [969]; Thiemeyer 1999 [688]. Vgl. Eck 2003 [946]; ders. 1996 [943]. Vgl. Bührer 2005 [939], S. 189. Vgl. Eck 2007 [945], S. 152; Brunn 2007 [932]. Vgl. Plumpe 1990 [972]; Herzig 1990 [955]; Fridenson 1990 [950]; Lefèvre 1997 [961], S. 244 –246; Eck 2003 [946]. 135 Vgl. Ebbinghaus, Visser 1997 [533].
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I. Überblick
(CGT), was die Entwicklung einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit behinderte136. Die Reaktion der Gewerkschaften bei der Ankündigung des SchumanPlans deckte die Unterschiede auf: Während ihn der DGB und die Force Ouvrière (FO) offen unterstützten, lehnte ihn die CGT im „Kampfbündnis“ mit dem „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund“ (FDGB) der DDR137 rigoros ab; die Confédération française des Travailleurs chrétiens (CFTC) blieb geteilter Meinung138. Wie im Bereich Kultur führte der Umstand, dass bei der Anknüpfung von Kontakten auch andere als nur der Staat eine wichtige Rolle spielten, dazu, dass sich zwischen Frankreich und der DDR ebenfalls Wirtschaftsbeziehungen entwickelten. Sie erreichten zwar nur ein marginales Volumen – der DDR-Anteil am französischen Export während der ganzen Laufzeit betrug weniger als 1 % –, aber für die Politik waren sie doch von größerer Bedeutung. Seit 1946 besuchten französische Unternehmer die Leipziger Messe und seit 1953 war der DDR-Außenhandel durch die Ost-Berliner Kammer für Außenhandel auch auf der Messe von Paris vertreten; 1952 unterzeichneten die Banque de France und die „Notenbank der DDR“139 ein Zahlungsabkommen. Im Mai 1956 öffnete die „Kammer für Außenhandel der DDR“ in Paris eine ständige Niederlassung, während man in Ost-Berlin einen ständigen Kontakt zwischen dem französischen Handelsattaché und den zuständigen Diensten der DDR einrichtete140. Für das Ost-Berliner Regime waren diese Beziehungen wichtig, stärkten sie doch seinen Status auf der internationalen Bühne und unterstützen es auf dem Weg zur diplomatischen Anerkennung. Wirtschaftlich gesehen sollte der Warenaustausch die Produktionslücken des heimischen Marktes schließen. Eine Liberalisierung dieses Handels kam Ende der 1950er Jahre aber trotz aller Bemühungen seitens der DDR nicht zustande: Paris wollte nichts unternehmen, was Bonn hätte verärgern können. Darüber hinaus verhinderte der Kalte Krieg den Ausbau dieser Handelsbeziehungen: Als Folge der Berlinkrise von 1958 folgte Paris Bonn auf dem Fuß und bewilligte keine weiteren Exportlizenzen für die DDR. Der Bau der Berliner Mauer veranlasste Paris zu einem vorläufigen Boykott jeglicher Art von offizieller Teilnahme an der Leipziger Messe, was französische Wirtschaftskreise aber nicht hinderte, trotzdem in Leipzig auszustellen141. Am Ende dieser sektoriellen Bilanz erscheint die von Presse und Politik oftmals betriebene Mythologisierung des Élysée-Vertrages umso deutlicher, war er doch nie der immer wieder bezeichnete Ausgangspunkt der deutsch-französischen Zusammenarbeit142. Sein programmatischer Teil, der mit Ausnahme des 136 137 138 139 140 141 142
Vgl. Bührer 2005 [939], S. 184. Vgl. Pfeil 2004 [656]. Vgl. Bührer 2004 [938]; Schirmann 2004 [977]; Schirmann 2005 [978]. Vgl. Pfeil 2004 [483], S. 395. Vgl. Scholz 1993 [981]. Vgl. Scholz 1993 [982]. „Am Anfang war der Vertrag, dann folgte Kooperation auf allen Ebenen: in Politik, Wirtschaft, Bildung, Militär, Kultur“, in: Süddeutsche Zeitung, 17. 1. 2003.
6. Bilanz der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Jahre 1963 141
Sektors Jugend alle Bereiche umfasst, in denen die staatliche Ebene als Hauptakteur auftrat (Außen-, Verteidigungs- und Bildungspolitik), verband bereits Erreichtes (Jugend) mit der Förderung von Aktionsfeldern, auf denen sich die Zusammenarbeit als schwierig herausstellte, wie in der Verteidigungs- und Bildungspolitik. Über seine symbolische Bedeutung hinaus muss der Hauptbeitrag des Vertrags im ersten Teil „Organisation“ gesucht werden, der systematisch regelmäßige Konsultationen der Staats- und Regierungschefs und der wichtigsten Ministerien in Bonn und Paris festlegte. Dieser kurze Überblick der sektoriellen Zusammenarbeit ermöglicht darüber hinaus ein besseres Verständnis des asymmetrischen Dreiecks der deutsch-deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1945/49 und 1963 bzw. 1990, beschränkten sie sich doch nicht alleine auf Frankreich und die Bundesrepublik. Vielmehr erscheint die DDR hier als ein konstanter Faktor in den deutsch-französischen Beziehungen. In allen Bereichen, wo der Staat nicht als Alleinhandelnder auftrat, bestanden Verbindungen zwischen Franzosen und Ostdeutschen, ob nun im intellektuellen und künstlerischen Bereich oder in Form einer begrenzten wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die DDR besaß in bestimmten französischen Kreisen unbestritten Fürsprecher, die sich für ihre diplomatische Anerkennung einsetzten. Die Unterzeichnung des Élysée-Vertrages führte ihnen aber auch vor Augen, wo die Grenzen der DDR in dieser Dreiecksbeziehung lagen: Für Paris besaßen die Beziehungen zur Bundesrepublik stets absolute Priorität, so dass sich der ostdeutsche Staat in der Regel mit den Krümeln zufriedengeben musste, die vom „westdeutsch-französischen Tisch“ fielen. Die nicht nur negative Perzeption und Rezeption der DDR in der französischen Öffentlichkeit war für die Bundesrepublik in der deutsch-deutschen Konkurrenz auf französischem Feld aber immer wieder auch Anlass, sich in allen Belangen der bilateralen Kooperation verstärkt einzusetzen, um nicht der DDR das Feld zu überlassen.
II. Fragen und Perspektiven
Französische und deutsche Jugendliche pflegen gemeinsam Gräber französischer Soldaten auf dem Friedhof von Malmaison, Juni 1964. © DFJU
1. „Die düstere Franzosenzeit“?
Historiographische Debatten zur französischen Besatzungspolitik in Deutschland
1. „Die II. Fragen düstereund Franzosenzeit“? Perspektiven
Die französische Besatzungszeit in Deutschland – manchmal als „düstere Franzosenzeit“1 bezeichnet – zählt seit den 1960er Jahren zu den am gründlichsten untersuchten historischen Perioden2. Das Interesse an ihr (gemessen an der Zahl der Publikationen und wissenschaftlichen Kolloquien) flammte wieder auf, als sich Mitte der 1980er Jahre die Archive für diesen Zeitraum öffneten, und hielt sich etwa zehn Jahre lang bis in die 1990er Jahre. Die Veröffentlichungen der letzten Jahre vervollständigten das Panorama. Wegen der unterschiedlichen Quellen (Zeitzeugen und archivalische Materialien) und der Komplexität der französischen Besatzungspolitik handelt es sich um einen Zeitraum, der zwischen Historikern unzählige Kontroversen ausgelöst hat. Einige von ihnen sind mittlerweile überholt, andere dauern an. Aus diesen Gründen erscheint es unverzichtbar, die unmittelbare Nachkriegszeit zum Gegenstand einer historiographischen Bilanz zu machen.
Zeitzeugen und Archive im Konflikt um historische Deutungsmacht Von den 1960er Jahren bis noch zum Beginn der 1980er Jahre waren ein Großteil der Forscher und die öffentliche Meinung der Überzeugung, dass die französische Besatzungspolitik, wenn schon nicht als Neuauflage, so doch mindestens als die Fortsetzung der repressiven Politik Frankreichs in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg3 anzusehen sei. In den Vordergrund ihrer Argumentation stellen die Autoren dieser Untersuchungen die französischen Forderungen nach Zerschlagung der Reichseinheit, nach Abtrennung des Saargebiets bzw. des gesamten linken Rheinufers von Restdeutschland zur Schaffung einer Sicherheitszone an der französischen Ostgrenze sowie nach größtmöglicher Dezentralisierung oder gar nach Zerstückelung des zukünftigen Deutschlands. Dem Leser 1 Wolfrum 1993 [1101], S. 87–113. 2 Lange Zeit hat Willis 1962 [500] als Referenzwerk gedient. 3 So jedenfalls die Meinung von Soutou 2007 [237], S. 108 f.
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II. Fragen und Perspektiven
dieser Studien drängt sich der Eindruck auf, als sei auch während der zweiten Nachkriegszeit eine „unbarmherzige Sicherheits- und Reparationspolitik“4 betrieben worden, als hätten Sicherheit und Reparationen wie nach dem Ersten Weltkrieg als oberste Prioritäten die französische Besatzungspolitik bestimmt, der es einzig um die Schwächung und Kontrolle Deutschlands gegangen sei, um auf diese Weise den Wiederaufbau der französischen Wirtschaft zu finanzieren5. Einige Historiker ließen sogar vernehmen, dass Frankreich selbst gegen annektionistische Versuchungen nicht ganz gefeit gewesen sei, und nennen in diesem Zusammenhang das Saargebiet und das gesamte linke Rheinufer6. Darüber hinaus geben sie Frankreich eine wichtige Mitschuld am Zwist unter den Alliierten. Da sich die französische Regierung nicht an die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz gehalten sah, was für Dietmar Hüser ein typisches Beispiel für die von ihm entwickelte These von der „relativen Stärke der Schwachen“ gegenüber der „relativen Schwäche der Starken“ (vgl. Kap. I.2) ist, hätten die französischen Verhandlungspartner im Alliierten Kontrollrat mit dem Ziel Obstruktionspolitik betrieben, ihre Zone zu isolieren, um diese dann in mehrere unabhängige Verwaltungseinheiten aufzuteilen7. Weitere Vorwürfe lauteten, dass Paris seine Politik der Maximalforderungen bis zur Moskauer Konferenz im März 1947 beibehalten und erst dort auf die Abtrennung des linken Rheinufers offiziell verzichtet habe. Ebenso habe sich Frankreich erst im Zuge des Kalten Krieges auf Druck seiner Verbündeten widerwillig der Idee angeschlossen, in Westdeutschland einen Bundesstaat zu errichten, den es durch sein anfängliches Veto gegen die Erweiterung der Bizone zur Trizone verzögert habe8. In dieser Perspektive erschienen der Schuman-Plan und die EGKS als echter Richtungswechsel der französischen Politik – wenn auch nicht ohne „Rückfall“, wie das Scheitern der EVG 1954 unterstrichen habe. So lässt sich kurz die interpretative Linie derjenigen wiedergeben, die eine echte Trendwende in den deutsch-französischen Beziehungen erst zu Beginn der 1960er Jahre ausmachen. Diese Trendwende sei zu diesem Zeitpunkt von de Gaulle und Adenauer persönlich vorangetrieben worden und habe sich im Abschluss des Élysée-Vertrages im Jahre 1963 niedergeschlagen. In seinen verschiedenen Studien hat vor allem Rainer Hudemann immer wieder die Gründe hervorgehoben, die zu einer derartigen Betrachtung geführt haben: Seiner Meinung nach griffen die Arbeiten deutscher Zeithistoriker und Politologen – weil ihnen der Zugang zu französischen Archiven verschlossen geblieben war – zumeist auf die Urteile von Zeitzeugen und/oder Archive in Drittländern zurück9. 4 Schwarz 1980 [426]; Willis 1962 [500]. 5 Vgl. Henke 1982 [554], S. 500–537. 6 Vgl. Soutou 1989 [673], S. 48; ders. 1995 [677], S. 106. Siehe auch Loth 1986 [291], S. 40. Für eine historiographische Zusammenfassung zu dieser Frage siehe Hudemann, Heinen 2007 [576], S. 38–39. 7 Vgl. Graml 1995 [544], S. 30; Kielmansegg 2000 [407], S. 39. 8 Vgl. Kiersch 1977 [591], S. 61–76. 9 Vgl. Hudemann 1997 [572], S. 31–40.
1. „Die düstere Franzosenzeit“?
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Die Aussagen dieser Zeitzeugen hätten bis auf ganz wenige Ausnahmen zu einer falschen Sicht der Geschichte beigetragen. Als Beispiel dient ihm Theodor Eschenburg, der als stellvertretender Innenminister von Württemberg-Hohenzollern die französische Zone als „Ausbeutungskolonie“10 beschrieben hatte. Hudemann merkt dazu an: „Was sich in der eigenen Erinnerung später als vorherrschende Merkmale festsetzt, kann so vereinfacht sein, dass der Charakter einer Epoche, und damit ihr Stellenwert für langfristige Entwicklungen, zu verschwinden beginnt“11. Man darf auch nicht aus den Augen verlieren, dass sich die in Südwestdeutschland bzw. in der französischen Zone lebenden Deutschen noch sehr genau an die Härten der französischen Besatzungszeit nach dem Ersten Weltkrieg und sogar noch an die französische Konfiskationspolitik zur Zeit der Revolutions- bzw. der napoleonischen Kriege in der Pfalz erinnern konnten, die vor allem während des „Dritten Reiches“ kolportiert und wachgehalten worden waren (vgl. Kap. II.4), was auch Edgar Wolfrum in seinen Arbeiten über die Bedeutung dieses kollektiven Gedächtnisses für die öffentliche Meinung in Deutschland herausarbeiten konnte12. Zur Erinnerung an die Vergangenheit traten des Weiteren die Nöte des Alltags: insbesondere die im Winter 1946/47 wütende Hungersnot und der Schwarzmarkt, der bis zur Währungsreform von 1948 andauerte, wurden der Besatzungspolitik angelastet, obwohl sie zum großen Teil Folge der Wirtschafts- und Finanzpolitik des „Dritten Reiches“ waren13. So erklärt es sich, dass die Deutschen in den Franzosen vielfach „Westrussen“ sahen und sich vor allem gegenüber ihren Landsleuten in der amerikanischen Zone benachteiligt fühlten. Darüber hinaus reagierte die öffentliche Meinung in Südwestdeutschland als Folge der konservativen Sozialstrukturen der Menschen negativ auf die Mehrzahl der innovativen oder experimentellen Maßnahmen der Besatzer, ganz gleich, ob es sich um Sozial- oder Schulreformen handelte: Beide wurden in Frage gestellt, wann immer die deutschen Verwaltungsbehörden dazu die Gelegenheit hatten14. Aber nicht nur die Aussagen der „besetzten Deutschen“ trugen zur Verfälschung des Bildes bei, sondern auch die der „französischen Besatzer“ selbst. Als Beispiel sei der Kontrolloffizier an der Universität Tübingen, René Cheval, genannt, dessen Aussagen verschiedene deutsche Forscher zur Behauptung veranlassten, die französische Kulturpolitik sei größtenteils improvisiert gewesen und bestimmte Entscheidungen wie die Wiedereröffnung der Universitäten seien von der Besatzungsmacht vor Ort getroffen worden15. Es ist schwer zu beurteilen, 10 11 12 13 14
Vgl. Eschenburg 1983 [396], S. 97. Hudemann 2005 [575], S. 428. Vgl. Hudemann 1988 [564], S. 31–123. Vgl. Wolfrum 1992 [1100], S. 21–38; ders. 1995 [1102], S. 567– 582. Vgl. Hudemann [575]; unter den vielen Arbeiten zur Schulpolitik siehe Doublier 1997 [786]. 15 Vgl. Cheval 1981 [747], S. 190–200; ders. 1987 [748], S. 247– 261. Zum Einfluss der Thesen Chevals auf die Geschichtsschreibung siehe Winkeler 1971 [914]; RugeSchatz 1977 [885]; Vaillant 1990 [907], S. 207.
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II. Fragen und Perspektiven
ob Cheval seine Rolle bewusst überbewertete oder ob er die im Vorfelde getroffenen Entscheidungen schlicht nicht kannte. Tatsächlich war die Wiedereröffnung der Universitäten schon im Frühjahr 1945 in der „Kommission für die Umerziehung des deutschen Volkes“ debattiert worden und waren die Direktiven aus Paris vom 20. Juli durch eine Verordnung der Militärregierung vom 4. September 1945 präzisiert worden16. Es soll hier gar nicht die Bedeutung von Zeitzeugenberichten für die Rekonstruktion von Geschichte angezweifelt werden; vielmehr wollen wir es mit Edgar Wolfrum halten, der in ihnen vor allem eine perzipierte Realität sieht: „Kann die historische Wissenschaft zu ganz anderen Ergebnissen über die Wirklichkeit gelangen als sie sich in der Erinnerung der seinerzeit mitlebenden Menschen niedergeschlagen hat? Man darf den Zeitgenossen nicht einfach vorhalten, sie hätten sich eben geirrt“17. Nichtsdestotrotz müssen ihre Aussagen kontextualisiert und mit den Quellen konfrontiert werden. Den Beitrag einer derartigen Verklammerung von Archiven und Zeitzeugen zur Erarbeitung von Geschichte in ihrer ganzen Komplexität zeigten vor allem die Arbeiten von Manfred Heinemann über die Maßnahmen der Besatzungsmacht an verschiedenen Universitäten in ihrer Zone18. Die noch jüngeren Darstellungen von Edgar Wolfrum, Peter Fässler und Reinhard Grohnert haben vor Augen geführt, wie aufschlussreich es sein kann, politische Ziele und ihre Durchführung mit ihrer Wahrnehmung durch die Besetzten zu verschränken, besonders wenn die Besatzung von den Verantwortlichen, die ihr Handeln eher in einen längerfristigen Prozess einordnen, und den sogenannten „kleinen Leuten“, die mit ihren Alltagsschwierigkeiten kämpfen, unterschiedlich wahrgenommen wird19. Die frühen Studien zur französischen Besatzungspolitik basierten oftmals auf den Archiven der beiden anderen Westalliierten, doch besitzt eine solche Herangehensweise ihre Tücken, weil sie die Standpunkte der von de Gaulle mehrfach an den Rand der Verzweiflung getriebenen Angloamerikaner mit der realen französischen Politik verwechselt20. So erklärt es sich u. a., dass die Franzosen von den Westalliierten wiederholt als „Spielverderber“ bezeichnet wurden21. Genauso beeinflusste die Klage von General Lucius D. Clay über die französische Obstruktion im Alliierten Kontrollrat erheblich die Arbeiten all derer, die sich auf britische und amerikanische Archivalien stützten22. Erst die Öffnung der französischen Archive brachte auch hier neue Ergebnisse23. Befremden muss heute angesichts der beschriebenen Archivlage, wenn in aktuellen Studien die 16 17 18 19 20 21 22 23
Vgl. Defrance 2000 [768], S. 81–89; dies. 1996 [764], S. 207– 221. Wolfrum 2003 [1105], S. 63. Vgl. Heinemann 1991 [813]. Vgl. Wolfrum, Fässler, Grohnert 1996 [703], S. 11. Vgl. Hudemann 1996 [572]. Vgl. Kessel 1993 [590], S. 65–85. Vgl. Kraus 1990 [599]. Vgl. Kessel 1989 [589]; Hudemann 1990 [566]; Mai 1995 [567].
1. „Die düstere Franzosenzeit“?
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britischen und französischen Kolonialdiskurse mit den französischen Umerziehungsmaßnahmen in Deutschland verglichen werden. Hier zeigen sich die gleichen Schwächen wie bei den frühen Studien zur Besatzungspolitik: Der britische Diskurs über die französische Politik wird mit der politischen Realität gleichgesetzt, was dieser jedoch nicht gerecht wird24. Die allgemeine Bewertung der französischen Besatzungspolitik begann sich erst Ende der 1970er Jahre langsam zu wandeln, als die Widersprüche zwischen der These einer harten Linie bzw. einer „Ausbeutungspolitik“ und den wesentlich nuancierter daherkommenden neuen wissenschaftlichen Studien zu augenscheinlich wurden. So gelangte Angelika Ruge-Schatz als eine der Ersten zu einer eher positiven Sichtweise der französischen Kulturpolitik in Deutschland, die für sie aber wiederum nur die „Kehrseite der Medaille“ bildete, denn nach ihrer Ansicht hatten die Franzosen in Deutschland eine sehr großzügige Kulturpolitik nur betrieben, um die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes abzufedern25. Die historiographischen Frontlinien gerieten ohne Zweifel in Bewegung, doch blieb Ruge-Schatz mit ihrer These von der „Kehrseite der Medaille“ auf halbem Wege stecken, denn sie bestätigte ebenfalls nur Theodor Eschenburgs Version von einer harten französischen Besatzungspolitik. Erst der Zugang zu den Archiven des Quai d’Orsay in Paris (die Serie 1949/ 1955 und die Serie Y International wurden 1986 zugänglich gemacht) und der darauf folgende (ebenfalls 1986) uneingeschränkte Publikumszugang zu den Archiven über die französische Besatzungszeit in Deutschland und Österreich (die damalige Außenstelle des französischen Außenministeriums in Colmar26) sowie die Öffnung von Privatarchiven27 bewirkten einen Paradigmenwechsel in der Forschung über die französische Deutschland- und Besatzungspolitik28, der gewisse ältere Hypothesen korrigieren bzw. entkräften half.
24 Vgl. Torriani 2006 [690], S. 57. 25 Vgl. Ruge-Schatz 1981 [886], S. 105–120. 26 Seit Sommer 2010 sind die bisher in Colmar gelagerten Archive der französischen Besatzung in Deutschland und Österreich (1945–1955) sowie die Akten der Hohen Kommission der Alliierten im neuen Archivgebäude des Quai d’Orsay in La Courneuve zugänglich. 27 Insbesondere der Fonds Émile Laffon, des obersten Verwalters der französischen Zone von 1945 bis 1947. Den Fonds nutzte insbesondere Lattard 1991 [613], S. 1– 35. 28 Vgl. Hamon 1989 [128] S. 98 f.; Wolfrum 1989 [180], S. 84– 90; Hudemann 1989 [134], S. 475 –488. Zur Befürchtung der französischen Archivare, dass die Öffnung der Archive der deutsch-französischen Zusammenarbeit schaden könnten, siehe Hudemann 1993 [569], S. 237.
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II. Fragen und Perspektiven
Dominanz, Integration oder doppelte Deutschlandpolitik? Anfang der 1980er Jahre29 bewog der offenkundige Widerspruch der französischen Deutschlandpolitik – mit zum einen unbestreitbaren Elementen einer repressiven Politik und zum anderen aber auch sehr vielen konstruktiven Faktoren, die den Weg für eine Annäherung und Zusammenarbeit30 öffneten – Wilfried Loth dazu, die Dualität und Bipolarität der französischen Politik durch zwei konzeptionelle Ansätze zu beleuchten. Dabei konstatierte er auf französischer Seite zwei widersprüchliche Strömungen: Die eine habe für eine Dominanzpolitik plädiert, um die französische Vorherrschaft über Deutschland sicherzustellen; dafür schienen ihm eine harte Sicherheitspolitik und die Schwächung bzw. die Kontrolle Deutschlands die geeigneten Mittel. Die andere Strömung habe sich für eine Integrationspolitik ausgesprochen, die zwar auch das französische Sicherheitsbedürfnis berücksichtigte, aber dafür auf die Einbindung Deutschlands in einen Bund europäischer Staaten setzte. Loth kam dabei zu dem Schluss, dass die Dominanzpolitik in den ersten beiden Nachkriegsjahren überwog, sich aber nach 1947 das bis dahin allein von den Sozialisten getragene Integrationskonzept31 durchgesetzt habe32. Obwohl diese Thesen bisweilen noch heute vertreten werden33, erscheinen sie nicht hinreichend schlüssig, um die Politik der französischen Regierung und ihrer wichtigsten Entscheidungszirkel zu begreifen; darüber hinaus weckt das genannte Datum für den Politikwandel Zweifel. So hat Renata Fritsch-Bournazel bereits 1984 gezeigt, dass es innerhalb des französischen Generalstabs hohe Offiziere gab, die unter dem Einfluss der schon in Résistancekreisen verbreiteten Forderungen über die Eingliederung Deutschlands in eine europäische Staatengemeinschaft nachdachten, um es besser kontrollieren zu können34. Ein anderes Beispiel: Auf der Moskauer Außenministerkonferenz im März 1947 verzichtete die französische Regierung offiziell auf ihre Forderung nach Abtrennung des gesamten linken Rheinufers von Restdeutschland. Aber bereits seit Jahresbeginn 1946 hatten einflussreiche Militärs und Diplomaten wie Marschall Alphonse Juin und der Generalsekretär im französischen Außenministerium, Jean Chauvel, die die französischen Forderungen für unrealistisch hielten, Alternativlösungen skizziert. Wie ambivalent die französische Deutschland- und Besatzungspolitik war 29 Das Kolloquium, das das „Institut für Europäische Geschichte“ in Mainz 1981 organisierte, ermöglichte eine Ortsbestimmung über die Erforschung der französischen Deutschlandpolitik und der Besatzungspolitik in der französischen Zone, vgl. Scharf, Schröder 1983 [489], S. 205–248. 30 Zur Orientierung über diese Entwicklungen siehe Knipping 1988 [595], S. 146. 31 Vgl. Loth 1977 [618]. 32 Vgl. Loth 1983 [619], S. 27–48. 33 Vgl. Fassnacht 2000 [793], S. 231; Schieder 2003 [889], S. 36 – 37. 34 Vgl. Fritsch-Bournazel 1984 [537], S. 85–95.
1. „Die düstere Franzosenzeit“?
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bzw. wie unterschiedlich sie interpretiert werden konnte, unterstreicht auch die Entscheidung für die Gründung des Landes Rheinland-Pfalz vom 30. August 1946: Die „Maximalisten“ konnten in ihr den ersten Schritt zur Abtrennung des Rheinlands sehen, während es sich für die „Wiederaufbauwilligen“ um einen ersten Schritt hin zu einem deutschen Bundesstaat handelte35. Die bewusste Doppeldeutigkeit ist sicherlich das Schlüsselwort, um die französische Deutschlandpolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu verstehen. Sie lässt sich bereits 1945 in den Reden de Gaulles bei seiner Reise durch die französische Zone nachweisen, der – je nach Zuhörerkreis – sowohl eine Politik der harten Hand als auch ein versöhnlicheres Vorgehen gegenüber den Deutschen predigen konnte36. So erklärte er vor dem im Kurhaus von Baden-Baden versammelten französischen Offizierskorps: „Wenn Frankreich hier Fuß fassen will, dann muss Frankreich die Verfügungsgewalt über die Gebiete erhalten, die von Natur aus mit ihm eine Einheit bilden“37. Damit spielte er ein weiteres Mal auf die „natürlichen Grenzen“ an, die er in der Vergangenheit schon mehrfach erwähnt hatte38. Bei seinen Reden vor der deutschen Bevölkerung in Saarbrücken, Trier, Koblenz und Freiburg sprach er hingegen von „Gegenwart“ und „Zukunft“ und verknüpfte sie mit Themen, die um Europa und die Kooperation mit Frankreich kreisten: „Frankreich ist nicht hier, um zu nehmen, sondern um etwas wieder aufleben zu lassen, damit Sie gemeinsam mit ihm wieder aufleben“39 (vgl. Kap. I.2). Derartige Äußerungen wurden oft als Zeichen für eine Wende in seiner Deutschlandpolitik gewertet40. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass de Gaulle ein doppeltes, offensichtlich widersprüchliches Spiel zwischen Kooperation und Konfrontation spielte. So waren auch die amtlichen Direktiven für das französische Vorgehen in der Zone vom 20. Juli 1945, also noch vor seiner Reise, Ausdruck für eine kluge Mischung von repressiven Maßnahmen („Zerstörung alles Preußischen“) und konstruktiven Vorschlägen (Wiedereinführung der Presse und Wiedereröffnung der deutschen Schulen). Das Auffinden dieser Direktiven durch die Historiker trug wesentlich zu einer Neubewertung der von Paris betriebenen Politik bei und ließ das Verhältnis zwischen der Zentrale und der Militärregierung in Baden-Baden bzw. den lokalen Autoritäten in einem neuen Licht erscheinen. Nuanciert wurde vor allem die bisher vorherrschende Interpretation von einer angeblich in Paris definierten harten 35 Vgl. Defrance 1994 [762], S. 43–50. 36 Poidevin 1985 [660], S. 221–238; Hudemann 1991 [568], S. 153 –167; Wilkens 1991 [587], S. 5. 37 de Gaulle 1984 [45], Rede im Kurhaus von Baden-Baden am 5. Oktober 1945, S. 95 – 99. 38 Vgl. de Gaulle, 1970 [44], Rede vom 22. November 1944 und Erklärung vom 10. September 1945, S. 483, 617. 39 Rede in Trier am 3. Oktober 1945, [44], S. 91 f.; Vgl. Loth 1991 [621], S. 634. 40 Vgl. Fritsch-Bournazel 1990 [538], S. 183–200; Poidevin 1985 [660], S. 231; Weisenfeld 1989 [496], S. 28.
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II. Fragen und Perspektiven
Besatzungspolitik und einem in der Zone praktizierten versöhnlicheren Vorgehen41. Aber handelte es sich dabei wirklich um eine „Wende“ oder nicht vielmehr um eine differenzierte Deutschlandpolitik des Generals und verschiedener Verantwortlicher auf französischer Seite, die je nach betreffendem Territorium – ob das linke Rheinufer, das Saargebiet (das 1946 von der französischen Zone abgetrennt wurde), der mehrheitlich katholische Südwesten Deutschlands oder das protestantische Deutschland, das oft als „preußisch“ eingeschätzt wurde – einen unterschiedlichen Diskurs präsentierten?42 Bezeichnend war in dieser Hinsicht die schon oben angesprochene Reise de Gaulles durch die französische Besatzungszone im Oktober 1945, als er sich an die Bevölkerung im Rheinland und in Baden wandte, also an das nach dem französischen Verständnis jener Zeit „gute Deutschland“ (vgl. Kap. II.4). Diese verschiedenen Beispiele unterstreichen die These, dass die von Wilfried Loth herausgearbeiteten Strömungen innerhalb der politischen Klasse Frankreichs ab Sommer 1945 koexistierten. Dominanz bzw. Integration standen nicht im Gegensatz zueinander, so Dietmar Hüser, sondern waren die zwei Pole einer „doppelten Deutschlandpolitik“, bei der es zwischen den Reden französischer Regierungsmitglieder über Deutschland und den Realitäten der französischen Deutschlandpolitik vor Ort43 zu trennen gelte. Erstere hatten die weithin existierenden deutschfeindlichen Strömungen in Frankreich zu berücksichtigen und sahen sich darüber hinaus zu Maximalforderungen gezwungen, um sich im Verhältnis zu den anderen Alliierten Handlungsspielräume zu bewahren. In seiner Analyse unterstreicht Hüser besonders die Tatsache, dass Jean Monnet bereits vor Kriegsende erkannt habe, dass die deutschen Kohlelieferungen und die übrigen Reparationen nicht ausreichen würden, um den Aufschwung der französischen Wirtschaft und ihre notwendige Modernisierung zu sichern. Um der französischen Wirtschaft eine neue Dynamik zu verleihen, sprach er sich deshalb für eine supranationale europäische Integration aus. So waren die Grundprinzipien, die 1950 zum Schuman-Plan führten, bereits seit August 1943 vorgezeichnet (vgl. Kap. I.2). Dieser Aspekt der französischen Deutschlandpolitik war bereits länger bekannt44, aber seine Kritiker werfen Hüser vor, dass er die Kontinuitäten zwischen den französischen Überlegungen während des Krieges und danach überbetone und auf diese Weise den am 9. Mai 1950 verkündeten Schuman-Plan zu stark „relativiere“ bzw. ihn in erster Linie als das Ergebnis einer rein französischen Politik interpretiere. Nach Gilbert Ziebura45 und Reiner Marcowitz46 unterschätzt Hüser die externen Faktoren bei der Entstehung der französischen Deutschland41 Vgl. Hudemann 1987 [819], S. 17 f. 42 Eine differenzierte Analyse der regionalen französischen Universitätspolitik findet sich in Defrance 2006 [776], S. 805–810. 43 Vgl. Hüser 1996 [459]. 44 Vgl. Wilkens 1996 [695], S. 81–93. 45 Vgl. Ziebura 1997 [503], S. 69–73. 46 Vgl. Marcowitz 2005 [632], S. 24–27.
1. „Die düstere Franzosenzeit“?
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politik, insbesondere den Druck der anderen Alliierten und generell das Gewicht der internationalen Beziehungen. Marcowitz bedauert, dass Hüser neuere Studien zur Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Einigungsprozess nicht genügend berücksichtigt habe47. Hüser verteidigte sich mit dem Argument, dass diese Studien die französische Perspektive und auch die jüngeren Beiträge über die deutsch-französischen Beziehungen48 nicht ausreichend berücksichtigt hätten. Auch warnte er vor einer Überbewertung der Rolle der beiden Großen im Kreis der Alliierten und des Kalten Krieges zulasten der französischen Initiativen49. Diese Kontroverse bewegt die Historikerzunft noch immer und scheint bis heute nicht abgeschlossen. Angesichts des aktuellen Forschungsstandes über die Ziele und Durchführung der französischen Deutschland- und Besatzungspolitik erscheint es heute abwegig, weiterhin von einer Revanche- bzw. Ausbeutungspolitik Frankreichs in seiner Zone zu sprechen50. Die Halbwertszeit lieb gewonnener, aber mittlerweile überholter Thesen ist jedoch bisweilen lang, wie sich auch an kürzlich veröffentlichten Studien ablesen lässt, deren Autoren sich als Repräsentanten einer „dritten Welle“ verstehen, die nach der ersten (Stichwort: „Ausbeutungstheorie“) und der zweiten Welle (Stichwort: reformerische Demokratisierungspolitik) nun der Not und Verzweiflung der deutschen Bevölkerung51 im „Besatzungsalltag“ Rechnung tragen will. Diese Studien beharren auf dem Konfrontationspotenzial und den Misserfolgen der Besatzungspolitik, z. B. der Entnazifizierung, während andere unlängst veröffentlichte Studien und vor allem vergleichende Arbeiten zu den verschiedenen (westlichen) Besatzungszonen zeigen, dass sich die in der französischen Zone verfolgte Praxis einer individuellen Entnazifizierung als viel differenzierter erwies als u. a. das Vorgehen in der amerikanischen Zone (vgl. Kap. I.1)52. Erstaunlich ist bisweilen, dass manche Autoren zu wenig zwischen der Wahrnehmung der Besatzungspolitik, die sie als „die“ Realität ansehen, und ihren Zielen und Praktiken unterscheiden. Sie blenden auch die Zeitzeugenberichte der französischen Handlungsträger aus53 und unterschätzen die historische Komplexität von Phänomenen sowie die Pluralität von Handlungs- und Erfahrungsebenen. Trotz allem sind die Arbeiten dieser „dritten Welle“ von Interesse, denn sie hinterfragen den dominanten deutsch-französischen Versöhnungsdiskurs, der, bisweilen auf die Spitze getrieben, die Aussöhnung zwischen beiden Gesellschaften in der unmittelbaren Nachkriegszeit beginnen lässt (vgl. Kap. II.2). Gleichzeitig 47 48 49 50 51
Vgl. Neuss 2000 [337]; Lehmann 2000 [414]. Vgl. Hüser 2003 [460], S. 156. Vgl. Hüser 1993 [578], S. 22 f. Das trifft vor allem auf die Studie von Koop 2005 [596] zu. Es handelt sich nur um eine kleine Gruppe junger Historiker an den Universität Freiburg: Fassnacht 2000 [793]; Seemann 2002 [1329]. 52 Vgl. Borgstedt 2008 [1306], S. 239–251; Grohnert 1991 [1315], S. 59; Möhler 1992 [1324]. 53 Falkenburger 2006 [1311].
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II. Fragen und Perspektiven
muss es jedoch als überzogen angesehen werden, die Historiker der sogenannten zweiten Welle54 als Rekonziliationisten zu bezeichnen, die alle Faktoren möglicher Konfrontationen in der unmittelbaren Nachkriegszeit unter den Teppich gekehrt hätten, um sich allein mit den Elementen der deutsch-französischen Annäherung zu beschäftigen.
Die Kontroversen über die „Pfeiler“ der französischen Besatzungspolitik Neben den Aspekten wie „Rang“ und „Grandeur“, die sämtliche Tätigkeitsfelder durchzogen, bildeten Sicherheit, Kultur, die im weitesten Sinn den gesamten Demokratisierungsprozess, d. h. die Entnazifizierung, die Sozial- und Religionspolitik55 sowie die Wiederherstellung von politischen und gewerkschaftlichen Strukturen, mit einschloss, und die Wirtschaft das Rückgrat der französischen Besatzungspolitik. Das Verhältnis dieser drei wichtigsten Sektoren untereinander wurde in der Vergangenheit heftig diskutiert, wobei die zentrale Frage auf ihre Autonomie bzw. ihre Interdependenz abzielte. Diese Frage betraf vor allem die Kultur, doch drängt sie sich genauso für die Wirtschaft auf. Bevor wir jedoch in diese „klassifikatorische“ Debatte einsteigen, wollen wir diese drei Hauptpfeiler der französischen Okkupationspolitik näher beleuchten.
Sicherheit als oberste Priorität Trotz einiger Elemente der französischen Besatzungspolitik, die eine gewisse Kontinuität zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vermuten lassen, z. B. der Sonderstatus des Saargebietes in Wirtschaftsunion mit Frankreich seit 194756, sind die grundsätzlichen Unterschiede doch nicht zu übersehen. Zu erinnern ist zunächst daran, dass es sich auf Grundlage des internationalen Rechts anders als nach 1918 um keine militärische Besatzung handelte, sondern um eine internationale Verwaltung Deutschlands durch die Alliierten, hatte der deutsche Nationalstaat doch 1945 aufgehört zu existieren57. Gewiss stand für Paris die Sicherheit vor Deutschland mehr denn je an oberster Stelle. De Gaulle, den das Scheitern des Versailler Vertrages zutiefst geprägt hatte58, stellte deshalb den Sicherheitsaspekt
54 Vgl. zum Thema „zweite Welle“ Martens 1993 [634], S. 11. 55 Vgl. Baginski 1997 [716]; Greschat 1998 [802]. 56 Die Themen der Studien über das Saargebiet veränderten sich während der 1990er Jahre ebenfalls tiefgreifend: Hudemann, Poidevin 1995 [571]; Herrmann 1996 [954]; Heinen 1996 [551]. 57 Vgl. Virally 1948 [432]. 58 Vgl. Maillard 1990 [58], S. 46.
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über die Frage der Reparationen. In dieser zweiten Nachkriegszeit ging es zudem nur noch um Reparationsleistungen in Form von Naturalien wie Kohle- und Holzlieferungen, jedoch nicht mehr um Geldzahlungen. Im Vergleich zur Situation nach 1918 lässt sich eine Neuorientierung der französischen Sicherheitspolitik (einschließlich ihrer militärischen und wirtschaftlichen Aspekte) beobachten59, wobei nun zwei grundsätzliche Überlegungen in den Vordergrund traten: Die Friedenssicherung könne erstens nur im europäischen Kontext erfolgen, und zweitens könne die Sicherheit Frankreichs einzig durch eine tiefgreifende Demokratisierung der deutschen Gesellschaft garantiert werden60. Die Sicherheit vor Deutschland war in Frankreich nach 1945 quasi zu einer Obsession geworden, wie auch die Historiker heute bestätigen. Dabei befand sich die „Demokratisierung“ neben den territorialen Forderungen und den militärischen Faktoren im Zentrum dieser Überlegungen, was auch der Kulturpolitik ein besonderes Gewicht gab.
Die Kulturpolitik: eigenständiger Sektor oder integraler Bestandteil der Sicherheitspolitik? Die Kulturpolitik Frankreichs in seiner Zone gehört heute zu den am besten ausgeleuchteten Aspekten der französischen Besatzungszeit und erscheint als ein wichtiger Bestandteil der Sicherheitspolitik, war die Kultur doch eines der Hauptinstrumente des Demokratisierungsprozesses61. Die Interpretation der französischen Kulturpolitik hat in der Vergangenheit nichtsdestotrotz immer wieder Kontroversen ausgelöst. Genauso wie die Sicherheitspolitik unterschied sich auch die französische Kulturpolitik im besetzten Deutschland nach 1945 vom französischen Vorgehen nach 1918. Obwohl durchaus noch Vorstellungen wie „kulturelle Ausstrahlung“ und „zivilisatorische Mission“ Frankreichs im Raum standen62, war von „kultureller Durchdringung“ nicht mehr die Rede – es ging vielmehr um die „Umerziehung des deutschen Volkes“, die über eine Verknüpfung von repressiven Elementen – Entnazifizierung, Entmilitarisierung und „déprussification“ – 59 Vgl. Maelstaf 1999 [626]. 60 Vgl. Hudemann 1997 [567], S. 58–68; Wolfrum 1999 [702], S. 60 –72. 61 Eine erste zusammenfassende Übersicht bot die Dissertation von Gilmore 1973 [798] – eine Pionierleistung zu einer Zeit, als noch kein Zugang zu den offiziellen französischen Archiven bestand. Der amerikanische Forscher stützte sich auf zeitgenössische Zeugnisse und seine Arbeit in Privatarchiven wie insbesondere dem Fonds „Irène Giron“. Eine historiographische Zusammenschau der französischen Kulturpolitik Ende der 1980er Jahre bietet vor allem Bariéty 1988 [717], S. 246 –260. 62 Es ist erstaunlich, dass gewisse Autoren die französische Kulturpolitik noch heute unter diesem Blickwinkel interpretieren. Torrinani 2006 [690] fasst den für die französische Kulturpolitik typischen Wunsch nach Demokratisierung unter dem Stichwort „französischer Kulturimport“ zusammen, S. 59; auch Fassnacht 2000 [793] wählt eine vergleichbare Herangehensweise.
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mit den konstruktiven Elementen „Demokratisierung“ und „Veränderung der deutschen Mentalität“ erreicht werden sollte. Aufgrund dieser für die Zukunft Deutschlands grundsätzlichen Herausforderungen kam Rainer Hudemann zu dem Schluss, dass die Kultur kein dritter selbstständiger „Pfeiler“ der Besatzungspolitik war, sondern integraler Bestandteil der französischen Sicherheitspolitik. Schließlich hätten die Veränderung der deutschen Mentalitäten und die Erarbeitung der Voraussetzungen für eine deutsch-französische Annäherung zur neuen Sicherheitsdoktrin gehört63. Jérôme Vaillant setzt in seiner Analyse hingegen den Akzent auf die weniger traditionellen Formen der französischen Kulturpolitik, die relative Handlungsautonomie der mit der Durchführung einer solchen Politik beauftragten nachgeordneten Ebenen sowie auf kulturelle Aktivitäten außerhalb des von der französischen Militärregierung vorgegebenen Rahmens. Im Ergebnis betont er anders als Hudemann die Autonomie des kulturellen „Pfeilers“ innerhalb der französischen Besatzungspolitik64. Darüber hinaus führt Vaillant die Tatsache ins Feld, dass die Auslöschung aller mit dem Begriff „Preußentum“ verbundenen Denkweisen und Verhaltensformen mit der Freundschaft zwischen den Völkern unvereinbar gewesen sei. Seiner Meinung nach zeigt das kulturelle Wirken in der französischen Zone eine gewisse Janusköpfigkeit: Gewisse Funktionäre der Militärregierung, namentlich die Mitglieder des Bureau de l’Éducation populaire, hätten im Zusammenwirken mit Privatorganisationen auf eine Annäherung der beiden Gesellschaften hingewirkt, während die kulturellen Aktivitäten, die unter direkter Aufsicht von Raymond Schmittlein, dem Chef der Direction de l’Éducation publique (DEP), standen, „im Geist der Besatzung“65 erfolgt seien. Einige zu Beginn der 1990er Jahre entstandene Studien über die französische Kulturpolitik – hier sind vor allem die Publikationen von Stefan Zauner und Corine Defrance zu nennen – stärkten die Position Rainer Hudemanns, lassen sich doch weder die verschiedenen Akteure noch die verschiedenen Dienste der DEP gegeneinander ausspielen: Die französische Kulturpolitik war nicht widersprüchlich, sondern facettenreich und insgesamt gesehen kohärent. Die verschiedenen Initiativen waren stets so angelegt, dass sie bestimmte repressive Maßnahmen, die angesichts der Situation Deutschlands zu damaliger Zeit notwendig erschienen, mit der Öffnung für eine demokratische Zukunft66 verbanden und in dieser Verbindung alle Gruppen der deutschen Bevölkerung ansprechen sollten. Betont werden soll hier ein weiteres Mal, dass die Interdependenz und die Zusammenarbeit zwischen Regierungsvertretern und zivilgesellschaftlichen Mittlern zu den wichtigsten Charakteristika der französischen Kulturpolitik zählten (vgl. Kap. I.2)67. 63 64 65 66 67
Vgl. Hudemann 1987 [819]; ders. 1990 [567], S. 229. Vgl. Vaillant 1990 [907], S. 220. Vaillant 1987 [906], S. 64. Vgl. Defrance 1994 [762]; Zauner 1994 [918]. Vgl. Defrance 2005 [775], S. 241–256.
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Wie Corine Defrance betont, lassen sich die kulturpolitischen Maßnahmen nicht ausschließlich auf ihre sicherheitspolitischen Ziele reduzieren. Die Kulturpolitik diente gleichfalls einer Prestigepolitik im Ausland (durch Sprachpolitik, Ausstellungen, Konzert- und Theatertourneen usw.), die den Deutschen, aber auch den Alliierten zeigen sollte, dass Frankreich wieder im Begriff war, seinen „Rang“ in der Welt zurückzugewinnen68. Für die Franzosen war eine prestigeträchtige Kulturpolitik ein Mittel, um die verlorene bzw. reduzierte politische Macht zu kompensieren. In diesem Sinne war die französische Kulturpolitik im besetzten Deutschland auch „Machtersatzpolitik“69. Jenseits aller fachlichen Kontroversen ist hervorzuheben, dass sich die Historiker über die große Bedeutung der Kulturpolitik im Rahmen der Umerziehung mittlerweile einig sind. Aus diesem Grund ist auch die einst von Angelika RugeSchatz vertretene These, die französische Kulturpolitik sei nur ein Mittel gewesen, um die ökonomischen Härten der Besatzung zu lindern, heute überholt: zum einen, weil die Umerziehung einen tiefen Konflikt zwischen Besatzern und Besetzten im Rahmen der Schulpolitik hervorrief, was unvereinbar mit einer Kompensationspolitik ist70, zum anderen, weil auch die These von der wirtschaftlichen Ausbeutung der französischen Zone von den Historikern mittlerweile revidiert wurde.
Die Neubewertung der Wirtschaftspolitik Wirtschaftspolitische Studien haben gezeigt, dass trotz der unbestrittenen Härte der Wirtschaftsauflagen zu Beginn der Besatzungszeit keine exzessive Ausbeutung der Ressourcen der französischen Zone geplant war71. Eine solche Politik wäre auch dem nationalen Interesse Frankreichs zuwidergelaufen. Um aus der Zone Profit zu ziehen und diese nicht zu einer Last für den Besatzer zu machen, durfte die deutsche Wirtschaft nicht zerstört werden, sondern musste in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Mit anderen Worten: Man durfte das „goldene Eier legende Huhn“ nicht schlachten72, wohl aber das deutsche Wirtschaftspotenzial kontrollieren, auf dass es im Interesse der französischen Wirtschaft seinen Beitrag 68 Vgl. Defrance 1994 [762]; Schieder 2005 [890]. 69 Der Begriff geht zurück auf Clemens 1997 [754]. 70 Die vom französischen Besatzer konzipierte Schulpolitik, die die Koedukation und den Französischunterricht zulasten des Latein förderte und den christlichen Simultanschulen den Vorzug vor den monokonfessionellen Schulen gab, provozierte heftige Proteste in der Bevölkerung, so dass die Reform im Jahre 1947 zurückgenommen wurde, nachdem die Länderverwaltungen in der französischen Zone die Kulturhoheit zurückerhalten hatten. 71 Vgl. zur früheren Geschichtsschreibung über dieses Thema Henke 1980 [553], S. 169 – 191. 72 Zit. nach: Hudemann 2008 [567], S. 192.
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zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas73 leiste. Wenn auch einige Spezialisten die in der französischen Zone praktizierte Handelspolitik mit ihrem hohen Exportanteil nach Frankreich als Symbol für eine „Ausbeutungspolitik“ gebrandmarkt haben74, so konnte Christoph Buchheim seitdem nachweisen, dass diese Exporte in US-Dollar bezahlt wurden (Exporte, mit denen die Einfuhr von lebensnotwendigen Lebensmitteln ermöglicht werden sollte) und vielmehr von einer „Selbstausbeutung“ gesprochen werden sollte, hätte Frankreich diese Dollars doch selber gut brauchen können, um die für den eigenen Wiederaufbau nötigen Güter auf dem Weltmarkt einzukaufen75. Gleichsam am Rande einer Wirtschaftspolitik, die sich sehr viel komplexer darstellt als ursprünglich angenommen, aber ganz unbestritten auch den Interessen der Besatzungsmacht dienen sollte, sei aber auch auf die zarten Keime einer deutsch-französischen Annäherung und bilateralen wirtschaftlichen Zusammenarbeit hingewiesen76. Ab Ende der 1940er Jahre wurde diese wirtschaftliche Kooperation in einem europäischen Rahmen auch in Frankreich zunehmend als Mittel zur Kontrolle Deutschlands verstanden, mit dem zum einen die Integration des östlichen Nachbarn und zum anderen die Modernisierung der eigenen Wirtschaft ermöglicht werden sollte (vgl. Kap. I.6). Dass der facettenreiche Charakter der französischen Wirtschaftspolitik nicht immer in seiner ganzen Breite wahrgenommen wurde, lag hauptsächlich an den psychologischen Folgen, die sich aus Reparationen, Demontagen und Abholzungen innerhalb der deutschen Bevölkerung in der französischen Zone ergaben. Auch gesamtwirtschaftlich bewirkte die französische Politik keine positiven Rückwirkungen für die eigene Wirtschaft, denn wegen der interalliierten Beschlüsse verblieb Frankreich nur ein Teil der Reparationen aus seiner Zone; zudem verzögerten die Demontagen des zumeist unbrauchbaren Materials die Modernisierung des Landes. Zum Thema Entnahmen merkt Claude Lorentz übrigens an, dass sie nur 1,4 % der deutschen Zugriffe auf nationales und privates Vermögen betrugen, die Frankreich während der NS-Besatzung hatte hinnehmen müssen. Die französische Reparationspolitik kann also getrost als politischer Fehler verstanden werden, doch sah die Regierung keinen anderen Ausweg, weil die öffentliche Meinung in Frankreich es nicht verstanden hätte, wenn diese Maßnahmen nicht ergriffen worden wären77. Dazu zwei Bemerkungen gleichsam als Schlussfolgerung. Erstens: Wie in der Kulturpolitik resultierte auch ein großer Teil der Wirtschaftsmaßnahmen, z. B. die Forderung nach Internationalisierung des Ruhrgebiets und die Kontrolle über die deutsche Produktion im Kohlebergbau sowie in der eisen- und stahlverarbei73 74 75 76 77
Vgl. Bitsch 1987 [931], S. 314. Vgl. Henke, 1982 [554], Abelshauser 1983 [921], S. 111–139. Vgl. Buchheim 1990 [933]. Vgl. Lefèvre 1998 [962]. Vgl. Lorentz 1998 [617].
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tenden Industrie, aus sicherheitspolitischen Überlegungen. Zweitens: Wie auf kulturellem Gebiet gehörten verschiedene Aspekte der Wirtschaftspolitik – etwa dass die deutschen Kohlelieferungen einen beschleunigten Wiederaufbau des eigenen Landes ermöglichen sollten – zu einer allgemeinen Politik, mit der Frankreich seine nationale „Größe“ zurückgewinnen wollte. Genauso erscheint die traditionelle Einteilung in die Bereiche Sicherheit, Kultur und Wirtschaft obsolet, denn gerade die neuere Forschung hat gezeigt, dass sich die französischen Forderungen besser verstehen lassen, wenn sie in Bezug zu den politischen und territorialen Strukturen des künftigen (West-)Deutschlands gestellt werden, zu den wirtschaftlichen Maßnahmen und der Demokratisierung bzw. Umerziehung, die alle drei auf sicherheitspolitische Überlegungen und zumindest teilweise auf Erwägungen zurückgingen, die Frankreich seinen Rang und sein Prestige in der Welt garantieren sollten. Heute lässt sich der Forschungsstand zur französischen Besatzungspolitik in Deutschland insgesamt als befriedigend bezeichnen, abgesehen von einigen Teilgebieten wie der Rolle der Musik in der französischen Kulturpolitik oder der Einstellung der Besatzungsmacht zur Aufnahme von Flüchtlingen und Displaced Persons, doch sind diese Fragen Gegenstand neuester Arbeiten78. Ein bedeutendes Desiderat bleibt aber eine umfassende Synthese der französischen Besatzungspolitik, die nicht nur die Zusammenhänge zwischen den Einzelsektoren und regionalen Besonderheiten innerhalb der französischen Zone beleuchtet, sondern auch die Ziele, Realisierungen und Wahrnehmungen dieser Politik berücksichtigt und dadurch – gemessen an der Elle einer längeren Zeitspanne – ein Urteil über den innovativen Charakter der französischen Reformen erlaubt. Angesichts der fortgeschrittenen Erforschung der anderen Besatzungszonen wären für die Zukunft komparative Arbeiten wünschenswert, die auf die Besonderheiten der einen oder anderen Besatzungsmacht eingehen – oder sie differenzieren –, um ein umfassendes Bild des besetzten Deutschlands zu gewinnen.
78 Vgl. Maspero 2008 [635], S. 485–500; Linsenmann 2010 [615].
2. Zivilgesellschaft und sozio-kulturelle Beziehungen
2. Zivilgesellschaft und sozio-kulturelle Beziehungen
„Die Initiative, die General de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer ergriffen, war ein Akt des Mutes und der Vision. Diese beiden herausragenden Staatsmänner ermöglichten es unseren beiden Ländern, den Teufelskreis der Konflikte, des Hasses und der Rachgier zu durchbrechen, indem sie beide Länder aufforderten, sich ihrer Schicksalsgemeinschaft klar bewusst zu werden. In dem von ihnen vorgezeichneten Weg lernten Deutschland und Frankreich allmählich, sich zu verstehen, zusammenzuarbeiten und Bande einer wirklichen Solidarität zu knüpfen“1.
Mit diesen Worten gab Jacques Chirac wenige Tage vor dem 40. Geburtstag des Élysée-Vertrages im Jahre 2003 die interpretatorische Richtung dieses Ereignisses vor. Alles scheint also mit dem Élysée-Vertrag von 1963 angefangen zu haben und darüber hinaus mit dem Kanzler und dem General. Das ist eine typische Art und Weise, den Primat der Politik und des staatlichen Handelns zu betonen. Kann sich aber wirklich die Versöhnung auf einen von Staatsmännern vorangetriebenen Prozess zwischen zwei Staaten reduzieren lassen? Dies erscheint zweifelhaft, blendet diese Perspektive doch sowohl die Mitwirkung anderer Politiker für die deutsch-französische Annäherung als auch die Rolle der nicht-staatlichen Akteure aus2. Wer den Beitrag der „großen Männer“ und der Politik relativiert, schmälert aber nicht zwangsläufig die Rolle des Staates in den gesellschaftlichen Beziehungen. Staaten und Regierungen besitzen jedoch nicht das Monopol und die Vorherrschaft in den sozio-kulturellen Beziehungen zwischen den Ländern. Das staatliche Handeln ist vielmehr in seiner Verbindung mit einer Bewegung von unten zu sehen, weil sich Versöhnung nicht von oben „verordnen“ lässt, sondern nur durch eine tiefe Veränderung der Mentalitäten zu erreichen ist. Obwohl es bei der Erforschung der offiziellen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland in den Jahren von 1945 bis 1963 nur noch wenig Forschungslücken gibt, gilt dies nur eingeschränkt für die Rolle der Zivilgesellschaft in den deutsch-französischen Beziehungen, die erst ab den 1990er Jahren in das Blickfeld von Historikern und Sozialwissenschaftlern rückte und noch heute wichtige Forschungsdesiderata ausweist.
1 „Mit gebündelter Kraft. 40 Jahre Freundschaft können den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der EU stärken“, in: Rheinischer Merkur 3 (15. 1. 2003). 2 Vgl. Defrance, Pfeil 2005 [448].
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Die Zivilgesellschaft als Forschungsfeld der deutsch-französischen Beziehungen Wiederentdeckung und Neudefinition eines alten Konzepts Das Konzept der Zivilgesellschaft, das in den letzten 20 Jahren allgemein großes Interesse gefunden hat3, war in der Antike zur Bestimmung der Bürgergemeinschaft entstanden. In der Folge diente der Begriff vor allem dazu, den „bürgerlichen“ Raum neben der Privatsphäre zu definieren, bevor er während der Aufklärung eine semantische Entwicklung durchlief und den Prozess der Zivilisierung bezeichnete, der ihn sowohl vom Naturzustand als auch von der Barbarei unterscheiden sollte. Dieses Konzept war folglich eng mit ethisch-idealistischen Vorstellungen wie Frieden, Toleranz, Universalität verbunden und wandte sich auf diese Weise direkt gegen die absolutistische Macht. Es verkörperte die Idee einer Gesellschaft emanzipierter und verantwortungsbewusster Bürger, die sich nicht mehr auf den Status des Untertanen reduzieren lassen wollten. Mit dem Aufstieg von Kapitalismus und Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde die Bürgergesellschaft jedoch als Sphäre von Einzelinteressen wahrgenommen und in Opposition zum Staat gestellt, der nunmehr als Garant für das Gemeinwohl angesehen wurde. Ihren Höhepunkt erreichte die Kritik an der Zivilgesellschaft mit Karl Marx, der der bürgerlichen Gesellschaft vorwarf, eher auszuschließen als zu vereinen. Diese Kritik erklärt u. a., warum der Begriff der Zivilgesellschaft über lange Zeit keine Aufmerksamkeit mehr fand4. Erst Ende der 1970er Jahre erlebte das Konzept der Zivilgesellschaft mit dem Aufschwung der Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa im Zuge der KSZE in Helsinki (1975) eine Rehabilitierung. In diesem Kontext wurde der Zivilgesellschaft eine wesentliche Funktion beim Übergang von der Diktatur zur Demokratie zugeschrieben5. Im Laufe der 1980er Jahre fand das Konzept auch in den bürgerlich-liberalen Demokratien („liberal“, weil damit die Fähigkeit der Bürger gemeint ist, sich zu organisieren und ihre Autonomie gegenüber Staat und Wirtschaftsinteressen6 unter Beweis zu stellen) neuen Zuspruch. Nun stand es für den Wunsch, die „Demokratie zu demokratisieren“7. Heute besteht weitgehend Einigkeit, die Zivilgesellschaft als einen dritten Sektor zu betrachten und so eine funktionelle Unterscheidung zwischen Staat, Wirtschaft und ihr zu treffen. Aber die Grenzen zwischen diesen Sektoren sind fließend und werden weiterhin kontrovers diskutiert: 3 4 5 6 7
Vgl. dazu ausführlicher: Defrance 2010 [780]. Vgl. Kocka 2000 [140], S. 14–16; Rangeon 1986 [161], S. 9 – 32. Vgl. Hirsch 1992 [131], S. 43 f. Vgl. Cohen, Arato 1992 [112]. Adloff 2005 [99], S. 12.
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II. Fragen und Perspektiven
– Zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft: Heute besteht ein gewisser Antagonismus zwischen Zivilgesellschaft und Kapitalismus, obwohl die historischen Verschränkungen zwischen der Entwicklung von Märkten und den Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft schon immer bedeutend waren. In Bezug auf die Nachkriegszeit hat vor allem Hartmut Kaelble gezeigt, wie entscheidend Interessengruppen und Lobbyisten großer Unternehmen für die Entstehung einer Zivilgesellschaft parallel zur politischen Integration Europas waren8. – Zwischen Staat und Zivilgesellschaft: Obwohl es bisweilen zu Konflikten zwischen Zivilgesellschaft und Staat kommt, sind sie zugleich eng miteinander verbunden, braucht die Zivilgesellschaft doch u. a. den Rechtsstaat, um sich entwickeln zu können. Die zentrale Frage zum Verhältnis zwischen beiden Sektoren dreht sich um die Komplementarität und die Interdependenzen – die Frage ihrer Finanzierung über Subventionen – und auch um mögliche Formen der Instrumentalisierung. Da die idealtypische Zivilgesellschaft sich mit gewissen politischen Organisationsformen nicht verträgt, z. B. mit Diktaturen, stellt sich natürlich die Frage nach der Bedeutung oder gar den Möglichkeiten einer Zivilgesellschaft in der ehemaligen DDR: In diesem Kontext gilt es auch für unsere Thematik zu analysieren, ob es im „SED-Staat“ überhaupt transnationale Mittler(-organisationen) geben konnte angesichts des totalitären Machtanspruches der „führenden Partei“ und ihrer Versuche zur Instrumentalisierung und Kontrolle aller gesellschaftlichen Kräfte9. Trotz der Interpretationsunterschiede können verschiedene gemeinsame Punkte herausgefiltert werden, um den Begriff der Zivilgesellschaft zu definieren. Sie bildet einen Bereich, in dem Institutionen, Organisationen, soziale Bewegungen und Bürger – die sozio-kulturellen Mittler10 im besonderen Maße – zusammenwirken, die weder direkt eine politische noch eine wirtschaftliche Funktion ausüben und auch nicht der direkten staatlichen Kontrolle unterliegen, aber dennoch Einfluss auf den Staat besitzen und sein Handeln vervollständigen können. Diese Organisationen sind weit mehr als Koordinationsinstanzen für private Interessen, sind sie doch zugleich gruppenbildend und identitätsstiftend11.
8 Vgl. Kaelble 2005 [324], S. 175–176, 182. 9 Vgl. Pfeil 2004 [483]. 10 Vgl. Marmetschke 2000 [150], S. 239–257. Eine Typologie von Mittlern, die zwischen Gründern, Organisatoren und Multiplikatoren unterscheidet, findet sich bei Bock 2001 [733]; Bock 2002 [734]. 11 Vgl. Angehrn 1993 [100], S. 150; Bock 1998 [730], S. 15 f.; Kocka 2003 [140], S. 29 – 37; Kaelble 2007 [1393], S. 299 f.
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Natur und Funktion der Zivilgesellschaft in den internationalen und deutsch-französischen Beziehungen Nachdem sich die Studien zu den internationalen Beziehungen lange fast ausschließlich auf die Staaten und Regierungen konzentriert hatten, erfuhr dieses Forschungsfeld in den letzten Jahren eine beachtliche Erweiterung. Internationale Beziehungen werden nunmehr eher als ein Kommunikationssystem gesehen und nicht mehr ausschließlich als ein Machtinstrument. Aus diesem Grund wird heute eher, und besonders in Deutschland, der Begriff „transnationale“ Beziehungen gebraucht, um die Rolle aller Beteiligten – Staaten wie Gesellschaften – zu verdeutlichen und zu berücksichtigen12. Obwohl sich dieser Terminus im Gefolge der Globalisierung („transnationale Ströme“) und der mutmaßlich sinkenden Bedeutung von National- und Territorialstaaten auch in Frankreich durchsetzt, hat er noch nicht gänzlich den Begriff der „internationalen“ Beziehungen verdrängt. Als Grund lässt sich u. a. anführen, dass die Begründer der „französischen Schule“ der internationalen Beziehungen, Pierre Renouvin und Jean-Baptiste Duroselle, schon früh auf die materielle und mentale Vielfalt der forces profondes hingewiesen hatten, die das Feld dieser Beziehungen bestimmen, seien es nun die öffentlichen Meinungen, die Mentalitäten, die pressure groups oder die wirtschaftlichen und kulturellen Akteure13. In den transnationalen Beziehungen wird das Feld der Zivilgesellschaft durch die Gesamtheit der Verbände und Organisationen gebildet, die sich die bessere Kenntnis des anderen sowie den sozio-kulturellen Austausch zum Ziel gesetzt haben. Im Unterscheid zu politischen Parteien, Gewerkschaften und multinationalen Unternehmen streben diese Organisationen weder nach unmittelbar politischem oder wirtschaftlichem Gewinn noch konzentrieren sie sich auf Einzelinteressen14. Die doppelte Definition der Zivilgesellschaft muss also je nach ihrer Art und Funktion unweigerlich zu Fragen über den Ursprung und Entstehungsprozess von Organisationen und ihrer möglichen Verbindungen zu Parteien sowie ihrer wahren Ziele führen. Ganz besonders drängen sich diese Fragen im Fall der Association France-RDA auf, der französischen Freundschaftsgesellschaft mit der DDR15. Lässt ihre Nähe zur PCF, auf die sie sich jedoch nicht allein reduzieren lässt, nicht – zumindest teilweise – Zweifel an ihrem Status als zivilgesellschaftliche Organisation aufkommen? War sie nicht eine politisch aktive Spielfigur im Rahmen des Kalten Krieges und in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen zwei sich bekämpfenden Systemen? Die eingangs vorgeschlagene Definition von Zivilgesellschaft in den trans12 13 14 15
Vgl. Deutsch 1978 [191]; Kissener 2004 [825], S. 183 –201. Vgl. Milza 1998 [153]. Vgl. Bock 1998 [730], S. 18. Vgl. Badia 2000 [714], S. 453–464.
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nationalen Beziehungen führt zwangsläufig zur Marginalisierung der transnationalen sozialen Bewegungen, weil sie den nationalen Rahmen zwar überschreiten, aber weder die bessere Kenntnis des anderen noch den Austausch mit dem anderen als Ziel anstreben. Sie schließt auch Interessen- und Expertengruppen aus, die gleichwohl eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft spielen. Obwohl die Rolle der deutschen und französischen Organisationen, die die gegenseitige Annäherung und bilaterale Zusammenarbeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit betrieben haben, gar nicht überschätzt werden kann, hat es dieses Verbandswesen in den bilateralen Beziehungen schon zuvor gegeben. So charakterisierte bereits eine Vielzahl solcher Vereinigungen die Jahre des „Locarno intellectuel“ (1925–1930) in der Ära Briand-Stresemann16. In der Zwischenkriegszeit rekrutierte sich der Großteil der in der deutsch-französischen Annäherung engagierten Kreise jedoch aus dem Wirtschafts- und Bildungsbürgertum17. Diese „deutsch-französische“ Zivilgesellschaft verdankte ihre Entstehung einer kleinen Elite, die in geschlossenen Zirkeln wirkte und ohne wirkliche gesellschaftliche Anbindung war. So blieb die bilaterale Annäherung trotz aller Bemühungen auf beiden Seiten des Rheins eine brüchige Fassade, die nach den ersten nationalistischen Böen Anfang der 1930er Jahre kläglich zusammenbrechen sollte, waren die Vorstellungen vom „Erbfeind“ doch immer noch in den Köpfen von Deutschen und Franzosen verhaftet. Die atmosphärische Aufhellung im Zeichen von „Locarno“ unterstreicht vielmehr, dass die „großen Männer“ keine Versöhnung verordnen können, wenn es an der Unterstützung und Vermittlung durch die Zivilgesellschaft fehlt. Dagegen konnten sich de Gaulle und Adenauer im Jahre 1963 auf ein dichtes Netz gesellschaftlicher Vermittlungsinstanzen stützen, das Voraussetzung für den Erfolg ihres Verständigungsunternehmens war. Die Gründung des DFJW wäre u. a. ohne das Engagement und die schon vorab geleistete Arbeit dieser Vereine für die deutsch-französische Annäherung18 auf beiden Seiten des Rheins undenkbar gewesen. Nur durch die Verdichtung des zivilgesellschaftlichen Austausches zwischen Frankreich und Westdeutschland nach 1945/49 gelang es, die Idee der Annäherung und Aussöhnung zwischen beiden Gesellschaften an der gesellschaftlichen Basis zu verankern. Diskutiert werden muss weiterhin die Frage nach den Faktoren, die den Aufschwung der Zivilgesellschaften in Westdeutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg herbeiführten. In der Bundesrepublik ließ sich nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, der jegliche Form von Zivilgesellschaft radikal ausgemerzt hatte, ein neuer Elan beobachten, der entscheidend dazu beitrug, die Demokratie in Westdeutschland zu verankern und zu konsolidieren19. 16 17 18 19
Vgl. Belitz 1997 [724]; Müller 2005 [853]; Bock 2005 [737]. Vgl. Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch 1993 [726]. Vgl. Bock 2008 [740]. Vgl. Adloff 2005 [99], S. 100–107.
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Obwohl die unmittelbare Nachkriegszeit, in der es um das nackte Überleben ging, dem bürgerlichen Engagement nur wenig zuträglich war, sondern eher Züge politischer Apathie20 trug, war in den 1950er und 1960er Jahren ein Aufschwung nicht zu übersehen. Wie Jürgen Kocka zu Recht bemerkt, konnte die Zivilgesellschaft in Westdeutschland erst mit dem Verschwinden des Nationalstaates Fuß fassen, was ihre Fähigkeit unterstreicht, sich entsprechend ihrem eminent universalistischen Charakter von nationalistischen Vorstellungen zu lösen21. Obwohl auch im Frankreich der ausgehenden 1940er Jahre das zivilgesellschaftliche Engagement nur wenig ausgeprägt war, eine Tendenz, die sich in den romanischen Ländern mit ihrem geringeren Hang zum Vereinswesen allgemein beobachten lässt22, entstanden bereits gleich nach Kriegsende die ersten Organisationen, die für die bessere gegenseitige Kenntnis und die Verständigung mit dem deutschen Nachbarn warben. Auf Initiative von Jean du Rivau entstanden das Bureau international de Liaison et de Documentation (BILD) und die „Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit“ (GüZ)23. Im Jahre 1948 gründeten sich in beiden Ländern zwei sehr aktive Organisationen, die für die deutsch-französische Annäherung weitere Informationskanäle öffnen wollten: zum einen das Comité français d’Échanges avec l’Allemagne nouvelle des Philosophen Emmanuel Mounier unter Mitarbeit von Alfred Grosser als Generalsekretär und seiner Mutter als Schatzmeisterin24, und zum anderen das „Deutsch-Französische Institut“ (DFI) in Ludwigsburg, das dank der vereinten Mithilfe von Theodor Heuss, Carlo Schmid und Fritz Schenk25 fortan „als staats- und parteiunabhängiges Forum für die Begegnung und den Austausch von Vertretern ,aus allen Gebieten des geistigen und öffentlichen Lebens‘ beider Länder“26 wirkte. Das DFI betonte mit seiner Namensgebung mehr das Ziel seiner Aktion als seinen Ursprung, während das Comité Grosser bereits im Namen seinen französischen Charakter hervorhob. Diese in der Namensgebung zum Ausdruck kommende unterschiedliche Positionierung erklärt sich sicherlich durch die Zeitumstände, doch war sie auch Ausdruck für den Willen innerhalb der westdeutschen Zivilgesellschaft, sich stärker vom nationalen Kontext zu lösen, als es in Frankreich der Fall war.
Bilanz und Perspektiven Die Forschungen der vergangenen 15 Jahre über Ort und Rolle der Zivilgesellschaft in den deutsch-französischen Beziehungen erbrachten große Fort20 21 22 23 24 25 26
Vgl. Goeldel 2005 [400], S. 165–169. Vgl. Kocka 2003 [140], S. 33. Vgl. Kaelble 2007 [1393], S. 323. Vgl. Gurvel 1990 [810]; Mézières 1998 [846]; Ménudier 2002 [843]. Vgl. Albrecht 2002 [706]. Vgl. Bock 1998 [730]. Vgl. Bock 1989 [1031], S. 162.
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II. Fragen und Perspektiven
schritte27. Gut bekannt ist die Bedeutung wichtiger Vereinigungen, die zukünftige Mittler und „Multiplikatoren“ für die Verständigungsarbeit sensibilisierten; Gleiches gilt für die Gründung der ersten deutsch-französischen Gesellschaften und das Handlungsfeld von einigen wichtigen Mittlerpersönlichkeiten28. Studien fehlen hingegen noch zur realen gesellschaftlichen Verankerung des Aussöhnungsgedankens nach 1945. Erste Arbeiten vermitteln nur ein schemenhaftes Bild von der Bedeutung der „deutsch-französischen Kreise“ und der lokalen Organisationen, die zu den ersten Akteuren der Annäherung gehörten29. Diese Kreise bestanden bisweilen schon vor den Städtepartnerschaften, die ihrerseits einen ersten Erfolg der Verständigungsbemühungen darstellten, wie die Forschungen der letzten Jahre unterstreichen30. Angesichts des aktuellen Forschungsstandes sollten sich zukünftige Studien auf die folgenden Aspekte des zivilgesellschaftlichen Engagements in den deutsch-französischen Beziehungen konzentrieren.
Geographische Besonderheiten der deutsch-französischen Annäherung Bis heute hat noch kein Forscher versucht, alle deutsch-französischen, um Verständigung und Annäherung bemühten Gesellschaften zu „kartographieren“. Dabei könnte ein solcher Ansatz die lokalen und regionalen Besonderheiten dieses Prozesses – und seine Hindernisse – zu Tage fördern. In dieser Hinsicht am besten ist bisher die Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Burgund dokumentiert31. Zu fragen wäre einerseits, ob geographische Entfernung und geringere Vertrautheit mit der Partnersprache hinderlich für ein transnationales Engagement sind, was die sehr begrenzte Beteiligung von Randgebieten in Frankreich und Deutschland an der ersten Städtepartnerschaftswelle bis 1963 nahezulegen scheint32. Der Blick auf die Gründungsdaten deutsch-französischer Gesellschaften in Städten, die weit von der deutsch-französischen Grenze entfernt liegen wie Hamburg (das den Weg für Städtepartnerschaften schon 1947 öffnete), Lübeck (1949) und Kassel (1949), dokumentiert gleichwohl ein existierendes frühes Bemühen um das Wiederanknüpfen von Beziehungen zu Frankreich. In anderen Fällen erklären wohl vor allem die Unannehmlichkeiten einer weiten Reise, die Frage der finanziellen Kosten oder vielleicht das größere Interesse an anderen Orten – Hamburg war stärker nach Großbritannien orientiert – die zeitliche Verschiebung zwischen der Gründung eines deutsch-französischen Kreises und dem Abschluss einer festen Partnerschaft33. 27 28 29 30 31 32 33
Eine Bilanz ziehen insbesondere Bock, Pfeil 2005 [738]. Vgl. Bock 1998 [730]. Vgl. zum „Cercle franco-allemand“ in Bordeaux: Defrance 2005 [774], S. 149 f. Vgl. Defrance, Kissener, Nordblom 2010 [779]; Denéchère, Vincent 2010 [784]. Vgl. Teissmann 2005 [899]; Sebeke 2010 [892]. Vgl. Defrance 1996 [765]; dies. 2008 [778]. Vgl. Mehdorn 2009 [841]; dies. 2010 [842].
2. Zivilgesellschaft und sozio-kulturelle Beziehungen
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Umgekehrt wäre genauso zu fragen, ob die geographische Nähe zum Nachbarn zur früheren oder beständigeren Entwicklung der (städte-)partnerschaftlichen Beziehungen prädestinierte? Die Antwort variiert je nach Entfernung und historischem Schicksal der Partner, aber auch je nach Art der Zusammenarbeit. So kam dem Saarland, und hier besonders der 1948 gegründeten Universität des Saarlandes34, von Anfang an eine Brückenfunktion bei der deutsch-französischen Zusammenarbeit auf universitärer und wissenschaftlicher Ebene zu35. Jedoch bestand bei der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages noch keinerlei partnerschaftliche Verbindung zwischen einer Stadt aus dem Saarland und einer französischen Kommune. Die Spannungen, die um das Saarstatut entstanden waren, erwiesen sich folglich als nachhaltig. Auf französischer Seite taten sich bei den Einstellungen der französischen Bevölkerung in grenznahen Gebieten ziemlich deutliche Unterschiede auf, je nachdem ob es sich um Lothringer oder Elsässer handelte. Mehrere lothringische Städte, ob sie nun während des Krieges annektiert oder bei Frankreich geblieben waren, gingen schon früh Partnerschaften mit deutschen Städten ein, z. B. Nancy mit Karlsruhe 1955 und Metz mit Trier 1957, während im Elsass die Last der Vergangenheit ein noch viel länger andauerndes Hindernis bei der Annäherung bildete36. So sah sich der ausgesprochen proeuropäisch eingestellte Bürgermeister von Straßburg, Pierre Pflimlin, 1963 genötigt, Vertretern des bundesdeutschen Außenministeriums von der Einrichtung eines Goethe-Instituts in seiner Stadt abzuraten, weil dort noch „zu viel Misstrauen und Bosheit“37 herrsche. Dennoch bemühten sich gerade wegen der Komplexität der Situation gebildete Zirkel und Vereine am Oberrhein weiter um Vermittlung in diesem Raum, der aufgrund seiner besonderen Geschichte viele Spezifika aufwies38.
Sozio-kulturelle Milieus und prosopographische Ansätze Die soziologische Zusammensetzung der deutsch-französischen Zivilgesellschaft ist noch unzureichend bekannt, doch ließe sich diese Lücke zum einen durch Querschnitts-, zum anderen durch Fallstudien schließen, die sich auf den Werdegang sozio-kultureller Mittler konzentrieren, um dadurch die entscheidenden Erfahrungen ihres transnationalen Engagements zu entschlüsseln. Obwohl wir das Wirken der intellektuell bedeutendsten und angesehensten Mittlerpersönlichkeiten kennen, sind die diesbezüglichen Aktivitäten der namentlich zumeist nicht bekannten Mittlerkreise wenig erforscht. 34 Vgl. Küppers 1984 [829]; ders. 1987 [830], S. 161–180; Hudemann 1989 [565], S. 10. 35 Vgl. Defrance 2002 [771], S. 210; Müller 1997 [854], S. 413 – 425; Autexier 1989 [710], S. 141–144. 36 Vgl. Defrance 2010 [782], S. 199. 37 Defrance 2005 [775], S. 241–256; dies. 2010 [782], S. 145–157. 38 Vgl. Nordblom 2010 [857], S. 291–309.
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II. Fragen und Perspektiven
Das Bemühen kirchlich-konfessioneller Kreise um Annäherung und Aussöhnung hingegen zählt zu den bestdokumentierten Aspekten39. Die Rolle des schon häufig erwähnten Militärgeistlichen Jean du Rivau und des katholischen Priesters Franz Stock, des Mitbegründers des katholischen Seminars für deutsche Kriegsgefangene in Chartres40, aber auch des höchsten protestantischen Militärpfarrers in der französischen Armee, Marcel Sturm41, der 1950 den deutsch-französischen Bruderrat als Instanz zur Begegnung von Protestanten aus beiden Ländern42 ins Leben rief, ist für die Aktivitäten im kirchlichen Bereich typisch. Auch die Erforschung lokaler Initiativen erweist sich für die Bewertung des symbolisch hochwichtigen Beitrags der Kirchen für Annäherung und Wiederaussöhnung als außerordentlich fruchtbar. Michael Kißener hat derartige Kooperationen in der französischen Besatzungszone beleuchtet, so u. a. die Aktivitäten der Bewegung „Pax Christi“, die 1945 vom Bischof von Montauban, Pierre-Marie Théas, Opfer der Gestapo, aber dann Apostel der Annäherung, gegründet wurde, die 1952 erfolgte Errichtung eines „Friedenskreuzes“ im grenznahen Bühl, die bilateralen Priestertreffen, die Tätigkeit von Contact Abbé, einer Hilfsaktion zur Unterstützung von Priestern, und schließlich den Bau einer Friedenskirche in Speyer auf Initiative des Bischofs Isidor Emmanuel43. Die Ortswahl war dabei kein Zufall, entwickelte sich Speyer doch nach 1945 zum Symbol des christlichen Abendlandes, das einem Teil der deutschen Intellektuellen als geistig-moralischer Orientierungspunkt diente44. Der Weg der wichtigsten Mittlerpersönlichkeiten zeigt, dass viele von ihnen, die dem neuen Deutschland sehr früh die Hand reichten, mit katholischen, oft linkskatholischen Kreisen und der Europäischen Föderalistischen Bewegung45 verbunden waren, z. B. Emmanuel Mounier46, Joseph Rovan47 und Jean Moreau, die beiden Letztgenannten als Akteure im Bereich der Jugendarbeit und Volkserziehung48. So war in den 1950er und 1960er Jahren das Engagement für die deutsch-französische Annäherung dauerhafter und eifriger als der Enthusiasmus für ein gemeinsames Europa, das ab Ende der 1940er Jahre nur noch wenig Begeisterung entfachen konnte49. Auf deutscher Seite kamen die Anhänger einer deutsch-französischen Verständigung zumeist aus dem katholisch-rheinländischem Milieu, also aus dem Umkreis Adenauers: Anzuführen sind hier Elsie 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Vgl. Greschat 1998 [802]; Baginski 1997 [716]; Picard 2001 [874], S. 513 – 532. Vgl. Hilber 1991 [1276], S. 487–497. Vgl. Thierfelder, Losch 1999 [905], S. 208–251. Vgl. Greschat 2004 [803], S. 155–174. Vgl. Kissener 2010 [827]; Baginski 1996 [715], S. 481–508. Vgl. Conze 2005 [1115]. Vgl. Chenaux 1990 [312]. Vgl. Falbisaner 1989 [791], S. 257–279. Vgl. Rovan 2000 [65]. Vgl. Plum 2007 [877]. Vgl. Kaelble 2000 [323], S. 251 f.
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Kühn-Leitz, Gründerin des Arbeitskreises der deutsch-französischen Gesellschaften im Jahre 195750; ein anderer war Eugen Ewig51, ein junger Mediävist aus dem katholisch-abendländischen Milieu und Gründungsvater der „Deutschen Historischen Forschungsstelle“ in Paris (1958); nicht zu vergessen auch der erste diplomatische Vertreter Bonns an der Seine, Botschafter Wilhelm Hausenstein52. Mit Ausnahme von Carlo Schmid53 tat sich die sozialdemokratische Opposition schwer in diesem Kreis54. Auf bundesdeutscher Seite gab es aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit allgemein keine herausragenden Mittlerpersönlichkeiten, die Rovan oder Grosser das Wasser reichen konnten. Angemessener scheint es daher, von „Ansprechpartnern“ zu sprechen. Diese Asymmetrie erklärt sich aus dem politischen Kontext: Nach dem Trauma der deutschen Besatzung und dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands war eher die französische Seite in der Lage, den Trägern des Demokratisierungsprozesses in Westdeutschland die Hand zu reichen. Der Lebensweg der Mittlerpersönlichkeiten zeichnet sich bisweilen auch durch eine gewisse Nähe zu Résistancekreisen aus. So waren Mitglieder des Comité français d’Échanges avec l’Allemagne nouvelle im Widerstand gewesen, unter ihnen der Germanist Edmond Vermeil55 und der Schriftsteller Vercors56, deren Engagement für die deutsch-französischen Beziehungen seinen Ursprung in den Résistanceerfahrungen hatte. Diese Haltung verbindet sich oft mit den Erlebnissen in den Konzentrationslagern: Du Rivau war als Résistancekämpfer 1944 in Dachau und Mauthausen inhaftiert gewesen, Rovan im Juli 1944 in Dachau eingeliefert worden. Lucien Tharradin, der Bürgermeister von Montbéliard, hatte eine dreifache Erfahrung durchlitten: Kriegsgefangener (1940), Résistant ab 1942 und ab Oktober 1943 Häftling im KZ Buchenwald. Diese Widerstandskämpfer verfügten selbstverständlich über die größte moralische Legitimation, um den Deutschen – den demokratischen Deutschen – die Hand zu reichen. Ihre Schicksale verdeutlichen, dass die KZ – Orte des Leidens und des Todes – zugleich Orte der Begegnung zwischen ausländischen deportierten Widerstandskämpfern und internierten deutschen Demokraten waren, die ein gemeinsames Erlebnis teilten, sich kennen und bisweilen auch schätzen lernten. Die gemeinsamen Erfahrungen in der Résistance versuchte auch die DDR ab Ende der 1950er Jahre im Rahmen ihrer Anerkennungspolitik zu mobilisieren, um sich als das moralisch „bessere“ Deutschland zu präsentieren und über diesen
50 51 52 53 54 55 56
Vgl. Nass 1994 [85]. Vgl. Pfeil 2005 [87], S. 481–502. Vgl. Reuss 1995 [662]; Lappenküper 1995 [605], S. 635 –678. Vgl. Weber 1996 [97]. Vgl. Bock 1997 [729], S. 12. Vgl. Marmetschke 2005 [839], S. 503–526; dies. 2008 [840]. Vgl. Cesbron, Jacquin 1999 [71].
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II. Fragen und Perspektiven
Weg Zugang zum Milieu des französischen Widerstandes zu finden57. „Antifascisme“ à la française und Antifaschismus ostdeutscher Prägung sollten jedoch nicht verwechselt werden. Obgleich der Antifaschismus auch in Frankreich geschichtspolitische Wandlungen durchlief, bleibt festzuhalten, dass die SED ihn entleert, entkonkretisiert und entdifferenziert hatte, so dass sich der Antifaschismus in der DDR durch ein Ineinander von Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, gesellschaftlicher Umgestaltung und Errichtung der Parteidiktatur auszeichnete58. Neuere wissenschaftliche Arbeiten versuchen, die Haltung der ehemaligen Kriegsgefangenen und Résistants im Prozess der beidseitigen Annäherung zu erforschen, so Fabien Théofilakis in seiner Analyse der Rolle, die die mehr als 900 000 deutschen Kriegsgefangenen in französischen Lagern zwischen 1945 und 1948 in den Beziehungen zwischen den beiden Völkern bei Kriegsende spielten. Théofilakis stellt dabei drei Fragen: 1. Wie nahmen Deutsche und Franzosen einander wahr? 2. Welche Beziehungen bestanden zwischen den Kriegsgefangenen bei der Arbeit? 3. Welche Eindrücke sammelten diese Kriegsgefangenen nach ihrer Entlassung bei ihrer Wiedereingliederung in die deutsche Zivilgesellschaft? Anhand dieser drei Fragen lässt sich ermessen, inwieweit diese Deutschen als Mittler im Prozess der Wiederannäherung zwischen den beiden Völkern nach 1949 anzusehen sind. Darin einbeziehen sollte man auch jene mehr als 140 000 deutschen Kriegsgefangenen, die sich nach ihrer Entlassung aus der Gefangenschaft um 1949/1950 entschlossen, als Arbeiter in Frankreich zu bleiben59. Klarer hingegen zeichnet sich die Haltung ehemaliger Soldaten gegenüber dem jeweiligen Nachbarn ab. Durch ihr numerisches Gewicht und ihren moralischen Einfluss stellten diese „alten Kämpfer“, die auch die ehemaligen Kriegsgefangenen und Vertriebenen umfassten, eine sozial wichtige Gruppe in ihren jeweiligen Gesellschaften dar. Nach einer Zeit wechselseitigen Grolls und Misstrauens unmittelbar nach 1945 akzeptierte die Fédération mondiale des Anciens Combattants die Kontaktaufnahme mit deutschen Verbänden ehemaliger Frontsoldaten, und seit 195460 fanden regelmäßige Treffen statt. Ihren Höhepunkt erreichte diese Phase zwischen 1957 und 1963, wie sich u. a. an der Geschichte der 1960 geschlossenen Städtepartnerschaft zwischen Saint-Étienne und Wuppertal ablesen lässt, zu deren tragenden Kräften in den folgenden Jahren auch die ehe-
57 Vgl. Pfeil 2001 [1236], S. 487–500; ders. 2002 [1237], S. 81– 89; ders. 2010 [872]; Neubert 1999 [856], S. 43–70. 58 Vgl. Kielmansegg 1989 [1222], S. 28; Danyel 1995 [1204], S. 31– 46. 59 Vgl. Théofilakis 2004 [1251], S. 383–398; ders. 2007 [1296], S. 67– 84; ders. 2010 [904], S. 57–72. In der unmittelbaren Nachkriegszeit befand sich ungefähr eine Million deutsche Kriegsgefangene in Frankreich. Während des Krieges weilten ca. 1,6 Millionen französische Kriegsgefangene in Deutschland, von denen sich eine Million zu Kriegsende noch auf dem Gebiet des untergegangenen Reiches befanden. 60 Vgl. Wahl 1984 [1255].
2. Zivilgesellschaft und sozio-kulturelle Beziehungen
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maligen Kriegsgefangenen und Frontkämpfer gehörten61. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass ihre Einstellung zur deutsch-französischen Annäherung maßgeblich vom Kalten Krieg und der lokalen spezifischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bestimmt wurde. So löste 1960 das Projekt einer Städtepartnerschaft zwischen der von der PCF regierten Stadt Drancy 20 Kilometer nordöstlich von Paris und dem ostdeutschen Stalinstadt, das im Zuge der Entstalinisierung der DDR im November 1961 in „Eisenhüttenstadt“ umbenannt wurde, wegen der Vergangenheit Drancys als Sammellager für Juden, die von dort direkt in die Vernichtungslager transportiert wurden, quer durch Frankreich heftige Proteste aus. Die meisten Verbände ehemaliger Frontkämpfer und Deportierten reagierten empört und selbst die kommunistisch ausgerichtete Fédération Nationale des Déportés, Internés, Résistants et Patriotes durchlief einen Spaltungsprozess. Aber Maurice Nilès, Bürgermeister und Abgeordneter von Drancy, beharrte auf seiner Absicht mit exakt dem gleichen Argument wie das DDR-Regime („Jeder von uns in der DDR weiß im Gegensatz zu Westdeutschland, dass die Wurzeln des Nationalsozialismus und Militarismus ausgerissen sind“) und setzte die Partnerschaft 1963 durch62. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre lehnte die Vereinigung ehemaliger Frontsoldaten in Béziers jegliche Verbindung zum Verband der Heimkehrer in Heilbronn trotz der schon bestehenden Städtepartnerschaft wegen der Erschießung von 18 Geiseln durch die Deutschen am 7. Juni 1944 kategorisch ab; dieses Trauma blieb eine unüberwindliche Barriere63. Ein wahrscheinlich marginales, aber kaum erforschtes Gebiet der deutschfranzösischen Annäherung betrifft Persönlichkeiten, die sich im „Dritten Reich“ und während der Naziherrschaft in Frankreich kompromittiert hatten und die sich nach 1945 Vereinen anschlossen, die sich um gegenseitiges Verständnis und Annäherung bemühten. Dazu gehörte Gustav Krukenberg, ehemaliger Kommandeur der 33. SS-Waffengrenadierdivision „Charlemagne“, der von 1926 bis 1930 das Pariser Büro des „Mayrisch-Komitees“64 geleitet hatte und sich in den 1960er Jahren im Arbeitskreis der deutsch-französischen Gesellschaften engagierte, in dem er einen Vorstandsposten bekleidete. Mag es sich hier auch um einen Extrem- und Ausnahmefall handeln, so waren Kontinuitäten von Kollaboration und Kooperation in diplomatischen wie intellektuellen Kreisen keine Einzelfälle65. Eine lokale Studie zeigt, dass die französische Gründerin der Deutsch-Französischen Gesellschaft in Kassel – übrigens der einzige bislang bekannte Fall, dass eine Französin nach dem Krieg die Initiative zur Gründung einer deutsch-französischen Gesellschaft in Deutschland ergriff – wahrscheinlich aus dem Wunsch heraus handelte, ihre Anwesenheit in Frankreich während der Besatzung an der 61 62 63 64 65
Vgl. Cochet 1997 [755], S. 123–135; ders. 2003 [756], S. 293 – 304. Vgl. Rössner 2007 [880], S. 135–139; ders. 2010 [881], S. 73 – 88. Vgl. ebd., S. 129–132. Vgl. Müller 2005 [853], S. 137 f. Vgl. Taubert 2007 [1250], S. 51–65.
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II. Fragen und Perspektiven
Seite ihres Ehemannes, der als deutscher Offizier für die „Organisation Todt“ arbeitete, „wiedergutzumachen“66. Eine weitere Frage betrifft die Nationalität der Mittler und ihre grenzüberschreitenden Erfahrungen. Es ist kein Zufall, dass die beiden bekanntesten Mittlerpersönlichkeiten, Joseph Rovan und Alfred Grosser, deutsche Emigranten waren, welche die französische Staatsbürgerschaft annahmen. Die einflussreichste Mittlerpersönlichkeit auf deutscher Seite, Carlo Schmid, war Kind deutsch-französischer Eltern und verfügte über eine doppelte Kulturerfahrung67. In dieser Hinsicht erscheinen neue Studien dringlich, die sich mit dem Engagement bzw. dem Nicht-Engagement von Kindern für die deutsch-französische Kooperation beschäftigen, die aus deutsch-französischen Beziehungen stammen, d. h. während der deutschen Besatzung Frankreichs (auch Kinder von französischen Zwangsarbeitern in Deutschland/STO68) und der französischen Besatzung eines Teils von Deutschland nach 1945 gezeugt wurden. Alfred Grosser bezeichnete die deutsch-französischen Ehen nicht zu Unrecht als „Humankapital“ für das bilaterale Verhältnis69. Der soziologisch-prosopographische Ansatz ermöglicht schließlich auch den Blick auf eventuell noch bestehende Verbindungen persönlicher oder struktureller Art zu den deutsch-französischen Kreisen und Gesellschaften, die im Geist von „Locarno“ entstanden waren, was die Frage nach den Brüchen und Kontinuitäten zur Zwischenkriegszeit hervorruft. In der Person von Edmond Vermeil haben wir das Beispiel einer Mittlerpersönlichkeit, die schon vor 1933 auf diesem Feld aktiv war, doch schob sich mit Rovan und Grosser70 nach 1945 eine neue Mittlergeneration in den Vordergrund, die mit Anfang/Mitte zwanzig ihre Arbeit als „passeur“ zwischen beiden Seiten des Rheins aufnahm.
Die unterschiedlichen Phasen des gesellschaftlichen Engagements Wenn wir das Wirken der Zivilgesellschaft am jeweiligen Zustand der deutsch-französischen Bemühungen messen und es besser verstehen wollen, müssen wir die Gründungszeiten der Vereinigungen, die sich um den deutschfranzösischen Austausch bemühten, und die Zeit ihres Handelns kennen, um die mentalen Barrieren zu verstehen, welche die Gründervätergeneration zu über66 Florin 2010 [796], S. 175–186. Die „Organisation Todt“ war eine nach militärischem Vorbild organisierte Bautruppe, die vor allem für Baumaßnahmen in den von Deutschland besetzten Gebieten eingesetzt wurde und hier am Bau des „Atlantikwalls“ und der Abschussrampen der V1- bzw. V2-Raketen beteiligt war. 67 Vgl. Weber 2001 [171], S. 469–486; Strickmann, 2004 [897]. 68 Vgl. Bories Sawala 1996 [1200]; vgl. auch Arnaud 2010 [1195]. 69 Vgl. Musée des Alliés/AlliiertenMuseum, 2005 [855], S. 35; Virgili 2004 [1333]; Picaper, Norz 2004 [1289]; Picaper 2005 [1290]; Virgili 2009 [913]. 70 Vgl. Grosser 1997 [55]; vgl. auch Varro, Gebauer 1997 [909].
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winden hatte, bevor die deutsch-französische Verständigung schließlich einen gesellschaftlichen Konsens fand: So zeigt die Wachstumskurve deutsch-französischer Städtepartnerschaften für das Jahr 1963 eine deutliche Wende (1950 –1958: 25 Partnerschaften; 1958 –1963: mehr als 100 Partnerschaften; 1967: 400 Partnerschaften71), was die These bestätigt, dass der Élysée-Vertrag einen mentalen Motivationsschub bedeutete, jedoch nicht als „Stunde Null“ in der deutsch-französischen Annäherung zu verstehen ist. Dieses deutsch-französische Netzwerk muss zudem zu der öffentlichen Meinung in Bezug gesetzt werden, die in der Anfangsphase (bis zu Beginn der 1950er Jahre), als die ersten gemeinsamen Projekte das Tageslicht erblickten, noch stets ein negatives Bild vom Nachbarn zeichnete72. Daran erinnerte 1950 Lucien Tharradin, Senator und Bürgermeister von Montbéliard, der den ersten Partnerschaftsvertrag mit einer deutschen Stadt (Ludwigsburg)73 schloss: „Die Wunden dieses furchtbaren Krieges sind noch nicht geheilt. In den Herzen schlummern noch zu viele schlimme Erinnerungen. Zu viele Verbrechen trennen diese beiden großen Völker, die sich innerhalb von siebzig Jahren dreimal zerfleischten […]. Sich auf beiden Seiten zähneknirschend und mit dem Finger am Gewehrabzug zu belauern und bereit zu sein, erneut den Krieg in die Welt zu tragen, ist für beide Völker kein vernünftiger Dauerzustand […]. Auf Hass kann nichts aufgebaut werden, und jene, die sich heute am unversöhnlichsten zeigen, gehören vielleicht zu denen, die am stärksten vor den Unterdrückern gekrochen sind“74.
Es sei auch daran erinnert, dass die damalige Germanophobie als Hebel für gewisse Kreise diente, ihr in den vorangegangenen Jahren ramponiertes gesellschaftliches Ansehen wiederzugewinnen. Die Angriffe auf das Comité français d’Échanges avec l’Allemagne nouvelle im Jahre 1949 unterstreichen die Sensibilität, mit der die Gründervätergeneration der deutsch-französischen Annäherung stets zu rechnen hatte. Man beschimpfte deren Protagonisten als „neue Kollaborateure mit kurzer Erinnerung“75. Wir sollten also nicht aus dem Auge verlieren, dass die Zeit bis Ende der 1950er Jahre eine Gründerzeit war, der auf zivilgesellschaftlicher Ebene in den 1960er Jahren das „goldene Zeitalter“ folgte, in dem Begegnungen und Kooperation zur Normalität wurden.
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Vgl. Defrance 2008 [775], S. 197. Vgl. Hüser 1993 [578], S. 19–64; Wolfrum 1995 [1102], S. 567– 582. Vgl. Dickel 1986 [785], S. 81 f.; Azam 1998 [711], S. 103 –110. Allemagne [bulletin du Comité français d’Échanges avec l’Allemagne nouvelle] 8 (août– septembre 1950), Artikel von Lucien Tharradin, rencontre de maires français et allemands à Stuttgart. 75 L’époque, 29. 4. 1949, Artikel von Verdurin abgedruckt in: Allemagne 2 (juin–août 1949) unter dem Titel „Le Comité au pilori“.
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II. Fragen und Perspektiven
Konzepte und Handlungsmuster der sozio-kulturellen Akteure In diesem Kontext gilt es außerdem die Dynamik der verschiedenen Handlungsträger und die Synergieeffekte zwischen den Einzelaktionen und dem Aufbau von Netzwerken zu beleuchten76. So bezog der Bürgermeister von Montbéliard die 1950 begründete Städtepartnerschaft mit Ludwigsburg ausdrücklich auf den einige Wochen zuvor vom französischen Außenminister („SchumanPlan“) beschrittenen Weg. Tatsächlich waren seit der Besatzungszeit Kooperationsformen zwischen offiziellen Stellen und der Zivilgesellschaft entwickelt worden, die sich durch eine wohlverstandene Komplementarität auszeichneten (vgl. Kap. I.6)77. Die Militärregierung hatte nicht nur mit Privatorganisationen kooperiert, sondern auch einige ihrer Mitglieder (z. B. Joseph Rovan) als Mittler gewinnen können, die sich in den Dienst der Besatzungsmacht stellten. Während der Übergangsphase zwischen 1949 und 1955 sah das französische Hochkommissariat seine Hauptaufgabe darin, der Zukunft der deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen (Begegnung und Austausch) Dauerhaftigkeit zu verleihen78. Die (Vor-)Geschichte des 1963 gegründeten DFJW war dabei beispielhaft für das Zusammenwirken von Zivilgesellschaft und Regierungsvertretern, wie an der Zusammensetzung seines Kuratoriums abzulesen war79. Der Hauptbeitrag der zivilgesellschaftlichen Organisationen, insbesondere der größten unter ihnen, bestand in der konzeptionellen Erneuerung der kulturellen Beziehungen und ihrer praktischen Umsetzung: Junge Deutsche und Franzosen sollten sich selbst ein Bild vom Leben und der Kultur des Nachbarn machen bzw. sich mit den Gegebenheiten auf der anderen Seite des Rheins vertraut machen. Alfred Grosser gehörte zu jenen, die ein Konzept von Begegnung definierten, das später als „erweiterter Kulturbegriff“ zu den Grundpfeilern der auswärtigen Kulturpolitik gehörte: „Die Definition des Wortes Kultur müsste […] wesentlich weiter gefasst werden. Es handelt sich nicht alleine nur um Literatur und Kunst, sondern auch um Jugendarbeit, Unterricht, Kinoklubs, Wahlsoziologie und Gemeindeverwaltung […]. Eine derartige Konzeption setzt selbstverständlich eine beträchtliche Erweiterung der Klientel voraus, die sich am kulturellen Austausch beteiligt. Es ist wichtiger, Facharbeiter, Techniker, Journalisten, Lehrer, Gewerkschafter und Landwirte zu erreichen als einige, wahrscheinlich hoch kultivierte Kreise, die für die tiefgreifende Entwicklung nur eine unbedeutende Rolle spielen“80.
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Vgl. Beilecke 2005 [104]. Vgl. Moreau 1993 [851]; ders. 1984 [850]; Defrance 2005 [775]. Vgl. Plum 2002 [876]. Vgl. Bock 2008 [740], S. 34–38. Zit. nach: Defrance 2005 [775], S. 251.
2. Zivilgesellschaft und sozio-kulturelle Beziehungen
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Diese Erweiterung des Kulturbegriffs markiert ganz ohne Zweifel den Hauptunterschied zur Annäherung während der Zwischenkriegszeit und erlaubte die zivilgesellschaftliche Verwurzelung der deutsch-französischen Verständigung. Werfen wir nun einen Gesamtblick auf die in der Nachkriegszeit entstandenen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Netzwerke, dann ist bezüglich ihrer Zielsetzungen durchaus zu differenzieren. Die einen konzentrierten sich vor allem auf die Beziehungen zwischen Frankreich und Westdeutschland (z. B. das DFI, das Comité français d’Échanges avec l’Allemagne nouvelle und die „Internationale Bürgermeister-Union“, in deren Rahmen bis Ende der 1960er Jahre die meisten westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften zustande kamen); andere strebten in einen größeren europäischen Rahmen wie das Centre d’Échanges internationaux, die „Deutsche Auslandsgesellschaft Lübeck“ und der „Rat der Gemeinden und Regionen Europas“, der beim Abschluss bilateraler Partnerschaften eine bedeutende Rolle spielte81, weil er die bilaterale Annäherung auf kommunaler Ebene als eine notwendige Voraussetzung für die europäische Integration deutete82. Neben diesen Hauptorganisationen existierte noch die den „progressiven“ Kreisen nahestehende Fédération mondiale des Villes jumelées (FMVJ)83, die sich für den Erhalt des Weltfriedens einsetzte und die organisatorische Grundlage für die Unterzeichnung von ostdeutsch-französischen Partnerschaften (z. B. Drancy/ Stalinstadt) bot. Mit ihr im gleichen Boot saß die für die DDR werbende Freundschaftsgesellschaft Échanges Franco-Allemands, deren Verhältnis zur FMVJ nicht frei von Spannungen war, weil sie trotz ihres proklamierten Ziels, Verbindungen mit beiden deutschen Staaten zu unterhalten, ihre Anstrengungen allein auf die DDR konzentrierte84. Nicht alle zivilgesellschaftlichen Vereinigungen handelten nach dem gleichen Muster. Die größten unter ihnen hatten vor allem Jugendliche und Multiplikatoren wie Studenten und Journalisten im Visier, die eine Relaisfunktion zu den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ausüben sollten. Diese Organisationen gaben zum Aufbau von Netzwerken und zur Weiterleitung von Informationen „Vereinsnachrichten“ und Zeitschriften heraus, organisierten je nach lokaler Initiative Konferenzen, Treffen, „deutsch-französische Wochen“ und manchmal auch Sprachkurse, womit sie oftmals den Abschluss von ersten Städtepartnerschaften erleichterten85.
81 Vgl. Bock 2008 [740], S. 22–27; Palayret 2003 [861], S. 85 –113. 82 Konflikte ergaben sich bisweilen zwischen französischen und deutschen Bürgermeistern, wenn der eine Mitglied im Conseil des Communes d’Europe, der andere aber in der Union internationale des Maires war, so im Fall der Städtepartnerschaft zwischen Frankenthal und Colombes; vgl. dazu Dümmer 2010 [789], S. 189 – 203. 83 Vgl. Grossin, Guellier 1977 [805]; Grossin 1988 [806], S. 959 – 970. 84 Vgl. Yèche 2008 [585], S. 119–133. 85 Vgl. Defrance 2007 [777], S. 17 f.
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II. Fragen und Perspektiven
Die Städtepartnerschaften bilden die innovativste „Erfindung“ der deutschfranzösischen Zivilgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg86, auch wenn in den 1930er Jahren schon einige wenige dieser jumelages – in einem allerdings höchst spezifischen politischen Kontext87 – bestanden. Der in der französischen Sprache gebrauchte Begriff jumelage tauchte erst gegen Ende der 1950er Jahre auf und besaß in seinem Ursprung eine gänzlich andere Bedeutung: Jumelage kann um das Jahr 1873 herum erstmals in einem militärischen Kontext nachgewiesen werden und bedeutete damals die Kopplung von Feuerwaffen aller Art – heute steht das Wort für die symbolträchtigste Aktivität der deutsch-französischen Aussöhnung. Städtepartnerschaften öffneten eine neue lokale Bühne für demokratisierte Formen transnationaler Beziehungen und unterschieden sich dadurch deutlich vom Elitedenken der Zwischenkriegszeit. Sicherlich gab es auch außerhalb des deutsch-französischen Rahmens derartige Beziehungen auf kommunaler Ebene (die ersten Städtepartnerschaften der Nachkriegszeit überhaupt schlossen deutsche und englische Städte: 1947 z. B. Bonn und Oxford, Düsseldorf und Reading sowie Hannover und Bristol), aber erst in den deutsch-französischen Beziehungen erreichten sie ihre volle Entfaltung88. Sie entstanden 1948/49 aus den ersten Kontakten zwischen französischen und westdeutschen Bürgermeistern, deren Treffen anfangs in einem Drittland – der Schweiz – ausgerichtet wurden mit maßgeblicher Unterstützung des „Berner Schriftsteller-Vereins“89 und der Regierungen in Paris und Bonn. Städtepartnerschaften eröffneten ab 1955/57 aber auch der DDR die Möglichkeit, den Kontakt zu kommunistisch regierten Kommunen in Frankreich aufzunehmen, um über diesen „zivilgesellschaftlichen“ Weg die von der Bundesregierung 1955 verkündete Hallstein-Doktrin auszuhebeln und der staatlichen Anerkennung durch Frankreich einen Schritt näher zu kommen. Die Bundesregierung wies Paris wiederholt auf die Aktivitäten des „anderen“ deutschen Staates auf diesem Feld hin, so dass die französische Regierung diesen Anstrengungen einen Riegel vorschob und ostdeutschen Vertretern bis Ende der 1960er Jahre in der Regel das Einreisevisum verweigerte90. So boten die deutsch-französischen Städtepartnerschaften einen besonders interessanten Fall asymmetrischer Dreiecksbeziehungen: Interaktion, Konkurrenz und – manchmal auch – Manipulation zwischen Akteuren im staatlichen Auftrag und Vertretern der Zivilgesellschaft. 86 Vgl. Hobsbawm, Ranger 1983 [132]. 87 Vgl. Defrance 2008 [778], S. 190. 88 Vgl. Chombard-Gaudin 1992 [749], S. 60–77; Vion 2003 [911], S. 559 – 582; Farquharson, Holt 1975 [792]; Bock 1994 [727], S. 13–35; Girod de l’Ain, Banoun 1996 [799], S. 122 –128; Santini 1993 [888], S. 333–336; Engelhardt 1978 [790], S. 127; Defrance 2008 [778], S. 190. 89 Vgl. Defrance 1996 [765], S. 83 f.; Lauret 1949 [835] Ott 1952 [859]; Sommer 1959 [894], S. 2 f. 90 Vgl. Pfeil 2004 [483]; ders. 2004 [865], S. 146–165; ders. 2004 [866], S. 141–161; Herrmann 2004 [816], S. 356–385; Simoneau 2010 [888], S. 255 – 269.
2. Zivilgesellschaft und sozio-kulturelle Beziehungen
177
Entgegen der vom französischen Staatspräsidenten anlässlich der Feier zum 40-jährigen Jubiläum des Élysée-Vertrages 2003 vertretenen Meinung hat die deutsch-französische Annäherung nicht erst 1963 begonnen und beruhte nicht allein auf dem Wirken der Staatsmänner beider Länder. Wenn wir den „Mythos 1963“ dekonstruieren wollen, sollten wir aber zugleich aufpassen, nicht neue Mythen zu konstruieren. Die Behauptung von Bernard Lallement, vormaliger Präsident der 1984 gegründeten Fondation des Associations Franco-Allemandes (FAFA), dass der tiefe Versöhnungs- und Freundschaftswillen bei Deutschen und Franzosen im Jahre 1945 bereits existiert habe, weil sich beide als „Opfer des gleichen kriminellen Irrsinns gefühlt hätten“91, entspricht ebenso wenig der damaligen Realität. Im Jahre 1945 war es noch zu früh gewesen, um von „Versöhnung“ zu sprechen: Die größten Optimisten erahnten vielleicht eine Annäherung, doch war der künftige Weg für die Gesellschaften auf beiden Seiten des Rheins noch weit. Sicherlich bot die Frühphase bereits ermutigende Vorzeichen, aber man sollte sich davor hüten, sie überzubewerten. Selbst nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages bestand westlich wie östlich des Rheins noch Zurückhaltung bezüglich der westdeutsch-französischen Annäherung und Zusammenarbeit. Erst die praktizierte Kooperation auf den verschiedenen Ebenen ab Mitte der 1960er Jahre ließ noch existierende Vorbehalte nach und nach verschwinden.
91 Lallement 1999 [110], S. 96–102.
3. Frankreich, die Bundesrepublik
und die DDR: eine asymmetrische Dreiecksbeziehung
3. Frankreich, die Bundesrepublik und die DDR
Der Platz der DDR in den deutsch-französischen Beziehungen Mit dem Untergang des „anderen“ Deutschlands verschwand auch die Erinnerung an die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen, wie u. a. das 2006 erschienene deutsch-französische Schulgeschichtsbuch verdeutlicht1. Schon in den Zeiten der deutschen Teilung konnte sich der Verdacht aufdrängen, dass sich der bundesdeutsche Alleinvertretungsanspruch auch in den Köpfen der Historiker und Politologen festgesetzt hatte und die DDR nicht mehr als Teil des deutsch-französischen Beziehungsgeflechtes mitgedacht wurde, so dass Gerhard Kiersch im Jahr des Mauerfalls zu Recht von einen „vergessenen Bereich der deutsch-französischen Beziehungen“ sprach2. Auch die beachtlichen Erfolge ostdeutscher „Kulturschaffender“ in Frankreich3 erhöhten die Aufmerksamkeit der französischen Öffentlichkeit nur phasenweise. Ausnahmen bilden die Studien von Friedhelm Meyer zu Natrup, der sich bis 1989 am umfassendsten mit den Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich beschäftigt und die bilateralen Verflechtungen in den Bereichen Politik, Kultur und Wirtschaft untersucht hat. Er beschränkte sich jedoch auf einen parallelen vergleichenden Ansatz, der ihn unweigerlich zu dem Ergebnis kommen ließ, dass die Bemühungen der DDR in allen Bereichen zum Scheitern verurteilt waren und sie die „alte“ Bundesrepublik auch auf diesem Feld weder einholen noch überholen konnte4. Propagandistische Zwecke verfolgte die 1978 veröffentlichte Geschichte der DDR-Freundschaftsgesellschaft in Frankreich, die dank ihrer hagiographischen Züge aber einen wichtigen Ausschnitt eines bestimmten französischen DDR-Bildes bietet5. In Gesamtdarstellungen wurden die Spezifika der ostdeutsch-französischen Beziehungen zumeist gänzlich ignoriert oder wie in den Betrachtungen von Raymond Poidevin und Jacques Bariéty aus dem Jahre 1977 als Anhängsel separat behandelt6. Als
1 2 3 4 5 6
Vgl. Histoire/Geschichte 2006. Dazu kritisch: Defrance, Pfeil 2006 [1043]. Kiersch 1989 [463]; vgl. jetzt auch: Röseberg 2004 [1089]. Vgl. Steinkühler 1971 [895]; ders. 1972 [1094]; Lindemann, Müller 1974 [218]. Vgl. Meyer zu Natrup 1988 [479]; ders. 1989 [478]. Vgl. Castellan, Lenoir 1978 [1040]. Vgl. Poidevin, Bariéty 1977 [487], S. 343 f.; Ménudier 1993 [476]; Binoche 1996 [442]; Leblond 1997 [470], S. 148–150; Ziebura 1997 [503].
3. Frankreich, die Bundesrepublik und die DDR
179
zwei Teile eines gemeinsamen Ganzen wurden die Bundesrepublik und die DDR im Rahmen der deutsch-französischen Beziehungen nur noch gedacht, wenn die deutsche Frage wie im Fall der „Neuen Ostpolitik“ unter Willy Brandt in Bewegung geriet und die besonderen Rechte Frankreichs als ehemalige Siegermacht betroffen waren7. Vor diesem Hintergrund kann es nur wenig überraschen, dass sich der Begriff der „deutsch-französischen Beziehungen“ bzw. „relations francoallemandes“ in den allgemeinen Sprachgebrauch selbstredend für die Kontakte zwischen der Bundesrepublik und Frankreich eingebürgert hatte, trotz einer sehr aktiven DDR-Forschung in Frankreich8. Obwohl der Zugang zu den Archiven der ehemaligen DDR den Historikern gleich nach 1990 ermöglicht wurde, änderte sich an dem ungenügenden Forschungsstand anfangs kaum etwas. Wenig befriedigen konnten dabei die vereinzelten Artikel, die ungeachtet der guten Quellenlage die Öffnung der Archive der staatlichen Organe der DDR, der SED und der Massenorganisationen allerhöchstens partiell wahrnahmen9. Größere Quellenkritik wird in Zukunft bei der Verwendung von Artikeln der parteilichen Presseorgane der SED und der Blockparteien erforderlich sein, die wichtige Hinweise zu den Propagandastrategien von Staat und Partei liefern, deren Informationswert jedoch anhand von Archivquellen stets zu überprüfen ist10. Quellenkritik ist auch bei der Analyse von Schriften aus dem kommunistischen und philokommunistischen Milieu Frankreichs gefragt11, deren Interpretation eine Kontextualisierung des kommunistischen Diskurses erfordert, um die politische und ideologische Dimension dieser Schriften zu verstehen. Wenn wir uns heute nun fragen, welchen Ort die DDR in einem deutschfranzösischen Beziehungsgeflecht einnimmt12, drängt sich auch für dieses Forschungsfeld der insbesondere vom Potsdamer Historiker Christoph Kleßmann verfochtene Ansatz einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte auf, in der DDR und Bundesrepublik trotz staatlicher Teilung und eigenständiger Entwicklung in ihrer Gegensätzlichkeit aufeinander bezogen blieben. Die wechselseitige Bezugnahme und Beeinflussung war in dieser beziehungsgeschichtlichen Perspektive13 zu allen Zeiten asymmetrisch, konnte die Bundesrepublik doch problemlos ohne die DDR existieren, während der westliche Teilstaat für die Machtelite und die Bevölkerung der DDR stets die Referenzgesellschaft blieb, „mit der man sich aggressiv auseinandersetzte oder an der man sich insgeheim in seinen materiellen und politischen Wünschen zumindest partiell orien7 8 9 10 11 12 13
Vgl. Wilkens 1990 [499]; ders. 1990 [1099]. Vgl. Claussnitzer 1990 [111]; Kott 1997 [142]; dies. 2006 [143]. Vgl. Keiderling 1992 [1046]; Sirjacques-Manfrass 1996 [672]; Metzger 1995 [638]. Vgl. Metzger 1999 [477]; dies. 2006 [639]. Vgl. Yèche 2009 [502]; dies. 2009 [501]. Vgl. Wolfrum 2000 [181]; Pfeil 2004 [484]. Vgl. Klessmann, Sabrow 1996 [136]; Fulbrook 1992 [397]; François 1993 [124]; Bender 1996 [383]
180
II. Fragen und Perspektiven
tierte“14. Da die DDR ein Staat ohne jede demokratische und zugleich ohne nationale Legitimation war15, blieb die Bundesrepublik dabei für die SED bis 1989 eine permanente lebensbedrohende Herausforderung, der sie sich auch auf dem Feld der deutsch-französischen Beziehungen stellte. Die Analyse der Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich bietet somit nicht alleine Einsichten in die Geschichte der ostdeutschen Außenbeziehungen und die Handlungsmuster der SED16; vielmehr ist stets von einem deutsch-deutsch-französischen Dreiecksverhältnis in der bipolaren Ordnung des Kalten Kriegs auszugehen17. Diese These wird zudem durch die französischen und westdeutschen Archive gestützt, die zahlreiche Hinweise dafür bieten, dass die DDR von den Trägern der westdeutsch-französischen Beziehungen auf den unterschiedlichsten Ebenen häufiger als bislang angenommen mitgedacht wurde. Dies gilt nicht nur für die „große Politik“, sondern auch für die gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen18. Die zunehmenden Aktivitäten des zweiten deutschen Staates in Frankreich boten dabei den Trägern der bundesdeutschen Kulturarbeit eine willkommene Argumentations- und Legitimationshilfe, um sich bei den ressourcenverteilenden Instanzen in Bonn die geforderten Mittel zu beschaffen19. Während Hudemann in der Existenz der DDR einen Hemmschuh für eine stärkere westdeutsch-französische Dynamik sieht20, legt der Blick in die Archive eher die These nah, dass sich die Verdichtung des westdeutsch-französischen Beziehungsnetzes in den 1950er und 1960er Jahren nicht zuletzt durch die deutsch-deutsche Rivalität erklären lässt, belebte doch auch hier Konkurrenz das Geschäft. Wer sich heute mit den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 beschäftigt, sollte daher nie die Fragen aus den Augen verlieren, welche Rolle die französische Seite in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung spielte, welche Bedeutung der ostdeutschen Seite für die westdeutsch-französischen Beziehungen zukam und in welcher Form die westdeutsche Seite auf die ostdeutsch-französischen Kontakte einwirkte. Dieses Postulat gilt sowohl für die höchsten zentralen Entscheidungsinstanzen der drei beteiligten Staaten als auch für die regionale und lokale Ebene. Gerade der „Blick von unten“, der über die Auswertung der Bestände in den verschiedenen Landes-, Départements-, Betriebs- und Stadtarchiven zu erreichen ist, verspricht in Zukunft weitere vertiefende Aufschlüsse zu der bislang nur ansatzweise bekannten Vielfalt in der deutsch-französischen ménage à trois zwischen 1945/49 und 199021. 14 Klessmann 2003 [137], S. 246. 15 Vgl. Mählert, Wilke 2004 [148]; Möller 2007 [154], S. 4. 16 Vgl. dazu Siebs 1999 [236]; Scholtyseck 2003 [234]; Wentker 2004 [240]; ders. 2007 [241]; Pfeil 2000 [225]; ders. 2001 [226]; Kuppe 2003 [214]. 17 Vgl. Pfeil 2004 [483]. 18 Vgl. Herrmann 2004 [556]; ders. 2004 [816]; Pfeil 2004 [866]. 19 Vgl. Pfeil 2005 [868]; ders. 2008 [1162], S. 13; Bock 2007 [739], S. 129 f. 20 Vgl. Hudemann 2010 [458], S. 71. 21 Vgl. Herrmann 2005 [557].
3. Frankreich, die Bundesrepublik und die DDR
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Das inoffizielle Dreiecksverhältnis – eine politische Perspektive Die Frankreichpolitik der DDR war zwischen 1949 und 1973 von zwei Bestimmungsfaktoren dominiert: erstens der Sowjetunion, zweitens der Bundesrepublik. Während die Regierung in Bonn ihre Handlungsspielräume gegenüber dem Westen relativ schnell erweitern konnte, unterlag die DDR von Beginn ihrer Existenz an den Zielen und Interessen ihrer östlichen Hegemonialmacht, für die sie auch in späteren Jahren in erster Linie als „Handlanger“ unverzichtbare deutschlandpolitische Dienste leistete, um deren dauerhaften und maximalen politischen Einfluss in Europa und Deutschland zu sichern. Auf gemeinsamer ideologischer Grundlage bestimmten KPdSU und SED als Parteien der jeweils „herrschenden Arbeiterklasse“ die Leitlinien der sozialistischen Außenpolitik und sahen es als ihre Hauptaufgabe an, die „günstigsten internationalen Bedingungen“ für den Aufbau des Sozialismus zu sichern. Bei aller prinzipieller Übereinstimmung darf in dieser Beziehung zwischen den „Bruderparteien“ aber nie das Abhängigkeitsverhältnis übersehen werden, das die SED unter die politische Kuratel Moskaus stellte und Michael Lemke fragen lässt, ob man in der Phase zwischen 1949 und 1956 überhaupt von einer DDR-Außenpolitik ausgehen kann22. Als Ausdruck dieser hegemonialen Beziehungshierarchie wies die Sowjetunion der DDR in der „abgestimmten“ Frankreichpolitik beider Staaten in regelmäßiger Folge westpolitische Aufgaben zu und erwartete ihre umgehende Realisierung. Obwohl die DDR dabei über eine Handlangerfunktion nur selten hinauskam, konnte sie sich bei dem Versuch, die Integrationsbemühungen des Westens zu unterlaufen, unentbehrlich machen und erwarb erste Handlungsspielräume. Dabei traten bereits Anfang der 1950er Jahre Interessenunterschiede auf, als sich Ulbricht schon für den eigenstaatlichen Weg entschieden hatte, während sich die Sowjetunion eine endgültige deutsche Option noch offenhielt und die DDR in ihrer Notenpolitik 1952 als Faustpfand einsetzte. Gerade in Frankreich setzte Moskau auf den „Stalingrad-Effekt“ und das Misstrauen des national denkenden Milieus gegenüber der Westintegration. Dabei übersah der Kreml jedoch, dass die Vorstellung eines bündnisfreien Gesamtdeutschlands im Herzen Europas weder in der französischen Öffentlichkeit noch bei den politischen Entscheidungsträgern mehrheitsfähig war. Die schwankende Grundstruktur der sowjetischen Deutschlandpolitik und die unsichere Machtposition der SED, die ihren Offenbarungseid vor der Weltöffentlichkeit beim „Volksaufstand“ vom 17. Juni 1953 leistete, waren auch den Beobachtern in Paris nicht entgangen. Die selbstbewusst vorgetragenen Friedensappelle der DDR-Regierung an das französische Volk konnten ihre gedachten Empfänger auch deshalb nicht erreichen, weil die SED nicht in der Lage war, die ihre Propaganda kennzeichnende konstitutive Widersprüchlichkeit aufzulösen. Nach außen präsentierte sie zwar einen 22 Vgl. Lemke 2001 [217].
182
II. Fragen und Perspektiven
pazifistischen Diskurs, nach innen trieb sie jedoch die Militarisierung der Gesellschaft unter Verwendung westlicher Feindbilder weiter voran23. Die „asymmetrische Verflechtung in der Abgrenzung“24 zwischen den beiden deutschen Staaten ließ sowohl Bonn als auch Ost-Berlin einen Alleinvertretungsanspruch und eine Magnettheorie formulieren, um die Sogkraft des anderen zu „demagnetisieren“. Während die Bundesrepublik auf die Westintegration setzte und diese nicht zuletzt durch die Existenz einer kommunistischen Diktatur auf deutschem Boden auch schnell die Akzeptanz der großen Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung fand, zielte die als antiwestlicher Staat konzipierte DDR nach ihrer Gründung auf eine kurzfristige nationalstaatliche Wiedervereinigung Deutschlands nach „antifaschistisch-demokratischem“ Modell und damit auf eine revolutionäre Ausdehnung ihrer eigenen sozialistischen Ordnung auf die Bundesrepublik. Da DDR-Außenpolitik in dieser Periode synonym mit Deutschlandpolitik war, ging es der SED bei dem Aufbau eines bilateralen Beziehungsnetzes mit Frankreich nie um Wechselseitigkeit. Ihre Frankreichpolitik war ein Baustein in dem Versuch, die DDR als souveränen und alternativen deutschen Staat zu legitimieren25. Nachdem die beiden deutschen Staaten Mitte der 1950er Jahre in ihre Bündnisse integriert worden waren und sich aus dieser Stellung heraus scheinbar zu Grundsteinen der europäischen Stabilität entwickeln konnten, bestanden für die DDR im Rahmen ihrer „Zwei-Staaten-Theorie“ nun auch operative Handlungsspielräume für die Gestaltung von Außenbeziehungen. Auch wenn sie aus innenpolitischen Erwägungen weiterhin am Ziel der deutschen Einheit festhalten musste, führte die SED ab 1956/57 in Abgrenzung und Konkurrenz zur Bundesrepublik eine Anerkennungspolitik, die ihr Einflüsse auf Drittländer und Teilbereiche der westdeutschen Gesellschaft sowie eigene wirtschaftliche Vorteile bescheren sollte26. Diese Politik traf auch in Frankreich auf das bundesdeutsche Wiedervereinigungsgebot, das an einer deutschen Staatsangehörigkeit, am Fortbestand der deutschen Nation und der völkerrechtlichen Isolierung der DDR festhielt. Indem sich die ostdeutsche Regierung um den Ausbau ihres Kommunikationsnetzes in Frankreich bemühte und u. a. nach Kontakten zu Sozialisten und Gaullisten, zur Assemblée nationale, zum Senat und zu weiteren offiziellen Einrichtungen des französischen Staates Ausschau hielt, versuchte sie die HallsteinDoktrin zu unterlaufen, ihrer eigenen internationalen Anerkennung näherzukommen und die eigenstaatliche Entwicklung unumkehrbar zu machen. Ab den 1960er Jahren war zur Erreichung dieser Ziele eine Gleichzeitigkeit von Kooperationsbereitschaft und Abgrenzungswille zu erkennen, die sich durch das Beharren auf politischen Dogmen bei simultanem Anpassungsdruck an westliche Kommunikationsformen auszeichnete. 23 24 25 26
Vgl. Wüstenhagen 2008 [1106]. Vgl. Bauerkämper, Sabrow, Stöver 1998 [381], S. 9 ff. Vgl. Pfeil 2001 [651]. Vgl. Lemke 2001 [290], S. 514; Pfeil 2002 [653]; Golz 2003 [199].
3. Frankreich, die Bundesrepublik und die DDR
183
Die SED versuchte diesen zunehmenden Widerspruch zu überspielen, indem sie ihren Staat als eigenständigen Faktor in die deutsch-französischen Beziehungen einzubringen gedachte und ihn als Garanten eines friedlichen Deutschlands präsentierte, das die Lehren aus der Vergangenheit gezogen habe. Sie malte zugleich das Bild einer Bundesrepublik, in der immer noch die alten Kräfte am Werk seien, die Frankreich dreimal innerhalb von 70 Jahren mit Krieg überzogen hätten. Mit dieser Politik konnte die DDR in Frankreich Achtungserfolge in der deutsch-deutschen Systemauseinandersetzung verzeichnen und profitierte von einem gewissen „Underdog-Reflex“, der ihr angesichts der zunehmenden wirtschaftlichen Stärke der Bundesrepublik quasi von alleine zufiel. Während der DDR die in allen politischen Milieus weiterhin anzutreffende Distanz gegenüber dem mächtigen Nachbarn östlich des Rheins von Nutzen war, blieb die Bundesrepublik für die Ostdeutschen ein permanenter Magnet, dessen Ausstrahlungskraft die SED durch außenpolitische Erfolge einschränken musste, um die innenpolitische Labilität zu überdecken und sie zu einem gewissen Maße zu kompensieren27. Die ständig steigenden finanziellen Aufwendungen des West- bzw. Frankreichapparats im SED-Herrschaftssystem waren dabei Ausdruck jener asymmetrischen Beziehungsebene in der Abgrenzung, die sich für die DDR angesichts der ständigen politisch-gesellschaftlichen Herausforderung durch die Bundesrepublik zu einer immer schieferen Ebene entwickelte. Schon damalige Beobachter konnten sich nicht des Eindrucks erwehren, dass der orthodoxe Kurs der SED weniger Ausdruck innerer Stärke als vielmehr existentielle Notwendigkeit war28. Dabei spielte es eine entscheidende Rolle, dass es der DDR nicht gelang, den ständigen Ziel-Mittel-Konflikt der Doktrin von der „friedlichen Koexistenz“ zu überwinden: Während sie sich von Frankreich politische Anerkennung und bilateralen Respekt erhoffte, blieb sie ideologisch weiterhin auf Konfrontation und unterstützte u. a. in Algerien die Gegner des „imperialistischen“ Frankreichs29. Obwohl die deutsche Teilung in allen politischen Milieus Frankreichs mit mehr oder weniger offen gezeigter Sympathie beobachtet wurde, ignorierte die Pariser Deutschlandpolitik den SED-Staat bis in die 1960er Jahre tunlichst und blieb stets auf die Bundesrepublik konzentriert. Zum Sinnbild dieser Politik wurde der Abschluss des Deutsch-Französischen Vertrages im Jahre 1963, der den SED-Führern das Scheitern ihrer bisherigen Frankreich-Politik vor Augen führte. Auch als ab 1964 die westdeutsch-französischen Missverständnisse über den Élysée-Vertrag offen zu Tage traten, gab de Gaulle Ulbricht nicht die Gelegenheit, die Bundesrepublik in den deutsch-französischen Beziehungen zu überholen, ohne sie einzuholen. Instrumentell setzte er Pankow in seiner „Politik der Nadelstiche“ ein, um Bonn seinen Ärger zu demonstrieren und wieder näher an sich zu bin27 Vgl. Richert 1974 [230]. 28 Vgl. Fricke 1969 [198]. 29 Vgl. Bougherara 2006 [517], S. 83 ff.
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II. Fragen und Perspektiven
den. Auf die Nachricht des damaligen Informationsministers Alain Peyrefitte im Jahre 1965, dass die deutsche Presse von einer Anerkennung der DDR durch Frankreich schreibe, antwortete der General: „Das würden die Deutschen verdienen, aber ich werde trotzdem Pankow nicht anerkennen“30. Erschwerend kam für die SED hinzu, dass de Gaulle zwar eine Reihe kommunistischer Staaten in den 1960er Jahren besucht hatte und mit ihnen eine verstärkte Kooperation anstrebte, die DDR jedoch bei dieser Reisediplomatie ausklammerte und ihr somit keine gleichrangige Stellung zubilligte. Obwohl sich die Bonner Politiker und die westdeutsche Öffentlichkeit nie ganz sicher waren, ob Frankreich nicht doch eines Tages den Lockungen aus OstBerlin erliegen und die DDR vorzeitig anerkennen würde, erwiesen sich die westdeutsch-französischen Beziehungen in den 1950er und 1960er Jahren als stabilisierendes Moment für den bundesdeutschen Staat. Während die SED nicht zuletzt durch die nicht zu stoppende Ausreisewelle sowohl innen- wie außenpolitisch zunehmend in die Defensive geriet, ebnete Frankreich der Bundesrepublik als gleichberechtigter Staat den Weg in den Westen. Nicht hoch genug ist der Einfluss einzuschätzen, den die verschiedenen französischen Präsidenten und Regierungen auf die gesellschaftliche Akzeptanz der Westintegration in der Bundesrepublik ausübten31. Symptomatisch war, dass sich das Vertrauen der Westdeutschen in ihren eigenen Staat im Moment der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages einem neuen Höhepunkt näherte32. Westintegration und wirtschaftlicher Aufstieg wirkten auf die nationale Herausforderung demagnetisierend und ließen die DDR mehr und mehr zu einer Negativfolie werden. Die Achse Paris–Bonn und der Ausbau der gesellschaftlichen Kontakte waren vor diesem Hintergrund ein Anzeichen für das zunehmende Desinteresse der Westdeutschen an ihren „deutschen Brüdern im Osten“ und für die Öffnung der bundesdeutschen Gesellschaft nach Westen.
Das inoffizielle Dreiecksverhältnis – eine bilderreiche Perspektive Es gehörte zu den Charakteristika des Kalten Krieges in Europa, dass die Systemauseinandersetzung nicht mit militärischen Mitteln geführt wurde, sondern diese durch Propagandakampagnen nach innen und außen in Verbindung mit wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen verschiedenster Art ersetzt wurden. Die mit einem enormen organisatorischen und materiellen Aufwand betriebene auslandsinformatorische Arbeit der DDR gegenüber Frankreich, die sich ab 1957/58 ganz der Anerkennungspolitik verschrieben hatte, reiht sich in den 30 Peyrefitte 1997 [64], S. 276. 31 Vgl. Dreyfus 1984 [1047]. 32 Vgl. Defrance, Pfeil 2005 [446].
3. Frankreich, die Bundesrepublik und die DDR
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Kanon dieses ideologischen Wettstreits ein, konnte ihr Hauptziel jedoch nicht erreichen. Zwar erhöhte sich in den 1960er Jahren der Druck auf die von der Bundesrepublik aufrechterhaltene Hallstein-Doktrin, doch weder die politischen noch die außenhandelspolitischen und kulturpolitischen Komponenten der DDR-Außenpolitik konnten sie zu Fall bringen. Auch wenn die Regierung in Paris die Anerkennungsbewegung zunehmend in ihre innen- und deutschlandpolitischen Überlegungen einbeziehen musste, reichte das Eigengewicht der DDR nicht aus, um einen Keil zwischen Paris und Bonn zu treiben. Obwohl es der SED-Anerkennungspolitik nicht gelang, die DDR vor dem Grundlagenvertrag (1972) und der Aufnahme in die UNO (1973)33 als gleichberechtigten souveränen Staat in den internationalen Beziehungen zu etablieren, verdeutlicht der Blick auf Frankreich aber auch, dass die DDR bereits in den 1960er Jahren dank ihrer gezielten Imagepolitik als singuläre Identität wahrgenommen wurde. Über das kommunistische Milieu hinaus hatte sie mit ihren kulturellen Leistungen und ihrer wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb des östlichen Lagers auf sich aufmerksam gemacht. Die kulturelle Präsenz der DDR in Frankreich und ihr Selbstverständnis, als Vermächtnisverwalter von Autoren wie Bertolt Brecht („patrie de Brecht“34) zu fungieren, verstärkten das Bild von einem alternativen deutschen Staat und fügten zu ihrer geopolitischen Realität im Jahre 1949 eine identifizierte Existenz in den 1960er Jahren hinzu. Das kulturelle Konstrukt „DDR“ ließ sich nun mit seinen unterschiedlich fixierten Facetten über die ab 1957/58 angelegten Kommunikationskanäle exportieren und über die gewonnenen Bildträger vermitteln. Über die weltanschaulichen Grenzen hinweg hatte die SED in den unterschiedlichen kulturellen und politischen Milieus in Frankreich über den Kontakt zu opinion leaders und Milieuöffnern ihr Aktionsfeld ausdehnen können, so dass bundesdeutsche Beobachter negative Folgen für die westdeutsch-französischen Beziehungen vorhersagten und Bonn immer öfter bei französischen Regierungsstellen vorstellig wurde. Zuträglich war dieser Entwicklung, dass die Kulturbeziehungen durch weltpolitische Ereignisse weniger in Mitleidenschaft gezogen wurden. So traten französische Künstler auch nach der Niederschlagung der Aufstände in Polen (Juni 1956) und Ungarn (Oktober 1956) und der französischen Beteiligung an der Suezkrise im November 1956 in der DDR auf, so dass bereits in dieser frühen Phase eine Beziehungsnormalität auf niedrigem Niveau entstand. Die „antifaschistische“ DDR profitierte dabei von der Tatsache, dass sie im Lager linker französischer Intellektueller nahezu bis zu ihrem Ende eine Projektionsfläche für utopische Entwürfe einer nicht-kapitalistischen (deutschen) Gesellschaft blieb, was mehr über diese Personengruppe als über die DDR aussagte. Auffällig war dabei, wie bei der Perzeption der ostdeutschen Kulturproduktion der politisch-ideologische Rahmen ausgeblendet wurde, in der sich diese vollzog. 33 Vgl. Soutou 2006 [682]. 34 Vgl. Wenkel 2007 [497].
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II. Fragen und Perspektiven
Eine besondere Brückenfunktion kam dabei dem antifaschistischen Legitimationskonstrukt zu35, das den Widerstand gegen den „Faschismus“ in einen teleologischen Geschichtsentwurf einbettete, in dem das sozialistische Aufbauwerk in der SBZ/DDR zu einem „Vermächtnis“ der im „Kampf“ gefallenen Opfer stilisiert wurde36. Nachdem der Antifaschismus-Mythos durch narrative und mediale Konstruktionen symbolisch verdichtet worden war und z. B. durch Gedenkstätten wie Buchenwald zu einer erlebbaren Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart geworden war, konnte er nun auch massiv in der transnationalen Kommunikation mit Frankreich eingesetzt werden, um die DDR als das moralisch „bessere“ Deutschland zu präsentieren. Die SED instrumentalisierte den Antifaschismus als transnationalen Kitt, indem sie alte französische Feindbilder gegenüber Deutschland an die Bundesrepublik zu heften versuchte (vgl. Kap. II.5). Ohne die Wirkung überbewerten zu wollen, verschaffte der Antifaschismus der DDR bereits vor ihrer offiziellen Anerkennung eine bis dahin nicht gekannte innenpolitische Legitimation, die für den ostdeutschen Staat auch eine stabilisierende Wirkung auf internationaler Bühne besaß. Nachdem die sogenannten „Moskau-Kader“ die Westemigranten unter maßgeblichem Einfluss von Walter Ulbricht bis Mitte der 1950er Jahre aus den führenden Stellen in Politik und Gesellschaft entfernt und auf diese Weise ihren eigenen Herrschaftsanspruch dokumentiert hatten, zeigte die SED ab Ende der 1950er Jahre eine vorher nicht gekannte Bereitschaft, die Erinnerung an Exil und Emigration in Frankreich und anderen westlichen Ländern – in einem eng definierten formalisierten Rahmen – zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Westpolitik zu machen. Nun wurden Persönlichkeiten vorgeschickt, die wie Franz Dahlem37 und Gerhard Leo38 in der französischen Résistance gekämpft hatten und besonders im kommunistischen Milieu Frankreichs weiterhin über eine gute Reputation verfügten. Dorothee Röseberg zögert dabei nicht, auch ihnen den Status eines deutschfranzösischen Mittlers zuzusprechen: „Die offensichtliche Präsenz französischer Kultur in den 40 Jahren der DDR-Geschichte […] verbietet es, den Kulturtransfer zu leugnen und dessen Akteure nicht als spezifische Mittler zwischen den Kulturen anzusehen“39. Ulrich Pfeil stellt seinerseits nicht die Existenz von Transferprozes35 Vgl. Süchting-Hänger 1998 [1095]. 36 Vgl. Brinks 1997 [1202]; Pfeil 2000 [1325]; Leide 2006 [1229]. 37 Franz Dahlem war nach 1945 Abgeordneter der Volkskammer und im ZK sowie im Politbüro des ZK der SED aktiv, u. a. als Leiter der Abteilung Kader und Organisation und des Büros für „Parteiaufklärung“. 1953 fiel er wie viele Westemigranten in Ungnade und wurde von allen Staats- und Parteifunktionen entbunden. Nach seiner Rehabilitierung arbeitete er ab 1955 im Ministerium für Hochschulwesen, seit 1967 als stellvertretender Minister. 1957 wurde er kooptiertes Mitglied des ZK der SED und 1963 auch wieder Abgeordneter der Volkskammer; vgl. Ackermann 1996 [1300]. 38 Gerhard Leo war zwischen 1963 und 1967 politischer Instrukteur im Apparat des ZK und übernahm im Oktober 1967 die Leitung der Abteilung Außenpolitik beim SEDParteiorgan „Neues Deutschland“. 39 Röseberg 2008 [1090], S. 262; vgl. auch Röseberg 2004 [1088].
3. Frankreich, die Bundesrepublik und die DDR
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sen in Bereichen wie Literatur und Theater in Frage40, zögert jedoch, den in der SED engagierten Westemigranten den Status von Kulturmittlern zu verleihen. Trotz ihres nicht zu leugnenden Einflusses innerhalb des kommunistischen Milieus in Frankreich war ihre Aufgabe nie, wechselseitiges Verständnis für andere Denkweisen zu wecken und trennende Gegensätze zu überwinden. Ihre handlungsweisende Kategorie blieb die Klasse, deren Interessen sie der Versöhnung zwischen den Völkern vorzogen. Während sich das zivilgesellschaftliche Engagement der „bürgerlichen“ Mittler durch das Fehlen eines macht- und parteipolitischen Kalküls auszeichnet41, sind die Aufgabenbereiche der transnational wirkenden Verbindungspersonen kommunistischer Provenienz gerade auf dieser Ebene anzusiedeln. In Anlehnung an den Essay von Julien Benda „La Trahison des clercs“ (1927) muss auch ihr Engagement für die Klassengesellschaft als Verrat an den universellen Werten angesehen werden, denn sie ließen sich zielgerichtet für politische Zwecke instrumentalisieren und betätigten sich weder als Virtuosen der kulturellen Übersetzungsarbeit noch als Artisten in der Verschmelzung ganzer Werthorizonte, was zu einer Grundvoraussetzung für den kontinuierlichen Ausbau der westdeutschfranzösischen Kulturbeziehungen wurde (vgl. Kap. II.2). Aus heuristischen Gründen erscheint es uns zudem wenig hilfreich, die kulturellen Beziehungen zwischen Ost und West in der Zeit des Kalten Krieges durchgehend mit der gleichen Begrifflichkeit zu belegen, wie sie sich für die von Interaktion, Zirkulation und Verflechtung charakterisierten kulturellen Austauschprozesse42 zwischen Ländern mit einer liberal-bürgerlichen Gesellschaftsordnung eingebürgert hat. Frankreich und der Bundesrepublik war es ab den 1950er Jahren gelungen, nach den Zeiten der Besatzungen den Kulturaustausch als ein kommunikatives (und kein dominantes) Verständnis von (kulturellen) Beziehungen zu definieren bzw. Reziprozität als Grundvoraussetzung für einen wechselseitigen Prozess zwischen Partnern zu akzeptieren, in dem einer der Partner die von ihm gewählten Bereiche seiner eigenen Kultur exportiert bzw. zur Kenntnis bringt, gleichzeitig aber auch bereit ist – im Kontakt mit dem anderen –, Teile der anderen Kultur zu akzeptieren und ihren Import zuzulassen bzw. zu fördern43. In seiner kulturgeschichtlichen Einführung in die deutsch-französischen Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert kommt Hans Manfred Bock zu dem Schluss, dass der allergrößte Teil des transnationalen Kulturaustauschs „vermittels gesellschaftlicher Organisationen und Initiativen von Gruppen oder Einzelpersonen“ erfolge, während die offiziellen Kulturbeziehungen in Obhut der Regierungen nur „die Spitze des Eisberges“44 darstellten.
40 Vgl. Bary 1999 [1028]. 41 Vgl. Marmetschke 2000 [150]. 42 „Jedes kulturelle Leben beruht auf dem Austausch, ist auf ,Importe‘ angewiesen“, schreibt Jurt 2008 [822], S. 202. 43 Vgl. Milza 2000 [265]. 44 Bock 1996 [728], S. 60.
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Entsprechend ihrem marxistisch-leninistischen Selbstverständnis versuchte die SED hingegen, das kulturelle Leben in der DDR und damit auch die Kulturbeziehungen zum Ausland so weit wie möglich zu kanalisieren und einer politischen Fremdbestimmung zu unterwerfen. Ein Beispiel für dieses Selbstverständnis war die zu einer reinen Kaderorganisation degradierte „Deutsch-Französische Gesellschaft der DDR“ (Deufra), die eine direkte Reaktion auf den Ausbau der westdeutsch-französischen Kontakte war und sich in ihrer Arbeit dialektisch in der Negation an der Bundesrepublik orientierte. Die Organisationsstruktur dieser 1962 gegründeten Vereinigung war Ausdruck für den auf dem MarxismusLeninismus beruhenden demokratischen Zentralismus und den allumfassenden Machtanspruch der SED, so dass die Deufra nie über den Status einer Koordinierungsstelle für die kulturpolitischen Beziehungen nach Frankreich hinauskam und dabei zugleich Kontrollinstrument blieb, mit dem die SED als „führende Partei“ die Frankreichkontakte der ehemaligen Westemigranten zu überwachen gedachte45. Ziel blieb bis 1973 immer die internationale Anerkennung und daraus abgeleitet die Erzeugung eines DDR-freundlichen Klimas im westlichen Ausland, um über die Gewinnung von möglichst einflussreichen Persönlichkeiten im anderen Land die gesteckten politischen Ziele zu erreichen. Dabei ging es der SED bei der kulturellen Auslandsarbeit nie um die Beförderung eines Kulturaustausches mit dem Westen zum Zweck des transnationalen Dialogs, wie auch Hermann Wentker in seinem Standardwerk zur DDR-Außenpolitik bemerkt: „Zum einen erhielten die gesellschaftlichen Subsysteme in der DDR nie die Autonomie, die ihnen in pluralistisch-demokratischen Systemen zukommt, so dass sich die zentralen Akteure weiterhin im Staatsapparat finden. Zum anderen war ein Signum der DDR ihre nicht nur nach Westen gerichtete Abschottung nach außen, was transnationale Beziehungen im Sinne gesellschaftlicher Austauschprozesse jenseits von Politik und Wirtschaft erheblich erschwerte“46.
Die von der DDR betriebene Anerkennungspolitik brachte sie schnell in einen Zielkonflikt, hatte sie doch bei der Durchsetzung ihres Herrschaftsmonopols nach innen alle zivilgesellschaftlichen Initiativen mit ihrem interaktiven bzw. kommunikativen Charakter so weit wie möglich ausgeschaltet. Genau diese benötigte sie aber jetzt, um sich in ihren Imagekampagnen als eine kommunizierende Gesellschaft zu präsentieren. Sie wollte dieses Ziel über eine zivilgesellschaftliche Fassade erreichen und sich daher nicht völlig gesellschaftlichen Begegnungen über den „Eisernen Vorhang“ hinweg verweigern. Wohl oder übel sah sie sich gezwungen, Kommunikationslöcher im „antifaschistischen Schutzwall“ zuzulassen, die das Informationsmonopol der SED zwar nicht aufheben konnten, aber doch einschränkten und so einen bescheidenen Platz für Öffentlichkeit 45 Vgl. Pfeil 2002 [653], S. 84 f. 46 Wentker 2007 [241], S. 17.
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schufen. Der beschleunigte Ausbau des Stasi-Apparates nach der internationalen Anerkennung 1973 deutet jedoch auch darauf hin, welche Gefahr die SED in den sich ausdehnenden Kontakten mit dem Westen sah. Die von der DDR seit den 1950er Jahren geleistete Kontaktarbeit blieb in Frankreich nicht ohne Erfolg und wurde durch das französische Deutschlandbild erleichtert, in dem traditionell Platz für mehrere „Deutschländer“ war und das stets den gesamten germanophonen Raum im Blick behielt. Auch wenn das DDR-Bild durch Ereignisse wie den 17. Juni 195347 und den Mauerbau immer wieder eingetrübt wurde, profitierte der ostdeutsche Staat davon, dass er sich in Frankreich weniger dem Systemvergleich mit der Bundesrepublik stellen musste. Indem als Vergleichsmaßstab für die DDR eher die anderen Volksdemokratien des Ostblocks herangezogen wurden, konnte sich das Bild eines wirtschaftlich reüssierenden und politisch stabilen Staates herausbilden, von dessen Existenz auch angesichts der unbeweglich erscheinenden Fronten des Ost-West-Konflikts in Zukunft auszugehen war. Obgleich die politische und kulturelle Landschaft Frankreichs dem DDRBild und seiner Verbreitung Entwicklungsmöglichkeiten eröffnete, markierte sie auch seine Grenzen. Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Industrieländern erwiesen sich die Stärke der PCF und ihre Brückenkopffunktion nur auf den ersten Blick als günstiger Faktor. In der Tat erleichterten die französischen Genossen nach einer diffizilen Anlaufzeit der DDR ihre Bemühungen um den Aufbau eines breiten Kommunikationsnetzes ab Ende der 1950er Jahre. Partei, Gewerkschaft und Freundschaftsgesellschaft waren stets erste Ansprechpartner, wobei gerade die EFA, die spätere Association France-RDA, darum bemüht war, hinter dem überparteilichen Erscheinungsbild die tatsächliche Dominanz der PCF zu kaschieren. In der praktischen Arbeit wollte sie in Frankreich über die DDR informieren und die Beziehungen koordinieren. Insgesamt machte aber die fehlende Koordination von internationalistischen bzw. klassenkämpferischen Ansprüchen und nationalen Interessen die Parteibeziehungen zwischen SED und PCF immer wieder zu einem Drahtseilakt. Da die DDR als ideologischer Musterknabe des kommunistischen Lagers wenig Flexibilität zeigte, wurden weltanschauliche Gemeinsamkeiten von machtpolitischen Differenzen überlagert und ließen die Beziehungen zur PCF zu einem spannungsreichen Feld ihrer Westpolitik werden48. Auch im linken nicht-kommunistischen Milieu Frankreichs besaß die DDR ihre Möglichkeiten. Viele seiner Angehörigen sahen in der Existenz der DDR eine Garantie für die europäische Sicherheit und den Frieden und nahmen ostdeutsche Kulturprodukte mit erstaunlicher Aufgeschlossenheit wahr. Förderlich wirkte zudem das fehlende Vertrauen französischer Sozialisten in die Bonner Sozialdemokraten. Doch auch wenn für die DDR dabei immer wieder Krümel vom 47 Vgl. Pfeil 2003 [654]. 48 Vgl. Pfeil 2001 [652].
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Tisch fielen, die sie als Bestätigung für ihre Politik auffasste, verhinderte die repressive Politik der SED in ihrem eigenen Land weiter gehende Erfolge. Zugleich musste Ost-Berlin mit ansehen, wie die gesellschaftliche Öffnung und die größere außenpolitische Flexibilität Bonns in den 1960er Jahren das Bild der Bundesrepublik weiter aufhellten, während die parallel dazu verlaufenden Abschottungsbestrebungen der SED die DDR im deutsch-deutschen Wettstreit auf französischem Boden wieder zurückwarfen. „Es gibt wohl kein vergleichbares historisches Beispiel eines Staates, der so fixiert auf seinen Nachbarn war und sich zugleich so demonstrativ und polemisch ständig von ihm abgrenzte wie die DDR in der Ära Ulbricht. Abgrenzung und Fixierung gehörten geradezu zu den konstitutiven Merkmalen dieses Staates“49, unterstreicht Christoph Kleßmann mit Blick auf die Außen- und Deutschlandpolitik der DDR. Diese Feststellung trifft auch auf die Beziehungen des zweiten deutschen Staates mit Frankreich zu, das innerhalb der Westpolitik neben Italien „Schwerpunktland“ war und damit zu einem Spielfeld für die deutsch-deutsche Auseinandersetzung wurde. Von Beginn an war die DDR dabei im Nachteil, waren die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Westzonen und Frankreich doch bereits vor der Gründung der beiden deutschen Staaten über erste Ansätze hinausgekommen. Unter der Ägide Moskaus unternahmen die Regierenden in Ost-Berlin mit dem Mittel ihrer auf moralisch-ideologischen Fundamenten aufbauenden alternativen Außenpolitik daher den Versuch, ihrerseits einen Fuß in die deutsch-französischen Beziehungen zu bekommen. Die Kontakte zur kommunistischen Bruderpartei boten dabei eine erste Anlaufstation, doch um im Beziehungsgefüge der deutsch-französischen Beziehungen mit dem westdeutschen Konkurrenten rivalisieren zu können und der ab 1956/57 betriebenen Anerkennungspolitik eine gewisse Dynamik zu verleihen, bedurfte es des Aufbaus von Beziehungen zu offiziellen bzw. regierungsamtlichen Vertretern Frankreichs. Allein dieser Umgang mit dem „Klassengegner“ versprach Einflussnahme auf das außenpolitische Handeln der Verantwortlichen in Paris. Die SED-Strategen wurden bei diesem Vorgehen jedoch stets mit der klassischen außenpolitischen Handlungssituation konfrontiert, bei der „mehr oder minder souveräne Akteure oder doch zumindest im formalen Sinn rechtlich unabhängige politische Einheiten versuchen müssen, ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu regeln, ohne dass eine sie alle überwölbende Herrschaftsinstanz existiert und ohne dass die institutionalisierte Möglichkeit besteht, bindende Entscheidungen zu treffen, für die Gehorsam in aller Regel erwartet werden kann“50. Für die durch den Ost-West-Konflikt geprägten Beziehungen mit den westlichen Staaten musste sich die SED auf deren Spielregeln einlassen und konnte sich nicht auf das Herrschafts- und Deutungsmonopol berufen, das für ihre Innenpolitik bestimmend war. 49 Klessmann 1997 [409], S. 447. 50 Rohe 1994 [164], S. 114.
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In den Augen der Regierenden in Paris war die DDR ein sich wandelnder, aber beständiger Faktor in den deutschlandpolitischen Überlegungen und erwies sich zu verschiedenen Momenten als nützliches Instrument zur Untermauerung der eigenen Interessen gegenüber Bonn. Von den Gaullisten bis zu den Sozialisten, die sich nach 1945 im Interesse der eigenen Sicherheit in dem Ziel einig waren, „zwischen der Selbstentfaltung der stärksten Nation in der Mitte des europäischen Kontinents und der Freiheit und Sicherheit der übrigen Nationen Europas einen dauerhaften Ausgleich zu finden“51, stellte sich bei diesen geostrategischen Überlegungen weniger die Frage nach dem „besseren“ Deutschland, sondern nach dem gewichtigeren Deutschland, und das war die Bundesrepublik. Der immer in nationalstaatlichen Dimensionen denkende de Gaulle hatte die Bundesrepublik schon sehr früh aufgefordert, im Interesse eines Zusammengehörigkeitsgefühls über die Mauer hinweg die gesellschaftlichen Kontakte zwischen den beiden deutschen Staaten nicht abreißen zu lassen, achtete aber peinlich darauf, Frankreich Einwirkungsmöglichkeiten bei einer möglichen deutschen Vereinigung offenzuhalten. Einer französischen Denktradition folgend erkannte der General die Verbindungen zwischen geographischer und historischer Entwicklung, so dass er den Bau des „antifaschistischen Schutzwalles“ zwar als Eingeständnis der Schwäche des „Régime de Pankow“ interpretierte, jedoch auch nicht übersah, dass der 13. August 1961 der DDR durch diese nicht zu übersehende Grenze außer dem Image des Mauerstaates auch eine identitäre Räumlichkeit in der unumstößlich erscheinenden Bipolarität des OstWest-Konflikts gab. Der von keinem zu ignorierende immense militärische und polizeiliche Aufwand der DDR-Grenzorgane zu ihrer Absicherung verlieh dem SED-Regime in der Außenperspektive Stabilität, die sich noch dadurch erhöhte, dass z. B. auch in Frankreich das zunehmende „Wir-Gefühl“ in der DDR-Bevölkerung wahrgenommen wurde. Nicht nur der Stolz über die Erfolge ihrer Sportler vermittelte der Außenwelt ab Ende der 1960er Jahre einen Identitätswandel der DDR52, der mehr und mehr interessierte Franzosen zweifeln ließ, ob die Deutschen in Ost und West noch eine Nation bildeten. Das Ende der DDR weist jedoch darauf hin, dass es der SED nicht gelang, die gewachsene Legitimation zu diesem Zeitpunkt in einen gesellschaftlichen Grundkonsens zu transformieren bzw. die fehlende nationale Identität durch eine Ersatzidentität dauerhaft zu kompensieren.
51 Loth 2000 [333], S. 363. 52 Vgl. Pfeil 2005 [867].
4. Perzeption und politisches Handeln 4. Perzeption und politisches Handeln
„In Zeiten starker politischer Spannungen oder ökonomischer Konkurrenz wird […] das Fremdbild zum Feindbild, während es in ruhigeren Zeiten gar als Vorbild aufgestellt werden kann. Auch in diesem Wandlungsprozess bleiben Heterostereotype und Autostereotype eng miteinander verbunden“1. Diese These des Straßburger Germanisten und Imagologen Gonthier-Louis Fink findet nirgendwo so sehr ihre Bestätigung wie in den deutsch-französischen Beziehungen während der letzten beiden Jahrhunderte. Der deutsch-französische Gegensatz wurde dabei bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur in kriegerischer Form ausgetragen, sondern erfuhr seine Radikalisierung immer auch durch den Einsatz antagonistischer Deutungsmuster, Erzählungen und Stereotype, was die These von Hans Manfred Bock bestätigt, „dass die Ursachen und Anlässe von Konflikten und Spannungen zwischen zwei Nationen weit öfter in imaginären als in realen Gegensätzen, häufiger in mentalen als in materiellen Antagonismen angelegt“2 sind. Gerhard Paul geht in der Bedeutung von Bildern und Perzeptionen für das historische Geschehen noch einen Schritt weiter: „Gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist nur als eine Rekonstruktion von Real-, Bild- und Deutungsgeschichte denkbar“3. Die Abgrenzung zum Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins gehörte zu den identitätsstiftenden Faktoren beider Nationen und beschleunigte im deutschen Fall den Nationsbildungsprozess im 19. Jahrhundert. Dabei diente die Referenz an die benachbarte Nation oft nicht nur zur Herausbildung einer eigenen nationalen Identität, sondern entwickelte darüber hinaus eine Aussagekraft – wie gerade literaturgeschichtliche Arbeiten zeigen konnten – über die kollektive Repräsentation, die sich eine bestimmte Nation von ihrer eigenen kulturellen Identität machte. Politische und soziale Interaktionen in einem transnationalen Kontext beruhen folglich nicht alleine auf interessegeleiteten Überlegungen der handelnden Akteure4, sondern werden in hohem Maße von perzipierten Realitäten, kollektiven Wahrnehmungen und subjektiven Einschätzungen beeinflusst, die politisch-soziales Handeln motivieren und lenken können, wie Ruth Florack betont: „Denn die im Zuge der Sozialisation erworbenen Muster bestimmen die Wahrnehmung des Einzelnen ebenso wie seine Kommunikation über die durch solche Sche1 2 3 4
Fink 1991 [1050], S. 3; vgl. auch ders. 1993 [1051]; ders. 1994 [1052]. Bock 1995 [1033], S. 37. Paul 2008 [1079], S. 28. Vgl. Niedhart 2000 [1077].
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mata wahrgenommene Wirklichkeit, so dass er der Andersartigkeit des Fremden überhaupt nicht unvoreingenommen begegnen kann“5.
In der Vergangenheit stand die Perzeptions- und Stereotypenforschung vielfach in dem Ruf, zumeist staatlich orchestrierte Strategien der kulturellen Penetration wissenschaftlich zu flankieren und „kulturelle Differenzen als natürliche und invariable Unterschiede“6 zu behandeln, die aus identitätsstiftenden Motiven in Abgrenzung zum anderen konstruiert wurden und Nationen bzw. Völker damit eine stabile Identität zuwiesen7. Seit den 1980er Jahren hat sich nun eine Forschungsrichtung etabliert, die sich mit der „kollektiven Wahrnehmung der einen Nation durch die andere“ befasst und „sich in Bildern, Klischees, Identitätszuschreibungen und Verhaltenserwartungen konkretisiert“8. Immer häufiger gelingt es dabei gerade neueren Arbeiten, den historischen, politischen und soziologischen Rahmen des Analysegegenstandes zu definieren, um auf diese Weise die diachrone und soziale Wandlungsfähigkeit von Bildern im Rahmen einer transnationalen Kommunikation zu erfassen. Wünschenswert wäre darüber hinaus, dass sich Studien über die Bilder vom anderen weniger auf subjektlose Repräsentationen von Alterität beschränken, sondern die Bildträger bzw. das konkrete Personal von Repräsentationen und Diskursen auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und in den unterschiedlichen Milieus bzw. Gruppen ausmachen und ihnen einen Namen geben. Dabei schließen wir uns der aus der imagologischen Forschung stammenden These an, „dass das Bild eines Landes das Ergebnis des Zusammenspiels von Kenntnissen über landeskundliche und kulturelle Sachverhalte, von medial und sozial vermittelten Vorstellungen und von eigenen Erfahrungen mit dem Land und seinen Bewohnern darstellt“9. Die wechselnden Konjunkturen der deutsch-französischen Beziehungen brachten unterschiedliche stereotype Etikettierungen der eigenen und der fremden Nation oder Kultur mit sich, die das interkulturelle Verstehen ermöglichen konnten, vielfach jedoch Barrieren für die transnationale Kommunikation waren. Soziopsychologische Ansätze in der Stereotypenforschung konnten dabei nachweisen, dass Stereotype in ihrer kognitiven Funktion der Komplexitätsreduktion und als „Bilder in unserem Kopf“10 der Orientierung in einer immer unübersichtlich erscheinenden Umwelt dienen. Indem Stereotype an das Vorwissen des Einzelnen anknüpfen, beeinflussen sie in transnationalen Beziehungen Perzeptionen, Rezeptionen, Beziehungserwartungen und Deutungsmuster, determinieren Fragestellungen und die Auswahl der Themen, auf die sich die 5 6 7 8 9 10
Florack 2001 [1055], S. 1. Florack 2000 [1054], S. 94. Vgl. Florack 2000 [1053]. Bock 1998 [1034], S. 60. Schumann 2008 [1092], S. 45; vgl. auch Lüsebrink 2008 [1070]. Vgl. zu den Anfängen der Stereotypenforschung die theoretisch-deskriptive Arbeit des amerikanischen Publizisten Lippmann 1922 [1068], S. 15.
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öffentliche Wahrnehmung konzentriert. Dabei zeichnen sich Stereotype neben ihrer oberflächlichen Anpassungsfähigkeit vor allem durch ihren invarianten Kern aus, der ihnen Langlebigkeit beschert und in der Praxis immer wieder die Existenz von Nationalcharakteren bzw. der unwandelbaren Natur von ganzen Völkern suggeriert11. In dem uns hier interessierenden Zeitraum oszillierte das Erwartungsstereotyp zwischen den historischen Belastungen der Vergangenheit, die sich noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit in dem Mythos von der „Erbfeindschaft“ kristallisierten12, und der deutsch-französischen Freundschaft Anfang der 1960er Jahre, zwischen durchgängigen Perzeptionselementen und Wandlungsprozessen13. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen sollen daher die Interdependenzen zwischen politischem Handeln und den wechselseitigen Perzeptionen anhand von ausgewählten Beispielen stehen. Besondere Berücksichtigung sollen dabei Versuche finden, Perzeptionen bewusst zu steuern. Dass sich bei dieser Thematik eine deutsch-französische Asymmetrie ergibt, liegt in der Natur der Sache begründet, mobilisierte das Thema „Deutschland“ bis in die 1960er Jahre doch weitaus stärker die französische Öffentlichkeit und damit auch die Bildträger, als es umgekehrt der Fall war14.
Der Mythos vom „Erbfeind“ Nachdem sich Frankreich und Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend in einem starren These-Antithese-Modell gegenüberstanden15, erlitt das Bild vom anderen durch die beiden Weltkriege weitere Schäden. Wie Dietmar Hüser resümiert, war „die Virulenz negativ aufgeladener Deutschlandvorstellungen in Frankreich wohl selten zuvor so groß, hatten Misstrauen, Hass und Revanchegelüste gegenüber den Deutschen wohl selten zuvor eine solche Konjunktur, wie in den Monaten nach Befreiung und Kriegsende“16. Germanophobie schien auf Dauer in der französischen Gesellschaft verankert und stellte jede Regierung in ihren deutschlandpolitischen Überlegungen vor die schwierige Aufgabe, den Erwartungshaltungen innerhalb der Bevölkerung zu entsprechen (vgl. Kap. I.2)17. 11 Vgl. Milling 2009 [1072], S. 115. 12 Vgl. zur Historisierung dieses Begriffes: Ziebura 1997 [503], S. 15 ff.; Möller 1999 [1074]; Hüser 2000 [1060]. 13 Vgl. Picht 2000 [1084]; Miard-Delacroix 2004 [1071]. 14 Die Frankreichforschung fristete in Deutschland während der 1950er und 1960er Jahre ein Mauerblümchendasein: „Die naheliegende Beschäftigung mit der katastrophalen eigenen Vergangenheit und Gegenwart verhinderte die eingehendere Befassung mit anderen politisch-gesellschaftlichen Systemen“; Bock 1990 [1032], S. 226. 15 Vgl. Jeismann 1992 [1061]; Kaelble 1991 [462]. 16 Hüser 1993 [578], S. 27. 17 Vgl. Loth 1992 [1069].
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Gerade bei Gaullisten und Kommunisten lassen sich in der Nachkriegszeit Formen einer Kollektivschuldthese bzw. ein dichotomisches Weltbild nachweisen, das u. a. durch die Anerkennung eines deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime Risse bekommen hätte, wie Edgar Wolfrum schreibt: „Je geschlossener das ,Nazi-Volk‘ präsentiert wurde, um so eindrucksvoller ließ sich die historische Leistung der Franzosen – die Résistance und die Libération des Vaterlandes – herausstreichen“18. Nicht zuletzt um die eigene zwiespältige Haltung im Moment des Kriegsausbruchs 1939 vergessen zu machen, sollte der PCF nach 1944/45 in Sachen Patriotismus niemand etwas vormachen, wie ihre geschichtspolitischen Winkelzüge dokumentierten: „Die Superlative der antideutschen Kampagne der Kommunisten verfolgten ein doppeltes Ziel: Sie wollten das weit verbreitete antideutsche Gefühl vor ihren Karren spannen und bei Gelegenheit die innenpolitischen Gegner verdächtigen, sie wollten mit den Überlebenden der Reaktion, ja des Faschismus, paktieren“19.
Das aus der Zwischenkriegszeit reaktivierte Credo „Le boche paiera“ ging auch mit der deutschen Arbeiterschaft wenig rücksichtsvoll um, die viele französische Kommunisten in ihre Kollektivschuldthese einschlossen. Von den geschichtspolitischen Geniestreichen der KPD/SED und dem 1949 zur Staatsdoktrin erhobenen Antifaschismus wollten die französischen Genossen in der Nachkriegszeit nichts wissen, so dass Misstrauen das Verhältnis zwischen den beiden „Bruderparteien“ bestimmte. Léon Jouhaux, ehemaliger Buchenwald-Häftling, führender CGT-Funktionär und Friedensnobelpreisträger 1951, vertrat im Mai 1946 die Auffassung, dass die deutschen Arbeiter ihre demokratische Gesinnung im Widerstand nicht genügend unter Beweis gestellt hätten, und fügte hinzu: „Deutschland, in der Gefahr unterwürfig, überschlägt sich in den Forderungen, sobald die Gefahr vorbei ist. 1919 war angeblich Wilhelm II. für den Krieg verantwortlich […]. Heute war nun Hitler an der Katastrophe Schuld […]. Solch eine Ansicht ist für uns zu simpel“20.
Über die Grenzen der sozial-moralischen Milieus hinweg bestand in Frankreich ein Konsens, dass die Deutschen sich weiterhin nicht von Hitler distanziert hätten und an exkulpatorischen Legenden strickten. Deutschland verhalte sich zwar jetzt ruhig und unterwürfig – so vielfach der Eindruck –, aber sinne zu einem geeigneten Zeitpunkt auf Rache21. Auch in Deutschland belastete die Vergangenheit das Bild vom Nachbarn. Gerade in Südwestdeutschland war die antifranzösische NS-Propaganda während der letzten Kriegsmonate auf Hochtouren gelaufen. Im Zeichen des „totalen 18 19 20 21
Wolfrum 1998 [1103], S. 72. Rovan 1988 [883], S. 156. Zit. nach: Lattard 1988 [611], S. 295. Vgl. Lappenküper 2003 [469], S. 74.
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Kriegs“ hatte Goebbels die Erinnerung an das von den Deutschen als Rachepolitik empfundene Vorgehen der Franzosen nach 1918 mobilisiert, an die „schwarze Schmach“ und die vielen „von Negern geschändeten“ rheinischen Frauen erinnert, um die Bevölkerung gegen die vormarschierenden Alliierten in Frontstellung zu versetzen. Im Moment des Zusammenbruchs des NS-Staates mischten sich folglich in den Köpfen nicht weniger Deutscher in der zukünftigen französischen Besatzungszone die Sorgen um das alltägliche Überleben mit bewusst vor 1945 gestreuten antifranzösischen Stereotypen und Mythen22. Als die französischen Truppen nun in ihre Besatzungszone einmarschierten und unter dem Befehl von General Jean de Lattre de Tassigny im Siegestaumel „pompöse Feste und Truppenparaden“23 am Bodensee zelebrierten, schienen sich die Befürchtungen zu bewahrheiten. Darüber hinaus wurde das sich verbreitende Bild von der „düsteren Franzosenzeit“ (vgl. Kap. II.1.) nachhaltig von den wilden Requisitionen und Reparationen unmittelbar im Anschluss an den Einmarsch der französischen Truppen geprägt. Auch wenn es der französischen Militärregierung noch im Sommer 1945 gelang, die ökonomische Nutzung ihrer Zone unter Kontrolle zu bekommen, prägten sich die aus diesem Vorgehen entstehenden Konflikte umso stärker in die Erinnerung ein, wie Rainer Hudemann schreibt: „Für die Beurteilung der Besatzungspolitik noch wichtiger wurde, dass diese frühen Erfahrungen im Rückblick für manche Zeitgenossen zu einem beherrschenden Charakteristikum der Nachkriegsjahre wurden, obwohl sie zumeist auf wenige Wochen, gebietsweise auch auf wenige Tage begrenzt geblieben waren. Die französische Seite betrachtete das als besonders ungerecht“24.
Die Deutschen fühlten sich in ihrer Meinung nur noch weiter bestätigt, als Hunger und Schwarzmarkt kein Ende nahmen und im Winter 1946/47 einen neuen Höhepunkt erreichten, als die Rationen an manchen Orten der französischen Besatzungszone das Niveau der nationalsozialistischen Konzentrationslager erreichten und bei der deutschen Bevölkerung den Eindruck verfestigten, die Alliierten würden aus Rache einen Hungerfeldzug führen25. Tatsächlich war aber gerade der Schwarzmarkt eine Folge der NS-Finanzpolitik, deren negative Auswirkungen die Bevölkerung erst jetzt zu spüren bekam, so dass sie den Franzosen angelastet wurden. Symptomatisch für die mentalen Langzeitwirkungen von als Schikane wahrgenommenen Maßnahmen der französischen Seite ist die Erinnerung an die sogenannten „Franzosenhiebe“. Da die französische Besatzungszone strukturschwach war, konzentrierten sich die Besatzungsbehörden bei ihren Reparationsforderungen vor allem auf die Kohle des Saarlandes und das Holz des Schwarz22 23 24 25
Vgl. Wolfrum 1995 [1102], S. 576. Wolfrum 2000 [1104], S. 82; vgl. auch ders. 1992 [1100]. Hudemann 1995 [570], S. 435. Vgl. Rothenberger 1980 [1293].
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waldes. Weil Holz auf dem Weltmarkt hohe Preise erzielte, stieg der Holzeinschlag in Baden und Württemberg-Hohenzollern bald um bis zu 350 %. Diese unter dem Namen „Franzosenhiebe“ bekannt gewordenen Kahlschläge hinterließen tiefe mentale Spuren, wie noch heute die Stadtchroniken von verschiedenen Städten im Schwarzwald bezeugen. Versuche, festgefügte Stereotype zu überwinden, blieben somit die Ausnahme, doch gab es sie auch. So erklärte etwa Anfang 1946 der Jesuitenpater und Mitbegründer von BILD bzw. GüZ, Jean du Rivau, erschrocken über die materielle und moralische Notlage der Deutschen nach dem Krieg, dass der Frieden nur auf dem Fundament der Versöhnung wachsen könne: „Es geht darum, mit Deutschland in Kontakt zu treten, unserem Nachbarn von gestern, heute und morgen, und eine Erbrivalität ruhen zu lassen, die doch so verhängnisvoll für die Welt war“26. Ähnlich argumentierte zu dieser Zeit der vom Denken des europäischen Widerstandes gegen das nationalsozialistische Deutschland geprägte Joseph Rovan27, der am 1. Oktober 1945 in der Monatszeitschrift Esprit einen Artikel mit dem Titel „L’Allemagne de nos mérites“ veröffentlichte, in dem er von einem moralisch-demokratischen und universalistischen Ansatz ausgehend die französischen Besatzungspolitiker mahnte, „dass Deutschland nicht unter Ungerechtigkeit und Unordnung derselben Natur zu leiden hat wie die, welche Deutschland Frankreich zugefügt hatte […]. Wir können die Menschenrechte nicht durch einen Gegenrassismus mit umgekehrten Vorzeichen korrigieren, der uns ein Recht auf Rache, auf Blutrache, geben würde“. In Sorge um die Gestaltung einer menschenwürdigen europäischen Zukunft forderte er daher die Alliierten auf, die Deutschen für die Sache der Demokratie über das universalistische Prinzip der Menschenrechte zu gewinnen, und wies sie auf ihre große Verantwortung hin: „Das Deutschland von morgen wird das Maß unserer Verdienste sein“28. Mit gleicher Motivation nahm auch das Comité français d’Échanges avec l’Allemagne nouvelle seine Arbeit auf, das den Kontakt zu den Trägern des Demokratisierungsprozesses in Westdeutschland suchte und mit seinen Begegnungsveranstaltungen und Podiumsdiskussionen bis zur Einstellung seiner Arbeit im Jahre 1967 einen vorpolitischen Raum bzw. eine transnationale Öffentlichkeit bot, „in der Deutungsangebote bezüglich der deutschen und französischen Gesellschaft bzw. ihren Beziehungen zueinander von Intellektuellen artikuliert und gehört werden konnten“29. Fragen nach der Gestaltung der Zukunft beschäftigten auch das DFI in Ludwigsburg, das ebenso wie das Comité mit seiner öffentlichkeits- und multiplikatorenwirksamen Verständigungsstrategie neue zivilgesellschaftliche Kom-
26 Er hatte ab 1940 im Widerstand gegen die Nationalsozialisten gekämpft und war nach seiner Festnahme 1944 nach Mauthausen und später nach Dachau deportiert worden; vgl. Guervel 1990 [810]. 27 Vgl. auch die autobiographischen Erinnerungen von Rovan 1999 [65], S. 234 f. 28 Der Artikel ist in deutscher Sprache abgedruckt in: Rovan 1986 [882]. 29 Albrecht 2002 [706], S. 181.
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munikations- und Kontaktstrukturen schuf, die einer interessierten Öffentlichkeit als Plattform zum Informationsaustausch dienten und mit der geleisteten Vermittlungsarbeit dazu beitrugen, verhärtetes Denken und erstarrte Bilder vom anderen zu verändern. Dass es auf solche Initiativen durchaus ein Echo gab, verdeutlicht die Resonanz des französischen Existentialismus im Kreis der deutschen Linksintellektuellen. Dieses wache Interesse an den Werken von Sartre, Camus u. a. lässt sich nicht alleine mit dem großen Nachholbedarf an geistig-kultureller Information erklären („Kulturhunger“), sondern war zugleich Ausdruck für die „Suche nach normativen Orientierungsmodellen in einer sozialpsychologischen und kultursoziologischen Ausnahmesituation“30. Welche Hartnäckigkeit traditionelle Fremdbilder jedoch besaßen, unterstreicht der Blick in Unterricht und Schule. Neben einem Verständigungs- und Versöhnungsdiskurs ist in Büchern zur französischen Landeskunde ein Rekurs auf das von der „Kulturkunde“ bzw. kulturmorphologischen Ansätzen geprägte Frankreichbild der 1920er Jahre nicht zu übersehen. Von Nationalcharakteren ausgehende völkerpsychologische Studien erlebten eine Renaissance und suggerierten mit ihren hartnäckigen Stereotypen das Bild von einem „Dauerfranzosen“. Auch die französischen Deutschbücher der 1950er Jahre lassen das Bemühen erkennen, neuerliche Ressentiments zu vermeiden, indem das politische und historische Geschehen zugunsten eines eher positiven literarisch-philosophischen Deutschlands ausgeblendet blieb, was jedoch zur Folge hatte, „dass die politischen Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf Deutschland zugunsten einer rein kulturellen und geografischen Beschreibung ignoriert werden, die deutsche Teilung zum Beispiel ist nicht existent“31. Erst mit der Multiplizierung der Kontakte in den 1960er Jahren und dem Eintritt einer neuen Generation in die deutsch-französischen Beziehungen kam es in den 1970er Jahren zu einer Entmythologisierung der gegenseitigen Vorstellungen und in den Schulbüchern zu einer Annährung an ein realitätsnahes Bild32.
Das Deutschlandbild im kommunistischen Milieu Frankreichs Nachdem mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1949 zwei deutsche Staaten Wirklichkeit geworden waren, blieb das Hauptaugenmerk der französischen Öffentlichkeit auf die Bundesrepublik gerichtet. Der nach staatlicher Souveränität strebende westdeutsche Teilstaat, der unter der Ägide von Kanzler Konrad Adenauer bereits erste Anzeichen für einen wirtschaftlichen Wiederaufstieg erkennen ließ, blieb in Frankreich ein gesellschaftliches Mobilisierungsthema, so dass es Diet30 Rahner 1995 [1085], S. 131. 31 Krauskopf 2009 [1067], S. 21. 32 Vgl. Bock 1986 [1029]; Schneilin 1992 [1091].
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mar Hüser angesichts der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise Frankreichs und der daraus resultierenden negativen Auswirkungen für das eigene Selbstbewusstsein nicht übertrieben erscheint, „vom Trauma einer zügigen wirtschaftlichen und moralischen Restauration Deutschlands in der französischen Öffentlichkeit zu sprechen […], erst recht angesichts des Gefühls, ein wiedererstarkter östlicher Nachbar werde erneut seiner Aggressionspolitik nachgehen“ und sich ein weiteres Mal an Frankreich rächen33. Obgleich wir noch zu wenig über die Entwicklung des Deutschlandbildes im kommunistischen Milieu Frankreichs wissen – archivgestützte Studien und systematische Auswertungen der kommunistischen Presse stehen noch aus –, kann dennoch die These gewagt werden, dass sich die PCF um die Aufrechterhaltung eines deutschen Feindbildes bemühte und sich zu diesem Zweck auf die Bundesrepublik „einschoss“. Westeuropäische Integration, Schuman-Plan und EVG boten die Möglichkeit, die Energien gegen die „Klassenfeinde“ in Paris, Washington und Bonn zu lenken. Hinter dieser Priorität geriet die Gründung der DDR in den deutschlandpolitischen Überlegungen der französischen Genossen zur Nebensache. Nicht die Kontakte zur SED standen im Mittelpunkt; vielmehr konzentrierte die PCF ihre Anstrengungen auf die nach der Eröffnung des Verfahrens am 24. Januar 1952 vom Parteiverbot bedrohte westdeutsche KPD. Die PCF hatte gegen das schließlich am 17. August 1956 vom Bundesverfassungsgericht verkündete Verbot von Beginn an eine Kampagne in ihrer Parteizeitung L’Humanité geführt, ließ sich das Verfahren doch nur zu gut mit den Kampagnen gegen die Westintegration der Bonner „Revanchisten und Militaristen“ verbinden, um auf diese Weise an vertraute Feindbilder anzuknüpfen. Die KPD wurde während der Kampagne gegen die EVG in steter Regelmäßigkeit als einzige Partei in der Bundesrepublik bezeichnet, die für eine Politik des Friedens und gegen die Rückkehr des Nationalsozialismus wirke34. Bei dieser Fixierung der PCF auf die westdeutschen Kommunisten blieb die DDR im Schatten des bundesdeutschen Konkurrenten. So erklärt es sich, dass die Deutschen in West und Ost im kommunistischen Milieu Frankreichs noch zehn Jahre nach Kriegsende vielfach als „boches“ wahrgenommen wurden. Erst Ende der 1950er Jahre stieg die Anzahl der Artikel über die DDR in der Parteizeitung L’Humanité, was die Wahrnehmung des „anderen“ Deutschland nicht unerheblich erhöhte.
Zwischen „Rapallo-Komplex“ und Versöhnungsabsichten Vor dem Hintergrund des französischen Abstiegs von einer Groß- zu einer Mittelmacht und der sich abzeichnenden Rückkehr der Bundesrepublik auf die internationale Szene berichteten französische Journalisten in regelmäßigen 33 Hüser 1993 [578], S. 38. 34 Vgl. Pfeil 2004 [483], S. 235 ff.
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II. Fragen und Perspektiven
Abständen über die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschehnisse im Lande des östlichen Nachbarn, um sich ein Bild von der mentalen Entwicklung der Deutschen zu machen. Während die DDR im Figaro zumeist nur als „zone du silence“ im sowjetischen Herrschaftsbereich und noch über Jahre als 16. Sowjetrepublik wahrgenommen wurde, waren die Erinnerungen an deutschen Militarismus und Nationalismus permanenter Anlass, die Entwicklung in Westdeutschland und das mögliche Verhalten der Staatsspitze in Bonn für den Fall der staatlichen Souveränität vorauszusagen35. Das „Deutschland zwischen Ost und West“ blieb gleichbedeutend mit der Bundesrepublik, die weiterhin verdächtigt wurde, ein doppeltes Spiel zwischen den Blöcken spielen zu wollen, was Ausdruck für den weiterhin bestehenden „Rapallo-Komplex“ war, wie Mareike König herausarbeiten konnte: „Von einer Einschätzung des deutschen Verhaltens waren stets auch elementare französische Sicherheitsinteressen betroffen. So ist es nur allzu verständlich, dass der Nachbar jenseits des Rheins nur fünf Jahre nach dem Krieg auf dem Weg in die Souveränität äußerst aufmerksam beobachtet wurde“36.
Aus den aktuellen Gegebenheiten in den beiden deutschen Staaten erhofften sich die Beobachter Antworten auf die Frage, ob die als positiv wahrgenommene Westwendung der Westdeutschen nicht vielleicht wieder umkehrbar sei. Dieses Misstrauen hatte nachvollziehbare historische Ursachen, wurde jedoch auch durch das Gefühl beflügelt, mit der Teilung Deutschlands auf einem Pulverfass im Zentrum Europas zu sitzen. Auch wenn den Deutschen ein markanter Antikommunismus bescheinigt wurde, blieb ihre Lethargie und ihr Desinteresse an politischen Prozessen und ihre zukünftige Haltung zu Westintegration bzw. östlichen Lockungen immer wieder Quelle für Unsicherheiten37. Das in diesen Perzeptionen zum Vorschein kommende Bedrohungsgefühl erfuhr in den nicht-kommunistischen Kreisen Frankreichs eine gewisse Beruhigung, als der französische Außenminister am 9. Mai 1950 seinen Schuman-Plan präsentierte. Während jedoch der konservative Figaro als Vertreter atlantischer Positionen in ihm die notwendige Voraussetzung für die feste Einbindung der Bundesrepublik in den westlichen Blockstrukturen sah, feierte Le Monde die französische Initiative als ersten Schritt für ein zukünftiges starkes und unabhängiges Europa38. Die ersten Schritte der deutsch-französischen Aussöhnung und die französischen Deutschlandbilder gerieten damit schon früh in das Fahrwasser innerfranzösischer Dispute, die zumeist um das Gegensatzpaar von eigener Schwäche und deutscher Stärke bzw. Dynamik kreisten39. 35 36 37 38 39
Vgl. Miard-Delacroix 2004 [1071], S. 169 ff. König 2000 [1065], S. 94. Vgl. Schumacher 2000 [270], S. 173 ff. Vgl. König 2000 [1065], S. 95. Vgl. Seidendorf 2007 [1093].
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Auch wenn zu dieser Zeit noch keine strikte Trennung zwischen West- und Ostdeutschen gemacht wurde, nahm die französische Presse nichtsdestotrotz die unterschiedliche Entwicklung in der DDR wahr. Besonderes Aufsehen erregten dabei die Aufmärsche der FDJ, die Georges Penchenier in Le Monde zu der Feststellung bewogen, dass lediglich die Hemdfarbe von braun zu blau gewechselt habe, der Enthusiasmus für Uniformen, Fahnen und Gleichschritt jedoch der gleiche geblieben sei40. Es war die für Stereotype so charakteristische Verknüpfung von neu Beobachtetem mit bereits Bekanntem bzw. die Tendenz, im angeblichen „Volkswesen“ eine apodiktische Erklärung für beobachtetes Verhalten zu finden, die ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass das Militärische der deutschen Jugend im Blut stecke. Die fragile internationale Lage im Mai 1950, die damalige innen- und außenpolitische Schwäche Frankreichs und das weiterhin anzutreffende Misstrauen gegenüber dem deutschen „Wesen“ ließen bei dem Journalisten die Frage aufkommen, ob nicht diese Jugend – wie die Vorgängergeneration 1939 – eines Tages bereit sei, für die deutsche Einheit und ein Großdeutschland unter kommunistischen Vorzeichen zu kämpfen. Als sich im folgenden Jahr vom 5. bis 19. August 1951 kommunistisch gesinnte Schüler und Studenten zu ihren III. Weltfestspielen in Ost-Berlin trafen, sahen französische Beobachter sowjetischen Gigantismus mit deutschem Größenwahn vereint, was die Furcht vor einer Allianz von sowjetischem und deutschem Militarismus noch weiter anheizte41. Während Le Monde durchaus bereit war, den Erfolg der Entnazifizierungsmaßnahmen in der SBZ/DDR zu positiv zu werten, rief der Aufbau der DDRVolkspolizei beim Figaro neuerliche Bedrohungsszenarien wach42. Zweifellos wollte er mit seiner Berichterstattung vor einer kommunistischen Unterwanderung der noch jungen und instabilen Demokratie in der Bundesrepublik warnen, doch ließ sich die Stalinisierung der DDR auch als Mahnruf in der innerfranzösischen Politik lesen. Personifiziert durch den 1947 als Leitartikler zur Zeitung gestoßenen Raymond Aron43 war Le Figaro nach dem Ausbruch des Kalten Krieges unbestreitbar das französische Presseorgan mit der größten Breitenwirkung in der Auseinandersetzung mit der PCF und dem von Kommunisten und „compagnons de route“ dominierten Intellektuellenmilieu in Frankreich, wo die Sowjetunion dank des „Stalingrad-Effekts“44 immer noch über eine nicht zu unterschätzende Wertschätzung verfügte. Der rigoros betriebene „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR war da nur ein willkommenes Beispiel, um den Franzosen die Konsequenzen eines nach sowjetischen Maßgaben betriebenen „real existierenden Sozialismus“ vor Augen zu führen. 40 Georges Penchenier, Pentecôte sans incidents à Berlin, in: Le Monde, 30. 5. 1950. 41 Vgl. Dominique Auclères, Le gigantisme russe s’alliant à celui des Allemands nous offre à Berlin un étonnant spectacle, in: Le Figaro, 6. 8. 1951. 42 König 2000 [1065], S. 136. 43 Vgl. Aron 1990 [1024]. Vgl. zu Raymond Aron und Deutschland: Oppermann 2008 [1078]. 44 Vgl. Ory, Sirinelli 1986 [367], S. 150 ff.
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II. Fragen und Perspektiven
Als mit der EVG der Aufbau einer westdeutschen Armee auf der internationalen Tagesordnung stand, geriet auch das Deutschlandbild in den beiden großen französischen Tageszeitungen in Bewegung. Doch während Le Figaro nochmals seine Kritik gegenüber der Sowjetunion und seinen ostdeutschen Statthaltern verschärfte, konzentrierte Le Monde seine Blicke auf eine mögliche Renaissance eines deutschen Militarismus. Die anfänglichen Konzeptionen für eine EVG waren für die Zeitung dabei eine Art von Lebensversicherung, um die deutsche Militärkraft zu bändigen und in den Dienst eines unabhängigen Europas zu stellen. Doch als der minderberechtigte Status der Bundesrepublik in den Verhandlungen Schritt für Schritt einer deutsch-französischen Gleichberechtigung Platz machte, sah die neutralistische Le Monde die alten Dämonen wieder am Horizont. Die Europaarmee mit deutscher Beteiligung habe sich zu einer „Wehrmacht à participation française“ entwickelt, so die Schlussfolgerung im Oktober 195245. Auch der Figaro sah in der Bewaffnung der Bundesrepublik eine neuerliche Gefahr, doch schien ihm die Bedrohung angesichts des sowjetischen Waffenarsenals sekundär, so dass sich die Berichterstatter und die Kommentatoren dafür aussprachen, das Risiko in Kauf zu nehmen, um die atlantischen Strukturen zu konsolidieren. Die Positionierung war jedoch nicht gleichbedeutend mit einer deutschlandfreundlichen Haltung, denn auch der Figaro nahm davon Abstand, die EVG als Bestandteil des deutsch-französischen Aussöhnungsprojektes zu interpretieren, und benutzte das Feindbild „Wehrmacht“, doch verfolgte er mit seiner Argumentation ein unterschiedliches Ziel, wie Mareike König betont: „Neben der stets präsenten Möglichkeit einer neuerlichen Schaukelpolitik zwischen Ost und West waren es die Aussichten eines militärischen Schlags Deutschlands gegen den Osten – zur Herstellung der deutschen Einheit oder zur Rückeroberung der verlorenen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie – oder eines Angriffs gegen den Westen, und hier vor allem gegen Frankreich, die als Möglichkeiten präsentiert wurden. Der Unterschied war nur, das Le Monde all dies für den Fall prophezeite, dass die EVG ratifiziert, Le Figaro dagegen für den umgekehrten Fall, dass die EVG nicht ratifiziert werden würde“46.
Die Analyse der Deutschlandbilder in Le Figaro und in Le Monde zwischen 1950 und 1954 spricht eine andere Sprache als die auf „réconciliation“ abzielenden Worte und Aktionen der Gründungsväter des westdeutsch-französischen Aussöhnungsprozesses; sie unterstreicht vielmehr die starke Emotionalisierung, die Deutschland in der französischen Öffentlichkeit und im Intellektuellenmilieu auch Jahre nach dem Krieg noch hervorrief. Die Angst vor und die Ressentiments gegenüber dem östlichen Nachbarn standen jedoch nie isoliert als Konsequenz aus der Geschichte oder aus der aktuellen Entwicklung, sondern wurden gerade 45 André Fontaine, Comment équilibrer l’influence allemande?, in: Le Monde, 24. 10. 1952. 46 König 2000 [1065], S. 211.
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in den 1950er Jahren auch für die innerfranzösische Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen politischen Lagern genutzt. Die leidenschaftlichen Debatten um die EVG führten schließlich dazu, dass Frankreich „jene Elemente von Germanophobie aus seinem nationalen Körper [ausschied], die sich als anachronistisch erwiesen hatten“, so dass die „Töne jener oftmals fast krankhaften Deutschfeindlichkeit, wie sie bis zum 30. August 1954 zu hören gewesen waren, […] nun aus dem politischen Leben Frankreichs“ verschwanden47. Auf diesem Perzeptionswandel konnten nun auch die Vertreter des Versöhnungsdiskurses aufbauen, die in den nächsten Jahren noch die verschiedensten Hindernisse zu überwinden hatten, sich aber auf ein kontinuierlich besseres Deutschlandbild stützen konnten48.
Die visuelle Inszenierung der deutsch-französischen Freundschaft Charles de Gaulle und Konrad Adenauer verstanden politisches Handeln immer auch als kommunikatives Handeln und waren sich der Macht der Bilder bewusst, als sie ab 1958 begannen, den Repräsentationen vom Nachbarn mit gezielt eingesetzter Symbolik neue Emotionalität einzuhauchen und das Bedürfnis nach Versöhnung wie bei ihrem symbolischen Gründungsakt in der Kathedrale von Reims am 8. Juli 1962 als staatliches Ziel der beiden Länder auch bildlich in Szene zu setzen. Deutsch-französische Aussöhnung als einen oftmals nur abstrakten Prozess übersetzten sie mit ihrem „Körpereinsatz“ in eine sichtbare und auch nachvollziehbare Handlung, die gesellschaftliche Akzeptanz und Identifikation hervorrufen sollte. Sie erkannten die wirklichkeitskonstituierende Dimension von Bildern und flankierten ihre Politik mit versöhnlichen öffentlichen Akten, prägenden Gesten und ihrer Visualisierung, so dass sie die Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte transnationalisierten und den Willen zur Versöhnung in die mentalen und gesellschaftlichen Strukturen beider Länder vordringen ließen. Sie transformierten negative Erinnerungsorte wie z. B. Reims als Schauplatz deutsch-französischer kriegerischer Auseinandersetzungen durch die feierliche Zeremonie zu einem positiven Erinnerungsort der deutsch-französischen Versöhnung, an dem der Tod der Soldaten nicht mehr nur den Opfergang für das Vaterland darstellt, sondern zu einem Vermächtnis für die gemeinsame Zukunft der beiden Völker wird (vgl. Kap. I.5). Die Geisteraustreibung in der im Ersten Weltkrieg stark zerstörten „ville martyre“, dem Ort der deutschen Kapitulation 1945, sollte genauso wie der wenige Monate später erfolgte Bruderkuss aus Anlass der Vertragsunterzeichnung im Élysée-Palast ein Versprechen für die Zukunft sein und auf alle Bürger in Deutschland und Frankreich übertragen werden. Par47 Ziebura 1997 [1071], S. 117. 48 Vgl. zu den Umfrageergebnissen zwischen 1954 und 1964: Ziebura 1997 [1071], S. 119.
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allel zu den transnationalen Aktivitäten auf zivilgesellschaftlicher Ebene (vgl. Kap. II.2) konnten die beiden Staatsmänner durch die gerade bei Staatsbesuchen produzierte visuelle Kraft der Bilder die Grenze des politisch Sagbaren und des gesellschaftlich Machbaren in den deutsch-französischen Beziehungen kontinuierlich hinausschieben49. Dass sie mit dieser Methode erfolgreich waren, unterstreichen auch die steigenden Umfragewerte von de Gaulle in der Bundesrepublik. Nachdem ihm bei seiner Machtübernahme noch mehrheitlich Misstrauen entgegengebracht worden war, galt er nun neben dem Kanzler als Garant für die deutsch-französische Verständigung und aktiver Förderer deutscher Interessen50. Die von dem Kanzler und dem General betriebene Geisteraustreibung war in vielerlei Hinsicht aber auch von einer Schlussstrichmentalität geprägt, blieben bei den großen öffentlichen Symbolakten kontroverse historische Fragen doch zumeist ausgeblendet51, um dem übergeordneten Ziel der Versöhnung bzw. der Überwindung der „Erbfeindschaft“ zu dienen: „Das Misstrauen der Vergangenheit, das man nicht leugnete, dessen Wurzeln aber nicht thematisiert wurden, sollte sich möglichst kurzfristig in Vertrauen durch gemeinsame Amnesie verwandeln. Zu den Themen Nationalsozialismus beziehungsweise Vichy-Regime überwog ein aktives Beschweigen, während die scheinbar vorurteilsfreie Jugend beider Länder zum Hoffnungsträger ernannt wurde“52.
Weder die deutsche noch die französische Jugend stand natürlich den deutsch-französischen Beziehungen vorurteilsfrei gegenüber53, gehört es doch gerade zu den Charakteristika einer Generation, gemeinsame Erlebnisse und eine spezifische Kultur zu teilen54. Gleichzeitig darf jedoch auch nicht vergessen werden, dass sich durch die Generationenfolge Perzeptionen, Rezeptionen und kollektive Repräsentationen verändern, was gerade auch für Beziehungen zu anderen Ländern von erheblicher Bedeutung ist. Der deutsch-französischen Annäherung war in dieser Hinsicht der „Babyboom“ der Nachkriegszeit sehr zuträglich, brachte dieser doch eine Generation zur Welt, die nicht nur im wachsenden Wohlstand einer sich herausbildenden Konsumgesellschaft aufwuchs55, sondern den Zweiten Weltkrieg auch nicht mehr bewusst erlebt hatte56. Der demographische Faktor brachte es mit sich, dass diese neue Generation das Bilderbe ihrer Eltern in den Hintergrund drängen konnte und zugleich die demographische 49 50 51 52
53 54 55 56
Vgl. Moll 2002 [646]; Moll 2007 [647]. Vgl. zu den Umfragewerten: Defrance, Pfeil 2005 [448], S. 31. Vgl. Rosoux 2001 [1241]. Bluhm 2003 [725], S. 383. Auch die in den westdeutschen Schulen eingesetzten Französischlehrwerke verzichteten bis in die 1960er Jahre auf die Darstellung konfliktreicher Epochen und Ereignisse; vgl. Krauskopf 1985 [1066], S. 123 ff. Bock 1989 [1030]. Vgl. Reulecke 2003 [1423]. Reulecke 1997 [1422]; Sohn 2001 [1438]. Vgl. Sirinelli 2002 [1435]; Sirinelli 2005 [1437].
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Kraft besaß, um ihre eigenen Codes und Bilder vom anderen gegenüber den Vorgängergenerationen durchzusetzen57. Der Eintritt dieser neuen Generation in die deutsch-französischen Beziehungen ermöglichte somit ab Mitte der 1960er Jahre eine Pluralisierung der Bilder vom anderen und seiner Geschichte58.
L’Allemagne, les deux Allemagnes oder les Allemagnes Auch wenn die Perzeption der DDR in Frankreich angesichts des von de Gaulle und Adenauer an den Tag gelegten politischen und visuellen Gestaltungswillens zwangsläufig im Schatten der Bundesrepublik blieb, wurde mit der Integration der DDR in die östlichen Bündnisstrukturen Mitte der 1950er Jahre und ihrer Teilnahme an der Genfer Außenministerkonferenz 1959 – gemeinsam mit der Bundesrepublik am „Katzentisch“ – „l’autre Allemagne“ auch in Frankreich zunehmend als Staat mit einer eigenen Identität wahrgenommen. Im kommunistischen Milieu der französischen Germanistik sicherten die „militaristischen und aggressiven Traditionen“ der Bundesrepublik der DDR verstärkten Zuspruch. In Anlehnung an das von der SED verbreitete propagandistische Bild bezeichnete u. a. der französische Germanist Gilbert Badia die DDR in seinen Studien59 als Erbverwalter aller demokratischen und humanistischen Traditionen in der deutschen Geschichte und verteidigte wie andere Intellektuelle seines Milieus60 Mauer und Repressionsapparat in der DDR als notwendigen Schutz gegen die provokative Politik der Bundesrepublik, wie Bernhard Escherich analysierte: „So gelang es ihnen, den Widerspruch zu überbrücken, dass sie in Frankreich für die Durchsetzung von Ideen fochten, die in der DDR nur offiziell, aber nicht tatsächlich die Grundlage der Politik des Staates waren“61. Doch auch nicht-kommunistische Deutschlandforscher wie Edmond Vermeil entdeckten in dem von der Sowjetunion installierten SED-Regime eine singuläre Identität. Im Vorwort für das in Frankreich über Jahre meinungsbildende Buch von Georges Castellan über die formative Phase der DDR62 spricht Vermeil von einer Schöpfung sui generis, einer Art von Synthese zwischen dem Kommunismus deutscher Prägung und einem russischen „soviétisme“63. Dieser offiziöse Anerkennungsprozess erklärt sich jedoch nicht alleine mit der (geo-)politischen Realität „DDR“, sondern wurde zudem durch das traditio57 Vgl. Bock, Defrance, Krebs, Pfeil 2008 [741]. 58 Diese These wird auch gestützt durch Anfang der 1960er Jahre entstandene Filme, in denen Deutschland nicht mehr in Schwarz-Weiß-Manier dargestellt wird; vgl. Walter 2000 [1098]; Jurt 2003 [1063], S. 87; vgl. auch: Pfeil 2004 [1082]. 59 Vgl. Badia 1962 [1025]; ders. 1964 [1026]; ders., Lefranc 1964 [1027]. 60 Vgl. Charvin 1973 [1041]. 61 Escherich 2000 [1049], S. 28. 62 Vgl. Castellan 1955 [1038]. 63 Vermeil 1955 [1097], S. 35.
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nelle französische Bild von den deux Allemagnes erleichtert, das sich im 19. Jahrhundert verfestigt und Schriftstellern wie Historikern erlaubt hatte, „gleichzeitig die Bewunderung für die intellektuellen Leistungen der Deutschen und ihre Aversionen gegenüber dem neuen, preußisch dominierten Reich zu äußern“64. Über französische Germanisten wie Charles Andler und Edmond Vermeil hatte dieses doppelte Bild des romantischen und des gefährlichen Deutschlands, des sozialen katholischen Südwestdeutschlands und des militaristischen protestantischen Preußens in der Zwischenkriegszeit auch seinen Eingang in die Germanistik gefunden und bekam mit der Herausbildung der beiden deutschen Staaten nach 1949/55 eine neue politische Dimension, die mit deutlichen Wertungen – je nach politischem Standort – als les deux Allemagnes wahrgenommen wurden. Als Georges Castellan in seinem 1961 erschienenen Buch „La République démocratique allemande“65 die DDR in einem deutlich helleren Bild zeichnete als noch sechs Jahre zuvor66, sah sich Alfred Grosser zu einer scharfen Reaktion herausgefordert. Er hielt Castellan in der März-Ausgabe 1962 der Zeitschrift Preuves in ironischem Grundton vor, mit seinem „neutralen“ und „kritiklosen“ Ansatz den Anti-Antikommunisten das Wort zu reden: „Die Bundesrepublik zu kritisieren, gelte als Nachweis von Objektivität. Die DDR zu kritisieren, heiße jedoch, objektiv der Reaktion zu dienen und sich am Fortschritt zu versündigen“. Neben diesen Grundzügen des „gauchisme français“ warf er ihm und anderen Deutschlandforschern vor, im Gegensatz zu den Anglizisten über ein Land – Deutschland – zu lehren, dessen Kultur und Sprache sie innerlich ablehnten. Da sie in der Bundesrepublik den Erben des „unsympathischen Deutschlands“ sähen, gelte diese als das „schlechte“ Deutschland, während sie den „Feind meines Feindes“, also die DDR, zum „guten“ Deutschland stilisieren würden. Diese und andere Kontroversen innerhalb der französischen Germanistik waren ein Zeichen dafür, dass das DDR-Bild in Frankreich in Bewegung geriet. Über die Publikationen französischer Deutschlandspezialisten hinaus erschienen jetzt auch in nicht-kommunistischen Presseorganen regelmäßig Artikel über den zweiten deutschen Staat, der insbesondere zu seinem 15. Geburtstag im Jahre 1964 eine besondere Aufmerksamkeit erhielt. Obgleich die Sympathie für die bzw. das Interesse an der DDR nicht überbewertet werden soll, war es ihr mittlerweile gelungen, den Status eines Provisoriums abzulegen. Diese Tatsache bewog verschiedene Autoren, sich intensiver mit dem Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten zu beschäftigen. Pierre Gaxotte, Royalist und Mitglied der Action française, bemerkte, dass die beiden deutschen Staaten einander nicht nur fremd, sondern auch Feinde geworden seien, und ordnete sie zwei gegensätzlichen politischen bzw. anthropologischen Welten zu: „Das eine Deutschland gehört zur slawischen und kommunistischen Welt, die sich bis Wladiwostok 64 Jurt 1995 [1062], S. 68. 65 Vgl. Castellan 1961 [1039]. 66 Vgl. Castellan 1955 [1038].
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erstreckt. Das andere Deutschland hat sich für den Westen entschieden“67. André Drijard versuchte dem französischen Leser eine Vorstellung davon zu geben, welche Konsequenzen die Teilung eines Landes durch den „Eisernen Vorhang“ für die Menschen hatte: „Es lässt sich nur schwerlich eine einschneidendere Konfrontation in ein und demselben Land vorstellen, für die Menschen eines gleichen Volkes, einer gleichen Sprache, einer gleichen Grundbildung“68. Aus diesen Sätzen spricht Betroffenheit, sie deuten aber zugleich auf eine zunehmende Akzeptanz der deutschen Teilung und der sozialen Ordnung in der DDR hin. In politischer Hinsicht hatte sich die DDR zu einem integralen Bestandteil der östlichen Hemisphäre entwickelt, kulturell wurde sie aber weiterhin zum deutschen Sprachraum gezählt und profitierte von der Tatsache, dass auf ihrem Territorium Dichter und Denker wie Goethe, Schiller und Luther gewirkt hatten. Zahlreiche Wallfahrtsorte der deutschen Musik, Literatur und Kultur wie Weimar, Eisenach und Dresden befanden sich auf dem Territorium der DDR. Mit der Konsolidierung des Ostblocks und der DDR Ende der 1960er Jahre erlebte auch ein anderes traditionelles Deutschlandbild in Frankreich neue Konjunktur. Mit der Bezeichnung les Allemagnes sollte im 19. Jahrhundert die deutsche Nation in Frage gestellt, ihre ungefestigte Nationalität betont und über Jahrzehnte die Berechtigung der Deutschen zur Einheit abgeschwächt werden. Nach 1945 beschäftigte sich u. a. der französische Germanist Robert Minder bei seiner „Suche nach der deutschen Mentalität“ mit einem „pluralen Deutschland der Regionen“69, so dass schließlich auch die deutsche Zweistaatlichkeit in das Interpretament von der Klein- und Vielstaaterei als deutscher Normalität integriert werden konnte. Sie erschien wie ein roter Faden in der longue durée der deutschen Geschichte, was den Metzer Geographen François Reitel bewog, sein 1969 erschienenes Buch über die geographischen, geologischen und morphologischen Gegebenheiten Deutschlands „Les Allemagnes“ zu nennen70; Pierre Guillen hob im zweiten Satz seines Werkes die mannigfaltigen Veränderungen und „changements de visage“ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland hervor71, die die 74 Jahre staatlicher Einheit zwischen 1871 und 1945 quasi als „Betriebsunfall“ in der Geschichte des Allemagnes erscheinen lassen; François-Georges Dreyfus betonte: „Die politische, kulturelle und historische Vielfalt […] bleibt bis heute ein deutsches Charakteristikum. Vielfalt, Mannigfaltigkeit und Partikularismus sind die Züge, die die deutsche Geschichte über Jahrhunderte bestimmt haben“72. 67 68 69 70 71 72
Gaxotte 1963 [1056], S. 536. Drijard 1966 [1048], S. 275. Kwaschik 2008 [831], S. 17. Vgl. Reitel 1969 [1087]. Vgl. Guillen 1970 [1058], S. 3. Dreyfus 1970 [1046], S. 6. Dreyfus bezieht sich hier auf Minder 1948 [1073]. Vgl. zur Behandlung der DDR an dem von Dreyfus geleiteten Centre d’Études germaniques in Straßburg: Pfeil 2002 [1081]; Defrance 2008 [1044], S. 226 – 230.
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II. Fragen und Perspektiven
Sah Reitel in der Situation der deutschen Teilung einen von den Menschen verantworteten Übergangszustand und warf die Frage auf, ob einem vereinten Deutschland in Zukunft nicht wieder die Rolle eines Vermittlers zwischen der westlichen und der slawischen Welt zukomme, präsentierte Dreyfus die Dreiteilung in Bundesrepublik, DDR und Berlin als Ausdruck einer aus der Geschichte bekannten deutschen Kleinstaaterei. Mit dieser Sicht auf die Dinge befand sich Dreyfus in mehr oder minder stiller Übereinkunft mit der SED, die auch nicht müde wurde, West-Berlin als „drittes Deutschland“ zu bezeichnen. Ob bei dieser Interpretation das traditionelle französische Deutschlandbild oder die kritische Haltung des Gaullisten Dreyfus zur Bonner Ostpolitik die Oberhand gewonnen und ihn bewogen hatte, die DDR gegen die Bundesrepublik auszuspielen, kann hier nicht beantwortet werden. Mögen diese Überlegungen nicht frei von Widersprüchen und oft schnell überholt gewesen sein, so weisen sie auch darauf hin, dass es der SED gelungen war, über den Ausbau des Frankreichhandels ein Bild ökonomischer Stabilität zu konstruieren, das der DDR gepaart mit dem ideologischen Dogmatismus ihrer Staatspartei das Image eines krisenfesten Gebildes eingebracht hatte. Gerade das letzte Beispiel dokumentiert die Interdependenzen zwischen Perzeption und politischem Handeln in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945, obgleich ein Kausalzusammenhang zwischen Perzeptions- und Handlungsebene nicht immer eindeutig zu bestimmen ist. Die sich in den 1960er Jahren abzeichnende internationale Anerkennung der DDR war nicht nur ein Resultat der Entspannungspolitik, sondern drängte sich zugleich als Folge der von der DDR betriebenen Imagepolitik auf, die den Druck auf die Regierenden in Paris erhöhte. Eine ähnliche Form von Interdependenz ließ sich auch für die westdeutsch-französische Annäherung nach 1945 ausmachen: Die Politik konnte nicht gegen weiterhin existierende Feindbilder und die sich daraus ergebende öffentliche Meinung regieren. Sie musste der Tatsache Rechnung tragen, dass Bilder das Gehirn der Menschen strukturieren, die Wahrnehmung lenken, Denken, Fühlen, Handeln und damit auch das Verhältnis benachbarter Völker prägen73; erst das auf einen Perzeptionswandel abzielende Handeln von Politik und Zivilgesellschaft ermöglichte die Unterzeichnung des Élysée-Vertrages. Die sich einspielenden Formen des sozio-kulturellen Austausches und die gezielt von der Politik eingesetzte Symbolik vergegenwärtigten, erzeugten und festigten neue Sinnzusammenhänge, die von Westdeutschen und Franzosen aufgenommen wurden, nicht zuletzt weil sich bei ihnen der Eindruck verstärkt hatte, dass die visuelle Handlung mit der politischen Realität übereinstimmte. Die Monate zwischen Mauerfall und deutscher Wiedervereinigung 1989/90 zeigten aber auch, dass schon überwunden geglaubte Gespenster der Vergangenheit und Stereotype in Zeiten politischen Wandels eine neue Konjunktur erhalten und damit wieder zu Faktoren von Politik werden können. 73 Vgl. Paul 2008 [1079], S. 27.
5. Geschichte als Vektor der Annäherung 5. Geschichte als Vektor der Annäherung
Eine deutsch-französische Beziehungsgeschichte „Nicht bezweifeln lässt sich, dass Kulturkriege stets den Kern der deutschfranzösischen Auseinandersetzungen bildeten. Wann immer in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich ein Land auf dem Schlachtfeld besiegt worden war, wurde die Kulturpolitik zum Terrain, auf dem die kommende Revanche geplant wurde“1. Diese Feststellung von Wolf Lepenies trifft bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sicherlich zu, doch zeigte sich nach dem „Zivilbruch“ des Zweiten Weltkriegs, dass sich langsam die Einsicht durchzusetzen begann, die Logik der geistigen Mobilmachungen sei zu durchbrechen. Neue Formen von Sozialisationsprozessen wollten die handelnden Akteure nach Kriegsende implementieren, um das zwischen beiden Gesellschaften existierende Aggressionspotenzial in eine gewaltlose Aufhebung der wechselseitigen Feindschaft zu überführen. Affektkontrolle als Voraussetzung einer gewaltlosen Austragung von Konflikten musste über Methoden erreicht werden, die über Aggressionshemmung und Gewaltverzicht schließlich zu Toleranz und Kompromissbereitschaft führen2. Vor dem Hintergrund der einsetzenden europäischen Integration sahen nicht nur Historiker in der Entgiftung von Geschichtsbildern einen Schlüssel zur mittel- und langfristigen Problemlösung, um eine konstruktive politische Konfliktkultur mit fairen Chancen für den Ausgleich von gegensätzlichen Interessen zu installieren. Die Bedeutung eines solchen Prozesses unterstrich im September 1949 auch der Leiter der Kulturabteilung der französischen Militärregierung, Raymond Schmittlein: „Die Zukunft der deutsch-französischen kulturellen Beziehungen ist eng mit der Frage des Verhaltens der deutschen Historiker verbunden“3. Im Mittelpunkt dieses Kapitels sollen daher Institutionen und Methoden stehen, mit denen deutsche und französische Historiker versuchten, einen Beitrag für einen emotionalen, mentalen und intellektuellen Transformationsprozess zu leisten, der schließlich die Wahrnehmungsfähigkeit für Fremdes zu erweitern und die Akzeptanz des Fremden im Verhältnis zum Eigenen zu fördern half. Vielversprechend sind in dieser Hinsicht weniger Perzeptionsgeschichten4 als vielmehr Beziehungsgeschichten, die ihr Augenmerk auf Akteure, Räume und Institutio1 2 3 4
Lepenies 2006 [415], S. 213. Vgl. Senghaas 1995 [166]; ders. 1997 [167]; ders. 2004 [168]. Zit. nach: Defrance 2008 [1122], S. 230. Vgl. Escherich 2003 [1128].
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II. Fragen und Perspektiven
nen richten, um auf diesem Weg dem Austausch und Fluss von Ideen, Institutionen und Praktiken auf die Spur zu kommen. Zu diesem Zweck gilt es, transnationale Beziehungsnetze bzw. Kontaktzonen zwischen einzelnen nationalen Gesellschaften in den Blick zu nehmen, um zu untersuchen, wie sich die Akteure verschiedener Kulturen zueinander in Beziehung setzen. Historiker sind in dieser Hinsicht ein bislang unterschätztes Forschungsfeld5, obwohl sie in der Vergangenheit immer wieder eine wichtige Rolle als Akteure in den transnationalen Beziehungen gespielt haben. Ihr Handeln lässt Geschichtswissenschaft nicht alleine als internationalen Wirkungszusammenhang erscheinen, sondern darüber hinaus Geschichte als Vektor sowohl von Abgrenzung als auch von Annäherung und Verständigung, so dass der Zustand der Beziehungen zwischen den Historikern beider Länder im 20. Jahrhundert als Seismograph für den Zustand des deutschfranzösischen Verhältnisses verstanden werden kann.
Die Last der Vergangenheit Die Beziehungen zwischen deutschen und französischen Historikern nach 1945 waren nach Auffassung von Peter Schöttler ein „vermintes Terrain“. Diese „Verminung“ sei dabei eine doppelte: „Sie betrifft erstens das historisch-politische Terrain, auf dem sich die Historiker damals bewegten, und zweitens die spätere und gegenwärtige Rezeption ihrer Geschichtsschreibung. Beide Ebenen mögen sich auf den ersten Blick vermischen, sind aber konkret zu unterscheiden, um die verschiedenen ,Minen‘ angemessen entschärfen zu können“6.
Als Zeugen und Akteure ihrer Zeit waren die Historiker in die realgeschichtlichen Verläufe zwischen Deutschland und Frankreich eingebunden. So hatten sich auch deutsche Historiker dem am 4. Oktober 1914 erschienenen „Aufruf der 93“ angeschlossen, in dem sich deutsche Schriftsteller, Gelehrte und Künstler vorbehaltlos mit der deutschen Kriegsführung solidarisiert hatten, was insbesondere in Frankreich als Ausdruck für den deutschen Chauvinismus in Politik, Kultur und Wissenschaft gewertet wurde7. Nicht alleine französische Wissenschaftler gingen nunmehr auf Distanz zu ihren deutschen Kollegen8, was der belgische Historiker Henri Pirenne auf die einprägsame Formel „Was wir von Deutschland verlernen müssen“9 brachte. Deutsche Historiker „radikalisierte[n] ihre nationa-
5 Die deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen gehören bislang zu den weniger behandelten Forschungsfeldern; vgl. Nies 2002 [155]; Pfeil 2007 [870]. 6 Schöttler 2007 [1175], S. 15. 7 Vgl. vom Bruch 2005 [1190], S. 394. 8 Vgl. Schöttler 1995 [1173], S. 205 f. 9 Vgl. Schöttler 1993 [1172].
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len Bindungen“10 und beteiligten sich an der Suche nach einer „verschiedenen Artung“, wie Steffen Kaudelka unterstreicht: „Grundsätzlich und ,wesensmäßig‘ verstandene Gegensätze zwischen deutscher und französischer Mentalität sollten dabei auf der Grundlage völkerpsychologischer Theoreme wissenschaftlich untersucht werden“11. Genauso beteiligten sich deutsche Historiker an der „Revision des Versailler Vertrages“, den sie als Herausforderung für ihre alltägliche Arbeit verstanden12. Als Folge dieses dialektischen Verhaltens schwappte die politische Argumentation während der Weimarer Republik kontinuierlich in die Wissenschaft hinein, so dass die Verweigerungshaltung gegenüber Frankreich innerhalb der konservativen deutschen Professorenschaft zu einem „unentbehrlichen Requisit antirepublikanischer Agitation“ wurde13. Angesichts der Tatsache, dass der Nachbar im Westen stets vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den vergangenen und aktuellen Konflikten gesehen wurde, kam Ernst Schulin zu dem Urteil, dass die Beschäftigung Deutschlands mit Frankreich „im allgemeinen kein Ruhmesblatt des deutschen Geistes, am wenigsten der Geschichtswissenschaft“ darstelle14. Ausdruck dieser frankreichfeindlichen Geschichtsschreibung war seit den 1920er Jahren u. a. die sogenannte „Volksgeschichte“, die deutsches Volkstum und deutsche Sprachinseln in den westlichen Grenzräumen in koordinierten Netzwerken („Westforschung“) erforschte, was nicht alleine revisionistische Forderungen zu legitimieren erlaubte, wie Heribert Müller prägnant zusammenfasst: „Im Schatten des verlorenen Weltkriegs, von Versailles und Rheinlandbesetzung gedemütigt, heimgesucht von wirtschaftlicher Not, hatten die Historiker einer, wie sie glaubten, zu Unrecht bestraften Nation einen Abwehr- und Selbstbehauptungskampf der Feder zu führen“15. Da war es nur noch ein kleiner Schritt zum „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“, der nach Kriegausbruch 1939/40 seinen unentbehrlichen Beitrag für den deutschen Sieg und die danach zu erwartende Neuordnung Europas leisten wollte16. Nun wissen wir auch, dass der „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ von nicht wenigen Wissenschaftlern genutzt wurde, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Anderen gelang dieses nicht bzw. sie machten gar nicht erst den Versuch, so dass sie sich vielfach nach 1940 in Frankreich wiederfanden. Bekannte Beispiele sind u. a. Percy Ernst Schramm, der das Kriegstagebuch des OKW führte17 und in diesem u. a. die Festnahme von Marc Bloch dokumentierte18. Der 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Raphael 2003 [1176], S. 46. Kaudelka 2003 [1139], S. 16. Vgl. Oberkrome 1996 [1151], S. 189. Vgl. Schroeder-Gudehus 1990 [1178], S. 106/113. Schulin 1976 [1180], S. 672; vgl. auch: Voss 1993 [1192]. Müller 2003 [1147], S. 150. Vgl. Hausmann 2002 [1135]; Freund 2006 [1132]. Vgl. Thimme 2006 [95]. Vgl. Schramm 1982 [1177], S. 294.
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II. Fragen und Perspektiven
spätere Saarbrücker Historiker Heinz-Otto Sieburg war 1940 in die Kriegsmarine eingezogen worden und verbrachte die meiste Zeit während der deutschen Besatzung Frankreichs in Angers. Nachdem er 1944 in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten war, leitete er in einer Lagerschule in Marseille eine Arbeitsgemeinschaft über historische und philosophische Fragen19. Während der deutschen Besatzung Frankreichs ging auch der Bonner Historiker Max Braubach im Pariser Stab des Generals Carl-Heinrich von Stülpnagel seiner Arbeit nach und führte dort ein Tagebuch, das im Bonner Universitätsarchiv auf seine Auswertung wartet. Hier kann keine erschöpfende Liste aller während des Krieges in Frankreich als Soldaten weilenden Historiker erstellt werden; einzugehen ist hier aber auf die als Archivare im besetzten Frankreich eingesetzten – zumeist jungen – deutschen Historiker, war ihr Tun vor 1945 doch oft nicht ohne Auswirkungen für die Nachkriegszeit. Zudem gehörte eine Reihe von ihnen später in der Bundesrepublik zu den führenden westdeutschen Historikern, wie u. a. der ab 1951 als Direktor des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte amtierende Martin Göhring20. Allgemein kann gesagt werden, dass sich die Tätigkeit der verschiedenen in Frankreich tätigen Archivgruppen in einem Koordinatensystem von Konservierung, Sicherung, Vervielfältigung und Ausplünderung bewegte. Obwohl sich in den vergangenen Jahren verschiedene Studien mit dem „Archivraub“ in Frankreich beschäftigt haben, steht die Wissenschaft bei der Erforschung individueller Karriereverläufe noch am Anfang. Als befriedigend mag die Forschungslage zu den Verantwortlichen bezeichnet werden (Georg Schnath, Georg Winter, Ernst Zipfel), über die Umsetzung ihrer Verordnungen und Konzepte vor Ort wissen wir jedoch noch zu wenig. Wie schmal der Grat zwischen der korrekten Aufrechterhaltung archivalischer Gepflogenheiten und der Einverleibung französischer Archivalien durch die deutsche Seite war, thematisiert nun u. a. eine Studie von Wolfgang Freund über den in Nancy eingesetzten Mediävisten Heinrich Büttner21. Der persönliche Nachlass des Bonner Mediävisten Eugen Ewig brachte jetzt zu Tage, wie es diesem in seiner Funktion als Archivar in Metz gelang, das Vertrauen der lothringischen Bevölkerung und ganz besonders des späteren französischen Außenministers Robert Schuman zu gewinnen, was bei den erfolgreichen Bemühungen zur Gründung einer deutschen historischen Forschungsstelle in Paris in den 1950er Jahren von maßgeblicher Bedeutung war22. Wie heikel der Umgang mit dem Erbe des „Archivschutzes“ in den Nachkriegsjahren war, verdeutlicht ein Schreiben von Karl Dietrich Erdmann aus dem Jahre 1966 an Eugen Ewig, nachdem dieser ihn zu einem Vortrag an das nunmehrige DHI Paris eingeladen hatte: „Schließlich bitte ich zu bedenken, daß meine Forschungen z. T. auf 19 20 21 22
Vgl. Müller 2005 [84]. Vgl. Duchhardt 2005 [119]. Vgl. Freund 2006 [1132]. Vgl. Pfeil 2007 [1160].
5. Geschichte als Vektor der Annäherung
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Akten beruhen, die während des zweiten Weltkrieges in Frankreich abgeschrieben bzw. fotokopiert wurden (Papiers Tirard). Lassen Sie mir also noch ein wenig Bedenkzeit“23. Helmut Krausnick, Direktor des Münchener Instituts für Zeitgeschichte von 1959 bis 1972, musste seiner Historikerkarriere nach dem Krieg gar eine neue thematische Ausrichtung verleihen, nachdem er vor 1944 als Mitglied der Kommission des AA in den Archiven des Quai d’Orsay an den Mikrokopieraktionen beteiligt gewesen war. Als er im Jahre 1952 einen Förderantrag bei der DFG stellte, um in Fortführung seiner Dissertation „Holsteins Geheimpolitik in der Ära Bismarck 1886 –1890“ (Hamburg 1942) eine weitere Studie über „Holstein und die Außenpolitik 1890 –1906“ mit französischem Aktenmaterial anzufertigen, das er während seines Einsatzes in Frankreich eingesehen und photokopiert hatte, kam es zu Komplikationen. Bei Gesprächen zwischen der DFG und dem AA äußerten die Bonner Diplomaten maßgebliche Bedenken gegen die Förderung einer solchen Studie: „Es ist zu befürchten, dass die sehr empfindlichen Franzosen es übelnehmen würden, wenn jetzt in der Bundesrepublik Publikationen, die auf diesem französischen Aktenmaterial beruhen, erscheinen […]. Das Auswärtige Amt lege Wert darauf, der Forschungsgemeinschaft diese außenpolitischen Bedenken zur Kenntnis zu bringen, damit nicht etwa eines Tages nicht nur die Verfasser, sondern auch die Forschungsgemeinschaft oder gar das Auswärtige Amt als Rechtsnachfolger des früheren Auswärtigen Amts in eine schwierige Position gegenüber den Franzosen geraten“24.
Die Bundesrepublik setzte in ihren Beziehungen zu Frankreich gerade in dieser Zeit auf eine „Haltung der Zurückhaltung“, um jegliche unnötige Erinnerung an die deutsche Besatzung in dieser politisch sensiblen Phase zu vermeiden. Deutsche und französische Historiker hatten zwar zu dieser Zeit schon wieder zarte Dialogstrukturen aufgebaut, doch ein falsches Wort oder eine unüberlegte Geste konnten alles wieder in Frage stellen. Das Misstrauen der französischen Historiker rührte nicht alleine aus der seit dem 19. Jahrhundert andauernden „Erbfeindschaft“, sondern war bei nicht wenigen durch persönliche Erfahrungen während der Besatzungs- und Kriegszeit begründet. Robert Boutruche, Michel François, Édouard Perroy u. a. hatten sich in der Résistance engagiert, andere wie Robert Fawtier und Jean Schneider waren 23 Karl Dietrich Erdmann an Eugen Ewig, 25. 6. 1966; zitiert in: Pfeil 2008 [1162], S. 83. 24 Vgl. ausführlicher und mit Belegen in: Pfeil 2008 [1162], S. 80. Auch wenn zwischen beiden Ereignissen kein nachweisbarer innerer Zusammenhang besteht, soll an einen Zwischenfall auf dem ersten internationalen Kongress zur Geschichte der europäischen Widerstandsbewegungen in Lüttich im Jahre 1958 erinnert werden, auf dem Helmut Krausnick die westdeutsche Historikerzunft vertrat. Kurz nach Beginn seines Vortrags verließen eine Reihe der zuhörenden Fachkollegen unter maßgeblicher Beteiligung des französischen Zeithistorikers Henri Michel den Saal und skandierten, dass es unerträglich sei, den kläglichen deutschen Widerstand im Zusammenhang mit dem europäischen Widerstand zu behandeln; vgl. Bédarida 1997 [1109], S. 313 f.
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II. Fragen und Perspektiven
von den Deutschen deportiert worden, und Marc Bloch, Mitbegründer der Annales und einer der einflussreichsten Historiker seiner Zeit, wurde wegen seiner Widerstandstätigkeit von der Gestapo im März 1944 verhaftet, gefoltert und schließlich erschossen. Sein Tod wurde nicht nur als persönliches Drama empfunden, die posthum veröffentlichten Werke „Étrange défaite“ (1946) und die „Apologie pour l’histoire“ (1949) dokumentierten seinen Kollegen ein weiteres Mal, welche große wissenschaftliche Lücke er hinterlassen hatte25. Das Misstrauen von Lucien Febvre gegenüber der deutschen Geschichtswissenschaft resultierte jedoch nicht alleine aus der Trauer und der Wut über die Ermordung des langjährigen Weggefährten, sondern zugleich aus dem „geradezu trotzigen Wiederanknüpfen am Denkstil der Vor-Nazi-Zeit mit all den damit verbundenen nationalen Bornierungen“26 und dem fehlenden Willen zur Erneuerung, den er aus der ersten Ausgabe der „Historischen Zeitschrift“ aus dem Jahre 1949 herauslas: „Dieser überkommene politisierte Plunder, diese blutbeschmierten Gespenster, dieser pseudo-historische (und im übrigen pseudo-politische) Kaugummi, den diese mit dem Gütezeichen des Jahrzehnts 1930–1940 versehenen Gladiatoren bis zum Brechreiz wiederkauen, ist es das, was uns das neue deutsche Historikerdeutschland anzubieten hat? Wir wollen noch hoffen, dass es nicht so ist“27.
Die nächsten Jahre sollten zeigen, wie schwer es der deutschen Historikerzunft in der Tat fiel, sich von nationaler bzw. regionaler Selbstbezogenheit zu lösen. Gerade ihre Fixierung auf Politikgeschichte und ihre diffusen, aber tief sitzenden Ängste vor Materialismus, Positivismus oder auch nur Soziologie riefen dabei immer wieder die Kritik von Vertretern der Annales hervor. Während sich französische Historiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotz aller wechselseitiger Abneigung nicht gescheut hatten, methodische Anregungen aus der deutschen Geschichtswissenschaft zu übernehmen, war die große Mehrheit der deutschen Historikerzunft auch nach 1945 nicht bereit, Rezeptionsbarrieren gegenüber den französischen Kollegen abzubauen28. Von Gerhard Ritter ist vielmehr bekannt, wie er gerade in den 1950er Jahren einen permanenten Feldzug gegen die Annales führte und sie in eine marxistische bzw. kommunistische Ecke drängen wollte29, was diese französische Historikerschule angesichts des antikommunistischen Grundkonsenses der westdeutschen Gesellschaft disqualifizieren musste und die Rezeption ihrer Werke verzögerte: „Wer sich also in Deutschland in die Nähe Blochs bzw. der ,Annales‘ hätte begeben wollen, musste damit rechnen, seine ideologische Unbedenklichkeit jederzeit beweisen zu müssen“30. 25 26 27 28 29 30
Vgl. Raulff 1995 [89]; Raphael 1994 [1165]; Dumoulin 2000 [76]. Vgl. Schöttler 2007 [1175]. Febvre 1950 [1130], S. 278. Vgl. dazu Schöttler 1993 [1172]. Vgl. Paravicini 2005 [1155]. Vgl. Cornelissen 2001 [72], S. 476–483. Schöttler 2008 [1176], S. 166.
5. Geschichte als Vektor der Annäherung
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Wie tief die Gräben zwischen der deutschen und französischen Geschichtswissenschaft wenige Jahre nach dem Krieg immer noch waren, wurde den deutschen Historikern u. a. auf dem Internationalen Historikerkongress im Jahre 1950 in Paris demonstriert. Im Vorfeld hatte der französische Mediävist und damalige Präsident des Comité international des sciences historiques (CISH), Robert Fawtier, durchgesetzt, dass deutsche Teilnehmer nur als „Einzelpersonen“ eingeladen werden durften. Diese Entscheidung begründete er gegenüber dem Freiburger Ordinarius Gerhard Ritter mit dem Hinweis, dass sich unter den Kongressteilnehmern Kollegen befänden, deren Land von den Deutschen während des Krieges besetzt worden sei und die persönlich unter der „Brutalität“ des nationalsozialistischen Besatzungsregimes gelitten hätten. Er bestand daher darauf, dass aus Deutschland nur Historiker anreisen dürften, „dont le passé est absolument sans reproche“31. Der Empfang war demzufolge eisig, und im weiteren Verlauf des Kongresses kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Ritter und Fawtier, der seinem deutschen Kollegen vorwarf, in seiner Rede auf dem deutschen Historikertag im September 1949 mit keinem Wort auf die Ermordung von Marc Bloch eingegangen zu sein. Neben den Bedenken gegen den „preußischen“ Protestanten Ritter war es nicht zuletzt dieses Versäumnis, was den Vorstand des CISH dazu veranlasste, der deutschen Historikerzunft die Mitgliedschaft zu verweigern, die damit noch bis 1951 auf die Rückkehr in die communauté scientifique warten musste. Aufgrund der Vorwürfe Fawtiers schlug Ritter vor, in der „Historischen Zeitschrift“ einen Nekrolog für Marc Bloch zu veröffentlichen, um auf diese Weise den französischen Vorhaltungen zu begegnen. Mit dieser delikaten Aufgabe wurde Walther Kienast betraut32, der sicherlich ein intimer Kenner der französischen Geschichte war, zugleich aber auch während des „Dritten Reiches“ Vertreter eines „professoralen Mitläufertums“ (Peter Schöttler). Nichtsdestotrotz war die deutsche Historikerschaft mit dieser Geste den französischen Kollegen zweifellos entgegengekommen. Doch der Pariser Kongress hatte auch gezeigt, welche emotionalen Hindernisse deutsche und französische Historiker zu diesem Zeitpunkt noch zu überwinden hatten. Der deutsche Historiker Hermann Heimpel war zwar mit der Überzeugung nach Deutschland zurückgekehrt, „dass bei günstiger Konstellation die Wissenschaft ein Medium der Humanität sein kann“33. Der während des Krieges an der Reichsuniversität Straßburg wirkende Heimpel tat nach 1945 jedoch erdenklich wenig in dieser Richtung, gelang es ihm doch nie, seine Antipathien gegenüber Frankreich zu überwinden34. Die Annales unter der Ägide von Febvre ließen sich 31 Vgl. zu den Einzelheiten und den Zitaten: Erdmann 1987 [1127]; Schulze 1989 [1182], S. 178 f.; Cornelissen 2001 [72], S. 435 f. 32 Vgl. Kienast 1950 [1140], S. 223–225. 33 Heimpel 1950 [1136], S. 556 f. 34 Vgl. Paravicini 2005 [1155].
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II. Fragen und Perspektiven
ihrerseits wieder stärker auf die deutsche Geschichtswissenschaft ein und veröffentlichten in ihrer Zeitschrift regelmäßig über neue Entwicklungen in der Historiographie des Nachbarn. Wie es nun deutschen und französischen Historikern gelang, gemeinsame neue Grundlagen für Forschung und Lehre der Geschichte zu schaffen, um den Revanchismus zu überwinden und zu einer friedlichen Zukunft in Europa beizutragen, soll auf den nächsten Seiten eingehender beleuchtet werden.
Der „Geist von Speyer“ Übernationale Geschichtsbilder ermöglichten deutschen und französischen Historikern in der Nachkriegszeit trotz aller Ressentiments auf beiden Seiten einen neuen Ansatz bei dem Versuch, den lange Zeit dominierenden Antagonismus zu überwinden, um der Annäherung und der Kooperation einen bis dato nicht gekannten Platz einzuräumen. Besondere Konjunktur hatte bei ihrer gemeinsamen Suche nach unbeschädigten Werten der Blick zurück in die karolingische Vergangenheit, der zukunftsgewandt den Sprung in einen übergreifenden Kulturraum und die Integration Deutschlands in ein übergeordnetes Ganzes ermöglichen sollte. Zu den Vertretern eines solchen Geschichtsbildes gehörten auf deutscher Seite in erster Linie katholisch-rheinländische Historiker, die den kontingenten Begriff „Europa“ mit „Abendland“ füllten und auf diese Weise die Nation in die christlich-abendländische Wertegemeinschaft einordneten35. Nicht zufällig fanden sich einige von ihnen am Historischen Seminar der von der französischen Besatzungsmacht 1946 wiedergegründeten Universität Mainz zusammen36. Sie gehörten damit zu den ersten Ansprechpartnern von Raymond Schmittlein, Leiter der Direction de l’Éducation publique (DEP) der französischen Militärregierung in Baden-Baden, der 1948 im Schatten des im karolingischen Stil erbauten Doms zu Speyer ein Internationales Historikertreffen organisierte37, dem bis 1950 noch drei weitere folgten, „um das Gespräch über die Koordinierung des abendländischen Geschichtsbildes fortzusetzen“38. Lag die Urheberschaft für die ersten Programmentwürfe der Speyerer Treffen auch nicht beim Leiter der DEP, so übernahm Schmittlein schnell die Leitung39. Im Rahmen seiner Umerziehungspolitik sah er in den Treffen die Möglichkeit, die Deutschen zu „entpreußifizieren“ und zu demokratisieren. Zuerst galt es bei der Vorbereitung jedoch so manches Hindernis zu umschiffen, nicht zuletzt das immer wieder durchbrechende Misstrauen auf französischer Seite. So war es keineswegs im 35 36 37 38 39
Vgl. Schildt 1999 [1431]; Pöpping 2002 [1163]; Conze 2005 [1115]. Vgl. Wojtynowski 2006 [1194]. Vgl. Defrance 1994 [762], S. 247–253. III. Internationaler Historikerkongreß vom 17.–20. 10. 1949, in: GWU 1 (1950) 1, S. 52. Vgl. Defrance 2008 [1122], S. 214 ff.
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Sinne von Fawtier, dass die französischen Historiker einen Schritt in Richtung der deutschen Kollegen taten, habe sich doch nicht einer von ihnen „erhoben“, als Marc Bloch erschossen wurde40. Schmittlein hielt aber nichts von einem neuerlichen Boykott deutscher Wissenschaftler wie nach dem Ersten Weltkrieg, habe doch gerade ihre Isolierung den Nationalismus unter ihnen verstärkt. Ihm ging es um einen raschen Aufbau neuer Dialogstrukturen „von unten“, welche die demokratische Erneuerung der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsunterrichts in Deutschland fördern sollten. Im Zeichen einer schwärmerischen Europabegeisterung sollten die Treffen nationale Gegensätze überwinden helfen und maßgeblich zur Rückkehr der westdeutschen Historiker in den Kreis der internationalen Historikerzunft beitragen. Die Dominanz der Nationalgeschichten und die in der Vergangenheit vom Nationalismus gespeiste Geschichtsschreibung sollte durchbrochen werden, um sich den gemeinsamen Werten Europas bzw. des Abendlands zu öffnen. Der deutsche Historiker Franz Schnabel ging bei einem der Treffen sogar noch einen Schritt weiter und fühlte sich zu einem Plädoyer „für eine universelle Geschichte als Bollwerk gegen eine nationale Geschichte veranlasst, die seiner Ansicht nach zur Zwietracht zwischen den Völkern beigetragen habe“41. Universalgeschichte war für Schnabel, aber in noch stärkerem Maße für seinen Bonner bzw. Mainzer Kollegen Fritz Kern, nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs Ausdruck eines neuen Humanismus, der untrennbar mit den „universellen Werten“ verbunden war. Die Wirkung der Treffen von Speyer wird bis heute mit dem etwas nebulösen „Esprit de Spire“ umschrieben, in dem die damaligen Akteure eine Ausdrucksform des europäischen Glaubens im Namen der supranationalen europäischen Werte sahen. Sie beschworen den „Geist internationaler und insbesondere deutsch-französischer Verständigung auf dem Grunde der Gemeinsamkeit wissenschaftlicher Gesinnung“42. Über die nachhaltige Bedeutung von Speyer für den Geschichtsunterricht und die Reinstitutionalisierung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 schreibt Corine Defrance: „Ohne die Kenntnis der in Speyer diskutierten Fragen ist es nicht möglich, die Wiederaufnahme der deutsch-französischen Schulbuchgespräche in den 1950er Jahren und die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz zu verstehen“43. In der praktischen Arbeit verfolgte diese „Institution von eigenartig privatem oder zumindest nur unauffällig offiziellem Charakter“ das Ziel, die nationalen Geschichtsschreibungen und Schulgeschichtsbücher einer intensiven Überprüfung zu unterziehen, um die unterschiedlichen Geschichtsbilder einander anzugleichen und über diesen Weg einen vielschichtigen Umerziehungsund Annäherungsprozess zwischen ehemaligen Kriegsgegnern auf zivilgesell40 41 42 43
Vgl. Defrance 2008 [1122], S. 217. Defrance 2008 [1122], S. 226. Erbe 1950 [1126], S. 301 f. Defrance 2008 [1122], S. 213.
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II. Fragen und Perspektiven
schaftlicher Ebene einzuleiten44. Institutionalisierte Dialogstrukturen wie die Treffen in Speyer förderten zum einen die Neukonfiguration der Netzwerke des Wissens und der Wissenschaft im europäischen Kontext; zum anderen leisteten sie über „die Koordinierung des abendländischen Geschichtsbildes“45 einen Beitrag zu der Imaginierung eines neuen gemeinsamen Raumes. Im Mittelpunkt der ersten Gespräche stand die mittelalterliche Geschichte, was der deutschen Seite angesichts ihrer Unsicherheit mit ihrer „erinnerten Zeitgeschichte“46 in den Nachkriegsjahren entgegenkam. Nicht nur in der Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ lässt sich heute noch nachlesen, wie westdeutsche Historiker u. a. mit französischen und englischen Fachkollegen Gespräche begannen, in denen in einem ersten Schritt die historische Richtigkeit von Lehrmitteln und Schulgeschichtsbüchern auf den Prüfstand gestellt wurde und Inhalte harmonisiert wurden47. Nachdem in der Vergangenheit jeweils unterschiedliche Sichtweisen und Interpretationen Urteile und Meinungen über den anderen beeinflusst und Zerwürfnisse gefördert hatten, sollten diese Gespräche den Weg in eine gemeinsame Zukunft ebnen, so dass ihr wissenschaftlicher Wert eher als zweitrangig einzuschätzen ist, doch nicht ihre Bedeutung für einen neuen zivilgesellschaftlichen Willen zur Verständigung zwischen den Völkern über den Weg der Geschichte und ihrer Vermittlung.
Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche Der Bogen der Speyerer Treffen mit ihren Folgewirkungen spannt sich bis in die unmittelbare Gegenwart, lässt sich der im Jahre 2006 erschienene erste Band des deutsch-französischen Schulgeschichtsbuches „Histoire/Geschichte“ doch mit Fug und Recht als späte Frucht des in Speyer wiederaufgenommenen Dialogs bezeichnen48. Schon damals forderten manche Teilnehmer ein gemeinsames Schulbuch zur Geschichte Europas, doch schien es der Mehrheit für solche visionären Pläne noch zu früh. Man war sich der noch zu leistenden Vorbereitungsarbeit bewusst, formulierte aber zugleich den zukunftsweisenden Willen, „den Faden des Dialogs über die Grenzen hinweg neu zu spinnen“49. Bereits 1949 kam es zu einer ersten Begegnung zwischen dem Präsidenten des französischen Geschichtslehrerverbandes, Édouard Bruley, und Georg Eckert, dem späteren Leiter des 1951 gegründeten Internationalen Schulbuch-Instituts in Braunschweig, die bei der Suche nach Anknüpfungspunkten für die zukünftigen Treffen keineswegs
44 45 46 47 48 49
Vgl. Cornelissen 2001 [72], S. 470 ff. III. Internationaler Historikerkongreß vom 17.–20. 10. 1949, in: GWU 1 (1950) 1, S. 52. Vgl. Tellenbach 1981 [1187]. Vgl. Schüddekopf 1966 [1179]. Vgl. Defrance, Pfeil 2007 [1121]. Riemenschneider 1991 [1170], S. 142.
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bei null beginnen mussten. Lassen sich die Speyerer Gespräche doch ihrerseits auch als Wiederaufnahme der 1935 unterbrochenen deutsch-französischen Lehrbuchgespräche interpretieren, die eine solide Grundlage für die anstehende Arbeit darstellten50 und unter gewandelten Rahmenbedingungen für eine „Kontinuität des hermeneutischen Verstehensbegriffes aus der Zwischenkriegszeit“ bürgten51. Nachdem beim ersten Zusammentreffen elf französische und 26 deutsche Geschichtslehrer die Schulbücher einer genauen Analyse unterzogen hatten, kam bei der zweiten Gesprächsrunde eine Kommission deutscher und französischer Fachhistoriker unter der Leitung von Pierre Renouvin und Gerhard Ritter zusammen, die 1951 die deutsch-französischen Schulbuchempfehlungen formulierte. Unter der Leitung von Georg Eckert und seinen französischen Partnern wurde in den folgenden Jahren jährlich eine Tagung für junge deutsche und französische Geschichtslehrer veranstaltet. Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche der Nachkriegszeit sind als Komponenten einer Friedenspädagogik zu verstehen, mit denen tiefe mentale Gräben nach einer Zeit der Konfrontation zugeschüttet werden sollten, die u. a. durch unsachgemäße und befangene historische Urteile entstanden waren. Feindseligkeit und Ressentiments galt es mit Blick auf die Zukunft abzubauen und in gute Nachbarschaft und Freundschaft zu überführen52, um die Jugend für die deutsch-französische Aussöhnung zu gewinnen. Diese zivilgesellschaftlichen Initiativen entsprachen dem Geist der damaligen Zeit und den politischen Zielen Adenauers, der der Kultur einen hohen Stellenwert in den deutsch-französischen Beziehungen einräumte, so dass Begegnungen wie die Lehrbuchgespräche von der Politik unterstützt wurden. Die Treffen in Speyer wie auch die Lehrbuchgespräche sind Anzeichen für frühe zivilgesellschaftliche Bestrebungen, die Beziehungen zwischen den Ländern und Gesellschaften nach den Schrecken des Krieges auf eine neue gesellschaftliche und transnationale Grundlage zu stellen. Vor dem Hintergrund der einsetzenden europäischen Integration erfuhr der Weg über die Geschichte als Vektor von Verständigung und Kooperation einen bisher nicht gekannten Zuspruch, an dessen Ausgangspunkt nicht die Politik stand, wie Édouard Bruley nach Unterzeichung des deutsch-französischen Kulturabkommens vom 23. Oktober 1954 ausdrücklich in Le Monde vermerkte: „Die deutschen und französischen Historiker haben nicht bis zum Kulturabkommen von 1954 gewartet, um gemeinsam die historische Wahrheit zu suchen und emotionsgeleitete Urteile zu tilgen“53.
50 Vgl. zur Vorgeschichte: Tiemann 1988 [1188]; D’Hoop 1980 [1117]; Riemenschneider 1998 [1171]; Bendick 2003 [1110], S. 87 f. 51 Riemenschneider 1991 [1170], S. 143. 52 Vgl. zu den Schwierigkeiten, sich auf eine gemeinsame Darstellung zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu einigen: Droz 1973 [1124], S. 54 ff. 53 Les rencontres de professeurs français et allemands, in: Le Monde, 9. 11. 1954. Frühe geschichtswissenschaftliche Mittlertätigkeit muss auch dem französischen Zeithistoriker
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II. Fragen und Perspektiven
Das Mainzer Institut für Europäische Geschichte Die Überwindung langjähriger Gegensätze war auch die Absicht des Anfang der 1950er Jahre ins Leben gerufenen Mainzer Instituts für Europäische Geschichte, das sich u. a. zum Ziel setzte, traditionelle Streitpunkte bei der Interpretation historischer Ereignisse zwischen Deutschen und Franzosen zu bereinigen54. Die Ursprünge zur Gründung einer solchen Institution lassen sich auf die Treffen in Speyer zurückführen, wo unter der maßgeblichen Initiative des Bonner Mediävisten Fritz Kern und von Raymond Schmittlein der Plan entstand, „zur Verstetigung der Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg ein internationales Institut für europäische Geschichte einzurichten“55. Eine solche Institution sollte nach Auffassung des Universalhistorikers Kern „der übernationalen und überkonfessionellen Zusammenarbeit von Historikern im Sinne des werdenden Europas dienen“56. Diese Ansichten teilte auch der 1947 gebildete Arbeitskreis christlicher Historiker unter der Leitung von Wilhelm Wühr, der in seiner abendländischen und preußenkritischen Ausrichtung den Ideen Kerns sehr nahestand. Unter Betonung seiner überkonfessionellen Grundüberzeugung wollte er als Gesprächsforum die Geschichtsrevision vom Boden der christlichen Weltanschauung aus fördern. Mit dieser Positionierung setzte sich der Arbeitskreis ostentativ vom Historikerverband und Gerhard Ritter ab, so dass nicht nur Hermann Heimpel ein „Schisma“ der deutschen Geschichtswissenschaft fürchtete57. Um die abendländische Gruppe innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft gegen die „preußischen“ Historiker wie Gerhard Ritter zu stärken, entwickelten die französische Besatzungsmacht und hier besonders Schmittlein ausgedehnte Aktivitäten. Dieser setzte weiterhin alles daran, die „Entpreußung“ des deutschen Geschichtsbildes voranzutreiben, um bei der deutschen Jugend einen europäischen Geist hervorzurufen, der die nationalen Antagonismen überwinden helfen sollte58. Bei seinen Bemühungen um die „Umerziehung des deutschen Volkes“ war Schmittlein stets auf der Suche nach intellektuellen Kapazitäten. Mit Sympathie verfolgte er Kerns Pläne für die Herausgabe einer universalhistorisch konzipierten Weltgeschichte („Historia Mundi“), für deren Verwirklichung er
54 55 56 57 58
und Renouvin-Schüler Jean-Baptiste Duroselle (1917–1994) zugeschrieben werden, der zwischen 1950 und 1957 als Professor am 1948 gegründeten Historischen Institut der Saarbrücker Universität lehrte, wo den Studenten in den 1950er Jahren eine Mischung aus französischen und deutschen Bildungstraditionen geboten wurde; vgl. Müller 1997 [1148]. Vgl. Schulze, Defrance 1992 [1183]. Defrance 1992 [1119], S. 56. Zit. nach: Schulze 1992 [1184], S. 25. Vgl. Schulze 1992 [1184], S. 21. Vgl. dazu die Rede von Raymond Schmittlein bei den „Rencontres internationales“ in Speyer im März 1949 in: Schulze, Defrance 1992 [1183], S. 44 – 48.
5. Geschichte als Vektor der Annäherung
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nach einem institutionellen Rahmen suchte. Die Bekanntschaft mit Schmittlein schien Kern bei der Realisierung seiner Pläne nun ein entscheidendes Stück vorangebracht zu haben, verbanden sich die beiderseitigen Interessen doch à merveille, wie Winfried Schulze betont: „In Mainz, so kann man sagen, fanden die Umerziehungsideen von Schmittlein mit Kerns Überlegungen zur universalhistorischen Erneuerung der deutschen Geschichte zusammen“59. Aus dieser singulären abendländischen Gründungsgeschichte erklärt sich u. a. die eigenartig anmutende Aufteilung in eine Unterabteilung für Universalgeschichte und eine andere für Abendländische Religionsgeschichte. Die verständigungspolitische Komponente der Mainzer Neugründung unterstrich Kern in einem Schreiben an Wühr: „Es wird das erste Zentrum in Deutschland sein, das jemals für das Studium der Universalgeschichte existiert hat, und sein Ziel soll sein, mit wissenschaftlichen Mitteln dazu beizutragen, eine solide Brücke über den Abgrund der nationalen und nationalistischen Vorurteile zu bauen und eine echte europäische Gemeinschaft zu schaffen, die in vollem Sinne dieses Namens würdig ist“.
Nach der internen Eröffnung am 13. November 1950 wurde das neue Institut schließlich mit dem Inkrafttreten der neuen Satzung am 19. April 1951 nun auch offiziell eingeweiht. Welche Bedeutung die Amerikaner dem neuen Mainzer Institut zuschrieben, geht aus den Worten des US-Hochkommissars John J. McCloy hervor, der es wenige Tage nach seiner offiziellen Gründung als „einen Schumanplan der Geschichtsforschung“ bezeichnete60, „um die beginnende europäische Einigungspolitik auf wirtschaftlichem Gebiet durch die kulturelle und wissenschaftliche Einigung zu ergänzen“61. So profilierte sich das Institut als Ort des transnationalen Dialogs u. a. im August und Oktober 1951 in Fortsetzung der Speyerer Gespräche bei den deutsch-französischen Schulbuchgesprächen. Zuzustimmen ist daher der These von Winfried Schulze zur Frühphase des Mainzer Instituts, „das in dieser Form etwas völlig Neues in Deutschland war und dessen Gründung ohne die Niederlage Deutschlands, die französische Besatzungsmacht und ihre Kulturpolitik, ohne eine spezifische Konstellation von Geisteshaltungen und bemerkenswerten Persönlichkeiten nicht zu erklären wäre“. Um sich intensiver der Forschungsförderung zu widmen, zog sich das Mainzer Institut dann jedoch mehr und mehr aus den Schulbuchgesprächen zurück. Auch hatte in der Praxis das Abendland als geistesgeschichtliche Grundlage des Instituts bald ebenso ausgedient wie die universalhistorische Ausrichtung, was symbolhaft durch das frühe Ableben von Kern und Wühr im Jahre 1950 zum Ausdruck kam. Unter der Ägide des neuen Direktors der Abteilung für Universalgeschichte, Martin Göhring, beschäftigte sich das IEG in den folgenden Jahren verstärkt mit der französischen Geschichte des Ancien Régime und der Revolu59 Schulze 2008 [1186], S. 253. Hier auch das folgende Zitat. 60 Vgl. Defrance 1991 [1118], S. 101. 61 Schulze 1992 [1184], S. 28; nächstes Zitat S. 10.
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II. Fragen und Perspektiven
tion62. Ihm gelang es darüber hinaus, die Netzwerke zwischen der deutschen und französischen Geschichtswissenschaft zunehmend zu verdichten, so dass er zweifellos auf diesem Feld zu den wichtigsten Mittlern zwischen beiden Ländern zu zählen ist.
Das Deutsche Historische Institut Paris Mittlerarbeit zwischen deutschen und französischen Historikern wollte auch die am 21. November 1958 offiziell eingeweihte Deutsche Historische Forschungsstelle in Paris, das heutige Deutsche Historische Institut, leisten. Entsprechend dem außenkulturpolitischen Topos von der dialogbereiten Gesellschaft entwickelte sich diese Institution schnell zu einem Ort der deutsch-französischen Wissenschaftsbegegnung63. Zugleich beabsichtigten die Gründungsväter, die Transnationalität der westdeutschen Geschichtswissenschaft zu stärken, um auf diese Weise die eigene Disziplin in den westlichen Kulturkreis zurückzuführen. Bevor es aber 1958 zur feierlichen Eröffnung der Forschungsstelle kommen konnte, waren langjährige Verhandlungen auf deutscher Seite nötig gewesen. Die Idee war keine Geburt der Nachkriegszeit, sondern war bereits Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft gekeimt, doch weder der erste Versuch noch die neuerlichen Anstrengungen während des Zweiten Weltkriegs waren von Erfolg gekrönt gewesen. Anfang der 1950er Jahre schien die Gelegenheit so günstig wie nie zuvor, setzte Bundeskanzler Konrad Adenauer bei seinem Ziel, die internationale Gleichberechtigung der Bundesrepublik so schnell wie möglich zu erreichen, doch in erster Linie auf die deutsch-französische Annäherung und einen Ausbau der zwischengesellschaftlichen Kontakte64. Der wieder einmal aus dem Kreise rheinischer Historiker kommende Vorschlag zur Gründung einer Pariser Forschungsstelle fand daher umgehend das Gehör des Kanzlers, der finanzielle Unterstützung in Aussicht stellte. Nun galt es die französischen Historiker zu überzeugen, so dass der als Direktor ausersehene Mainzer Mediävist Eugen Ewig im Februar/März 1956 in die französische Hauptstadt fuhr, wo er neben Robert Schuman und André François-Poncet mit etwa 30 führenden Persönlichkeiten aus den verschiedenen Universitäten und Grandes écoles zusammentraf. Eine Schlüsselrolle für die Zukunft des Projekts kam wieder einmal Robert Fawtier zu, der sich in dem Gespräch mit Ewig jedoch kooperativ zeigte und einzig bei der inhaltlichen und epochalen Ausrichtung der Forschungsstelle Bedenken äußerte, die Neuzeit sofort einzubeziehen, und vorschlug, mit dem Mittelalter zu beginnen und die Forschungsaktivitäten der zu gründenden Institution erst langsam in die Neuzeit auszubauen. Wichtiger als die wissenschaft62 Vgl. Duchhardt 2005 [119]. 63 Vgl. Pfeil 2007 [1158]; Pfeil 2008 [1162]. 64 Vgl. Defrance 2005 [774].
5. Geschichte als Vektor der Annäherung
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liche Ausrichtung war den französischen Historikern die institutionelle Verankerung der Forschungsstelle. Nach den schmerzhaften Erfahrungen mit der deutschen Kulturpolitik während der Besatzungszeit und hier besonders mit dem Deutschen Institut in Paris65 bestand die französische Historikerschaft auf einer institutionellen Verankerung „sur base universitaire“, womit sie eine politische Zweckbestimmung unterbinden wollte. Nachdem nun auch das Bonner Auswärtige Amt den Plänen zugestimmt hatte, gründeten die beteiligten Historiker am 2. April 1957 die „Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen“ als Gesellschaft Bürgerlichen Rechts am Historischen Seminar der Universität Mainz, die in den nächsten Jahren offizieller Träger der Forschungsstelle war, deren Aktivitäten jedoch vom Bundesinnenministerium finanziert wurden. Welche Bedeutung der Form und der Symbolik in dieser Gründungsphase zukam, unterstrich auch die feierliche Einweihungsfeier, die mit einer Ansprache von Eugen Ewig in französischer Sprache eröffnet wurde. In Anlehnung an die Inschrift im Pariser Stadtwappen „Fluctuat, nec mergitur“ und die Adresse der Forschungsstelle in der „rue du Havre“ hatte er eine seemännische Metaphorik gewählt, um die Route der „barca“ an den verschiedenen administrativen Klippen vorbei nachzuzeichnen. Besonders ging er auf seine Paris-Reise vom Februar/ März 1956 ein und betonte seine Befürchtungen im Vorfeld, die ihn angesichts der schmerzhaften französischen Erinnerungen an die deutsche Besatzung und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart umtrieben, sich aber angesichts der positiven Reaktionen auf französischer Seite als unberechtigt erwiesen hätten. Genauso wie Ewig stellte auch Paul-Egon Hübinger den wissenschaftlichen Charakter der Forschungsstelle in den Mittelpunkt seiner Rede und betonte in bewusster Abkehr von der Praxis während der nationalsozialistischen Besatzung, dass es heute nicht mehr Ziel eines wissenschaftlichen Instituts sein könne, dem Ausland Deutschland zu präsentieren, sondern dass den Deutschen die Gelegenheit gegeben werden solle, die Gastländer besser zu verstehen und über deren Geschichte in Kooperation mit französischen Kollegen zu forschen. Von besonderer Symbolkraft war es weiterhin, dass Hübinger nicht die gleiche Unterlassung beging wie Gerhard Ritter auf dem ersten deutschen Historikertag nach dem Zweiten Weltkrieg in München 1949. Hübinger berichtete, wie es ihn mit Schande erfüllt habe, als er nach dem Krieg von der Ermordung Marc Blochs erfahren habe. Er holte mit dieser Geste nicht nur nach, was neun Jahre zuvor versäumt worden war, sondern leistete durch seine öffentlich bekundete Scham zugleich eine Form von moralischer Wiedergutmachung, auf die die französischen Historiker 13 Jahre vergebens gewartet hatten. Auch die abendliche Ansprache von Eugen Ewig bei Tisch in lateinischer Sprache als Zeichen der von Erudition geprägten Stimmung stand ganz im Zeichen von Verständigung und Versöhnung. Er bedauerte, dass die kulturelle 65 Vgl. Michels 1993 [1145].
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II. Fragen und Perspektiven
Befähigung zu neuem Sehen und Verstehen seit Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Deutschland und Frankreich abhanden gekommen sei und viele Intellektuelle nur in das Nachbarland reisten, um durch die Fremderfahrung den eigenen Nationalcharakter besser zu erkennen und zu schärfen. Gerade die Historiker hatten dabei den Rhein aus Gründen der Abgrenzung als politisch-ethnische und als kulturelle Grenze konzipiert, die den Raum zerschneidet und Menschen trennt. Die von Ewig gewählte maritime Metaphorik setzte sich demonstrativ von den aggressiven Grenzdiskursen der Zwischenkriegszeit ab und ließ Wasserstraßen – ganz in der Tradition von Lucien Febvre – als kommunizierende Räume erscheinen, die soziale Austauschverhältnisse und intellektuelle Verflechtung ermöglichen66. Wie schnell es der Forschungsstelle gelang, sich als wissenschaftliche Mittlerorganisation im Rahmen der deutsch-französischen Annäherung zu profilieren, dokumentierte das von der Forschungsstelle ausgerichtete 1. Deutsch-Französische Historikerkolloquium von 1961. Mag es in der Sache auch nicht ganz korrekt sein, wie die vorangegangenen Ausführungen in diesem Kapitel gezeigt haben, so unterstreicht die folgende Äußerung von Fernand Braudel zum Abschluss der Saarbrücker Tagung die Fortschritte im Verhältnis zwischen deutschen und französischen Historikern: „In seinem Schlusswort betonte Prof. Braudel als Sprecher der französischen Delegation, dass die seit 1914 unterbrochenen Beziehungen zwischen der deutschen und der französischen Geschichtswissenschaft erst auf dieser Tagung wieder neu geknüpft worden seien“67. Dass Braudel zu dieser fast euphorischen Einschätzung kam, mag nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass die Annales ab Ende der 1950er Jahre nun auch in Deutschland ein größeres Echo fanden. Insbesondere Werner Conze und Erich Maschke unterhielten persönliche Kontakte und diskutierten Kooperationsprojekte, die in den 1960er Jahren in einen „eher unspektakulären grenzüberschreitenden Ideenverkehr der Spezialisten“ mündeten und zur Grundlage für eine Verdichtung des bilateralen Netzwerkes wurden, das sich heute pluralistischer darstellt, „als dies in den überschaubaren Historikerfeldern Deutschlands und Frankreichs um 1950 überhaupt vorstellbar war“68. Die in diesem Kapitel behandelten Institutionen und Dialogstrukturen waren transnationale Lernorte, in denen die beteiligten Akteure erst in zweiter Linie als Wissenschaftler agierten. Im Mittelpunkt stand bis in die 1960er Jahre weniger der fachliche Austausch als vielmehr die Begegnung, das Kennenlernen und die kontinuierliche Ausweitung der Kommunikationsstrukturen in einem transnationalen Annäherungsprozess, der kurz nach Kriegsende eingesetzt hatte, doch immer wieder auch hohe Hindernisse bzw. Vorbehalte überwinden musste und nicht selten von gegenseitigem Unverständnis geprägt war. Am Ende dieser Peri66 Vgl. Febvre 2006 [1131]. 67 Pfeil 2007 [1157], S. 306. 68 Raphael 2002 [1167], S. 79 f.
5. Geschichte als Vektor der Annäherung
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ode war es gelungen, das aus der Last der Vergangenheit resultierende wechselseitige Misstrauen weitgehend abzubauen und aus vergangenen Konflikten eine bislang nicht gekannte Dynamik für die Zukunft zu gewinnen. Deutsche und französische Historiker hatten sich ein bislang nicht existierendes wissenschaftlichkulturelles Feld geschaffen, auf dem sie den fachlichen Gedankenaustausch nun unbefangener angehen konnten, so dass in den 1970er Jahren in eine neue Phase der Wissenschaftskooperation eingestiegen werden konnte, die sich durch die Verdichtung neuer Netzwerke und die Gründung weiterer Mittlerinstitutionen auszeichnete69.
69 Vgl. Monnet 2007 [1146]; Beaupré 2007 [1108].
6. Gesellschaftlicher Wandel und
Modernisierung in Deutschland und Frankreich
6. Gesellschaftlicher Wandel und Modernisierung
Die tiefen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbrüche in den 1950er und 1960er Jahren, welche die Modernisierung und Liberalisierung der Gesellschaften in Frankreich und Deutschland ermöglichten und gleichermaßen aus dem internationalen Kontext und den spezifisch nationalen Entwicklungen resultierten, lassen die Frage aufkommen, wie sich diese Angleichungen auf die Annäherung der deutschen und französischen Gesellschaft auswirkten. Vergessen wir aber auch nicht, dass sich zur gleichen Zeit die Unterschiede zwischen der ostdeutschen und den westeuropäischen Gesellschaften weiter vertieften, obwohl es zumindest bis zum Bau der Berliner Mauer weiterhin Verbindungen zwischen den Gesellschaften beider deutscher Staaten gab1, was Christoph Kleßmann veranlasst hat, von „Zwei Staaten, eine Nation“2 zu sprechen. Im Rahmen einer Studie über Liberalisierung und Verwestlichung ist die Frage nach den Veränderungen in der ostdeutschen Gesellschaft jedoch nur als Kontrapunkt einer Untersuchung der Konvergenzen und Divergenzen zwischen der französischen und der westdeutschen Gesellschaft möglich. Wie Hartmut Kaelble hervorgehoben hat, „verband Frankreich und die alte Bundesrepublik […]“ nach dem Zweiten Weltkrieg trotz des Weiterbestehens tiefer kultureller und gesellschaftlicher Unterschiede „weit mehr miteinander als jemals zuvor in den vergangenen 150 Jahren“3. Es sind folglich die Gründe, Modalitäten und Formen zu beleuchten, die sich hinter diesem Satz verbergen: Entstanden diese Konvergenzen allein aus symmetrisch oder asymmetrisch verlaufenden Prozessen? In welchem Maße bewegte sich die eine auf die andere Gesellschaft zu? Fanden zwischen den Gesellschaften und Wirtschaften beider Länder spezifische Prozesse gegenseitiger Durchdringung und des Transfers statt, die zu Aneignungs- und Vermischungsprozessen bei der Entstehung nationaler Identitäten führten? Ein Transfer setzt schließlich die Perzeption, Rezeption und Anpassung von „importierten“ Elementen einer fremden Kultur voraus4. Die Beantwortung dieser Fragen impliziert einen Ansatz, der Vergleich, Austausch und Beziehungen berücksichtigt und diese verschiedenen Herangehensweisen mit1 2 3 4
Vgl. Bauerkämper, Sabrow, Stöver 1998 [381]; Cahn, Pfeil, 2008 [390], S. 13 – 27. Vgl. Klessmann 1997 [409]. Kaelble 2003 [824], S. 40. Vgl. Espagne, Werner 1988 [121]; Werner 1995 [174], S. 20 – 33.
6. Gesellschaftlicher Wandel und Modernisierung
227
einander kreuzt. Der Berliner Historiker Hartmut Kaelble zählt in der deutschfranzösischen und europäischen Geschichtsschreibung zu den Pionieren der vergleichenden Methode, die er hauptsächlich auf dem Feld der sozio-kulturellen Beziehungen einsetzte. Mit diesem Ansatz erarbeitete und erklärte er die Parallelen, Unterschiede und Einflüsse zwischen den Kulturen5. Aber trotz dieser nicht zu leugnenden Verdienste birgt diese Methode auch Risiken. Sie lässt Gesellschaften wie geschlossene Systeme erscheinen, die nicht mehr miteinander kommunizieren6. Aus diesem Grund entwickelten Michael Werner und Bénédicte Zimmermann den Ansatz der „Histoire croisée“, die als Schnittpunkt aller geschichtsmethodischen Strömungen die „transnationale Interaktion“ als Untersuchungsobjekt bestimmt: „Es handelt sich darum, die Gegebenheiten mehrerer Nationalgeschichten mit der analytisch-interpretativen Arbeit des Forschers ins Zentrum einer multiperspektivischen Geschichtsbetrachtung zu stellen […]. Unser Vorschlag […] integriert in die Untersuchung den besonders heiklen Punkt, in dem sich ein multiperspektivischer Gegenstand und ein Bündel mehrerer (,gekreuzter‘) Methoden berührt“7.
Das sehr hohe Maß an theoretischer Komplexität der „Histoire croisée“ macht jedoch ihre praktische Anwendung im Rahmen von multiperspektivischen Ansätzen zu einem schwierigen Unterfangen, so dass konkrete Umsetzungen dieses Ansatzes noch ausstehen. In diesem Kapitel geht es insbesondere um die grundsätzliche Frage der Amerikanisierung, Europäisierung, Verwestlichung und Globalisierung und ihre Rückwirkungen auf die französische und deutsche Gesellschaft. Aber es geht auch um die Frage nach den Grenzen von Annäherung und Angleichung, nach den weiterbestehenden, manchmal sogar tiefgründigen Unterschieden zwischen den Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen, ihren Repräsentationsformen und Mentalitäten in Frankreich und Deutschland. Behandelt werden können in diesem Zusammenhang aber nur einige Hauptsektoren, so dass keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden soll.
5 Vgl. Kaelble 1991 [462]; Dupeux 1994 [1365], S. 111–116. 6 Michel Espagne betont, dass „der vergleichende Ansatz die nationalen Unterschiede verstärkt und Zweifel an ihnen problematisch macht“, und fährt fort: „Die vergleichenden und transferorientierten Ansätze behandeln Gegenstände, von denen man annimmt, dass sie eine Identität ausdrücken. Dieser Umstand lenkt die Aufmerksamkeit des Beobachters, der sich in Gesellschaftsstrukturen der eigentlichen Nationalgeschichte nur teilweise auskennt, ab“; Espagne 1999 [122], S. 36, 42. 7 Vgl. Werner, Zimmermann 2004 [178], S. 8; Werner, Zimmermann 2003 [177], S. 7– 36; Werner, Zimmermann 2002 [176], S. 607–636.
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II. Fragen und Perspektiven
Radioskopie der wichtigsten Veränderungen Politische Systeme im Kalten Krieg Für die Deutschen gehörte das Ende ihres Nationalstaates nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zu den einschneidendsten Veränderungen in der Nachkriegszeit. Die Aufteilung in vier Zonen förderte in den folgenden Jahren ein politisches und gesellschaftliches Auseinanderleben8, das seinen vorläufigen Höhepunkt in der doppelten deutschen Staatsgründung im Jahre 1949 fand. Die weitestgehenden Eingriffe in die gesellschaftlichen und politischen Strukturen ihrer Zone hatte die sowjetische Besatzungsmacht unternommen, die sich bei der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ auf die aus dem Moskauer Exil zurückgekehrte Gruppe um Walter Ulbricht stützen konnte. Die noch 1945 eingeleiteten Enteignungen von Banken, privaten Industriebetrieben und ehemaligen führenden NSDAP-Mitgliedern sowie die Bodenreform, bei der Grundbesitz über 100 Hektar entschädigungslos an Neubauern verteilt wurde, kamen nicht nur einem bedeutenden gesellschaftlichen Einschnitt gleich, sondern waren die ersten Schritte zur Sowjetisierung Ostdeutschlands. Die am 21./ 22. April 1946 vollzogene Zwangsfusion von KPD und SPD zur SED war in dieser Hinsicht das offensichtlichste Zeichen für das Auseinanderdriften der politischen Strukturen in Ost und West9. Obwohl die erste Verfassung der am 7. Oktober 1949 gegründeten DDR noch Züge eines parlamentarisch-demokratischen Staates besaß, hatte die SED bereits die Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft besetzt und das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung aufgeweicht10. Mit der auf dem III. Parteitag im Jahre 1950 beschlossenen Umwandlung der SED in eine „marxistisch-leninistische Kampfpartei“ bzw. „Partei neuen Typs“ und der von ihr im Vorfeld der ersten Wahlen zur Volkskammer (15. Oktober 1950) durchgesetzten Einheitsliste hatte sie endgültig ihre Vorherrschaft gesichert, die sie in den nächsten Jahren nutzte, um – gestützt auf die Sowjetunion – eine sozialistische Gesellschaftsordnung in der DDR zu installieren. Nachdem die deutsche Zweistaatlichkeit mit der Integration der Bundesrepublik und der DDR in ihre jeweiligen Blöcke im Jahre 1955 scheinbar unumkehrbar geworden war, machte sich die SED in den folgenden Jahren daran, die Existenz einer deutschen Nation in Frage zu stellen11. Parallel zur Auseinanderentwicklung der beiden deutschen Staaten im Zuge der Bipolarisierung auf internationaler Ebene und der Teilung Europas durch den „Eisernen Vorhang“ entstand eine zunehmende Konvergenz in Westeuropa und 8 9 10 11
Vgl. Benz 1999 [385]. Vgl. Bouvier 1996 [389]; Malycha 2000 [418]. Vgl. Creuzberger 2000 [1354], S. 39–50. Vgl. Weber 2000 [433]; Bauerkämper 2005 [382].
6. Gesellschaftlicher Wandel und Modernisierung
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zwischen der Bundesrepublik und Frankreich. Aus normativer Perspektive bildeten die junge Bundesrepublik und Frankreich auf Grundlage ihrer Verfassungen liberale Demokratien – auch wenn die Bundesdeutschen den praktischen Umgang mit dieser Demokratie erst noch lernen mussten –, die sich für die Marktwirtschaft entschieden hatten. Diese grundsätzliche Annäherung, bei der Westdeutschland einseitig einen großen Schritt auf die anderen westeuropäischen Staaten zugegangen war, konnte jedoch nicht alle traditionellen Unterschiede zwischen den beiden politischen Systemen kaschieren. Da war zunächst die manifeste symbolische und politische Kontinuität des Staates in Frankreich, verstand sich doch die IV. Republik als direkte Nachfolgerin der III. Republik und sprach dem Vichy-Regime jegliche Legitimität ab, so dass auch die Institutionen der III. Republik nach 1944 wiederauflebten und strukturelle Reformen weitgehend ausblieben, wie Marc Olivier Baruch schreibt: „Es handelt sich tatsächlich weniger darum, den Staat zu reformieren als ihn zu restaurieren“12. In Deutschland hingegen erwies sich der Bruch mit der Vergangenheit als Hauptmerkmal des neuen politischen Systems. Nach dem totalen Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ war jegliche Form von Staatlichkeit verloren gegangen, so dass die Notwendigkeit einer internationalen Verwaltung durch die vier Alliierten gegeben war, aus der heraus schließlich die Gründung der beiden deutschen Staaten erfolgte. Unterschiede ergaben und ergeben sich weiterhin aus dem französischen Zentralismus auf der einen und dem westdeutschen Föderalismus auf der anderen Seite, was die französische Besatzungsmacht jedoch aus sicherheitspolitischen Erwägungen nicht daran hinderte, sich für einen möglichst dezentralisierten bzw. föderalistischen westdeutschen Teilstaat einzusetzen13. Weiterhin blieb in Frankreich das stets beträchtliche Übergewicht des Staates erhalten, während er jenseits des Rheins nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus bis in seine Grundfesten erschüttert war. Auffällig bei einem Vergleich ist zudem die politische Instabilität der IV. Republik mit ihren regelmäßigen Regierungswechseln trotz der langen Tradition des französischen Parlamentarismus, wohingegen sich die Bundesrepublik durch eine bemerkenswerte politische Stabilität auszeichnete, für die die Kanzlerschaft von Konrad Adenauer zwischen 1949 und 1963 charakteristisch war. Einige dieser Unterschiede verloren sich insbesondere durch eine neue Stabilität nach der Verkündung der V. Republik im Oktober 1958; dafür unterschied sich das nunmehrige halb-präsidiale System in seiner Art deutlich vom Parlamentarismus westdeutscher Prägung14, der in den 1950er Jahren eine immer stärkere gesellschaftliche Verankerung erfuhr. Unterschiedliche politische Traditionen und Strukturen hinderten die führenden Politiker beider Länder jedoch nicht an politischer Zusammenarbeit und der Überzeugung, Frankreich und die Bundesrepublik in internationale, zwi12 Baruch 2003 [1302], S. 403. 13 Vgl. Maelstaf 1999 [51]. 14 Vgl. Raithel 2005 [1417], S. 309–322.
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II. Fragen und Perspektiven
schenstaatliche und supranationale Gemeinschaften wie die EGKS, die NATO und die EWG zu führen, in denen von beiden wechselseitige Abstimmung gefordert war15. Die hier agierenden politischen Führungseliten waren nach 1944/45 durchweg erneuert worden, wohingegen auf westdeutscher Seite die personelle Kontinuität in Verwaltung, Universitäten und Wirtschaft16 ein Hauptmerkmal der Nachkriegszeit war. Dies musste nicht immer gleichbedeutend mit mentalen Kontinuitäten sein, war doch zu beobachten gewesen, wie Menschen ihre Denkweisen und ihr Handeln an neue politische Rahmenbedingungen anpassen können. Es schloss allerdings nicht aus, dass in zweiter Reihe Männer wie Hans Globke und Theodor Oberländer Karriere machen konnten, die sich vor 1945 mit dem NS-Regime eingelassen hatten. In Frankreich wurden ein Drittel der 1940 im Parlament sitzenden Abgeordneten und 56 % von jenen, die am 10. Juli 1940 Pétain dazu ermächtigten, eine neue Verfassung auszuarbeiten, und ihm die uneingeschränkte Macht übertrugen, gesäubert; hinzu kamen Parteiausschlüsse und der Drang einer neuen Politikergeneration in politische Schlüsselstellen. Zwar ließen sich auch in Frankreich Beispiele von personellen Kontinuitäten über politische Zäsuren hinweg beobachten wie im Fall von Maurice Papon, aber trotzdem kommt Olivier Wieviorka zu dem Schluss, dass „die sich ankündigende IV. Republik zu großen Teilen von neuen Männern erschaffen wurde“17.
Unterschätzte wirtschaftliche Übereinstimmungen Bezüglich der Strukturen in Wirtschaft und Industrie hoben die Experten lange Zeit die charakteristischen Unterschiede zwischen den beiden Ländern hervor, ob nun in der stärkeren Bedeutung des primären Sektors in Frankreich, auch wenn er sich hier während des uns interessierenden Zeitraums im Niedergang befand, oder in der Stärke des Sekundärsektors in der Bundesrepublik mit seinen von Managern geleiteten Großindustrien, während in Frankreich der Typus des kleinen und mittleren Familienunternehmens weiterhin dominierte. Diese so ungleichen Strukturen waren zum Großteil Folge der unterschiedlichen Wege in die Industrialisierung, die beide Nationen seit dem 19. Jahrhundert eingeschlagen hatten18. Aber auch die nach 1944/49 getroffenen politischen Entscheidungen in Paris und Bonn schienen in unterschiedliche Richtungen zu weisen: Nach der Befreiung Frankreichs verstaatlichte die Regierung viele führende Schlüsselunterneh-
15 Vgl. den ersten Teil dieses Bandes und im Hinblick auf die ideologischen Konvergenzen, die politischen Konzertationen und die Zusammenarbeit zwischen Experten Guillaume 2005 in: Miard-Delacroix/Hudemann 2005 [480], S. 113 –124. 16 Vgl. Frei 2001 [1313]; Wahl 2006 [1256]. 17 Wieviorka 2003 [1340], S. 397. 18 Vgl. Kaelble 2003 [824], S. 43.
6. Gesellschaftlicher Wandel und Modernisierung
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men. 1946 wurde ein Plankommissariat unter der Leitung von Jean Monnet geschaffen, das dem französischen Staat nicht zu Unrecht den Ruf einbrachte, eine interventionsfreudige Wirtschaftspolitik zu führen. Die junge Bundesrepublik hingegen entschied sich nach den Vorstellungen ihres von dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule und dem amerikanischen Wirtschaftssystem (Konkurrenz der Märkte und Absage an jegliche Kartellpolitik)19 geprägten Wirtschaftsministers Ludwig Erhard für die soziale Marktwirtschaft. Deren charakteristische Merkmale waren: Privatunternehmen, Marktregulierung und freie Konkurrenz in einem Staat, der das Gelingen dieses Wirtschaftsmodells durch seine Ordnungspolitik und eine äußerst fortschrittliche Sozialpolitik sichern sollte. Aber trotz dieser unterschiedlichen Ansätze ließ sich eine Annäherung der westdeutschen und der französischen Wirtschaft schon vor 1963 beobachten, auch wenn sie sich in den Folgejahren noch weiter verstärken sollte. Die beiden Wirtschaftssysteme erlebten, wenngleich mit zeitlichen Verschiebungen, wegen spezifischer Besonderheiten der jeweils innerwirtschaftlichen Situation (Ankurbelung der französischen Wirtschaft durch den Wiederaufbau ab 1946 im Rahmen des „Plan Monnet“; neue wirtschaftliche Dynamik in Westdeutschland als Folge der Währungsreform von 1948; ein höheres Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik ab Ende der 1940er Jahre: 5,2 % in Frankreich gegen 6,3 % in der Bundesrepublik im Mittel zwischen 1950 und 196020) doch eine ähnliche Entwicklung, worauf die wichtigsten Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt, die Wachstums- und Produktivitätsrate, der Anteil an der Wertschöpfung und die Struktur der Geschäftsbereiche hindeuten. Diese Konvergenzen, die sich nicht nur auf die deutsche und französische Wirtschaft beschränkten, sondern sich in allen anderen westeuropäischen Wirtschaftssystemen beobachten ließen, sind Teil eines viel umfassenderen Angleichungsprozesses des „Alten Kontinents“ an die US-Wirtschaft, bei dem die europäischen Wirtschaften zuvor unterlassene Maßnahmen nachholten, indem sie amerikanische Produktions- und Wertschöpfungsmethoden nachahmten21. Aber diese Angleichungen erklären sich auch durch die Tatsache, wie Christoph Buchheim hervorhebt, dass sich die deutsche und die französische Wirtschaft in der Realität nicht in dem Maße unterschieden, wie es auf den ersten Blick erscheinen mochte. So hat die anreizorientierte französische „Planification“, die so gar nichts mit der autoritär von oben gesteuerten sozialistischen Planwirtschaft der Ostblockstaaten zu tun hatte, die französische Wirtschaft durch verstärkte Abstimmung zwischen Unternehmern und Gewerkschaften schneller und durchgreifender modernisieren bzw. liberalisieren können, so dass sich auch Frankreich auf marktwirtschaftlichem Kurs begeben konnte. Der Anteil der Staatsunternehmen am BIP betrug 1973 11,5 % und im gleichen Jahr in der Bundesrepublik 11 %. Buchheim unterstreicht auch die sich ähnelnde Politik gegen die Kartelle in 19 Vgl. Berghahn 2008 [1346], S. 15–20; Commun 2003 [1353]. 20 Vgl. Grabas 2004 [1377], S. 9 ff., 16 ff. 21 Vgl. Kaelble 2007 [1393], S. 57–70.
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II. Fragen und Perspektiven
beiden Ländern und die Maßnahmen zur Steigerung des Außenhandels (progressiver Abbau von Warenkontingentierungen und Zollschranken, Deregulierung etc.), die beide Ausdruck für einen Voluntarismus bei den führenden Politikern waren und zur Gründung der internationalen und europäischen Institutionen (OECD, GATT, EGKS) führten, die ihrerseits wiederum den Prozess der Modernisierung und Liberalisierung der Industrie und Wirtschaft22 entscheidend beschleunigten. Namentlich in der Geld- und Finanzpolitik bestanden zwar weiterhin Unterschiede (Frage der Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der Zentralbanken vom Staat; Härte und Stabilität der Währung in der Bundesrepublik; Inflation und mehrere Abwertungen des Franc)23, aber die Konvergenzen der beiden Staaten auf dem Gebiet der Wirtschaft sind unbestreitbar und gingen überdies einher mit einer wachsenden Komplementarität der französischen und westdeutschen Wirtschaft (vgl. Kap. I.6).
Auf dem Weg zur Überwindung gesellschaftlicher Differenzen Demgegenüber zeigten die französische und die deutsche Gesellschaft wie eigentlich alle Gesellschaften in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Eigenheiten als gemeinsame Punkte. Deshalb hält es Hartmut Kaelble für ausgesprochen klug, dass Jean Monnet den Wiederaufbau Europas über die Wirtschaft und nicht über die Kultur oder gesellschaftliche Fragen24 anging, denn „während der fünfziger Jahre konnte man nur schwer von einer ernsthaften Annäherung der französischen und der westdeutschen Kultur und Gesellschaft sprechen, ganz zu schweigen von den tief greifenden Unterschieden zwischen Frankreich und der SBZ bzw. DDR“25. Aber im Laufe der 1950er Jahre führten die Entwicklungen in den (west-)europäischen Staaten zu Annäherungen, die sich insbesondere in ähnlichen Lebensformen und der Entstehung einer Massenkultur beobachten ließen, welche in der Bundesrepublik eher ankam als in Frankreich. Dieser Massenkonsum, ermöglicht durch das Wirtschaftswachstum, die steigende Kaufkraft und eine sich in der Bundesrepublik schneller als in Frankreich vollziehende Urbanisierung, lässt sich an drei Elementen aufzeigen: Zugewinn an Freizeit und Entstehung einer „Freizeitgesellschaft“26, die Entwicklung der audiovisuellen Medien und der einsetzende Höhenflug der Konsumgesellschaft. Zum ersten Punkt: Der sich in Frankreich früher als in Deutschland ausbreitende bezahlte Urlaub und die in Frankreich schneller zurückgehende allgemeine Arbeitszeit förderten die Konvergenzen zwischen beiden Gesellschaften, insbesondere im Bereich der 22 23 24 25 26
Vgl. Buchheim 2005 [1352], S. 159–178. Vgl. Poloni 2005 [1414], S. 99–111. Vgl. Kaelble 2005 [1392], S. 200. Kaelble 2003 [824], S. 40. Vgl. Dumazier 1962 [1364]; Rauch 2002 [1418], S. 352 –409.
6. Gesellschaftlicher Wandel und Modernisierung
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Freizeitgestaltung und im Aufstieg des Massentourismus27: Waren die Staus der 2 CV von Citroën und der 4 CV von Renault auf der „Autoroute du soleil“ in Richtung Côte d’Azur noch ein typisch französisches Bild28, so näherte sich der Prozentanteil der Ferienreisenden 1961 in beiden Ländern doch deutlich an (31 % in der Bundesrepublik und 37,5 % in Frankreich29), wobei die Franzosen bevorzugt in ihrem Land reisten, während die Deutschen vor allem mit dem Zug und weniger mit dem VW-Käfer nach Süddeutschland und vor allem nach Italien fuhren30. In den bundesdeutschen Haushalten hielten in den 1950er Jahren – vor allem nach dem „Wunder von Bern“ (Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 195431) – immer mehr Fernseher Einzug; Frankreich zog in den 1960er Jahren nach (1960 besaßen 25 % der westdeutschen und 13,1 % der französischen Haushalte einen Fernsehapparat) und 1970 schließlich mit der Bundesrepublik gleich: Nun flimmerte in zwei Dritteln aller bundesdeutschen und französischen Familienhaushalte eine Mattscheibe, die den Höhenflug der Massenkultur weiter beschleunigte und zum Symbol der Modernisierung wurde. Demokratisierung und Uniformierung der Gesellschaft waren die wichtigsten Konsequenzen, denn die Massenkultur machte vor keiner sozialen Kategorie halt32. Gleichzeitig wirkte das Fernsehen in den 1960er Jahren prägend auf die nationalen Identitäten in beiden Ländern, zum einen aus strukturellen Gründen, war das Fernsehen doch in Frankreich Ausdruck für die zentralistischen Strukturen und in der Bundesrepublik für den Föderalismus bzw. die föderale Kultur des Landes33, zum anderen durch das Programm bzw. bestimmte Sendungen wie „Familie Schölermann“ oder „À la découverte des Français“, die in der westdeutschen bzw. in der französischen Gesellschaft normbildend wirkten. Wie Andreas Fickers anmerkte, bestand in diesem Punkt eine Art divergenter Symmetrie zwischen beiden Ländern, die der bilateralen Annäherung nicht unbedingt zuträglich war34. Die Demokratisierung des Konsums war sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ein Nachholprozess in Bezug auf die USA, wo sich dieses Phänomen bereits in der Zwischenkriegszeit durchgesetzt hatte. Dabei handelte sich um 27 Vgl. Kopper 2009 [1396]. 28 Vgl. Boyer 1999 [1349], S. 78. 29 Vgl. Fridenson 2004 [1372]; Andersen 1997 [1342]; Wöhler 2002 [1448], S. 263 – 275; Wirsching 2005 [1447], S. 390. 30 Vgl. Mandel 1996 [1406], S. 147–162. 31 Vgl. Schildt 1993 [1428], S. 478; Brüggemeier 2004 [1351]. 32 Vgl. Schildt 1993 [1428], S. 481; Schildt 1995 [1429]; Delporte 2002 [1358], S. 327; D’Almeida, Delporte 2003 [1355]; Lévy 1999 [1402] 1999; Defrance 2008 [1357]. 33 „Das erste Programm der ARD ist im Grunde ein Regionalsender, in dem die verschiedenen lokalen Kulturen und Identitäten wie in einer Art gemischtem Blumenstrauß präsentiert werden und sie somit über die regionalen Grenzen hinweg transportieren, was den Sender zu einem Mittel nationaler Integration machte“, Bourgeois 1993 [1348], S. 86. 34 Vgl. Fickers 2005 [1369], S. 307.
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II. Fragen und Perspektiven
keine spezifische Entwicklung östlich und westlich des Rheins, sondern um eine globale Entwicklung, deren Grundzüge (Standardisierung, Veränderung der Ausgabestruktur der Haushalte, Homogenisierung der Lebensformen, die die nationalen wie regionalen Eigenheiten erodieren ließen, und die Kommerzialisierung der Beziehung zwischen Produzent und Verbraucher etc.) weltweit zu beobachten waren. Dennoch war in der Bundesrepublik und Frankreich sowie in den übrigen westeuropäischen Ländern ein gewisser Widerstand gegen eine kulturelle Vereinheitlichung nicht zu übersehen, was die westeuropäischen Gesellschaften miteinander verband35. Insgesamt gesehen fördert der Vergleich mit den USA westeuropäische bzw. deutsch-französische Übereinstimmungen zu Tage, welche durch einen strikten bilateralen Vergleich verschleiert worden wären, der zu einer Überbetonung der Unterschiede geführt hätte. Letztere sollen hier jedoch auch nicht unter den Tisch gekehrt werden, waren doch gerade die Referenzwerte und die Konsumgewohnheiten in den 1950er Jahren durchaus anders geartet: Dabei mag es im ersten Moment überraschen, dass mehr Franzosen als Deutsche einen Pkw besaßen (1948 waren es sechsmal mehr und 1955 zweimal mehr), wohingegen die deutsche Wohnqualität mit Zentralheizung, sanitären Einrichtungen und Elektrogeräten deutlich über dem Standard französischer Wohnungen lag. Im Übrigen stellte dieser Aufschwung der Massenkultur auf dialektische Weise die Frage nach den neuen Beziehungen zwischen Gesellschaft und Individuum sowie Homogenisierung und Individualisierung, weil die Nutzung der Freizeit und die Art und Weise des Konsums individuelle Entscheidungen verlangten. Wie Andreas Wirsching scharfsinnig feststellt, „eröffnet erst der Durchbruch zu einer auf Überfluss und Uniformierung beruhenden Massenkultur dem Individuum neue Möglichkeiten zur Identitätsbildung, und zwar jenseits der traditionellen Bindungen durch Herkunft und Familie, Schicht und Klasse, Konfession und Bildungsniveau“36. Die Analyse von Unterschieden zwischen Frankreich und Deutschland erfordert auch einen Blick auf das demographische Wachstum in beiden Ländern in seinem Bezug zum globalen Wachstum (zwischen 1946 und 1965 wuchs die Bevölkerung in Westdeutschland um 30 % und die Einwohnerzahl von 45 auf 49 Millionen Menschen; Frankreich wies im gleichen Zeitraum einen Bevölkerungszuwachs von 22 %, d. h. von 40 auf 49 Millionen, auf). Während dieser Zuwachs in Frankreich hauptsächlich auf natürliche Weise zustande kam, ging er in der Bundesrepublik auf eine massive Zuwanderung zurück, ausgelöst vom Strom der Vertriebenen und Flüchtlinge direkt nach Kriegsende und – bis zum Bau der Mauer 1961– zusätzlich verstärkt durch die erhebliche Anzahl von Übersiedlern aus der DDR (2,7 Millionen37). Dieses Migrationsphänomen, das für das ausgeblutete Westdeutschland unmittelbar nach dem Krieg so schwierig zu bewältigen 35 Vgl. Kaeble 2007 [1393], S. 87–116. 36 Wirsching 2005 [1447], S. 382. 37 Vgl. Ludwig 2007 [293], S. 286–309.
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war, sollte sich bald als Trumpf für das bundesdeutsche Wirtschaftswachstum erweisen. Der Bundesrepublik standen nun qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung, die sich durch den Willen zum Aufbau einer neuen Existenz auszeichneten und darüber hinaus die traditionellen Sozialstrukturen durchmischten. Über ein solches Potenzial verfügte Frankreich nicht38. Abgesehen von diesem grundsätzlichen Unterschied in den Migrationsbewegungen verweist auch der Vergleich des natürlichen Wachstums auf tiefe Unterschiede: Gewiss gab es auf beiden Seiten einen „Babyboom“, jedoch in deutlich unterschiedlichen Proportionen, die sich erst zwischen 1960 und 1965 anglichen. In Frankreich lagen die Anzahl der Neugeborenen und der Fruchtbarkeitsindex deutlich über den in der Bundesrepublik registrierten Zahlen (1946 betrug dieser Index für Frankreich 2,98, in der Bundesrepublik 2,0; 1960 lag er bei 2,73 bzw. 2,37). Dieser Abstand resultierte zumindest teilweise aus den sehr viel schwereren, kriegsbedingten Bevölkerungsverlusten in Deutschland, wobei in beiden Ländern eine überproportionale Männersterblichkeit in einem Verhältnis von 10 zu 1 vorlag, die nicht ohne Folgen für die allgemeine Fruchtbarkeit in der Nachkriegszeit bleiben konnte39. Zu diesen demographischen Unterschieden gesellten sich noch die ungleichen Familienstrukturen (die Zahl der Kinder je Familie lag in Frankreich deutlich höher als in Deutschland, wo man auch einen deutlich früheren Rückzug auf die Kernfamilie beobachtete), die ungleiche Kindererziehung (in Frankreich autoritärer) oder das gesellschaftlich unterschiedliche Verhalten der Familien, das sich in den Beschäftigungszahlen der Frauen niederschlug. Diese Zahlen lagen in Frankreich wegen des sehr frühen Schuleingangsalters der Kinder und ihrer Ganztagsbetreuung (Kindergarten und Ganztagsschule ab der Grundschule) deutlich höher als in der Bundesrepublik. In Deutschland hingegen, wo die Erfahrungen im „Dritten Reich“ auch auf diesem Gebiet nachwirkten, verhielten sich Eltern in diesem Punkt deutlich zurückhaltender: Sie zögerten, ihre (Klein-)Kinder außerhalb des familialen Milieus erziehen zu lassen, was den Eintritt der Frauen ins Berufsleben spürbar behinderte bzw. verzögerte40. Die Vermittlung kultureller und religiöser Werte verlief in beiden Ländern gleichfalls unterschiedlich. Während die französische Kultur vom Laizismus und von der Trennung von Kirche und Staat bestimmt blieb, die auch Eingang in die Verfassung der DDR fand, kam den christlichen Werten in der bundesrepublikanischen Bevölkerung ein deutlich höheres Gewicht zu41. Hinzuweisen sei abschließend noch auf andere grundsätzliche Unterschiede, sogar gewachsene Divergenzen zwischen beiden Ländern, z. B. bezüglich des Einflusses der Gewerkschaften, ihrer Mitgliederzahlen bzw. ihres Organisa38 39 40 41
Vgl. Hubert 1995 [404]; ders. 2008 [1279], S. 209–222; Schildt 2007 [425], S. 14, 17 f. Vgl. Hubert 2005 [1278], S. 361–378. Vgl. Kaelble 1991 [462], S. 170–174. Vgl. Kaelble 2003 [824], S. 41.
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II. Fragen und Perspektiven
tionsgrads. Während in der Bundesrepublik der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) eine Dachorganisation von Einzelgewerkschaften darstellt und sich von Beginn an dem Prinzip der Einheitsgewerkschaft verpflichtete, doch anders als der FDGB in der DDR kein Bestandteil und Instrument der politischen Macht war, wird das französische Gewerkschaftssystem von Aufsplitterung und Pluralismus bestimmt. Diese Unterschiede wirken sich auch auf die Verhandlungsführung bei Tarifabschlüssen aus, die in der Bundesrepublik unabhängig zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und weniger konfliktträchtig als in Frankreich geführt werden, wo sich der Staat direkt in die Verhandlungen einmischt, u. a. bei der Einführung von Mindestlöhnen 1950 und der dritten bezahlten Urlaubswoche im Jahr 1956, und die Durchsetzung von Forderungen häufig über den Streik erreicht wird42.
Amerikanisierung, Europäisierung, Westernisierung oder Globalisierung? Ein Wettstreit von Konzepten mit fließenden Grenzen Wie soll man diese allgemeine Konvergenz bezeichnen? Seit den 1990er Jahren beschäftigen die Begriffe Amerikanisierung, Europäisierung, Westernisierung und Globalisierung die Wissenschaft, die ihrerseits versucht, die Konzepte, die sich mit ihnen verbinden, zu präzisieren, um den Modernisierungsprozess der Industriegesellschaften43 zu erfassen. Erinnern wir uns, dass in den 1980er Jahren namentlich westdeutsche Historiker das Konzept der „Modernisierung“ heftig diskutierten und damit nicht zuletzt auch auf ideologische Angriffe ihrer ostdeutschen Kollegen und die Kritik einer Reihe westdeutscher Intellektueller antworteten44, die der Bundesrepublik „restaurative“45 Züge vorwarfen. Allgemein verweist der Begriff der Modernisierung auf ein ganzes Bündel von politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen sowie auf einen Wandel bis dahin bestehender Werte, die den Wiederaufbau in Deutschland und Frankreich nach dem Krieg begleiteten46. „Amerikanisierung“ ist zweifellos der am häufigsten gebrauchte Begriff, um den amerikanischen Einfluss auf die westeuropäischen Gesellschaften und darüber hinaus zu bezeichnen47. Dabei 42 Vgl. Kaelble 1991 [462], S. 196–213. 43 Vgl. Doering-Manteuffel 1999 [1361], S. 11 f.; ders. 2000 [1362], S. 311– 341; Schildt 1999 [1430], S. 87–105; Marcowitz 2007 [1408], S. 7– 31. 44 Vgl. Dirks 1950 [1359], S. 942–954. 45 Vgl. Schwarz 1981/1983 [427]. 46 Vgl. Schildt, Sywottek 1993 [1427]. 47 Vgl. Lacorne, Rupnik, Toinet 1986 [1399]; Freese 1995 [1371], S. 8 –18; Kuisel 1993 [1398]; Stephan 2006 [1443]; Ory 2007 [1412], S. 133–145; Becker, ReinhardBecker 2006 [1344].
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ist er nicht unstreitig, weil er konzeptuell bislang vage blieb. In engerem Sinne bezeichnet er den eingleisigen Transfer aus den USA nach Europa oder in andere Weltregionen und die Übernahme der „importierten“ Elemente48, während die Westernisierung auf den Umlauf von politischen Ideen bzw. westlichen Werten, den kulturellen Austausch mit ihren Anpassungs- und Mischungsprozessen sowie die wechselseitigen Verschränkungen zwischen Europa und Nordamerika verweist49. Der Begriff der „Europäisierung“ wurde ebenfalls verwendet, aber nicht um auf den Ursprung von Produkten und transferierten Werten hinzuweisen, sondern um die westeuropäischen Besonderheiten bei ihrer gesellschaftlichen Aneignung am Endpunkt der Transferkette zu beschreiben50. Eingeschlossen war dabei auch der Prozess der gemeinschaftlichen Orientierung im Zuge der europäischen Integration51. Bezogen auf die eher allgemeinen Probleme dient der noch junge Terminus der „Globalisierung“ zur Beurteilung von Transfers in verschiedene Richtungen und der Entwicklung von wechselseitigen Verschränkungen bis auf eine globale Ebene. Die „Globalisierung“, verstanden als charakteristischer Zustand der gegenwärtigen Welt, umschreibt drei Hauptaspekte: 1. die Infragestellung staatlicher oder nationaler Macht durch die Übertragung eines Großteils dieser Macht von Staaten auf Märkte, 2. die Homogenisierung durch kulturelle Vermischung, die von den neuen Kommunikationstechnologien begünstigt wird, und 3. die Veränderung der Dimensionen von Raum und Zeit durch die Schnelligkeit, mit der Güter und Informationen zirkulieren, was zu einer Relativierung von Grenzen und Entfernungen führt. Aber die Historiker haben sich dieses Begriffes auch angenommen, um Interaktions- und Veränderungsprozesse in der longue durée zu beschreiben, waren Gesellschaften doch nie hermetisch abgeschlossene Räume. Bereits in weiter zurückliegenden Epochen, aber ganz besonders ab Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich Globalisierungstendenzen beobachten52, die im 20. Jahrhundert eine weitere Beschleunigung erfuhren. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die hier präsentierten Konzepte genauso zur Analyse von Entwicklungen herangezogen werden können, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt haben. In diesem Sinn hat Jean-François Eck gezeigt, dass die drei großen transnationalen Kräfte, die zur Modernisierung der französischen Wirtschaft nach 1945 beitrugen, sich schon lange Zeit zuvor offenbart hatten: die Amerikanisierung seit Jahrhundertbeginn, die Europäisierung in der Zwischenkriegszeit und die Globalisierung seit Ende des 19. Jahrhunderts. So kommt er zu dem Schluss, dass diese Prozesse nach 1945 keines48 49 50 51
Vgl. Doering-Manteuffel 1999 [1361], S. 11 f. Vgl. Doering-Manteuffel 2000 [1362], S. 311–341; Rausch 2006 [162], S. 7– 33. Vgl. Kaelble 1997 [1390], S. 191; Rausch 2008 [1421], S. 27– 32. Vgl. zur Europäenisierung der Europäer im Rahmen der Europäischen Integration Frank 2007 [1370], S. 151 f. 52 Vgl. Osterhammel, Petersson 2004 [156], S. 10–27; Conrad 2006 [114]; Osterhammel 2010 [157].
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II. Fragen und Perspektiven
wegs neu waren, doch in ihrer Intensität den Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten53.
Amerikanisierung der Massenkultur? In der Nachkriegszeit waren die USA das „Modell“ und der Ausgangspunkt für Transferprozesse. Aber bevor wir den amerikanischen Einfluss auf Deutschland und Frankreich näher beleuchten, soll an die vorherrschende Einstellung in Bezug auf die Vereinigten Staaten in beiden Ländern erinnert werden. Trotz der Gegnerschaft während der beiden Weltkriege pflegte Deutschland enge Beziehungen zu den USA infolge des hohen Anteils deutscher Einwanderer in die USA im 19. Jahrhundert, der Beteiligung der Vereinigten Staaten am Wiederaufbau nach 1945, der amerikanischen Solidarität während der Berlin-Blockade 1948/49, der Stationierung amerikanischer Streitkräfte und der Rolle der deutschen Emigranten nach 1933 als Mittler zwischen den USA und der Bundesrepublik54. In Frankreich hingegen war die vorherrschende Haltung, die vom Einfluss der Gaullisten und Kommunisten sowie vom Trauma der Niederlage von 1940 bestimmt war, zurückhaltender und kritischer, gerade mit Blick auf das Vorgehen der USA während des Kalten Krieges, was nicht selten zu offenem Antiamerikanismus führte55. Man misstraute der hegemonialen Position der Amerikaner in Politik und Kultur und setzte ihr eine geradezu wilde Entschlossenheit zur Unabhängigkeit (noch verstärkt durch den Indochinakrieg und die Suezkrise) entgegen56. So erklärt es sich, dass die Franzosen im Gegensatz zu den Deutschen deutlich zögerlicher auf den Begriff der Amerikanisierung reagierten. Trotzdem war der amerikanische Einfluss im kulturellen Sektor und gerade im Bereich des Kinos nicht zu übersehen, was nicht zuletzt auch auf die amerikanische Wirtschaftskraft zurückzuführen war57. Doch auch in der Massen- und Alltagskultur war die aus den USA kommende Beeinflussung sichtbar, so vor allem im Bereich der Mode und der Musik. Dietmar Hüser konnte in seiner vergleichenden Studie über die Rolle des Rock’n’Roll in der französischen und westdeutschen Bevölkerung während der zweiten Hälfte der 1950er Jahre herausarbeiten58, dass das gemeinsame politische und sozio-kulturelle Umfeld (Westbindung, Wachstum des Massenkonsums, Einstieg in die Ära der Massenmedien
53 Vgl. Eck 2007 [1366], S. 130 f. 54 Vgl. Bauerkämper, Jarausch, Payk 2005 [1343]. 55 Vgl. Roger 2002 [1425]; Winock 1990 [1446], S. 50 –76; Behrends, Klimó, Poutrus 2005 [1345]; Gienow-Hecht 2006 [1374], S. 1067–1091; dies. 2008 [1375], S. 33 – 38. 56 Vgl. Kaelble 2003 [824], S. 41. 57 Vgl. Lindenberger 2005 [1404], S. 345–360. 58 Vgl. Hüser 2005 [1382], S. 397–417 ; ders. 2006 [1383], S. 189 – 208; ders. 2008 [1384], S. 283 –305.
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und generationeller Wandel in Form des „Babybooms“59) weitgehend erklärt, warum ein großer Teil der Jugendlichen die aus Amerika kommende Populärkultur so begeistert aufnahm. Weiterhin lassen sich im Rahmen der Kulturtransfers beachtenswerte deutsch-französische Ähnlichkeiten beobachten, z. B. in der Bedeutung von Jugendmagazinen als Informations- und Kommunikationsträger dieser Strömungen („Bravo“ in der Bundesrepublik und Salut les copains in Frankreich). Der Einfluss dieser Musik ging jedoch schnell über die Jugend hinaus und erreichte in einem Bottom-up-Prozess breite Schichten der Bevölkerung. Gleichzeitig soll aber nicht verschwiegen werden, dass es in beiden Ländern Milieus gab, die auf diese Formen von Massenkultur und Konsumgesellschaft mit brüsker Ablehnung reagierten60. Bei allen Gemeinsamkeiten lassen sich gerade in dem Amerikanisierungsprozess auch wichtige Unterschiede erkennen – vor allem in Bezug auf seine zeitliche Verschiebung in Frankreich. Der Rock’n’Roll kam in der bundesrepublikanischen Gesellschaft früher zum Durchbruch als in der französischen; ebenso ist hier das Aufkommen der „blousons noirs“ bzw. der Halbstarken, die dieses Phänomen begleiteten, früher zu verzeichnen61. Die Übernahme des amerikanischen Originalvorbilds in Westdeutschland bewies die viel größere Identifizierung deutscher Jugendlicher mit den USA – der deutsche „Bill Haley“, Peter Krauss, erlebte nicht denselben dauerhaften Erfolg wie sein amerikanisches „Vorbild“. Anders in Frankreich, wo die US-Musik durch die französischen Rocker Johnny Hallyday und Eddy Mitchell durch die „lokale Synthese“ deutlich modifiziert wurde. Deshalb passt der Begriff der „Amerikanisierung“ besser auf die Bundesrepublik als auf Frankreich, so dass Jean-François Sirinelli eher von „Westernisierung“ oder sogar von „Globalisierung“ spricht62. Die soziokulturelle Wirkung, die sich aus der größeren Empfänglichkeit für Musiktitel aus den US-Charts ergab, ging in der Bundesrepublik folglich tiefer und gestattete eine neue Dynamik in einer noch ängstlichen und konservativen Vorstellungen zugeneigten Gesellschaft. Anselm Doering-Manteuffel konstatierte, dass diese neuen Verhaltensweisen gegen Ende der 1950er Jahre „dahin wirkten, die Massendemokratie als politisches und soziales System zu stabilisieren“63. Hinter der Amerikanisierung der Jugendkultur verbarg sich vermutlich weniger eine Subkultur als vielmehr ein globaler gesellschaftlicher Wandel mit jugendlichen Hauptakteuren, der traditionelle Hierarchien ins Wanken brachte und den sozial minderbemittelten Schichten neue Aufstiegsmöglichkeiten bot64. Am Beispiel der Musik ist es zudem möglich, den Einfluss westlicher Kultur über den „Eisernen Vorhang“ hinweg zu beleuchten. Obgleich die Ostblockstaa-
59 60 61 62 63 64
Vgl. Sirinelli 2003 [1436]. Vgl. Wildt 1996 [1444]. Vgl. Maase 1992 [1405]. Vgl. Sirinelli 2005 [1437], S. 342. Doering-Manteuffel 1995 [1360], S. 23; vgl. auch: Schildt 2002 [1427], S. 12 – 21. Vgl. Larkey 2004 [1401], S. 676–685.
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II. Fragen und Perspektiven
ten erhebliche Abschottungsanstrengungen unternahmen, konnten auch sie sich – wenn zunächst auch eher mittelbar – der Globalisierung nicht entziehen, was als ein Faktor gelten muss, der zum Sturz des Sowjetsystems beigetragen hat. Für ein besseres Verständnis der hier zum Tragen kommenden Mechanismen bedarf es noch weiterer Forschung, doch deuten neuere Studien auf eine nicht zu geringschätzende Wirkung der amerikanischen Radiosender, des „Westfernsehens“ und weiterer Kulturtransfers hin, die sich im deutschen Fall u. a. auch über die nicht abgerissenen Familienbeziehungen und die sogenannten Westpakete65 ergaben. Die Existenz westlicher bzw. amerikanischen Kultur in der DDR und deren Attraktivität für die ostdeutsche Jugend, die sowohl Rockmusik hören als auch Jeans tragen wollte, war der Partei- und Staatsführung stets ein Dorn im Auge. Seit 1958 wetterte Walter Ulbricht gegen die „westliche Dekadenz“, für ihn hauptsächlich verkörpert in der Person Elvis Presleys, den er als „Marionette des Kapitalismus“ beschimpfte. Trotz späterer Versuche des Regimes, die DDR-Jugend politisch wieder auf Linie zu bringen, und der von Erich Honecker66 in den 1970er Jahren eingeläuteten Wende zum „Konsumsozialismus“ blieb, wie Michael Rauhut schreibt, die Geschichte des Rock in der DDR „eine Geschichte der Kapitulation vor der Übermacht des Westens, gezeichnet von Opportunismus und Schizophrenie […]. Mit Abstand betrachtet, stellt sich das Verhältnis von Rock und Macht als ein permanenter Zickzackkurs dar“67.
Europäisierung der Konsumgesellschaft? Der Massenkonsum, so merkt Hartmut Kaelble an, hat bewiesen, dass er trotz einiger hoch symbolträchtiger Ausnahmen wie der Zigarettenmarke Lucky Strike68, Coca-Cola69 und der Filme aus Hollywood70 nicht mit dem Etikett einer simplen „Amerikanisierung“ versehen werden darf, wurden die meisten Konsumgüter doch in Europa entworfen und gefertigt (Autos, Fernsehgeräte u. a.). Innereuropäische Transferphänomene lassen trotz Verwendung eines gewissen ausländischen „Flairs“ aus Vertriebsgründen auf die Bereitschaft schließen, sich gegenüber anderen europäischen Kulturvölkern zu öffnen bzw. von ihnen gewisse Produkte zu übernehmen, wie die Popularität des französischen Croissants, der italienischen Pizza oder schwedischer Möbel unterstreichen71. Dass Franzo-
65 Vgl. Lange 2003 [1400]; Härtel, Kabus 2000 [1378]. 66 Vgl. zur Entwicklung des Konsums in der DDR: Kaminsky 1999 [1394]; dies. 2001 [1395]; Merkel 1999 [1409]; Poutrus 2002 [1416]. 67 Rauhut 2002 [1419], S. 7; vgl. auch: Poiger 1997 [1413], S. 275 – 289. 68 Vgl. Kruse 2004 [1397]. 69 Vgl. Schildt, Siegfried 2006 [1434]; Domentat 1995 [1363]. 70 Vgl. Garncarz 1993 [1373], S. 167–213. 71 Vgl. Sanchez 2007 [1426]; Bernhard 2006 [1347], S. 263–728.
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sen und Deutsche und ganz allgemein die Europäer weiterhin einen wichtigen Teil ihrer Einkommen für Ernährung und Kleidung ausgaben, darf man nicht als Zeichen für einen wie auch immer gearteten Rückstand in Bezug auf die amerikanische Gesellschaft werten, sondern als Zeichen anderer kultureller Gewohnheiten72. Diese Eigenheiten der westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich zu den Vereinigten Staaten lassen in vielen Fällen den Terminus „Europäisierung“ oder „Westernisierung“ angebrachter erscheinen als „Amerikanisierung“.
Westernisierung der politischen Kultur? Es ist im politischen Bereich schwierig, Konzepte zur Erklärung gesellschaftlicher Entwicklungen vergleichend zu betrachten, was auch für die Westernisierung gilt. Zum einen beriefen sich die Franzosen selbstredend immer auf die Werte der Aufklärung sowie der Französischen Revolution von 1789 und waren davon überzeugt, die politischen Werte des Westens emblematisch zu verkörpern. Wenn sich das Konzept der Westernisierung folglich nicht eben aufdrängt, so ließen sich trotzdem Veränderung und Modernisierung ihres politischen Systems beobachten, wie insbesondere der Übergang zur V. Republik zeigt. Für Deutschland stellt sich die Situation anders dar, beschritt das Land den Weg der Demokratie doch erst nach 1918 und damit deutlich später als Frankreich und Großbritannien. Zuvor zeichnete sich die deutsche politische Kultur durch eine Distanzierung zum Westen bzw. bisweilen durch antiwestliche Tendenzen aus, die sich auch noch während der Weimarer Republik nachweisen lassen73. Dieser andere deutsche Weg nach Westen74 wurde zumeist als „deutscher Sonderweg“ bezeichnet, ein Begriff, der heute mit größerer Vorsicht verwendet wird75. Nichtsdestotrotz war die Neuorientierung Westdeutschlands nach 1945 und die Entscheidung für die Westbindung ein grundsätzlicher Bruch mit wichtigen Elementen deutscher politischer Tradition76. Andere westliche Länder wie Frankreich sahen in der Westernisierung hingegen eine kontinuierliche Entwicklung bzw. ein Ensemble von Übereinstimmungen zwischen den Staaten und Völkern des Abendlandes, die historisch gewachsene Werte teilen77. Die Verwestlichung der politischen Kultur, d. h. der Vor- und Einstellungen der Bürger zur Politik und zu den Werten, die sie damit verknüpfen, ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Annahme bzw. Ablehnung des liberal-demokratischen Systems. Sie vollzog sich im Falle der Bundesrepublik in Etappen.
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Vgl. Kaelble 2005 [1392], S. 197. Vgl. Sontheimer 1962 [1439]. Vgl. Gauzy 1998 [398]. Vgl. Faulenbach 1981 [123], S. 3–21. Vgl. Goeldel 2005 [400], S. 22–27. Vgl. Kaelble 2005 [324], S. 56–63.
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Obgleich das Grundgesetz den normativen Rahmen für einen liberalen Rechtsstaat geschaffen hatte, fand ein liberaler Geist in den 1950er Jahren noch nicht auf allen Ebenen Eingang in die politische Kultur der Bundesrepublik. Vielmehr war zu beobachten, wie sich die Mehrheit der Westdeutschen erst jetzt auf ihren „langen Weg nach Westen“78 machten. Sie standen Demokratie und Westbindung in der Regel zwar loyal gegenüber, zeichneten sich aber zugleich durch eine apolitische Grundhaltung aus, der es bisweilen noch an „Fundamentalliberalisierung“ (Ulrich Herbert) fehlte. Außerdem waren sowohl in der Bundesrepublik wie auch in Frankreich immer wieder neutralistische Fieberstöße zu beobachten, hinter denen westlich des Rheins zumeist die Suche nach einem dritten Weg zwischen den Fronten des Kalten Krieges stand, während diese Strömungen in der Bundesrepublik den klaren Wunsch erkennen ließen, die Verbindungen mit Ostdeutschland aufrechtzuerhalten und den Weg zu einer möglichen deutschen Wiedervereinigung nicht zu verbauen79. Diese Haltung veranlasste Karl Jaspers 1966 zu der Klage „Unser Volk ist noch nicht demokratisch gesinnt“ und zu dem Schluss, dass die Westdeutschen noch keine wirklichen Bürger im Sinne des französischen citoyen80 geworden seien. Darüber hinaus war in der deutschen politischen Kultur noch ein autoritärer Geist als Ergebnis eines noch nicht verarbeiteten mentalen Bruches mit dem „Dritten Reich“ zu beobachten gewesen (1950 betrachteten 40 % der Deutschen die Zeit zwischen 1933 und 1938 als die besten Jahre ihres Lebens; ebenso war die Ansicht weit verbreitet, dass der Nationalsozialismus eine große, nur schlecht umgesetzte politische Idee gewesen sei), der von den Schwierigkeiten zeugte, sich ihrer jüngsten Vergangenheit zu stellen81. Deshalb vertritt u. a. Denis Goeldel die These, „dass die rasche Westbindung der Bundesrepublik auch eine Flucht nach vorne war, um der Last der eigenen Vergangenheit zu entkommen, der sie sich nicht stellen wollte“82. Erst an der Schwelle zu den 1960er Jahren nahm die Westernisierung der politischen Kultur in der Bundesrepublik an Fahrt auf, eng verbunden mit der Aufarbeitung der Vergangenheit (1958 Erster Einsatzgruppenprozess gegen Angehörige der Gestapo, des SD und der Polizei in Ulm, Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg im gleichen Jahr, 1963 Beginn des Auschwitzprozesses in Frankfurt u. a.), die eine Veränderung der Mentalitäten und politischen Vorstellungen der Westdeutschen und eine tiefere Liberalisierung der Werte zur Folge hatte83. Begleitend dazu stieg ihr Interesse an Politik von 27 % (1952) auf 37 % (1962), eine Tendenz, die sich bis in die
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Winkler 2000 [436], S. 169. Vgl. Goeldel 2005 [400], S. 165–178; Soutou 2001 [273], S. 155 ff. Jaspers 1966 [1386], S. 178. Vgl. Mitscherlich 1967 [1232]. Goeldel 2005 [400], S. 177. Vgl. Herbert 2002 [1381], S. 7–49.
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1970er Jahre hinein verstärken und den Prozess der Westernisierung zusätzlich beschleunigen sollte84.
Frankreich und Deutschland auf dem Weg in die Globalisierung? Inwieweit können wir die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik und in Frankreich als Elemente eines globalen Wandels verstehen? Auf politischer Ebene war die Nachkriegszeit wegen der Teilung der Welt in West und Ost – mit Ausnahme der globalen Bedrohung durch die atomare Vernichtung – weniger von Globalisierung im eigentlichen Sinn geprägt als vielmehr von verschiedenen multinationalen Räumen mit gewissen Handlungsspielräumen. Deshalb bezeichnen Jürgen Osterhammel und Niels Petersson die Jahre zwischen 1945 und 1970 als „halbierte Globalisierung“85. Der Kalte Krieg stärkte die inter- wie transnationalen Verschachtelungen innerhalb dieser Räume (Internationalisierung als Etappe auf dem Weg zur Globalisierung), besonders zwischen den Vereinigten Staaten und Europa und vor allem auch innerhalb von Westeuropa. Die den Westen verbindenden Ziele (die Eindämmung des Kommunismus und die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung u. a.) schlossen die wirtschaftliche und politische Koordination zwischen den westeuropäischen Ländern mit ein, die sich ein Netz von Institutionen schufen, denen auch Frankreich und die Bundesrepublik beitraten. Wie Hartmut Kaelble unterstreicht, mussten sie ein Interesse an einer zunehmenden Integration haben, so dass sich in einem interaktiven Prozess eine Stärkung der Nationalstaaten wie auch der supranationalen Institutionen in Westeuropa ergab86. Auf wirtschaftlicher Ebene bewirkte der Boom des internationalen Handels, der den Austausch von Waren, Kapital und Menschen intensivierte, den Trend zur Globalisierung, der von der Institutionalisierung großer internationaler Strukturen begleitet wurde (Weltbank, Internationaler Währungsfonds und GATT). Parallel dazu wurden in Westeuropa Kooperation und Kommerz zwischen den Partnern im Rahmen des Marshall-Plans gestärkt. Die Liberalisierung des Handels, die Öffnung der Märkte und die Konvertibilität der Währungen erfolgten wegen der wirtschaftlichen Schutzmaßnahmen einiger Staaten (vor allem Frankreichs und der EWG im Rahmen ihrer Agrarpolitik) aber nur partiell, weil diese ihre eigene politische und wirtschaftliche Stabilität nicht gefährden wollten. Auch auf dem Gebiet der sozio-kulturellen Beziehungen blieb die Globalisierung unvollkommen, nicht zuletzt weil der Kalte Krieg zu einer Polarisierung der Kulturen beitrug. Im Westen stärker als im Osten bewirkte der Aufschwung des Massenkonsums und der Massenmedien in den 1950er Jahren eine Annähe84 Vgl. Goeldel 2005 [400], S. 172 ff.; Schildt 1999 [1430], S. 87–105. 85 Vgl. Osterhammel, Petersson 2006 [114], S. 86–105. 86 Vgl. Kaelble 2005 [324], S. 83.
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II. Fragen und Perspektiven
rung der Lebensformen. Vor allem in den 1960er Jahren beschleunigten die einsetzenden Reisen ins Ausland und die nicht zu übersehende Kosmopolitisierung der großen Städte als Folge der eingewanderten Gastarbeiter im globalen Kontext eine Homogenisierung der Kulturen. Am Ende dieser tour d’horizon durch die Veränderungen, welche die Gesellschaften in (West-)Deutschland und Frankreich zwischen 1945 und 1963 durchliefen, soll eine Bilanz der Faktoren von Konvergenz und Divergenz stehen. Zum einen darf bei allen Entwicklungen das internationale Umfeld nicht übersehen werden. Der Kalte Krieg diente als starker Motor in der Annäherung der westlichen Staaten auf ideologischem, politischem, wirtschaftlichem und sozio-kulturellem Gebiet, indem er Voraussetzungen für Transferprozesse bot, die wir je nach Art der Transfers unter die Begriffe Amerikanisierung, Westernisierung und Europäisierung fassen können. Einen speziellen Status nahm dabei Deutschland ein, das als Folge der staatlichen Spaltung auch eine identitäre Teilung erlebte. Die Ostdeutschen sahen sich ihrerseits mit den Folgen einer in erster Linie politischen Sowjetisierung konfrontiert, der jedoch keine sozio-kulturelle Tiefenwirkung folgte, weil unter der Oberfläche längerfristige deutsche Mentalitäten sowie intellektuelle und habituelle Prägungen fortwirkten, was auch als Form von Resistenz gegen die von der Besatzungsmacht oktroyierte Sowjetisierung verstanden werden kann87. Trotz der nie abreißenden Verbindungen zwischen der ost- und der westdeutschen Gesellschaft (ob nun auf persönlicher, wissenschaftlicher, sportlicher Ebene oder im Rahmen weiterhin bestehender gemeinsamer Strukturen innerhalb der beiden Kirchen) bildete der ideologische Gegensatz das Hauptmotiv für die auseinanderlaufenden Entwicklungen zwischen den beiden deutschen Staaten, die zu entgegengesetzten, miteinander konkurrierenden Blöcken gehörten, jedoch immer auch aufeinander bezogen blieben. Die besondere und gewissermaßen auch marginale Position Frankreichs im westlichen Lager, die Kraft der kommunistischen und „progressistischen“ Strömungen, die Erinnerung an Widerstand und Antifaschismus boten zwischen gewissen sozio-kulturellen Kreisen in Frankreich und Ostdeutschland hingegen Anknüpfungspunkte. Dennoch weisen die Intensität der jeweiligen Beziehungen und die Übereinstimmungen zwischen der französischen und den beiden deutschen Gesellschaften auf eine asymmetrische Dreiecksbeziehung hin, in der die DDR im deutsch-deutschen Konkurrenzkampf auf französischem Boden nur die „zweite Geige“ spielte (vgl. Kap. II.3). Zum anderen ist hier auf die europäische Integration hinzuweisen, die sich einerseits nur durch den Ost-West-Gegensatz erklären lässt, doch andererseits eine Eigendynamik entwickelte, die maßgeblich zu den Konvergenzen innerhalb des westlichen Lagers und insbesondere zwischen der Bundesrepublik und Frankreich beitrug. Die Auswirkungen der europäischen Integration erlauben einen Blick in die Verschränkungen zwischen politischer und wirtschaftlicher Annäherung dieser beiden Länder. Der Erfolg der europäischen Integrationspoli87 Vgl. Jarausch, Siegrist 1997 [1385]; Klessmann 2008 [139], S. 227– 241.
6. Gesellschaftlicher Wandel und Modernisierung
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tik hing dabei in erheblichem Maße vom Wirtschaftswachstum in Frankreich und der Bundesrepublik ab88, so dass wir festhalten können, dass sich national konvergente Entwicklungen und die europäischen Integrationsbemühungen wechselseitig befruchteten. Schließlich gilt es, die Spezifika der bilateralen Beziehungen zu berücksichtigen, denn nur so gelangen wir zu einem besseren Verständnis für die Übereinstimmungen und Verschränkungen mit ihren bisweilen anzutreffenden Ungleichzeitigkeiten. Zu nennen sind hier erstens die gemeinsamen Erfahrungen (Erinnerungen an den Krieg auf beiden Seiten sorgten dafür, dass entscheidungsbefugte Politiker und militärische Kreise die deutsch-französische Situation relativ gleich einschätzten und die Jugendlichen beider Länder bald im Gefühl der „Nicht-Kriegsgeneration“ zusammenfanden) und zweitens der feste Wille der politischen Entscheidungsträger zur Verständigung, aber auch die Lobbyarbeit der zur Versöhnung bereiten Netzwerke links und rechts des Rheins sowie der deutsch-französischen Mittler, denen eine entscheidende Rolle bei der Überwindung von mentalen Widerständen in der Öffentlichkeit und in gewissen soziokulturellen Milieus zukam. Aber trotz zunehmender Konvergenzen in den deutsch-französischen Beziehungen hielten sich gleichwohl hartnäckige Unterschiede, die einen als Erbe der Vergangenheit (besonders die wirtschaftlich-industriellen Strukturen, aber auch mentale Unterschiede), die anderen als unmittelbare Folge des Zweiten Weltkriegs wie u. a. der Föderalismus in der Bundesrepublik und die demographischen Sonderentwicklungen der Westdeutschen mit der Integration von Vertriebenen und Flüchtlingen in ihre Gesellschaft. Andere Unterschiede sind Ausdruck innenpolitisch unterschiedlicher Entscheidungen oder der Bedeutung von spezifisch nationalen Traditionen, sei es das Verhältnis zu den USA, die in beiden Ländern höchst unterschiedlich perzipiert wurde, sei es die Bedeutung von Kommunismus bzw. Antikommunismus oder das fehlende Verständnis des einen für die Dramen der Dekolonisation und des anderen für die deutsch-deutsche Konkurrenzsituation mit ihren sozio-kulturellen Konsequenzen89. Gerade die Überschneidungen der internationalen, europäischen, bilateralen und nationalen Rahmenbedingungen waren das Charakteristikum aller Sektoren, in denen sich in Frankreich und der Bundesrepublik Veränderungen beobachten ließen90. Und diese Wandlungen, die weit über den Zeitrahmen dieser Studie hinausreichen, führten zwar nicht zur Überwindung sämtlicher deutsch-französischer Unterschiede, doch vermitteln sie dem Betrachter trotzdem das Gefühl einer seit langem angelegten und – alles in allem – wachsenden Übereinstimmung, ganz im Sinne der von Hartmut Kaelble vertretenen Auffassung, dass die sich vollziehende Angleichung ein wesentlicher Faktor für die Annäherung war91. 88 89 90 91
Vgl. Steiner 2005 [1441], S. 179–191. Vgl. Kaelble 2003 [824], S. 41; Cahn 2005 [526], S. 139 –156; Ageron 1994 [347]. Vgl. Miard-Delacroix, Hudemann 2005 [481], S. 29. Vgl. Kaelble 1991 [462], S. 10–12.
Schlussbetrachtung
Schlussbetrachtung
In seinem 2008 erschienenen Essay „Theorie der Nachkriegszeiten, Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945“1 regt der Philosoph Peter Sloterdijk eine Neuinterpretation der deutsch-französischen Beziehungen an. Vor dem Hintergrund der beiden seit der napoleonischen Ära vergangenen Jahrhunderte, in denen sich die Vorstellung vom „Erbfeind“ und eine Hassliebe2 ausgebreitet hätten, will er aufzeigen, in welcher Form die von den Exzessen ihrer kriegerischen Begegnungen erschöpften Länder der Leidenschaft in ihren Beziehungen entsagen sollten. Dazu lässt er (West-)Europa aus seinem als Tragödie und Epos definierten geschichtlichen Rahmen heraustreten und deutet die Bedingungen dieser Nach-Geschichte, die seiner Meinung nach vom Streben nach Konsens und friedlicher Beilegung von Konflikten bestimmt ist3. In dieser neuen Ära ersetze die Zivilisierung die Tragödie, die Verhandlung den Epos, der Konsument den Helden und die gemeinsame Erinnerung das Ereignis. Das sei der Preis, um sich vom Tragizismus zu befreien4. Sicherlich können wir Sloterdijk in der Idee dieser konzeptionellen Wendung der europäischen Geschichte folgen, die sich durch eine Abkehr von der Tragödie und der zerstörerischen Leidenschaft charakterisieren lässt. Wir teilen auch seinen Standpunkt, dass Franzosen und Deutsche glaubten, den Kelch bis zur Neige geleert zu haben, und einen Tiefpunkt erreicht hatten5, der es – wie Albert Camus schon vor Zeiten bemerkt hat – Deutschen und Franzosen schließlich ermöglichte, zusammenzukommen („Das Unglück ist heute das gemeinsame Vaterland“), um sich einen gemeinsamen Weg zur Versöhnung zu bahnen. In seinen 1943/44 verfassten „Briefen an einen deutschen Freund“ verab1 Sloterdijk 2008 [169]. 2 „Will man dem Ausdruck ,Nachkriegszeit‘ mit Blick auf die gesamteuropäische Entwicklung nach 1815 seine volle Bedeutung geben, so kommt man um die Feststellung nicht herum: Die von den französischen Angriffen ausgelösten Reaktionsketten erstreckten sich, wie auch immer mit regionalen Bedingungen vermittelt, über mehr als 150 Jahre, am wirksamsten in den antiliberalen und antimodernen Strömungen in Deutschland, die bis zum Selbstmord Hitlers im Frühjahr 1945 reichten, und in Spanien, wo die Blockade gegen die politische und kulturelle Moderne bis zum Tod Francos Ende 1975 anhielt“; Sloterdijk 2008 [169], S. 21. 3 Eine „post-histoire“, die von dem von Francis Fukuyama verkündeten „Ende der Geschichte“ inspiriert wird; Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. 4 Sloterdijk 2008 [169], S. 7–10. 5 Zit. nach: Sloterdijk 2008 [169], S. 47.
Schlussbetrachtung
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schiedete sich Albert Camus von diesem deutschen „Freund“ und erklärte ihre Freundschaft für beendet. In klarer Vorausahnung der bevorstehenden Niederlage des „Dritten Reiches“ galt es die Zukunft vorzubereiten, wie er im 4. Brief schreibt: „Jetzt, da das Ende naht, können wir euch sagen, was wir gelernt haben: Dass nämlich Heldentum etwas Geringeres ist und Glück ein größeres Bemühen erfordert“6. Für Camus sollte „unser leidenschaftliches Verlangen nach Freundschaft zum Schweigen“ gebracht werden und „die ständige Versuchung“ überwunden werden, „euch zu gleichen“, „ehe wir uns gleichgültig gegenüberstehen“7 (1. Brief, Juli 1943). Gleichgültigkeit – genau darauf baut auch die These Sloterdijks auf. Frankreich und Deutschland hätten den Weg zur Verständigung gefunden, weil sie in ihrer Beziehung auf Leidenschaft und Gefühle verzichteten, die sie seit Valmy an den Rand der Erschöpfung gebracht hätten, weil sie den verbindenden Strang durchschlagen und sich nach einer „gefährlichen Liebschaft“ in aller Freundschaft getrennt hätten: „In Reims haben de Gaulle und Adenauer ihre Nationen entnapoleonisiert und damit den Weg zu einer entfaszinierten Nachbarschaft geöffnet“8. Deshalb und nicht ohne provozierenden Unterton interpretiert Peter Sloterdijk den Augenblick in Reims, als sich Charles de Gaulle und Konrad Adenauer im Juli 1962 trafen, als Moment der Trennung der beiden Nationen im gegenseitigen Einvernehmen: „Es kann aufgrund der zu charakterisierenden stark abweichenden Nachkriegsprozesse in beiden Ländern keine Beziehungen zwischen ihnen geben, und ihr Verhältnis, das offiziell in einem Freundschaftsvertrag codifiziert ist, wäre günstigstenfalls als das einer wohlwollenden gegenseitigen Nicht-Beachtung oder einer benignen Entfremdung zu bezeichnen, wie man sie manchmal zwischen ehemaligen Liebespartnern findet – und warum auch nicht zwischen ehemaligen Hasspartnern“9.
Der Philosoph beschwört das Bild einer endgültigen Entfremdung und des gegenseitigen Nicht-begreifen-Könnens auf kultureller wie psycho-politischer Ebene, beides diplomatisch als „Freundschaft“ zwischen den Völkern getarnt, und schließt daraus, dass die Entfernung des einen zum anderen und die inszenierte Freundschaft in den politischen Beziehungen zwischen ihren Staaten nur ein und dasselbe ausdrücken, nämlich die gesunde Trennung zwischen den zwei Nationen, das Lösen der schicksalhaften Bande, das heilsame Desinteresse: „Nur so können die glücklich Getrennten in Freundschaft und Frieden miteinander leben“10! Aber die „Gleichgültigkeit“ eines Camus, obwohl auch sie auf der Distanz nach einem von Faszination geprägten Moment basiert, hat nur wenig mit der Indifferenz eines Peter Sloterdijk gemein. Für den Verfasser der „Briefe an 6 7 8 9 10
Camus 2005 [1037], (1. Brief S. 87–92; 4. Brief S. 103 –108), hier S. 106. Camus 2005 [1037], S. 88. Sloterdijk 2008 [169], S. 67. Sloterdijk 2008 [169], S. 8 f. Sloterdijk 2008 [169], S. 72.
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Schlussbetrachtung
einen deutschen Freund“ sind diese Schriften nur „Gelegenheitswerke“, und wenn er „ihr“ sagt, meint er nicht „ihr Deutschen“, sondern „ihr Nazis“11. Die Gleichgültigkeit von Camus bezeichnet die ostentative Haltung gegenüber dem Nationalsozialisten, während das „wir“, das Camus ihm entgegenstellt, „wir freien Europäer“ meint12, denen er sich im Namen einer (europäischen) Wertegemeinschaft zugehörig fühlt13. Trotz dieses tiefgreifenden Unterschiedes, der Zweifel an der Art und Weise herausfordert, wie Sloterdijk Camus in diesem Kontext zitiert, kommen wir auf die These des deutschen Philosophen zurück. Es ist sicherlich richtig, dass sich die Intellektuellen beider Länder nach ihrer letzten gemeinsamen Begeisterung für den Existenzialismus schon in den 1950er Jahren wieder voneinander distanziert haben, ganz sicher aber seit den 1980er Jahren. Seither sei in beiden Gesellschaften, so Sloterdijk, ein gewisses freundliches Desinteresse am Nachbarn festzustellen, der einem nicht mehr gänzlich fremd sei, aber eben nur ein Partner unter anderen in Europa. Historiker, Ökonomen und Soziologen konnten in ihren interdisziplinären Vergleichsanalysen jedoch nachweisen, dass Deutsche und Franzosen schon seit der unmittelbaren Nachkriegszeit klare Konvergenzen entwickelt haben, dass es noch nie so viel wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Austausch zwischen den beiden Ländern gegeben hat, dass sich das Bild vom Nachbarn in der eigenen Gesellschaft gründlich verändert hat, was ein Hinweis für das Verschwinden des stereotypen „Erbfeind“-Denkens und gegenseitiges Vertrauen ist. Um seiner These Nachhaltigkeit zu verleihen, unterschlägt Peter Sloterdijk all diese Verbindungen zwischen Akteuren aller Art, die regelmäßigen Konsultationsgespräche zwischen den Regierungen, die zur Verhinderung von Konflikten oder zu ihrer Regulierung notwendig sind, alle Veranstaltungen des deutsch-französischen Jugendaustauschs und alle deutsch-französischen Städtepartnerschaften, „im Vertrauen darauf, dass die Arbeitsbeziehungen der Begegnungsprofis jederzeit unabhängig von philosophischen und kulturtheoretischen Kommentaren funktionieren“14. Aber können philosophische Analyse und Kulturtheorie von diesen Elementen abstrahieren, nur weil sie sich nicht in das Interpretationsschema einordnen lassen oder ihm sogar widersprechen? Treffender als die Metapher von einer gütlichen Trennung, die im Juli 1962 ausgesprochen worden sei, erscheint uns das vom Karikaturisten Klaus Pielert festgehaltene Bild von der Hochzeitsfeier zwischen Michel und Marianne in der Kathedrale zu Reims (vgl. Kap. I.5). Die einen mögen diese „Heirat“ als Vernunftehe bezeichnen, doch reicht diese Erklärung aus? Symbolisiert Reims nicht vielmehr das immer dichter gewordene Geflecht der immer enger gestalteten Bezie11 Vorwort zur italienischen Ausgabe in der Pleiade-Ausgabe, Camus 1984 [1036], S. 219. 12 Ebd. 13 Vgl. zum Europadiskurs bei Camus den dritten „Brief an einen deutschen Freund“ vom April 1944, Camus 2005 [1037], S. 98–102. 14 Sloterdijk 2008 [169], S. 63.
Schlussbetrachtung
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hungen zwischen den beiden Staaten und Gesellschaften, deren Verhältnis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eben nicht von einer „Entemotionalisierung“ geprägt war, sondern von einer Neuorientierung der Emotionen. Deutschen und Franzosen war es zwischen 1945 und 1963 gelungen, über neue Formen von Sozialisationsprozessen das Aggressionspotenzial zwischen beiden Gesellschaften in eine gewaltlose Aufhebung der wechselseitigen Feindschaft zu überführen. So war zwischen beiden Staaten und Gesellschaften ein Vertrauenspotenzial entstanden, auf dem zukünftige Kooperationen aufbauen konnten.
III. Bibliographie
1.
Dokumentationen, Editionen, Quellensammlungen 1. Dokumentationen, Editionen, Quellensammlungen III. Bibliographie
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Deutscher Sonderkonflikt
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6.
Allgemeine Darstellungen
1.
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347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375
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Deutschland
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12. Historikerbeziehungen
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13. Erinnerung und Geschichtspolitik
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Zeittafel
Zeittafel
1943, 3. Juni 1943, 5. August 1943, 30. September 1943, 13. September 1944, 6. Juni 1944, 15. August 1944, 25. August 1944, 7. September 1944, 21. Oktober 1944, 23. Oktober 1944, 4. November 1944, 11. November 1944, November 1944, 22. November 1944, 23. November 1944, 10. Dezember 1945, 4.–11. Februar 1945, 7. März 1945, 19. März 1945, 31. März 1945, März 1945, 4. April 1945, 21. April 1945, 24. April 1945, 25. April 1945, 22. April
General de Gaulle bildet in Algier das Comité français de la Libération nationale Aufzeichnung von Jean Monnet zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas nach dem Krieg Projekt von René Mayer eines westeuropäischen Bundes unter Einschluss eines Rheinstaates Französische Truppen de Gaulles landen auf Korsika; am 5.10. räumen die deutschen Truppen die Insel Landung der Alliierten in der Normandie („D-Day“) Landung alliierter und französischer Truppen in der Provence Befreiung von Paris Abreise von Pétain und seiner Kollaborationsregierung ins „Exil“ nach Sigmaringen Besetzung von Aachen durch amerikanische Truppen Die Sowjetunion, Großbritannien und die USA erkennen die provisorische Regierung de Gaulles in Frankreich offiziell an Die Versorgungslage in den befreiten Ländern Frankreich, Belgien und den Niederlanden wird von den Alliierten als katastrophal bezeichnet Frankreich wird von Churchill aufgefordert, dem europäischen Konsultativrat in London beizutreten Aufbau einer Militärmission für deutsche Fragen unter der Leitung von General Louis-Marie Koeltz Amerikanische Truppen befreien Metz Französische Truppen befreien Straßburg und erreichen damit den Rhein Unterzeichnung des sowjetisch-französischen Vertrages in Moskau Konferenz von Jalta ohne französische Beteiligung. Beschluss zur Beteiligung Frankreichs an der Besetzung Deutschlands Die amerikanischen Truppen überschreiten den Rhein bei Remagen Französische Truppen dringen zum ersten Mal auf deutschen Boden über die Grenze im Nordelsass vor General de Lattre de Tassigny überschreitet mit seinen Truppen den Rhein bei Germersheim Bildung in Paris der Commission de Rééducation du Peuple allemand unter der Leitung von Edmond Vermeil Einnahme von Karlsruhe durch französische Truppen Einnahme von Stuttgart durch französische Truppen Die Rote Armee dringt nach Berlin vor Vereinigung amerikanischer und sowjetischer Truppen bei Torgau (Elbe) Einnahme von Sigmaringen durch französische Truppen (1. Panzerdivision)
314 1945, 26. April 1945, 1. Mai 1945, 7./9. Mai 1945, 8. Mai 1945, 16. Mai 1945, 19./20. Mai 1945, 5. Juni 1945, 1. Juli 1945, 7. Juli 1945, 13. Juli 1945, 19./20. Juli 1945, 25. Juli 1945, 28. Juli 1945, 17. Juli–2. August 1945, 14. August
1945, Sommer
1945, Oktober 1945, 3.–5. Oktober 1945, 4.–15. Oktober 1945, 21. Oktober 1945, 13. November 1945, 13. Dezember 1945, 20. November 1945, 23. Dezember 1946, 20. Januar 1946, 21./22. April 1946, 15. Mai 1946, Sommer 1946, 30. August
1946, 19. September 1946, 1. Oktober
Zeittafel Auf Verlangen des in die Schweiz geflüchteten Pétain wird er den Franzosen übergeben Charles de Gaulle erklärt die Beteiligung Frankreichs an der Besetzung und Verwaltung Deutschlands Kapitulation des Deutschen Reiches in Reims und Berlin-Karlshorst Vollständige Befreiung des französischen Territoriums Frankreich wird Mitglied im UNO-Sicherheitsrat Inspektionsreise von Charles de Gaulle nach Deutschland (Stuttgart, Koblenz, Augsburg) Frankreich erhält eine Besatzungszone in Deutschland Bildung der drei Berliner Westsektoren Aufbau des Comité interministériel aux Affaires allemandes et autrichiennes Auflösung des Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force (SHAEF) Erste Verordnungen zur französischen Besatzung Deutschlands Unterzeichnung des alliierten Protokolls zu den Besatzungszonen in Deutschland Einrichtung der französischen Militärregierung im besetzten Deutschland unter Führung von General Pierre Koenig Potsdamer Konferenz und Abkommen (ohne französische Beteiligung) Todesurteil gegen Philippe Pétain wegen seiner Kollaboration mit dem Deutschen Reich. Die Strafe wurde von de Gaulle am 17. August in lebenslange Haft und Verbannung auf die Insel Île d’Yeu umgewandelt Gründung in Offenburg/Baden der Zeitschriften „Dokumente“ und „Documents“ sowie einer Kontaktstelle, aus der das „Bureau International de Liaison et de Documentation“ (BILD) zur Förderung des deutsch-französischen Dialogs hervorgeht Veröffentlichung des Artikels „L’Allemagne de nos mérites“ von Joseph Rovan in der Zeitschrift „Esprit“ Reise von Charles de Gaulle in die französische Besatzungszone Prozess und Exekution von Pierre Laval Referendum und Wahlen zur Französischen Nationalversammlung Wahl von Charles de Gaulle zum Regierungschef Die französische Besatzungsmacht lässt in ihrer Zone die Gründung von demokratischen Parteien zu Beginn der Nürnberger Prozesse Die französische Administration beschlagnahmt die Saargruben Rücktritt von Charles de Gaulle, Félix Gouin Nachfolger „Zwangsvereinigung“ von KPD und SPD zur SED in der SBZ Wiedergründung der Universität Mainz durch die französische Besatzungsmacht Erstes deutsch-französische Studententreffen in Tübingen Bildung des Landes Rheinland-Pfalz aus dem Zusammenschluss der Pfalz, Teilen der Provinz Hessen-Nassau, dem linksrheinischen Teil Hessens und den ehemaligen preußischen Rheinprovinzen durch die französische Besatzungsmacht Rede von Winston Churchill in Zürich Urteile im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess
Zeittafel 1946, 13. Oktober
315
Annahme des zweiten Verfassungsentwurfes per Referendum zur Gründung der IV. Französischen Republik 1946, 15. Oktober Eröffnung des ersten Institut français in Freiburg/Breisgau 1946, 22. Dezember Wirtschaftliche Angliederung des Saarlandes an Frankreich 1947, 16. Januar Wahl von Vincent Auriol zum ersten Präsidenten der Vierten Republik 1947, 4. März Abschluss eines Französisch-Britischen Beistands- und Bündnispakts 1947, 12. März Verkündung der Truman-Doktrin 1947, 11. März Eröffnung der Ausstellung „Moderne französische Malerei“ in München, zu der innerhalb von zwei Wochen 55 000 Besucher kommen 1947, 10.–25. April Scheitern der Moskauer Außenministerkonferenz 1947, 21. April Französisch-Britisch-Amerikanisches Ruhrabkommen 1947, 4. Mai Ausscheiden der Kommunisten (PCF) aus der Regierung von Paul Ramadier 1947, 18. Mai Landtagswahlen in der französischen Besatzungszone bei gleichzeitiger Volksabstimmung über die Verfassung 1947, 12. Juli–22. September Konferenz von 16 europäischen Staaten in Paris über den Marshallplan. Die Sowjetunion hat bereits die Teilnahme am Marshallplan für sich und andere Ostblockstaaten abgelehnt 1947, 22. September Als sowjetische Antwort auf die Truman-Doktrin verkündet KPdSU-Parteisekretär Andrej Schdanow die „Zwei-LagerTheorie“ 1947, 8. November Verabschiedung der saarländischen Verfassung, die den wirtschaftlicher Anschluss des Saarlandes an Frankreich und die politische Autonomie vorsieht 1947, 15. Dezember Scheitern der Londoner Viermächtekonferenz über Deutschland 1948, 3. Januar Einführung der französischen Währung im Saarland 1948, Januar–Februar Das Berliner Hebbel-Theater spielt die „Fliegen“ von Jean-Paul Sartre 1948, 17. März Gründung der Westunion („Brüsseler Pakt“) 1948, 20. März UdSSR verlässt den Alliierten Kontrollrat in Berlin 1948, August–Juni 1950 Internationale Historikertreffen in Speyer 1948, Juni Gründung des „Comité français d’Échanges avec l’Allemagne nouvelle“ 1948, 1. Juni Frankreich stimmt den „Londoner Empfehlungen“ zu, die die Einrichtung einer zentralen deutschen Autorität für die drei westlichen Besatzungszonen vorsehen 1948, 24. Juni–12. Mai 1949 Berlin-Blockade 1948, 28. Juni Vertrag über die Marshallplan-Hilfe für Frankreich 1948, 2. Juli Gründung des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg 1948, 1. August Wirtschaftliche Zusammenlegung der französischen Besatzungszone mit der Bi-Zone 1948, 1. Dezember Gründung der Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit (GÜZ) als Schwesterorganisation von BILD 1949, 4. April Gründung der NATO 1949, 19. Mai André François-Poncet wird zum französischen Hochkommissar für Deutschland ernannt 1949, 23. Mai Feierliche Verkündung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in Bonn 1949, 14. August Wahlen zum 1. Deutschen Bundestag 1949, 12. September Wahl von Theodor Heuss (FDP) zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland
316 1949, 15. September 1949, 7. Oktober 1949, 11. Oktober 1949, 22. November 1949, 30. November 1950, 13.–15. Januar 1950, 3. März 1950, 7. März
1950, 31. März 1950, 21. April 1950, 9. Mai
1950, 2. Juni
1950, 15. Juni 1950, 25. Juni 1950, 20. September 1950, 24. Oktober
1951, 18. April
1951, 2. Mai 1951, 13. Juni 1951, 7. Juli 1951, 22. Juli–6. September 1951, 5.–19. August 1951, 11. Oktober
Zeittafel Wahl Konrad Adenauers (CDU) zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) Wahl von Wilhelm Pieck zum Präsidenten der DDR; am folgenden Tag wird Otto Grotewohl Ministerpräsident der DDR Petersberger Abkommen Beitritt der Bundesregierung zur Internationalen Ruhrbehörde Besuch des französischen Außenministers Robert Schuman in Bonn Unterzeichnung der Saar-Konventionen in Paris. Das Abkommen garantiert die politische Autonomie des Saargebiets und legt dessen wirtschaftlichen Anschluss an Frankreich fest Bundeskanzler Konrad Adenauer spricht sich in einem Interview mit dem Journalisten Kingsbury-Smith vom „International News Service“ (INS) für eine deutsch-französische Union mit einem gemeinsamen Parlament aus Europarat lädt die Bundesrepublik und das Saarland zum Beitritt als assoziierte Mitglieder ein Eröffnung des „Maison de France“ am Berliner Kurfürstendamm Der französische Außenminister Robert Schuman schlägt der Bundesrepublik Deutschland die Schaffung einer supranationalen Behörde zur Verwaltung der Kohle- und Stahlproduktion vor In Paris beginnen die Besprechungen über den Abschluss einer europäischen Montanunion unter Teilnahme Frankreichs, der Benelux-Staaten, Italiens und der Bundesrepublik, aber ohne Großbritannien „Kampfbündnis“ zwischen dem FDGB und der CGT Beginn des Korea-Krieges Erste westdeutsch-französische Städtepartnerschaft zwischen Ludwigsburg und Montbéliard Frankreichs Ministerpräsident René Pleven legt in der Nationalversammlung einen Plan für die Aufstellung einer europäischen Armee unter bundesdeutscher Beteiligung vor („PlevenPlan“) Die Außenminister der Benelux-Staaten, Frankreichs, Italiens und der Bundesrepublik unterzeichnen in Paris den Vertrag über die Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Das Ministerkomitee des Europarates billigt die Aufnahme der Bundesrepublik als vollberechtigtes Mitglied des Rates. Das Saarland bleibt assoziiertes Mitglied Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Großbritannien erklärt als erste der drei Westmächte die Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland, Frankreich folgt am 13.7. und die USA am 19. 10. 1951 Europäisches Jugendlager auf der Loreley, an dem 7500 Jugendliche teilnehmen Die „III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ finden erstmals in Ost-Berlin statt Präsentation der „Deutsch-Französischen Vereinbarung über strittige Fragen europäischer Geschichte“
Zeittafel 1952, 4. Januar 1952, 10. März 1952, 9. April 1952, 26. Mai 1952, 27. Mai 1952, 9.–12. Juli 1952, 23. Juli 1953, 12. Januar 1953, 19. März 1953, 17. Juni 1953, 23. Dezember 1954, März 1954, 7. April 1954, 7. Mai 1954, 30. August 1954, 23. Oktober 1954, 1. November 1955, 2. März 1955, 5. Mai 1955, 7. Mai 1955, 9. Mai 1955, 14. Mai 1955, 4. Juni 1955, 26. Juli 1955, 20. September 1955, 22. September 1955, 23. Oktober 1956, 12. März
317
Abschluss eines nichtstaatlichen Zahlungsabkommens zwischen der Banque de France und der Deutschen Notenbank der DDR 1. Stalin-Note. Ablehnung durch die Westmächte am 25.3. 2. Stalin-Note, Ablehnung durch die Westmächte am 13.5. Unterzeichnung des „Vertrags über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten“ („Deutschland- oder Generalvertrag“) Unterzeichnung des „Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) in Paris Die II. Parteikonferenz der SED beschließt die „planmäßige Errichtung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR“ Inkrafttreten des Vertrages über die Montanunion Beginn des Oradour-Prozesses in Bordeaux Der Bundestag ratifiziert den Deutschland- und den EVG-Vertrag Volksaufstand in der DDR Wahl von René Coty zum französischen Staatspräsidenten Gründung des Arbeitskreises der privaten Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit (APIIBB) als Dachorganisation privater Mittlerorganisationen Die Bundesrepublik lehnt die Anerkennung der DDR ab und beschließt den Alleinvertretungsanspruch Niederlage der französischen Truppen bei Dien-Bien-Phu. Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina am 21.7. Die französische Nationalversammlung lehnt den EVG-Vertrag ab und bringt damit die EVG zum Scheitern Unterzeichnung der Pariser Verträge, des Saarstatuts, des Deutsch-Französischen Kulturabkommens und weiterer bilateraler Verträge Ausbruch des Algerienkrieges „Proklamation an das deutsche Volk“ der DDR-Volkskammer gegen die Ratifizierung der „Pariser Verträge“ durch den Bundestag (27. Februar). Die „Pariser Verträge“ treten in Kraft Beitritt der Bundesrepublik zur Westeuropäischen Union (WEU) Beitritt der Bundesrepublik zur NATO Unterzeichnung des „Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ („Warschauer Pakt“) Außenminister der Montanunion beschließen in Messina die Bildung eines Gemeinsamen Marktes und einer Europäischen Atomgemeinschaft KPdSU-Generalsekretär der KPdSU Nikita S. Chruschtschow verkündet in Ost-Berlin die Zweistaatentheorie Sowjetunion bestätigt der DDR die „volle Souveränität“ und hebt das Amt des sowjetischen Hohen Kommissars auf Verkündung der „Hallstein-Doktrin“ durch Bundeskanzler Adenauer Die Bevölkerung des Saarlandes lehnt in einer Volksabstimmung das Saarstatut ab Unterzeichnung des Abkommens von Colomb-Béchar über die industrielle und technologische Zusammenarbeit in Nuklearfragen
318 1956, 27. Oktober 1956, 29. Okt.–5. Nov. 1956, 23. November 1957, 1. Januar 1957, 25. März
1957, 1. November 1958, 1. Januar 1958, 31. Januar 1958, 19.–21. März 1958, 22. April 1958, 29. Mai
1958, 14.–15. September
1958, 24. September 1958, 10. November 1958, 21. November 1959, 8. Januar 1959, 11. Mai–20. Juni 1959, 1. Juli 1959, Oktober 1960, 13. Februar 1960, 15. Juli 1960, 29./30. Juli 1961, 13. August 1961, 2. November 1962, 18. Januar 1962, 17. Februar
Zeittafel Unterzeichnung des Luxemburger Saarvertrags, der die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik regelt Suez-Krise Einweihung der Maison de l’Allemagne in der Pariser Cité universitaire Das Saarland wird zehntes Bundesland der Bundesrepublik Deutschland Vertreter der Benelux-Staaten, Frankreichs, Italiens und der Bundesrepublik unterzeichnen die Römischen Verträge über die Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) Eröffnung des ersten Goethe-Instituts in Frankreich in Lille Die „Römischen Verträge“ über EWG und EURATOM treten in Kraft Gründung des Deutsch-Französischen Forschungsinstituts Saint-Louis (ISL) Konstituierende Sitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg Gründung der „Échanges Franco-Allemands. Association française pour les échanges culturels avec l’Allemagne d’aujourd’hui“ (EFA) Der französische Staatspräsident Réné Coty beauftragt Charles de Gaulle mit der Regierungsbildung, nachdem in Algier am 13.5. ein Putsch der französischen Streitkräfte zum Sturz der Regierung in Paris geführt hat Gespräche zwischen de Gaulle und Adenauer in Colombeyles-deux-Églises; eine weitere Begegnung zwischen den beiden Staatsmännern findet am 26. 11. 1958 in Bad Kreuznach statt Memorandum von de Gaulle zur Reform der NATO („DreierDirektorium“) Beginn der „Berlin-Krise“ Einweihung der Deutschen Historischen Forschungsstelle in Paris, dem heutigen Deutschen Historischen Institut Proklamation von Charles de Gaulle zum Staatspräsidenten der V. Französischen Republik Deutschlandkonferenz der Außenminister der Vier Mächte in Genf. Die Bundesrepublik und die DDR entsenden Beobachterdelegationen und nehmen am „Katzentisch“ teil Wahl von Heinrich Lübke (CDU) zum zweiten Bundespräsidenten Erste ostdeutsch-französischen Städtebeziehungen aus Anlass des 10. Geburtstages der DDR Erster französischer Atombombentest Die Bundesrepublik unterzeichnet ein Wiedergutmachungsabkommen mit Frankreich Treffen de Gaulle–Adenauer in Rambouillet Bau der „Berliner Mauer“ 1. Fouchet-Plan zur Gründung einer Union der Europäischen Völker 2. Fouchet-Plan, doch scheitert das Projekt einer Europäischen Politischen Union 17.4. Gründung der „Deutsch-Französischen Gesellschaft“ der DDR (Deufra)
Zeittafel 1962, 18. März 1962, März 1962, 10. April 1962, 15. Mai 1962, 5.–8. Juli 1962, 4.–9. September 1963, 14. Januar 1963, 22. Januar 1963, 13. Juni 1963, 15. Juni 1963, 5. Juli 1963, 16. Dezember
319
Unterzeichnung der Verträge von Évian-les-Bains bedeutet das Ende des Algerienkrieges Rückgabe des bis dahin beschlagnahmten ehemaligen Botschaftsgebäudes (rue de Lille; 75 006 Paris) an die Bundesregierung Das Goethe-Institut eröffnet ein Büro in der Rue de Condé, Paris Pressekonferenz von de Gaulle, der ein supranationales Europa ablehnt Staatsbesuch von Bundeskanzler Adenauer in Frankreich mit Teilnahme an einer Messe in der Kathedrale von Reims gemeinsam mit de Gaulle Staatsbesuch von Staatspräsident de Gaulle in der Bundesrepublik Deutschland und Rede an die deutsche Jugend in Ludwigsburg De Gaulle lehnt EWG-Kandidatur Englands ab Unterzeichnung des Vertrags über die deutsch-französische Zusammenarbeit („Élysée-Vertrag“) und einer „Gemeinsamen Erklärung“ in Paris Ratifizierung des Élysée-Vertrages durch die Nationalversammlung in Paris Ratifizierung des Élysée-Vertrages durch den Bundestag, der das Ratifizierungsgesetz mit einer Präambel versieht Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes (DFJW) Eröffnung eines DAAD-Büros in Paris
320
Karten Karten
Das besetzte Deutschland 1945–1949
Karten
Das Europa der Sechs und die DDR
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Namensregister
Adenauer, Konrad 9, 15, 17, 64, 67–70, 73 –77, 79, 80, 84, 90– 92, 94 – 96, 98, 99, 101–115, 117, 119, 121, 123, 124, 130, 134, 137, 138, 160, 164, 198, 203 – 205, 222, 229, 247, 316, 318, 319 Alphand, Hervé 44, 45 Andersch, Alfred 131 Andler, Charles 206 Arendt, Hannah 132 Armand, Louis 93 Aron, Raymond 132, 201 Auriol, Vincent 75, 315 Badia, Gilbert 205 Benda, Julien 187 Bender, Hans 131 Bernanos, Georges 133 Beyen, Johan Willem 93 Bidault, Georges 47, 50, 66, 81 Bismarck, Otto von 213 Bloch, Marc 211, 214, 215, 217, 223 Böker, Alexander 86 Böll, Heinrich 131 Bondy, François 132 Borchert, Wolfgang 29 Bourdet, Claude 44 Boutruche, Robert 213 Brandt, Willy 179 Braubach, Max 212 Braudel, Fernand 224 Brecht, Bertolt 133, 185 Briand, Aristide 110, 164 Bruley, Édouard 218, 219 Buber-Neumann, Margarete 132 Büttner, Heinrich 212 Byrnes, James F. 51 Camus, Albert 132, 198, 246 – 248 Capitant, René 60 Castellan, Georges 205, 206 Chaban-Delmas, Jacques 119 Chauvel, Jean 150 Cheval, René 147, 148 Chirac, Jacques 16, 160 Chruschtschow, Nikita 100, 106, 317 Churchill, Winston 11, 43, 46, 47, 313, 314
Namensregister
Clappier, Louis 131 Claudel, Paul 133 Clay, Lucius D. 148 Conze, Werner 224 Coty, René 89, 317, 318 Couve de Murville, Maurice 115 Cromme, Gerhard 138 Dahlem, Franz 186 Debré, Michel 103 Dirks, Walter 131 Dreyfus, François-Georges 207, 208 Drijard, André 207 Duroselle, Jean-Baptiste 220 Eckert, Georg 218, 219 Eisenhower, Dwight D. 101, 112 Emmanuel, Isidor 168 Erdmann, Karl Dietrich 212 Erhard, Ludwig 94, 114, 231 Eschenburg, Theodor 147, 149 Ewig, Eugen 169, 212, 222, 223 Faure, Edgar 93, 94 Fauroux, Roger 138 Fawtier, Robert 213, 215, 217, 222 Febvre, Lucien 214, 215, 224 Fouchet, Christian 15, 107–110, 129, 134, 318 Franco, Francisco 98, 246 François, Michel 213 François-Poncet, André 63, 64, 222, 315 Freney, Henri 44 Friedrich II. 110 Gallimard, Gaston 131 Gaulle, Charles de 9, 13, 15, 17, 24, 34, 35, 41, 44 – 50, 54, 62, 86, 89, 92, 97–115, 119 – 123, 128, 134, 148, 151, 152, 154, 160, 164, 183, 184, 191, 203 – 205, 247, 313, 314, 318, 319 Gaxotte, Pierre 206 George, Pierre 133 Giron, Irène 60, 155 Giscard d’Estaing, Valéry 16 Globke, Hans 230 Goebbels, Joseph 196
Namensregister Goethe, Johann Wolfgang von 129, 167, 207, 319 Goeudevert, Daniel 138 Göhring, Martin 212, 221 Gouin, Félix 50, 314 Grandval, Gilbert 56 Grosser, Alfred 133, 165, 169, 172, 174, 206 Grotewohl, Otto 316 Guillen, Pierre 207 Haley, Bill 239 Hallstein, Walter 176, 185, 317 Hallyday, Johnny 239 Harcourt, Robert d‘ 131, 133 Hausenstein, Wilhelm 130, 169 Hebbel, Friedrich 130, 315 Heimpel, Hermann 215, 220 Heine, Heinrich 133 Hermlin, Stephan 133 Heuss, Theodor 68, 165, 315 Hitler, Adolf 11, 22, 37, 195, 246 Hoffmann, Johannes 56, 69, 84 Honecker, Erich 240 Hübinger, Paul-Egon 223 Janz, Friedrich 86 Jaspers, Karl 132, 242 Jouhaux, Léon 195 Juin, Alphonse 150 Karl der Große 110 Kennedy, John F. 104, 105, 108, 112, 113 Kern, Fritz 217, 220, 221 Kessel, Joseph 25 Kienast, Walther 215 Kingsbury-Smith, Joseph 73, 316 Knochen, Helmut 89 Koeltz, Louis-Marie 54, 313 Koenig, Pierre 55, 57, 118, 314 Kogon, Eugen 131, 132 Kohl, Helmut 16, 111 Kraus, Peter 239 Krausnick, Helmut 213 Krukenberg, Gustav 171 Kühn-Leitz, Elsie 169 Kusterer, Hermann 111 Laffon, Émile 57, 149 Lallement, Bernard 177 Laloy, Jean 86 Lattre de Tassigny, Jean de 38, 196, 313 Laval, Pierre 34, 314 Lazard, Simon 138 Leo, Gerhard 186 Lübke, Heinrich 110, 111, 318 Luther, Martin 207
323
Macmillan, Harold 99 Malraux, André 129 Marshall, George 52, 74, 243, 315 Marx, Karl 161 Maschke, Erich 224 Mauriac, François 133 Mayer, Hans 133 Mayer, René 44, 45, 80, 313 McCloy, John J. 221 McNamara, Robert 104 Mendès France, Pierre 80, 81, 84, 137 Messmer, Pierre 121, 122 Meyer, Jean 99 Michel, Henri 213 Minder, Robert 131, 207 Mitchell, Eddy 239 Mitterrand, François 16, 111 Mollet, Guy 84, 90, 91, 95, 118, 119 Monnet, Jean 44, 45, 70 –72, 79, 93, 96, 135, 152, 231, 232, 313 Moreau, Jean 168 Mounier, Emmanuel 131, 132, 165, 168 Nero 22 Norstad, Lauris 121 Oberg, Karl 89 Oberländer, Theodor 230 Ollenhauer, Erich 114 Ormesson, Wladimir d’ 133 Papon, Maurice 230 Perroy, Édouard 213 Pétain, Philippe 34, 37, 313, 314 Peyrefitte, Alain 184 Pflimlin, Pierre 167 Philip, André 133 Pieck, Wilhelm 78, 316 Pielert, Klaus 19, 248 Pinault, Christian 95 Pirenne, Henri 210 Pleven, René 75–77, 79, 80, 116, 316 Pompidou, Georges 115 Presley, Elvis 240 Ramadier, Paul 53, 315 Reitel, François 207, 208 Renouvin, Pierre 219 Richter, Hans Werner 131 Ricœur, Paul 133 Ritter, Gerhard 214, 215, 219, 220, 223 Rivau, Jean du 127, 165, 168, 169, 197 Roosevelt, Franklin D. 43, 46, 48 Rousset, David 132 Rovan, Joseph 127, 132, 133, 168, 169, 172, 174, 197, 314
324
Namensregister
Sartre, Jean-Paul 130, 198, 315 Schdanow, Andrej 315 Schenk, Fritz 165 Schiller, Friedrich 207 Schlumberger, Jean 131 Schmid, Carlo 165, 169, 172 Schmidt, Helmut 16 Schmittlein, Raymond 60, 156, 209, 216, 217, 220 Schnabel, Franz 217 Schnath, Georg 212 Schneider, Jean 213 Schramm, Percy Ernst 211 Schröder, Gerhard (Bundesaußenminister) 113 –115 Schröder, Gerhard (Kanzler) 16 Schumacher, Kurt 68, 69 Schuman, Robert 45, 53, 64, 65, 68 –76, 81, 83, 84, 88, 97, 135, 152, 174, 199, 200, 212, 222, 316 Seghers, Anna 133 Segni, Antonio 106 Sieburg, Heinz-Otto 212 Sloterdijk, Peter 246– 248 Soulages, Pierre 130 Spaak, Paul-Henri 93, 95 Stalin, Josef 41, 47, 48, 69, 77, 78, 80, 317 Stock, Franz 168 Strauß, Franz Josef 94, 114, 119, 121, 122 Stresemann, Gustav 110, 164
Stülpnagel, Carl-Heinrich von 212 Sturm, Marcel 168 Taviani, Emilio 119 Tharradin, Lucien 169, 173 Théas, Pierre-Marie 168 Tirard, Paul 213 Truman, Harry S. 52, 315 Tschuikow, Wassili 63 Ulbricht, Walter 181, 183, 186, 190, 228, 240 Veil, Simone 38 Vercors (Jean Bruller) 169 Vermeil, Edmond 60, 131, 133, 169, 172, 205, 206, 313 Vilar, Jean 133 Voltaire 110 Wagner, Robert 88 Weckmann, André 40 Weisenborn, Günther 131 Weizsäcker, Richard von 35 Wilhelm II. 195 Winter, Georg 212 Wiss-Verdier, Antoine 131 Wühr, Wilhelm 220, 221 Zipfel, Ernst 212
Über die Autoren Corine Defrance ist Historikerin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS, Institut IRICE/ Université de Paris 1-Panthéon- Sorbonne) und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Editionskommission der französischen diplomatischen Akten des französischen Außenministeriums. Von ihr erschien u. a. „La politique culturelle de la France sur la rive gauche du Rhin (1945–1955), Straßburg 1994 und zusammen mit Ulrich Pfeil: „Le Traité de l’Élysée et les relations francoallemandes, 1945 – 1963 – 2003“, Paris 2005 (dt. Ausgabe „Der Élysée- Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 – 1963 – 2003“, München 2005). Ulrich Pfeil ist Professor für Deutschlandstudien an der Universität Paul Verlaine, Metz. Zuvor war er DAADLektor an der Sorbonne Nouvelle (1996–2002), Forscher am Deutschen Historischen Institut Paris (2002–2009) und Professor für Deutschlandstudien an der Universität Jean Monnet, Saint-Étienne (2005–2009). Er ist Autor des Buches „Die ,anderen‘ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949–1990“, Köln 2004.