WBG Deutsch-Polnische Geschichte - 1945 bis heute: Kontinuität und Umbruch. Deutsch-polnische Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg 9783534247660, 9783534725496, 9783534725502, 3534247663

1945 bedeutete für das deutsch-polnische Verhältnis eine Zäsur ohne historisches Beispiel. In der Folge war der Westteil

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
I. Überblick
1. Trümmerfelder (1945–1949)
2. Der sozialistische Internationalismus. Polen und die DDR (1949–1990)
3. Frontstellung oder Nichtwahrnehmung? Die Bundesrepublik Deutschland und Polen (1949–1956)
4. Westdeutsch-polnische Annäherungen (1956–1969)
5. Annäherung, Stagnation, Systemdestabilisierung. Westdeutschland und Polen zwischen 1970 und 1989
6. Versöhnung, Partnerschaft – und weiter? (1990–2020)
II. Fragen und Perspektiven
1. Kulturtransfer und Kulturdiplomatie. Bundesrepublik – DDR – Polen
2. Polnisch-westdeutsche Literaturbeziehungen
3. Posthumane Verflechtungen
4. Deutsch-polnisch-jüdische Täter-Opfer-Diskurse seit 1945. Vom Ersetzen der Geschichte durch Erinnerung
Literaturverzeichnis
Personenregister
Ortsregister
Bildnachweis
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WBG Deutsch-Polnische Geschichte - 1945 bis heute: Kontinuität und Umbruch. Deutsch-polnische Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg
 9783534247660, 9783534725496, 9783534725502, 3534247663

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Dieter Bingen, geb. 1952, war bis 2019 Direktor des Deutschen Polen-Instituts. Hans-Jürgen Bömelburg, geb. 1961, ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Co-Vorsitzender der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission. Peter Oliver Loew, geb. 1967, ist seit 2019 Direktor des Deutschen PolenInstituts und lehrt als Honorarprofessor am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt.

9:27 Uhr

Seite 1

Die Geschichte von Deutschen und Polen ist eng miteinander verwoben, ja man kann sogar von einer historischen Symbiose beider Völker und Nationen sprechen. Auf die vielen Jahrhunderte einer Nachbarschaft, die von engster Verflechtung und umfangreichen Wanderungsbewegungen geprägt war, hat sich das 20. Jahrhundert mit einem großen Schatten gelegt: Die tragischen Geschehnisse vor allem des Zweiten Weltkriegs versperrten lange den Blick auf eine faszinierende Beziehungsgeschichte, die erst von der modernen Forschung wiederentdeckt wird. Die ›Deutsch-Polnische Geschichte‹ in fünf Bänden, verfasst jeweils von einem deutsch-polnischen Autorenteam unter Federführung des Deutschen Polen-Instituts, wird das Verständnis füreinander weiter fördern: Europa braucht solche Geschichten. Prof. Dr. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D., Präsidentin des Deutschen Polen-Instituts

1945 bedeutete für das deutsch-polnische Verhältnis eine Zäsur ohne historisches Beispiel. In der Folge war der Westteil Deutschlands durch den Eisernen Vorhang von Polen weitgehend abgeschnitten, während der Ostteil sich notgedrungen in einer systemischen Partnerschaft mit seinem östlichen Nachbarn wiederfand. Die zwanghafte Fixierung auf die Frage der Anerkennung der Grenze, die neue Ostpolitik Willy Brandts und die Unklarheit des Westens, wie er mit dem Kampf der SolidarnośćBewegung umgehen sollte, sind die Parameter der wechselvollen Beziehung. Heute finden sich das wiedervereinigte Deutschland und das postsozialistische Polen als größte Länder Zentraleuropas in einer neuen Partnerschaft wieder, was seinen Ausdruck auch darin findet, dass dieser Band von einem polnischen und einem deutschen Autor gemeinsam verfasst wurde.

Kommen Sie ins Gespräch mit Leser:innen und Autor:innen auf wbg-community.de

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-24766-0

WBG Deutsch-Polnische Geschichte

Die Herausgeber:

08.10.2021

Krzoska · Zajas

•PR009421_Dt.-polnische Geschichte_Bd5_RZ_NEU2:24088-3_Dt.-polnische Geschichte+0,8

V

Markus Krzoska · Paweł Zajas

WBG Deutsch-Polnische Geschichte 1945 bis heute

Die Autoren: Markus Krzoska ist Privatdozent an

der Abteilung für Osteuropäische Geschichte am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen. Paweł Zajas ist Literaturwissen-

schaftler an der Adam-MickiewiczUniversität in Poznań und research fellow an der University of Pretoria.

Umschlagabbildung: 7. Dezember 1970: Der ikonische Kniefall Willy Brandts in Warschau vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos. Foto: © picture alliance/dpa. Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim

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Deutsch-Polnische Geschichte Band 5

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WBG Deutsch-Polnische Geschichte Herausgegeben im Auftrag des Deutschen Polen-Instituts von Dieter Bingen Hans-Jürgen Bömelburg Peter Oliver Loew

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Markus Krzoska, Paweł Zajas

Kontinuität und Umbruch. Deutsch-polnische Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg

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Wissenschaftliche Buchgesellschaft Gefördert aus Mitteln der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Covergestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Lektorat: Dirk Michel, Mannheim Satz: Wydawnictwo JAK Andrzej Choczewski, www.buchsatz-krakow.eu Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-24766-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72549-6 eBook (epub): 978-3-534-72550-2

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Inhalt Einleitung  7 I. Überblick  21

1. Trümmerfelder (1945–1949)  23 2. Der sozialistische Internationalismus. Polen und die DDR (1949–1990)  37 3. Frontstellung oder Nichtwahrnehmung? Die Bundesrepublik Deutschland und Polen (1949–1956)  66 4. Westdeutsch-polnische Annäherungen (1956–1969)  83 5. Annäherung, Stagnation, Systemdestabilisierung. Westdeutschland und Polen zwischen 1970 und 1989  107 6. Versöhnung, Partnerschaft  – und weiter? (1990–2020)  137 II. Fragen und Perspektiven  163

1. Kulturtransfer und Kulturdiplomatie. Bundesrepublik  – DDR  – Polen 165 2. Polnisch-westdeutsche Literaturbeziehungen   189 3. Posthumane Verflechtungen  213 4. Deutsch-polnisch-jüdische Täter-Opfer-Diskurse seit 1945. Vom Ersetzen der Geschichte durch Erinnerung  226 Literaturverzeichnis 253 Personenregister 261 Ortsregister 267 Bildnachweis 271

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Zur Deutsch-Polnischen Geschichte Die deutsch-polnische Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte reicht mehr als 1000 Jahre zurück und spielt sich in einem eineinhalb Millionen Quadratkilometer umfassenden Raum zwischen Rhein und Dnjepr ab. Dabei beanspruchten „deutsche“ und „polnische“ Titularverbände und Nationen teils identische Räume und Zentren. Gnesen und Posen waren die Geburtsstätten des polnischen Staates, aber auch preußisch-deutsche Städte des 19. Jahrhunderts, Breslau war ein piastischer Herrschaftssitz, aber im frühen 20. Jahr­hundert auch die viertgrößte Stadt Deutschlands. Danzig, im 16. und 17. Jahrhundert die größte deutschsprachige Stadt, gehörte zur Krone Polen. In Lemberg wurden im 16. Jahrhundert die polnischsprachigen Stadteliten Deutsche genannt. Juden waren oft Teile einer deutsch wie polnisch geprägten Kultur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart wanderten Millionen Menschen von West nach Ost und von Ost nach West, wobei sie sich oft an ihre neuen Nachbarn assimilierten. Dies zeigt, wie eng deutsche und polnische Geschichte miteinander verbunden sind. Zugleich ist die deutsch-polnische Geschichte auch von Konflikten überlagert: Preußen und Österreich, zwei deutsche Staatsverbände, teilten Polen im späten 18. Jahrhundert auf – zusammen mit Russland. Die Fremdherrschaft durch Deutsche und wechselseitige territoriale Ansprüche vergifteten das Klima. Deutsche eroberten Polen im Zweiten Weltkrieg, entrechteten und ermordeten Millionen Menschen. Nach 1945 erhielt Polen die deutschen Ostgebiete und vertrieb einen Großteil der deutschen Bevölkerung. Trotzdem kam es einige Jahrzehnte später zu einer beispiellosen Annäherung zwischen beiden Nationen. Die Reihe „Deutsch-Polnische Geschichte“ geht davon aus, dass diese Verflechtungen ein zentraler Bestandteil der europäischen Geschichte sind. Sie beschreibt sowohl politische Geschichte als auch kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen und legt besonderen Wert auf Kontakt- und Austauschprozesse. Die Herausgeber

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Einleitung Dieses Buch soll neue Blicke auf das deutsch-polnische Verhältnis nach 1945 ermöglichen, indem es die wesentlichen Linien der gesellschaftlichen Entwicklungen in der gebotenen Breite wie Kürze nachzeichnet und gleichzeitig die Linse schärfer stellt, um einzelne Felder genauer zu betrachten: die Bedeutung von Erinnern und Gedenken, den Einfluss von Kulturaustausch und literarischen Beziehungen sowie die Idee, frisch und anders auf das Verhältnis der beiden Völker zu blicken. Andere Autoren hätten sicher andere Schwerpunkte gesetzt. Das Erzählen von Geschichte ist aber immer dort interessant, wo es unerwartete Einblicke ermöglicht, Zwischentöne liefert und nicht das allseits Bekannte nur nacherzählt. Es ist deutlich mehr als Zahlen und Fakten, kommt aber auch nicht ohne diese aus. Für all das stehen die vielfältigen Verbindungen zwischen Deutschen und Polen seit 1945. Es ist kein Zufall, dass es sich in erster Linie um positive Entwicklungen handelt, denn Erzählen ist immer auch pädagogisch. Der amerikanische Historiker Hayden White unterstrich in seinen aufsehenerregenden Aufsätzen den Einfluss des Verfassers, der darüber entscheidet, welche Ereignisse durch Hervorhebung Bestandteil eines historischen Narrativs und welche weggelassen werden. White lenkte seine Aufmerksamkeit auf das bis dahin weitgehend übersehene Verfahren, bei dem aus reinen Ereignissen erstmals historische Fakten und aus ihnen wiederum Geschichten werden. Die historischen Ereignisse, zu denen wir aber keinen direkten Zugang haben, seien prinzipiell wertneutral; ob ihre textuelle oder mediale Darstellung eine tragische, romantische, komische oder ironische Ausprägung erhalte, liege ganz in der subjektiven Entscheidungsfreiheit eines Historikers.1 In einer Romanze überschreite der Protagonist der Geschichte seine Erfahrungswelt, siege über die Verhältnisse und befreie sich von ihnen. Die Satire widerspreche dieser romantischen Vorstellung und erzähle das Drama der menschlichen Unzulänglichkeit. Die Komödie drücke die Hoffnung auf Versöhnung aus, und die Tragödie artikuliere eine schicksalhafte Unterwerfung des Menschen unter die Verhältnisse.2 1 White, Hayden: Der historische Text als literarisches Kunstwerk. In: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, hrsg. von Christoph Conrad / Martina Kessel, Stuttgart 1994, S. 123–157, hier S. 128/129. 2 White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991, S. 22.

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Einleitung

Alle vier Erzählmuster beschreiben eine Verbindung zwischen Ideologie, narrativen Formen und Argumentationsweisen. Die Geschichtsschreibung war für Hayden White ein poetischer Akt, der Historiker bediene sich immer, bewusst oder unbewusst, einer metaphorischen Sprache. Die Geschichte als eine diskursive Konstruktion der Wirklichkeit organisiert unser Wissen und beeinflusst im starken Maße das soziale Leben von Individuen und Gruppen. Die deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945 sind hierfür ein guter Beleg. Mit der Tagung „Ein Jahrhundert deutsche Polenpolitik, 1918–2018“ im November 2018 wollte die Bundesregierung gemeinsam mit dem Deutschen Polen-Institut dem östlichen Nachbarn in Form einer kritischen Rückschau ein Geschenk zum 100. Geburtstag der staatlichen Wiedergeburt Polens machen. Dass die historischen Wegmarken des 20. Jahrhunderts aus deutscher und polnischer Perspektive unterschiedlich gesehen, beurteilt und beschrieben werden, war dem deutschen Außenminister klar. Heiko Maas bat um Vergebung für die deutschen Verbrechen, zeichnete die Etappen der polnisch-deutschen Aussöhnung nach, die wegen des Ost-West-Konflikts später begonnen hatte, bot Polen eine enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Union an, einschließlich einer gemeinsamen Ostpolitik, sowie eine enge Abstimmung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in den beide Staaten für die Periode 2019–2020 gewählt worden waren. Trotz der offenkundigen Differenzen in der Europapolitik zwischen Berlin und Warschau setzte Maas auf gute Nachbarschaft: „Wenn Sie gemeinsam heute und morgen hier im Auswärtigen Amt über die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen in den letzten 100 Jahren diskutieren, dann sprechen Sie über Vergangenes und blicken auf die Zukunft. Entscheidend dabei ist die Bereitschaft, die Welt samt ihrer Geschichte auch durch die Augen des Gegenübers zu sehen. Das gilt ganz besonders im Verhältnis zwischen Deutschen und Polen.“3 In seiner kurzen Begrüßungsrede machte Maas Gebrauch von drei der vier genannten Archetypen von Geschichtsformen. Die deutsch-polnischen Beziehungen der letzten hundert Jahre fasste er zusammen als Drama, in dem trotz der Gräuel des Krieges und der darauf folgenden Ost-West-Konfrontation das Gute über das Böse triumphierte (Romanze), in dem die Protagonisten eher Gefangene der Welt als ihr Herr waren (Satire) und auf Versöhnung hofften und immer noch hoffen (Komödie). Polens Botschafter Andrzej Przyłębski 3 Maas, Heiko: Rede anlässlich der Internationalen Konferenz „Ein Jahrhundert deutsche Polenpolitik: Tradition  – Zivilisationsbruch  – Verständigung  – Partnerschaft“, Berlin 2018, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-ein-jahrhundert-deutschepolenpolitik/2161660 (20.3.2020).

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Einleitung

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entschied sich dagegen in seiner Ansprache für einen tragischen Erzählmodus. Seine Rede mündete in der Aussage, die gesamten letzten hundert Jahre deutscher Polenpolitik seien eine „Katastrophe“ gewesen (im offiziellen Redemanuskript wurde der Satz verändert und die vermeintliche Katastrophe auf die Hälfte des Jahrhunderts reduziert). Auch nach 1989 habe sich die Lage nicht so entwickelt, wie die meisten Polen es sich gewünscht hätten, die Nachbarschaft sei nicht zufriedenstellend. Gesine Schwan, lange Zeit Polenbeauftragte der Bundesregierung, wies diese Deutung zurück, im Auswärtigen Amt wurde Przyłębskis Rede als Affront verstanden. Die Brüskierung war politisch gewollt, sie zeugte jedoch auch von einer naiven Resignation vor der Welt, die als unveränderlich und ewig behauptet wird. So gesehen war der Auftritt des polnischen Botschafters nicht nur eine Ausführung, die jede Stringenz vermissen ließ, und ein weiterer Tiefpunkt in den deutsch-polnischen Beziehungen nach 2015. Przyłębskis Rede war auch Ausdruck eines unverhohlenen Ressentiments, so wie es von Friedrich Nietzsche in der »Genealogie der Moral« (1887) ausgelegt wurde. Das Ressentiment  – eine solche Herangehensweise an das politische Verhältnis zwischen Polen und Deutschland sollte an dieser Stelle nicht als allzu gewagt und dilettantisch erscheinen  – hat im Falle der polnischen Regierungspolitik nach 2015 einen durchaus postkolonialen Charakter: Es ist eine neokonservative Rebellion gegen die vermeintliche Entmündigung, gegen das scheinbare Verdammtsein zum bloßen Nachfolgen und Nachmachen, gegen die Ungleichheit zwischen Ost und West, gegen die gefühlte deutsche Überlegenheit. Ein Schwächegefühl (Nietzsche schrieb über die Sklavenmoral), das durch die als Ressentiment ausgebildeten moralischen Begriffe wie Schuld, Sünde und Gewissen zum Ausdruck kommt, mit denen das deutsch-polnische Verhältnis der letzten Jahre immer wieder belastet wird, ist keine gute Bedingung für die bilaterale wie europäische Partnerschaft. Die Autoren dieses Buches können die Psychologie des Ressentiments zwar kognitiv nachvollziehen, die Auffassung von der Tragödie des deutschpolnischen Schicksals wird von ihnen aber nicht geteilt. Es wäre zweifellos möglich gewesen, eine Geschichte der negativen Verflechtungen zu verfassen. Diese sollten wir kennen, aber Geschichte ist eben mehr als die „Sammlung von Tatsachen, die vermeidbar gewesen wären“ (Stanisław Jerzy Lec). Sie kann auch Hoffnung machen, dass es selbst nach den tiefsten Tälern wieder besser zu werden vermag. Die deutsch-polnische Verflechtungsgeschichte nach 1945 wird in dem Buch zwar größtenteils in chronologischer Abfolge erzählt, sie kreist aber um einige immer wiederkehrende Motive wie Krieg und seine Folgen, Grenze und Mobilität, Annäherung und Versöhnung, Flüchtlinge und Vertriebene, Propaganda und Wirklichkeit, Gedenken und Erinnerung

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sowie Diplomatie und Kulturaustausch. All diese Erzählstränge könnte man mit dem tragischen Pathos des Ressentiments belegen, sie können aber auch anders aufgefasst werden, entgegen dem politischen Nationalismus und trotz des schwierigen Neuanfangs im Mai 1945. In der deutschen Wahrnehmung spielte Polen damals praktisch keine Rolle. Die Blicke der Bevölkerung im Osten waren voller Furcht auf die Rote Armee und die Politik der Sowjetunion gerichtet. Im Westen überwog eher eine Mischung aus Skepsis und Neugier, was die künftigen Absichten von Amerikanern, Engländern und Franzosen anging. Dennoch waren auch in dieser neuen Lage Deutsche und Polen zum Zusammenleben verdammt. Die Erfahrungen, die sie dabei machten, waren höchst unterschiedlich, häufig von den Geschehnissen des Krieges und den Alltagsnöten geprägt. Klar war allerdings, dass sich die Machtverhältnisse komplett umgekehrt hatten. Dies betraf die neuen staatlichen Strukturen ebenso wie die konkreten Beziehungen zwischen den Menschen. Dennoch waren nicht alle Polen Sieger und nicht alle Deutschen Verlierer. Die Hunderttausenden von polnischen Umsiedlern, die ihre Heimat im Osten verlassen mussten, weil sie an die Sowjetunion abgetreten wurde, fühlten sich sicherlich nicht als Gewinner, wenn sie in ihren Güterzugwaggons in die ehemals deutschen Gebiete im Westen transferiert wurden. Eher dürfte ein Gefühl der Erleichterung vorgeherrscht haben, dem blutigen Bürgerkrieg mit den Ukrainern entkommen zu sein, gepaart aber mit der Unsicherheit, was sie nun in Gegenden erleben würden, die zwar als „uralte polnische Länder“ angepriesen wurden, wo aber kaum etwas auf diese polnische Vergangenheit hinwies. So weit Polen und Deutsche zu diesem Zeitpunkt emotional voneinander entfernt waren, so konkret waren sie nach wie vor miteinander verflochten; zumindest solange die alle Betroffenen überwältigenden Migrationsprozesse in vollem Gange waren: Deutsche flohen gen Westen, versteckten sich in ihren Heimatorten, waren in Lagern interniert oder kehrten gar aus dem Westen wieder zurück. Polen wurden umgesiedelt, machten sich auf eigene Faust zur Beutesuche nach Schlesien oder Pommern auf, fuhren als ehemalige Kriegsgefangene, Soldaten, Zwangsarbeiter oder Lagerinsassen in ihr Heimatland zurück, übernahmen an ihren alten Wohnorten neue Wohnungen oder Höfe. Und alle begegneten sich unentwegt, mussten mitunter noch über Jahre unter schwierigen Bedingungen zusammenleben.4 Sie waren geprägt, verstört und 4 Halicka, Beata: „Mein Haus an der Oder“. Erinnerungen polnischer Neusiedler in Westpolen nach 1945, Paderborn 2013; Borodziej, Włodzimierz / Lemberg, Hans (Hrsg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950: Dokumente aus polnischen Archiven, 4 Bde. Marburg 2000.

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verstümmelt von den Jahren des Krieges und allesamt auf der Suche nach einem neuen Weg für ihr weiteres Leben. Dies war die Situation, die das Zusammenleben und die gegenseitige Wahrnehmung von Deutschen und Polen bis etwa 1950 prägte. Die Meinungsunterschiede begannen in dem Maße zu verblassen, wie sich die von Moskau durchgesetzte kommunistische Herrschaft in Polen festigte. Die Frage der Ostgrenzen stellte sich nun nicht mehr, und der Kreml war bereit, die Westgrenze zu Deutschland um jeden Preis zu verteidigen. Hier gingen die Wünsche der deutschen Kommunisten, die auf eine Rückkehr Stettins oder gewisse Konzessionen in Niederschlesien gehofft haben, nicht in Erfüllung. Da aber nur von Gebieten „unter polnischer Verwaltung“ bis zum Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland die Rede war, musste auf polnischer Seite die Unsicherheit bestehen bleiben. Dies kam den Interessen der UdSSR zeitweise durchaus entgegen, die den westlichen Nachbarn dadurch jenseits aller Ideologien noch stärker an sich band. Obwohl die Anerkennung der Grenze an Oder und Lausitzer Neiße durch die DDR bereits 1950 erfolgte, blieb angesichts der westdeutschen Propaganda, die  – einmal mehr, einmal weniger  – auch von den Westmächten unterstützt wurde, das Risiko einer Grenzverschiebung bestehen. Dies schuf nicht nur unter den polnischen Neusiedlern Unsicherheit, sondern auch unter der Warschauer Führung, die die Grenzfrage zum entscheidenden Thema jedweder Annäherung an Westdeutschland machte. Mit Hilfe der Grenzdiskussion, bei der sich die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) immer darauf verlassen konnte, dass die polnische Bevölkerung ihre Position unterstützte, was sich nicht für viele innen- oder außenpolitischen Themen feststellen ließ, sicherte man das unpopuläre Bündnis mit der Sowjetunion ab, konnte zwanzig Jahre lang die DDR-Führung bei allen Gegensätzen als zuverlässigen Freund markieren und gleichzeitig die Bundesrepublik als Hauptgegner herausstellen. Die beiden letztgenannten Punkte sind vor allem deswegen erwähnenswert, weil in der polnischen Bevölkerung die Bewertung der beiden deutschen Staaten desto abweichender ausfiel, je weiter sich der Krieg zeitlich entfernte. Umgekehrt diente das Offenhalten der Grenzfrage im westdeutschen Staat ebenfalls als Mobilisierungsinstrument vor allem für die Millionen von Vertriebenen, deren Wählerstimmen dringend gebraucht wurden. Auch wenn Konrad Adenauer immer wieder versicherte, mit einem „freien Polen“ Verhandlungen aufnehmen zu wollen, und die führenden Vertreter der Wirtschaft auf eine Vertiefung der Handelsbeziehungen drängten, war das Interesse an Polen jenseits der Grenzfrage und des Schicksals der dort verbliebenen Deutschen in der Bevölkerung relativ gering. Daran änderte sich im Grunde auch nichts, als die Brandt’sche Ostpolitik das Verhältnis zu den östlichen

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Nachbarstaaten entkrampfen und auf eine sichere vertragliche Grundlage stellen wollte. In den hitzigen Diskussionen der 1960er- und 1970er-Jahre ging es vor allem um die Preisgabe deutschen Territoriums und die Aufgabe der Illusion der Rückkehr der Vertriebenen in ihre alte Heimat. Was in Polen selbst passierte, geriet immer nur kurzzeitig in den Fokus, etwa bei den Aufständen von 1956 und 1970 und dann später rund um die kurze Phase der Gewerkschaft Solidarność und ihre Ausschaltung durch das Kriegsrecht von 1981. Die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages von 1970 im Rahmen der allgemeinen Entspannungstendenzen, die sich bis gegen Ende dieses Jahrzehnts abzeichneten, bevor der sowjetische Einmarsch in Afghanistan und die Verhängung des Kriegsrechts in Polen einen Paradigmenwechsel einläuteten, stellt zweifellos die entscheidende Zäsur im deutsch-polnischen Verhältnis zwischen 1945 und 1989 dar. In ihrer außenpolitischen Bedeutung ist sie lediglich mit den Grenz- und Nachbarschaftsverträgen von 1990 und 1991 sowie  – breiter verstanden  – mit der Aufnahme Polens in NATO und EU 1999 und 2004 zu vergleichen. Es ist sicherlich nicht übertrieben, die These zu wagen, dass auch die Erfolge der oppositionellen Bewegungen in Mittel- und Osteuropa in gewisser Weise die Anerkennung des Status quo durch Deutschland als eine ihrer Grundlagen hatten.5 Die vierzig Jahre offizielle Beziehungen zwischen Polen und dem zweiten deutschen Staat stellten in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall dar.6 Jenseits des Blicks auf die Vergangenheit macht es wenig Sinn, die Entwicklungen hinsichtlich der Bundesrepublik und der DDR in unmittelbarer Nähe zu betrachten. Zunächst wurde in Polen zwischen sowjetischer und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands wenig unterschieden. Als allerdings am Ende der 1940er-Jahre die allgemeine nationale Verdammung aller Deutschen zugunsten einer klaren moralischen Aufteilung in „böse“ Westdeutsche und „gute“ Ostdeutsche unter dem nicht sehr sanften Druck Moskaus aufgegeben wurde, profitierte davon vor allem die DDR. Der Görlitzer Vertrag von 1950 bot beiden Seiten eine hinreichende Sicherheit, konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beziehungen zwischen den Führungseliten überwiegend frostig waren. Den Ostberliner Betonköpfen galt auch das kommunistische Polen spätestens seit 1956 als allzu liberal, der weiterhin einflussreiche Katholizismus im Land wurde ebenso misstrauisch beäugt wie die zuweilen renitenten 5 Kempen, Bernhard: Die deutsch-polnische Grenze nach der Friedensregelung des Zweiplus-Vier-Vertrages, Frankfurt am Main 1997; Hinrichsen, Kerstin: Oder-Neiße-Grenze: bis auf Widerruf?, in: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 1: Geteilt  – Gemeinsam, hrsg. von Hans Henning Hahn / Robert Traba, Paderborn 2015, S. 497–517. 6 Grundlegend Olschowsky, Burkhard: Einvernehmen und Konflikt. Das Verhältnis zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen 1980–1989, Osnabrück 2005.

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Arbeiter. Besonders spürbar wurde das 1980/1981, als die SED-Vertreter große Angst vor einem Übergreifen der revolutionären Welle auf ihr Land hatten.7 Nichtsdestotrotz bildeten sich von Anfang an Strukturen der Zusammenarbeit heraus, die zur Folge hatten, dass die Bürger beider Länder einander begegnen konnten. Dies war nicht immer unproblematisch. Als in den 1970er-Jahren der Reiseverkehr durch die Abschaffung der Visapflicht deutlich zunahm, begannen DDR-Bürger rasch zu klagen, die Polen würden ihnen die Lebensmittelläden leer kaufen.8 Gleichzeitig war Polen aber ein beliebtes Urlaubsland, und im kulturellen Bereich waren die Kontakte und Verflechtungen stark ausgeprägt. Nicht zu leugnen ist allerdings, dass sich mit den Jahren in Polen ein eher negativer Blick auf die häufig als ideologisch verbohrt wahrgenommenen und „grauen“ DDR-Bewohner zu etablieren begann, deren Erscheinungsbild sich meist deutlich von dem der (nicht zahlreichen) westdeutschen Reisenden unterschied. Eine große Liebe für den Staat DDR konnte auch schon allein deshalb nicht entstehen, weil man ihn als den allzu deutschen, besonders moskautreuen Bündnispartner empfand, der er meist tatsächlich war. Und dennoch: Es gab eine Art sozialistische Brüderlichkeit durchaus. Schon allein weil die DDR-Bürger  – außer beim Fernsehen  – durch Mauer und Stacheldraht vom Westen abgetrennt waren, nahmen sie all das, was im sozialistischen Europa geschah, viel intensiver zur Kenntnis. Die Auswirkungen davon sind bei Älteren bis zum heutigen Tag spürbar, etwa wenn sie sich an auf Deutsch gesungene polnische Schlager erinnern.9 Die enorme Dynamik der deutsch-polnischen Geschichte zwischen 1945 und heute wird besonders sichtbar, wenn man die diversen Prozesse von Mobilität und Migration in den Blick nimmt, die in diesen Jahren stattfanden.10 Nachdem die erste, durch den Krieg und seine Folgen geprägte Phase weitgehend abgeschlossen war, die neben manchen anderen der exillettische Ökonom Jānis Volmārs in Bezug auf ganz Europa als „neue Völkerwanderung“ bezeichnete,11 setzte eine Zeit der gebremsten Migration ein, in der lediglich die weitere Auswanderung von Deutschen aus Polen (nach 1956 und 1970) 7 Kubina, Michael / Wilke, Manfred (Hrsg.): Hart und kompromißlos durchgreifen. Die SED contra Polen 1980/81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung, Berlin 1995. 8 Logemann, Daniel: Das polnische Fenster: Deutsch-polnische Kontakte im staatssozialistischen Alltag Leipzigs 1972–1989, München 2012. 9 https://www.youtube.com/watch?v=m0yg-y0jwJE (25.3.2021). Für das umgekehrte Phänomen siehe auch: https://www.youtube.com/watch?v=C7HjtvJKyXg (25.3.2021). 10 Krzoska, Markus: Ein Land unterwegs. Kulturgeschichte Polens seit 1945, Paderborn 2015, insbesondere S. 77–100. 11 Volmārs, Jānis: Europäische Zusammenarbeit und die europäische Zollunion, Braunschweig 1949, S. 124.

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und von Juden infolge der antisemitischen Welle von 1968 zu verzeichnen war. Erst seit den 1980er-Jahren kann man wieder von Migration als einem Massenphänomen in Ost-West-Richtung sprechen. Es war immer noch von den Regeln des Bundesvertriebenengesetzes geprägt, wonach jeder Anspruch auf einen deutschen Pass hat, der selbst oder dessen Vorfahren vor dem Ablauf des Jahres 1937 Bürger des Deutschen Reichs gewesen sind. Nach 1989 wiederum trat neben dem klassischen Weg der dauerhaften Ausreise, der gleichwohl an Bedeutung verlor, die kurzfristigere Pendelmigration in den Vordergrund, die besonders beruflichen Aktivitäten geschuldet war, und bei der Frauen eine besondere Rolle spielten. In den Bereich der Mobilität gehört aber auch der Aspekt des Tourismus, der gerade in Bezug auf deutsche Polenreisen seit der Demokratisierung Polens immer wichtiger wurde. 2018 und 2019 gab es jeweils etwa 6 Millionen Übernachtungen von Deutschen in Polen. In der Statistik folgten dahinter weit zurückliegend Touristen aus der Ukraine (ca. 1,7 Millionen) und Großbritannien (ca. 1,3 Millionen).12 Diese Elemente von Mobilität sind vor allem deshalb von so großer Bedeutung, weil sie auch das Bild vom Nachbarn nachhaltig prägten und veränderten. Wenn sie auch nur bedingt mit den Aussöhnungsprozessen Deutschlands mit den Staaten West- und Südeuropas vergleichbar ist, deren Grundlage bereits in den 1950er-Jahren gelegt werden konnte und die eng mit der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften und des Nordatlantischen Verteidigungspakts verbunden gesehen werden müssen, so gehört die deutschpolnische Wiederannäherung in den 75 Jahren seit Ende des Krieges doch zu den vielleicht größten Leistungen hin zu einer dauerhaften Sicherung des Friedens in Europa. Während erste Schritte zu einer Wiederaufnahme von Kontakten an den allzu unterschiedlichen Absichten der beteiligten Regierungen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen scheiterten, entwickelte sich allmählich aus den Gesellschaften heraus ein verstärkter Wille zur Zusammenarbeit. In beiden Ländern spielten kirchliche Akteure eine besondere Rolle. Unterstützt wurden sie in Deutschland von einzelnen liberalen Stimmen aus der Gesellschaft sowie Organisationen, die für eine bessere Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen auch und gerade in Polen eintraten. In Polen war es aufgrund der Erfahrungen während des Krieges und der politischen Ausrichtung auf die Sowjetunion  – und damit auch den kommunistischen deutschen Teilstaat  – deutlich schwieriger, für eine Verständigung zu argumentieren. Auch in den Bevölkerungskreisen, die der Herrschaft der PVAP skeptisch gegenüberstanden, war die Meinung verbreitet, die deutsche Politik während des Krieges habe jede Form der Zusammenarbeit auf lange 12 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/483750/umfrage/uebernachtungen-vontouristen-in-polen-nach-herkunftslaendern/ (17.3.2021).

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Sicht unmöglich gemacht. Angesichts des nur aufgrund der ökonomischen Probleme als wünschenswert erachteten Suchens nach Kooperation bei gleichzeitiger propagandistischer Zuspitzung der tatsächlichen oder vermeintlichen Elitenkontinuitäten in der Bundesrepublik dauerte es bis weit in die 1960erJahre, ehe in Teilen des Klerus und der sich entwickelnden Opposition Stimmen hörbar wurden, die für eine Annäherung plädierten. Während das auf die Bundesrepublik gerichtete Interesse der polnischen Kommunisten taktisch motiviert war und nur mit den beiden Aspekten Sicherung der Grenze und Intensivierung der Handelsbeziehungen erklärt werden kann, trat in der deutschen Politik der 1960er-Jahre ein moralischer Aspekt neben die konkreten ökonomischen und politischen Interessen. Dies war zweifelsfrei vor allem das Verdienst Willy Brandts, der die Aussöhnung mit den Kriegsgegnern im Osten zum zentralen Motiv seiner Außenpolitik machte, die er als Außenminister seit 1966 und Bundeskanzler seit 1969 in die Tat umsetzen konnte. Obwohl Brandt die Verständigung mit Moskau als Voraussetzung für entsprechende weitere Schritte sah und dementsprechend sein Vertragskonzept auch umsetzte, ist an der moralischen Aufladung seiner Polenpolitik, idealtypisch verkörpert durch den Kniefall von Warschau, der im Grunde jüdischen wie polnischen Opfern galt, nicht zu zweifeln. Im Abstand eines halben Jahrhunderts erscheint die neue Ostpolitik alternativloser, als sie damals gewesen ist. Es sollte weitere zwanzig Jahre dauern, bis ihre Grundzüge in der deutschen Gesellschaft beinahe komplett akzeptiert wurden. Die Brandt’sche Politik stellte sicherlich den zentralen Punkt deutschpolnischer Annäherung nach 1945 dar. Auf das „Wieder-“ vor „Annäherung“ kann hier getrost verzichtet werden, denn seit 1918 gab es auf deutscher Seite nie den ernstgemeinten Ansatz einer Zusammenarbeit mit Polen. Nun, unter komplett veränderten Kräfteverhältnissen, in einem geteilten Deutschland und Europa, rückte sie näher. Sie wäre aber kaum mehrheitsfähig gewesen, wenn nicht viele Flüchtlinge und Vertriebene beziehungsweise ihre Nachkommen diesen Politikwandel mit mehr oder weniger großem Zähneknirschen unterstützt hätten. Auch in Bezug auf die Vertriebenenorganisationen, die bis in die 1980er-Jahre hinein maßgeblichen Einfluss auf die deutsche Polenpolitik hatten, sollte man sich vor der allzu einseitigen Vorstellung hüten, dort seien nur „Polenfresser“ am Werk gewesen. Zwar herrschte dort nicht selten ein patriarchalisches Denken vor, das man vermutlich schon in der Polenpolitik des 19. Jahrhunderts oder beim ostelbischen Gutsbesitzer finden konnte, gleichzeitig fielen aber immer wieder positive Bewertungen von Menschen, Kultur usw. östlich von Oder und Neiße ins Auge. Nicht nur überzeugte Nationalsozialisten und Mitläufer kamen aus dem Osten, sondern auch Verfolgte und Widerstandskämpfer, etwa der ehemalige Reichstagspräsident Paul Löbe (aus Breslau) und der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher (aus Kulm/Chełmno). Für

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das „helle“ Deutschland standen Teile der Familie Moltke aus Kreisau oder der einstige Oberpräsident Oberschlesiens und spätere Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek (CDU) aus Breslau. Es waren aber gerade die weniger Bekannten, die in kleinem Kreis längst der Gewalt abgeschworen und die Illusion einer Rückkehr schweren Herzen aufgegeben hatten. Alte Danziger, die 1960 das katholische Adalbertuswerk gründeten und zur Versöhnung aufriefen, trafen auf gleichgesinnte evangelische Lodzer. Nicht alle wollten diesen Weg gehen, manch persönliche Erfahrungen der Monate nach Kriegsende wogen schwer: der Verlust von Angehörigen, der Aufenthalt in Internierungslagern, Raub und Vergewaltigungen. Dennoch entschlossen sich einige zur aktiven Mitarbeit in Organisationen wie Pax Christi oder deutsch-polnischen Vereinen. Ihr anhaltendes Interesse an der alten Heimat ließ neue Brücken zu den polnischen Bewohnern der Städte und Dörfer entstehen, die gerade in Krisenzeiten belastbar waren, wie etwa die deutschen Hilfsaktionen nach Verhängung des Kriegsrechts 1981 zeigten. Es gab die westdeutschen Touristen, die fordernd auf ihren einstigen Höfen auftraten, aber auch diejenigen, die schüchtern anklopften, um noch einmal kurz einen Blick in ihre Vergangenheit zu werfen. Die Art und Weise, wie im deutsch-polnischen Verhältnis des Krieges und der nationalsozialistischen Gewalt gedacht wurde und wird, sagt ebenfalls einiges über die zunehmende Verdichtung der Beziehungen aus. Während in den ersten Jahren der Bundesrepublik oftmals pauschal aller Kriegsopfer gedacht wurde, ohne zwischen Tätern und Opfern allzu sehr zu unterscheiden, änderte sich dies allmählich. Das Bewusstsein für die Einmaligkeit der Shoah entwickelte sich in der Öffentlichkeit früher als das für die Leiden anderer europäischer Völker. Im Grunde waren es erst die 1980er-Jahre, in denen sich die neue Sichtweise auf breiter Front durchsetzte. Lokale Initiativen recherchierten die Schicksale einstiger Zwangsarbeiter, und die staatliche Ebene begann wahrzunehmen, welche Rolle der deutsche Überfall von 1939, der Terror der Besatzungsherrschaft und die Zerstörung Warschaus in der polnischen Wahrnehmung spielten. Auch durch diese allgemeine Anerkennung rückten Deutsche und Polen einander näher. Dies galt, wenn auch aufgrund der Geschehnisse natürlich nicht spiegelbildlich, umgekehrt ähnlich, als regionale Initiativen in den 1990er-Jahren die Schicksale von Deutschen nach 1945 nachzuzeichnen begannen. Selbst wenn es immer wieder im lokalen Rahmen Konflikte um die Aufstellung von Denkmälern oder das Anbringen von Gedenktafeln gab, so hatte das in der Regel eher mit dem Einfluss organisierter Interessengruppen zu tun als mit einer grundsätzlichen Weigerung, deutscher Opfer zu gedenken. Es gilt allerdings zu berücksichtigen, dass es zwar in beiden Ländern eine Reihe von Gedenkorten gibt, aber dennoch (oder gerade deshalb) das Fehlen eines zentralen Denkmals für die polnischen Kriegsopfer beklagt wird.

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Bei allen Schwierigkeiten, die das politische Verhältnis der Bundesrepublik zu Polen und umgekehrt prägten, fanden die Verantwortlichen Lösungen auf anderen Feldern, die in gewissem Sinne als eine Ersatz-Außenpolitik bezeichnet werden können. Neben dem ökonomischen Bereich war und ist es in erster Linie das breite Feld der Kultur, auf dem sich Deutsche und Polen ei­ nander annähern konnten. Manche dieser Vermittlungsgeschichten sind längst erzählt, andere noch weitgehend unbekannt. Finanziell spielten hier staatliche wie nichtstaatliche Quellen eine wichtige Rolle. Die Mittelvergabe nach den Regeln des Bundesvertriebenengesetzes war auf deutscher Seite genauso wichtig wie solche des Wissenschaftsministeriums oder des Auswärtigen Amtes. Politische und andere gemeinnützige Stiftungen, Hilfsorganisationen, aber auch zahlreiche Einzelinitiativen trugen dazu bei, dass wohl in keinem anderen europäischen Land das Wissen über polnische Kultur so verbreitet ist wie in Deutschland. Es wäre allerdings übertrieben zu behaupten, es sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Während die Kooperation zwischen Polen und der DDR quasi ideologisch vorgegeben war, bot der westdeutsche Staat polnischen Künstlern immer wieder Möglichkeiten, auf ihr Schaffen aufmerksam zu machen und in schwierigen Zeiten auch Einkünfte zu generieren. Für den Bereich der Literatur ist das in diesem Band exemplarisch nachgezeichnet worden. Ähnliches ließe sich für andere Disziplinen erreichen, insbesondere für den Film und die bildenden Künste. In den seltensten Fällen handelte es sich hier um reine Wohltätigkeit, sondern es war die hohe Qualität, die sich durchsetzte. Der Weg zum Weltruhm von Regisseuren wie Andrzej Wajda, Krzysztof Kieślowski oder Agnieszka Holland, von Bildhauerinnen wie Magdalena Abakanowicz, von Komponisten wie Krzysztof Penderecki oder von Dramatikern wie Sławomir Mrożek führte häufig über Deutschland. Die Metapher vom Brückenbau mag etwas zu häufig verwendet worden sein, und Klaus Bachmanns heftig diskutierter Hinweis auf den deutsch-polnischen „Versöhnungskitsch“ mochte in den 1990er-Jahren seine Berechtigung gehabt haben.13 Die Fortschritte in der Verflechtung von Deutschen und Polen nach dem verheerenden Weltkrieg hätten jedoch ohne bedeutende Einzelakteure nicht stattfinden können. Nicht immer waren diejenigen die wichtigsten, die sich am deutlichsten in den Vordergrund drängten, aber was wäre Kulturvermittlung ohne die zahlreichen Übersetzerinnen und Übersetzer in beide Richtungen, ohne die Kuratorinnen und Kuratoren, ohne Mäzeninnen und Mäzene und ohne die Eigenbrötler, die ihr Leben einfach aus Interesse heraus dem polnischen Thema widmeten. Diese in der Öffentlichkeit wenig Bekannten 13 Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muß von Polen ausgehen, in: taz Nr. 4383 vom 5.8.1994, S. 12.

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und Geschätzten waren und sind es, die dem deutsch-polnischen Verhältnis Schwung, Emotion und Emphase verliehen haben und es zum Teil bis zum heutigen Tag tun. Umgekehrt boten sich deutschen Kulturschaffenden oftmals neue Möglichkeiten in Polen, etwa über Ausstellungen, die für die Polen dann wiederum eine Art Fenster zum Westen darstellten. Die vielfältigen Verflechtungen auf dem kulturellen Gebiet, die nicht selten den Einzelakteuren zu verdanken sind, sollten aber die Tatsache nicht kaschieren, dass die nach 2000 gehegten Erwartungen an die deutsch-polnischen Beziehungen größtenteils nicht erfüllt wurden. Die gemeinsame Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO, regelmäßige bilaterale Konsultationen oder infrastrukturelle Zusammenarbeit im Grenzgebiet werden immer wieder von Konflikten erschüttert, die gegenseitige Distanz ist durch wirtschaftliche und politische Asymmetrien spürbar. Deutschland bleibt für Polen der wichtigste Handelspartner (im Jahre 2019 gingen ca. 28% aller polnischen Exporte nach Deutschland), aus deutscher Sicht ist das östliche Nachbarland trotz steigender Zahlen im Handel nach wie vor nur von nachrangiger Bedeutung. In der Sicherheitspolitik divergieren die Meinungen in Warschau und Bonn beträchtlich: Während die Beziehungen zu den USA für Polen zum Garant der nationalen Sicherheit erklärt werden, widersetzt sich die Bundesregierung der Pax Americana. Obwohl in den deutsch-russischen Beziehungen seit 2020 eine eher ungewöhnliche Funkstille herrscht, vermied Berlin bis dahin allzu konfrontative Reaktionen und verfolgt(e) weiterhin das Projekt der Ostseepipeline, das russische Energielieferungen über die Ostsee nach Deutschland bringen soll. In Polen, dessen Territorium dabei umgangen wird, wurde diese sektorale Verbindung der großen Nachbarstaaten beargwöhnt und als Frage der nationalen Souveränität diskutiert. Auch die multilateralen Kooperationsprojekte büßten in der letzten Zeit ihre Bedeutung ein. Dies betrifft vor allem das 1991 von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens initiierte Weimarer Dreieck, dessen jährliche Treffen bis zum Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004 eine wichtige Funktion erfüllten. Was völlig fehlt, sind große gemeinsame Projekte, sei es auf gesamtwirtschaftlich-konkreter oder auf symbolischer Ebene, die das derzeitige Nebeneinander durch ein stärkeres Miteinander ersetzen könnten. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Asymmetrien sowie der geschichtlichen Belastung, die in der gegenwärtigen polnischen Geschichtspolitik (unter anderem Reparationsfrage und Anerkennung polnischer Opfer) weiterhin eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, könnte die Verflechtungsgeschichte von Deutschen und Polen nach 1945 zweifelsohne in einem pathetisch-tragischen Modus erzählt werden. Das Ressentiment bleibt  – das erkennen die Autoren des Buches durchaus  – das Kernphänomen unserer von

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politischen Konvulsionen geschüttelten deutsch-polnischen Gegenwart. Es prägt auch mitunter medienwirksam die öffentliche Debatte. Es ist zweifelsohne wichtig, in der gemeinsamen Geschichte nach 1945 unsere Aufmerksamkeit auf Kriegsfolgen, Flüchtlinge und Vertriebene, die feindliche Propaganda und politische Differenzen zu richten. Es ist aber auch eine Geschichte der Annäherung und Versöhnung, der weitsichtigen und geschickten Diplomatie, des gegenseitigen Kennenlernens und des kulturellen Austausches. Die Stabilisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses bleibt auch für die Zukunft eine wichtige europäische Aufgabe.

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1. Trümmerfelder (1945–1949)

Im Sommer 1945 waren Trümmer. Berlin und Warschau lagen in Schutt und Asche. Die Siegermächte begannen mit einer territorialen und gesellschaftlichen Neuordnung Europas. Die Jahre direkt nach dem Zweiten Weltkrieg stellen eine der großen Orientierungsphasen in der deutsch-polnischen Geschichte dar. Auch wenn das Jahr 1945 nicht den vollständigen Bruch bedeutete, waren das Ende des Nationalsozialismus und der deutschen Besatzung, der Einmarsch der Roten Armee und der westalliierten Armeen sowie die neue kommunistische Ordnung in den Staaten Ostmittel- und Südeuropas als eine fundamentale Herausforderung für die Lebens- und Ideenwelten der Deutschen und der Polen zu begreifen. Mit der Westverschiebung Polens und der damit verbundenen Verkleinerung des deutschen Territoriums verhärtete sich das ohnehin bestehende Feindbild zwischen den beiden Nationen. Polen stand unter Einfluss und der militärischen Kontrolle der Sowjetunion, daher war die polnisch-deutsche Nachbarschaft nur zum Teil eine Frage der bilateralen Beziehungen. Die Sowjetunion bestimmte sowohl den detaillierten Grenzverlauf als auch die gesamte polnische Außenpolitik. Moskau zeigte kein Interesse an einer „Finnlandisierung“ Polens, wie das Konzept einer begrenzten äußeren Souveränität später beschrieben wurde. Ähnlich wie in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beziehungsweise DDR blieb in Polen ein Mehrparteiensystem erhalten, de facto wurde aber eine Einparteienherrschaft errichtet. Die politische Landschaft war weitgehend von der Polnischen Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza, PPR) dominiert, unterstützt von deren Satellitenparteien: der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna, PPS), der Volkspartei (Stronnictwo Ludowe, SL) sowie der Demokratischen Partei (Stronnictwo Demokratyczne, SD). Während die Kommunisten Polen als „Volksdemokratie“ bezeichneten, hielt die oppositionelle Neugründung von Stanisław Mikołajczyk, die Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe, PSL), den Staat für eine fremdbestimmte Diktatur. Die kaum in der Öffentlichkeit bekannten kommunistischen Politiker hatten nach Kriegsende Schlüsselpositionen in der Wirtschaft sowie im Ministerium für öffentliche Sicherheit in der Hand und dominierten damit die Exekutive. Das Muster für das System der Sicherheitsdienste war das sowjetische NKWD, womit sich auch hier eine Parallele zu Entwicklungen in der SBZ/DDR beobachten ließ.

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I. Überblick

Die Machtbefugnisse der Nichtkommunisten waren in der im Juni 1945 gegründeten „Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit“ von Anfang an bescheiden gewesen. An deren Spitze stand Edward Osóbka-Morawski, zu stellvertretenden Ministerpräsidenten wurden Władysław Gomułka und Stanisław Mikołajczyk. Der Letztere wurde jedoch von der Regierungsmehrheit systematisch übergangen. Da oppositionelle Zeitungen zensiert wurden, war es Mikołajczyk nicht möglich, seine Vorstellungen eines demokratischen, mit der Sowjetunion verbündeten Polens ungehindert zu verbreiten. Dennoch war ein großer Teil der im Krieg und durch die Bodenreform politisierten Bauernschaft bei der PSL zu finden. In diese antikommunistische Alternative strömte aber auch die Stadtbevölkerung. Die Kommunisten standen also vor dem Problem, zu Wahlen antreten zu müssen, bei denen ein klar umrissenes stalinistisches Gesellschaftsmodell zur Disposition stand, und zögerten die Festsetzung des Termins hinaus. Stattdessen entschied man sich im Juni 1946 für ein Referendum, in dem drei Fragen  – die Abschaffung des Senats, das Verhältnis zur Bodenreform sowie die Einstellung zur Westgrenze  – mit schlichtem Ja oder Nein beantwortet werden sollten. Mikołajczyk, der sich gegen die Auflösung der zweiten Kammer aussprach, um die Alleinherrschaft der PPR zu verhindern, wurde propagandistisch als Volksverräter abqualifiziert, genoss aber weiterhin eine große Popularität in der Bevölkerung. Im Mai 1946 zählte seine Partei rund 800 000 Mitglieder.14 Das Referendum wurde massenhaft gefälscht, der Protest der PSL aber abgewiesen. Für den engsten Führungszirkel war es jedoch von gravierender Bedeutung, dass ein Drittel der Beteiligten alle drei Fragen mit Nein beantwortet hatten. Im Vorfeld der für Januar 1947 geplanten Wahlen setzte man verstärkt auf Armee und Sicherheitsdienst, das Monopol der Vertrauensmänner in den Wahlausschüssen, auf Zensur gegen die oppositionellen Blätter und Einschüchterung der PSL-Funktionäre. Laut dem offiziellen, grob gefälschten Wahlergebnis erhielten die Kommunisten 80 Prozent der Stimmen, das Amt des Ministerpräsidenten übernahm Józef Cyrankiewicz. Die legale Opposition wurde noch im gleichen Jahr mit Repressionen demontiert, im Oktober 1947 floh Stanisław Mikołajczyk in die Vereinigten Staaten. In den darauffolgenden Monaten wurde der Aufbau des totalitären Systems größtenteils vollendet. Alle politischen Entscheidungen lagen in den Händen einer kleinen Gruppe der Parteielite, dem Gerichtswesen wurde die Unabhängigkeit entzogen. In mehrwöchigen Schulungen wurden Bauernsöhne zu parteitreuen Beamten, Offizieren, aber auch Richtern und Staatsanwälten ausgebildet. Auf dem sogenannten Vereinigungsparteitag der Polnischen Arbeiterpartei und 14 Turkowski, Romuald: Polskie Stronnictwo Ludowe w  obronie demokracji, Warszawa 1992, S. 111.

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1. Trümmerfelder (1945–1949)

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der polnischen Sozialistischen Partei im Dezember 1948 entstand die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP; Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR). Im elfköpfigen Politbüro amtierten nur drei Sozialisten (darunter Józef Cyrankiewicz, der Premierminister blieb), neuer Parteichef wurde Bolesław Bierut. Gewerkschaften, Wirtschaft, Zensur, Hörfunk, Verlagswesen und Zeitungen standen unter Kontrolle der PVAP. Bis auf wenige Enklaven (Universitäten, katholische Kirche) war in Polen die Stalinisierung abgeschlossen. Zugleich verbesserte sich die im Jahre 1945 zunächst dramatisch schlechte Versorgungslage erheblich. Die Häfen in Danzig und Gdingen nahmen ihre Arbeit wieder auf, Verkehrsverbindungen wurden hergestellt, der im Zentralen Planungsamt konzipierte Dreijahresplan des Wiederaufbaus wurde vorzeitig erfüllt. Die Industrieproduktion überschritt bereits 1946 die Werte von 1938, die Arbeitslosigkeit sank, die Löhne stiegen im schnellen Tempo. Zum Bild der nationalen Renaissance wurde der Wiederaufbau Warschaus. Zwar war angesichts der Zerstörungen die Rolle Warschaus als Großstadt und die Verlegung der Hauptstadt nach Posen, Lodz oder Krakau diskutiert worden, diese Pläne gediehen allerdings nicht weit. Zu groß war die symbolische Bedeutung Warschaus, die durch die vormalige deutsche Absicht, Warschau auf einen geografischen Punkt zu reduzieren (wie Hitler es ausgedrückt hatte), noch gesteigert war. Der medienwirksam präsentierte Wiederaufbau der Altstadt wurde zum Aushängeschild polnischer Nationalkultur und stärkte die schwache politische Legitimation des neuen Regimes. Auch die obligatorische Kranken- und Rentenversicherung fanden die Zustimmung der breiten Bevölkerung. Auf Ablehnung stießen dagegen die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der Angriff auf den Privathandel. Die politische und gesellschaftliche Neuausrichtung in Polen war aber den nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besatzungszonen Deutschlands verbliebenen polnischen Bürgern, vor allem ehemaligen Zwangsarbeitern, KZHäftlingen sowie Angehörigen der polnischen Streitkräfte im Westen, meist nur vom Hörensagen bekannt. Vor allem für die Letzteren war die Tatsache des Gebietsverlusts im Osten und der Machtübernahme durch die Kommunisten nicht zu akzeptieren. Die Alliierten verliehen all diesen Menschen den Status der „Displaced Persons“ (DP), definiert als Zivilpersonen, die sich wegen Kriegseinwirkungen außerhalb der nationalen Grenzen ihres Landes befanden, die entweder nach Hause zurückkehren oder ein neues Zuhause finden wollten, jedoch nicht in der Lage waren, dieses ohne fremde Hilfe zu tun. Zu den DPs zählten auch jüdische Flüchtlinge, die  – angesichts des antisemitischen Klimas in Polen, das 1946 in antijüdischen Ausschreitungen gipfelte  – in die westlichen Besatzungszonen geflüchtet waren und von dort aus ihre Auswanderung nach Palästina oder in die USA betrieben. Nicht wenige von ihnen hatten den Holocaust dadurch überlebt, dass sie vor der anrückenden

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I. Überblick

Wehrmacht in die Sowjetunion geflohen oder nach Sibirien deportiert worden waren. Sie wurden in ehemaligen Kasernen der Wehrmacht, Kriegsgefangenen- und Konzentra­tionslagern sowie requirierten privaten Wohnungen, Hotels und Krankenhäusern untergebracht, die in den westlichen Teilen Deutschlands erst von der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) geleitet und nach 1947 von der Internationalen Flüchtlingsorganisation IRO übernommen wurden. Die Organisationen versorgten DPs mit Kleidung und Lebensmitteln und hatten auch die Aufgabe, ihre künftige Repatriierung zu erleichtern. Für die jüdischen DPs wurde der Aufbau von eigenen Wohngebieten angeordnet, nachdem anfangs manche der Flüchtlinge mit ihren früheren Peinigern hatten zusammenleben müssen. DPs gründeten in einzelnen Besatzungszonen eigene Strukturen und Organisationen; die bedeutendste Repräsentanz war der Verband der Polnischen Flüchtlinge (Zjednoczenie Polskich Uchodźców) mit Sitz in Velbert. Chöre, Amateurtheater und Orchester boten lang entbehrte Kultur, dank dem rasch entstandenen Buchhandels- und Verlagsmarkt für polnischsprachige Literatur sowie einer Vielzahl von Bibliotheken gelang es, in den westlichen Zonen ein einigermaßen funktionierendes Vertriebsnetz für Druckwerke aufzubauen.15 Zur Enklave der polnischen DPs wurde Haren im norddeutschen Emsland. Auf dem von der I. Panzerdivision von Stanisław Maczek eingenommenen Gebiet hielten sich nach dem Krieg rund 40 000 DPs und Kriegsgefangene auf, davon mehrheitlich Polen. Auf Befehl des Oberbefehlshabers der britischen Besatzungstruppen, Bernard Montgomery, musste die deutsche Bevölkerung Haren im Mai 1945 verlassen, im Juli 1945 wurde die Stadt in Maczków umgetauft. Straßen und Plätze erhielten polnische Namen. In raschem Tempo entstanden Schul- und Gesundheitswesen, Kultur- und religiöses Leben sowie Arbeitsmöglichkeiten für die rund 5000 in Maczków ansässigen Polen. Für drei Jahre blieb Haren Maczków. Deutsche Behörden bemühten sich in dieser Zeit intensiv darum, dass die Harener wieder in ihre Heimat zurückkehren konnten. Im September 1947 gaben die britischen Besatzer die Stadt zurück, die Entschädigungen für die entstandenen materiellen Schäden wurden nachträglich von der Bundesrepublik ausgezahlt. Die erzwungene Preisgabe der Häuser sorgte aber noch lange für antipolnische Ressentiments.16 Nachdem Großbritannien die kommunistische Regierung in Warschau anerkannt hatte, stieg der politische Druck, die in Deutschland verbliebenen Polen zur Rückkehr zu bewegen. In den westlichen Zonen wurde die 15 Łakomy, Agnieszka: Der Buchhandels- und Verlagsmarkt für polnische Displaced Persons nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland und die Verbreitung polnischer Bücher durch Bibliotheken. In: Bibliotheksdienst 48(11) (2014), S. 881–894. 16 Rydel, Jan: Die polnische Besatzung im Emsland 1945–1948, Osnabrück 2003.

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1. Trümmerfelder (1945–1949)

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Repatriierung zwar unterstützt, aber nicht erzwungen. Manche polnische DPs blieben in der Bundesrepublik, viele Polen wanderten dagegen nach Australien, Kanada, Palästina/Israel und in die USA aus. Aus der sowjetischen Zone mussten bis Ende 1946 alle DPs nach Polen zurückkehren. Eine Sonderrolle in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte spielten die historischen deutschen Ost- und nun neuen polnischen Westgebiete, die fortan als „wiedergewonnen“ galten. In „Polens Wildem Westen“ herrschte eine Zeitlang das Recht des Stärkeren. Individueller Nachholbedarf äußerte sich meistens in Gestalt einer halblegalen oder illegalen Aneignung; das Wort szaber wurde dort zum Sammelbegriff für alle Eigentums- und Korruptionsdelikte. Not und Elend der Deutschen nach der Vertreibung (ausführlicher → Bd. 4) waren von einem unvorstellbaren Ausmaß. Trotz aller nationalen Entflechtung waren die erzwungenen kulturellen Kontakte in den ehemaligen Ostprovinzen nicht unbedeutend. Das Aufeinandertreffen von polnischen Zwangsarbeitern, Neusiedlern und Vertriebenen aus anderen Teilen Polens mit deutschen Einwohnern und Flüchtlingen bewirkte eine vorübergehende Begegnung von Deutschen, Polen und Angehörigen der Sowjetarmee. Die Neubürger waren mit dem deutschen Erbe konfrontiert. Doch die Aneignung eines fremden Kulturraums erwies sich als eine langwierige Aufgabe, wie sich heute anhand von Egodokumenten gut nachvollziehen lässt.17 Für sie zuständig war das im November 1945 gegründete Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete. Die offiziell veranlasste kulturelle „Reinigung“, wonach alle Reminiszenzen der deutschen Vergangenheit zu entfernen waren, betraf öffentliche Einrichtungen wie private Häuser. Die in den Bibliotheken vorhandenen deutschen Bücher wurden zum Teil vernichtet, zum Teil aber auch in Buchsammelstellen zusammengeführt und dann auf die neuen polnischen Bibliotheken verteilt (wobei die völlig zerstörte Nationalbibliothek in Warschau Vorrang hatte). Denkmäler wurden gestürzt, Straßenschilder ersetzt, die kleinsten vorgefundenen Artefakte aus dem öffentlichen Raum entsorgt (in privaten Wohnungen, Kellern und Speichern ist jedoch auch viel erhalten geblieben). An die Stelle des Alten musste aber überzeugend das Neue treten. Ein territorial-politisch definierter Raum mit einer oder mehreren Geschichten und mit klar umrissenen Grenzen wurde national umgeschrieben. Für die Machthaber war es wichtig, einen Traditionsbezug herzustellen, ohne den der Bevölkerung der Westgebiete ein wichtiger Identitätsanker gefehlt hätte. Die äußerst heterogene Gesellschaft musste integriert und an den neu 17 Halicka, Beata (Hrsg.): „Mein Haus an der Oder.“ Erinnerungen polnischer Neusiedler in Westpolen nach 1945, Paderborn 2014; Halicka, Beata: Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945–1948, Paderborn 2013.

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I. Überblick

definierten Raum herangeführt werden.18 Der Staatsapparat brachte daher eine massive Propaganda ins Rollen und statuierte den Mythos des „Piastenerbes“, demzufolge Polen nach 1945 in den mittelalterlichen Grenzen des polnischen Staates zur Zeit der Herrschaft der Dynastie der Piasten restituiert wurde. Dies geschah sowohl im Hinblick auf die internationale Öffentlichkeit, vor der man die historischen Rechte Polens auf die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches rechtfertigen wollte, wie auf die eigene aus dem Osten verschobene Bevölkerung. Die polnische Mythisierung der Westgebiete war nicht zuletzt eine Reaktion auf die deutschen Legitimationsbemühungen der Ostsiedlung vor 1945, vor allem auf den Ostkolonisationsdiskurs im 19. Jahrhundert, die damalige Verschränkung des deutschen Kolonialdiskurses mit dem Ostkolonisationsprojekt sowie die historiografischen und literarischen Konstruktionen des Polen-Raumes.19 Trotz eines territorial-politischen Provisoriums sollten die Zwangsmigranten das Gefühl haben, an alte polnische Wurzeln anknüpfen zu können. Nachträglich räsonierte das Parteiorgan »Trybuna Ludu«: „Wir feiern heute den 15. Jahrestag der Rückkehr der West- und Nordgebiete zur Volksrepublik Polen. Die Bedeutung dieses historischen Ereignisses steht über allen wichtigen Ereignissen in der tausendjährigen Geschichte des polnischen Staates. Wir empfinden an diesem Jahrestag Genugtuung für das historische Unrecht, das allen früheren Geschlechtern des polnischen Volkes und uns selbst seit den Tagen der Piasten bis zu den tragischen Jahren der Hitlerokkupation Polens durch die eroberungssüchtigen Feudalherren der teutonischen Kreuzritter, Preußen und Hitlerleute zugefügt wurde.“20 Der staatlichen Propaganda eilten auch die Schriftsteller zu Hilfe mit einer Flut historischer Erzählwerke, in denen die polnische Inbesitznahme Schlesiens als geschichtlich determiniert dargestellt wurde. Karol Bunsch schilderte in seinen zahlreichen „Piastenromanen“, erschienen zwischen 1945 und 1987, die deutsch-polnischen Auseinandersetzungen zu Beginn der polnischen Staatlichkeit in Schlesien und Pommern. In den ersten, direkt nach dem Krieg herausgebrachten Bänden stellte Bunsch die damals häufig beschworenen Glanzpunkte der polnischen Geschichte dar, indem er zum Beispiel in »Zdobycie Kołobrzegu« (1952, Die Eroberung Kolbergs) über die Kriegsexpedition des polnischen Herrschers Bolesław Krzywousty (Boleslaus Schiefmund) und die Einverleibung Pommerns berichtete. In »Psie pole« (1953, Hundsfeld), 18 Hinrichsen, Kerstin: Die Erfindung der Ziemia Lubuska. Konstruktion und Aneignung einer polnischen Region 1945–1975, Göttingen 2017. 19 Vgl.: Surynt, Izabela: Das „ferne“, „unheimliche“ Land. Gustav Freytags Polen, Dresden 2004. 20 „Polen, das Piastenerbe und der Sozialismus“. In: Ostprobleme 12(15) 1960, S. 450–451, hier S. 450.

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1. Trümmerfelder (1945–1949)

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Abb. 1. Auf dem Warschauer Grunwaldzki-Platz wurden 1966 anlässlich des „1000-jährigen Bestehens der urpolnischen Gebiete“ propagandistische Dekorationen aufgestellt.

heute ein Stadtteil von Breslau, ging es wiederum um eine Schlacht aus dem Jahre 1109, in der das Heer des Kaisers Heinrich V. von polnischen Rittern geschlagen wurde. Der Legende zufolge seien Hunderte von Erschlagenen auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben und streunende Hunde hätten deren Leiber zerrissen und die Knochen abgenagt (→ Bd. 1, S. 213). Die in ihrer politischen Absicht allzu deutlichen Romane Bunschs korrespondierten mit den historischen Ereignissen der Nachkriegsjahre, versuchten die Existenz des polnischen Staates in den pommerschen und schlesischen Gebieten zu legitimieren und entwarfen einen neuen Gedächtnisraum, in dem die aus Zentralpolen, Galizien, Posen sowie dem Osten verschlagenen Menschen heimisch werden sollten. Zugleich malten sie ein Porträt der Deutschen, die sich vermeintlich schon im Mittelalter durch barbarische Grausamkeit ausgezeichnet hatten. 21 21 Lemann, Natalia: „Die königliche Oder-Neiße-Linie“  – literarische Strategien des „Writing the Nation“. Wie der Piastenroman die polnische Vergangenheit der Wiedergewonnenen Gebiete konstruiert (vom Zweiten Weltkrieg bis 1989). In: Germanoslavica. Zeitschrift für germano-slavische Studien 28 (2017), S. 187–210.

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I. Überblick

In diesem Gedächtnisraum, vor allem aber im realen politischen Raum nach 1945, waren die deutsch-polnischen Beziehungen durch jene Feindbilder geprägt. Vornehmlich in den Nord- und Westgebieten gehörten sie zu den Integrationsfaktoren der Bevölkerung mit diesen neuen Territorien. Nicht nur wurden die Wörter „Deutschland“ und „Deutscher“ im öffentlichen Gebrauch und entgegen den Regeln der polnischen Rechtschreibung jahrelang kleingeschrieben, die Verachtung galt auch der deutschen Sprache. Auf der ersten Bildungskonferenz in Lodz, im Juni 1945, überlegte man sogar, den Deutschunterricht aus den Schulprogrammen zu streichen.22 In der Publizistik überwogen die deutschfeindlichen Töne, der historische Roman »Die Kreuzritter« von Henryk Sienkiewicz, der  – am Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben  – den spätmittelalterlichen Sieg des polnisch-litauischen Heeres über den Deutschen Orden thematisierte, avancierte quasi zum Handbuch der deutsch-polnischen Beziehungen. Bis zur Entstehung der Bundesrepublik beschränkten sich die offiziellen Kontakte mit den westlichen Besatzungszonen Deutschlands weitgehend auf die Repatriierung der polnischen Staatsbürger, Reparationsfragen, Verfolgung von NS-Verbrechern sowie die Suche nach verschleppten Kunstwerken und anderen Objekten. Der beginnende Kalte Krieg verstärkte die antikommunistische Einstellung der westdeutschen politischen Eliten, für die das Regime in Warschau zunächst einmal als ein Provisorium galt. Die Oder-Neiße-Linie wurde als künftige deutsche Ostgrenze nicht einmal in Erwägung gezogen. Dennoch belegen die einschlägigen Akten des polnischen Außenministeriums, dass Wirtschaftsbeziehungen mit der amerikanischen, britischen und französischen Zone für den Wiederaufbau der heimischen Industrie als unerlässlich galten. Man plante Ankäufe und korrespondierte mit einzelnen Firmen, im Agrar- und Kohlesektor hoffte man dagegen auf lukrative Exportmöglichkeiten.23 Die große Politik machte diese Pläne pragmatischer Ministerialbeamter zunichte. Im Juni 1947 drängten die Vereinigten Staaten mit der Verkündung des Marshallplans auf eine Klärung des Verhältnisses der europäischen Satelliten Moskaus zum Westen. An einer Teilnahme am European Recovery Program waren die polnischen Kommunisten durchaus interessiert, der gesamte Marshallplan wurde aber durch die Sowjetunion als Ausdruck imperialistischer Revisionspolitik denunziert. Damit war auch der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu den Westzonen Deutschlands sowie zu anderen westeuropäischen Ländern wesentlich erschwert.

22 Tomala, Mieczysław: Deutschland  – von Polen gesehen, Marburg 2000, S. 25. 23 Sprawozdanie delegata dla handlu zagranicznego w  Berlinie, 11.7.1946. In: Archiwum MSZ, 28/17/139.

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Aber auch die Kontakte zwischen polnischen und ostdeutschen Kommunisten waren nicht besonders brüderlich. Daher war es für Warschau von zentraler Bedeutung, in Berlin einen Mann zu haben, der verlässliche Hintergrundinformationen verschaffen und hart verhandeln konnte. Zur wichtigsten Schaltstelle avancierte Jakub Prawin, der Leiter der Polnischen Militärmission. Prawin hatte Ökonomie in Wien studiert, sich 1941 in Ostgalizien zur Roten Armee gemeldet, bei Stalingrad gekämpft, dann in der polnischen Division Kościuszko. Zweimal verwundet, siebenmal dekoriert, Kriegsende im Lazarett, danach kurze Zeit Verwaltungschef des südlichen Ostpreußens, schließlich ranghöchster Vertreter des neuen Polens beim Alliierten Kontrollrat. Für seine ersten offiziellen Termine im April 1946 suchte sich Prawin Gesprächspartner, von denen er sich die besten Einsichten in die Stimmung in der sowjetischen Besatzungszone erhoffte: Erst sprach er mit Johannes R. Becher, dem Vorsitzenden des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, wenige Wochen später begegnete er in einer privaten Wohnung dem gesamten Präsidium dieser Organisation. Becher galt Prawin als kritische Informationsquelle. Sein Lebenslauf sprach Bände. Zunächst hatte sich Becher als expressionistischer Lyriker einen Namen gemacht, war dann nach Wanderjahren und Morphiumentzug zum KPD-Mitglied geworden und hatte 1928 den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller gegründet. 1933 war er vor den SA-Schergen nach Moskau geflohen. Dort war er 1944 in eine Arbeitskommission aufgenommen worden, die sich mit der Gestaltung des neuen Deutschlands nach dem Sturz Hitlers beschäftigen sollte. Die Kommission las sich wie ein Who’s who dessen, was die Exil-KPD nach der stalinistischen Säuberung noch aufzubieten hatte: Die Gesamtleitung oblag Wilhelm Pieck, einzelne Arbeitskomplexe verwalteten beispielsweise Walter Ulbricht, Hermann Matern, Rudolf Herrnstadt, Anton Ackermann, Alfred Kurella und Paul Wandel. Becher beschäftigte sich vor allem mit den Fragen der ideologischen Umerziehung der bald besiegten Deutschen. Der Kulturbund vertrat in seinen Gründungsjahren auch durchaus liberale Positionen und bekannte sich zu drei gleichrangigen Leitbegriffen: Demokratie, Sozialismus und Christentum. Im Präsidialrat saßen dementsprechend neben Künstlern aller Sparten Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche sowie Politiker von KPD, SPD und CDU. Den sowjetischen Besatzern musste diese Ausrichtung als intellektuell-ostdeutsche Sammlungsbewegung nicht ganz geheuer scheinen. Man las im Manifest nämlich auch etwas über die „weite ökumenische Völkerwelt des Westens und Ostens“, die „Christlichkeit unseres Vaterlandes“ sowie den „Wiederaufbauwillen des deutschen kulturellen Lebens“ mit „Glaubensbrüdern in allen Staaten der Welt“.24 24 Dilschneider, Otto: Grussworte. In: Manifest des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Berlin 1947, S. 24–28, hier S. 27 f.

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Abb. 2. Am 7. Oktober 1949 konstituierte sich die provisorische Volkskammer der DDR. Unter den ausländischen Regierungsvertretern, die dem Festakt beiwohnten, befand sich auch der Leiter der Polnischen Militärmission Jakub Prawin (Dritter v. l.).

Für Jakub Prawin war die Meinung dieses heterogenen Kreises wichtig. Sein Interesse galt vor allem der despektierlichen Einschätzung der amerikanischen, aber auch der sowjetischen Besatzungspolitik, die für die künftige Demokratisierung nicht besonders förderlich sei, sowie der Kritik am „elitären“ und „reaktionären“ Charakter der deutschen Intelligenz. Mit Genugtuung stellte Prawin fest, dass im Kreis des Kulturbundes die Grenzfrage und die Vertreibung nicht besonders diskutiert wurden.25 Prawin versuchte auch die geringe Kenntnis der Kulturbundmitglieder über Polen zu bereichern. Künstler, Wissenschaftler und Politiker bekamen Gelegenheit, im Sitz der Militärmission in der Schlüterstraße 42 mit polnischen Kollegen zu diskutieren, im Mai 1947 fand eine Ausstellung »Das neue Polen« statt, weitere kulturelle Veranstaltungen folgten in rascher Abfolge. Zum wichtigen Austauschforum wurde der Weltkongress der Intellektuellen für Frieden in Breslau im August 1948, an dem aus Deutschland fast ausschließlich ausgesuchte Schriftsteller (unter anderen Alexander Abusch, Willi Bredel, Hans Marchwitza, Anna Seghers), Wissenschaftler und Journalisten aus der sowjetischen Besatzungszone teilnahmen. 25 Prawin, Jakub: Raport specjalny, 23.4.1946, 19.5.1946. In: Archiwum MSZ, 6/42/668.

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Abb. 3. Im August 1948 hält Anna Seghers eine Rede auf dem Weltkongress der Intellektuellen für Frieden in Breslau.

Nach der Zwangsvereinigung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) beim „Vereinigungsparteitag“ im Berliner Admiralspalast im April 1946 war es unbezweifelbar, dass die neu entstandene Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) langfristig der einzige wirkliche Partner der Polnischen Arbeiterpartei bleiben würde. Die Aufnahme direkter Kontakte war nur eine Frage der Zeit. Im Juli 1946 kam es zu einem ersten Treffen Prawins mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Walter Ulbricht. Prawin notierte: „Was die polnischen Angelegenheiten angeht, ist Ulbricht um einiges besser orientiert als die anderen. Dies geht zurück auf seine Moskauer Zeit, als er bei der Organisation der Einschleusung des dortigen Parteiaktivs in die Heimat mit unseren Genossen zusammentraf. In der Regel wissen die Deutschen, selbst aktive Parteimitglieder, nichts über Polen. Gegenüber Polen herrscht ein allgemeiner Unwille, der selbst in die höheren Parteiebenen hineinreicht. Dies ist aufgrund der Grenzfrage, der Aussiedlung von Deutschen usw. auch verständlich. Die Partei will nach den Wahlen daran gehen, diese Chinesische Mauer einzureißen, wobei sich Ulbricht selbst noch nicht darüber im Klaren ist, wie dies realisiert

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werden soll. Charakteristisch ist seine Formulierung, wonach die enge Zusammenarbeit unserer Parteien erst später eingeleitet werden sollte, während in der jetzigen Entwicklungsetappe die Parteien auf nationaler Basis arbeiten.“26 Die Grenzfrage führte eine Zeitlang zu heftigen Debatten und sorgte für Unmut bei den Kontakten zwischen polnischen und ostdeutschen Kommunisten. Bereits im September 1945 brandmarkte Otto Grotewohl, damals Vorsitzender der SPD in der sowjetischen Besatzungszone, „nationalistische Forderungen“ Polens und sprach in einem nationalsozialistischen Duktus von einem deutschen „Lebensraum“. Auch nach der Gründung der SED wurde die Grenze infrage gestellt. Der zweite stellvertretende Vorsitzende, Max Fechner, bezeichnete auf einer Konferenz der SED-Funktionäre im September 1946 die Ostgrenze als eine „provisorische“ und rief dazu auf, die „vitalen Interessen der deutschen Nation“ zu verteidigen.27 Erst 1947 begann die SED-Führung unter Moskauer Druck damit, eine Annäherung an Polen einzuleiten. Ab Ende 1948 vermehrten sich die direkten Kontakte zwischen der PVAP und der SED. Die zahlreichen Delegationen der SED-Führung, die zu Gesprächen in Warschau weilten, kamen langsam zu der Überzeugung, dass ohne Anerkennung der Grenze keine besseren Beziehungen zu Polen möglich wären. In Polen fehlte es aber auch nicht an Stimmen, die moralisch-historisch und wirtschaftlich argumentierten und auch das Westufer der Oder mitsamt der Insel Rügen für sich zu beanspruchen versuchten. Diese Forderungen wurden jedoch spätestens 1948 verworfen infolge der mühsamen Annäherung zwischen der SED und der PVAP. Der polnische Grenzrevisionismus speiste sich aber auch aus beinahe mythischen Quellen. Bereits Ende März 1945 hatte die Krakauer Tageszeitung »Dziennik Polski« einen Appell an die polnische Bevölkerung veröffentlicht mit dem bemerkenswerten Titel »Wir müssen nach Bautzen zurückkehren«. Der Verfasser bezeichnete die Befreiung der Lausitz als historische Aufgabe seiner Nation.28 Derartige Aufrufe häuften sich in polnischen Zeitungsberichten der letzten Kriegswochen. Der Gedanke war nicht neu: Schon in den 1930er-Jahren hatte die Warschauer Regierung erkannt, dass sie die Sorben benutzen konnte, um die Einheit des deutschen Staates zu schwächen (ähnlich versuchte das Deutsche Reich zur gleichen Zeit, die Kaschuben zu überzeugen, dass sie mehr dem Deutschtum als dem Polentum 26 Zit. nach Kochanowski, Jerzy: „Gegenüber Polen herrscht ein allgemeiner Unwille.“ Zwei Dokumente der Polnischen Militärmission aus dem Jahr 1946 zur Einschätzung der SED. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2006, S. 347–358, hier S. 355. 27 Ebenda, S. 356. 28 Rewera, Jan: Ostatni Łużyczanie. Musimy wrócić do Budziszyna. In: Dziennik Polski 47 (1945), S. 2.

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verbunden seien). Finanziert wurde vor allem ihr konspiratives Wirken nach 1933.29 Die Sorben nahmen aber zugleich einen besonderen Platz in der polnischen Erinnerungskultur ein: Chrobry und Budziszyn (Bautzen) galten als Chiffre für die einstige Bedeutung Polens im europäischen Mächtekonzert. Im weit entfernten Januar 1018 hatte der sogenannte Frieden von Bautzen einen langjährigen Konflikt zwischen dem römisch-deutschen Kaiser Heinrich II. und dem polnischen Herzog Bolesław I., genannt Chrobry (der Tapfere), ausgelöst (→ Bd. 1, S. 36 f.). Die hart umkämpfte Lausitz verblieb zwar lediglich bis 1031 unter polnischer Herrschaft, doch im späteren nationalen Imaginarium stand dieser Erinnerungsort für die panslawische Verbundenheit von Polen und Sorben. Der Anschluss der Lausitz an Polen beziehungsweise die Unabhängigkeit der Lausitz wurde nach 1945 heftig diskutiert (auch in der Tschechoslowakei gab es Stimmen, die eine Angliederung der Lausitz forderten). 1946 veröffentlichte das Slawische Komitee in Breslau als ersten Band der »Slawischen Bibliothek« ein Buch »Über die Reslawisierung Ostdeutschlands« (»O reslawizację wschodnich Niemiec«), in dem der einst der nationalistischen, konservativen und antisemitischen Nationalen Demokratie angehörende Karol Stojanowski ausführte, dass, ausgehend von den Sorben, die erloschene slawische Sprache durch die Ansiedlung einer slawischen Kernbevölkerung auf ostdeutschem Gebiet neu belebt werden könne. Die „lausitzophile“ Bewegung institutionalisierte sich schnell: So entstand zum Beispiel der in ganz Polen wirkende Akademische Verein Lausitzer Freunde „Pro Lausitz“ (Prołuż), der eine Patronatspflicht Polens für die westslawischen Nachbarn reklamierte. Ziele des Vereins waren unter anderem die Verteidigung der Rechte der Sorben, die Aufklärung des In- und Auslands über das sorbische Problem sowie die Förderung einer Reslawisierung der westslawischen Region. Die Warschauer Regierungsstellen bekamen aus diversen Teilen des Landes Anfragen und Memoranden, in denen eine unabhängige Lausitz gefordert wurde. Die erzwungene Zusammenarbeit mit der SED, die die Schaffung einer Verwaltungseinheit Lausitz und die Anerkennung der Sorben als Volk zunächst ablehnte, führte spätestens Ende 1947 zu einem Verzicht auf diese eigenwillige Behandlung der Lausitzer Frage durch Warschau. Es war auch zu bedenken, dass die Sorben selbst weniger intensive propolnische und mehr protschechische Gefühle hegten. Durch Vermittlung der tschechischen Schulvereine und dank Studienaufenthalten entstand in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Schicht sorbischer Intellektueller, die über gute Kenntnisse des Tschechischen verfügte. Daher bediente sich auch die DDR-Führung nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 der 29 Kochanowski, Jerzy: Zanim powstała NRD. Polska wobec radzieckiej strefy okupacyjnej Niemiec 1945–1949, Wrocław 2008, S. 106.

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Sorben und ihrer Kulturvereine, um das Verhältnis zur Bevölkerung des Nachbarlandes zu entspannen. Die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontakte zwischen Polen und der SBZ wurden in den ersten Nachkriegsjahren also sehr mühsam und mit gegenseitigem Misstrauen aufgebaut. Anders verhielt es sich aber mit Handelskontakten. Die Verflechtung war in diesem Fall nicht so sehr auf eine lange Tradition, sondern eher auf den Druck der Sowjetunion zurückzuführen, die darauf drängte, die beiden Wirtschaftssysteme voneinander abhängig zu machen. Dies entsprach dem allgemeinen Trend: Die Handelsverbindungen Polens mit der westlichen Welt wurden gekappt und nach Osten umgelenkt, sodass 1945 der Handel mit dem sowjetischen Machtbereich 92 Prozent des polnischen Außenhandels ausmachte. Der Westhandel wurde zwar rasch wieder aufgenommen, eine erneute Wende trat aber mit der erzwungenen Ablehnung der Beteiligung Polens am Marshallplan und dem darauffolgenden Aufbau des östlichen Wirtschaftsblockes ein. Das erste Handelsabkommen zwischen Polen und der SBZ wurde im Februar 1946 unterzeichnet. Beide Seiten strebten eine direkte Zusammenarbeit zwischen polnischen und ostdeutschen Firmen an. Auch die Bevölkerung in der SBZ und in polnischen Grenzregionen musste sich abseits der großen Politik mit der neuen Realität arrangieren. Die Grenze durchschnitt nämlich ganze Stadtorganismen (etwa in Görlitz/ Zgorzelec, Guben/Gubin und Frankfurt an der Oder/Słubice), deren Infrastruktur bis 1945 eine gemeinsame gewesen war. Durch die Grenzziehung kam es zunächst zu erheblichen Schwierigkeiten im Bahnbetrieb. Die neuen Grenzbahnhöfe waren auf den Richtungswechsel nicht eingestellt und hatten nicht die nötigen Kapazitäten. Zugleich war die Grenze keinesfalls geschlossen für unternehmungslustige Bürger und Beamte, die im Schmuggel einen einträglichen Nebenerwerb fanden. Die Oder-Neiße-Region war zwar nicht so berüchtigt wie die Aachener „Kaffeefront“  – das berühmte Zentrum des Kaffeeschmuggels zwischen Belgien, den Niederlanden und Deutschland in der Nachkriegszeit, dessen packendes Bild 1951 im Kriminalfilm »Die sündige Grenze« gezeigt wurde. Dennoch entwickelte sich bis zur Entstehung der Deutschen Demokratischen Republik ein blühendes Geschäft, das sich an bilateralen politischen Animositäten kaum störte. Vielleicht waren die Jahre 1945 bis 1949 die spontansten und am wenigsten ritualisierten in den polnisch-ostdeutschen Beziehungen.

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2. Der sozialistische Internationalismus. Polen und die DDR (1949–1990)

Am 3. Oktober 1990 ging das über vierzig Jahre dauernde Kapitel der ostdeutsch-polnischen Geschichte zu Ende. Es war eine besondere Zeit. Zum ersten Mal war ein großer Teil Deutschlands strukturell so fest mit dem Osten verflochten, doch die Bindung war eine Zwangsbindung, eine „befohlene Freundschaft“, wie die griffige Formel lautet.30 Peter Bender, einst Vordenker der Ostpolitik und ein langjähriger kenntnisreicher Begleiter der Entwicklungen in Osteuropa, zog 1992 seine Bilanz. Was bleibt von der Beziehung der DDR zum Osten? Für eine echte Versöhnung mit Polen, wie sie vergleichbar zwischen der Bundesrepublik und Frankreich auf den Weg gebracht wurde, hätte die DDR nur begrenzte Möglichkeiten gehabt. Ein deutscher Staat, der aus seiner Geschichte nur das erben sollte, was „humanistisch“ und „fortschrittlich“ erschien, der seinen Bürgern einen Kollektivfreispruch von den nationalsozialistischen Verbrechen erteilte und in den Stand der Unschuld eintrat, konnte im Ausland nur mit weitgehendem Misstrauen rechnen. Dennoch entstanden in der langen Nachkriegszeit selbstverständlich auch viele Gemeinsamkeiten. Die Tschechoslowakei stand der DDR nach Mentalität und Entwicklungsstand am nächsten, Rumänien und Bulgarien boten Süden und Sonne. Der östliche Nachbarstaat blieb dagegen ein Land, „dessen Wälder, Seen und Ostseestrand die zeltenden Urlauber anzog, das aber in seiner Originalität fast nur von Intellektuellen und Künstlern wahrgenommen wurde“. Seine vermeintliche „Liberalität“ sorgte in anderen Bevölkerungskreisen eher für Unmut. Bender schreibt: „Polen erschien allzeit problematisch, nicht allein für die mißtrauischen Regenten im östlichen Berlin. Da die Vergangenheit ausgeblendet war, blieben auf beiden Seiten die alten deutsch-polnischen Ressentiments; sie wuchsen sogar, weil beide Staaten viel leisteten, was die gewohnten Vorurteile übereinander zu bestätigen schien. Dem ,Prager Frühling‘ trauerten viele Ostdeutsche nach; die erstaunlichen Veränderungen aber, die Solidarność bewirkte, erregten bei den meisten eher Zweifel 30 Vgl. Kerski, Basil / Kotula, Andrzej / Wóycicki, Kazimierz (Hrsg.): Zwangsverordnete Freundschaft? Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949–1990, Osnabrück 2003.

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als Hoffnung oder gar Sympathie. Soweit sich Bewunderung überhaupt einstellte, wurde sie von einer Sorge überdeckt, die sich auch in anderen Oststaaten zeigte: Werden die polnischen ‚Chaoten‘ wieder alles zunichte machen, was man sich allmählich mühsam erarbeitet hatte, an bescheidenem Wohlstand und auch an kleinen Freiheiten?“31 Benders pauschales Urteil über die Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR wird nicht selten auch durch die Forschungsliteratur bestätigt. Der amerikanische Wissenschaftler Sheldon Anderson erfasste die ersten zwanzig Jahre offizieller bilateraler Kontakte mit der prägnanten Formel des „Kalten Krieges im Sowjetblock“; die „roten Preußen“ sollten ausschließlich für turbulente Konflikte mit den Warschauer Genossen gesorgt haben. Anna Wolff-Powęskas 1998 skizziertes Negativbild ist noch stärker und bezieht sich auch auf die gesellschaftlichen, kulturellen und privaten Kontakte. Die gegenseitige Ignoranz habe nichts mehr als Feindseligkeit und Abneigung, stets neues Aufleben geglaubter Vorurteile und Unsicherheit im Umgang miteinander gebracht.32 Eine Fülle an späteren Studien und Forschungsprojekten hat diese pessimistischen Reminiszenzen revidiert. Wie waren also die ostdeutsch-polnischen Beziehungen und was blieb von ihnen? Die Deutsche Demokratische Republik ist am 7. Oktober 1949 aus der Taufe gehoben worden, am 18. Oktober erkannte Polen den sozialistischen Bruderstaat an, ohne dass jedoch mit Ostberlin Botschafter ausgetauscht wurden. Dazu kam es erst im Februar 1950. Die Verzögerung war kein Zufall. Die polnische Führung verlangte von der SED die eindeutige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die nach ihrer Meinung auf der Potsdamer Konferenz endgültig festgelegt worden war. In Deutschland war jedoch niemand mit der neuen Grenze einverstanden, auch nicht die neuen kommunistischen Führer in der sowjetischen Besatzungszone. Der SED-Vorsitzende Wilhelm Pieck äußerte im Juli 1946 in seinem Geburtsort Guben die Hoffnung, dass auch der jenseits der Demarkationslinie liegende Stadtteil künftig unter die deutsche Verwaltung kommen werde. Laut offizieller Verlautbarungen der SED waren Grenzkorrekturen durchaus „denkbar“, was beiderseits für starke Vorbehalte und Ressentiments gegenüber dem Nachbarn sorgte. Der Presseattaché der Polnischen Militärmission in Berlin berichtete 1946 nach seinem Gespräch mit Walter Ulbricht an die Warschauer Zentrale: „Speziell im Fall unserer Grenze wies ich auf den Chauvinismus hin, der für das deutsche Volk charakteristisch ist und sich in der Linie der Partei 31 Bender, Peter: Unsere Erbschaft. Was war die DDR  – was bleibt von ihr?, Hamburg 1992, S. 96. 32 Wolff-Powęska, Anna: Oswojona rewolucja. Europa środkowo-wschodnia w procesie demokratyzacji, Poznań 1998.

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widerspiegelt. Dies macht eine Zusammenarbeit zwischen unserer und ihrer Partei unmöglich. Am gefährlichsten ist, dass die Position der SED keine Gesundung des deutschen Volkes anstrebt, sondern seine chauvinistische Krankheit geradezu verschlimmert.“33 Obgleich die Sowjetregierung die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz von Anfang an für bindend hielt, bediente sich die Führung in Moskau in den ersten Nachkriegsjahren des polnisch-deutschen Antagonismus mit dem Ziel, die eigene Herrschaft zu stabilisieren. Aus Furcht vor dem Auseinanderbrechen des Ostblocks und somit vor dem eigenen Machtverlust gab Stalin der SEDFührung eine klare Anweisung, die Oder-Neiße-Grenze als endgültig zu erklären und diese Entscheidung mit aller Gewalt zu verteidigen. Als Gegenleistung durfte sich die DDR mit ihrem verordneten Antifaschismus als Hauptkraft des Widerstands gegen Hitler, als „Sieger der Geschichte“ präsentieren. Die SED deklarierte den Bruch mit den verhängnisvollen Traditionen deutscher Machtausübung und stilisierte sich zum Akteur eines radikalen Neuanfangs. Am 6. Juli 1950 wurde der Vertrag von Görlitz mit gebührendem Zeremoniell besiegelt. Die Wochenzeitung »Die Zeit« berichtete missmutig und in telegrafischer Kürze: „Im polnisch verwalteten Teil der Stadt Görlitz unterzeichneten die Ministerpräsidenten der Sowjetzone und Polens, Grotewohl und Cyrankie­ wicz, offiziell das Oder-Neiße-Abkommen, in dem die deutsche Sowjet­ zonenregierung die Oder-Neiße-Linie widerrechtlich als endgültige Grenze anerkennt.“34 Im spezifischen Diktum des Vertrags hieß es wiederum: „Die Delegation der Provisorischen Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Republik Polen haben, von dem Wunsch erfüllt, den Frieden zu festigen und das unter Führung der Sowjetunion stehende Friedenslager im Kampfe gegen die Umtriebe der imperialistischen Kräfte zu stärken […], vereinbart, daß es im Interesse der Weiterentwicklung und Vertiefung der gutnachbarlichen Beziehungen, des Friedens und der Freundschaft zwischen dem polnischen und deutschen Volke liegt, die festgelegte, zwischen den beiden Staaten bestehende unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze […] zu markieren.“35 Der Vertrag hatte zwar eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Stabilisierung der (ost)deutsch-polnischen Beziehungen; mit der von der 33 Zit. nach Kochanowski, Jerzy / Ziemer, Klaus (Hrsg): Polska  – Niemcy Wschodnie 1945–1990. Wybór dokumentów, Bd. 1, Warszawa 2006, S. 223. 34 Die Woche. In: Die Zeit 28 (1950), S. 4. 35 Zit. nach Münch, Ingo von (Hrsg.): Ostverträge, Bd. 2, Deutsch-polnische Verträge, Berlin, New York 1971, S. 114 f.

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Sowjetunion garantierten, in den ersten Nachkriegsjahren jedoch nur schwer passierbaren „Friedensgrenze“ wurde aber die Politik beider Staaten an das Wohlwollen des Kremls gekettet. In der Logik des Vertrages lag in besonderem Maße die Tabuisierung der Vertriebenenproblematik. Die Vertriebenen konnten ihre Interessen und Konflikte nicht mehr thematisieren, in den jeweiligen gesellschaftlichen Diskursen gestaltete sich jene staatlich verordnete Ausblendung jedoch unterschiedlich. Die SED-Führung unterband konsequent 40 Jahre lang jede öffentliche Debatte über die Vertreibung und die Verbindlichkeit der Oder-Neiße-Grenze, in Polen dagegen stand die Vertriebenenfrage nach 1956 wieder auf der Tagesordnung. Im Juni 1957 erließ das polnische Parlament ein Gesetz, das die Auszahlung von Teilentschädigungen für das in den Ostgebieten zurückgelassene Eigentum möglich machte.36 Durch die westdeutsche „Nichtanerkennungsfront“ gegenüber der OderNeiße-Grenze war Polen zur Solidarität mit der DDR gezwungen. Eine offizielle Unterstützung für die Annäherung beider Völker blieb jedoch aus. An die Stelle direkter gesellschaftlicher Kontakte trat eine Mischung aus klassischer zwischenstaatlicher Diplomatie und Propagandagetöse. Bereits 1950 veranstaltete die SED eine Freundschaftskampagne zur Unterzeichnung des Görlitzer Vertrages, der Monat März war zum „Monat der deutsch-polnischen Freundschaft“ ausgerufen worden und die begleitende Propagandabroschüre, »Die Grundlagen der deutsch-polnischen Freundschaft«, wurde in über sechs Millionen Haushalten verteilt. Die ebenfalls 1950 gegründete und bereits zwei Jahre später wieder aufgelöste Massenorganisation Deutsch-Polnische Gesellschaft für Frieden und gute Nachbarschaft organisierte in der Zeit unter dem Vorsitz von Karl Wloch zahlreiche Versammlungen, Gesprächskreise und Film- sowie Musikvorführungen. In der DDR-Presse galt Polen als Musterschüler im sozialistischen Aufbau, die offiziellen Freundschaftsbekundungen des SED-Staates blieben jedoch in der Bevölkerung unwidersprochen. Die ausgeblendeten Probleme der jüngsten Vergangenheit brachten Missverständnisse und Feindseligkeiten gegenüber dem östlichen Nachbarn mit sich. Ähnlich stellte sich die Stimmungslage in Polen dar. Die verstärkte Beschallung mit der Freundschaftspropaganda, die rhetorische Unterscheidung zwischen ewiggestrigen westdeutschen Revisionisten und dem „gesäuberten Deutschland“, in dem eine antifaschistische Revolution stattgefunden habe, wurde in sämtlichen gesellschaftlichen Schichten beargwöhnt. Als Walter Ulbricht den Arbeiteraufstand im Juni 1953 mit sowjetischer Hilfe niedergeschlagen hatte, zeigte sich die Führung der PVAP besorgt und bot der SED Wirtschaftshilfe an. Man befürchtete ähnliche gesellschaftliche 36 Ther, Philipp: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956, Göttingen 1998, S. 223.

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Proteste in Polen, wo die Erhöhung der Arbeitsnormen, die zum Auslöser der Proteste in der DDR wurde, noch drastischer ausfiel. Das Ministerium für Staatssicherheit ordnete eine gesteigerte Wachsamkeit und Überwachung in Betrieben an. Die einschlägigen Reaktionen aus den Parteikreisen waren von der üblichen Rhetorik flankiert: Man sprach von einer „imperialistischen Verschwörung“, „Torpedierung des Friedens“, das Auftreten der Arbeiter sollte ein Beweis dafür sein, dass „in einem Teil der Arbeiterklasse in der DDR immer noch Überreste des Hitler-Faschismus und eine bedrohliche anti-sowjetische Stimmung vorhanden waren“.37 Parteiintern wurde jedoch das Fehlverhalten der SED kritisiert: beschleunigter Kurs beim Aufbau des Sozialismus, übermäßige Erhöhung der Arbeitsnormen, Ahnungslosigkeit gegenüber den tatsächlichen Bedürfnissen der Arbeiter. Eine in der Öffentlichkeit formulierte Kritik blieb aber aus. Ganz anders gestalteten sich die Reaktionen des DDR-Parteikaders auf die politischen Vorkommnisse in Polen. Immer dann, wenn die Polen einen neuen Anlauf zur inneren Liberalisierung nahmen, reagierten die Funktionäre der SED hysterisch und drängten sich in die Rolle des Musterschülers der Sowjetführung. Bereits der erste Versuch Warschaus, einen eigenständigen, nationalen Weg zum Sozialismus auszuloten, ließ in Berlin Zweifel an der Prinzipientreue polnischer Genossen aufkommen. Während Walter Ulbricht den Arbeiteraufstand in der DDR im Juni 1953 mit sowjetischer Hilfe niedergeschlagen hatte, brachte in Polen das Jahr 1956 eine weitgehende Liberalisierung des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens. Ruth Hexel, Lektorin des Aufbau-Verlags, notierte während ihres Besuchs in Warschauer Verlagen im Juli 1956: „Aus den Diskussionen mit Schriftstellern und Redakteuren entnahm ich u. a., daß das Vertrauen zu unserer Presse nicht groß ist und man von unserer Gegenwartsliteratur und dem Mut unserer jungen Schriftsteller nicht sehr angetan ist. Dagegen interessiert man sich für die westdeutsche Presse. […] Einige Unterhaltungen waren für mich so peinlich, daß ich meinte, es mit westlichen Agenten zu tun zu haben, wie sich herausstellte war das ein Irrtum. […] Zweifellos hat die Demokratisierung der Literatur und Presse in Polen einen unvergleichlich höheren Stand erreicht als bei uns.“38

37 Zit. nach Ruchniewicz, Krzysztof: Das polnische Echo auf den Juni-Aufstand in der DDR im Jahre 1953, https://www.dresden.de/media/pdf/geschichte/Das_polnische_ Echo_auf_den_Juni-Aufstand.pdf, S. 7. 38 Zit. nach Kochanowski, Jerzy / Ziemer, Klaus (Hrsg.): Polska  – Niemcy Wschodnie 1945–1990. Wybór dokumentów, Bd. 3, Lata 1956–1957, Warszawa 2008, S. 146.

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Hexels Bestandsaufnahme stammt genau aus der Mitte jenes bewegten Jahres. Nikita Chruschtschows Rede »Über den Personenkult und seine Folgen« auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 war in ganz Polen in wenigen Tagen bekannt geworden. Kurz danach verstarb während eines Moskaubesuchs Bolesław Bierut. Die wichtigsten Verantwortlichen des berüchtigten Sicherheitsamtes wurden aus der Partei ausgeschlossen und etwa 35 000 Menschen aus Gefängnissen entlassen. Die studentische Wochenzeitung »Po prostu« galt als das prominenteste Zeichen des aufziehenden „Tauwetters“. Ende Juni mündete die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der im Eiltempo betriebenen Industrialisierung in die blutig niedergeschlagene Revolte in Posen. Die Drohungen des Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz, man werde jede Hand abhacken, die sich gegen den Sozialismus erhebe, erwiesen sich angesichts der nervösen internationalen Lage im Nahen Osten (Suezkrise) als schwer durchführbar. Am 21. Oktober 1956 wurde Władysław Gomułka, der 1948 wegen „nationalistischer Abweichung“ auf Befehl Stalins und zur Zufriedenheit der SED seines Amtes in der Parteiführung enthoben worden war und drei Jahre im Gefängnis verbracht hatte, zum Ersten Sekretär der PVAP gewählt. Der anfängliche Reformkurs Gomułkas, der in seiner Antrittsrede den Doktrinarismus in der Planwirtschaft geißelte und mehr Demokratie ankündigte, wurde in Ostberlin als Konterrevolution betrachtet (eine tiefe persönliche Abneigung zwischen Gomułka und Walter Ulbricht war in diesem Kontext nicht unbedeutend). Als besonders gefährdend für die DDR galt die Annahme, Polen könne jetzt sein Verhältnis zur Bundesrepublik normalisieren. Der Botschafter der DDR in Warschau, Stefan Heymann, berichtete im November 1956: „In der VRP gibt es verschiedene Kreise, die offen für eine neue Einschätzung der Lage in Westdeutschland Propaganda machen. Dabei handelt es sich im wesentlichen darum, daß man nach Ansicht dieser polnischen Freunde die Lage in Westdeutschland bisher nur schwarz gemalt hat. Man habe stets auf den großen Einfluß des Militarismus und Faschismus hingewiesen, man habe von den Revisionisten und Chauvinisten gesprochen, man habe gezeigt, daß die KPD schwach sei. […] Jetzt waren einige Korrespondenten polnischer Zeitungen in Westdeutschland, die berichteten, alles, was man bisher über Westdeutschland geschrieben habe, sei nicht wahr. Das Pendel schlägt jetzt nach der anderen Seite aus.“39 Die Ereignisse des Jahres 1956 in Polen setzten die SED-Führung in erhöhte Alarmbereitschaft. Im Dezember 1956 beschloss das Politbüro der SED, Heymann als DDR-Botschafter in Warschau abzuberufen, mit Hinweis auf seine Versuche, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten auch in der 39 Zit. nach ebenda.

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politisch schwierigen Lage nicht verschärfen zu wollen. Auf mögliche Unruhen in der Bevölkerung wurde mit intensivierten Sicherheitsvorkehrungen und einer Informationssperre reagiert. Im Mittelpunkt der offiziellen Propaganda standen politische Aspekte der deutschen Polenstereotypie, etwa die Distanz zu staatlichen Organisationsstrukturen, die Pluralisierungsansätze wurden als „Anarchie“ und „Durcheinander“ dargestellt. Zu den geläufigen Etikettierungen gehörte auch die politische „Zurückgebliebenheit“ Polens gegenüber der DDR, in der man die dort 1956 durchgeführten Veränderungen angeblich bereits nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 realisiert hatte. Nebst der Einschränkung und Kontrolle des Reiseverkehrs begann die SED eine scharfe Polemik gegen polnische Veröffentlichungen und gegen Intellektuelle, die sich auf Polen beriefen und bezogen. Aufgrund der außerordentlichen „Maßnahmen zur Veränderung der Lage an den Universitäten und Hochschulen“ wurden Disziplinarverfahren gegen Studenten inszeniert, die oft mit Exmatrikulationen endeten. Zu den exmatrikulierten Studenten gehörte unter anderen Helga M. Novak, weil sie sich weigerte, den Einmarsch der sowjetischen Armee in Ungarn gutzuheißen, und die Ereignisse in Polen als Wendepunkt in ihrer politischen Entwicklung bezeichnete. Mit der Verhaftung Wolfgang Harichs Ende November 1956 statuierte die DDR-Führung ein Exempel für die Repressionen an den Universitäten, in Verlagen und Zeitschriften. Der vormalige Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität (entlassen nach seiner Kritik der dogmatischen Kultur- und Medienpolitik der Partei nach dem 17. Juni 1953) war zum Cheflektor des von Walter Janka geführten Aufbau-Verlags geworden und beteiligte sich nach dem XX. Parteitag der KPdSU an Gesprächen des von György Lukács und Ernst Bloch beeinflussten „Kreises der Gleichgesinnten“, einer informellen Gruppe der marxistischen Intellektuellen, die parteiinterne Reformen forderte. In einem von Harich vorbereiteten Thesenpapier über politische Veränderungen in der DDR, das er in der Zeitschrift »Einheit« veröffentlichen wollte, fanden sich auch Bezüge zu Diskussionen in Polen. In einem im »Neuen Deutschland« publizierten, mit Anschuldigungen der Anklage gespickten Bericht hieß es, Harich habe sein Programm von Polen aus propagieren wollen, weil er mit der Unterstützung polnischer Intellektueller gerechnet habe. So versuchte die SED-Führung mit der Betonung der vermeintlichen Verbindungen der „Harich-Gruppe“ (so lautete die diskriminierende Bezeichnung der DDR-Justiz) nach Polen, das Gerichtsverfahren international auszuweiten und Kontakte mit polnischen „Gleichgesinnten“ zu kriminalisieren. In einem Schauprozess wurde Harich wegen der „Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe“ zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, Walter Janka sowie andere Mitdenker der „Harich-Gruppe“ erhielten ebenfalls mehrjährige Zuchthausstrafen.

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Nach den Verhaftungen von Harich und Janka kam es zu zahlreichen Entlassungen und Umbesetzungen in Verlagen und in den Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften, zum Prüfstein wurde jeweils das Verhältnis der Verleger, Lektoren und Journalisten zu Polen und Ungarn. Im kulturpolitischen Bereich reagierte die DDR-Führung mit einer im Oktober 1957 stattfindenden orchestrierten Kulturkonferenz der SED mit der Aufgabe, die „Lehren aus Polen und Ungarn zu ziehen“ und die „Prinzipien unserer neuen, sozialistischen Kultur“ zu bestätigen. Hauptangriffsziel waren der „Revisionismus“ und die „schädlichen“ Einflüsse aus Polen. Der Kulturfunktionär und Autor Alexander Abusch donnerte am Rednerpult: „Zweitens ist die ausführliche Behandlung der schöpferischen Methode des sozialistischen Realismus und der Fragen der künstlerischen Dekadenz wichtig, weil die vom kapitalistischen Feind und von revisionistischen Theoretikern anderer Länder in unsere Republik hineingetragene Hetze gegen die schöpferische Methode der sozialistischen Literatur und Kunst unsere ganze sozialistische Kultur und Kunstpolitik an einem zentralen Punkt treffen sollte.“40 Die von Abusch vehement verteidigte Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus, von der SED mit dem stalinistischen Sozialismusmodell aus der Sowjetunion importiert, lebte von der strikten Abgrenzung von dem, was die ideologische Wahrnehmung als „spätbürgerlich“ identifizierte. Dem Vorsatz, die in der DDR verfemte Moderne aus Kunst und Literatur auszuschalten, lag eine politisch-strategische Entscheidung zugrunde: Die Autonomie, die die ästhetische Sphäre in der bürgerlichen Gesellschaft erlangt hatte, sollte zurückgenommen werden. Der Affekt der SED gegen künstlerische Emanzipationsprozesse manifestierte sich auch in Reaktionen auf ästhetische Erneuerungen im literarischen Feld anderer Ostblockländer, mit denen sich unter anderem der von Krzysztof Teodor Toeplitz in der Zeitschrift »Nowa Kultura« (Neue Kultur) veröffentlichte Artikel »Katastrofa proroków« (Katastrophe der Propheten) auseinandersetzte. Da laut Toeplitz das „monopolistische“ Programm des realistischen Sozialismus das Ziel verfolgte, „die Kunst der Diktatur untertan zu machen und in ihr eine Stütze für die Diktatur zu gewinnen“,41 nahm sich Alfred Kurella in seiner Funktion als Leiter der Kulturkommission des Politbüros persönlich des Textes an und distanzierte sich von den Ansichten polnischer Intellektueller. 40 Zit. nach Brandt, Marion: Für eure und unsere Freiheit? Der Polnische Oktober und die Solidarność-Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern aus der DDR, Berlin 2002, S. 213 f. 41 Toeplitz, Krzysztof Teodor: Katastrofa proroków. Uwagi o krytyce literackiej i innych sprawach. In: Nowa Kultura 16 (1956), S. 3.

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Die Reaktionen vieler älterer DDR-Schriftsteller wie etwa Stefan Heyms auf Ereignisse des Jahres 1956 lagen nicht allzu weit entfernt von der dogmatischen Linie der offiziellen SED-Propaganda; es gab aber auch zahlreiche Sympathiebekundungen. Der am Philosophischen Institut der Leipziger Universität lehrende Ernst Bloch und seine Frau Karola beobachteten neugierig die Entwicklungen in Polen und unterhielten Kontakte zu polnischen Intellektuellen, etwa zu den Philosophen Leszek Kołakowski und Tadeusz Kroński, dem Literaturkritiker Roman Karst und dem Schriftsteller Jacek Bocheński. Die in Lodz geborene Karola Bloch informierte sich über die Ereignisse in Polen aus der Lektüre der Zeitschrift »Po prostu«, die seit 1955 zu einem Diskussionsforum der polnischen Studenten wurde, und verfolgte die Aktivitäten des Klubs des Krummen Kreises (Klub Krzywego Koła), eines der wichtigsten Zentren des unabhängigen Denkens. Vor allem aber in der vom Kulturbund der DDR herausgegebenen Wochenzeitschrift »Sonntag« nahm man die Liberalisierungstendenzen östlich der Oder mit Begeisterung und als eine Ermutigung auf, der revolutionäre Charakter des Polnischen Oktobers wurde hervorgehoben und die Informationspolitik der Regierung kritisiert. Der stellvertretende Chefredakteur Gustav Just, im Harich-Prozess ebenfalls zu einer Zuchtstrafe verurteilt, erinnerte sich: „Wir hatten das Beispiel Polen vor Augen, wo sich die Partei an die Spitze der Reformbewegung gestellt und sie damit unblutig in Gang gebracht hatte […].“42 So berichtete der »Sonntag« über die Berliner Ausstellung der polnischen Plakatkunst sowie über weitgehende Veränderungen im polnischen Hochschulwesen. Die Zeitschrift transportierte zudem für deutsche Leser literarische Fragmente aus dem Nachbarland, zum Beispiel aus einer stalinismuskritischen Erzählung »Verteidigung von Granada«, in der Kazimierz Brandys die allgemeine Verlogenheit und Heuchelei im täglichen Leben und in der Parteisprache anprangerte. Es war die erste in der DDR publizierte scharfe Abrechnung mit der täglichen Lüge; sie erregte ein ziemliches Aufsehen, durfte jedoch nie wieder erscheinen. Auch Aphorismen von Stanisław Jerzy Lec und kritische Gedichte Adam Ważyks  – der »Traum eines Bürokraten« und »Brief an einen Freund« in der Übersetzung von Wilhelm Tkaczyk  – konnten im »Sonntag« untergebracht werden. Die Publikation der letzteren ist dem Ansporn von Bertolt Brecht zu verdanken, der das Geschehen in Polen mit Aufmerksamkeit verfolgte und darüber mit seinen Mitarbeitern sprach. Über Ważyks »Poemat dla dorosłych« (1955, Poem für Erwachsene), 42 Just, Gustav: Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre. Mit einem Geleitwort von Christoph Hein, Berlin 1990, S. 125.

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das die Mythologie des sozialistischen Aufbaus zerschlug und in Polen eine schockähnliche Wirkung auslöste, erfuhr Brecht durch Vermittlung von Konrad Swinarski (von 1955 bis 1957 Meisterschüler am Berliner Ensemble). Die Nachdichtung des Poems war Brechts letzte größere literarische Arbeit vor seinem Tod. Die Veröffentlichungspolitik und die Haltung zu den Ereignissen in Polen wurde der Redaktion des »Sonntags« schnell zum Verhängnis: In den Akten des Sicherheitsdienstes hieß es, die Zeitschrift habe nach polnischem Beispiel eine Plattform für „unzufriedene“ Intellektuelle schaffen wollen und Artikel veröffentlicht, die „revisionistischen und oft parteifeindlichen Charakter hatten“, wonach das ZK der SED im »Sonntag« eine kommissarische Leitung einsetzte.43 War es dem »Sonntag« möglich, durch sein wöchentliches Erscheinen und das gewagte Verhalten der Redakteure schnell auf aktuelle Ereignisse in Polen zu reagieren, so konnten DDR-Verlage ihre in die Planung einbezogenen polnischen Bücher mit unbotmäßigen Botschaften nicht mehr auf den Markt bringen. Der Erzählungsband »Złoty lis« von Jerzy Andrzejewski (1956, Der goldene Fuchs) wurde als „zur Veröffentlichung in der DDR nicht geeignet“ eingestuft, weil der Autor kurz zuvor aus der PVAP ausgetreten war. Dies war auch der Grund für das Nichterscheinen des von Henryk Bereska übersetzten Romans »Asche und Diamant« von Andrzejewski. Auch als 1962 letztendlich die Druckgenehmigung für das Buch erteilt wurde, teilte die „Brigade Maxim Gorki“ des slawischen Lektorats des Verlags dem Ministerium für Kultur vorsichtshalber mit, der Text könne „in seiner ganzen Bedeutung und Problematik“ wegen der „spezifischen polnischen nationalen Besonderheiten“ nur durch ein Vorwort dem deutschen Leser verständlich gemacht werden: „Der Warschauer Aufstand, die Rolle der in England sitzenden Polen, der durch die Geschichte bedingte und von bestimmten Seiten geförderte Antirussismus und verschiedenes andere sind nur zu verstehen, wenn man die polnische Geschichte etwas näher kennt.“44 Für viele andere Bücher galt nach dem Polnischen Oktober eine Sperre, die knapp zehn Jahre dauerte. Die Rezeptionsblockade war erst mit der im Verlag Volk & Welt herausgebrachten Anthologie »Moderne polnische Prosa« durchbrochen, die einen Kanon anspruchsvoller Literatur des 20. Jahrhunderts von Maria Dąbrowska und Zofia Nałkowska über Bruno Schulz und Tadeusz Borowski bis Kornel Filipowicz und Sławomir Mrożek enthielt. Im 43 Heukenkamp, Ursula: DDR-Kultur zwischen Lenkung und freier Entfaltung. In: Buch, Buchhandel und Rundfunk 1950–1960, hrsg. von Monika Estermann / Edgar Lersch, Wiesbaden 1999, S. 81–96, hier S. 89. 44 Aufbau-Verlag Berlin an das Ministerium für Kultur der DDR, 5.4.1962, DR1/3940, BArch.

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Vorwort der für den literarischen Austausch zwischen Polen und der DDR verdienstvollen Herausgeberin Jutta Janke wird ein gewagter Drahtseilakt sichtbar: Sie lieferte eine literaturgeschichtliche Skizze der Entwicklung der polnischen Literatur, in der der XX. Parteitag der KPdSU als Auslöser entscheidender Veränderungen auch in der Gesellschaft und Kultur Polens nicht fehlte, aber das Oktober-Plenum und der neue Parteisekretär Gomułka aus verlegerisch-taktischen Gründen verschwiegen wurden. Janke verwies gleichzeitig auf die „Blütezeit der Nachkriegserzählungen“ in den Jahren 1955–1958, in denen „mit den Fehlern und Versäumnissen aus der Zeit des Personenkultes“ sowie mit einer „schematischen Darstellung in der Literatur, die die Wirklichkeit konfliktlos sah und schönfärbte“, abgerechnet wurde. Nicht alle Texte waren jedoch dem Literatursystem der DDR zuzumuten. Hervorgehoben wurden daher jene Erzählungen, in denen die Autoren ihre Kritik „an Erscheinungen des Alltags, an falschen Verhaltensweisen“ auf ein „gerechtfertigtes Maß“ zurückführten (unter anderen Stanisław Dygat, Sławomir Mrożek), „thematisch überspitzte“ Aburteilungen (zum Beispiel Marek Hłasko) fanden dagegen keine Erwähnung in der Anthologie. Da der Sammelband aus Anlass des zwanzigsten Jahrestages der Gründung der Volksrepublik Polen erschien, wurden manche Prosastücke, wie die Herausgeberin in ihrem internen Gutachten betonte, aus ausdrücklich politischen Gründen aufgenommen. Den Abschluss des Bandes bildete daher die Erzählung »Die Jungen« von Wojciech Żukrowski, in dem der Autor die Verwandlung des zerstörten deutschen Breslaus in das polnische Wrocław schilderte. Die Aufnahme des Textes galt als „Bekenntnis zur Oder-Neiße-Linie; für Polen und gegen jene westdeutschen Kreise, die historische Tatsachen anzuerkennen sich weigern“.45 Die von Jutta Janke herausgebrachte Anthologie war von der Leserschaft erwartet worden und wurde hoch bewertet. In den Jahren zuvor hatten polnische Verlage auch das Angebot der DDR-Literatur recht gut gesichtet und präsentiert. Persönliche Kontakte zwischen den Literaten beförderten den gegenseitigen Kulturtransfer. Unmittelbar nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik besuchten Johannes R. Becher und Arnold Zweig Polen, im Gegenzug nahmen die Schriftsteller Jarosław Iwaszkiewicz, Leon Kruczkowski, Ryszard Matuszewski, Tadeusz Borowski und Mieczysław Jastrun sowie der Regisseur Erwin Axer am Deutschen Schriftstellerkongress anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands im Juli 1950 teil. Als der Dramatiker Friedrich Wolf zum ersten Botschafter der DDR in Warschau ernannt wurde, porträtierte ihn die polnische Presse und präsentierte Auszüge aus seinem Werk. 45 Janke, Jutta: Gutachten zu „Moderne polnische Prosa“, 23.12.1963, DR1/5040, BArch.

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Abb. 4. Im Juli 1950 fand in Berlin anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands der Deutsche Schriftstellerkongress statt. Im Gespräch (v. l. n. r.): Wolfgang Joho, Tadeusz Borowski und Mieczysław Jastrun.

Bis zum Jahre 1956 wurden die meisten Übertragungen aus der DDRLiteratur von öffentlichen publizistischen Auseinandersetzungen begleitet. So diskutierten die Literaturkritiker Egon Naganowski und Jerzy Kowalewski 1949 in der Zeitschrift „»Kuźnica«, vier Jahre vor dem Erscheinen der Übersetzung des Romans »Das siebte Kreuz« von Anna Seghers, über diverse Aneignungswege deutschsprachiger Literatur in Polen. Ungeachtet der positiven Stimmen beider Rezensenten, wonach die Autorin ihren „Glauben an das verirrte und betörte deutsche Volk und seine bessere Zukunft“ gerettet hatte,46 registrierten die Warschauer Zensoren ideologische Mängel des eingereichten Manuskripts. Einerseits beleuchte das Buch „mutig und klar die Herrschaft des Hitlerregimes und die Stimmungen in der deutschen Bevölkerung“, andererseits zeichne Seghers aber kein Bild von den Aktivitäten der deutschen Kommunistischen Partei, besonders ihrer Rolle bei der Aufklärung der Gesellschaft und bei der Mobilisierung der Deutschen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus.47 Trotz dieser Bedenken durfte der Roman ohne Eingriffe in den Text erscheinen. 46 Naganowski, Egon: Pióro Anny Seghers. In: Kuźnica 32 (1949), S. 5. 47 Rajch, Marek: Kriegsliteratur aus der DDR und die Zensur in der Volksrepublik Polen in den ersten Nachkriegsjahren. In: Studia Germanica Posnaniensia XXXVII (2016), S. 253–262, hier S. 254.

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Die ideologisch geprägte Polemik traf in Polen besonders scharf Bertolt Brecht, dessen Werke in Warschau bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren aufgeführt worden waren. Die Vorbehalte der Kritik bezogen sich weniger auf das Inhaltliche der Dramen, sondern vor allem auf Brechts Theatertheorie und -praxis, die das damalige Verständnis des sozialistischen Realismus sprengten. Die beargwöhnten „Ismen“  – Formalismus, Symbolismus, Expressionismus, dekadenter Naturalismus, Pessimismus sowie Fatalismus  – erhitzten die Gemüter der Rezensenten. Ab 1954 kam es dennoch zu einer intensiven BrechtAneignung auf den polnischen Bühnen. In der Zeitspanne 1949–1956 wurden trotz der erwähnten punktuellen Vorbehalte der Zensur und Kritiker beinahe alle bedeutenden Werke jener Autoren herausgebracht, die einst vor den Nazis ins Exil geflohen waren und nun in der DDR lebten: neben Anna Seghers und Bertolt Brecht vor allem Arnold Zweig, Willi Bredel, Franz Carl Weiskopf, Bodo Uhse und Friedrich Wolf. Nachdem in der Tauwetterperiode das verlegerische Interesse am sozialistischen Realismus deutlich nachgelassen und die DDR-Literatur an Bedeutung eingebüßt hatte, erreichte ihre Rezeption in den 1960er-Jahren einen zweiten Höhepunkt mit Übersetzungen der Werke von Christa Wolf, Franz Fühmann, Hermann Kant, Günter Kunert und Johannes Bobrowski. Der Letztgenannte wurde von der polnischen Leserschaft besonders beachtet, weil er die deutsch-slawische Nachbarschaft künstlerisch bearbeitete, bei anderen (vor allem Wolf und Kant) war es das Thema der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Faschismus, das die Aufmerksamkeit der Kritiker und Leser auf sich zog.48 Der literaturhistorische Exkurs einen Einblick in die intellektuelle Verflechtungsgeschichte, die ungeachtet der politischen Zäsuren ihre eigenen Tiefpunkte und Konjunkturen erlebte. Auf der Ebene der Politik blieben die Beziehungen zwischen Polen und der DDR jedoch weiterhin angespannt, auch nachdem der polnische Reformgeist erlahmte. Nicht unbedeutend war das bereits erwähnte persönliche Misstrauen zwischen Gomułka und Ulbricht, als entscheidend galten aber ökonomische Annäherungsversuche zwischen Bonn und Ostberlin sowie die ausbleibende Bereitschaft der DDR-Führung zu einer weitgehenden wirtschaftlichen Integration mit anderen Ostblockländern (vor allem mit Polen und der Tschechoslowakei). Die SED betonte immer wieder Pläne einer verstärkten ökonomischen Zusammenarbeit mit der UdSSR und spielte den Belang bilateraler Kooperation mit Polen herunter, zu wesentlichen 48 Połczyńska, Edyta: Der Weg zum Nachbarn. Literatur der DDR in Polen. In: Kneip, Heinz / Orłowski, Hubert (Hrsg.): Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945–1985, Darmstadt 1988, S. 355–372, hier S. 358–360.

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Faktoren eines ausbleibenden langfristigen Handelsaustausches zählten auch die volkswirtschaftlichen Verknüpfungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Als in Bonn im Rahmen der Großen Koalition Willy Brandt Außenminister wurde, zeigte sich aber die DDR-Führung beunruhigt. Der DDR-Außenminister Otto Winzer charakterisierte die Anfänge einer neuen Ostpolitik der Bundesregierung als „Aggression auf Filzlatschen“: Die bisherige außenpolitische Vetoposition der DDR bei allen Kontakten Westdeutschlands zum Ostblock, die Ulbricht beanspruchte, konnte damit ins Wanken gebracht werden. Trotz aller politischen Befürchtungen weigerte sich die SED, sich für die Erweiterung der Wirtschaftsbeziehungen zu Polen einzusetzen: Aus Polen erwartete man lediglich die benötigten Rohstoffe, für sich wurde die Herstellung von Produkten mit wissenschaftlich-technischem Know-how beansprucht. Zu dem wirtschaftlichen Missverhältnis, das immer wieder von beiden Seiten thematisiert wurde, kam noch Ende der 1960er-Jahre ein politisches Auseinanderdriften. Auf die Rede Gomułkas vom Mai 1969, in der erstmals die Einheitsfront des Warschauer Pakts gegenüber Bonn durchbrochen wurde, reagierte Ulbricht mit Forderungen zur Revision des Görlitzer Vertrages, laut denen die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen Polen und der DDR gelten solle und als solche von der Bundesrepublik nicht anerkannt werden könne. Da nach dem Regierungsantritt der SPD/FDP-Koalition im Herbst 1969 und der Einleitung der entscheidenden Phase der neuen Ostpolitik die Gesprächsrunden über den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen auch die Zustimmung anderer Ostblockländer fanden, fand sich mit der neuen politischen Lage schlussendlich auch die DDR ab. Die wirtschaftliche Stagnation in den letzten Jahren der Parteiherrschaft Gomułkas konnte auch nicht durch außenpolitische Erfolge aufgewogen werden. Zwar wurde durch die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages am 7. Dezember 1970 ein in der polnischen Bevölkerung vorhandenes Gefühl der Bedrohung durch den westdeutschen „Revanchismus“ abgebaut, doch bereits eine Woche danach kam es in mehreren Industriestädten zu Protestaktionen gegen angekündigte Preiserhöhungen, die zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Milizeinheiten führten. Nach Gomułkas Amtsenthebung am 20. Dezember wurde Edward Gierek der neue Erste Parteisekretär. Es gelang ihm relativ rasch, die wirtschaftliche und politische Lage im Land wieder zu stabilisieren. Mit sowjetischer Wirtschaftshilfe und Anleihen im Westen konnten die Wirtschaft angekurbelt und Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zufriedengestellt werden. Eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und sozialer Zugeständnisse der Partei entspannte vorerst die explosive Lage. Die neue Entspannungspolitik zeichnete sich in den 1970er-Jahren auch in

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den Beziehungen zwischen Warschau und Ostberlin ab, nachdem Erich Honecker im März 1971 mit Rückendeckung aus Moskau Walter Ulbricht gestürzt hatte und dessen Nachfolge antrat. Anfangs konnte man eine relative Liberalisierung  – überwiegend im Kulturbereich  – sehen. Die Hoffnungen der liberal gesinnten Künstler schienen sich zunächst teilweise zu erfüllen, wie die Entstehung des DDR-Rock, ein Film wie »Die Legende von Paul und Paula« (1972) und Romane wie »Die neuen Leiden des jungen W.« (1972) von Ulrich Plenzdorf und »Brief mit blauem Siegel« (1973) von Reiner Kunze zeigen. Die kulturpolitische Öffnung währte jedoch in beiden Ländern nur kurze Zeit.

Abb. 5. Bewirtung für die Bevölkerung nach der Öffnung der deutsch-polnischen Grenze für den visafreien Reiseverkehr im Jahre 1972

Da anfänglich den beiden Parteichefs an spektakulären Aktionen lag, wurde 1972 die gemeinsame Grenze für den visafreien Reiseverkehr geöffnet. Die Zahl der direkten Begegnungen nahm rapide zu. Während in der Zeitspanne 1960–1971 jährlich ca. 65 000 DDR-Bürger nach Polen und ca. 30 000 Polen in die DDR reisten, besuchten allein im Jahr der Grenzöffnung 6,7 Millionen DDR-Bürger Polen und 9,4 Millionen Polen die DDR. Die DDR-Bürger entdeckten für sich nicht nur ein attraktives Reiseland, sie ließen sich auch auf

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die Konfrontation mit der jüngsten Vergangenheit ein. War der Zweite Weltkrieg in den Geschichtsbüchern der DDR vor allem ein siegreicher Kampf der Sowjetunion gegen den deutschen Faschismus, so konnte ein Auschwitzbesuch wesentlich zur Korrektur des gelernten Bildes beitragen. Zum ersten Mal seit 1945 konnten viele Vertriebene ehemalige Wohnorte sehen, Friedhöfe besuchen, den Kindern und Enkeln Orte der Kindheit zeigen  – eine Begegnung, die für Besucher wie für Besuchte nicht einfach war. Besonders auffällig war für die DDR-Bürger auch der Kontrast im kulturellen Klima: Reisen per Anhalter, Zugang zu moderner und weniger reglementierter Kunst sowie westlichen Filmen erschienen als eine provozierende und befreiende Alternative. Mit der Zeit entstanden persönliche Bekanntschaften und Freundschaften, es kam auch immer häufiger zu deutsch-polnischen Eheschließungen. Nach 1972 intensivierte sich auch der Studentenaustausch. Für zahlreiche DDR-Studenten wurde der Studienaufenthalt an polnischen Universitäten zu einer prägenden Erfahrung. Das Wissenschaftssystem und die Alltagswelt schienen ihnen viel offener zu sein. Die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen verschaffte den Studenten trotz der Wachsamkeit der in Polen agierenden ostdeutschen Staatssicherheit einen Einblick in eine mehr liberale Literatur-, Musik- und Theaterszene, zugleich lernten sie die Möglichkeiten eines individuellen und politischen Ausdrucks kennen. Anders gestaltete sich die Lage der polnischen Studenten an ostdeutschen Hochschulen und Universitäten: Die hohe soziale Kontrolle verhinderte eine breitenwirksame deutschpolnische Kontaktzone.49 Ähnlich ging es auch den in den DDR-Betrieben tätigen polnischen Arbeitskräften. Bereits 1963 unterzeichnete die DDR ein erstes Abkommen mit der Volksrepublik Polen, drei Jahre später regelten die beiden Staaten im sogenannten Pendlerabkommen den Arbeitseinsatz im Grenzgebiet. 1973 gab es in der DDR bereits ca. 12 000 „ausländische Werktätige“, so der offizielle Sprachgebrauch, aus Polen (für 1989 wurde die Gesamtzahl ausländischer Vertragsarbeiter auf 94 000 geschätzt). Die Männer arbeiteten im Braunkohlebergbau, die Frauen in Gaststätten und in Fabriken (zum Beispiel waren 40 Prozent der Belegschaft des Görlitzer Zweigwerks des VEB-Kombinats Pentacon polnische Frauen).50 Die meisten von ihnen verrichteten monotone, ungelernte Arbeit, ihren Wohnort durften sie nicht eigenständig wählen. Die Verträge basierten 49 Logemann, Daniel: Das polnische Fenster. Deutsch-polnische Kontakte im staatssozialistischen Alltag Leipzigs 1972–1989, München 2012, S. 156. 50 Gruner-Domić, Sandra: Zur Geschichte der Arbeitskräftemigration in die DDR. Die bilateralen Verträge zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter (1961–1989). In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32 (1996), S. 204–230, hier S. 206 f.

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auf dem Rotationsprinzip, nach dem die Arbeitsmigranten nach maximal fünf Jahren durch Neuankömmlinge ersetzt wurden. Obwohl das offizielle Narrativ der SED der Abgrenzung gegenüber der „Fremdarbeiterpolitik“ der Bundesrepublik diente, reagierte die DDR auf die arbeitsmarktpolitischen Notwendigkeiten, insbesondere auf den Mangel im Bereich von unqualifizierten Tätigkeiten. Ungeachtet der propagandistischen Thesen einer Völkerfreundschaft wurden die Zugewanderten, darunter auch Polen, in die Rolle von Bedürftigen gedrängt, was den Anschluss an die DDR-Gesellschaft erheblich erschwerte. Ende der 1980er-Jahre verbesserte sich die Lage der polnischen Arbeitsmigranten. 1988 verständigte sich Ostberlin mit Warschau für die nächsten zehn Jahre auf die Anstellung von ca. 3000 Pendlern im grenznahen Raum und 5000 Arbeitern in anderen Regionen; Trennungsgeld, ein bezahltes Babyjahr und mehr Geld während des Einführungslehrgangs gehörten zu neuen finanziellen Anreizen. Da war es aber mit der DDR schon fast vorbei. Viele Polen kamen aber in die DDR nicht zur Arbeit, sondern vor allem zum Einkaufen. Die ostdeutschen Läden lockten mit Zitrusfrüchten, einem viel besseren Wein- und Bierangebot, technischem Gerät wie Transistorradios, Plattenspielern, Haushaltsgeräten und begehrten Fotokameras wie der „Praktika“. Der Kaufdrang wurde in der DDR-Mangelgesellschaft schnell als Bedrohung empfunden. Dies zog eine Reihe restriktiver Maßnahmen nach sich: Einschränkungen im Verkauf von Waren, erschwerter Zugang zu Übernachtungsangeboten sowie verschärfte Grenzkontrollen. Dieser Aspekt der grenzüberschreitenden Kontakte hat offenbar auch dazu geführt, dass sich nationale Stereotype auf beiden Seiten verfestigten und durch die SED-Führungsgremien instrumentalisiert wurden. Abfällige Bemerkungen über Polen waren im Umlauf, die sie als raffgierige Händler karikierten. Deutsche Grenzbeamte und Zöllner, die ihren Dienst oft in einem schneidigen Kommandoton versahen, weckten bei älteren Einreisenden Assoziationen mit der Kriegszeit, bei jüngeren Besuchern bestätigten sie sämtliche antideutschen Vorurteile. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, als sich die Opposition in Polen immer stärker formierte, geriet die bilaterale Zusammenarbeit ins Wanken. Obwohl die in den 1970er-Jahren von kleinen Gruppen innerhalb bestimmter Nischen entwickelten Beziehungen kaum auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit insgesamt ausgestrahlt haben, kam es im kulturellen Feld der DDR zu einem bemerkenswerten Transfer polnischer Kultur und Literatur. Vor allem die polnische Popmusik feierte hier ihre Erfolge: Neben der Band Rote Gitarren (Czerwone gitary), die ihre erste Langspielplatte »Warszawa« in Ostberlin 1970 veröffentlichte und von da an als Stammgast in zahlreichen TV-Sendungen des DDR-Fernsehens zu sehen war, traten auf ostdeutschen Bühnen sämtliche in Polen populären Musikkünstler auf. Auch im Bereich der Höhenkammliteratur kam es zu mehreren groß angelegten Projekten,

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um die moderne, nicht selten gesellschaftskritische polnische Literatur dem Leser zugänglich zu machen. Die Verlags- und kulturpolitische Logik jener literarischen Annäherungsversuche kann an zwei Beispielen illustriert werden. Das Ministerium für Kultur stellte im August 1971, kurz vor der Grenzöffnung, dem Verlag Volk & Welt finanzielle Mittel für einen „Schwerpunkttitel“ zur Verfügung, mit denen ein polnischer Band der Reihe »Erkundungen« zusammengestellt werden sollte. Bei den »Erkundungen« handelte es sich um eine offene multilaterale Reihe, die ausschließlich zuvor in der DDR nicht veröffentlichte Kurzprosa enthielt. Die Reihe gehörte zu den Markenzeichen des Verlages und bot die Möglichkeit, um Land für Land wenigstens andeutungsweise, in bezahlbarer Kleinform den Anspruch des Verlages einzulösen, die gesamte moderne Weltliteratur zu repräsentieren. Dass der Polen-Band der Reihe aber direkt durch das Ministerium für Kultur veranlasst wurde, ist vor allem auf die diplomatische Funktion der Anthologien zurückzuführen: Auch »Erkundungen« über die Niederlande (1976), Albanien (1976), später auch über China (1984) und Israel (1987) wurden jeweils kulturpolitisch orchestriert und signalisierten eine gründliche Verbesserung der Beziehungen der DDR zu diesen Ländern. Statt der geplanten 20 Autoren der jüngeren Schriftstellergeneration wurden nur 19 vorgestellt, weil Andrzej Brycht, vertreten mit seiner Erzählung »Kantor wymiany snów« (»Wechselstube der Träume«), kurz vor der Auslieferung des Bandes in Belgien um Asyl gebeten hatte. Eine thematisch ähnlich gelagerte Erzählung eines anderen Autors war nicht zu finden. Obwohl die Herausgeberin des Bandes die vorgestellten Autoren in ihrem obligatorischen Nachwort streng examinierte, wo denn das gesellschaftlich Positive bliebe (auch über den Protest Warschauer Studenten im März 1968, den die Polizei niederknüppelte, und über die anschließend inszenierte antisemitische Kampagne durfte sich im Nachwort nichts finden), so war die Textauswahl für die Leserschaft ein deutlicher Beleg dafür, dass in Polen eine „literarische Wachablösung“ stattfand, mit der sich die jungen Literaten aus der apologetischen Realismusvorstellung verabschiedeten.51 Stellte der Verlag Volk & Welt eine kulturpolitisch relevante und poetologisch innovative Stichprobe der neueren polnischen Prosa vor, so war wenige Jahre später der Aufbau-Verlag, „bedingt durch die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse in unseren beiden Ländern und die damit verbundenen neuen nachbarlichen Beziehungen zur Volksrepublik Polen“, um das lyrische Schaffen bemüht. Der Nachholbedarf war sichtbar: Es war bis dahin lediglich ein verdienstvoller Band Różewicz-Gedichte erschienen und eine 1953 herausgebrachte Anthologie polnischer Lyrik konzentrierte sich aus nachvollziehbaren Gründen auf die revolutionäre Thematik der Vor- und Nachkriegszeit. 51 Erkundungen. Zwanzig polnische Erzähler, DR1/2349, BArch.

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Der erste Auswahlvorschlag von Henryk Bereska für die »Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten« datierte auf das Jahr 1967, wurde aber auf Eis gelegt. Einige Jahre danach war die Sammlung aufgrund kulturpolitischer Vorüberlegungen sehr wünschenswert; um den Fortgang des Anthologieprojektes zu beschleunigen, zog der Verlag Heinrich Olschowsky als Mitherausgeber hinzu. Der 1975 erschienene und kunstvoll mit zahlreichen Grafiken polnischer Künstler ausgestattete Band präsentierte mit 37 Autoren die wichtigsten Strömungen und Tendenzen sowohl in literaturhistorischer wie in thematischer Hinsicht in dem Zeitraum von 1918 bis in die Gegenwart. Nebst vielen Dichtern, die sich relativ unproblematisch durch die ministeriellen Zensurmaschen in das Literatursystem der DDR einführen ließen, waren in der Anthologie auch Poeten wie Zbigniew Herbert, Ernest Bryll und Urszula Kozioł vertreten, bei denen, wie die Verlagslektorin vorsichtshalber anmerkte, klare Bezüge zu aktuellen Tagesereignissen fehlten, „wie das beispielsweise in der sowjetischen Lyrik und auch bei uns in der DDR der Fall ist“. Dafür konstatierte sie eine „Hinwendung zu moralisch-ethischen Problemstellungen unserer Zeit“. Bemerkenswert bleibt auch die Aufnahme dreier Exildichter in die Anthologie: Kazimierz Wierzyńskis, Jan Lechońs und Maria Jasnorzewska-Pawlikowskas. Insgesamt lieferte der Band eine repräsentative Auswahl aus der polnischen Lyrik nach 1918 und galt als „Beitrag des Verlags zum dreißigsten Jahrestag des Bestehens der Volksrepublik Polen“.52 In den 1970er-Jahren wurde auch in Polen die DDR-Literatur besonders stark rezipiert. Nebst bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren verlegten Autoren wie Bertolt Brecht, Christa Wolf, Franz Fühmann, Hermann Kant, Günter Kunert und Johannes Bobrowski kamen neue Namen hinzu, etwa Bruno Apitz, Volker Braun, Reiner Kunze, Sarah Kirsch, Kirsten Wulf, Jurek Becker, Kurt David, Wolf Biermann, Peter Hacks, Hanns Cibulka und Ulrich Plenzdorf. In 16 Anthologien wurde in der Zeitspanne 1973–1980 das Bild der DDR-Lyrik und -Prosa nochmals ausgewertet, manche von diesen Sammelbänden widmeten sich auch ausgewählten Motiven (wie zum Beispiel dem „polnischen Thema“ in der DDR-Literatur).53 In ihrer Thematik bezog sich jene Übersetzungsliteratur weiterhin vorwiegend auf die Abrechnung mit der Kriegsvergangenheit, diesmal aber auch aus der Perspektive von Autoren, die den Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt hatten. So erschien zum Beispiel 1978 die Übertragung von Klaus Schlesingers Romandebüt »Michael« (1971), einer Spurensuche nach der Figur des Vaters 52 Lichtenfeld, Kristiane: Verlagsgutachten zu „Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten“, 7.3.1974, DR1/2104, BArch. 53 Lasowy-Pudło, Magdalena: Recepcja literatury NRD w  Polsce w  latach 1949–1990, Wrocław 2010, S. 103.

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in die Nazizeit. Darüber hinaus erschienen Bücher, die an der Moral der sozialistischen Gesellschaft rüttelten. Im 1973 ins Polnische übersetzten Roman »Buridans Esel« thematisierte Günter de Bruyn Konflikte, die Menschen im realsozialistischen Alltag auszutragen hatten, in dem das Ideologische und das Private kaum voneinander zu trennen waren. Die meisterhafte, leicht erzählte und unterhaltsame Dreieckgeschichte, in der sich ein wehleidiger Bibliothekar nicht zwischen zwei Frauen entscheiden kann, handelte zugleich von ernsthaften Problemen: Ehebruch und Karriereambitionen, Anpassung und Aufrichtigkeit, Selbsttreue und Scheinmoral. Ihr kritisches Potenzial bestand darin, dass de Bruyn die Verhältnisse in der DDR genau so beschrieb, wie sie waren, und die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit dort verortete, wo sie wahrgenommen wurden: am Arbeitsplatz, in privaten Beziehungen, im persönlichen Umfeld. Der Austausch von Studenten, Arbeitskräften, Waren, Kultur und literarischen Texten prägte somit das Bild der bilateralen Beziehungen zwischen Polen und der DDR in den 1970er-Jahren. Jene eingeschränkte Aufgeschlossenheit war zugleich nicht unbedeutend für den in der DDR erst langsam aufkeimenden politischen Widerstand. Die Öffnung der Grenze ermöglichte den DDR-Bürgern, Kontakte zu Oppositionellen und Kritikern in Polen zu finden. Einen Raum für den politischen Dissens in der DDR schuf die 1975 in Helsinki unterschriebene KSZE-Schlussakte. Jedoch bereits Mitte der 1960erJahre spielte die ostdeutsche Zweigstelle der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASZ) eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Annäherung oppositioneller Kreise aus Polen und der DDR. Die 1958 am Rande der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland gegründete Organisation bleibt bis heute durch ihr internationales Freiwilligenprogramm bekannt. Nach dem Mauerbau durfte die ostdeutsche ASZ keine Freiwilligen mehr nach Westeuropa entsenden, beschränkte erstmals ihre Tätigkeit auf das Gebiet der DDR und den innerkirchlichen Raum, baute aber ab 1965 erste Kontakte in Polen und in der Tschechoslowakei auf. Der Leiter der dortigen ASZ Günter Särchen veranstaltete ab 1968 im katholischen Seelsorgeamt Magdeburg dreimal jährlich „Polenseminare“ zur Geschichte und Kultur Polens, zur Situation der katholischen Kirche in Polen und zu den deutsch-polnischen Beziehungen. Als Referenten traten unter anderen Tadeusz Mazowiecki, Mieczysław Pszon, Stanisław Stomma und Anna Morawska auf. Die Teilnehmer der Seminare kamen aus allen Bezirken der DDR, die Veranstaltungen waren ökumenisch ausgerichtet. Da sie außerhalb jeder ideologischen Vorgabe standen, befanden sich die Polenseminare von Anfang an im Visier der Stasi. Im Jahr 1985 benannte sich die Initiative nach der 1972 verstorbenen Krakauer Journalistin Anna Morawska. Nach der

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Wende organisierte sich die Anna-Morawska-Gesellschaft als eingetragener Verein; ihr Name steht bis heute für die deutsch-polnische Verständigung, die Öffnung der Kirche zur Gesellschaft und eine grenzüberschreitende Ökumene. Viele junge Teilnehmer der Anna-Morawska-Seminare gehörten im Herbst 1989 oppositionellen und Bürgerrechtsgruppen an. Ludwig Mehlhorn  – Mathematiker und Bürgerrechtler, während der friedlichen Revolution Mitbegründer der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt –, der auf diesem Weg Bekanntschaft mit regimekritischen Intellektuellen in Polen gefunden hatte, erinnerte sich in den 1990er-Jahren: „Wir haben seit Mitte der 70er Jahre mitverfolgt, wie sich das Projekt der selbstorganisierten Gesellschaft gegen den quasi totalitären Staat allmählich entwickelte. Das KOR, das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, war sicherlich ein entscheidender Kristallisationspunkt. […] Ich erinnere mich noch, wie wir 1977 in Krakau Kurońs Ideen für ein Aktionsprogramm in einer schwer lesbaren Untergrundsausgabe entzifferten. Die polnische Situation war auf unsere nicht einfach übertragbar. Wir hatten weder individuelle Landwirtschaft, noch Streiks und Demonstrationen der Arbeiter, weder eine starke, integrierende Kirche noch nennenswerte Versuche, das kulturelle und geistige Leben durch Aufbau von Selbstverlagen der Staatskontrolle zu entziehen. […] Aus der heutigen Sicht und mit unseren heutigen Erfahrungen mutet Kurońs Programm […] wie eine Aufzählung von Trivialitäten an. Aber für uns war das damals durchaus eine Erleuchtung. Wir sahen, wie wirksam kleine Gruppen sein können. Wir merkten, daß schon das Verlassen einer verordneten Sprache eine befreiende Wirkung hat.“54 Die lange Widerstandstradition in Polen wirkte zweifelsohne inspirierend auf die Opposition in der DDR der 1970er- und 1980er-Jahre: von der Annäherung zwischen katholischen Laien und Linken in den „Klubs der katholischen Intelligenz“ seit den 1960er-Jahren, der Verbindung zwischen Intellektuellen und Arbeitern mit der Gründung des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) im Jahr 1976 bis zum Erfolg der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność 1980. Besonders für die im März 1986 gegründete Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM, mit Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Bärbel Bohley, Ulrike und Gerd Poppe sowie anderen als Gründungsmitgliedern) standen die Erfahrungen des polnischen KOR und der Charta 77 in der Tschechoslowakei Pate. In der von der IFM herausgegebenen Untergrundzeitschrift »Grenzfall« (zwischen 1986 und 1989 erschienen 17 Ausgaben mit 54 Zit. nach Brandt, Marion: Für eure und unsere Freiheit?, S. 278.

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einer Auflage von 800 bis 1000 Exemplaren) dienten Beiträge über Polen immer wieder als mobilisierendes Vorbild. Zu einer besonders intensiven Zusammenarbeit kam es zwischen der IFM und der polnischen Oppositionsgruppe Wolność i Pokój (WiP, Freiheit und Frieden); ein gemeinsames Thema war der Kampf um die Auflösung der politischen Blöcke. Trotz vieler individueller Kontakte und Solidarisierungen zwischen Intellektuellen der DDR und Polens blieben die Wechselwirkungen in ihrem Ausmaß bescheiden. Die Gründe hierfür lassen sich relativ einfach nachvollziehen. Im Gegensatz zu Polen hat sich in der DDR die Gegnerschaft zur herrschenden Politik bewusst nicht als Opposition definiert. Die informellen Gruppen der Friedens- und Umweltbewegung, aber auch führende Vertreter der evangelischen Kirchen haben sich wiederholt dagegen gewandt, kritisches gesellschaftliches Engagement mit diesem Begriff zu belegen. Dass die polnischen Intellektuellen sich mehrheitlich durch den Opfer- und Befreiungsdiskurs leiten ließen und sich von der Idee des Sozialismus mit menschlichem Antlitz längst verabschiedet hatten, war auch nicht gerade förderlich für ein strukturelles Zusammenwirken. Hinzu kamen die dezidierte Westorientierung polnischer Oppositioneller sowie die dortige weitverbreitete Unterstützung der Wiedervereinigung Deutschlands. Die Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Krise in Polen 1980 bis 1981 verfolgten die politischen Eliten der DDR mit zunehmender Unruhe und mit Argwohn. Eine große Streik- und Protestwelle, ausgelöst durch eine im Juli 1980 angekündigte Fleischpreiserhöhung, führte zur vom Obersten Gericht Polens akzeptierten Gründung der ersten freien Gewerkschaft im Ostblock, die in kurzer Zeit neun bis zehn Millionen Mitglieder aufnahm. Die Ängste der DDR-Führung gründeten in der Annahme, die Liberalisierung im Nachbarland könne die DDR militärstrategisch von der Sowjetunion isolieren. Da Edward Gierek bereits im September 1980 entmachtet wurde, fürchtete auch Erich Honecker um seinen Posten. Im ostdeutschen Diskurs wurde die politische Lage in Polen mit dem alarmierenden Begriff „Konterrevolution“ belegt. Auf einer Sitzung des SED-Politbüros schlug Honecker daher vor, sich an Leonid Breschnew zu wenden mit dem Vorschlag, eine Beratung der Parteivorsitzenden aus den sozialistischen Bruderländern anzusetzen  – eine Entscheidung, die als Vorbereitungsmaßname zur Intervention der Armeen des Warschauer Paktes interpretiert wurde. Anlässlich der Verabschiedung des polnischen Botschafters in Berlin, Stefan Olszowski, drohte Honecker offen: „Die Revolution […] kann sich friedlich oder unfriedlich entwickeln. Wir sind nicht für Blutvergießen. Das ist das letzte Mittel. Aber auch dieses letzte Mittel muss angewandt werden, wenn die Arbeiter-und-BauernMacht verteidigt werden muss. Das sind unsere Erfahrungen aus dem

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Jahre 1953, das zeigen die Ereignisse 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.“55 Demnach veranlasste die SED-Führung unter der euphemistischen Chiffre „gemeinsamer Ausbildungsmaßnahmen“ die Vorbereitung der Nationalen Volksarmee auf eine Intervention. Während der Beratung der Partei- und Regierungschefs des Warschauer Pakts am 5. Dezember 1980 in Moskau sprach sich Honecker eindringlich für eine militärische Lösung aus, die Teilnehmer reagierten aber zurückhaltend. Man fürchtete Boykottmaßnahmen seitens der US-Regierung, mitentscheidend waren auch das dauernde Engagement der Sowjetunion in Afghanistan, der Widerstand Ungarns und Rumäniens sowie das polnische Versprechen, mit entschiedenen Schritten gegen die „Konterrevolution“ vorzugehen. Auch der Machtwechsel in Polen  – im Februar 1981 wurde der Verteidigungsminister Wojciech Jaruzelski zum Premier gewählt  – war ein Zeichen für eine gewünschte Militarisierung und „interne“ Lösung der Machtfrage in Polen. Die Verhängung des Kriegszustands in Polen am 13. Dezember 1981 wurde durch die erhöhte Einsatzbereitschaft der DDRGrenztruppen flankiert. Die SED-Führung reagierte darüber hinaus mit einer Isolierungspolitik gegenüber Polen. Bereits am 30. Oktober 1980 wurde auf Wunsch der DDRBehörden der visafreie Verkehr zwischen Polen und der DDR eingestellt. Intern begründete HelmutMüller, Mitglied des ZK der SED, dies folgendermaßen: „Als Genosse Erich Honecker damals im Friedrichstadt-Palast den historischen Vorschlag zur Öffnung der Grenze zu unserem sozialistischen Nachbarland unterbreitete, gab es ja bekanntlich klare Partnerschaft mit der sozialistischen Staatsmacht der Volkspolen. An einen visafreien Verkehr mit konterrevolutionären Elementen als Partner war allerdings nie gedacht. Und das wird im Interesse des proletarischen Internationalismus und zum Schutze der DDR auch in Zukunft nicht der Fall sein.“56 Die feindselige Reaktion der SED-Führung auf Solidarność spiegelte sich auch in den DDR-Medien. Von großer Relevanz für die Gestaltung des negativen Polenbildes war vor allem die Presse, in der „antisozialistische Elemente“ angeprangert wurden und die vermeintliche Unmöglichkeit einer friedlichen Lösung betont wurde. Die öffentliche Diskreditierung betraf nicht nur Ziele und Aufgaben der Solidarność, sondern die gesamte polnische Gesellschaft, 55 Zit. nach Wojtaszyn, Dariusz: Erich Honecker und die Solidarność, „Berliner Debatte Initial“ 23 (2012), S. 1–9, hier S. 2. 56 Zit. nach Rogulski, Rafał: Die Öffnung der „Freundschaftsgrenze“  – Motive, Verlauf und Folgen der Einführung des pass- und visafreien Verkehrs zwischen Polen und der DDR, https://d-nb.info/992831253/34.

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die mit einem überkommenen Arsenal antipolnischer Stereotype (Neigung zu Chaos und Unordnung, Topos der „polnischen Wirtschaft“) belegt wurde. Erst nach der Einführung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 avancierte Polen wieder zu einem „Bruderland“ und seine Bevölkerung zu einem „Brudervolk“. Die offizielle Garde der Kulturschaffenden verhielt sich nicht weniger propagandistisch. Auf der Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes der DDR im Dezember 1980 äußerte Hermann Kant seine Hoffnung, dass „in Polen, im sozialistischen Polen, nichts von dem verlorengeht, was durch ungeheuerliche Mühen zustande kam“, und betonte zugleich, er mische sich nicht ein, sondern bleibe eingemischt, „wo es um Polen und um den Sozialismus in Polen geht“.57 Kants öffentliche Kritik an der politischen Lage in Polen bedeutete nicht, dass es unter Schriftstellern keine Sympathiebekundungen gegeben hätte, es handelte sich jedoch meistens um junge und weniger bekannte Autoren (unter anderen Richard Pietraß, Heinz Czechowski) sowie jene, die sich nicht mehr in der offiziellen Öffentlichkeit des Literaturbetriebs bewegten (zum Beispiel Franz Fühmann, Christa und Gerhard Wolf). Auf dem literarischen Feld, um dieses Beispiel der Verflechtungsgeschichte wieder anzuführen, waren die Folgen der Desinformations- und Hetzkampagne nachhaltig. Als es nach Jahren der Informationsblockade 1985 gelungen war, einen Band der neueren polnischen Prosa herauszubringen, lautete der Titel schlicht »Nachbarn. Texte aus Polen«. Das von der Propaganda verwendete und verhunzte Wort „Freundschaft“ wurde bewusst vermieden. Der Band war bereits seit 1977 in Vorbereitung, die spätere politische Krise in Polen hatte jedoch zur Folge, dass, wie es im Verlagsgutachten hieß, „einige bereits übersetzte und viele geplante Texte inaktuell geworden waren (z. B. die Reportage ‚Grenze ohne Komplexe‘ über die Öffnung der Grenze und eine Meinungsbefragung danach auf beiden Seiten der Oder). [D]as Polen der folgenden Monate“  – fuhr die Gutachterin fort  – „bot […] das Bild einer völlig in sich zerstrittenen Gesellschaft, in der neben antisozialistischen, vor allem antisowjetischen und chauvinistischen Auswüchsen, einem Überschwappen des Katholizismus und des anarchistischen Wunderglaubens […] Anarchismus und Intoleranz dominierten […].“ Dass derartige Formulierungen sich im obligatorischen Gutachten zur Beantragung der ministeriellen Druckgenehmigung fanden, kann nicht verwundern. Das Ministerium für Kultur ließ die Mitherausgeberin des Bandes, Jutta Janke, ebenfalls wissen, dass sie in ihrer Auswahl „das Chaos der letzten Jahre“ bewusst nicht reflektierte und auf „Machwerke, die in

57 Zit. nach Brandt, Marion: Für eure und unsere Freiheit?, S. 312.

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Untergrundverlagen erschienen“, verzichtete.58 Unbekümmert um die Einhaltung der ästhetischen Gattungsordnung bediente das Buch eher ein soziografisches Interesse, indem es Filmnovellen, Erzählungen, Reportagen, Essays und Tagebuchaufzeichnungen aufnahm. Trotz aller Einschränkungen der Zensur gelang es überraschenderweise, unter den Autoren des Bandes Jan Józef Szczepański und Jerzy Andrzejewski unterzubringen. Beide hatten mit oppositionellen Gruppierungen zusammengearbeitet: Andrzejewski war 1976 Mitbegründer der unabhängigen Zeitschrift »Zapis« sowie des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter, Szczepański war im Dezember 1980 zum neuen Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes gewählt worden und verteidigte dessen Autonomie während der Zeit des Kriegszustandes. In der Anthologie fand sich ebenfalls eine Erzählung von Kornel Filipowicz, der seine Publikationen in Untergrundverlagen herausgab. Auch wenn die Herausgeber zu einigen Konzessionen gezwungen waren (Publikation einer Glosse von Jerzy Urban, dem Regierungssprecher in der Militärregierung unter Jaruzelski), konnte der Band quer zur Desinformationspraxis der Medien „kritische Einblicke vermitteln, vorbei an allem vordergründig Spektakulären auf den Alltag sehen, den Land und Leute ungeachtet aller Emotionen zu bestehen haben, […] Vertrautes und Exotisches bieten, um sowohl Verständnis als auch Neugier zu wecken“.59 Insgesamt ist der Transfer polnischer Literatur und Kultur in die DDR sehr positiv zu bewerten: Jene Romane, Gedichtbände und Anthologien trugen im wesentlichen Maße zu Innovationen im Literatursystem der DDR bei und sorgten für Interesse und Verständnis für das Nachbarland. Darüber hinaus strahlten die in der DDR publizierten Übersetzungen polnischer Literatur auch nach Westdeutschland aus: Kaum denkbar wäre zum Beispiel die »Phantastische Bibliothek« des Suhrkamp-Verlags ohne Lizenzausgaben der Werke von Stanisław Lem, die ab den 1950er-Jahren in der DDR verlegt worden waren. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre war die DDR-Literatur in Polen nicht in einer angemessenen Weise vertreten. Nach einer kultur- und verlagspolitisch stabilen Zeit der 1970er-Jahre kam es erstmals zu einem Stillstand. Im Jahre 1981 erschienen lediglich drei Titel, darunter aber »Kindheitsmuster« von Christa Wolf  – ein Buch, mit dem die kritische Rezeption dieser Autorin in Polen ihren Höhepunkt erreichte. Mit den die deutsch-polnische Thematik tangierenden Erzählebenen des Romans  – Kindheit, Reise nach Gorzów Wielkopolski (Landsberg an der Warthe), dem Geburtsort der Autorin, Reflexionen 58 Janke, Jutta: Gutachten zu „Nachbarn. Texte aus Polen“, 11.3.1984, DR1/2386, BArch. 59 Janke, Jutta / Schumann, Hubert: Vorwort, in: Nachbarn. Texte aus Polen, hrsg. von dens., Berlin 1985, S. 5–6, hier S. 6.

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sowie der Schreibprozess selbst  – fühlten sich die Kritiker besonders angesprochen. Włodzimierz Bialik schrieb in diesem Kontext: „Was Christa Wolf in ihrem Werk durchführen zu wollen scheint, ist eine Art Abrechnung mit der Abrechnung. Die Qualität der Abrechnung mit der deutschen Vergangenheit und ihre Gemäßheit erscheint Christa Wolf zweifelhaft, sie beunruhigt sie, und nicht nur sie.“60 Mit der Übersetzung von Hermann Kants »Aufenthalt« (1976, poln. 1983) hatte man lange gezögert. Inwieweit die öffentliche Diskussion, die sich in Polen unverzüglich nach der deutschen Veröffentlichung entfachte, darauf Einfluss hatte, bleibt dahingestellt. Kant verarbeitete in seinem Roman das deutsch-polnische Verhältnis in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Protagonist  – ein junger deutscher Soldat, dessen Umerziehung in polnischer Gefangenschaft erfolgt  – erschien manchen Kritikern als zu naiv, um die Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus überzeugend darstellen zu können. In der Zeitspanne 1981–1990 erschienen aber auch viele Texte aus der DDR-Literatur, die den Wandel der vergangenen Jahrzehnte der sozialistischen Realität kritisch reflektieren. Werke von Werner Heiduczek, Ulrich Plenzdorf oder Christoph Hein durchbrachen die alten Rezeptionsschemen und kamen dem damaligen gesellschaftskritischen Erwartungshorizont des polnischen Lesers entgegen. Trotz jener Annäherungsversuche im literarischen Feld, in dem der Versuch einer nüchternen Auskunft über die polnische Alltagswelt gegen die politische Hysterie gesetzt wurde, blieb die offizielle Haltung gegenüber Polen von Distanzierung, Abneigung, zuweilen sogar von offener Feindschaft geprägt. Letztere manifestierte sich besonders deutlich in dem Ereignis vom 1. Januar 1985, als die DDR-Führung ihre Hoheitsgewässer an der Odermündung erweiterte, ohne die polnische Seite darüber informiert zu haben. Damit wurde den Vereinbarungen des Potsdamer Protokolls über den freien Zugang Polens zum offenen Meer widersprochen und es entstand die Gefahr, dass der Stettiner Hafen in Zukunft nur noch mit Zustimmung der DDR angelaufen werden könnte. Erst nach zwei Jahren wurden Verhandlungen auf Regierungsebene aufgenommen, im April 1989 unterzeichneten die Regierungen beider Länder nach Jahren des Streits einen Vertrag über die Abgrenzung des Seegebiets in der Oderbucht. 1989 befand sich die DDR im 40. Jahr ihrer Gründung. Der Staatsratsvorsitzende Honecker erklärte, dass die Mauer auch in 100 Jahren bestehen 60 Zit. nach Połczyńska, Edyta: Der Weg zum Nachbarn. Literatur der DDR in Polen. In: Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945–1985, hrsg. von Heinz Kneip / Hubert Orłowski, Darmstadt 1988, S. 355–372, hier S. 366.

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werde und die Parteiführung in ihrer Macht sicher sei und keine Notwendigkeit sehe, ihre Politik zu reformieren. Dennoch wurde das Jahr 1989 zu einer Zeit der Auf- und Umbrüche. Der nachgewiesene Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 führte zu massenhaften Protesten. Zehntausende DDR-Bürger nutzen ihren Sommerurlaub und reisten nach Prag und Budapest in der Hoffnung, einen Weg in den Westen zu finden. Der Weg in die Freiheit führte aber auch über die Botschaft der Bundesrepublik in Warschau: Insgesamt ca. 60 000 DDR-Flüchtlinge erfuhren Unterstützung durch die erste nichtkommunistische Regierung von Tadeusz Mazowiecki. Vorrangiges Bestreben der DDR war es, die neue polnische Regierung zu einer Einhaltung bestehender Verträge anzuhalten, um ein weiteres potenzielles Schlupfloch für DDR-Flüchtlinge zu schließen und eine weitere internationale Isolierung zu vermeiden. Im September kam es in Leipzig sowie anderen DDR-Großstädten zu Massenkundgebungen. Unter dem Druck der Bevölkerung entschied sich die SED zu einem Führungswechsel: Im Oktober 1989 trat Erich Honecker zurück, Nachfolger wurde sein langjähriger Stellvertreter Egon Krenz, die eingesetzte Regierung überstand jedoch nur wenige Tage und wurde nach dem Zusammenbruch des Grenzregimes durch eine Übergangsregierung Hans Modrows ersetzt. Am 18. März 1990 fanden die ersten freien Volkskammerwahlen statt. Das Wahlbündnis der Konservativen, die Allianz für Deutschland (ChristlichDemokratische Union, Deutsche Soziale Union und die Partei Demokratischer Aufbruch) errang mit 48 Prozent beinahe die absolute Mehrheit, die SPD kam auf 21,9 Prozent, die nach der Selbstauflösung der SED gegründete PDS auf 16,4 Prozent, und Bündnis 90 – ein Zusammenschluss stark dezentraler Gruppen, die im Herbst 1989 entstanden waren – wurde mit 2,9 Prozent auf die hinteren Plätze verwiesen. Die Parteien der Allianz für Deutschland, die SPD und der Bund Freier Demokraten bildeten eine Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU), in deren Programm deutschpolnische Fragen einen nicht unbedeutenden Stellenwert einnahmen. Bereits in der ersten Erklärung hatte der Vorstand der Ost-SPD im Dezember 1989 erklärt, die deutsche Einheit müsse in Absprache mit den Nachbarländern gestaltet werden. Dies bedeutete auch eine dauerhafte und bedingungslose Anerkennung der polnischen Westgrenze, womit sich eine erhebliche Differenz zur Politik Helmut Kohls ergab, der in dem „Zehn-PunkteProgramm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ diese Dimension völlig weggelassen hatte. Die Position der Ost-SPD wurde nach der freien Wahl noch einmal in der Erklärung der Volkskammer am 12. April 1990 festgehalten. Hier übernahm man  – anders als die SED vorher  – die Verantwortung, die sich aus der deutschen Geschichte ergab. Die Volkskammer

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bekannte sich erstmals dazu, Teil eines Volkes zu sein, das Verantwortung für den Holocaust und den Völkermord an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma trage, erklärte die Mitschuld der DDR an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch die Truppen des Warschauer Paktes und bekräftigte zugleich die „Unverletzbarkeit der Oder-Neiße-Grenze zur Republik Polen als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens unserer Völker in einem gemeinsamen europäischen Haus“.61 In der Koalitionserklärung wurde außerdem festgehalten, dass man sich für den Beitritt östlicher Nachbarn in die transatlantischen Strukturen einsetzen werde. So machte sich Markus Meckel in seiner Funktion als Außenminister der DDR nach seinem Amtsantritt als Erstes auf den Weg nach Warschau, nicht nach Bonn. Dieser historisch einmalige Prozess wird in der historiografischen Auswertung der Beziehungen zwischen Polen und der DDR nicht selten außer Acht gelassen, weil er von späteren kurzfristigen, parteitaktischen Überlegungen der Zwei-plus-vier-Verhandlungen und der trilateralen Gespräche der beiden deutschen Staaten mit Polen überschattet wurde. Die Vereinigung Deutschlands fand sowohl für den damaligen Kanzler Kohl als auch für den SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine unter der Perspektive der nahenden Bundestagswahl statt. Kohl wollte die Grenzfrage möglichst lange offenhalten, um Stimmen nationalkonservativer Wähler nicht zu riskieren. Die Regierung de Maizière strebte daher einen Grenzvertrag an, der verbindlich die deutschpolnische Grenze bestätigen sollte, wie sie 1950 im Görlitzer Vertrag zwischen der DDR und Polen und 1970 im Warschauer Vertrag zwischen Polen und der Bundesrepublik festgelegt worden war. De Maizière schloss sich demnach dem Vorschlag von Tadeusz Mazowiecki an: Entsprechend sollte der Grenzvertrag von beiden deutschen Staaten und Polen noch vor der deutschen Vereinigung ausgehandelt und unterzeichnet sowie sofort danach ratifiziert werden. Dem widersetzte sich die Bundesregierung, sodass die Gespräche im Sand verliefen. Die Bilanz der Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen fällt differenziert aus. Einerseits stellte sich die „zwangsverordnete Freundschaft“ als ein „ideologisches Konstrukt zur Camouflage der realen Herrschaftsverhältnisse“ heraus.62 Ein auffallender Mangel an Kommunikation, 61 Zit nach: Meckel, Markus: Die Außenpolitik der DDR in der Zeit der freigewählten Volkskammer. In: Mandat für deutsche Einheit. Die 10. Volkskammer zwischen DDRVerfassung und Grundgesetz, hrsg. von Hans Misselwitz / Richard Schröder, Opladen 2000, S. 75–90, hier S. 80. 62 Mehlhorn, Ludwig: Zwangsverordnete Freundschaft? Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949–1990, in: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1949–2000. Eine Werte- und Interessengemeinschaft?, hrsg. von Wolf-Dieter Eberwein / Basil Kerski, Opladen 2001, S. 61–73, hier S. 71.

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gegenseitige Ignoranz, Abneigung und Feindseligkeit prägten die gesamte Zeitspanne von 1949 bis 1990. Andererseits sollte aber vor allem den außenund kulturpolitischen Faktoren jener schwierigen Verhältnisse eine gebührende Bedeutung beigemessen werden. Dass die DDR unter sowjetischem Zwang die Oder-Neiße-Grenze anerkannte und diese Anerkennung kurz vor der Wiedervereinigung deutlich zum Ausdruck brachte, war nicht unbedeutend. In der Erinnerung muss auch die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre bleiben, in denen die Bevölkerung beider Länder erstmals die Möglichkeit hatte, sich ein realistisches Bild vom jeweiligen Nachbarland zu machen. Zu nennen ist weiterhin die Relevanz der demokratischen Opposition in Polen für den systematischen Aufbau einer Gegenöffentlichkeit in der DDR.

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3. Frontstellung oder Nichtwahrnehmung? Die Bundesrepublik Deutschland und Polen (1949–1956)

Mit der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik waren die staatlichen Entwicklungen im Herzen Europas einstweilen abgeschlossen. Die federführende Rolle der ehemaligen Besatzungsmächte blieb aber in Bezug auf die DDR in der gesamten Zeit ihrer Existenz und für die Bundesrepublik bis Mitte der 1950er-Jahre bestehen. Die offizielle polnische Politik konzentrierte sich nun folgerichtig auf den sozialistischen Bruderstaat mit der gemeinsamen Staatsgrenze, die im Görlitzer Vertrag von 1950 auch offiziell besiegelt wurde (→ S. 39/40). Zwischen dem neuen westdeutschen Staat und Polen gab es über fünf Jahre keinerlei offizielle Kontakte. Die kommunistische Führung erachtete die Staatsgründung im Einklang mit Moskau als Verletzung des Potsdamer Abkommens und als separatistischen Akt. Ihr war zudem klar, dass eine Anerkennung der polnischen Westgrenze von diesem Staat (und den ihn unterstützenden Mächten USA, Großbritannien und Frankreich) nicht zu erwarten sein würde. Somit waren die offiziellen Proteste zwischen 1950 und 1954, etwa gegen die „Wiedergeburt des westdeutschen Militarismus“ oder die „Remilitarisierung“, nichts anderes als die Übernahme propagandistischer Sprachregelungen, die von der Sowjetunion vorgegeben wurden.63 Dennoch setzte sich in den folgenden Jahren in Polen die Überzeugung durch, dass man mit der Existenz der „Deutschen Bundesrepublik“, so der offizielle Sprachgebrauch in Warschau, auch in Zukunft würde rechnen müssen. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass die polnische Staatsführung am 18. Februar 1955  – nach dem Vorbild der UdSSR vom 25. Januar  – den Kriegszustand mit Deutschland für beendet erklärte. Schon zuvor hatte Polen wie die Sowjetunion mit Wirkung zum 1. Januar 1954 auf weitere Reparationsleistungen verzichtet.64 Die polnische 63 Beispiele hierfür sind abgedruckt in: Maass, Johannes (Hrsg.): Dokumentation der deutsch-polnischen Beziehungen 1945–1959, Bonn / Wien / Zürich 1960. 64 Erklärung des Ministerrats vom 23.8.1953, vgl. Oświadczenie rządu Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w sprawie decyzji rządu ZSRR dotyczącej Niemiec. In: Zbiór Dokumentów (1953) [hrsg. von Polski Instytut Spraw Międzynarodowych, Warszawa], Nr. 9, S. 1830–1832 (zweisprachig).

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Führung war grundsätzlich zu einer Verbesserung der Beziehungen zur Bundesrepublik bereit, nicht jedoch dazu, als Preis dafür die Kontakte zur DDR einzuschränken.65 Bei allen Sondierungen im Detail handelte es sich insgesamt eher um ein Nichtverhältnis zum westdeutschen Staat. Deutlich wird dies zum Beispiel daran, dass die mit den Westalliierten betriebene Zusammenarbeit bei der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen von Polen nicht auf die Bundesrepublik übertragen wurde. Das Gleiche galt indes auch umgekehrt, denn noch 1957 dekretierte das Bonner Justizministerium an die Landesbehörden, keinerlei Rechtshilfeersuchen an Polen zu stellen.66 Der letzte prominente Fall, die Auslieferung des ehemaligen Gauleiters von Ostpreußen Erich Koch, erfolgte zwar im Januar 1950, beruhte aber auf seiner Festnahme durch britische Stellen im Mai 1949 und dem raschen polnischen Auslieferungsersuchen an jene vom 24. Juni.67 Das Besatzungsstatut, das die Auslieferung deutscher Staatsbürger erschwerte, war da noch nicht in Kraft getreten. Aufgrund der zunehmenden Stalinisierung Polens waren zudem die Institutionen geschwächt, die sich darum bemühten, Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher voranzutreiben. Die endgültige Erledigung der Frage der deutschen Kriegsgefangenen in Polen ließ zunächst auf sich warten. Diesbezügliche Vereinbarungen zwischen der sowjetischen Militäradministration in Deutschland und der Polnischen Militärmission in Berlin vom September 1948 wurden nur schleppend umgesetzt. In der westdeutschen Presse setzte daraufhin im Sommer 1949 eine Kampagne ein, die die Freilassung der angeblich 15 000 bis 30 000 Inhaftierten forderte. Nach offiziellen Zahlen waren es im Oktober 1949 noch etwa 5000. Die weit überwiegende Zahl von ihnen wurde in oberschlesischen Bergwerken eingesetzt.68 Nach Ansicht der Warschauer Führung waren Anfang 1950 nur noch „Problemfälle“ im Land, die zudem mehrheitlich nach Westdeutschland auszureisen wünschten.69 Auf jeden Fall gab es auch in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre noch deutsche Kriegsgefangene im Polen, in der Regel saßen sie aber wegen diverser Delikte in Gefängnissen und wurden nach Verbüßung ihrer Haftstrafen in die DDR abgeschoben. 65 Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W10-T92, Mieczysław Łobodycz, Vizedirektor des Departments IV des MSZ, an Außenminister Marian Naszkowski, Notatka w sprawie normalizacji stosunków pomiędzy Polską a Niemiecką Republiką Federalną vom 18.7.1955, Bl. 21–25. 66 Hofmann, Kerstin: „Ein Versuch nur immerhin ein Versuch“. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg unter der Leitung von Erwin Schüle und Adalbert Rückerl (1958–1984), Berlin 2018, S. 186–187. 67 Meindl, Ralf: Ostpreußens Gauleiter, Osnabrück 2007, S. 466/467, 478. 68 Kochanowski, Jerzy: In polnischer Gefangenschaft, Osnabrück 2004, S. 452/453. 69 Ebenda, S. 457.

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Nicht komplett verschwunden waren zudem die Deutschen in Polen. Zwar war der Prozess der Umsiedlung nach Westen im Rahmen offizieller staatlicher Maßnahmen weitgehend abgeschlossen, es fehlte aber ein klares Konzept zur Zukunft der Verbliebenen, die sich als Deutsche fühlten und deren Zahl sich auf etwa 100 000 schätzen lässt. Hierin nicht inbegriffen sind diejenigen polnischen Staatsbürger, die eine klare Positionierung vermieden und in der damaligen Sprache als Autochthone bezeichnet wurden. Diese Bewohner Ermlands und Masurens, Pommerellens, Hinterpommerns und Schlesiens erlebten in jenen Jahren oftmals eine staatliche Diskriminierung. Aus ihrem Reservoir entstammte ein Großteil derjenigen, die nach 1956 unter Verweis auf ihre Staatsbürgerschaft von vor 1945 eine Ausreise in den Westen anstrebten. Der größte Anteil der sich noch in Polen aufhaltenden Deutschen, mehr als die Hälfte, lebte zweifellos in der damaligen Woiwodschaft Breslau und arbeitete entweder in der Industrie oder in der Landwirtschaft, oftmals unter sowjetischer Kontrolle.70 Lokalstudien hierzu fehlen häufig. Wenn sie vorliegen, lässt sich allerdings genauer rekapitulieren, welche Deutschen bleiben durften, auch wenn es ein Irrtum wäre, von klar umrissenen Kategorien hierfür zu sprechen. Im einstmals sächsischen Reichenau, nun Bogatynia, lebten 1950 noch 153 Deutsche unter etwa 10 000 neuen polnischen Einwohnern. Einige waren als Facharbeiter in der Textilbranche tätig, andere waren zu alt oder zu krank, um ausgewiesen zu werden. Ganz vereinzelt blieben auch „Autochthone“, in diesem Falle Personen, die sich als Sorben bezeichneten, im Land. Oftmals mussten allerdings ihre Kinder Polen verlassen und sie selbst nahmen polnische Eigennamen an. Die soziale Benachteiligung der Verbliebenen blieb häufig bestehen, mit der Zeit erfolgte die Ausreise oder die Polonisierung. In Bogatynia fand 1953 die letzte Konfirmation statt, der Pastor musste hierfür aus Liegnitz anreisen.71 Die Lage der Deutschen in Polen verbesserte sich allerdings durch das Görlitzer Abkommen mit der DDR spürbar. De iure waren sie durch das am 20. Juli 1950 verabschiedete „Gesetz über die Aufhebung der Sanktionen und Beschränkungen gegenüber Staatsbürgern, die ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nation erklärt haben“ nun keine schlecht oder gar nicht bezahlten

70 Zu den unterschiedlichen Zahlen siehe die gründliche, aber leider konfuse Zusammenstellung bei Madajczyk, Piotr: Niemcy polscy 1944–1989, Warszawa 2001, S. 67–168. 71 Dannenberg, Lars-Arne / Donath, Matthias: „Do hoan uns die Polen nausgetriebm“. Vertreibung, Ankunft und Neuanfang im Kreis Zittau 1945–1950, Königsbrück 2020, S. 207–214. Siehe auch die Erinnerungen von Peter Palm, der nach 1945 in Bogatynia geblieben war, unter: https://web.archive.org/web/20160522160557/http://www.tmzb.eu/ wspomnienia/Peter_Palm_Erinnerung.pdf (24.7.2020).

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Arbeitskräfte mehr und hatten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen.72 Ab 1951 war es Deutschen zudem möglich, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen. In der Praxis waren die Konflikte damit aber nicht beseitigt. Besonders spürbar war dies im Bergbau, wo im Rahmen des sozialistischen Wettbewerbs des Hochstalinismus mitunter polnische und deutsche Arbeiter um höhere Leistungen (und damit bessere Bezahlung) konkurrierten. Die Teams, die von in der Regel besser ausgebildeten Deutschen angeführt wurden, erfüllten offenbar nicht nur überdurchschnittlich oft den Plan, sondern verpflichteten sich aus eigenem Antrieb zu Mehrarbeit. So sollen vor dem Staatsfeiertag am 22. Juli 1951 achtzehn „deutsche Brigaden“ aus den Steinkohlegruben „Mieszko“, „Thorez“ und „Viktoria“ in Waldenburg besonders effektiv gewesen sein.73 Es gilt hier allerdings zu berücksichtigen, dass solche Berichte vor allem den Versuch deutscher Kommunisten darstellten, ihre Landsleute für das politische System zu gewinnen. Die allgemeine Unzufriedenheit der deutschen Arbeiter hatte keineswegs nachgelassen. Die Klagen über finanzielle und rechtliche Benachteiligungen erreichten auch die Parteistellen, die Wünsche nach Ausreise wurden eher stärker, je mehr die Hoffnung auf eine Revision der Grenzen verloren ging, und es äußerten sich verschiedene Formen gesellschaftlichen Widerstands. Diese reichten vom Verbreiten „staatsfeindlicher, nationalistischer“ Gerüchte, über das Hören deutscher Sender bis hin zu vereinzelten offenen Protesten.74 Der Empfang deutschsprachiger Radioprogramme jenseits des DDR-Radios war in besserer Qualität jedoch kaum möglich, selbst wenn ab 1953 die Deutsche Welle auf ihren Kurzwellen­frequenzen auch Osteuropa erreichen konnte.75 Deutsche Arbeitskräfte wurden aber weiter benötigt, sodass ein deutsches Minderheitenschulwesen in den Woiwodschaften Breslau, Stettin und Köslin  – mit Lehrbüchern aus der DDR und einem Schwerpunkt auf Grund- und Berufsschulen  – ebenso zugelassen wurde wie ein organisiertes kulturelles Leben. So existierten etwa in Niederschlesien Mitte der

72 Dziennik ustaw Nr. 29 vom 21.7.1950, Pos. 270, https://www.infor.pl/akt-prawny/DZU. 1950.029.0000270,ustawa-o-zniesieniu-sankcji-oraz-ograniczen-w-stosunku-do-obywateliktorzy-zglosili-swa-przynaleznosc-do-narodowosci-niemieckiej.html (11.4.2020). 73 »Arbeiterstimme« (Wałbrzych) Nr. 3 (1951), S. 1, zitiert nach: Ociepka, Beata: Niemcy na Dolnym Śląsku w latach 1945–1970, Wrocław 1992, S. 86. 74 Sehr überzeugend hier Sołtysik, Łukasz: Opór społeczny Niemców na Dolnym Śląsku w latach 1945–1956, in: Letnia Szkoła Historii Najnowszej 2007, hrsg. von Monika Bielak / Łukasz Kamiński, Warszawa 2008, S. 43–66. 75 Kritisch hierzu aus späterer Perspektive Nasarski, Peter: Ostmitteleuropa im Rundfunk und Fernsehen, in: Nachbarn im Osten 1945–1965. Erkenntnisse und Wandlungen in zwei Jahrzehnten, hrsg. von dems., Leer 1966, S. 195–220.

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1950er-Jahre 52 Laiengruppen für Theater und Musik.76 Die 1951 in Waldenburg gegründete, 1956 nach Breslau verlegte Zeitschrift »Arbeiterstimme«, ursprünglich eine Art Verkündungsblatt der Bergarbeitergewerkschaft, entwickelte sich dabei trotz ihrer ideologischen Ausrichtung mit der Zeit zu einem populären Organ der Deutschen mit einer fünfstelligen Auflagenhöhe.77 All diese Maßnahmen konnten jedoch nichts daran ändern, dass die überwältigende Mehrheit der Angehörigen der Minderheit nur darauf wartete, Polen verlassen zu können. Somit war es nicht weiter verwunderlich, dass von bundesdeutscher Seite das Thema Familienzusammenführung an vorderster Stelle bei Kontakten mit Polen stand. 1954 hatte die polnische Verschuldung bei der Bundesrepublik die Grenze von sieben Millionen US-Dollar überschritten.78 Die bundesdeutsche Seite stellte daraufhin die Exporte zunächst ein, signalisierte aber zugleich, dass sie bei Fortschritten im humanitären Bereich wieder aufgenommen werden könnten. Auch das Internationale Rote Kreuz wurde eingeschaltet. Nach erfolgreichen Gesprächen in Warschau begannen erste Transporte. So verließen am 14. Januar 1955 121 Personen deutscher Nationalität aus den Woiwodschaften Köslin, Danzig und Allenstein über Stettin Polen.79 Polnisches und Deutsches Rotes Kreuz einigten sich anschließend darauf, im Jahr 1956 zwischen 800 und 1000 Personen deutscher Nationalität in die Bundesrepublik übersiedeln zu lassen. Parallel dazu waren aufgrund von zwischenstaatlichen Vereinbarungen zwischen 1952 und 1954 etwa 4400 Personen aus Polen in die DDR ausgereist. Das deutsch-polnische Thema spielte auch nach dem Ende der staatlich organisierten Umsiedlungen insofern eine Rolle, als für die in Polen gebliebenen Deutschen Hilfslieferungen organisiert und an verschiedenen Stellen Berichte der zurückgekehrten Deutschen über die Zeit vom Ende des Krieges bis zu ihrem Verlassen Polens publiziert wurden. Der Versand von Paketen war möglich, durch undurchsichtige Zolltarife aber erschwert. So mussten etwa Lederschuhe ab 1954 mit 120 Złoty pro Paar, Gummistiefel dagegen nur mit 15–20 Złoty verzollt werden. Eine andere Möglichkeit bot die Kontaktaufnahme über eine Schweizer Bank mit der Polnischen Fürsorgekasse (PKO) in 76 Ociepka, Niemcy, S. 121. 77 Czarkowska, Agata: „Die Arbeiterstimme“ und die Rolle der Wrocławer Germanisten bei der einzigen kommunistischen Zeitschrift für die deutsche Minderheit in der Volksrepublik Polen (1951–1958), in: Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in Polen Bd. 3, hrsg. von Wojciech Kunicki / Marek Zybura, Leipzig 2018, S. 221–270. 78 Siehe dazu die unten stehenden Ausführungen zur Gemischten Kommission. 79 Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W20-T168, Sprawozdanie z akcji łączenia rodzin niemieckich (II transport w dn. 14 I 1955 r., Bl. 14/15). Die westdeutsche regionale Presse griff diese Aktion in zahlreichen sehr persönlichen Artikeln auf.

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Paris. Diese durch die kommunistischen Behörden anerkannte Einrichtung sollte polnischen Emigranten Hilfsleistungen für Angehörige in Polen ermöglichen und erstellte dafür auf der Basis eines Katalogs eine Warenliste, aus der die Spender auswählen konnten.80 Auch wenn bei den Berichten zur Lage der Deutschen in Polen naturgemäß die Schreckensdarstellungen überwogen und die Ereignisse der Jahre 1933 (1939) bis 1945 kaum kritisch hinterfragt wurden, wuchs an manchen Stellen der Wille, ebenfalls positive Erlebnisse zu schildern, stellenweise war sogar von einer „deutsch-polnischen Schicksalsgemeinschaft“ die Rede. Dazu gehörten drei Bände mit Erinnerungen von Heimatvertriebenen und Aussiedlern, die zwischen 1950 und 1960 im Rahmen des Göttinger Arbeitskreises erschienen und teilweise  – mit einem Vorwort Albert Schweitzers  – sogar ins Englische übersetzt wurden.81 Darin wurden positive Verhaltensweisen von Polen gegenüber Deutschen beschrieben. Obwohl die unmittelbare Nachkriegszeit im Vordergrund stand, finden sich hier auch Berichte über das Schicksal elternloser deutscher Kinder, die von Polen großgezogen wurden.82 Mit solchen Fragen befasste sich unter anderem der bereits 1945 gegründete evangelische sogenannte Kirchendienst Ost, der vor 1956 freilich keine direkten Kontakte mit staatlichen oder kirchlichen Stellen in Polen pflegte.83 Es ist kein Zufall, dass kirchliche Einrichtungen im Rahmen der Schaffung oder Aufrechterhaltung von humanitären Kontakten zwischen Deutschen und Polen eine besondere Rolle spielten. Im Vordergrund stand die Sorge der deutschen Protestanten um das Schicksal der in Polen verbliebenen Glaubensbrüder und -schwestern. Schon 1953 hatte die Synode der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union in Berlin beschlossen, Gespräche mit der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen aufzunehmen. Diese verhielt sich zwar äußerst anpassungsfähig gegenüber dem Staat, wurde aber deswegen aus dem Westen kaum kritisiert.84 Vor 1956 fanden aber nur vereinzelt 80 Pakethilfe für die Heimat, in: Posener Stimmen 2 (1954), Nr. 2 (November). Wir danken Dr. Eike Eckert für diesen Hinweis. 81 Dokumente der Menschlichkeit aus der Zeit der Massenaustreibungen, Kitzingen 1950 (engl. 1954); Kurth, Karl (Hrsg.): Keiner kennt die Grenze … Erlebnisse der Rettung und Bewahrung durch Fügung, Würzburg 1956; Nasarski, Peter (Hrsg.): Deutsch-polnische Begegnungen 1945–1958, Würzburg 1960. 82 Etwa das Schicksal der 1940 in Landsberg an der Warthe geborenen Helga, die von einer kinderlosen polnischen Lehrerin adoptiert, später aber von dieser misshandelt und aus der Familie geholt wurde. Vgl. Es begann in einem Kinderheim, in: Nasarski, Begegnungen, S. 72–75. 83 Kruska, Harald: Zehn Jahre Kirchendienst Ost, in: Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 81 (1955), S. 198–228. 84 Żurek, Robert: Zwischen Nationalismus und Versöhnung, Köln / Weimar / Wien 2005, S. 258–274.

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Begegnungen statt, die meist nichtoffizieller Natur waren, etwa die als privat deklarierte, von den polnischen Behörden allerdings sorgfältig beobachtete Polenreise des lutherischen Pastors und Journalisten Johann Christoph Hampe Ende 1954.85 Ein weiterer Anlass waren die Warschauer Weltfestspiele der Jugend und Studenten im August 1955, an denen auch  – eher linksgerichtete  – Jugendliche aus der Bundesrepublik und dem Saargebiet teilnahmen; die Teilnehmerzahlen aus der DDR waren freilich deutlich höher. Die geheimdienstliche Überwachung funktionierte hier nur teilweise. Der 30-jährige Gerhard J. etwa wurde beobachtet, weil sein Vater Wehrmachtsgeneral gewesen sei und er selbst bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands mitgewirkt habe. Seine Kontakte vor Ort wurden verfolgt, es scheinen sich daraus aber keine weiteren Ermittlungen ergeben zu haben. Während des Kongresses sollen allerdings vier Westdeutsche als inoffizielle Mitarbeiter angeworben worden sein.86 Der Geisenheimer Pastor Hermann Sauer, ein entschiedener Gegner der westdeutschen Wiederbewaffnung, hielt eine Predigt, die vom polnischen Rundfunk direkt übertragen wurde.87 Vereinzelt hatten evangelische Christen, etwa Klaus von Bismarck auf dem Leipziger Kirchentag 1954, schon zuvor öffentlich betont, dass eine Wiedergewinnung der Ostgebiete unmöglich sei.88 Diese Positionen befanden sich jedoch eindeutig am Rand der kirchlichen wie der gesamtgesellschaftlichen Welt Westdeutschlands. Auf katholischer Seite war der Widerstand gegen eine Verständigung noch deutlich größer. Zwar hatten schon Ende der 1940er-Jahre Walter Dirks und Eugen Kogon in den »Frankfurter Heften« eine Verbindung zwischen den deutschen Verbrechen und dem Verlust der Ostgebiete hergestellt. In der Amtskirche war dies jedoch ebenso wenig ein Thema wie unmittelbare Kontakte mit polnischen kirchlichen Stellen jenseits der Klärung eng definierter praktischer Fragen.89 Die Thematik von Flucht und Vertreibung erwies sich hier als dominant. Aus diesem Milieu heraus entwickelte sich allerdings auch die umfangreiche Aufklärungsarbeit 85 Hampe, Johann Christoph: Reise von Auschwitz nach Warschau, in: Sonntagsblatt Nr. 49 vom 5.12.1954, zitiert nach Żurek, Nationalismus, S. 316. Zu Hampes Aktivitäten auch ausführlich sein Schriftverkehr nach Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949– 1960, Z10-W21-T188. 86 Kopka, Bogusław: Aparat bezpieczeństwa wobec V Światowego Festiwalu Młodzieży i Studentów w Warszawie (31 lipca  – 14 sierpnia 1955 r.), in: Przegląd Archiwalny IPN-u 1 (2008), S. 209–248, hier S. 238/239, 241. 87 Kruska, Harald: Bilanz im evangelisch-kirchlichen Raum, in: Nachbarn im Osten 1945– 1965, hrsg. von Peter Nasarski, Leer 1965, S. 106–117, hier S. 113. 88 Bismarck, Klaus von: Die Freiheit des Christen zum Halten und Hergeben, in: Kirchliches Jahrbuch für die EKD (1954), S. 21–28. 89 Żurek, Nationalismus, S. 288–296.

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zur Unterdrückung der Kirche im Kommunismus, die am sichtbarsten in den zwischen 1952 und 1995 in Königstein im Taunus stattfindenden Kongressen von „Kirche in Not“ wurde.90 Schlüsseldokumente wie die Stuttgarter Charta der Heimatvertriebenen von 1950 schworen zwar jeder Art von Vergeltung ab, stellten sich der deutschen Schuld aber praktisch gar nicht oder verharmlosten sie.91 Die Vermutung, dass das zögerliche Verhalten deutscher katholischer Priester mit dem Verhalten des polnischen Klerus gegenüber deutschen Priestern und Bischöfen nach 1945 zu tun hatte, ist wohl nicht zu weit hergeholt. Umgekehrt hielten sich aber auch die polnischen Geistlichen  – hauptsächlich wegen ihrer massiven Verfolgung in den Jahren des Hochstalinismus  – beim Wunsch nach Kontaktaufnahmen sichtbar zurück. Die Zeit für eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit war auf beiden Seiten noch nicht reif, politische Handlungsmöglichkeiten in Polen praktisch nicht gegeben. In den frühen 1950er-Jahren lebten durchaus noch polnische Displaced Persons in Westdeutschland (→ S. 25/26). Die Internationale Flüchtlingsorganisation gab ihre Zahl 1950/1951 mit zwischen 80 000 und 120 000 an.92 Häufig besaßen sie  – meist ehemalige Zwangsarbeiter oder Soldaten, die nicht in ihre kommunistisch gewordene Heimat zurückkehren wollten oder konnten  – allerdings keinen polnischen Pass mehr und galten als Staatenlose. Nachdem 1950 die Barackenlager mit ihren teilweise bedenklichen sozialen Umständen, aber auch die polnischsprachigen Schulen, aufgelöst worden waren, zerstreuten sie sich mehr und mehr. Um ihre seelsorgerliche Betreuung kümmerte sich die Polnische Katholische Mission. Zwar hatten mit ihren Landsleuten auch viele Priester Deutschland verlassen, doch ließ sich eine Art Grundseelsorge sicherstellen. Im Auftrag des in Rom residierenden „Exilbischofs“ Józef Gawlina übte von Frankfurt am Main aus der KZ-Überlebende Prälat Edward Lubowiecki die Oberaufsicht über die reduzierten Dekanate aus.93 Der Beitritt 90 Kirche in Not. Ostpriesterhilfe 1947–1987. 40 Jahre Hilfe für verfolgte und bedrängte Christen in aller Welt, St. Ottilien 1987. Grundlegend zur katholischen Vertriebenenseelsorge, auch zu ihrem Blick nach Osten: Bendel, Rainer: Hochschule und Priesterseminar Königstein. Ein Beitrag zur Vertriebenenseelsorge der katholischen Kirche, Köln / Weimar / Wien 2014. 91 Hackmann, Jörg: Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2010, www.europa.clio-online.de/essay/id/ fdae-1532 (22.7.2020). 92 Ruchniewicz, Krzysztof: Die Displaced Persons (DP), in: Porta Polonica. Atlas der Erinnerungsorte, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/die-displacedpersons-dps (11.7.2020). Als Regionalstudie zum Beispiel: Harding, Hannes: Displaced Persons (DPs) in Schleswig-Holstein 1945–1953, Frankfurt am Main 1997. 93 https://frankfurt.bistumlimburg.de/beitrag/aus-der-nachkriegszeit-ins-heute/ (11.7.2020). Genauer: Śliwański, Jan / Weiss, Anzelm: Z dziejów duszpasterstwa Polaków w Niemczech Zachodnich, in: Studia Polonijne 1 (1976), S. 139–148.

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der Bundesrepublik zur Genfer Flüchtlingskonvention erleichterte das Leben der Polen, von denen einige Versuche zur institutionellen Festigung ihrer Vereinsstrukturen unternahmen. Die im Juli 1951 in Höxter erfolgte Quasineugründung des Verbandes Polnischer Flüchtlinge in Deutschland (Zjednoczenie Polskich Uchodźców w Niemczech) diente ebenfalls diesem Zweck.94 Die hochfliegenden Erwartungen erfüllten sich in den Jahren darauf wie bei den anderen deutschen Polonia-Organisationen allerdings nicht.95 Das Vereinsleben zersplitterte und zog immer weniger Interessierte an, was zweifellos auch ein Zeichen für eine stärkere Integration in die deutsche Nachkriegsgesellschaft war. Nicht alle „heimatlosen Ausländer“ waren aber verschwunden. Für etwa 2000 von ihnen wurde nach 1951 provisorischer Wohnraum auf einem ehemaligen Wehrmachtsgelände und späteren DP-Lager in Augustdorf bei Detmold geschaffen. Die v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bemühten sich Mitte der 1950er-Jahre um eine Verbesserung der schwierigen sozialen Verhältnisse und stellten auch Mittel für den Neubau einer Großsiedlung zur Verfügung, der erforderlich wurde, nachdem die Bundeswehr 1958 Eigenbedarf an dem Grundstück angemeldet hatte.96 Neben den wiederbelebten Zentren der Polonia waren unmittelbar nach Kriegsende diverse polnische staatliche Anlaufstellen in den Westzonen entstanden, deren Anzahl mit abnehmendem Bedarf allmählich reduziert wurde. Anfang 1948 existierten noch fünf Konsulate, nämlich in Düsseldorf, Frankfurt, Hannover, Hamburg und Rastatt (Baden-Baden), während für die SBZ die Konsulatsabteilung der Berliner Militärmission und das Konsulat in Leipzig zuständig waren.97 Anhand der zumindest im Jahre 1950 auf Zuordnung der französischen Besatzungsbehörden relativ komfortabel in einer Villa mit 21 Zimmern in der Lichtentaler Straße 61 in Baden-Baden untergebrachten konsularischen Vertretung, die sich das Haus mit der Polnischen Restituierungsmission und dem Polnischen Roten Kreuz teilte, wird deutlich, wie

94 [Wolak, Łukasz], Verband Polnischer Flüchtlinge in Deutschland (ZPU), in: Porta Polonica. Atlas der Erinnerungsorte, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/verband-polnischer-fluechtlinge-deutschland-zpu (11.7.2020). 95 Unter Polonia werden gemäß der offiziellen staatlichen Definition diejenigen Menschen polnischer Herkunft verstanden, die sich ständig außerhalb Polens aufhalten. Dabei kann es sich um Emigranten oder ihre Nachkommen sowie Personen handeln, die sich zum Polnischsein bekennen. So unter https://stat.gov.pl/en/metainformations/glossary/ terms-used-in-official-statistics/50,term.html (15.2.2021). 96 https://www.hauptarchiv-bethel.de/publikationen-ausstellungen/internetpublikationen/die-beckhofsiedlung-heimat-fuer-heimatlose-auslaender.html (1.3.2021). 97 Czapliński, Paweł: Zarys działalności Wydziału Konsularnego Polskiej Misji Wojskowej w Berlinie w latach 1946–1949, in: Przegląd Zachodni (2004), Nr. 1, S. 94–109, hier S. 104/105.

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Abb. 6. Bischof Franz Hengsbach besucht das DP-Lager Augustdorf, 1955

schwer sich der polnische Staat mit seinen Vertretungen tat.98 Französische wie westdeutsche Stellen bewerteten sie genauso negativ wie die Exilorganisationen, es konnte kaum brauchbares Personal gefunden werden und die Bemühungen, sich in der Zone aufhaltende Polen, vor allem Displaced Persons, zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen, waren praktisch erfolglos: Im ersten Vierteljahr 1950 waren es gerade einmal 21, im zweiten 69 Personen. Die Gesamtzahl polnischer DPs in der ehemaligen französischen Besatzungszone betrug zu dieser Zeit etwa 4500. Der Kontakt zu Deutschen beschränkte sich offenbar weitgehend auf das Dienstpersonal. Nach Auflösung des Konsulats 1951 zog es sein Leiter vor, im Westen zu bleiben, sein Stellvertreter war schon 1949 zu den Amerikanern übergelaufen.99 Für die weiteren diplomatischen Aktivitäten in Westdeutschland gab es nach 1951 nur noch wenig Handlungsspielraum. Im Dezember 1950 hatten die Behörden der einstigen britischen Zone angeordnet, alle polnischen Konsulate unverzüglich zu räumen. Das Personal der Einrichtungen in der amerikanischen Zone wurde zunächst eingeschränkt, dann griffen dieselben Regelungen, die Diplomaten verloren ihre Immunität und erhielten keine neuen Visa mehr. Somit existierten lediglich noch die Dienststelle des Delegaten für 98 Hierzu Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z-10 W-16 T-129: Konsulat PRL w Baden-Baden 1.1.–30.9.1950. 99 Korey-Krzeczowski, Jerzy: Wspomnienia, cz. 1 (do 1951 roku), Polska, Rumunia, Niemcy, in: Gazeta., Dziennik Polonii w Kanadzie vom 31.10.2003, http://www.gazetagazeta.com/artman/publish/article_2507.shtml (24.7.2020).

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Außenhandel in Frankfurt am Main sowie das Netz des Polnischen Roten Kreuzes, sodass das Warschauer Außenministerium die bestehenden zwölf Planstellen von Letzterem im Grunde zu sichern, zugleich aber zu entpolitisieren wünschte.100 Der Hintergrund bestand unter anderem darin, dass es nach wie vor zahlreiche während des Krieges verschleppte polnische Kinder gab, die sich in Deutschland aufhielten. Ende 1951 waren nach Mitteilungen des Suchdienstes in Arolsen offiziell noch 195 solcher Schicksale nicht geklärt.101 Dies war somit das Haupttätigkeitsfeld der polnischen Rot-Kreuz-Filialen in Westdeutschland. Letztlich musste das Netzwerk aber im selben Jahr ebenfalls aufgegeben werden, weil die Besatzungsmächte an einer weiteren Tätigkeit „kommunistischer Stellen“ in der neuen Bundesrepublik nicht interessiert waren, die wiederum bis Mitte der 1950er-Jahre auf dem Gebiet der Außenpolitik keinerlei Vollmachten besaß.102 Somit blieb die Polnische Militärmission in Westberlin die einzige Anlaufstelle für halboffizielle Kontakte und Anfragen aus Westdeutschland. Dies betraf nicht nur Visaangelegenheiten, sondern sehr früh schon auch vereinzelte Ansätze einer Zusammenarbeit in Justizangelegenheiten jenseits der Besatzungsjustiz. So bat etwa 1953 das Bayerische Landeskriminalamt um Mithilfe im Falle eines verurteilten Mörders mit polnischer Staatsbürgerschaft, der sich im Gefängnis weiterer Taten in Polen gebrüstet habe. Dieses an das Warschauer Ministerium für öffentliche Sicherheit übersetzt weitergeleitete Schreiben wurde acht Monate später beantwortet, wobei lediglich die Identität des Verbrechers, nicht aber weitere Aktivitäten in Polen bestätigt wurden.103 Nachdem die polnische Seite es drei Jahre lang abgelehnt hatte, den konsularischen Austausch mit Westdeutschland auf anderen Kanälen wiederaufzunehmen, entschloss sie sich 1954 zu einer Kehrtwende und beauftragte die Polnische Militärmission mit einer Reihe konsularischer Aufgaben.104 Es hatte sich nämlich gezeigt, dass die Gepflogenheit, alle Anfragen an die Einrichtungen der DDR zu verweisen, zu deren Überlastung geführt hatte und den eigenen Interessen in Westdeutschland zuwidergelaufen war. 100 Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W3-T33, Dienstliche Notiz der Direktorin des Departements IV, Maria Wierna, vom 13.6.1951, Bl. 28/29. 101 Ebenda, Bl. 198–207. 102 Die Akten der Auslandsdelegaturen des Polnischen Roten Kreuzes befinden sich im Archiwum Akt Nowych, Bestand 2/788/0 in Warschau. 103 Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W52-T487, Schreiben des Bayerischen LKA vom 4.6.1953 (Regierungsrat Sturm) an die Polnische Militär-Mission Berlin; Antwort des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit (Z. Paszkowski) an das Departement IV des MSZ (A. Friedman) vom 7.4.1954, Bl. 40–45. 104 Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W18-T151, Dienstnotiz des Departements IV (Wierna) für Außenminister Skrzeszewski vom 16.7.1954, Bl. 75–77.

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3. Frontstellung oder Nichtwahrnehmung?

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Manche in der Bundesrepublik und in Westberlin sahen die Tätigkeit der Militärmission kritisch. Sie wurde nicht nur in einen Zusammenhang mit der Verschleppung von Antikommunisten in den Ostteil der Stadt gebracht. Die Tageszeitung »Der Abend« berichtete 1951, Vertreter der FDP hätten angeregt, das Gebäude in der Charlottenburger Schlüterstraße 42 unter permanente Bewachung zu stellen, denn es sei ja bekannt, dass hier seit Jahren unverzollter Kaffee und andere Waren geschmuggelt würden.105 Ein Jahr später beschloss die Charlottenburger Bezirksverordnetenversammlung, das Grundstück mit zweisprachigen Schildern zu kennzeichnen, auf denen vor Entführungen gewarnt wurde.106 Im Krieg der Geheimdienste, der sich in jenen Jahren in Berlin abspielte, fanden tatsächlich häufig Entführungen oder Fluchten von Agenten statt. Am prominentesten waren die Flucht des hochrangigen polnischen Geheimdienstoffiziers Józef Światło im Dezember 1953 in den Westen und der Grenzübertritt des Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Otto John in die DDR im Jahre 1954. Die deutsch-polnische Komponente dieser Konflikte stellte freilich nur einen Bruchteil der Verwicklungen des Kalten Krieges dar. Einer der ersten westdeutschen Spionageprozesse muss ebenfalls in diesem Kontext gesehen werden. 1953 verurteilte ein Frankfurter Gericht das ehemalige Mannequin Maria Knuth und drei Mitangeklagte zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Spionage für Polen. Als Teil des sogenannten KolbergRings hatte sie alliierte Offiziere und Angehörige des Amtes Blank, des späteren Bundesverteidigungsministeriums, ausgekundschaftet. Nachdem sie enttarnt worden war, wurde sie sogar zum Thema einer Sitzung des Bundeskabinetts.107 Der Eindruck, es habe wenig bis gar keine westdeutsch-polnischen Kontakte gegeben, trügt allerdings, vor allem, wenn es um wirtschaftliche Fragen ging. Hier waren beide Seiten an einer Intensivierung der Zusammenarbeit jenseits ideologischer Schranken interessiert, sie waren jedoch in ihrer Handlungsfreiheit durch äußere Faktoren wie das US-amerikanische Embargo gegen osteuropäische Produkte eingeschränkt. Schon unmittelbar nach dem Krieg war in München eine Vereinigung zur Förderung des Osthandels entstanden, die in den folgenden Jahren verschiedene Namen trug und sich enger 105 »Der Abend« vom 16.4.1951, zitiert nach MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W14-T111, Bl. 3. 106 Warnschilder vor polnische Militärmission, in: Der Tagesspiegel vom 3.7.1952. Die britische Militärverwaltung lehnte eine solche Maßnahme allerdings ab. 107 Protokoll der Kabinettssitzung vom 29. April 1952, TOP 12 a, http://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/z1/k/k1952k/Datei/rtf (25.7.2020). Details bei Bergh, Hendrik van: ABC der Spione. Eine illustrierte Geschichte der Spionage in der Bundesrepublik Deutschland seit 1943, Pfaffenhofen an der Ilm 1965, S. 241–254. Dort auch Informationen zu einem weiteren deutsch-polnischen Spionagefall jener Jahre, dem Fall Bruno Snie­gowski (S. 358–369).

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Verbindungen zu politischen Stellen in Ostberlin wie Bonn rühmte. Offenbar waren aber die Netzwerke der Gruppe um den Münchener Kaufmann Heinrich Müller und den Mitbegründer der bayerischen FDP und einstigen Widerstandskämpfer Maximilian Fuchs doch nicht besonders effektiv, sie spielten jedenfalls im weiteren ökonomischen Annäherungsprozess keine Rolle mehr.108 Besonders das Bundeswirtschaftsministerium versuchte zu Beginn der 1950er-Jahre neue Möglichkeiten auszuloten. Dazu nutzte man unter anderem die jährlichen Treffen einer Gemischten Kommission, bei der es um konkrete Zahlen des Außenhandels ging. Basis hierfür war das im Juni 1949 von Vertretern der Trizone und Polen abgeschlossene neue Handelsabkommen, das sich jährlich verlängern sollte. Die Handelsvertretung in Frankfurt, ausgestattet mit Anweisungen des Warschauer Außenministeriums, war bei den Gesprächen auf polnischer Seite federführend. Auf deutscher Seite hingen weitergehende Vorschläge zum Osthandel vom Engagement von Einzelpersonen ab, zu denen etwa der Regierungsdirektor Josef Seiberlich gehörte. Obwohl bekannt war, dass das Mandat der polnischen Seite begrenzt war, versuchten die westdeutschen Vertreter  – wohl auch angesichts des Fehlens sonstiger Gesprächskanäle  – immer wieder politische Themen ins Gespräch zu bringen wie die Frage von Familienzusammenführungen und das Schicksal des in Polen inhaftierten Danziger Bischofs Carl Maria Splett.109 Der Verband Deutscher Reedereien und die polnische Reederei Polskie Linie Żeglugowe verhandelten zudem über Details von Warentransporten. Westdeutschland war vor allem an Getreidelieferungen aus Polen interessiert, Polens Transportkapazitäten waren in dieser Hinsicht aber eingeschränkt.110 Zudem erschwerte ein US-Gesetz von 1951, der sogenannte Battle Act, den Export von Produkten in die Länder unter sowjetischer Kontrolle generell. Der westdeutsch-polnische Warenaustausch nahm dennoch nach 1953 etwas an Fahrt auf. Hatte in diesem Jahr Polen noch Waren im Wert von 63 617 Transferrubel aus der Bundesrepublik importiert, waren es zwei Jahre später Produkte in Höhe von 118 023 Transferrubel. Im Bereich Export lauteten die entsprechenden Zahlen 59 450 beziehungsweise 94 339 Transferrubel.111 Unter den Exportprodukten standen Steinkohle, Papierwaren und Lebensmittel im Vordergrund, importiert wurden Maschinen und chemische Produkte. Geknüpft wurden einige dieser Kontakte zwischen den beiden Ländern auf den Posener Messen von 1949 und 1955, in den Jahren 108 Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W14-T115, Bl. 1–2, 8, 10–12. 109 Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W14-T112, Bl. 18–20, 36–37. 110 »Handelsblatt« vom 14.4.1953, zitiert nach MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W14-T112, Bl. 8–10. 111 Gall, Stanisław: Rozwój stosunków handlowych Wschód  – Zachód, in: Handel Zagraniczny (1956) 5, S. 2.

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dazwischen fanden keine Messen statt.112 Während 1950 nur 18 Firmen, vor allem aus der Chemieindustrie, ihre Prospekte ausgelegt hatten, kamen 1955 immerhin 44 der insgesamt 277 Aussteller aus der Bundesrepublik, darunter neben Großunternehmen auch die Internationale Exportbuchhandlung Santo Vanasia aus Köln sowie das Weingut Richard Trimborn aus Hammerstein am Rhein.113 Die Unterzeichnung eines Zusatzes zum Handelsabkommen im Dezember 1955 signalisierte vor allem das gewachsene gegenseitige Vertrauen, wenngleich der Austausch weiterhin auf niedrigem Niveau stattfand und an weitergehende politische Vereinbarungen nicht zu denken war.114 Die bundesdeutschen Pläne zur Ausweitung der Exporte waren mit dem Slogan „Rückkehr auf den Weltmarkt“ verbunden und beinhalteten auch die Organisation großer internationaler Messen in Frankfurt am Main, Hannover und Köln. Die Rezeption deutscher Kultur in Polen war infolge des Zweiten Weltkriegs vorübergehend praktisch zum Stillstand gekommen. Zunächst wurden lediglich zwischen 60 und 70 ältere Bücher, vor allem Kinderbücher, neu aufgelegt. Die einzigen Autoren, die zwischen 1946 und 1948 neu übersetzt wurden, waren Erich Maria Remarque, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger und Stefan Zweig. Von diesen Einschränkungen waren im Übrigen auch die Werke österreichischer und schweizerischer Schriftsteller betroffen. Der Breslauer Weltkongress der Intellektuellen für den Frieden im Jahre 1948 unter Mitwirkung linker deutscher Schriftsteller sowie das Entstehen der DDR mit dem wachsenden Bedarf an „sozialistischer“ deutscher Literatur, was sich in Übersetzungen unter anderen von Willi Bredel, Anna Seghers und Friedrich Wolf niederschlug, trugen zu einer gewissen Veränderung bei. Neben den Werken der Brüder Grimm oder Karl Mays finden sich in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre auch deutsche Klassiker auf den Übersetzungslisten.115 Die verstärkte Rezeption war auch und gerade das Werk engagierter Schriftsteller und Literaturkritiker. Ein gewisser Marceli Ranicki schrieb zwischen 1951 und 1956 etwa 100 Rezensionen und Kurzdarstellungen in Publikumszeitschriften 112 Ziółkowski, Janusz: Uczestnictwo Niemieckiej Republiki Federalnej w  Targach Poznańskich na tle rozwoju polsko-niemieckich stosunków handlowych, in: Przegląd Zachodni (1956), Nr. 9–10, S. 118–138. 113 Krzymiński, Aleksander: XXIV i  XXV Międzynarodowe Targi Poznańskie, in: Kronika Miasta Poznania (1951–1956), S. 105–123, hier S. 115; Ziółkowski, Uczestnictwo, S. 119/120, 133 (hier Liste aller Aussteller). 114 Bingen, Dieter: Ökonomie der Werte in den westdeutsch-polnischen Beziehungen zwischen den 1950er und 1970er Jahren, in: Interesse und Konflikt, hrsg. von dems., Wiesbaden 2008, S. 310–327. 115 Połczyńska, Edyta / Załubska, Cecylia (Bearb.), Bibliografia przekładów z literatury niemieckiej na język polski 1800–1990. T. 3: 1945–1990, Poznań 1999.

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(→ S. 190/191).116 Neue Belletristik aus der DDR wurde rasch übersetzt, solche aus der Bundesrepublik vor 1956 so gut wie gar nicht (→ S. 189–192). Umgekehrt wurde im Westen Deutschlands ebenfalls kaum etwas von dem wahrgenommen, was sich im kommunistischen Polen (oder im polnischen Exil im Westen) kulturell ereignete. Während zunächst noch in der SBZ/DDR tätige Organisationen mit gesamtdeutschem Anspruch auftraten und dabei auch vereinzelt polnische Kultur zu popularisieren suchten  – man denke dabei nur an die Wanderausstellung zu polnischer Plakatkunst, die im Jahre 1950 in vier ost- und zehn westdeutschen Städten gezeigt wurde117 –, schränkte die fortschreitende Teilung Deutschlands solche Aktivitäten mehr und mehr ein. Ähnliches galt auch für die Rezeption der polnischen Literatur.118 Allerdings wurden neben einigen Klassikern wie Mickiewicz und Sienkiewicz, die schon vor 1945 im bescheidenen Rahmen rezipiert worden waren, auch Texte lebender Autoren neu herausgegeben oder erstmals übersetzt. So brachte der Freiburger Herder-Verlag schon 1955 ein Werk des katholischen Schriftstellers Jan Dobraczyński auf Deutsch heraus. Der störte sich freilich nicht daran, dass einer der beiden Übersetzer während des Zweiten Weltkriegs Referent für Wissenschaft und Unterricht bei der Regierung des Generalgouvernements in Krakau gewesen war, während sein polnischer Kollege von den Deutschen zur Zwangsarbeit deportiert wurde und nach 1945 im österreichischen Exil lebte.119 Der Essener Dein-Buch-Verlag druckte 1953 die ein Jahr zuvor in Weimar erschienene Übersetzung des Romans »Kordian i cham« (»Rebell und Bauer«) von Leon Kruczkowski nach. Dabei handelte es sich um die erste Übertragung eines längeren polnischen Textes durch den jungen Übersetzer Karl Dedecius.120 Noch am auffallendsten war bis Mitte der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik die von Kommunisten getragene Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft, 116 Reich-Ranicki, Marcel, Mein Leben, München 1999, S. 335–339. 117 Harder, Jeannine: Polnische Plakatkunst als Medium transnationaler Kunstkontakte und Kulturpolitik im Ost-West-Konflikt, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2015, www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28529 (11.7.2020). 118 Kneip, Heinz / Orłowski, Hubert (Hrsg.), Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945–1985, Darmstadt 1988. 119 Dobraczyński, Jan: Gib mir deine Sorgen. Die Briefe des Nikodemus. Roman, Übersetzt von Eustachy Świeżawski und Hermann Deuring, Freiburg 1955. Świeżawski hatte 1953 für den Heidelberger Kerle-Verlag bereits Dobraczyńskis Buch »Wybrańcy gwiazd« (»Botschaft der Sterne«) übersetzt. 120 Auf weitere vor 1956 übersetzte Titel von Kazimierz Tetmajer und Michał Choromański verweist eine 1966 für die Warschauer Buchmesse von Dedecius zusammengestellte Auswahlbibliografie: Polonica w  wydawnictwach Niemieckiej Republiki Federalnej [sic!] 1945–1966, Frankfurt am Main 1966.

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die aufgrund einer Klage der Familie 1952 ihren Namen in „Deutsche Gesellschaft für Kultur- und Wirtschaftsaustausch mit Polen“ ändern musste.121 Während sie in der DDR bald verboten wurde, existiert sie unter wechselnden Namen in der Bundesrepublik bis zum heutigen Tage. Sie gab ab 1950 die Zeitschrift »Jenseits der Oder« heraus und wurde immer wieder von staatlichen polnischen Stellen finanziell unterstützt (→ S. 167/168). Dabei ging es ihr nicht nur um Werbung für das politische System Polens, etwa durch öffentliche Vorträge, sondern auch und gerade um die Förderung polnischer Kultur. Die gesellschaftliche Resonanz darauf hielt sich jenseits von „antifaschistischen“ Kreisen freilich eher im Rahmen. Selbst im tiefsten Stalinismus wurden vereinzelt Reisen aus Westdeutschland nach Polen durchgeführt, an denen aber auch DDR-Bürger mitwirken konnten. So nahmen etwa 1953 zwanzig sorgfältig ausgewählte Personen an einer solchen sechzehntägigen Rundreise teil (unter anderen drei Arbeiter, drei Ärzte, drei Hausfrauen, sieben Teilnehmer waren Mitglieder der KPD, einer, der »Neues Deutschland«-Journalist Harri(bald) Czepuck, gehörte der SED an), bei der die Errungenschaften des „neuen Polens“ auch immer wieder in Gesprächen mit Aktivisten vermittelt wurden. Auf einer Pressekonferenz in Warschau äußerten sie sich zudem über ihre Eindrücke. An der Spitze der Delegation stand der Vorsitzende der Gesellschaft, der ehemalige Wehrmachtsgeneral Hanns von Rohr.122 Diese Reisen sollten dem Ziel dienen, einen größeren Personenkreis aus allen gesellschaftlichen Schichten für das kommunistische Polen zu interessieren. Realistisch betrachtet, muss die Wirkung solcher Fahrten allerdings als gering eingeschätzt werden. Allmählich setzten auch wieder Reisen deutscher Künstler zu Auftritten nach Polen ein, wenngleich in überschaubarer Anzahl. Am Internationalen Chopin-Wettbewerb 1955 nahmen erstmals nach dem Krieg wieder Deutsche teil, neun aus der Bundesrepublik und vier aus der DDR. Zwar schaffte es kein Westdeutscher in die Finalrunde, aber der Berliner Manfred Reuthe erhielt immerhin einen Sonderpreis für die beste Präsentation von Chopins Etude in Ges-Dur und damit 4000 Złoty.123 121 Lotz, Christian: Zwischen verordneter und ernsthafter Freundschaft. Die Bemühungen der Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft um eine deutsch-polnische Annäherung in der DDR und in der Bundesrepublik (1948–1972), in: Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch, hrsg. von Hans Henning Hahn / Heidi Hein-Kircher / Anna Kochanowska-Nieborak, Marburg 2008, S. 201–219.  – Der Publizist und Politiker von Gerlach (1866–1935) hatte während des Ersten Weltkriegs und in der Zeit zwischen den Weltkriegen eine immer stärker pazifistische Haltung eingenommen und sich für die Menschenrechte eingesetzt. 122 Archiwum MSZ, Departament IV za lata 1949–1960, Z10-W31-T270, Bl. 10–30. 123 http://pl.wikipedia/org/wiki/V_Międzynarodowy_Konkurs_Pianistyczny_im._Fryderyka_Chopina (26.7.2020).

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Ein kurzer gesonderter Blick muss auf die Kontakte zwischen der polnischen Emigration und dem westdeutschen Staat geworfen werden, die bereits in den 1950er-Jahren existierten. Insbesondere die Pariser Zeitschrift »Kultura« bemühte sich  – etwa über ihre ständigen Korrespondenten in Deutschland Jerzy Prądzyński (bis Ende 1952) und Bohdan Osadczuk –, nicht nur über das Leben der in Deutschland verbliebenen Polen zu berichten, sondern sie kommentierte auch mehr oder weniger kritisch die politischen Aktivitäten Bonns, insbesondere den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, und die Bestrebungen zur Wiedereingliederung in die internationale Gemeinschaft.124 In diesen Kontext passt die Beteiligung von Polen an der deutschen Gründungsversammlung des liberalen, aber strikt antikommunistischen Kongresses für kulturelle Freiheit, der im Juli 1950 in Westberlin stattfand. Neben Czesław Miłosz traten hier auch Józef Czapski und Jerzy Giedroyc in Erscheinung. Letzterer erinnerte sich später an das besondere Klima der Versammlung und erste Appelle zu einer deutsch-polnischen Versöhnung.125 Schriftsteller und Publizisten versuchten zudem durch ihre Reisetätigkeit, den polnischsprachigen Lesern ein Bild vom Westdeutschland des beginnenden Wirtschaftswunders zu vermitteln. Jerzy Stempowskis Bericht von einer Westfalenreise im Jahre 1954 zeichnete hier etwa ein ambivalentes Bild von industrieller Kraft und Modernisierung einerseits, von schwierigen sozialen Bedingungen vor allem unter den Flüchtlingen und ehemaligen DPs andererseits.126 Letztlich muss die erste Hälfte der 1950er-Jahre im westdeutsch-polnischen Verhältnis als eine Zeit des begrenzten Austauschs und des weitgehenden Schweigens verstanden werden. Allerdings wurden in einigen Bereichen, vor allem in der Wirtschaft, die Grundlagen für eine Intensivierung der Kontakte gelegt, die dann nach der Rückkehr Władysław Gomułkas an die Macht im Herbst 1956 tatsächlich erfolgte.

124 Wiaderny, Bernard: „Schule des politischen Denkens“. Die Exilzeitschrift „Kultura“ im Kampf um die Unabhängigkeit Polens 1947–1991, Paderborn 2018. Zu den teilweise mit US-amerikanischen Geldern finanzierten Bemühungen der frühen 1950er-Jahre insbes. S. 97/98. 125 Giedroyc, Jerzy: Autobiografia na cztery ręce, Warszawa 1994, S. 173–178. 126 Hostowiec, Paweł [Jerzy Stempowski]: Dziennik podróży do Westfalii, in: Kultura (1955), Nr. 1–2, S. 41–54. Zu weiteren Reisen, unter anderen von Czesław Miłosz in das Flüchtlingslager Valka bei Nürnberg, siehe Okoński, Krzysztof: Auf der Suche nach der verlorenen Freiheit, Dresden 2017, S. 168–178.

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4. Westdeutsch-polnische Annäherungen (1956–1969)

Im Herbst 1956 genoss Władysław Gomułka eine Popularität wie kein anderer polnischer Politiker. Er setzte sich gegen die Sowjetunion durch, bewahrte Polen vor dem Schicksal Ungarns und versprach einen neuen, menschenwürdigen Sozialismus. Mit dem Amtsantritt Gomułkas endete die Allgegenwart der Sicherheitspolizei, die jedoch 1957 immerhin noch 17 000 hauptamtliche Mitarbeiter zählte. Polen glich in dieser Zeit einem großen Diskussionsklub. Studenten, aber auch Arbeiter debattierten über sozialistische „Verfehlungen“ im Stalinismus, neue Formen der Wirtschaftslenkung, über Demokratie, das Verhältnis zu den „Russen“ und ethnische Minderheiten. In den Betrieben forderte man Arbeiterselbstverwaltung nach jugoslawischem Vorbild, die Jugend hoffte auf politischen Pluralismus und Freiheit der Meinungsäußerung. Marian Spychalski, ein enger Mitarbeiter Gomułkas, wurde zum neuen Verteidigungsminister ernannt, Moskau erklärte sich einverstanden, dass alle in der polnischen Armee dienenden Offiziere der Roten Armee und alle sowjetischen Berater in polnischen Sicherheitsorganen abberufen wurden. Der internierte Primas Stefan Wyszyński wurde aus dem Kloster Komańcza in den Bieszczady (Südostpolen) entlassen und konnte seine Amtspflichten aufnehmen. Die ihres Amtes enthobenen Bischöfe kehrten ebenfalls in ihre Diözesen zurück. Sie erklärten sich gezwungenermaßen bereit, die geltenden Rechte zu befolgen und ihre bürgerlichen Pflichten einzuhalten, konnten aber im Gegenzug auf vielfache Zusicherungen des Staates hoffen: innere Unabhängigkeit der Kirche, Religionsunterricht an Schulen, Zugang der Priester zu Krankenhäusern und Gefängnissen sowie Herausgabe katholischer Schriften. In den ersten Jahren der Parteiführung durch Gomułka verbesserte sich die materielle Lage der Bevölkerung rapide. Der Aufbau der Schwerindustrie genoss nicht mehr die höchste Priorität, die kleine Privatindustrie wurde dagegen begünstigt, was schnell eine reale Lohnsteigerung zur Folge hatte. Die politische Publizistik in der Bundesrepublik reagierte auf die Oktoberereignisse 1956 zurückhaltend. Gösta von Uexkülls Bericht für die »Zeit« wurde zwar euphorisch mit der Überschrift »Wunder in Polen« betitelt, der Journalist deutete aber an, dass ein „freieres Polen“ für den Westen oder für Deutschland nicht unbedingt ein „bequemeres Polen“ bedeute: „Es kann

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nämlich in der Politik auch Niederlagen unserer Gegner geben, die nicht unsere Siege sind, und Siege unserer Freunde, die nicht unsere Siege sind.“127 Eine solche Haltung deckte sich mit dem weitgehenden Misstrauen der Bundesregierung gegenüber den Tauwettererscheinungen in Polen. Nach der ersten Euphorie und der Überzeugung, dass eine Verständigung zwischen der Bundesrepublik und „einem freien, d. h. Moskau nicht mehr hörigen, Polen absolut möglich, sogar wahrscheinlich“ sei,128 kam die Angst vor einer möglichen militärischen Intervention der UdSSR sowie vor einer Fluchtwelle von polnischen Bürgern in die Bundesrepublik. Die völkerrechtliche Doktrin war für eine eventuelle Annäherung nicht gerade förderlich: Im Grundgesetz der Bundesrepublik standen das Wiedervereinigungsgebot sowie die Rechtsgültigkeit der Reichsgrenzen von 1937 festgeschrieben, die im September 1955 verabschiedete Hallstein-Doktrin  – nach der die Aufnahme oder Unterhaltung diplomatischer Beziehungen zur DDR seitens Bonn als unfreundlicher Akt angesehen und mit dem Abbruch beziehungsweise der Nichtaufnahme diplomatischer Beziehungen beantwortet werde (das Verhältnis zur UdSSR galt als Sonderfall)  – bekräftigte den bundesrepublikanischen Alleinvertretungsanspruch. Obwohl die polnische Regierung 1955 den Kriegszustand mit Deutschland für beendet erklärt hatte und zur Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik ohne vorherige ausdrückliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze bereit war, wurden die Warschauer Avancen nicht ernst genommen. Zwar benutzten die Bonner Politiker gegenüber Polen nicht mehr den Begriff „Satellit“, in unterschiedlichen offiziellen Aussagen sprach man aber von einem „freien Polen“, das seine Beziehungen zum „freien Deutschland“ zu regeln versuchte. Dennoch fand sich noch Ende Juni 1956 in einer Erklärung des Außenministers von Brentano eine Passage zur „Einstellung zu den Satellitenstaaten und der Frage der Ostgrenzen“. Adenauers Vermutung, Gomułkas Polen sei lediglich ein Erfüllungsgehilfe Moskaus, wurde aus der Bonner Perspektive auch durch den im Oktober 1957 der UN-Vollversammlung vorgelegten Plan des polnischen Außenministers Adam Rapacki bestätigt. Der Rapacki-Plan  – der eine kernwaffenfreie Zone in Mitteleuropa unter Einschluss Polens und der beiden deutschen Staaten vorsah  – hatte seine Vorgeschichte. Im Vorfeld des polnischen Vorschlags präsentierte die UdSSR im Schatten der Ungarnkrise im Jahre 1956 diverse Entspannungsinitiativen, 127 Uexküll, Gösta von: Wunder in Polen. In: Die Zeit, 25.10.1956, S. 1. 128 Bundesministerium des Inneren (Hrsg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik (1. Januar  – 31. Dezember 1956), München 1963, S. 812 (Rede des Bundeskanzlers Konrad Adenauer auf der Tagung des Landesverbandes Westfalen der Jungen Union in Dortmund, 21.10.1956).

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die in westlichen Staaten immer wieder auf Ablehnung stießen. Ein regionales, auf vier Länder begrenztes Abrüstungsvorhaben schien in diesem Kontext durchsetzbar zu sein. Es war ein Kompromiss zwischen sowjetischen Entwürfen einer vollständigen Demilitarisierung und der westlichen Weigerung, auf diese Initiativen auch nur teilweise einzugehen. Für Warschau gab es auch andere Beweggründe. Rapackis Vorstoß entstand einerseits aus Angst vor der nuklearen Bewaffnung der Bundeswehr und einem möglichen Bestreben der Bundesrepublik nach Wiedergewinnung der Gebiete jenseits der Oder-NeißeLinie, andererseits galt er als Demonstration einer neu gewonnenen außenpolitischen Handlungsfreiheit nach dem Polnischen Oktober. Polen wollte eine Rolle als Brücke und Mittler zwischen Ost und West einnehmen. Über den Sommer 1957 erhielten Rapacki und Gomułka Unterstützungszusagen aus der UdSSR und der DDR, am 2. Oktober präsentierte Rapacki sein Vorhaben der UNO. Demnach sollten in Polen, in der DDR und in der Bundesrepublik Nuklearwaffen weder produziert noch gelagert werden. Zum Mitwirken zeigte sich die Tschechoslowakei bereit, inzwischen verlieh Moskau dem Plan seine offizielle Unterstützung. Die USA interpretierten den Plan jedoch als Versuch der Schwächung der NATO, befürchteten den Verlust des Mächtegleichgewichts im Hinblick auf das Übergewicht an konventionellem Militärpotenzial seitens der UdSSR und lehnten Rapackis Ideen ab. Auf Washington folgten London und Paris. In diesem Kontext wies die Bundesregierung auf den fehlenden Spielraum hin: Die Respektierung der Oder-Neiße-Linie galt vorerst als nicht akzeptabel, in der Außenpolitik galt die Hallstein-Doktrin Die Akzeptanz des Planes hätte den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik ins Wanken bringen können. Das letzte Argument war nicht ganz stichhaltig: Rapacki bot der Bundesrepublik, in Übereinstimmung mit der Sowjetunion, das Zugeständnis einer unilateralen Einverständniserklärung ohne Vertrag mit ostdeutschen Vertretern an.129 Von Warschau aus wurde zugleich eine Hintertürdiplomatie betrieben: Im April 1958 reiste der unabhängige Sejmabgeordnete und liberale Katholik Stanisław Stomma nach Bonn zu einem privaten Treffen mit dem Außenminister Heinrich von Brentano und warb  – erfolglos  – für den Rapacki‑Plan. Zu Befürwortern in der Bundesrepublik zählte hingegen der ehemalige CDU-Innenminister und spätere sozialdemokratische Justizminister und Bundespräsident Gustav Heinemann, der ihn als Einstiegsmöglichkeit für OstWest-Gespräche bezeichnete. Bundeskanzler Adenauer schien der Plan aber 129 Gehler, Michael: Neutralität und Neutralisierungspläne für Mitteleuropa? Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei und Polen. In: Neutralität  – Chance oder Chimäre? Konzepte des dritten Weges für Deutschland und die Welt 1945–1990, hrsg. von Dominik Geppert / Udo Wengst, München 2005, S. 105–132, hier S. 129.

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alles andere als eine genuin polnische Initiative zu sein. Er lehnte das Vorhaben als „kommunistisches Täuschungsmanöver“ ab.130 Zum Scheitern des Plans trug aber nicht nur das Veto der Westmächte und der Bundesrepublik bei, sondern auch die sowjetische Deutschlandpolitik von Chruschtschow sowie die Inkonsequenz der SED, die sich offiziell für den Rapackiplan einsetzte, ihn jedoch für ihre eigene Deutschlandkonzeption ausnutzte. Das Projekt einer atomwaffenfreien Zone und der Gedanke, die Sicherheit in Europa auch durch Begrenzung der konventionellen Rüstung zu erhöhen, dienten in den darauffolgenden Jahren immer wieder als Diskussionsvorlage und sind seitdem nie mehr von der Tagesordnung aller Entspannungsbemühungen verschwunden. Wo die große Politik zwischen Moskau, Warschau, Ostberlin und Bonn versagte, halfen in westdeutsch-polnischen Beziehungen halboffizielle Kontakte einzelner Staatsmänner. Als eines der ersten Zeichen der Verständigungspolitik reiste im März 1958 der SPD-Politiker und Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Carlo Schmid, auf Einladung der Universität Warschau nach Polen, wo er in zahlreichen Gesprächen mit Mitgliedern der Regierung sowie mit Intellektuellen für eine größere Offenheit gegenüber der Bundesrepublik warb. Bei Carlo Schmid zeigt sich eine Parallelität der westdeutsch-polnischen zu den westdeutsch-französischen Beziehungen, um die sich Schmid, ein halber Franzose, ebenfalls große Verdienste erworben hatte (schon im Jahre 1948 wurde auf Initiative von Theodor Heuss, Fritz Schenk und Carlo Schmid das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg als die erste bilaterale zivilgesellschaftliche Initiative gegründet). Von der Reise nach Polen wurde Schmid sowohl aus den eigenen Parteireihen als auch von Außenminister Brentano abgeraten. Schmids Warschauer Reise hatte aber eine längere Vorgeschichte. Bereits 1955 gehörte er als stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses zur Moskauer Delegation Adenauers, sprach sich auf einer SPD-Versammlung im Frühjahr 1956 erstmals öffentlich für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten aus und plädierte auf einer deutsch-französischen Konferenz im Oktober 1956 für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, womit er die Kritik seiner eigenen Partei auf sich zog. Im Präsidium des Deutschen Roten Kreuzes rechtfertigte Schmid die Entschädigung von polnischen Opfern, die in deutschen Konzentrationslagern bleibende Schäden erlitten hatten. Auf seiner Polenreise besuchte er Posen, Warschau und Krakau, sprach in offiziellen sowie inoffiziellen Gesprächen und Interviews unter anderem über den Rapacki-Plan, die geringschätzige Haltung Polens gegenüber der DDR-Führung, Hochschulpolitik, Pläne eines Studentenaustausches und eines

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Seminars über deutsch-polnische Beziehungen.131 Nach Hause zurückgekehrt, erinnerte er sich: „Man kann bei einem Besuch, der einen für eine Woche in ein fremdes Land geführt hat, weder Land noch Volk noch Regime so kennenlernen, dass man eine exakte Analyse zu geben wüsste. Doch reicht diese Zeit aus, Eindrücke aufzunehmen, die genügen, um  – sagen wir  – Tonart und Themen herauszufinden, die, wenn der Vergleich erlaubt ist, Aufbau und Linienführung der Symphonie bestimmen.“132 Doch noch am Tag nach dem Antritt von Schmids Polenreise lieferte Adenauer eine prägende Vorlage für die kommunistische antideutsche Propaganda: Kniend im weißen Kreuzritterkostüm, ließ sich der Kanzler feierlich in den Deutschen Orden aufnehmen. Das Bild stand unverzüglich als Synonym des deutschen „Drangs nach Osten“ und sorgte bis in die 1980er-Jahre in Polen für die permanente Reproduktion antideutscher Stereotype. (Übrigens: So wie man damals Adenauer im Kreuzrittermantel mit Krallen nach den westlichen Gebieten Polens darstellte, wurden nach 2016 in etlichen regierungsnahen polnischen Zeitschriften die Bundeskanzlerin Angela Merkel oder EU-Ratspräsident Donald Tusk in nationalsozialistischer Stilistik abgebildet.) Genau ein Jahr später, im März 1959, vor dem 11. Parteitag der PVAP erklärte Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz, Polen wünsche nicht, Konrad Adenauer zu sehen, „es sei denn, er würfe den ihm feierlich und symbolisch angelegten Mantel eines Kreuzritter-Ordensmeisters von sich, zöge ein Büßerhemd an und würde für das Übermaß der Schäden, die wir durch deutsche Militaristen und Kriegsverbrecher erlitten haben, beim polnischen Volk um Vergebung bitten. Natürlich müsste er aber in diesem Fall ein Visum der DDR haben.“133 Ein anderer prominenter Warschaureisender war Berthold Beitz, der seit 1953 für die Firma Krupp an verantwortlicher Stelle tätig war. Erste Kontakte mit Polen hatte Beitz bereits in der Zeit des Zweiten Weltkrieges gehabt, als er in seiner Funktion als Angestellter des Firmenkonsortiums Beskiden-Öl nach Jasło und Krosno entsandt worden war. In den Jahren der Besatzung rettete er in den Karpaten viele jüdische Zwangsarbeiter vor der Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager und wurde dafür später in Israel mit dem 131 Schmid, Carlo: Besuch der Universitäten in Warschau und Krakau. Tagebuch einer Polenreise im Jahre 1958. In: Ungewöhnliche Normalisierung. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Polen, hrsg. von Werner Plum, Bonn 1984, S. 191–203, hier S. 196 f. 132 Schmid, Carlo: Was ich in Warschau sah … In: Die Zeit, 20.3.1958, S. 4. 133 Zit. nach Friz, Diana Maria: Alfried Krupp und Berthold Beitz. Der Erbe und sein Statthalter, Zürich 1988, S. 82.

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Titel eines Gerechten unter den Völkern ausgezeichnet. Beitz’ wirtschaftliche Verbindungen nach Polen in der Nachkriegszeit begannen 1956, zwei Jahre später reiste er erstmals  – ohne Zustimmung Adenauers  – nach Warschau, Moskau und Belgrad, vorrangig mit dem Ziel, neue Ostmärkte für die Kruppwerke zu erschließen. Der ökonomische Aspekt seiner Polenkontakte war jedoch nicht zu trennen von seinen Kriegserfahrungen und dem Wunsch einer Aussöhnung.134 Um die Jahreswende 1960/61 kam Beitz  – diesmal offiziell auf die Einladung des Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz  – zweimal nach Warschau. Der deutsche Gast wurde, anders als Carlo Schmid, nach dem diplomatischen Protokoll empfangen. Von seinem Besuch erhoffte sich die polnische Parteiführung eine baldige Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen sowie den Abschluss eines mehrjährigen Handelsvertrages und eines Kulturabkommens. Im Gegenzug versprach Cyrankiewicz, in Warschau ein deutsches Kulturzentrum zu errichten. Für solche Vorschläge war die Zeit nicht reif. Die polnische Kompromissbereitschaft war zu weitgehend und wurde von Moskau aus gebremst, auch in Bonn war an die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Polen ohne Weiteres nicht zu denken. Die Warschauer Mission von Beitz war gescheitert. Der Krupp-Generalbevollmächtigte war aber in späteren Jahren ein wichtiger Vertrauter der neuen Ostpolitik Willy Brandts (→ S. 104–110). Nach Polen begaben sich aber nicht nur Politiker in Spitzenfunktionen. Auch einfache Abgeordnete des Bundestages reisten nach Warschau und informierten sich zuvor über die Haltung der Bundesregierung zur Frage der Aufnahme (vorerst) kultureller Beziehungen. Daraufhin antwortete Wolfgang von Welck, Leiter der Länderabteilung des Auswärtigen Amts: „Wir wissen […], daß die Kultur Polens, die noch heute weitgehend auf seiner Tradition und katholischer Religion beruht,  – trotz der Zugehörigkeit des Landes zum Sowjetblock  – im Grunde nach dem Westen ausgerichtet ist. Wenn wir alldem grundsätzlich auch Rechnung tragen wollen, so meinen wir doch, daß wir den Faden der deutsch-polnischen kulturellen Austauschbeziehungen im gegenwärtigen Zeitpunkt nur behutsam spinnen sollten. Jede betonte Initiative von deutscher Seite könnte nach unserer Auffassung eventuell das Mißtrauen der Sowjets erwecken und ungewollt dazu beitragen, dem ruhigen Ablauf des auch von uns gewünschten Evolutionsprozesses in Polen Schwierigkeiten zu bereiten.“135 Die kulturelle Annäherung galt im Auswärtigen Amt als Vorstufe künftiger diplomatischer Beziehungen. Da aber der Abschluss eines Kulturabkommens 134 Krzoska, Markus: Manager und Moralist. In: Dialog. Deutsch-polnisches Magazin 3 (2013), S. 95–96, hier S. 95. 135 Welck, Wolfgang von, an Hellmut von Kalbitzer, 7.12.1956. In: B90/790, PA AA.

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zwischen der Bundesrepublik und Polen nicht möglich war, setzte man auf die Belebung der kulturellen Kontakte auf strikt privater Ebene. So erhielten auch die nicht staatlich Bediensteten mitunter staatliche finanzielle Zuschüsse, wofür sie sich mit ausführlichen Berichten an das Auswärtige Amt bedankten. Den Anfang machten im September 1959 Vertreter des Verbandes Deutscher Studentenschaften, die nach einer dreiwöchigen, von Bonn unterstützten Reise den Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts, Dieter Sattler, von einer „weniger dogmatischen Klärung des deutsch-polnischen Verhältnisses“ zu überzeugen versuchten.136 Schnell kam man in Bonn jedoch zu der Einsicht, dass es nicht genügte, die (kulturellen) Beziehungen mit Polen nur durch einzelne Privatpersonen wahrnehmen zu lassen. Vielmehr sollten fortan in diese Arbeit auch größere Organisationen miteinbezogen werden. Eine besondere Bedeutung wurde dem Hochschulaustausch sowie offiziösen bilateralen Unterredungen im Rahmen der UNESCO-Kommissionen beigemessen. Auf Veranlassung des Auswärtigen Amts riet man dagegen von jeder Form der Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Kultur- und Wirtschaftsaustausch mit Polen (bis 1953 fungierte der Verein unter dem Namen Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft), der man eine propagandistische Repräsentanz der polnischen Regierung unterstellte, ab (→ S. 166–168). Der kurze „polnische Frühling im Oktober“  – bereits nach den Sejmwahlen vom Januar 1957 kam es zu Konflikten zwischen den studentischen Bewegungen und der Parteileitung, die nach einer völligen Wiederherstellung der Kontrolle über die Gesellschaft strebte  – wurde rasch im westdeutschen literarischen Feld rezipiert. Als Auslöser für die „polnische Welle“ fungierte eine von Karl Dedecius übertragene und herausgegebene Anthologie »Lektion der Stille«, der erste Sammelband mit polnischen zeitgenössischen Gedichten in Westdeutschland nach 1945. Weitere Sammelpublikationen folgten in schneller Abfolge. Mit interpretatorischen Angaben in den Nachworten wurden die Anthologien zum Ausgangspunkt für weitere Entdeckungen im Bereich der polnischen Literatur. Bedeutungsvoll für die westdeutschen Verleger und Leser waren vor allem Autoren, die sich kritisch mit der neuen Gesellschaftsordnung in Polen auseinandersetzten und die Kriegszeit in einer von der politischen Zweckmäßigkeit nicht mehr begrenzten Form darstellten. Texte von Jerzy Andrzejewski, Tadeusz Nowakowski und Kazimierz Brandys wurden daher in erster Linie als „landeskundliche Materialien zu Gegenwart und Geschichte 136 Bielenstein, Dieter / Bergemann, Renate: Die Kulturbeziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen und ihre Abhängigkeit von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Bericht von einer Reise nach Polen vom 1.–25. September 1959. Ebenda.

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des Landes“ interpretiert,137 mit Werken von Stanisław I. Witkiewicz, Witold Gombrowicz, Bruno Schulz, Tadeusz Różewicz, Sławomir Mrożek, Stanisław Jerzy Lec und Zbigniew Herbert sowie anderen wurde jedoch auch das Bewusstsein für die künstlerische Qualität der polnischen Dichtung und Prosa sowie des polnischen Theaters geschärft (→ S. 198–207). Der literarische Transfer blieb dabei keine Einbahnstraße. 1957 erschien in Polen eine später nie wieder erreichte Zahl von Übersetzungen aus dem Deutschen (mehr als 60), darunter nicht wenige Autoren aus der Bundesrepublik. Auf großes Interesse stieß vor allem der katholische Schriftsteller Heinrich Böll, der auf Einladung des Polnischen Schriftstellerverbandes im Dezember 1956 einige Tage in Polen verbrachte. Mehrere polnische Autoren ergriffen ebenfalls die Gelegenheit zu einer Reise in die Bundesrepublik. Leopold Tyrmand berichtete im Januar 1958 in der Wochenzeitschrift »Tygodnik Powszechny«: „Meiner Meinung nach zeigt sich jetzt eine große Chance, die sich in der Geschichte der zwei Völker, die seit Jahrhunderten durch gegenseitige Feindseligkeit belastet sind, sehr selten geboten hat. […] Ich habe das als Pole in Deutschland bemerkt, und es ist nun die Sache der Deutschen, ähnliches in Polen zu finden.“138 Zahlreiche Kontakte waren auch in anderen Kunstsparten zu verzeichnen. Im Auswärtigen Amt stellte man mit Zufriedenheit fest: „Auf dem Gebiet der bildenden Kunst haben sich seit etwa zwei Jahren gewisse begrenzte Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen angebahnt, die aus privaten Begegnungen von Künstlern und Kunstinteressierten hervorgegangen sind. […] Die Beteiligten haben sich in allen Fällen über ihre Aufnahme in Polen und die Aufgeschlossenheit ihrer polnischen Partner gegenüber der westlichen Kunst positiv geäußert.“139 Eine wichtige Vermittlungsarbeit leisteten vor allem die zahlreichen Ausstellungen polnischer Plakate, organisiert von unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteuren, gefeiert von der Kunstkritik und begleitet von behördlichen 137 Hoffmann-Kannegiesser, Barbara: „Die sehr polnische und zugleich universelle Botschaft des Dichters.“ Polnische Literatur im Spiegel der Presse der Bundesrepublik. In: Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945–1989, hrsg. von Heinz Kneip / Hubert Orłowski, Darmstadt 1988, S. 201–219, hier S. 203. 138 Zit. nach Lawaty, Andreas: Die kulturellen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen bis 1975. In: Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen bis zur Konferenz über Sicher­heit und Zusammenarbeit in Europa (Helsinki 1975), hrsg. von Wolfgang Jacobmeyer, Braunschweig 1987, S. 179–189, hier S. 184. 139 Auswärtiges Amt: Kulturelle Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen, 20.10.1959. In: B90/790, PA AA.

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Bedenken (→ S. 179). Eine repräsentative Übersicht in der Münchener Neuen Sammlung im Jahr 1962 fand die »Süddeutsche Zeitung« „zeitgemäß, frisch, modern und aggressiv, witzig und intellektuell anspruchsvoll“, „kühn experimentierend“, „avantgardistisch“, „geistig anregend und aufregend“ und völlig frei von „Banalität und Kitsch“.140 Zum wichtigen Forum der Begegnung zwischen Ost und West wurde der erste „Warschauer Herbst“ im Jahr 1956, ein Festival der zeitgenössischen Musik. Polnische Musiker nahmen wiederum an dem Internationalen Ferienkurs für neue Musik in Darmstadt teil und gewannen bald volle Anerkennung in der bundesdeutschen Musiklandschaft (unter anderen Witold Lutosławski, Krzysztof Penderecki, Tadeusz Baird) (→ S. 180). Im August 1958 fand die Premiere der ersten polnisch-westdeutschen Filmproduktion statt: »Der achte Tag der Woche« nach einer Novelle von Marek Hłasko in Zusammenarbeit mit der Westberliner CCC-Filmkunst von Artur Brauner unter der Regie von Aleksander Ford mit der Hauptdarstellerin Sonja Ziemann. Brauner, der erfolgreichste Filmproduzent jener Zeit, stammte aus Lodz; er entging der nationalsozialistischen Verfolgung, nachdem er 1940 in die Sowjetunion geflohen war. 1946 ließ sich Brauner in Berlin nieder und gründete dort seine Produktionsfirma. Das Zustandekommen der Produktion verdankte sich den persönlichen Verbindungen Brauners zu Ford sowie zu Film Polski, dem staatlichen Monopolisten für Produktion und Distribution polnischer Filme im Ausland.141 Der Film erzählt die Geschichte eines Studentenliebespaares, das wegen der katastrophalen Wohnungsnot in Warschau keine Chance hat, für ein paar Stunden miteinander allein zu sein. Die Schilderung des ausweglosen polnischen Alltags genügte dem Parteichef Gomułka, die Aufführung des Films in Polen zu verbieten (der Film wurde erst 1983 gezeigt). Hłaskos erste Erzählungen und Reportagen erschienen in den 1950erJahren in der Studentenzeitschrift »Po prostu«. Man feierte Hłasko als Star einer unangepassten Literatur, die das Klima der moralischen Atrophie treffend protokollierte. Ständiges Aufsehen erregte der Liebling der Leser mit Skandalen und Alkoholexzessen. Im Januar 1958 erhielt er den Polnischen Preis der Verleger. Für das Regime galt er aber in dieser Zeit als Staatsfeind und Landesverräter. Nachdem Hłasko 1958 Polen verlassen hatte, wurde ihm die Rückkehr verweigert. Seitdem lebte er in Paris, Westberlin und den USA. In Deutschland erschienen seine Bücher bei Kiepenheuer & Witsch, in den 140 Pfeiffer-Belli, Erich: Plakate aus Polen. Eine Übersicht in der Münchner Neuen Sammlung. In: Süddeutsche Zeitung, 27.3.1962, S. 12. 141 Wach, Margarete: Ein Filmproduzent mit Mission: Artur Brauner und seine „polnischen“ Filme. In: Dialog 126 (2019), S. 26–33; Dillmann, Claudia: Artur Brauner und die CCC  – Filmgeschäft, Produktionsalltag, Studiogeschichte 1946–1990. Frankfurt am Main 1990.

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1960er-Jahren nicht zuletzt der Hausverlag des Jungstars Rolf Dieter Brinkmann. Der „zornige junge Mann“ der polnischen Literatur und Deutschlands populärer Filmstar Sonja Ziemann heirateten 1961. Acht Jahre später starb Hłasko an einer Überdosis Schlaftabletten in Wiesbaden. In seiner Tasche befand sich ein Flugticket nach Israel. Kurz nach der durchaus symbolhaft gedeuteten Eheschließung von Hłasko und Ziemann zeigten sich in der Bundesrepublik erste Anzeichen der neuen Ostpolitik. Außenminister Gerhard Schröder trug im Juni 1962 auf dem CDU-Parteitag erstmals seine Ideen über eine engere Kooperation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den osteuropäischen Staaten vor. Noch im selben Monat nahm die Bundesregierung Verhandlungen mit Polen über ein Handelsabkommen auf. Nach Unterzeichnung des Abkommens im März 1963 und der Eröffnung der polnischen Handelsvertretung in Köln und der bundesdeutschen in Warschau kam es zur Steigerung des Warenumsatzes. Der deutschen Wirtschaftsdiplomatie kam eine besondere Bedeutung zu: Mit der Warschauer Handelsvertretung (parallel wurden auch Handelsvertretungen in Budapest, Sofia und Bukarest eröffnet) wollte Bonn zum einen die nationalen Eigeninteressen stärken sowie die in Osteuropa wachsenden Konsumansprüche befriedigen, zum anderen um Verständnis für die politischen Ziele der Bundesregierung werben. Die Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen hatten langfristig eine stabilisierende Wirkung, die eingeleitete Kooperation wurde zu einem ergänzenden Mittel der politischen Vertrauensbildung. Für Polen bot dies eine Chance, sich einen Anschluss an den Weltmarkt zu verschaffen und die wirtschaftliche Verflechtung mit den Staaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in ihrer Bedeutung zu relativieren. Die Bundesrepublik wurde fortan zum wichtigsten Handelspartner Polens nach der Sowjetunion. Es entstanden rege persönliche Kontakte von Technikern und Kaufleuten bis hin zu Wirtschaftspolitikern, dieses gesellschaftliche Beziehungsgeflecht war als politischer Aktivposten von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Die Warschauer Handelsvertretung konzentrierte sich aber von Anfang an nicht nur auf wirtschaftliche Fragen, sondern verfolgte zugleich offiziöse (kultur)politische Ziele. Schröder schrieb in einer vertraulichen Aufzeichnung: „Die Vertretung ist eine Handelsvertretung. Der Austausch von Handelsvertretungen soll nicht diplomatische Beziehungen ersetzen. Sie sollen deutlich machen, daß wir auch mit der Volksrepublik Polen diplomatische Beziehungen wünschen, denen zur Zeit leider noch Hindernisse entgegenstehen. […] Ihr Auftrag schließt schnelle sichtbare Erfolge aus. Er verlangt ein hohes Maß von Geduld und Takt. Sie sollen danach streben, unser Verhältnis zu Polen schrittweise zu verbessern. Dies gilt in erster Linie für die wirtschaftlichen Beziehungen, aber auch, soweit sich das

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für möglich erweist, für andere Teilgebiete, wie das der Kulturbeziehungen. Über etwaige derartige Möglichkeiten bitte ich Sie zu berichten.“142 Es mag also kein Zufall gewesen sein, dass die Leitung der Handelsvertretung in Warschau ab 1966 in Händen eines promovierten Germanisten, Heinrich Böx, lag. Böx nahm seine vermittelnde Funktion wahr, indem er zum Beispiel das Ausstellungsangebot deutscher Verlage auf der Warschauer Buchmesse begleitete sowie deutsche Übersetzungen ausgewählter polnischer Bücher in Auftrag gab. Greift man an dieser Stelle die von dem schweizerischamerikanischen Politikwissenschaftler Arnold Wolfers vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Besitzerwerbszielen und Milieuzielen der Außenpolitik auf, so lässt sich das Hauptanliegen der Handelsvertretung in Warschau den Milieuzielen zuordnen. Es ging nämlich vor allem um das Schaffen „des allgemeinen geistigen Klimas gegenseitigen Wohlwollens, in dem dann von Fall zu Fall auf allgemein politischem oder wirtschaftlichem Gebiet sich Erfolge erzielen lassen“.143 Der Wandlungsprozess in den deutsch-polnischen Beziehungen nach 1956 verdankte sich nicht zuletzt den vielfältigen Initiativen kirchlicher Institutionen sowie katholischer und evangelischer Laien. Für »Mehr Wahrheit in der Politik!« plädierten im Herbst 1961 in einer kurzen Denkschrift acht in der Bundesrepublik hoch angesehene Persönlichkeiten, darunter der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker und der Physiknobelpreisträger Werner Heisenberg. Aus der Überzeugung heraus, dass führende Bonner Politiker die außenpolitische Stagnation zu kaschieren trachteten und dringend gebotene Entscheidungen verschleppten, leiteten die acht ihre Legitimation ab, in der Öffentlichkeit zu agieren. Im Mittelpunkt des Dokuments stand die Dringlichkeit einer aktiven Außenpolitik (unter anderem Verteidigung Westberlins, Wiedervereinigung Deutschlands im europäischen Kontext und Verzicht auf die Rückgewinnung der Ostgebiete zugunsten der Normalisierung der Verhältnisse mit Polen), einer effektiven, jedoch zugleich behutsamen Rüstungspolitik, einer sinnvollen Sozialpolitik sowie einer tiefgreifenden Schulreform angesichts der technischen, industriellen und wirtschaftlichen Umbrüche der Gegenwart. Da Teile des Memorandums durch eine Indiskretion in die Öffentlichkeit gelangt waren (die Verfasser hatten die Absicht, es zunächst als Gesprächsgrundlage für Diskussionen mit Bundestagsabgeordneten 142 Schröder, Gerhard an Bernd Mumm von Schwarzenstein, 27.3.1964. In: Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. 1964. 1. Januar bis 30. Juni, hrsg. von Hans-Peter Schwarz, München 1995, S. 38.  143 Abelein, Manfred: Grundlagen der auswärtigen Kulturpolitik. In: Handbuch der deutschen Außenpolitik, hrsg. von Hans-Peter Schwarz, München 1975, S. 753–759, hier S. 753.

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zu gebrauchen), veröffentlichten die Autoren den Text im Februar 1962. Die Publikation fand große öffentliche Aufmerksamkeit. Die Berichterstattung in den meisten überregionalen Zeitungen im Westen wie im Osten Deutschlands konzentrierte sich vor allem auf das Problem der Oder-Neiße-Linie. Sie stelle, hieß es in der Denkschrift, längst kein „denkbares Handelsobjekt“ mehr dar. Ihre öffentliche Anerkennung „im Rahmen eines umfassenden Programms obengenannter Art [könnte] unsere Beziehungen zu Polen entscheidend entlasten, unseren westlichen Verbündeten das Eintreten für unsere übrigen Anliegen erleichtern und der Sowjetunion die Möglichkeit nehmen, Deutschland und Polen gegeneinander auszuspielen“.144 Das Memorandum wurde zum Gegenstand einer teilweise sehr scharf geführten öffentlichen Diskussion. Die Vertriebenenverbände attackierten die Denkschrift und die Verfasser mit äußerster Härte. Das vorgelegte Dokument erhebe, hieß es, die Massenaustreibungen zum zwischenstaatlichen Prinzip, beseitige die Möglichkeit der Selbstbestimmung betroffener Bevölkerungen, verherrliche Unrecht und Gewalt und erinnere in seiner Form und in seinem Vokabular an die „schlimmsten Zeiten unserer politischen Vergangenheit“.145 Als Gesprächsvorlage mit Bundestagsabgeordneten erwies sich das Memorandum wenig fruchtbar. Nicht alle CDU-Politiker standen dem Dokument abweisend gegenüber, doch überzeugt zeigten sie sich von dem Anliegen nicht. Auch die SPD wollte den potenziellen Vorwurf einer mangelnden nationalen Gesinnung vonseiten der Vertriebenenverbände abwehren. Keine der im Bundestag vertretenen Parteien sprach sich für die Anerkennung der OderNeiße-Grenze aus. Für die evangelische Kirche hatte die Veröffentlichung des Memorandums weitreichende Folgen. Die Kirchenkanzlei distanzierte sich vorerst von der Stellungnahme der Verfasser, allesamt prominenter evangelischer Laien. Der Rat der EKD rief zu einer Versachlichung der Debatte auf, eine inhaltliche Stellung nahm die Kirche nicht ein. Trotzdem blieb die unterschwellige Wirkung des rege diskutierten Dokuments beachtlich. Die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD arbeitete zur selben Zeit an ihrer erst im Oktober 1965 publizierten Denkschrift über »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Im Vorfeld der geplanten Veröffentlichung publizierten namhafte evangelische Gelehrte, unter anderen Ludwig Raiser und Wolfgang Schweitzer, Thesen, mit denen sie zu begründen versuchten, warum die Deutschen ihren Anspruch auf die 144 Das Memorandum der Acht. In: Die Zeit 9 (1962), S. 4. 145 Greschat, Martin: „Mehr Wahrheit in der Politik!“ Das Tübinger Memorandum von 1961. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 491–513, S. 510.

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Ostgebiete aufgeben sollten. Die Ostdenkschrift intendierte eine Vermittlung zwischen den von der Politik unterstützten Forderungen der Vertriebenen nach Wiederherstellung der Reichsgrenzen von 1937 und den Interessen der Bundesrepublik im Hinblick auf ihre politische und europäische Zukunft einschließlich der Interessen der östlichen Nachbarn, vor allem Polens und der Tschechoslowakei. Der Vorsitzende des Rates der EKD schrieb im Vorwort: „Die Evangelische Kirche in Deutschland […] beobachtet mit wachsender Sorge, daß die Wunden, die der Zweite Weltkrieg im Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn geschlagen hat, bis heute, 20 Jahre nach seinem Ende, noch kaum angefangen haben zu verheilen. Ein wesentlicher Grund dafür ist auf deutscher Seite, daß die Besetzung der deutschen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie durch Sowjetrußland und Polen und die Vertreibung von Millionen deutscher Menschen aus diesen Gebieten und aus den alten deutschen Siedlungsgebieten in der Tschechoslowakei sowie im übrigen Osten und Südosten Europas Probleme aufgeworfen haben, die bisher nicht zureichend gelöst worden sind. Die öffentliche Erörterung dieser Probleme nimmt in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West) einen breiten Raum ein; der von den Sprechern der Vertriebenen immer neu erhobene, von der Bundesregierung mehrfach in öffentlichen Erklärungen bestätigte Anspruch auf Wiederherstellung des früheren Rechtszustandes mit friedlichen Mitteln bildet hier einen gewichtigen Faktor der Innen- und Außenpolitik.“146 Aus den Reaktionen der wichtigsten Parteien und der evangelischen Kirche wird ersichtlich, welchen Einfluss das Selbst- und Fremdbild der Vertriebenenverbände und ihre Polenpolitik auf das politische Leben der Bundesrepublik in den 1950er- und 1960er-Jahren hatten. In dem 1957 gegründeten Bund der Vertriebenen (BdV) dominierte in dieser Zeitspanne der integrationistische Opferdiskurs, der mit Verweis auf das Wählerpotenzial des BdV die Unterstützung der CDU/CSU sowie der SPD genoss. Die Dachorganisation der Vertriebenen präsentierte sich der Öffentlichkeit als Vertreter nationaler Interessen und Träger des deutschen Patriotismus. Neben der Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937, das hieß: der Rückkehr in die Gebiete jenseits von Oder und Neiße, hatte der BdV zum Ziel, die bundesdeutsche Öffentlichkeit über das Thema der Vertreibung und den „deutschen“ Osten aufzuklären. Die Vertriebenen beanspruchten hierbei Deutungshoheit und eine monopolistische Position der Zeitzeugen und direkt Betroffenen. 146 Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn aus dem Jahr 1965. In: https://www.ekd.de/lage_der_vertriebenen_0.htm (Zugriff am 3.12.2019).

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Mit ihrem revisionistischen Polenbild waren die Vertriebenen in fast allen wichtigen Medien der alten Bundesrepublik präsent, im Fernsehen ebenso wie in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften wie »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Die Zeit« oder »Der Spiegel«, wodurch sich die politische Stärke des Verbandes überproportional auswirkte. Jene Selbstzuschreibung des „politischen Faktors“ verschwand erst in den 1970er-Jahren nach der Unterzeichnung und Ratifizierung des Warschauer Vertrags.147 In Polen war der BdV bis zum Systemwechsel kein Öffentlichkeitsakteur. In Parteiorganen wie »Trybuna Ludu«, »Polityka« oder »Rzeczpospolita« wurde der Verein zwar nicht selten ideologisch instrumentalisiert als Vorzeigebild des bundesdeutschen Revisionismus, der Deutungskonflikt um die Vertreibung fand aber erst nach der politischen Wende statt (insbesondere nach 1998, als die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach zur neuen BdV-Präsidentin gewählt wurde). Trotz heftiger Stellungnahmen gegen den Text des Memorandums, vor allem aufseiten der Vertriebenenverbände und in der konservativ-katholischen Presse, zeichnete sich ein allmählicher Wandel der öffentlichen Meinung ab. Ende der 1960er-Jahre wurde immer wieder ein Zusammenhang zwischen der Ostdenkschrift der EKD und Willy Brandts neuer Ostpolitik betont. Im westlichen Ausland fand die Denkschrift eine breite publizistische Beachtung wie kaum zuvor ein friedenspolitisches Dokument aus Deutschland, die polnischen Reaktionen gingen dagegen stark auseinander. Einerseits wurde die vermeintliche deutsche national-historische Perspektive, die die polnische Argumentation nicht genug berücksichtige, kritisiert. Andererseits war aber das Interesse der polnischen Öffentlichkeit in positiver Weise berührt. Die polnischen Kirchen wandten vor allem den theologisch-ethischen Erwägungen der Denkschrift eine große Aufmerksamkeit zu und nannten das Dokument „eine wahre Stimme christlicher Liebe“. In der offiziellen Erklärung des Polnischen Ökumenischen Rates hieß es: „Im Vertrauen auf die Entschiedenheit der bekennenden Haltung, wie sie in der Evangelischen Kirche in Deutschland sich bezeugt hat, hoffen wir, daß die von der Denkschrift abgesteckten Grundlinien weiter in der Diskussion des Kirchenvolkes bestehen bleiben und in der Zukunft einen fruchtbaren Dialog über das Thema der gegenseitigen Beziehungen […] ermöglichen.“148 147 Jakubowska, Anna: Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957–2004). Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes, Marburg 2012, S. 212–216. 148 Zit. nach Hild, Helmut: Was hat die Denkschrift der EKD bewirkt? In: Feinde werden Freunde. Von den Schwierigkeiten der deutsch-polnischen Nachbarschaft, hrsg. von Friedbert Pflüger / Winfried Lipscher, Bonn 1993, S. 90–102, hier S. 98.

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Auch Vertreter der unabhängigen katholischen Abgeordnetengruppe Znak im polnischen Parlament priesen die Weitsichtigkeit der Verfasser und drückten die Hoffnung aus, dass die katholische Kirche in Deutschland sich ebenfalls den Fragen der nachbarschaftlichen Verständigung stellen werde. Gemeint war damit eine Antwort auf die Initiative des aus Oberschlesien stammenden Erzbischofs von Breslau, Bolesław Kominek, der seit Ende der 1950erJahre Kontakte zu deutschen Geistlichen pflegte. Anlässlich der 20-jährigen Präsenz der polnischen Kirche in den „wiedergewonnenen Gebieten“ brach Kominek im August 1965, abweichend von den stark nationalistischen Attitüden anderer polnischer Bischöfe, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit das Schweigen über das deutsche Kulturerbe in den Westgebieten und bot sich seinen deutschen Amtsbrüdern als verständigungsbereiter Gesprächspartner an: „Wir bemühen uns, was sich an Gutem und Schönem aus der Vorkriegszeit erhalten hat, zu ehren […]. Wir wenden nicht den Grundsatz an: Nur für Polen […]. Wir wünschen ehrlich, dass die polnische Wirklichkeit der Westgebiete nicht nur alle Glieder unseres Volkes eint, sondern den Weg zur Verständigung und Frieden mit unserem Nachbar bahnt  – vor allem mit jenen, denen der nicht von uns heraufbeschworene Lauf der Kriegsereignisse diese Gebiete weggenommen hat.“149 Die EKD-Denkschrift wirkte als Beschleunigungsimpuls für die berühmte »Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Brüder in Christus« vom 18. November 1965, das herausragende Symbol polnisch-deutscher Versöhnung. Nachdem die Verfasser die bilaterale Geschichte Revue passieren ließen und daran erinnerten, was beide Nationen in ihrer tausendjährigen Geschichte verbunden hatte, versuchten sie sich in den Gemütszustand der „Millionen Flüchtlinge und Vertriebene[n]“ hineinzuversetzen. Erstmals wurde in einem veröffentlichten polnischen Dokument das Wort „Vertriebene“ (wypędzeni) im Hinblick auf Deutsche benutzt  – wider die übliche Sprachregelung in Polen, wo man in diesem Kontext über „Umsiedlung“ (przesiedlenie) sprach. Die polnischen Bischöfe widersprachen damit der verordneten Geschichtsdeutung, kamen den deutschen Sensibilitäten entgegen und forderten ihre Amtsbrüder mit den Worten „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ heraus. Die fällige westdeutsche Antwort auf den polnischen „Hirtenbrief“ war äußerst behutsam und zurückhaltend. Auch deutsche Bischöfe baten um Vergebung, die Frage der Gebiete östlich von Oder und Neiße wurde aber umgangen mit Verweis auf die heranwachsende Generation, die diese ebenso als 149 Zit. nach Stehle, Hansjakob: Seit 1960. Der mühsame katholische Dialog über die Grenze. In: Ungewöhnliche Normalisierung. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Polen, hrsg. von Werner Plum, Bonn 1984, S. 155–178, hier S. 159.

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Heimat betrachte wie die Vertriebenen. Christliche Liebe solle daher versuchen, „alle unseligen Folgen des Krieges in einer nach allen Seiten befriedigenden und gerechten Lösung zu überwinden“.150 Dies bot der Warschauer Regierung den Vorwand, eine Diskreditierungskampagne gegen das polnische Episkopat in Gang zu setzen: Den Bischöfen wurde die nationale Zuverlässigkeit abgesprochen, mit ihrer Stellungnahme hätten sich die Würdenträger in das politische Geschäft von Partei und Staat unzulässig eingemischt. Stefan Wyszyński zeigte sich fünf Jahr später enttäuscht gegenüber Julius Döpfner: „Nun muß ich Ihnen ganz ehrlich gestehen, daß die Antwort des deutschen Episkopats auf unseren Versöhnungsbrief nicht nur die Polen, sondern auch die Weltmeinung enttäuscht hat. Unsere so herzlich ausgestreckte Hand wurde nicht ohne Vorbehalt angenommen. Dies ist um so trauriger, als die deutschen Protestanten dem katholischen Polen in einer viel mehr evangelischen Gesinnung entgegenkommen.“151 Katarzyna Stokłosa weist in diesem Kontext auf die Tatsache hin, dass die deutsche Rezeption des Briefes besonders markant die kulturellen Differenzen zwischen den beiden Ländern illustriert. Das deutsche Episkopat las den Text möglicherweise weniger als Versöhnungsgeste, sondern vielmehr als einen Schulterschluss mit der polnischen Regierung hinsichtlich der Grenzfrage, störend wirkte auch das monokonfessionelle Selbstverständnis im Hinblick auf die Rekatholisierung der ehemaligen deutschen Ostgebiete.152 Trotz der matten Reaktion der deutschen Glaubensbrüder bewirkte der Brief aber ein Umdenken in der polnischen und deutschen Öffentlichkeit. So starteten katholische Laien private Versöhnungsinitiativen  – kleine Schritte, die allmählich ein Klima der Veränderung schufen. Das war nach zwanzig Jahren eines Unverhältnisses und eines fortdauernden Kalten Krieges nicht wenig. Überblickt man die kirchlichen Initiativen im deutsch-polnischen Annäherungsprozess der 1960er-Jahre, kann das Polenmemorandum des Bensberger Kreises, einer unabhängigen Gruppe der katholischen Friedensbewegung Pax Christi, nicht unerwähnt bleiben. Das Dokument vom 3. März 1968, verfasst unter anderen von dem Publizisten Walter Dirks, dem Theologen Karl Rahner und dem Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, Hans Heigert, war eines der ersten Projekte, das in Angriff genommen wurde aus Unzufriedenheit mit der Reaktion in Deutschland auf den Brief der polnischen Bischöfe 150 Zit. nach Stehle, Hansjakob: „Versuchen wir zu vergessen“. Warum deutsche Bischöfe nicht gleich in die Hand der Polen einschlugen. In: Feinde werden Freunde. Von den Schwierigkeiten der deutsch-polnischen Nachbarschaft, hrsg. von Friedbert Pflüger / Winfried Lipscher, Bonn 1993, S. 74–89, S. 80. 151 Ebenda, S. 81. 152 Stokłosa, Katarzyna: Polen und die deutsche Ostpolitik 1945–1990, Göttingen 2011, S. 137.

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von 1965. Die Veröffentlichung des Textes wurde rasch zum Politikum ersten Ranges: Das Plädoyer für das Recht der neun Millionen Polen auf die neue Heimat in den Westgebieten sowie eine Wiedergutmachung an den polnischen Opfern des Hitlerterrors rief innerhalb eines Jahres mehr denn tausend Pressestimmen hervor. Im Vergleich zur Denkschrift der EKD ging der Bensberger Kreis also einen Schritt weiter: Wo die Protestanten die Kriegsfolgen als ein „Gottesgericht“ zu erklären versuchten, definierten die katholischen Laien Gebietsverluste als politische Wiedergutmachung. Während das Dokument von den Vertriebenenverbänden weitgehend verrissen wurde, war seine Aufnahme in Polen überwältigend positiv. In oppositionellen Kreisen akzeptierte man das Memorandum als die erste ausreichende Antwort auf die Versöhnungsgeste des polnischen Episkopats, das Anzeichen für ein solidarisches Handeln von Katholiken beiderseits der Grenze. Der kirchliche Dialog hing mit der Polenpolitik beider bundesdeutschen Volksparteien zusammen. Die Hallstein-Doktrin vom 28. Juni 1955 machte die Beziehungen zu Polen zu einer Funktion der Deutschlandpolitik. Konrad Adenauer bemühte sich zwar mitunter in seinen öffentlichen Äußerungen, das eisige Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Polen zu erwärmen, angesichts der Haltung der Landsmannschaften und der gesamten politischen Lage kam es jedoch bis zu seinem Rücktritt 1963 zu keinem politischen Dialog mit Polen sowie mit anderen osteuropäischen Staaten (abgesehen von der Errichtung von Handelsmissionen). Obwohl ein Teil der SPD bereits seit Mitte der 1950er-Jahre die Politik der Öffnung und Verständigung gegenüber Polen anstrebte (Carlo Schmids Warschauer Reise setzte hierfür ein symbolisches Zeichen), hatte sich die SPD-Opposition im Bundestag im Juni 1960 zu einer gemeinsamen außenpolitischen Grundposition mit der Bundesregierung verpflichtet. Jene „Politik der Gemeinsamkeit“ kam unter anderem in der ostpolitischen Erklärung des Bundestages vom Juni 1961 zum Ausdruck, in der alle Parteien für eine aktive Polenpolitik plädierten, dies jedoch mit gleichzeitigen Vorbehalten bezüglich der Oder-Neiße-Grenze und der Vertreibung der Deutschen. Die SPDLandesverbände verhielten sich dagegen eher unabhängig: So entwickelte die Westberliner SPD-Spitze um Willy Brandt Konzepte einer neuen Ostpolitik, die zunächst noch die offizielle Anerkennung der DDR und der Oder-NeißeGrenze vermied, zugleich jedoch eine vorläufige Anerkennung des Status quo beinhaltete. 1963, zwei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer und nach der Kuba-Krise, suchten Willy Brandt und sein enger Mitarbeiter Egon Bahr nach Wegen, den Kalten Krieg zu überwinden. Das veränderte politische Konzept hieß „Wandel durch Annäherung“ und wurde später zum Kern der sozialliberalen Ost- und Entspannungspolitik in der Ära Brandt/Scheel. Gestützt fühlte sich Brandt durch John F. Kennedys „Strategie für den Frieden“, die

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die gemeinsamen Sicherheitsinteressen der USA und der Sowjetunion herausstellte. Das Konzept fand heftigen Widerspruch sowohl bei der Bundesregierung, den Vertriebenenverbänden als auch bei der Bonner SPD-Spitze, die durch die gewagten Pläne die postulierte Politik der Gemeinsamkeit in außerpolitischen Fragen gefährdet sah. Brandt präzisierte jedoch weiterhin seine ostpolitische Zukunftsperspektive: In einer Denkschrift vom Januar 1965 versuchte er die gutnachbarlichen Beziehungen mit osteuropäischen Staaten von der innerdeutschen Frage loszulösen. Trotz permanenter Widersprüche seitens beider Volksparteien bewirkten die von Brandt eingeleitete Politik der kleinen Schritte sowie die erwähnten kirchlichen Initiativen einen Bewusstseinswandel in der westdeutschen Öffentlichkeit. Auf dem Parteitag im Juni 1966 übernahm die SPD die von Brandt vorgezeichnete Linie. Die postulierte „Notwendigkeit von Opfern“ bezüglich der Oder-Neiße-Grenze, das „geregelte Nebeneinander“ der beiden deutschen Staaten sowie die intendierte Intensivierung der Ostpolitik lagen dann später den Verhandlungen für die Große Koalition zugrunde.153 In der Regierungserklärung von Kurt Georg Kiesinger vom Dezember 1966 hieß es: „Deutschland war jahrhundertelang die Brücke zwischen West- und Osteuropa. Wir möchten diese Aufgaben auch in unserer Zeit gerne erfüllen. Es liegt uns darum daran, das Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn, die denselben Wunsch haben, auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens zu verbessern und, wo immer dies nach Umständen möglich ist, auch diplomatische Beziehungen aufzunehmen. In weiten Schichten des deutschen Volkes besteht der lebhafte Wunsch nach einer Aussöhnung mit Polen, dessen leidvolle Geschichte wir nicht vergessen haben und dessen Verlangen, endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben, wir im Blick auf das gegenwärtige Schicksal unseres eigenen geteilten Volkes besser als in früheren Zeiten begreifen.“154 Trotz des großzügigen und vielversprechenden Diktums der Ansprache schlug sich die neue Koalitionsregierung weiterhin mit vielen politischen Tabus und Rücksichtnahmen herum, die letzten Endes keinen ostpolitischen Durchbruch ermöglichten. Während die SPD auf die Anerkennung des europäischen Status quo drängte, blieben die Christdemokraten auf den 153 Bingen, Dieter: Der lange Weg der „Normalisierung“. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen 1949–1990. In: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1949–2000. Eine Werte- und Interessengemeinschaft?, hrsg. von Wolf-Dieter Eberwein / Basil Kerski, Opladen 2001, S. 35–59, hier S. 42. 154 Kiesinger, Kurt Georg: Die Große Koalition 1966–1969. In: Reden und Erklärungen des Bundeskanzlers, hrsg. von Dieter Oberndörfer, Stuttgart 1979, S. 6–27, hier S. 12.

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Friedensvertragsvorbehalt fixiert. Der Widerspruch spiegelte sich auch in der zitierten Regierungserklärung wider: „[…] [D]ie Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands können nur in einer frei vereinbarten Regelung mit einer gesamtdeutschen Regierung festgelegt werden, einer Regelung, die die Voraussetzung für ein von beiden Völkern gebilligtes, dauerhaftes und friedliches Verhältnis guter Nachbarschaft schaffen soll.“ Die persönlichen Rivalitäten zwischen Kiesinger und Brandt hatten zur Folge, dass nicht nur die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den Ostblockstaaten, sondern auch die Behandlung der DDR in diesem Kontext zu einer unüberbrückbaren Hürde wurde. Die couragierte Ostpolitik traf in der CDU/CSU-Fraktion auf massiven Widerstand und musste von Kiesinger abgebremst werden. Nach der Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in der ČSSR im August 1968, die dem Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramm der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei unter Alexander Dubček ein Ende setzte, wurden die ostpolitischen Differenzen zwischen den Koalitionspartnern besonders scharf in die Öffentlichkeit getragen. Große Teile der CDU fanden sich in der Meinung bestätigt, dass schon der Ansatz der Entspannung verfehlt gewesen sei, und kündigten eine bewusste Rückkehr zu den Prinzipien Adenauers an. Die SPD verurteilte dagegen den Gewaltakt, forcierte jedoch weiter ihre entspannungspolitischen Bemühungen. An dieser Stelle scheint ein kurzer Exkurs zu Ereignissen des Jahres 1968 angebracht zu sein: Transzendierten die weltweiten Protestbewegungen auch die Fronten des Kalten Krieges, galt diese Zeit als gemeinsame, symbolische Chiffre unter den in Polen und in der Bundesrepublik rebellierenden jungen Leuten? Diesen Schein der Gleichzeitigkeit brachte der Aktivist Daniel CohnBendit zur Sprache: „Paris, Berlin, Frankfurt, New York, Berkeley, Rom, Prag, Rio, Mexico City, Warschau  – das waren die Stätten der Revolte, die um den gesamten Erdball ging, und Herzen und Träume einer ganzen Generation eroberte. Das Jahr 1968 war im wahrsten Sinne internationalistisch.“155 Während der Berufungsverhandlung wegen Landfriedenbruchs im Jahr 1969 sagte Cohn-Bendit bei der Feststellung seiner Personalien, er heiße nicht nur Daniel Cohn-Bendit, er heiße auch Jacek Kuroń und Karol Modzelewski. Cohn-Bendit sah sich in einer Reihe mit den beiden polnischen Sozialisten, die 1965 zu drei beziehungsweise dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden waren, sowie mit denen, die in Japan, in den USA, Spanien, Frankreich, der Tschechoslowakei und eben auch in Polen aufbegehrten: „Entweder gehören wir alle der gleichen

155 Cohn-Bendit, Daniel: Wir haben sie so geliebt, die Revolution, Frankfurt am Main 1987, S. 15.

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Bewegung an, oder die Staaten müssen nachweisen, dass sie so differenziert sind, wie sie behaupten.“156 Kuroń und Modzelewski waren bereits 1964 als Regimekritiker aufgetreten. In einem offenen Brief an die PVAP, der im Westen rasch bekannt geworden war und ihnen zuerst die Bewunderung der französischen Trotzkisten, dann auch der Antiautoritären um Cohn-Bendit eintrug, hatten sie die „Herrschaft der kommunistischen Nomenklatura über die Arbeiterklasse“ angeprangert.157 Mit ihrem Plädoyer gegen jede Form parlamentarischer Demokratie und für die direkte Volksherrschaft verkörperten Kuroń und Modzelewski den international gut erkennbaren revolutionären Mythos. Jene radikalen Forderungen, die sich gegen den westlichen Imperialismus sowie die kommunistische Bürokratie, verstanden als zwei unterschiedliche Ausprägungen des degenerierten modernen Industrialismus, richteten, sorgten vier Jahre später aus der westdeutschen (westeuropäischen) Perspektive Cohn-Bendits für die gewünschte Symmetrie zwischen den Ereignissen in Vietnam und der Intervention in der Tschechoslowakei, zwischen der Pariser Revolte und dem polnischen März. Als die amerikanische Theologiestudentin Gretchen Klotz 1964 in einem Westberliner Café einen attraktiven jungen Mann kennenlernte, wunderte sie sich, dass der gerade dabei war, Polnisch zu lernen. Er brauche das Polnische für die Doktorarbeit, an der er gerade bei Richard Löwenthal schreibe, um polnische Theoretiker im Original zu lesen.158 Letztlich verfasste der 1961 aus der DDR in den Westen übergesiedelte Alfred Rudolf Dutschke seine Dissertation zwar über Lenin, Lukács und die Dritte Internationale, sein Interesse an den Entwicklungen in Polen blieb aber zeit seines Lebens bestehen. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in Polen wurde das Jahr 1968 zum Dreh- und Angelpunkt des geschichtspolitischen Kampfes. Die langen 1960erJahre, für die 1968 symbolisch steht, waren vieles zugleich: Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, kollektive Protestidentität, internationale Sprache des Dissenses (Musik, Mode, Entstehung der Kommunen, verstärkter Drogenkonsum, Hippiekultur), Renaissance marxistischen Denkens, neue Frauenbewegung, Antikolonialismus, Antiimperialismus, aber auch Legitimation von Gewalt bis hin zum Terrorismus. Die Deutung dieser Zeit in der Erinnerungskultur fällt unterschiedlich aus. In einem „monumentalistischen“ Zugriff auf die Vergangenheit wird 1968 zu einer zweiten Gründung der 156 Mauz, Gerhard: Genosse Cohn-Bendit, hast Du gewusst? In: Der Spiegel 5 (1969), S. 33– 34, hier S. 33. 157 Kuroń, Jacek / Modzelewski, Karol: List do członków POP PZPR i członków ZMS przy UW. In:http://pracdem0.republika.pl/strony/listotwarty_kur_modz.html. 158 Dutschke-Klotz, Gretchen: Unser Leben, in: Dutschke, Rudi: Aufrecht gehen. Eine fragmentarische Autobiographie, Berlin 1981, S. 7–28, hier S. 7. Wir danken Dr. Kolja Lichy für diesen Hinweis.

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deutschen Demokratie, zu einer zweiten Stunde null mit dem dazugehörigen Pathos des Neuanfangs. Gegenüber dieser euphorischen Aufladung steht ein kritischer Zugriff, der vor dem kommunikativen Gedächtnis der Zeitgenossen warnt und ein differenzierteres Bild fordert.159 Auch das polnische 1968 hatte einen vielschichtigen, heterogenen Verlauf. Die „Märzunruhen“ begannen mit Studentendemonstrationen gegen die Absetzung des Theaterstücks »Dziady« (Totenfeier) von Adam Mickiewicz unter Regie von Kazimierz Dejmek, dessen Inszenierung antisowjetische Merkmale unterstellt wurden. Daraufhin folgten Proteste im Rahmen des Polnischen Schriftstellerverbandes, die antisemitische Volte der kommunistischen Regierung und Auswanderung Tausender Bürger jüdischer Abstammung, schließlich innerparteiliche Spannungen und Reibungsflächen. Das reale Ausmaß der Vorfälle blieb dabei in einem disproportionalen Verhältnis zu ihrem Stellenwert in der nationalen Erinnerungskultur, in der der März 1968 zum Gründungsmythos der neuen liberal-demokratischen Ordnung nach 1989 herangewachsen ist. Für eine kleine, jedoch im öffentlichen Raum sehr erfolgreiche Gruppe Warschauer Studenten (die sogenannten Ranger, Komandosi) waren die Ost-West-Parallelen von großer Bedeutung. Der von ihnen postulierte Revolutionsmythos, der bereits erwähnte »Offene Brief an die PVAP« von Kuroń und Modzelewski, wurde auch im Westen stark rezipiert. Bis heute entstand jedoch erstaunlicherweise keine history from below (Edward P. Thompson) des polnischen März. Eine solche Darstellung würde aber wahrscheinlich eher den romantisch-nationalen Insurrektionsmythos (Freiheit im Bereich der Politik und Kultur) ins Zentrum schieben. In den 1970er-Jahren wurde der Revolutionsmythos des Jahres 1968 mit der Forderung nach einer demokratischen Bürgergesellschaft gleichgesetzt. In den 1980er-Jahren kam es zu einer weiteren Umgestaltung des Märzmythos: Fortan wird das Jahr 1968 zur Zäsur im Aufbau einer liberal-demokratischen Ordnung.160 Eventuelle internationale Referenzen sind im polnischen 1968-Narrativ eher spärlich vorhanden. Zwar kamen sie in der Exilpresse (unter anderem in der Pariser Zeitschrift »Kultura«) wie selbstverständlich vor, wurden aber in späteren Darstellungen, Analysen und Memoiren immer seltener. Die Anschlussfähigkeit des polnischen März an die damaligen Ereignisse in der Bundesrepublik liegt vielleicht vor allem in der geschichtspolitischen Erinnerungskultur, und zwar in ihrer „monumentalistischen“ Version. 159 Wolfrum, Edgar: „1968“ in der gegenwärtigen deutschen Geschichtspolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 22–23 (2001), S. 28–36, hier S. 34–36. 160 Gawin, Dariusz: Potęga mitu. O stylu politycznego myślenia pokolenia Marca 1968. In: Marzec trzydzieści lat później, Bd. 1, hrsg. von Marcin Kula / Piotr Osęka / Marcin Zaremba, Warszawa 1998, S. 284–313.

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Zurück zu der bundesdeutsch-polnischen Annäherung der ausgehenden 1960er-Jahre: Auf dem Parteitag im März 1969 vollzog die SPD einen Schritt, der in der sozialliberalen Koalition eine qualitativ neue Ostpolitik ermöglichen sollte. Brandt erklärte, es sei die Realität, dass 40 Prozent der Menschen, die in ehemaligen deutschen Ostgebieten leben, schon dort geboren wurden. Niemand sei doch so vermessen, an eine neue Vertreibung zu denken. Eine weitere Realität sei es, dass das deutsche Volk die Versöhnung gerade auch mit Polen wolle und brauche, daraus ergebe sich die Anerkennung beziehungsweise Respektierung der Oder-Neiße-Linie bis zur friedensvertraglichen Regelung. Im selben Monat wurde Gustav Heinemann, der amtierende SPD-Justizminister der Großen Koalition, zum Bundespräsidenten gewählt  – ein politisches Zeichen, das von ihm selbst als „ein Stück Machtwechsel“ interpretiert worden ist. In seiner Ansprache zum 30. Jahrestag des Weltkriegsbeginns verdeutlichte Heinemann die angestrebte Revision der Polenpolitik, indem er forderte, „die alten Gräben endlich zuzuschütten, so fest, dass niemand mehr einbrechen kann. Dafür müssen die entscheidenden Voraussetzungen geschaffen werden.“161 Auch die polnische Regierung entschloss sich, eine aktivere Politik gegenüber der Bundesrepublik zu betreiben. Im Mai 1969 schlug Władysław Gomułka vor, mit Bonn Gespräche zu beginnen, die zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen führen sollten. Seine Rede bildete eine Plattform für die Grundlinien der polnischen Außenpolitik für die nächsten Jahre. Dabei ging es ihm vor allem um die endgültige Anerkennung der Westgrenze Polens durch die Bundesrepublik. Erstmals fehlten im Angebot aus Warschau bisherige Vorbedingungen zur Normalisierung bilateraler Beziehungen: die völkerrechtliche Anerkennung der DDR und des besonderen Status von Westberlin sowie ein Verzicht der Bundesrepublik auf Kernwaffen. Damit wurde die von den Warschauer Vertragsstaaten 1967 beschlossene Ulbricht-Doktrin, die besagte, die osteuropäischen Länder sollten erst dann diplomatische Beziehungen zu Bonn aufnehmen, wenn die Bundesrepublik die DDR anerkannt habe, praktisch aufgekündigt. Selbstverständlich richtete sich der Vorschlag Gomułkas an eine noch nicht existierende Regierungskoalition der SPD und der oppositionellen FDP. Natürlich war es in Warschau nicht unbekannt, dass die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung vier Monate vor den Wahlen sehr eingeschränkt war. Dass Willy Brandt als Vizekanzler und die SPD, nicht aber der Bundeskanzler und die CDU von Gomułka positiv apostrophiert worden sind, wurde 161 Zit nach Jacobsen, Hans Adolf / Tomala, Mieczysław (Hrsg.): Bonn  – Warschau 1945– 1991. Die deutsch-polnischen Beziehungen. Analyse und Dokumentation. Köln 1993, S. 195.

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in christdemokratischen Kreisen als Versuch interpretiert, einen Keil in die Koalition zu treiben und den Wahlkampf zu beeinflussen. Brandt zeigte sich dagegen von Gomułkas Rede beeindruckt und unterstrich wenige Tage später seine Bereitschaft, nach einer Lösung des deutsch-polnischen Problems zu suchen. Das Angebot Gomułkas, das weder mit der DDR noch mit der UdSSR abgestimmt war und daher in der sowjetischen Machtsphäre schwere Vorwürfe gegen die Volksrepublik Polen zur Folge hatte, brachte das erstarrte Verhältnis zur Bundesrepublik in eine Bewegung, die selbst die treue Parteipresse ins Staunen versetzte. Nur eine Achtzeilennotiz widmete die amtliche »Trybuna Ludu« am 17. Juni 1969 dem erstaunlichen Ereignis, dass Außenminister Stefan Jędrychowski den Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz als Mitglied des Vorstands der Bonner SPD zu einem Gespräch empfing. Auch die Reise bundesdeutscher Prominenz zur Posener Messe, darunter zum ersten Mal auch Staatssekretäre, und ihre Unterredungen mit dem polnischen Außenhandelsminister fanden nach außen kaum mehr als protokollarische Beachtung. Das Klima in Polen hatte sich aber verändert: Diplomaten, Publizisten und Parteifunktionäre, manche von ihnen gerade als Nachwuchs in wichtige Staatsstellen aufgerückt, bemühten sich um ein differenziertes Bild der Bundesrepublik, suchten und fanden Anknüpfungspunkte. Mit den Ergebnissen der Bundestagswahl vom 28. September 1969 wurde der von Heinemann prognostizierte Machtwechsel vollzogen: Willy Brandt und Walter Scheel verständigten sich darauf, eine Koalition zu bilden, und begründeten das sozialliberale Bündnis. Diese neue Koalition verstand sich als Garant für eine neue Ära der Ost- und Polenpolitik. Am 21. Oktober 1969 wurde Brandt erster sozialdemokratischer Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. In der Regierungserklärung wurde die gesamte Außenpolitik, die noch bei Kiesinger fast die Hälfte des Dokuments ausmachte, auf wenige Formeln zusammengedrängt. Daraus ließ sich freilich kaum folgern, dass die Außenpolitik, darunter vor allem die Ostpolitik, in diesem Kabinett stiefmütterlich behandelt werden würde. Die Opposition reagierte gereizt auf Brandts Worte. Dieser hatte ausgeführt: „Unser nationales Interesse erlaubt es nicht, zwischen dem Westen und dem Osten zu stehen. Unser Land braucht die Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Westen und die Verständigung mit dem Osten. Aber auf diesem Hintergrund sage ich mit starker Betonung, daß das deutsche Volk Frieden braucht  – den Frieden im vollen Sinne des Wortes  – auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens.“ 162 162 Brandt, Willy: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung. In: Deutscher Bundestag. 5. Sitzung, 28. Oktober 1968, Bonn 1968, S. 20–33, hier S. 33.

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In einer Reihe von geplanten Entscheidungen fand sich unter anderem ein Vorschlag zur Aufnahme von Gesprächen mit der Regierung der Volksrepublik Polen, mit dem die Bundesregierung „die Ausführungen Władysław Gomułkas vom 17. Mai dieses Jahres beantwortet“. Laut Protokoll wurden Brandts Entwürfe zur Polenpolitik sowie weitere Klärungen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen durch „das Lachen der CDU/CSU“ und „höhnische Zurufe“ begleitet.163 Die Reaktion bei den osteuropäischen Adressaten war aber zunächst außerordentlich positiv. Bald danach begannen die Außenminister der sieben Warschauer-Pakt-Staaten, ihre Haltung zu dieser Politik zu definieren. Anfang November 1969 erklärte der Sprecher der sowjetischen Regierung bei einem Zusammentreffen in Prag, dass einzelne Punkte der Erklärung Willy Brandts zweifellos Aufmerksamkeit verdienten. So rasch waren aus dem Osten zuvor noch nie Reaktionen auf Bonner Erklärungen eingegangen. Auch Polen wartete auf eine Zäsur in den bilateralen Beziehungen und stempelte nun die CDU/CSU zum Sündenbock für den bisherigen Zustand. Brandts politischer Rhythmus duldete keine Verzögerungen: Anfang Dezember 1969 begannen in Moskau die ersten Gespräche über einen deutsch-sowjetischen Gewaltverzicht, Anfang Februar 1970 in Warschau Verhandlungen über einen Gewaltverzichtsvertrag mit Polen. Die Zeit des vorsichtigen und mühsamen Tastens ging zu Ende, Brandt und seine polnischen Partner schrieben ein neues Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte.

163 Ebenda.

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5. Annäherung, Stagnation, Systemdestabilisierung. Westdeutschland und Polen zwischen 1970 und 1989

Die Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und Polen waren Ende der 1960er-Jahre im Zuge der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung aufgenommen worden (→ S. 104–106). Parteichef Gomułka, der die neue Phase von polnischer Seite mit einer Rede im Mai 1969 eingeleitet hatte, glaubte, sich eine gewisse außenpolitische Sonderrolle im Sowjetblock gesichert zu haben, um bilaterale Gespräche ohne ausdrückliche Billigung der Kremlführung zu führen.164 In Wirklichkeit mussten die deutsch-polnischen Verhandlungen den Kontakten zu Moskau sichtbar untergeordnet sein. Auch das Verhältnis zu Ostberlin hatte in Bonn größeres Gewicht als das zu Warschau. Der Moskauer Vertrag zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik vom 12. August 1970 mit seiner Anerkennung der Grenzen inklusive der Oder-Neiße-Grenze und dem gegenseitigen Gewaltverzicht nahm im Grunde bereits all das vorweg, was im Dezember des gleichen Jahres in Bezug auf das westdeutsch-polnische Verhältnis vereinbart werden sollte. Der moralische Aspekt der deutschen Kriegsschuld spielte jedoch in Bezug auf Polen eine mindestens genauso wichtige Rolle wie in Bezug auf die Sowjetunion oder später die Tschechoslowakei. Während es Polen in erster Linie um die Sicherung seiner Westgrenze durch Bonn (und nicht nur durch Moskau oder Ostberlin) ging, stellten auf der bundesdeutschen Seite humanitäre Überlegungen eine nicht zu vernachlässigende Komponente dar. Als während der Warschaureise Bundeskanzler Brandts der Vertrag am 7. Dezember 1970 unterzeichnet wurde, war seinen fünf Artikeln eine „Information der Regierung der Volksrepublik Polen“ beigefügt. Darin erklärte sich diese bereit, „Maßnahmen zur Lösung humanitärer Probleme“ zu vereinbaren, also die Zusammenführung getrennter Familien zu ermöglichen.165 Begleitet wurde die Öffnung von diversen gesellschaftlichen Signalen. Die Evangelische Akademie Loccum etwa veranstaltete im November 1970 eine hochrangig besetzte 164 Jarząbek, Wanda: Polska Rzeczpospolita Ludowa wobec polityki wschodniej Republiki Federalnej Niemiec w latach 1966–1976, Warszawa 2011, S. 268–270. 165 Vertragstext und Erklärung nach Jacobsen, Hans-Adolf / Tomala, Mieczysław (Hrsg.): Bonn  – Warschau 1945–1991, Köln 1992, S. 222–224.

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I. Überblick

binationale Tagung zu den politischen, wirtschaftlichen, juristischen und kulturellen Aspekten der Beziehungen und der »Internationale Frühschoppen« des WDR, ein Aushängeschild des deutschen Fernsehens in Sachen Diskussion über Politik, lud den Journalisten Mieczysław Rakowski ein, der nach einigen parteiinternen Diskussionen darüber, ob es opportun sei, in westdeutschen Medien aufzutreten, und ob der gemäßigte Rakowski der am besten geeignete Gesprächspartner hierfür sei, auch teilnehmen durfte.166 Zeitgenössische Beobachter aus Polen waren von der Entwicklung gleichwohl überrascht und äußerten mitunter sogar Skepsis. Der Schriftsteller Jarosław Iwaszkiewicz weilte im November 1970 als Gast bei einem Kongress des Verbandes Deutscher Schriftsteller in Stuttgart. Obwohl seit seiner Jugend eng mit der deutschen Kultur verbunden, hatten ihn, wie viele Polen, die Erfahrungen des Krieges vorsichtig gemacht. Nun traf er zum ersten Mal Willy Brandt und war von ihm  – anders als von seinen Schriftstellerkollegen Böll, Grass und Walser  – fasziniert: „Er schien mir sehr sympathisch und menschlich zu sein. Etwas zu menschlich für einen Premier, noch dazu einen deutschen. Mir scheint, dass seine Regierung nicht lange dauern wird. Aber den Vertrag wird es geben, und das ist wichtig.“167 Im kollektiven Gedächtnis haften geblieben ist nicht so sehr die Vertragsunterzeichnung in Warschau, die neben Brandt der polnische Ministerpräsident Cyrankiewicz sowie die beiden Außenminister Scheel und Jędrychowski vornahmen, sondern eine spontane Geste des Kanzlers.168 In der allgemeinen Wahrnehmung im Abstand von fünfzig Jahren bedeutete Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal für die Opfer des Ghettoaufstands den entscheidenden Wendepunkt in den bilateralen Beziehungen nach 1945 (→ S. 218). Was die emotionale und langfristige Wirkung angeht, ist dies sicher auch zutreffend. Für die Zeitgenossen war dies aber so nicht absehbar. Dies gilt nicht nur für die Ende 1970 in der Bundesrepublik Deutschland umstrittene und in Polen (und der DDR) totgeschwiegene herausragende Geste des Bundeskanzlers, sondern auch für den Vertrag, dessen Ratifizierung sich durch Rücksichtnahme auf den Vorrang der Beziehungen zur Sowjetunion einerseits, durch innenpolitische Konflikte in der Bundesrepublik andererseits über Jahre hinzog. Brandts 166 Bolewski, Hans (Hrsg.): Deutsch-Polnisches Gespräch. Tagung vom 13.–16.11.1970, Loccum 1970; Rakowski, Mieczysław F.: Dzienniki polityczne Bd. 4 (1969–1971), Warszawa 2001, S. 262/263. 167 Iwaszkiewicz, Jarosław: Dzienniki 1964–1980, Warszawa 2011, S. 269 (Eintrag für den 23.11.1970). 168 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (7.12.1970), in: http:// www.documentArchiv.de/brd/1970/ warschauer-vertrag.html (15.12.2019).

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Kniefall wurde über die Jahrzehnte mit Bedeutung aufgeladen. Dazu trug in erster Linie die Berichterstattung linksliberaler westdeutscher Medien bei. Der »Spiegel« brachte den Symbolcharakter auf den Punkt: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien  – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. […] Dann kniet er da für Deutschland.“169 Eine vom Allensbacher Institut durchgeführte repräsentative Blitzumfrage zeigte die Brisanz. Danach hielten nur 41 Prozent der Befragten Brandts Kniefall für angemessen, 48 Prozent für übertrieben.170 Es ist Brandt abzunehmen, dass sein Verhalten nicht geplant war und deshalb auch mit niemandem abgesprochen sein konnte. Das Überraschende, Verblüffende machte und macht sicherlich den Reiz jenes Kniefalls aus. Aber erst im Laufe der Zeit erhielt er seine heute allgegenwärtige ikonische Bedeutung.171 Bei der Kritik an der Regierung Brandt/Scheel vonseiten der Bonner Opposition ging es zumindest teilweise um das Wählerpotenzial der Vertriebenen. Einige führende Vertreter der Verbände hatten infolge der brandtschen Ostpolitik die SPD verlassen. Der Bundeskanzler verlor dadurch die parlamentarische Mehrheit im Bundestag. Das daraufhin von der CDU/CSU-Opposition im April 1972 initiierte konstruktive Misstrauensvotum hätte vermutlich zur Wahl ihres Kandidaten Rainer Barzel geführt, wenn nicht die Stasi mutmaßlich zwei Unionsabgeordnete bestochen hätte.172 Als der Bundestag am 17. Mai 1972 den Moskauer und den Warschauer Vertrag ratifizierte, erfolgte dies bei Enthaltung des weit überwiegenden Teils der Opposition, ohne die das Ergebnis angesichts der durch die Parteiwechsler nicht mehr vorhandenen Mehrheit der SPD/FDP-Regierung äußerst knapp geworden wäre.173 Die Tatsache, dass die Ostverträge (und alle Folgeabkommen) den Bundesrat passieren mussten, bot der Opposition, die in ihm die Mehrheit hatte, erhebliche Eingriffsmöglichkeiten. Es stellte sich allerdings rasch heraus, dass, von der Frage der Ausreisemöglichkeiten für in Polen lebende Deutsche einmal abgesehen, die Vertreter von CDU und CSU nicht immer identische Interessen verfolgten. Es muss dennoch letztlich überraschen, dass eine breite parlamentarische Mehrheit sowohl den Ostverträgen als auch dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen von 1975 nicht im Wege stand. Im ersten Fall 169 Ein Stück Heimkehr, in: Der Spiegel 51 vom 14.12.1970. 170 Kniefall angemessen oder übertrieben?, in: ebenda. 171 Kulturwissenschaftlich ausführlich analysiert bei Schneider, Christoph: Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung, Konstanz 2006. 172 Ein definitiver Beweis hierfür liegt bisher allerdings nicht vor. Vgl. dazu Grau, Andreas: Auf der Suche nach den fehlenden Stimmen 1972. Zu den Nachwirkungen des gescheiterten Misstrauensvotums, in: Historisch-Politische Mitteilungen 16 (2009), S. 1–17. 173 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 72 vom 18.5.1972.

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dürfte die Kombination von internationalem Druck und die Erwartung einer baldigen erneuten Regierungsübernahme im Bund nach den Neuwahlen vom Herbst 1972 zur Enthaltung der meisten CDU/CSU-Abgeordneten des Bundestags beigetragen haben. Im zweiten Fall ließen sich die Vertreter der unionsregierten Bundesländer im März 1976 vom Parteivorsitzenden Helmut Kohl und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht überzeugen, mit Ja zu stimmen.174 Beides folgte überwiegend taktischen Überlegungen und sollte nicht mit einem grundlegenden Interesse oder tiefer Sympathie für Polen verwechselt werden. Der Konflikt um die Ostpolitik symbolisierte letztlich die Spaltung der Gesellschaft. Er fand seinen Widerhall in allen Lebensbereichen und reichte mitunter bis in die Familien hinein. Es zeigte sich aber, dass immer mehr Menschen den Geist des Aufbruchs nutzen und Kontakte nach Polen knüpfen wollten. Je weiter sich der Zweite Weltkrieg entfernte, desto weniger Deutsche waren willens, sich die Zukunft von den Wünschen und Erwartungshaltungen der ehemaligen Bewohner des alten Ostdeutschlands diktieren zu lassen. Dies stellte zweifellos einen deutlichen Unterschied zu Polen dar, wo bis zum heutigen Tage die Erfahrungen des Krieges und ihre Weitergabe an die nächsten Generationen den öffentlichen Diskurs im Allgemeinen und die Beziehungen zu Deutschland im Besonderen entscheidend prägen. Dennoch wuchs auch hier die Bereitschaft zu einer allmählichen Annäherung im Rahmen der Europa teilenden politischen Ordnung, wobei die Gründe hierfür sicherlich differierten. Im Vordergrund standen am Ende der 1960er-Jahre die Frage der endgültigen Grenzanerkennung und die drängenden ökonomischen Probleme. In jedem Falle wurden nun vermehrt institutionelle Kontakte geschaffen und vertieft, der Austausch in den Bereichen Wirtschaft, Kultur und Sport fand beträchtlichen Widerhall, auch wenn bestimmte, die Vergangenheit betreffende heikle Themen oft ausgeblendet wurden.175

174 Buchstab, Günter: Einleitung, in: Barzel: „Unsere Alternativen für die Zeit der Opposition”. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1969–1973, hrsg. von dems., Düsseldorf 2009, S. VII–XXXV, insbes. S. XIX–XXIV; BA Koblenz, B/136/30442: Bundeskanzleramt, Deutsch-Polnische Vereinbarungen (darin auch Reaktionen aus der Bevölkerung). Zu den bis zuletzt schwierigen Verhandlungen und diversen Änderungswünschen siehe auch ADAP 1976, hrsg. von Matthias Peter und anderen, München 2007, Nr. 75: Botschafter Hans-Hellmuth Ruete, Warschau, an das Auswärtige Amt vom 8.3.1976, S. 356– 360. Vgl. Szatkowski, Tim: Die CDU/CSU und die deutsch-polnischen Vereinbarungen vom Oktober 1975. Humanität oder Konfrontation?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011) 1, S. 53–78. 175 Grundlegend zu diesem Thema Pick, Dominik: Ponad żelazną kurtyną. Kontakty społeczne między PRL i RFN w okresie détente i stanu wojennego, Warszawa 2016.

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Für Polen ging es nach der Anerkennung seiner Westgrenze seit den 1970er-Jahren in erster Linie um eine Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen. Zwar war man über das arbeitsteilige System des RGW in die Strukturen der sozialistischen Staaten weitgehend eingebunden, damit ließen sich aber zahlreiche offene Fragen, insbesondere die materiellen Erwartungshaltungen der eigenen Bürger, nur sehr ungenügend beantworten. Versuche, die Westkontakte auszubauen, hatte es parallel zur Abkehr von der fast ausschließlichen Förderung der eigenen Schwerindustrie nach 1956 verschiedene gegeben, ohne dass die Ergebnisse etwa im Import-Export-Bereich ein bestimmtes Level übersteigen konnten und durften. Immerhin hatte sich der Anteil der Bundesrepublik am polnischen Außenhandel zwischen 1950 und 1970 von 2,5 Prozent bei Importen und 2,2 Prozent bei Exporten auf vier beziehungsweise 5,1 Prozent in etwa verdoppelt (während der Anteil der DDR beim Import auf hohem Niveau stagnierte und beim Export deutlich zurückging [11,5 % zu 11,1 % beziehungsweise 13,9 zu 9,3 %]).176 Die mit großem Schwung angekündigte Wende hin zu einer deutlichen Verbesserung der individuellen Lebensbedingungen als Gegenleistung zur eingeforderten gesellschaftlichen „Tolerierung“ des politischen Systems schien für den neuen Parteichef Edward Gierek nur zu realisieren zu sein, wenn der westliche Kreditrahmen einerseits deutlich ausgeweitet und die Importe von Maschinen und Konsumgütern sichtbar aufgestockt werden würde. Gierek konnte zwar zu Beginn seiner Herrschaft auf eine gewisse Unterstützung der Bevölkerung zählen, während sein Vorgänger Gomułka an der mangelnden Akzeptanz der massiven Preiserhöhungen für Lebensmittel gescheitert war. Letztlich ließ die Beibehaltung des planwirtschaftlichen Systems in Kombination mit diversen Problemen der Weltwirtschaft wie der ersten Ölkrise 1973 es aber nicht zu, das angestrebte Kopieren westlicher Aufstiegsphänomene nach dem Zweiten Weltkrieg zu realisieren. Die Handelsbilanz zur Bundesrepublik entwickelte sich aus polnischer Sicht immer negativer, dem Einkauf zu Marktpreisen stand weder eine verbesserte Konkurrenzfähigkeit noch ein erzielter Mehrwert durch den Weiterverkauf im sozialistischen Wirtschaftsraum gegenüber, um nur einige zentrale Punkte zu nennen. Die Ausführungen des stellvertretenden Vorsitzenden der Zentralen Planungskommission Janusz Hrynkiewicz über die Erfolge der wirtschaftlichen Entwicklung (überdurchschnittlich hohe jährliche Wachstumsraten und Einkommenszuwächse, Verdoppelung des Nationaleinkommens usw.) entsprachen Mitte des Jahrzehnts zwar den Realitäten, vom rapide steigenden Handelsdefizit war aber ebenso 176 Bożyk, Paweł / Wojciechowski, Bronisław: Handel zagraniczny Polski 1945–1969, Warszawa 1971, S. 137–181.

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wenig die Rede wie von den infolge der Massenproteste von 1976 zurückgenommenen Preiserhöhungen. Zwischen 1970 und 1979 stieg die polnische Nettoverschuldung in westlichen Ländern von 0,8 auf 20,1 Milliarden USDollar, allein in Bezug auf die Bundesrepublik betrug sie über sechs Milliarden Dollar.177 Auf deutscher Seite hielt sich das Misstrauen in Grenzen. Industrie und Handel profitierten in jenen Jahren von den polnischen Einkaufstouren. Das unternehmerische Risiko erschien dabei zunächst gering. Der Vorsitzende des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, Otto Wolff von Amerongen, bezeichnete noch 1977 die Perspektiven für die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen als gut.178 Drei Jahre später waren diese Illusionen wie Seifenblasen zerplatzt. Die Streiks und die Versorgungskrise der Jahre 1980/1981 sowie die Verhängung des Kriegszustands mit den darauffolgenden Sanktionen beendeten die Phase der engen Zusammenarbeit und bereiteten den beinahe völligen Zusammenbruch der polnischen Wirtschaft in den 1980er-Jahren vor, dessen Hauptursache freilich in der rasant wachsenden Auslandsverschuldung zu suchen war. Erst gegen Ende des Jahrzehnts begann sich unter dem Eindruck der eingeleiteten marktwirtschaftlichen Reformen die wirtschaftliche Verflechtung wieder zu vertiefen.179 Es gilt allerdings zu berücksichtigen, dass im informellen ökonomischen Bereich auf privater Basis durchaus Geschäfte gemacht werden konnten, selbst wenn sie keine größere volkswirtschaftliche Dimension hatten, etwa über die Verwendung von Devisen durch polnische Staatsbürger, die diese bei Arbeitsaufenthalten oder von Verwandten im Westen erhalten hatten. Eine wichtige Rolle bei der Vertiefung der Kontakte spielten auf deutscher Seite schon in den 1970er-Jahren Städte und Gemeinden, Vereine, Kirchen und Gewerkschaften. Während die (wenigen) deutschen Initiativen zu Städtepartnerschaften mit Polen in den 1970er-Jahren aus den Kommunen selbst kamen oder von Bundespolitikern ausgingen, die mit bestimmten Städten eng verbunden waren, erfolgte die polnische Bereitschaft auf Weisung des dortigen Außenministeriums und war daher nicht lokal gesteuert. Zudem war 177 Bolz, Klaus: Bilaterale Außenwirtschaftsbeziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland, in: Osteuropa 38 (1988), Nr. 7/8, S. 698–710, hier S. 707. 178 Füllenbach, Josef / Klein, Franz Josef (Hrsg.): Bonn und Warschau. 1. Forum Bundesrepublik Deutschland  – Volksrepublik Polen (vom 13. bis 16. Juni 1977 in Bonn). Berichte und Dokumente. Bonn 1977, S. 58/59 und 71.  – Zur Rolle des Ostausschusses in den Beziehungen zu den COMECON-Staaten zwischen 1970 und 1989 siehe Jüngerkes, Sven: Diplomaten der Wirtschaft. Die Geschichte des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Osnabrück 2012, S. 209–273. 179 Zu branchenspezifischen Details der Wirtschaftsbeziehungen siehe Misala, Józef: Polsko-niemieckie powiązania gospodarcze w XX wieku, Warszawa 1992, S. 96–154.

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bei manchen Initiativen für die deutsche Seite nicht klar, wo in Warschau die jeweiligen Entscheidungsträger saßen, die häufig vor allem an Symbolpolitik interessiert waren. Und doch entwickelten sich in vielen Fällen Verbindungen, die über die Jahre der Solidarność, des Kriegsrechts und des demokratischen Umbruchs von 1989 hinweg hielten. Der ersten westdeutsch-polnischen Verbindung, die 1976 Bremen und Danzig schlossen, folgten einige weitere, darunter die von Göttingen und Thorn 1978, Hannover und Posen 1978 sowie Nürnberg und Krakau 1979.180 Ihnen lag eine zwischenstaatliche Vereinbarung zugrunde, dennoch erwiesen sich die Detailverhandlungen als äußerst kompliziert.181 Dagegen wurde zum Beispiel der Wunsch Stuttgarts, sich mit Lodz zu verschwistern, 1979 abgelehnt, ohne dass die Lodzer kommunalen Organe gefragt wurden. Dabei ging das gegenseitige Interesse auf eine Zusammenarbeit des Stuttgarter Stadtjugendrings mit dem Sozialistischen Studentenverband in Lodz zurück, die seit 1976 existierte; erst 1988 war eine offizielle Vereinbarung hier dann möglich.182 Zwischen Städten in der DDR und Polen gab es teilweise bis in die 1950er-Jahre zurückreichende Partnerschaften, eine Beteiligung der Bevölkerung war hier aber nicht zwangsläufig vorgesehen.183 In den Jahren unmittelbar vor der politischen Wende in Polen spielten politische Bedenken gegenüber der Bundesrepublik dagegen kaum noch eine Rolle. Zentrale Akteure der Partnerschaften jenseits der politischen Organe waren auf deutscher Seite oftmals die lokalen deutsch-polnischen Gesellschaften, die die vertraglichen Regelungen mit Leben füllen wollten. Zwar gab es schon seit 1950 mit der Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft, die später in Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland umbenannt wurde, eine solche Einrichtung, sie stand jedoch ideologisch der DKP und der polnischen Staats- und Parteiführung nahe (→ S. 80–81, 167–168). Unmittelbar nach 1970 entstanden dagegen vor allem in Norddeutschland aus der Bürgerschaft der Städte heraus diverse Vereine, die das Wissen über Polen erweitern wollten (Hamburg und Kiel 1972, Lübeck, Bad Segeberg, Norderstedt, Berlin jeweils 180 Vgl. Loew, Peter Oliver / Łada, Agnieszka (Hrsg.): Suchen, was uns verbindet. Entwicklung, Chancen und Herausforderungen deutsch-polnischer Städtepartnerschaften, Darmstadt / Warszawa 2020. 181 Vgl. zum Beispiel Bremen Koschnick, Hans: Von den Schwierigkeiten einer deutschpolnischen Städtepartnerschaft, in: Feinde werden Freunde, hrsg. von Friedbert Pflüger / Winfried Lipscher, Bonn 1993, S. 160–167. 182 Łódź  – Stuttgart. StädtePartner in Europa, Stuttgart 2003. 183 Pieper, Markus: Parteiauftrag: Städtepartnerschaft. Kommunalpartnerschaften zwischen Polen und der DDR und ihre Transformation nach 1989 = Partyjne zlecenie: partnerstwo miast. Partnerstwa komunalne między Polską a  NRD i  ich transformacja po 1989 roku, Berlin 2020.

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1973, München 1974, Bremen 1975). Ab 1974 gab es eine lose Zusammenarbeit, die in den 1980er-Jahren als Arbeitsgemeinschaft Deutsch-Polnische Verständigung und seit den 1990er-Jahren als Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband bis heute weitergeführt wurde.184 Auch einige Hochschulen vereinbarten in den späten 1970er-Jahren Partnerschaften, darunter die Universität Warschau mit Bonn und Tübingen, die Universität Lodz mit Gießen  – hier waren Wirtschaftswissenschaftler die Protagonisten185  – und die Hochschule Bremerhaven mit der Akademie der Handelsmarine in Gdingen bereits 1978. Kontakte auf Studentenebene reichten sogar weiter zurück. Verflechtungen auf anderer Ebene lagen diesen häufig zugrunde. So initiierte der Gießener Politikwissenschaftler Gottfried Erb, einer der Mitbegründer des Bensberger Kreises, ab 1975 Exkursionen nach Polen;186 sein Kollege Erich Dauzenroth rief 1973 zusammen mit anderen die Internationale Korczak-Vereinigung ins Leben187, die Naturwissenschaftler der Bochumer Ruhr-Universität konnten bei ihren Kontakten zur JagiellonenUniversität Krakau an Verbindungen anknüpfen, die schon in den 1960erJahren der Krupp-Generalbevollmächtigte Berthold Beitz vermittelt hatte.188 In jener Zeit schien es ganz so, als ob einer „Normalisierung“ des Verhältnisses zu Polen in politischer Hinsicht kaum mehr etwas im Wege stünde.189 Die Bundesrepublik war in den 1970er-Jahren mit ganz anderen Fragen beschäftigt. Der Schock der Ölkrise und erste Spannungen innerhalb der viel gerühmten Sozialpartnerschaft belasteten die Wirtschaft, die Radikalisierung 184 Reche, Roland / Riechers, Albrecht / Schröter, Christian: Von der Arbeitsgemeinschaft Deutsch-Polnischer Gesellschaften in Norddeutschland zur Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband, in: Dialog der Bürger, hrsg. von Albrecht Riechers / Christian Schröter / Basil Kerski, Osnabrück 2005, S. 159–167. 185 Bohnet, Armin / Beck, Martin: Lodz  – Gießen. Zur Genese einer Partnerschaft, in: UniForum der Justus-Liebig-Universität Gießen 3 (1988), Nr. 3, S. 1–3. 186 Erb, Gottfried: Schritte aus der Vergangenheit. Bemerkungen zu den polnisch-deutschen Beziehungen, in: Spiegel der Forschung 21 (2004), Nr. 1/2, S. 22–27, 187 Zu diesem wenig erforschten Kapitel deutsch-polnischer Kontakte siehe Dauzenroths umfangreichen Nachlass, der als Depositum im Collegium Polonicum in Słubice aufbewahrt wird. 188 http://www.pm.ruhr-uni-bochum.de/pm2009/msg00423.htm (19.11.2019). 189 Die Formulierung von einer Schaffung von „Grundlagen einer Normalisierung“ entstammte dem Vertragstext von 1970. Was sich im Detail dahinter verbirgt, ließe sich angesichts der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs kritisch diskutieren. Allerdings scheint die Kritik an diesem Begriff aus der Sicht des 21. Jahrhunderts überzogen, auch wenn sich die  – mitunter übertriebenen  – Erwartungen nach der Euphorie von 1970 in den Folgejahren so nicht erfüllen ließen und das gegenseitige Misstrauen im Grunde bis 1989 bestehen blieb. Zur Kritik an den Beziehungen der 1970er-Jahre siehe unter anderem die Beiträge von Peter Bender und Dieter Bingen in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2005), Nr. 5/6, S. 3–9 und 9–17.

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eines kleinen Teils der Nach-1968er-Bewegung rückte die Frage der inneren Sicherheit in den Vordergrund, am stärksten zugespitzt im Deutschen Herbst von 1977. Die polnischen offiziellen Anstrengungen, als eigenständiger und gleichberechtigter Akteur wahrgenommen zu werden, fielen kaum auf fruchtbaren Boden. Am ehesten gelang dies noch im Bereich von Kunst und Kultur, wo eine Reihe von Projekten zustande kam, die auch in der Öffentlichkeit auf lebhafte Reaktionen stießen. In insgesamt 24 Städten fanden in den 1970erJahren sogenannte Polnische Wochen statt, darunter auch in kleineren Gemeinden wie Biberach (1973), Ingelheim (1978) oder Schwäbisch Hall (1977).190 Aus finanziellen Gründen war die Anzahl westdeutscher kultureller Veranstaltungen in Polen dagegen deutlich geringer. Das grundsätzliche Interesse und die Bereitschaft, sich weiter zu öffnen, waren aber durchaus vorhanden. Dazu gehörte auch, dass in den 1970er-Jahren insgesamt 29 Deutsche mit der Medaille für Verdienste um die polnische Kultur ausgezeichnet wurden, als Erste die Übersetzer Klaus Staemmler und Hermann Buddensieg (→ S. 169–172).191 Im Bereich der Kirchen waren die entscheidenden Weichen zweifellos in den 1960er-Jahren gestellt worden (→ S. 93 ff). Während nun die deutschen evangelischen Kirchen ihr Engagement in Bezug auf Polen weitgehend auf soziale Fragen konzentrierten, intensivierten sich die Kontakte innerhalb der katholischen Kirche weiter. Zweifellos hegten auch hier führende deutsche Bischöfe weiterhin ein gewisses Misstrauen gegen manche ihrer polnischen Mitbrüder, insbesondere gegen Primas Wyszyński. Andere aber waren bereit, die neuen Wege mitzugehen, die vor allem Pax Christi und der Bensberger Kreis vorbereitet hatten, allen voran der Münchener Erzbischof Julius Döpfner, der sich schon 1960 für eine deutsch-polnische Versöhnung ausgesprochen hatte.192 Von Vorteil waren dabei einerseits die Kontakte, die sich nun zur polnischen Znak-Gruppe entwickelten, und andererseits die mit Unterstützung deutscher Kardinäle erfolgte Wahl des Krakauer Kardinals Karol Wojtyła zum Papst. Zwei Vertreter des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) gehörten zur Delegation Willy Brandts im Dezember 1970 und 1972 kam nicht nur eine offizielle Znak-Delegation mit Stanisław Stomma und der 190 Lipscher, Winfried: Kulturelle Zusammenarbeit: Bundesrepublik Deutschland-Volksrepublik Polen. Darmstadt 1982, S. 86. 191 Ebenda, S. 277. 192 Döpfner, Julius Kardinal: Friede zwischen Polen und Deutschland. Hedwigspredigt, gehalten in St. Eduard zu Berlin-Neukölln am 16.10.1960, abgedruckt in: Lehmann, Reinhold (Hrsg.), Verständigung und Versöhnung mit Polen. Dokumente zum Beitrag der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland 1970–1977, Mettmann 1977, S. 12–17; Stempin, Arkadiusz: Das Maximilian-Kolbe-Werk. Wegbereiter der deutschpolnischen Aussöhnung 1960–1989, Paderborn / München / Wien / Zürich 2006, S. 68– 150.

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Führung der Krakauer Wochenzeitung »Tygodnik Powszechny« erstmals in die Bundesrepublik, sondern führte auch die deutsche Sektion von Pax Christi in Erweiterung ihrer Aktivitäten aus den 1960er-Jahren gemeinsam mit Znak ein erstes Seminar in Auschwitz durch.193 Schwierig waren diese Verbindungen vor allem deswegen, weil sich viele deutsche Katholiken nicht nur mit den Ostverträgen schwertaten, sondern auch mit der als deren Konsequenz vom Vatikan vorgenommenen kirchenrechtlichen Neuordnung der Bistümer in den ehemals deutschen Gebieten jenseits von Oder und Neiße. Diese mit der Bulle »Episcoporum Poloniae coetus« durch Papst Paul VI. am 28. Juni 1972 in Kraft getretene Einsetzung offizieller polnischer Bischöfe anstelle der bisherigen Apostolischen Administratoren goss zwar lediglich den De-facto-Zustand in juristisch klarere Formen, dennoch löste sie im Umfeld der deutschen Vertriebenen und des aus den ehemaligen Ostgebieten stammenden Klerus negative Reaktionen aus, denen die deutschen Bischöfe Rechnung tragen mussten, obwohl sie sich traditionell öffentlich nicht zu politischen Fragen äußerten. Dagegen waren die polnischen staatlichen wie kirchlichen Stellen damit hochzufrieden.194 Allerdings riss in den Folgejahren der Gesprächsfaden zwischen deutschen und polnischen Bischöfen nie ab, obwohl der wichtigste Fürsprecher einer Aussöhnung, der Breslauer Kardinal Kominek (→ S. 97), 1974 gestorben war. In seine Rolle wuchs allmählich Kardinal Wojtyła hinein, der als Bewunderer der Philosophie Edmund Husserls und des Sozialkatholizismus trotz der Erfahrungen als Fabrikarbeiter und Untergrundstudent in Krakau während des Krieges eine recht positive Haltung zu Deutschland einnahm. Während diverser Besuche, darunter anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Mainz 1977, wurden die Kontakte vertieft. Im Frühherbst 1978 reiste eine Delegation der Polnischen Bischofskonferenz zu einem offiziellen Besuch in die Bundesrepublik. Aufgesucht wurden Orte, die Deutsche und Polen im religiösen Sinne verbinden: Fulda als Grablege des „Deutschen-Apostels“ St. Bonifatius und Sitz der Deutschen Bischofskonferenz, Köln mit seinen bis ins Mittelalter zurückreichenden Verbindungen nach Polen, der Marienwallfahrtsort Neviges als Treffpunkt mit der deutschen Polonia, München mit dem Grab Kardinal Döpfners, Dachau als Symbol des polnischen Martyriums im Zweiten Weltkrieg  – vor allem in Gestalt der im dortigen Konzentrationslager inhaftierten und umgekommenen katholischen Priester  – und Mainz mit der Beisetzungsstätte von Bischof Emmanuel 193 Voßkamp, Sabine: Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945–1972, Stuttgart 2007. 194 Masalski, Robert: Bulla Episcoporum Poloniae coetus  – Geneza i konsekwencje, in: Kościół w Polsce. Dzieje i kultura. Bd. 12, hrsg. von Jan Walkusz, Lublin 2013, S. 145–157.

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Ketteler.195 In der schwierigen Situation des Konklaves vom Oktober 1978 nach dem kurzen Intermezzo des plötzlich verstorbenen Johannes Paul I., das zur Papstwahl Johannes Pauls II. führte (und drei Jahre später zur Ernennung des Münchner Kardinals Joseph Ratzinger zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre), war dieses gewachsene Vertrauensverhältnis für beide Seiten hilfreich.196 Auch auf dem Feld der Wissenschaft und der kulturellen Zusammenarbeit häuften sich in den 1970er-Jahren die Initiativen. Von besonderer Bedeutung waren die Verabschiedung der deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen und die Gründung des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, weshalb sie hier explizit behandelt werden sollen. Die Erfolgsgeschichte beider Initiativen verdeckt die enorme Komplexität der politischen Gespräche, die sich über Jahre hinzogen und nur vor dem Hintergrund der Konfrontation zwischen Ost und West verständlich sind. Die Gründung von Goethe-Instituten in Polen und von polnischen Kulturinstituten in der Bundesrepublik ließ sich vor 1989 nicht realisieren. Die aus allen politischen Systemen vertraute Trägheit der bürokratischen Apparate kam auch hier erschwerend hinzu. Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen um die gemeinsamen Schulbuchempfehlungen ist heute kaum mehr nachvollziehbar.197 Sie muss nicht nur im Kontext der erbitterten Auseinandersetzung um die Ostpolitik und das Schicksal der deutschen Vertriebenen gesehen werden, sondern auch in dem der Debatten um die Rolle von Bildungspolitik in einer offenen demokratischen Gesellschaft, die nach 1968 zu einer Reihe von Reformen geführt, teilweise aber auch seltsame Formen hervorgebracht hatte. Dass der Bedarf bestand, die überkommenen entgegengesetzten Geschichtsbilder anzunähern, wurde von beiden Seiten gesehen. Während es den polnischen Machtorganen aber in erster Linie darum ging, auch auf diesem Gebiet die Verbreitung des Wissens über die Anerkennung der eigenen Westgrenze voranzutreiben, entwickelte sich in der Bundesrepublik nicht nur ein Streit um die eigenen ehemaligen Ostgebiete, sondern allgemein um die Verhandlungen mit kommunistischen Stellen, die auf ihren eigenen ideologischen Vorstellungen (und Tabus) weitgehend beharrten.

195 Als Überblick mit Abdruck von Auszügen aus den Ansprachen: Neisinger, Oskar: Stefan Cardinal Wyszynski Karol Cardinal Wojtyla  – Begegnungen in Deutschland, 5. Aufl., Würzburg 1978. 196 Stier gegen Saurier, in: Der Spiegel Nr. 44 vom 30.10.1978; Lehmann, Karl Kardinal: Predigt zum Tod von Papst Johannes Paul II. am 5. April 2005 im Hohen Dom zu Mainz, https:// kardinal-lehmann.bistummainz.de/predigten/predigten-2005/papst2 (4.11.2019). 197 Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972–1990, Göttingen 2015.

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Die Suche nach einem Kompromiss erwies sich als schwierig. Dabei ist die Vorreiterrolle, die der Oldenburger Geschichtslehrer Enno Meyer und das Braunschweiger Institut für Schulbuchforschung unter seinem Direktor Georg Eckert spielten, nicht hoch genug zu bewerten. Ab 1972 verhandelte eine gemeinsame deutsch-polnische Kommission unter der Fahne der UNESCO, der Historiker und Geografen angehörten, über einen Kompromiss, der in seiner Endfassung von 1977 schließlich 26 historische und sieben geografische Empfehlungen umfasste. Ziel konnte es dabei nicht sein, eine Gesamtdarstellung der Beziehungen zu präsentieren, sondern „sich in erster Linie dort um Aussagen [zu bemühen], wo die Beurteilung der Ereignisse besonders kontrovers gewesen ist, oder wo bisher die andere Seite zu wenig zur Kenntnis genommen wurde“.198 Auch wenn aus heutiger Sicht die Naivität verwundert, mit der das deutsche Kommissionsmitglied Gotthold Rhode für seine Äußerung kritisiert wurde, auch außerwissenschaftliche Erwägungen hätten eine Rolle gespielt,199 so gilt es doch festzuhalten, dass die bilateralen Gespräche nicht nur inhaltlich, sondern auch emotional einen Durchbruch in den gegenseitigen Wissenschaftlerbeziehungen darstellten.200 Die Gemeinsame Schulbuchkommission wurde mit ihren regelmäßigen Tagungen zumindest für die Zeit bis 1989 zu einer zentralen Bühne wissenschaftlicher Kommunikation und gegenseitiger Annäherung. Die Debatte darüber, ob die Empfehlungen in deutsche Schulbücher aufgenommen werden sollten, wurde wegen der föderalen Bildungshoheit in allen Länderparlamenten geführt und insbesondere in den Leserbriefspalten der Zeitungen mit einer Heftigkeit ausgetragen, die durchaus an gesellschaftliche Debatten der 2010er-Jahre erinnert.201 Eines der Ergebnisse hiervon waren auch die sogenannten alternativen Schulbuchempfehlungen von den Vertriebenenverbänden nahestehenden Autoren. Sie fanden zwar keine große Aufmerksamkeit, dennoch wirkten sie über das Phänomen des sogenannten Ostkundeunterrichts durchaus in westdeutsche Schulen hinein. Ostkunde 198 Empfehlungen für Schulbücher der Geschichte und Geographie in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen, in: Internationales Jahrbuch für Geschichts- und Geographieunterricht 17 (1977), S. 158–184, http://deutsch-polnische. schulbuchkommission.de/fileadmin/_dpsk/Bild/Dokumente/Empfehlungen_fuer_ Schulbuecher_III.pdf (22.11.2019). 199 Rhode, Gotthold: Sollte man lieber gar nichts empfehlen!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.1.1977, S. 9. 200 Zum Arbeitsklima vgl. BA Koblenz, B/336/285, Schreiben Georg Eckerts an den Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission Thomas Keller vom 18.4.1972: „Als wir auseinandergingen, haben einige der polnischen Kollegen fast geweint.“ 201 Jacobmeyer, Wolfgang (Hrsg.): Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland. Dokumentation, Braunschweig 1979.

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war kein separates Fach, sondern stellte ein Prinzip dar, das in verschiedenen Fächern Anwendung finden konnte, wenngleich der Schwerpunkt sicherlich auf Geschichte, Erdkunde und Deutsch lag. Dieser Unterricht hatte seit den 1950er-Jahren zwar eigentlich zum Ziel, das Wissen über die Vergangenheit der ehemaligen deutschen Gebiete im Osten, aber auch über die östlichen Nachbarn zu vertiefen und Vorurteile abzubauen, entwickelte sich in der Praxis aber immer mehr zu einem Treffpunkt von Lehrern, die im Geiste der sogenannten Ostforschung den deutschen Anteil an der Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas betonten und der neuen Ostpolitik kritisch gegenüberstanden.202 Die Förderung deutscher kultureller Aktivitäten in Polen wurde in der gleichen Phase aber von der polnischen Parteiführung durchaus kritisch gesehen. Entgegen den Wünschen der Bundesrepublik kam die Gründung eines Goethe-Instituts vor 1989 nicht zustande. Allerdings verständigte sich das 1. Deutsch-Polnische Forum, eine bis heute teils jährlich, teils in größeren Abständen stattfindende Tagung mit Vertretern aus allen Bereichen der Gesellschaft, 1977 in Bonn auf die Gründung eines Instituts oder Lehrstuhls, der oder das sich mit der Verbreitung der polnischen Literatur und der polnischen Gegenwartskunde beschäftigen sollte.203 Nach umfangreichen Gesprächen wurde der Vorschlag des Übersetzers Karl Dedecius und einiger anderer aufgegriffen, ein „Deutsches Polen-Institut“ zu gründen.204 Aufgrund der Bemühungen des damaligen Darmstädter Oberbürgermeisters Heinz Winfried Sabais, der aus Breslau stammte, wurde die südhessische Stadt zu seinem Standort. Nach der Eröffnung im Jahre 1980 wurde das Institut in den Bereichen Literatur und Geschichte rasch zu einer zentralen Schnittstelle der deutsch-polnischen Kontakte, auch unter Einbeziehung des polnischen Exils (→ S. 184–185). Was die bilateralen Kontakte anging, war man in der Volksrepublik Polen über manche Entwicklungen nicht besonders glücklich. Dies betraf zum Beispiel die Regelungen zur sogenannten Familienzusammenführung, die nicht nur unterschiedlich interpretiert wurde, sondern auch eine Dimension erreichte, die die polnische Führung so nicht vorhergesehen hatte. Zwischen 1952 und 1972 hatten insgesamt etwa 360 000 Menschen Polen in Richtung 202 Weichers, Britta: Der deutsche Osten in der Schule. Institutionalisierung und Konzeption der Ostkunde in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren, Frankfurt am Main 2013; Picard, Lionel: La Ostkunde, une discipline scolaire à part entière?, in: Héritage, transmission, enseignement dans l’espace germanique, hrsg. von Denis Bousch, Rennes 2014, S. 115–133. 203 Blumenfeld, Alfred: Der Anfang. Zum 10-jährigen Bestehen des Deutschen Polen-Instituts, in: Deutsches Polen-Institut 1980–1990, Darmstadt 1991, S. 8–14. 204 BA Koblenz, B 136/30442: Akten des Bundeskanzleramts, Deutsches Polen-Institut Darmstadt: Karl Dedecius / Gotthold Rhode, Aufgaben eines neu zu gründenden Instituts für deutsch-polnischen kulturellen Austausch vom 22.8.1977.

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Bundesrepublik verlassen, 83 000 in Richtung DDR.205 Im Laufe des Jahres 1971 musste man feststellen, dass die Zahl der Ausreiseanträge vor allem in den beiden oberschlesischen Woiwodschaften immer weiter zunahm (dort auf fast 80 000) und zu einer gewissen Destabilisierung der Region führte. Die Parteiführung wollte allerdings nicht durch eine zu restriktive Handhabung des Themas der bundesdeutschen Opposition im Zuge der Ratifizierung des Warschauer Vertrages ein weiteres Druckmittel in die Hand geben. Daher beschloss sie eine Art Kompromiss: begrenzte Ausreisen aus den Städten Oberschlesiens bis zur Ratifizierung, weitere Genehmigungen bis zu 35 000 danach.206 Es sollte sich allerdings in den folgenden Jahren nach weiteren Vereinbarungen mit der Bundesrepublik herausstellen, dass das Problem dadurch nicht zu lösen war. Im Zuge des folgenden Abkommens von 1975, in der Zeit der Solidarność sowie gegen Ende des sozialistischen Systems in den späten 1980er-Jahren stieg die Zahl der Ausreisen immer wieder an. Allein im letzten Jahrzehnt kommunistischer Herrschaft verließ etwa eine Million „polnisch sozialisierter Menschen“ ihre Heimat, um sich dauerhaft in der Bundesrepublik niederzulassen.207 Dabei spielten sowohl politische als auch wirtschaftliche Motive eine Rolle. Jenseits der familiären Überlieferungen wissen wir heute über die genauen Gründe und Stimmungen recht wenig. Viele Übersiedler entschlossen sich dazu, zu schweigen, oder kümmerten sich bewusst bemüht um ihr tatsächliches und symbolisches Ankommen in der neuen Heimat. Bis weit ins 21. Jahrhundert hinein scheuten sich viele, öffentlich Polnisch zu sprechen. Selbst als die Pendelmigration nach 1989 normal geworden war, ging das Entstehen eines gesunden Selbstbewusstseins damit oft nicht einher. Polen in Deutschland erwiesen sich teilweise als komplett unsichtbar oder verkehrten lediglich in einer komplizierten Parallelwelt.208 Dazu trug auch bei, dass sie in den seltensten Fällen wirklich willkommen waren, eine Erfahrung, die seit den 1960er-Jahren auch Millionen sogenannter Gastarbeiter machen mussten, die als Arbeitskräfte geholt wurden, aber „als Menschen kamen“ (Max Frisch). Der Filmregisseur Josef Cyrus, der 1986 in die Bundesrepublik übersiedelte, vertraute seinem Tagebuch an: 205 Notatka w  sprawie wyjazdów emigracyjnych do Niemieckiej Republiki Federalnej od 1 I 1971 r. do 31 VIII 1972 r., in: Borodziej, Włodzimierz (Hrsg.): Polskie Dokumenty Dyplomatyczne 1972, Warszawa 2005, S. 514. 206 Notatka z narady odbytej w dniu 6 stycznia 1972, in: ebenda, S. 9–13. 207 Pallaske, Christoph: Migrationen aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er und 1990er Jahren. Migrationsverläufe und Eingliederungsprozesse in sozialgeschichtlicher Perspektive, Münster / New York / München / Berlin 2002. 208 Loew, Peter Oliver: Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland, München 2014.

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„Manchmal bin ich verzweifelt, wenn ich spüre und in den Medien Diskussionen mitbekomme, daß man uns Aussiedlern gar nicht so positiv gegenübersteht. Dann bedaure ich auch meine mangelhaften deutschen Sprachkenntnisse, obwohl ich doch behaupte, ein Deutscher zu sein, und es auch so empfinde. […] Und dennoch kann ich mich der bösen Gedanken nicht erwehren, die mich und so viele Leidensgefährten erfüllen, wenn es einem immer wieder bewußt wird, daß wir ja, um unsere kulturelle Eigenart zu wahren, gezwungen waren, unsere Heimat zu verlassen, an die zu denken wir nicht aufhören können.“209 Besonders betroffen waren die jugendlichen Übersiedler. Sie waren im kommunistischen Polen sozialisiert worden und mussten nun in relativ kurzer Zeit ihre vertraute Umgebung und ihre Freunde verlassen, um in einem fremden Land neu anzufangen. Viele der unter 26-Jährigen sprachen nicht hinreichend Deutsch. Soziologische Forschungen zeigen, dass allein die Hoffnung auf größere materielle Vorteile und bessere Berufschancen als Positiva des Länderwechsels angesehen wurden. Die ökonomische Anziehung (PullEffekt) der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft überwog eindeutig etwaige nationale oder tagespolitische Motive.210 Dieser Trend verstärkte sich in den 1980er-Jahren noch. Nun handelte es sich zumeist auch nicht mehr um den klassischen Aspekt der Familienzusammenführung, wie er in den offiziellen deutsch-polnischen Dokumenten vereinbart worden war. Die Tatsache, dass alle Menschen, die entweder selbst oder deren Vorfahren vor 1938 Bürger des Deutschen Reichs gewesen waren, Anrecht auf einen bundesdeutschen Pass besaßen, schuf Möglichkeiten, den katastrophalen Verhältnissen in Polen nach Verhängung des Kriegszustands zu entkommen. Der durchaus massenhaft zu nennende Exodus aus Polen und Rumänien zwischen 1985 und 1989, später auch aus der UdSSR, war allerdings vor allem eine Konsequenz der liberalisierten Ausreisebestimmungen sowie der erleichterten Möglichkeiten für Auslandsreisen insgesamt, an deren Ende mitunter der Entschluss stand, in Deutschland zu bleiben. Während 1979 knapp 40 Prozent der späteren Aussiedler mit einem Touristenvisum aus Polen eingereist waren, waren es zwei Jahre später schon die Hälfte und 1988 etwa 85 Prozent.211 Im Unterschied zu der Mehrzahl der deutschen Neubürger der 1970er-Jahre hielten die 209 Cyrus, Josef: Auf der Suche nach einem Zuhause. Tagebuch eines oberschlesischen Aussiedlers 1986–1988, Dülmen 1989, S. 46 und 48. 210 So eine im Jahre 1979 durchgeführte (nicht repräsentative) empirische Untersuchung unter jungen, aus Polen kommenden Einwanderern im Rhein-Neckar-Raum. Vgl. Stępień, Stanislaus: Jugendliche Umsiedler aus Schlesien, Weinheim; Basel 1981. 211 Rautenberg, Hans-Werner (Bearb.): „Familienzusammenführung“ oder „Erwerbsmi­ gration“? Die Spätaussiedler im Spiegel der polnischen Publizistik (1980–1989), in: Dokumentation Ostmitteleuropa 15 (1989), Nr. 3/4, S. 22/23.

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Einwanderer des folgenden Jahrzehnts in der Regel engeren Kontakt zu den polnischsprachigen Milieus der Bundesrepublik, wobei die katholische Kirche die entscheidende Rolle spielte. Politisches oder gesellschaftliches Engagement darüber hinaus blieb eher die Ausnahme, sodass weder die traditionellen Polonia-Organisationen noch die Vertriebenenverbände vom Zustrom profitierten. Neben diesen letztlich doch eher traditionellen Migrationsmustern entwickelten sich in den 1980er-Jahren aber auch andere deutsch-polnische Verflechtungen, die vielleicht untypisch waren, für die Betroffenen aber dennoch prägend sein konnten. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Zimmer polnischer Jugendlicher nicht nur mit den Popidolen der Zeit, sondern auch mit Plastiktüten der Supermarktkette ALDI dekoriert waren. Und im Bereich der Subkultur galten unter den Freunden diejenigen als besonders hip, die westliche Kleidung trugen oder Kontakt zur dortigen Musikszene hatten. Das oberschlesische Jastrzębie-Zdrój begann sich in jenen Jahren allmählich zu einem Zentrum des polnischen Punks zu entwickeln. Hierauf wirkten nicht nur britische Einflüsse ein, sondern auch deutsche. Einer der Protagonisten, der sich selbst Falon nennt, kam über seinen zeitweise dort lebenden Vater in Berührung mit der Musik- und Hooliganszene von Hamburg-St. Pauli, wo­ raus sich über Jahrzehnte anhaltende Freundschaften entwickelten.212 Dadurch schien es in der südpolnischen Peripherie möglich zu sein, direkt zur großen westlichen Welt zu gehören. Die Reaktionen der bundesdeutschen Bevölkerung waren erwartungsgemäß unterschiedlich. Alles in allem lässt sich aber sagen, dass die Skepsis der etablierten Bundesbürger umso größer war, je höher die Zahl der Übersiedler stieg. Während in den 1970er-Jahren der „nationale“ Aspekt durchaus noch einen gewissen Einfluss auf die Haltung hatte, überwog kurz vor der politischen Wende von 1989 schon die Überzeugung, die Zahl der Aufgenommenen sei zu hoch, man könne sie nicht integrieren; zudem würden „die Polen“ das deutsche Sozialsystem ausnutzen und eine starke Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt darstellen. Zweifellos wirkten hier Elemente nicht nur traditioneller Fremdenfeindlichkeit, sondern auch der nationalistischen Verachtung der „Ostvölker“ weiter.213 Für die Angekommenen bedeutete dies dementsprechend eine zusätzliche Erschwernis bei ihrer angestrebten Integration. Es zeigte sich wie in den ähnlich gelagerten Fällen der meist südeuropäischen „Gastarbeiter“, dass trotz einer Vielzahl die Eingliederung fördernder politischer und sozialer Maßnahmen und Hilfen sich oft erst die nächste oder übernächste Generation 212 Marciniak, Marta: Transnational Punk Communities in Poland. From Nihilism to Nothing Outside Punk, Lanham 2015, S. 51–56. 213 Trzcielińska-Polus, Aleksandra: „Wysiedleńcy“ z Polski w Republice Federalnej Niemiec w latach 1980–1990, Opole 1997, S. 76–82 (mit weiteren Umfragen hierzu).

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einigermaßen angenommen fühlte.214 Nach 1989 schuf dann die Möglichkeit der Pendelmigration ein neues Bild. Die offiziellen politischen Stellungnahmen zu diesen dynamischen Mi­ grationsprozessen in Polen und der Bundesrepublik mussten sich teilweise diametral unterscheiden. Vonseiten der herrschenden kommunistischen Partei musste es darum gehen, die Ausreisewilligen zu diskreditieren und ihre neue Lebensrealität im Westen in den düstersten Farben zu zeichnen, um potenzielle Nachahmer effektiv abzuschrecken. Die Rede von den neuen „DM-“ oder „Volkswagendeutschen“, von den schwierigen Bedingungen in Übergangslagern wie Unna-Massen mag ja einen wahren Kern besessen haben, die Kampagne knüpfte in gewisser Weise aber an den Umgang mit den sogenannten Autochthonen nach 1945 an, also Menschen in den neuen Westgebieten Polens, die man zwar irgendwie für das „Polentum“ gewinnen wollte, denen man aber gleichzeitig grundsätzlich misstraute.215 Diese Propaganda war von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn sie traf auf von vielen Polen als glaubwürdiger erachtete Berichte der Ausgereisten, die oft in blühendsten Bildern und nicht selten weit von der tatsächlichen Lebenswirklichkeit entfernt ihren neuen Wohlstand beschrieben. Reisen in die andere Richtung nahmen nach 1970 zwar deutlich zu, erreichten aber zunächst nicht annähernd eine vergleichbare Dimension.216 Dies lag zum einen daran, dass Polen nach wie vor den Tourismus zu steuern gedachte, die Zahl der Besuche deckelte und Gruppen- gegenüber Individualreisen bevorzugte. Zum anderen hielt sich jenseits der Gruppe der Aussiedler und Vertriebenen beziehungsweise von Dienstreisen das Interesse der Bundesbürger in Grenzen. In jedem Fall konnte sich der westdeutsche Polenreisende zunächst sicher sein, dass jeder seiner Schritte genau verfolgt wurde, sei es von den offiziellen Reiseführern oder der Geheimpolizei im Hintergrund. Zwischen 1973 und 1979 änderte sich die Lage, weil die polizeiliche Genehmigungspflicht für jede Reise abgeschafft und die Einreise mit dem eigenen Pkw erlaubt wurde. Waren noch 1970 nur 31 000 Grenzübertritte von Bundesdeutschen gen Osten verzeichnet worden, waren es 1973 schon 170 000 und 1979 303 000. Die visapflichtigen Reisen mussten über staatliche Reisebüros, meist über Polorbis, gebucht werden.

214 Ebenda, S. 95–126. 215 Siehe etwa Bartosz, Julian: Do NRF bez powrotnego biletu. Iluzja i rzeczywistość, in: Głos Robotniczy (Łódź) Mr. 279 v. 24.11.1971, zitiert nach: Breyer, Richard (Bearb.): Die Aussiedler im Spiegel polnischer Pressestimmen, in: Dokumentation Ostmitteleuropa 7 (1981), Nr. 3/4, S. 62–67. 216 Ausführlich hierzu Pick, Ponad żelazną kurtyną, S. 129–153; Felsch, Reisen in die Vergangenheit, S. 21–25.

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Mit der wachsenden Zahl der Interessenten geriet das starre System allerdings an seine Grenzen. Spätestens Mitte der 1980er-Jahre war eine wirksame Kontrolle der Reisenden nicht mehr möglich. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Reisenden ihr bisheriges Bild über Polen und die Polen durch die konkreten Eindrücke veränderten, jedenfalls legen dies die zahlreichen bisher untersuchten Reiseberichte nahe.217 In den 1980er-Jahren war es gar nicht so selten, dass deutsche Schulklassen Polen besuchten. Hierbei gab es durchaus Veränderungen, wie sie etwa eine engagierte Lehrerin aus dem südhessischen Groß-Gerau beschrieb. 1987 hielt sie fest, dass die Breslaureise der Prälat-Diehl-Schule in jenem Jahr doch etwas anders verlaufen sei als die Polenfahrten der Jahre 1983 bis 1985. Während es früher kaum möglich gewesen sei, Kontakte mit polnischen Jugendlichen aufzunehmen, und die deutschen Schüler sich oft gefühlt hätten „wie privilegierte Touristen, denen man viel Fassade zeigt, aber verwehrt, weiter nach innen zu schauen“, hätten sie diesmal „mehr von Polen erfahren als mancher langjährige Tourist von seinem Hotel aus“.218 Dieser und viele weitere Berichte zeugen sehr deutlich von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die nun unmittelbar sichtbar werden konnten. Auch wenn die meisten Reisen nach Polen im Kontext der Aufarbeitung der deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs zustande kamen, so entstand doch häufig  – vor allem dank der oft jahrzehntelangen Kontaktpflege einzelner Personen  – bei den Teilnehmern ein neues, differenzierteres Bild der Lage in Polen. In der historischen Wahrnehmung verklären viele Polen die 1970er-Jahre heute als „goldene Zeit“ des Konsums, als die Städte bunt zu werden begannen. Die mit milliardenschweren Westkrediten erkaufte Steigerung der Lebensqualität stellte den Versuch der kommunistischen Führung dar, jenseits der eigenen Ideologie und der in jenen Jahren intensivierten Zusammenarbeit mit der Sowjetunion die eigenen Bürger für sich zu gewinnen. Das änderte freilich nichts daran, dass die internen Versorgungsschwierigkeiten nicht abnahmen, dafür aber die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen wuchsen. Folglich war es unausweichlich, dass beim Ausbleiben von Erfolgen bei den ökonomischen Anstrengungen das Kartenhaus der vermeintlichen Liberalität in sich zusammenstürzen würde. Der Versuch des Ausbaus der Entspannungspolitik gen Westen, vor allem in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland, aber auch die USA, muss vor dem Hintergrund des eingeschränkten eigenen Handlungsspielraums gesehen werden. Während die Warschauer Parteiführung intern wie öffentlich immer wieder betonte, dass eigentlich die DDR der 217 Felsch, passim. 218 DPI-Archiv, Schülerfahrten nach Polen, 1980er-Jahre. Reiseberichte nach Städten: Trebur  – Worms: Ursula Warnke, Nach Wrocław  – 1987 [Trebur, 12.11.1987].

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bevorzugte deutsche Partner sei, war sie aufgrund der wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten dazu gezwungen, „frisches Geld“ in der Bundesrepublik zu beschaffen. In der Praxis hatte aber die offenere Politik Polens wie Westdeutschlands dennoch zur Folge, dass die Möglichkeiten einer Kooperation deutlich zunahmen. Der Abschluss des westdeutsch-polnischen Vertrags von 1970 einerseits, die Bestimmungen der KSZE-Schlussakte von Helsinki andererseits bereiteten dafür den Boden. Es wäre allerdings ein Irrtum anzunehmen, dass die ideologische Wachsamkeit der polnischen Kommunisten nachgelassen hätte. Der vor allem wirtschaftspolitische Pragmatismus und die neue Offenheit zur Welt gingen mit verstärkten Überwachungsaktivitäten und Zweifeln an den Absichten der „kapitalistischen Welt“ einher. Dies ließ sich auch auf vermeintlich so harmlosen Feldern wie den Sportbeziehungen erkennen. Die Olympischen Sommerspiele in München 1972 stellten hier ebenso eine Herausforderung dar wie die in der Bundesrepublik stattfindende Fußballweltmeisterschaft zwei Jahre später. Die bundesdeutsche Seite wollte beide Gelegenheiten nutzen, um als erstmalige Gastgeber der größten internationalen Sportereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg ein positives Bild von einem modernen, liberalen Land mit fröhlichen Menschen zu zeichnen. Die kommunistische Propaganda strebte hier sichtbare Gegenmaßnahmen an wie die Beschränkung des Filmmaterials aus der Bundesrepublik, die Betonung der Leistungen der DDR und die Konzentration in der Berichterstattung auf polnische Sportler.219 Damit einher ging aber die Befürchtung, populäre polnische Sportler könnten sich in den Westen absetzen, weswegen sie vom Geheimdienst überwacht wurden. Ganz von der Hand zu weisen waren solche Ängste nicht, lockten doch im Fußball westliche Vereine mit dem großen Geld  – etwa warb 1960 München mehr oder weniger offen um den großen Star Kazimierz Deyna  – und verfügten einige Sportler über deutsch-polnische Biografien. So setzte sich 1976 der populäre DreisprungOlympiasieger von Rom 1960 und Tokio 1964, Józef Szmidt, auch das „schlesische Känguru“ genannt, bei einer Reise von Fußballfans nach Amsterdam ab. Auch bezüglich des Verhaltens der deutschen Minderheit in Oberschlesien war man skeptisch, nicht ganz zu Unrecht sicherlich. Als der Chorzówer Bürger Antoni S. 1974 einen Brief an Franz Beckenbauer schrieb, in dem er „im Namen vieler Deutscher in Oberschlesien“ zum WM-Titel gratulierte, fing die Staatssicherheit das Schreiben ab und leitete einen operativen Vorgang 219 Stellungnahme der Abteilung für Presse und Information beim Polnischen Außenministerium vom 15.3.1972 zu propagandistisch-politischen Aspekten der Olympiade in München (geheim), in: Polskie Dokumenty Dyplomatyczne 1972, hrsg. von Włodzimierz Borodziej, Warszawa 2005, S. 112–117.

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gegen ihn ein, der insgesamt 39 Seiten umfasste, bis die Überwachung 1976 abgeschlossen wurde.220 Es sollte sich herausstellen, dass besonders die Erfolge der polnischen Fußballnationalmannschaft positive Effekte auf die allgemeine Stimmungslage haben sollten. Schon der Münchener Olympiasieg löste eine Welle der Begeisterung aus und die Rede von der Wundermannschaft verbreitete sich, obwohl zu berücksichtigen ist, dass der Westen damals nur Amateurmannschaften zu den Olympischen Spielen schicken durfte. Nachdem man ein Jahr später den hochfavorisierten Engländern im Wembleystadion ein Unentschieden abgetrotzt hatte, sollte das Team um den Jahrhunderttrainer Kazimierz Górski die WM von 1974 zum ganz großen Erfolg nutzen.221 Und tatsächlich schien alles auf einem guten Wege zu sein, nachdem man nacheinander Argentinien, Haiti, Italien, Schweden und Jugoslawien besiegt hatte. Es war somit eine Art Endspiel, in dem man am 3. Juli 1974 im Frankfurter Waldstadion auf den Gastgeber traf. Dieses Spiel hätte nach normalen Maßstäben nicht ausgetragen werden dürfen, weil ein Wolkenbruch den Platz unbespielbar gemacht hatte. Die technisch weit überlegenen Polen hatten auf dem ungewohnten Geläuf deutlich mehr Schwierigkeiten, sodass letztlich ein Tor Gerd Müllers die Partie entschied. Polen blieb nur das Spiel um den dritten Platz, in dem mit Brasilien erneut ein Fußballgigant geschlagen wurde, während die Bundesrepublik gegen die Niederlande den Titel holte. Erstaunlicherweise belastete das Skandalspiel die deutsch-polnischen Beziehungen nicht nachhaltig. Vielleicht war es der Respekt vor der deutschen Fußballgeschichte, der die polnischen Stars das Trauma des „Wasserballspiels“ (Grzegorz Lato) letztlich überwinden half.222 Das Hochgefühl in der polnischen Gesellschaft verschwand im Laufe der 1970er-Jahre so schnell, wie es gekommen war. Proteste wegen Preiserhöhungen führten zu Unruhen, die erstmals in der Geschichte der Volksrepublik ein Bündnis zwischen Arbeitern und der Intelligenz möglich werden ließen. Die zunehmend strategisch betriebene Zusammenarbeit gipfelt in der Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność als Kulminationspunkt einer Streikbewegung, die sowohl konkrete betrieblich-ökonomische als auch national wie international bedeutsame politische-ideologische Elemente beinhaltete. In der Bundesrepublik wurde lange Zeit von den meisten gar nicht oder nur am Rande wahrgenommen, welche systemsprengende Dimension die 220 Majchrzak, Grzegorz: Tajna Historia Futbolu, Warszawa 2017, S. 31/32. Siehe auch IPN, Wojewódzki Urząd Spraw Wewnętrznych w Katowicach [1945] 1983–1990, KWMO Katowice 28266/1974, Kwestionariusz ewidencyjny kryptonim „Uzurpator”. 221 Blecking, Diethelm: Das Wunder von Bern 1954 und Wembley 1973, in: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Bd. 3, hrsg. von Hans-Henning Hahn / Robert Traba, Paderborn / München / Wien 2012, S. 415–429. 222 Bota, Alice: Die Wunde von 74, in: Die Zeit Nr. 24 vom 5.6.2008.

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Proteste entwickelten. Aus Sicht der regierenden SPD-FDP-Koalition war dies verständlich. Hier waren die Beziehungen zu Polen ganz eindeutig allgemeinen weltpolitischen Überlegungen untergeordnet, in deren Mittelpunkt die Rolle der Sowjetunion stand. Alles, was das stabile Gleichgewicht zwischen Ost und West gefährdete, wurde als bedrohlich empfunden. Das galt für Entwicklungen in der DDR genauso wie für solche in Polen. Daran änderte sich im Großen und Ganzen zwischen der Mitte der 1960er-Jahre und dem Jahr 1989 kaum etwas. Das bedeutete nicht, dass manche Politiker keine Sympathien für demokratische Prozesse gehegt hätten, sie waren aber nicht bereit, die etwa in der KSZE-Schlussakte von Helsinki formulierten Prinzipien auch aktiv in die Tat umzusetzen. Besonders deutlich wurde dies, als die gesellschaftlichen Probleme Polens nach 1979 immer akuter wurden. Die Euphorie, die Entstehung und Legalisierung der Solidarność im Spätsommer 1980 auslösten und die mit einem zeitweiligen Bedeutungsverfall der kommunistischen Parteiführung einherging, wurde in der politischen Szene Bonns nur bedingt geteilt. Die Bundesregierung orientierte sich strikt an Paragraf 6 der KSZE-Schlussakte von Helsinki, in dem es hieß, dass die Unterzeichner sich der „direkten oder indirekten Unterstützung […] subversiver oder anderer Tätigkeiten enthalten, die auf den gewaltsamen Umsturz des Regimes eines anderen Teilnehmerstaates gerichtet sind“.223 Bundeskanzler Schmidt weigerte sich daher auch, direkten Kontakt mit der Solidarność aufzunehmen. Ein etwaiger Kontrollverlust der polnischen Parteiführung, in der sein Freund Edward Gierek am 6. September 1980 als Erster Sekretär abgelöst worden war, und die Angst vor einem Einmarsch sowjetischer Truppen nach dem Vorbild Afghanistans ein Jahr zuvor ließen ihm die allgemeine Entspannungspolitik massiv gefährdet erscheinen.224 Die Interessen der über zehn Millionen Polen, die der Solidarność beitraten, waren dem ganz eindeutig untergeordnet.225 Diese Linie wurde von der SPDParteiführung und dem FDP-Vorsitzenden und Bundesaußenminister HansDietrich Genscher explizit mitgetragen. Wie immer, wenn es in Mittel- und Osteuropa nach 1949 zu Krisen kam, setzte die Bundesregierung verständlicherweise zunächst auf Beschwichtigung. Die Ängste vor einer  – sei es auch nur vorübergehenden  – Destabilisierung des Status quo überdeckte man zudem nicht selten durch finanzielle Hilfeleistungen. Polen stand Anfang 1981 223 https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0024_ksz (28.11.2019). 224 Zur Freundschaft Gierek/Schmidt unter anderem das Gespräch des SPD-Politikers mit Jörg Magenau, in: Magenau, Jörg: Schmidt  – Lenz: Geschichte einer Freundschaft. Hamburg 2014. 225 Pick, Dominik: Brücken nach Osten. Helmut Schmidt und Polen, Bremen 2011, S. 102– 109.

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bei deutschen Banken mit etwa 15 Milliarden Deutsche Mark in der Kreide; ein Teil der Kredite war durch staatliche Garantien abgesichert.226 Zudem forcierte Westdeutschland humanitäre Hilfslieferungen. Im gesellschaftlichen Bereich nutzten manche allerdings die neuen Möglichkeiten des „Karnevals der Freiheit“ von 1980/81, was in gewisser Weise an frühere Aktivitäten im Kontext des Prager Frühlings in der ČSSR von 1968 erinnerte. Zu den spektakulärsten Ereignissen dieser Zeit gehörte der sogenannte Polentransport von Joseph Beuys. Er schenkte dem Lodzer Kunstmuseum etwa 700 seiner Werke, vor allem Zeichnungen, und begründete dies unter anderem mit seinem Willen, die Trennlinien zwischen Ost und West sowie innerhalb der Gesellschaften zu überwinden.227 Die dichotomische Haltung der Bundesregierung änderte sich nach der Verhängung des Kriegszustands durch General Jaruzelski am 13. Dezember 1981 nur bedingt. Die Entscheidung überraschte den deutschen Kanzler während seines ersten DDR-Besuchs. In der gemeinsamen Pressekonferenz mit Erich Honecker erklärte Schmidt unter anderem, dass der SED-Chef genauso bestürzt gewesen sei wie er, „dass dies nun so notwendig war“.228 Dass eine solche Aussage bei der polnischen Opposition, die sich nun einer groß angelegten Verhaftungswelle ausgesetzt sah, auf keine positive Resonanz stoßen würde, war klar. Dem Druck der westlichen Partner zu wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Polen konnte der Bundeskanzler sich dennoch nicht ganz verschließen. Trotz aller späteren Erklärungs- und Rechtsfertigungsversuche stellt das Verhalten Schmidts Polen gegenüber in den Jahren 1980/81 zweifellos ein unerfreuliches Kapitel der deutsch-polnischen Verflechtungsgeschichte nach 1945 dar. Als im Februar 1982 der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Herbert Wehner, als erster westdeutscher Politiker nach Ausrufung des Kriegszustands wieder nach Polen reiste  – zwar nicht im offiziellen Auftrag, aber mit Zustimmung des Bundeskanzlers –, um dort führende Vertreter der PVAP und der katholischen Kirche, nicht aber der unterdrückten Opposition zu treffen, reagierten manche Bundesdeutsche empört. Vermutlich wären die Reaktionen noch heftiger ausgefallen, wenn sie gewusst hätten, dass Wehner vertrauliche Dokumente der bundesdeutschen Botschaft in Warschau an einen seiner Gesprächspartner, den späteren Ministerpräsidenten Mieczysław 226 Bingen, Polenpolitik, S. 205. 227 Jedliński, Jaromir / Negri, Massimo: Polentransport 1981. Opere di Joseph Beuys dal Muzeum Sztuki di Łódź = Polentransport 1981: works by Joseph Beuys from the Muzeum Sztuki in Łódź, Milano 1993. 228 Erklärung des Bundeskanzlers Schmidt auf der Pressekonferenz am 13. Dezember 1981 in der Jugendhochschule Wilhelm Pieck in Biesenthal/Bogensee, in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung (1981), S. 1039–1041.

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Rakowski, weiterreichte, der sie wiederum Innenminister Kiszczak zugänglich machte. Bei seiner privaten Ostblockreise im Sommer 1983 verhielt sich der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß allerdings nicht wesentlich geschickter, als er der Ostberliner Führung nicht nur mit einem Milliardenkredit aus der Patsche half, sondern auch ausführlich über seine Treffen mit den polnischen Bischöfen berichtete.229 Die Reaktionen auf den Putsch General Jaruzelskis waren in der westdeutschen Gesellschaft nicht einheitlich. Während ein großer Teil zweifellos die Frage der Stabilität in Europa als zentral ansah, regten sich in linken wie in konservativen Kreisen auch andere Stimmen. Die westdeutschen Gewerkschaften hatten einen Dialog mit den Ländern östlich der Elbe im Grunde erst nach den Ostverträgen begonnen. Dies gilt auch für Polen. Den zuständigen Funktionären, insbesondere dem langjährigen Leiter der internationalen Abteilung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Erwin Kristoffersen, der mehrfach Polen besuchte, war klar, dass die dortigen offiziellen Gewerkschaften innerhalb des politischen Systems eine ganz andere Rolle spielten als im Westen. Der DGB konnte und wollte keine staatspolitischen Erklärungen abgeben, erntete aber auch wenig Interesse für seine Bemühungen zur konkreten Verbesserung der Arbeitsbedingungen in polnischen Fabriken.230 Das Entstehen der Solidarność brachte dennoch auch für den DGB gewisse Schwierigkeiten mit sich, da seine Aktivitäten eng mit der offiziellen Regierungspolitik abgestimmt waren. Das Engagement konzentrierte sich bei Vermeidung öffentlicher Festlegungen  – was von einigen rechten Sozialdemokraten wie Georg Leber intern scharf kritisiert wurde  – auf konkrete materielle und technische Hilfe sowie informelle Kontakte auf regionaler Basis, etwa nach Masowien.231 Neben manchen ideologischen Vorbehalten spielte hier freilich auch eine Rolle, dass die kommunistische Führung immer wieder in Bonn gegen die „Einmischung“ deutscher Gewerkschaftler protestierte und manchmal auch Visa für Besuche verweigerte. Die Solidarność-Führung selbst war durchaus an engeren Kontakten interessiert, wie der halboffizielle Besuch des Vorstandsmitglieds Zbigniew Bujak Ende Oktober 1981 zeigte.232 Auch hier veränderte die Verhängung des Kriegszustandes beinahe alles. 229 Rakowski, Mieczysław: Dzienniki polityczne Bd. 8: 1981–1983, Warszawa 2004, S. 202/203 und 584/585. 230 Gawrich, Rolf: Deutscher Gewerkschaftsbund und polnische Gewerkschaftsbewegung, Köln 1996; Kristoffersen, Erwin: Begegnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit Gewerkschaften in Polen, in: Ungewöhnliche Normalisierung, hrsg. von Werner Plum, Bonn 1984, S. 75–80. 231 Świder, Małgorzata (Hrsg.): Solidarność związkowa. Niemiecka Federacja Związków Zawodowych wobec NSZZ „Solidarność”, Kraków 2017. 232 Zu den Spannungen rund um den Besuch vgl. einzelne Dokumente ebenda, S. 168–196.

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Während die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien also vorsichtig auf die Umwälzungen in Polen reagierten und die CDU/CSU-Opposition bei aller Sympathie vor allem an einer Schwächung der Sowjetunion interessiert war, entwickelten sich vor allem in undogmatischen linken Kreisen, aber auch bei den kleinen Gruppen der Trotzkisten und Maoisten diverse Aktivitäten zur Unterstützung der Solidarność wie etwa beim 1970 entstandenen Sozialistischen Osteuropakomitee mit seinen verschiedenen lokalen Büros.233 Ein Teil dieser Aktivisten fand sich auch in dem aus der Friedensbewegung hervorgehenden grün-alternativen Milieu. Hier hatte man die Veränderungen in Polen schon seit 1976 genauer betrachtet und die offizielle Haltung zur Warschauer Politik kritisiert. Zu den kritischen Stimmen gehörte etwa auch der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, der, von den Geschehnissen betroffen und entsetzt, explizit zur internationalen Einmischung aufrief, dabei das polnische Bündnis zwischen Intellektuellen und Arbeiterschaft betonte sowie die bedeutende Rolle der katholischen Kirche hervorhob.234 Einige deutsche Intellektuelle entwickelten zweifellos für eine gewisse Zeit größeres Interesse an der Lage in Polen. Zu ihnen gehörten so unterschiedliche Akteure wie Rudolf Bahro, Klaus Staeck oder Jürgen Fuchs. Ihnen war jedoch gemeinsam, dass sie einem gewissen Links-Rechts-Grundverständnis verhaftet blieben, anders als zum Beispiel Teile des französischen Geisteslebens.235 Exemplarisch für eine eher beschwichtigende Haltung, wie sie bei vielen weiterhin vorherrschte, stehen die diversen Stellungnahmen des einstigen (1966–1967) Berliner Regierenden Bürgermeisters Heinrich Albertz, eines gebürtigen Breslauers, der nicht nur für den Vorrang von Frieden vor Freiheit plädierte, sondern dessen Schilderung seines ersten „Heimatbesuchs“ 1984 voller psychologischer Verkrampfungen angesichts der deutschen Kriegsschuld steckte, und dies bei im Grunde geringem Interesse für die Lage der polnischen Bevölkerung.236 Diese fehlenden Kenntnisse in Bezug auf Polen 233 Bozić, Ivo: „Das Ergebnis war mir letztlich egal“. Peter Offenborn im Gespräch über das Sozialistische Osteuropa-Komitee in Hamburg, in: Jungle World Nr. 32 vom 12.8.2010, https://jungle.world/artikel/2010/32/das-ergebnis-war-mir-letztlich-egal (16.12.2019); Bartelheimer, Peter (u.  a.): Schwerpunkt Polen, in: die internationale. Theoretische Zeitschrift der Gruppe internationaler Marxisten / Deutsche Sektion der IV. Internationale, (Frankfurt am Main) Juni 1981, Nr. 16. 234 Böll, Heinrich: Ein neues Vokabularium finden. Protokoll einer Pressekonferenz (mit Efim Etkind und Juliusz Stroynowski in Bonn am 22.12.1981), in: Verantwortlich für Polen?, hrsg. von dems. / Freimut Duve / Klaus Staeck, Reinbek 1982, S. 9–17. Siehe auch: Bannas, Günter: Böll bricht zornig das Schweigen, in: FAZ Nr. 297 vom 23.12.1981, S. 25. 235 So etwa André Gorz mit seiner Kritik am deutschen Schweigen zu den Ereignissen in Polen: Respekt für ein solches Verhalten, in: Der Spiegel Nr. 4 vom 25.1.1982. 236 Vgl. Interview mit Heinrich Albertz, in: taz vom 11.1.1982, sowie Albertz, Heinrich: Die Reise. Vier Tage und siebzig Jahre, München 1987, insbes. S. 83.

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teilte er mit einer Reihe anderer Intellektueller, die lediglich die weltpolitische Dimension im Auge hatten und Parallelen zu Chile oder der Türkei betonten. Diejenigen freilich, die nun Kontakte zu verfolgten Oppositionellen im Ostblock zu knüpfen begannen, konnten hier nach 1989 leichter anknüpfen, weil ein Teil ihrer damaligen Gesprächspartner inzwischen wichtige politische Funktionen einnahm. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums standen konservative Gruppierungen, die sich vor allem dem Kampf gegen die Sowjetunion verschrieben hatten wie die 1972 in Frankfurt von radikalen Antikommunisten, vor allem Exilrussen, gegründete Internationale Gesellschaft für Menschenrechte. Die dort eingerichtete Arbeitsgruppe Polen erfreute sich wie die gesamte Organisation gründlicher Beobachtung durch die DDR-Staatssicherheit.237 Nach dem 13. Dezember 1981 verlagerten sich die Maßnahmen zwangsläufig hin zu materieller Hilfe für die polnische Bevölkerung und  – in geringerem Rahmen  – zur Unterstützung des Untergrunds. Eine gewisse Rolle spielten hierbei von Polen getragene Vereinigungen in deutschen Städten wie Aachen, Westberlin, Köln, Mainz und München.238 Sie radikalisierten sich allerdings im Laufe der Jahre und verloren gleichzeitig an Bedeutung. Indes liefen in den ersten Monaten des Jahres 1982 Hilfsmaßnahmen für die polnische Bevölkerung an, die ein bis dahin ungeahntes Ausmaß erreichten. Sie hatten eine institutionelle und eine persönliche Dimension. Die Tätigkeit von Vereinigungen wurde begleitet von administrativen Erleichterungen. Die Deutsche Bundespost befreite auf Veranlassung des zuständigen Ministers zweimal alle Pakete nach Polen von Gebühren. Dies hatte zur Folge, dass in den Jahren bis 1989 über 15 Millionen Postpakete verschickt wurden.239 Die daraus resultierenden Kosten durch Transitgebühren und Verdienstausfall beliefen sich auf 178,4 Millionen Deutsche Mark. Für die monatelange Aufhebung der Gebühren gab es nicht nur humanitäre Gründe, die Warschauer Regierung glaubte durch die offizielle Erlaubnis für diesen Weg zudem, die Lieferungen besser kontrollieren und die direkte Kontaktaufnahme zwischen Deutschen und Polen einschränken zu können.240 Dies funktionierte jedoch mehr recht als schlecht. Ein Teil der verschickten Waren endete zudem auf dem Schwarzmarkt.

237 Wüst, Jürgen: Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) im Visier von Antifa und Staatssicherheit, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 8 (1996), S. 37–53. 238 Zając, Aleksander (Hrsg.), Solidarität mit Polen. Unterstützungsbewegung für „Solidarność“ in Deutschland, Berlin 2012. 239 Riechers, Albrecht: Hilfe für Solidarność. Zivilgesellschaftliche und staatliche Beispiele aus der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1980–1982, Bonn 2006, S. 16–24. 240 Pick, Ponad żelazną kurtyną, S. 400.

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Das katholische Bistum Essen sammelte von Privatpersonen Sachspenden in einem Wert von 27 Millionen Deutsche Mark. Viele Menschen entwickelten persönliche Initiativen. Sie fuhren Medikamente nach Polen, schmuggelten technisches Gerät oder organisierten Kundgebungen.241 Der Königsteiner Rentner Friedrich Kroeger schaltete die Anzeigenkampagne »Mein polnischer Gast« in diversen Tageszeitungen. Mit dieser Kampagne setzte er sich zum Ziel, dass Familien eine gewisse Summe für die Verpflegung eines symbolischen Gasts auf ein Spendenkonto überweisen sollten. Insgesamt kamen hier bis Mitte 1982 1,3 Millionen Deutsche Mark zusammen.242 Diese vielfältigen Verbindungen überdauerten manchmal lange Zeit. Sie trugen maßgeblich dazu bei, das Deutschenbild in Polen nachhaltig zu verändern. Allerdings genügt es, darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Hilfsaktionen nicht um ein bilaterales Phänomen handelte. Auch wenn der westdeutsche Anteil der bedeutendste war, so kamen auch aus anderen Ländern Menschen der bedrängten polnischen Bevölkerung zu Hilfe, so wie insgesamt auch die jeweilige Polonia eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte.243 Diese besaß freilich keine laute Stimme. Zurecht ist wiederholt darauf verwiesen worden, dass nach (West-)Deutschland ausgereiste polnische Staatsbürger lange Zeit eher in den vertrauten Milieus verblieben und keine allzu große Aufmerksamkeit erwecken wollten. Die traditionellen Polonia-Organisationen waren untereinander aus politischen wie persönlichen Gründen völlig zerstritten, sodass sie in den 1970er- und 1980er-Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung nicht präsent waren.244 Da Deutschland auch aus historischen Gründen anders als Frankreich und Großbritannien kein typisches Land für intellektuelle Emigration war, hielten sich die persönlichen Kontakte zwischen dieser und den Menschen im kommunistischen Polen in Grenzen. Eine gewisse Ausnahme stellte für alle Ostblockstaaten der Sender Freies Europa in München dar, dessen Wirkung auch nach Polen hinein gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dementsprechend massiv war das nachrichtendienstliche Vorgehen der polnischen Führung gegen seine wichtigsten Repräsentanten.245 Diese scheinen sich mit wenigen Ausnahmen allerdings kaum für das deutsch-polnische Verhältnis interessiert zu haben, was sich in Bezug 241 Als Überblick Cöllen, Barbara (Hrsg.): Polenhilfe. Als Schmuggler für Polen unterwegs, Dresden / Wrocław 2011. 242 Polen-Hilfe: „Eine echte Volksbewegung“, in: Der Spiegel Nr. 23 vom 7.6.1982. 243 Zur Hilfe für Solidarność vgl. Goddeeris, Idesbald (Hrsg.): Solidarity with Solidarity. Western European Trade Unions and the Polish Crisis, 1980–1982, Lanham, Md. 2010. 244 Loew, Wir Unsichtbaren, S. 210/211. 245 Machcewicz, Paweł: Poland’s War in Radio Free Europe, Washington / Stanford 2014, der leider viel zu wenig auf den deutschen Faktor eingeht.

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Abb. 7. Plakat für die Polen-Hilfsaktion des Deutschen Gewerkschaftsbundes, 1982

auf den langjährigen Leiter der polnischen Redaktion, Jan Nowak-Jeziorański (1952–1976), exemplarisch festmachen lässt. Dennoch gab es diverse Anlaufstellen im Kleinen für in Westdeutschland lebende Polen, etwa Buchhandlungen wie die 1979 in Berlin-Charlottenburg gegründete Polska Księgarnia, die bis 1990 existierte, und die noch heute als Versandbuchhandlung tätige, ursprünglich 1984 in Köln ansässige Buchhandlung von Janusz Łątka.246 Hier tauchten Polen, aber auch Deutsche fasziniert in eine kulturelle Welt ein, die sie oft nur vom Hörensagen kannten. Es war die Welt des Exils und in Polen verfemter Autoren wie Czesław Miłosz oder Witold Gombrowicz. Neben lokalen geistlichen Zentren wie dem Internationalen Evangelisationszentrum 246 Stefanek, Monika: Polska Księgarnia w  Berlinie Zachodnim, https://www.porta-polonica.de/pl/atlas-miejsc-pamięci/polska-ksiegarnia-w-berlinie-zachodnim (4.4.2020); http://www.polbuch.de (4.4.2020).

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des später tragisch ums Leben gekommenen Paters Franciszek Blachnicki im pfälzischen Carlsberg versuchten vereinzelt auch Zeitschriften wie der Berliner »Pogląd« oder der Frankfurter »Przegląd Tygodnia« in den 1980er-Jahren ein breiteres Polonia-Publikum zu erreichen.247 Die durch das Kriegsrecht in Polen bedingte Eiszeit in den bilateralen politischen Beziehungen ließ sich in den 1980er-Jahren nur schwer überwinden. Es würde allerdings zumindest im kulturellen Sektor zu kurz greifen, von einem kompletten Zusammenbruch der Kontakte zu sprechen.248 Als Wirtschaftspartner war das Land an der Weichsel für deutsche Industriebosse allerdings kaum noch interessant, gleichzeitig war die Bundesregierung weder bereit, die Kreditrahmen zu erweitern noch eine Stundung oder Schenkung der Auslandsschulden Polens zu akzeptieren. Man kann durchaus von einem diplomatischen Kleinkrieg in jenen Jahren sprechen. Den ständig wiederkehrenden polnischen Revanchismusvorwürfen begegnete die konservativliberale Bundesregierung unter Helmut Kohl mit einigen Nadelstichen in der Bewertung der Innenpolitik Warschaus und der Rolle der deutschen Vertriebenen; allerdings ohne dass sich an der Politik gegenüber derjenigen der sozialliberalen Bundesregierung grundsätzlich etwas änderte. Im Grunde spielten die Vertriebenenverbände Mitte der 1980er-Jahre keine politische Rolle mehr. Eine Art letztes Aufflackern stellten die Diskussionen um das Deutschlandtreffen der Schlesier in Hannover im Juni 1985 dar. Unter dem geplanten Motto „Schlesien bleibt unser“ wollte der Bundeskanzler als Gast nicht auftreten, sodass der Slogan geringfügig („… in Europa“) modifiziert und auf die europäische Lösung der Problematik hingewiesen wurde. Allerdings sandten die Vertreter der CDU/CSU unterschiedliche Signale aus. Während der stellvertretende Parteivorsitzende Lothar Späth in Polen einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen sondierte und die Bindewirkung des Warschauer Vertrags betonte, hob CSU-Chef Franz Josef Strauß hervor, dass bei einer Wiedervereinigung neu verhandelt werden müsse.249 Die Debatte, die auch im Deutschen Bundestag und in den parteikontrollierten polnischen Medien geführt wurde, zeigte zum einen, dass die Frage der deutschen Minderheit in Polen von der kommunistischen Partei  – aber auch von der katholischen

247 Karkowski, Czesław: Dwa lata z „Poglądem“, in: Autoportret zbiorowy. Wspomnienia dziennikarzy polskich na emigracji z lat 1945–2002, hrsg. von Wiesława Piątkowska-Stepaniak, Opole 2003, S. 183–204; Wodarczyk, Adam: Prorok żywego Kościoła. Ks. Franciszek Blachnicki (1921–1987), Katowice 2008. 248 Einen ausgezeichneten Überblick hierüber bietet Lempp, Albrecht (Hrsg.): Initiativen kultureller Zusammenarbeit Bundesrepublik Deutschland  – Volksrepublik Polen 1982– 1988, Darmstadt 1989. 249 Von Kohl wird eine Klärung der Politik gegenüber Polen erwartet, in: FAZ vom 15.6.1985.

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Kirche und halboppositionellen Kreisen250  – nicht für aktuell gehalten wurde, zum anderen wurde klar, dass eine erneute Grenzdiskussion keine Mehrheit in der westdeutschen Gesellschaft finden würde. Vier Jahre später spielte die Bestätigung der Westgrenze zwar noch einmal eine gewisse Rolle in der polnischen Innenpolitik, doch für das sich wiedervereinigende Deutschland galt dies schon nicht mehr. 1985 war das Ende des Zweiten Weltkriegs vierzig Jahre vergangen. Immer weniger Menschen erinnerten sich unmittelbar daran. Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai seine sofort als historisch bewertete Rede hielt, entschloss er sich dazu, diesen Tag eng mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft zu verknüpfen und ihn als „Tag der Befreiung“, nicht jedoch als Festtag zu bezeichnen. Indem er insbesondere der jüdischen, russischen und polnischen Opfer des Krieges gedachte, versuchte er auch an dieser Stelle, „im Namen der einen deutschen Nation“ Brücken zu schlagen.251 Mitunter war das Schweigen erst jetzt an einem Ende angekommen. Ein polnischer Jude aus Będzin überlebte mehrere Konzentrationslager, entschloss sich, nach dem Krieg in Westdeutschland angekommen, nicht nach Polen zurückzukehren, sondern in die USA auszuwandern. Das scheiterte jedoch und er begann nach drei Jahren im DP-Lager Zeilsheim in Frankfurt am Main eine Firma für Damenbekleidung aufzubauen. Seit den 1950er-Jahren war er auch in der dortigen jüdischen Gemeinde tätig und informierte sich in den folgenden Jahrzehnten genau über die Prozesse gegen Kriegsverbrecher, Israel und den Antisemitismus der Nachkriegsdeutschen. Aber erst 1985 war er innerlich bereit dazu, von seinen Erfahrungen im Krieg zu berichten. Jener Arno Lustiger, der von sich selbst sagte, sein Polnisch sei auf dem Niveau des 15-Jährigen stehen geblieben, der er 1939 gewesen war, verfasste dann bis zu seinem Tod 2012 eine Reihe wichtiger Bücher zur jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert und war zugleich eine der bedeutendsten Stimmen des deutschen Judentums.252 Ende der 1980er-Jahre hatte sich vor allem dank der neuen Ostpolitik vieles von dem Konfliktpotenzial erledigt, das die deutsch-polnischen 250 „Die Steine sprechen dort Deutsch und Polnisch“. Hansjakob Stehle im Gespräch mit Józef Kardinal Glemp, in: DIE ZEIT Nr. 25 vom 14.6.1985, S. 3; Skubiszewski, Krzysztof: Granica poczdamska. Polityka i prawo międzynarodowe, in: Tygodnik Powszechny vom 23.6.1985, S. 1, 3. 251 https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/ Reden/1985/05/19850508_Rede.html (1.3.2021). 252 Kerski, Basil / Skibińska, Joanna (Hrsg.): Ein jüdisches Leben im Zeitalter der Extreme. Gespräche mit Arno Lustiger, Osnabrück 2004; Lustiger, Arno: Zum Kampf auf Leben und Tod. Das Buch vom Widerstand der Juden 1933–1945, Köln 1994.  – Der Nachlass Lustigers befindet sich im Jüdischen Museum Frankfurt am Main.

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Beziehungen nach 1945 belastet hatte. Die direkten Kontakte der Menschen untereinander nahmen mit Ausnahme der Jahre des Kriegszustands kontinuierlich zu. In gewisser Weise stellten die Übersiedler und Migranten eine ständig zunehmende Verflechtung sicher, sie trugen mit den Jahren auch zu einer Verbesserung des deutschen Polen- und des polnischen Deutschlandbilds bei. Dennoch blieb eine Reihe ungelöster Frage bestehen. Die wirtschaftlichen Beziehungen waren weit von enger Kooperation entfernt, mit dem allmählichen Verschwinden der Planwirtschaft schienen sich jedoch immer mehr Handlungsmöglichkeiten anzubieten. Ein schwieriges ungelöstes Thema blieb die Frage einer Entschädigung für die Opfer des deutschen Besatzungsterrors und Schäden des Krieges (→ S. 86, 234). Misstrauisch beäugte man in Polen zu dieser Zeit die vermeintliche deutsch-deutsche Annäherung, für die Erich Honeckers Besuch in der Bundesrepublik im September 1987 symptomatisch war, zumal das Verhältnis zur DDR angespannt blieb. Zwanzig Jahre nach dem Aufbruch der neuen Ostpolitik, zehn Jahre nach dem Aufbegehren der Solidarność blickte der eine Partner gespannt auf die dramatischen Veränderungen in der Sowjetunion, während der andere ins Taumeln geraten war. Das Jahr 1989 sollte alles infrage stellen, was seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als sicher gegolten hatte.

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6. Versöhnung, Partnerschaft  – und weiter? (1990–2020)

Im Warschauer Vertrag vom Dezember 1970 war die Rede von der Schaffung der Grundlagen für die Normalisierung der bilateralen Beziehungen. Nach 1989 tauchte häufig die Formulierung von der Versöhnung zwischen den beiden Völkern auf. Beide Begriffe wurden und werden in verschiedenen Kontexten breit verwendet, sind jedoch nicht unumstritten. So ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass sich zwar einzelne Menschen miteinander versöhnen könnten, nicht aber ganze Völker oder ihre Regierungen. Demgegenüber lässt sich argumentieren, dass schon nach dem Ersten Weltkrieg von einer notwendigen „Völkerversöhnung“ die Rede war und die moralische Dimension einer Annäherung zwischen Staaten nach den vor allem für die Opfer dramatischen wie traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs nicht zu leugnen ist.253 Der Begriff „Versöhnung“ ist breit eingeführt und prägt nicht nur den deutsch-polnischen Diskurs bis heute. Zu fragen wäre hier eher, ob ein solcher Prozess durch Vertragswerke oder allgemeine politische Absichtserklärungen forciert oder gar abgeschlossen werden kann. Die Ereignisse der Jahre 1989 bis 1991 brachten Deutsche und Polen zweifellos einander näher, sodass es zumindest gerechtfertigt zu sein scheint, von einer neuen Phase der Beziehungen zu sprechen, für die der Begriff „Partnerschaft“ durchaus Verwendung finden kann. Die Zunahme deutsch-polnischer Verflechtungen begann freilich weder mit dem Runden Tisch in Polen im Frühjahr 1989 noch mit dem Fall der Mauer im November desselben Jahres. Sie hatte schon in den frühen 1980er-Jahren eingesetzt und war eng mit diversen Migrationsbewegungen verbunden, die idealtypisch nach verschiedenen Kategorien geordnet und zahlenmäßig nur unzureichend erfasst werden können. Diese sind immer global zu verstehen und sind kein spezifischer Teil nur der bilateralen Beziehungen, wenngleich die Bundesrepublik sicherlich die höchste Zahl an Migranten aus Polen aufnahm. Neben den Aussiedlern waren es politische Flüchtlinge, die ebenso mit einem Touristenvisum einreisten wie Arbeiter oder Händler, die sich für eine 253 So bei Valentin, Veit: Geschichte des Völkerbundgedankens in Deutschland. Ein geistesgeschichtlicher Versuch, Berlin 1920, S. 35, 143; Sarolea, Charles: Europe and the League of Nations, London 1919, S. 207.

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gewisse Zeit illegal im Ausland verdingten. Für manche Länder spielten offizielle Vertragsarbeiter aus Polen eine gewisse Rolle, etwa in der Ölindustrie des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch in Westafrika. In die letzte Kategorie, die für Westdeutschland  – im Gegensatz zur DDR  – unbedeutend war, fielen diejenigen, die familiäre oder politische Verbindungen zu Ländern mit starker Vor- oder Nachkriegsmigration aus Polen hatten.254 Anfang 1989 kam ein neues Phänomen hinzu. In Polen wurde den eigenen Bürgern nun erstmals erlaubt, den Reisepass (falls man denn einen besaß) zu Hause aufzubewahren. Jenseits der Besuche des sozialistischen Auslands und einiger anderer Staaten, in die man auch bislang schon relativ einfach gelangen konnte, war es nun jedem Polen jederzeit legal möglich, in Länder zu reisen, in denen es keine Visumpflicht gab. Aus geografischen Gründen lag es nahe, Österreich in den Blick zu nehmen. Zweites begehrtes Reiseziel wurde aber Westberlin. Wir sprechen hier nicht von gewöhnlichen Urlaubsreisen, um die Welt kennenzulernen, sondern davon, dass viele Menschen nun durch den Handel die Möglichkeit sahen, ihre eigene materielle Situation zu verbessern. Vor allem an den Wochenenden machten sie sich per Zug, Bus oder Privatauto zu den neu entstehenden „Polenmärkten“ auf. Die größten von ihnen stellten der Wiener Mexikoplatz sowie  – nach dem Mauerfall  – das Brachland in Berlin dar, das einstmals Potsdamer Platz geheißen hatte. Diese Märkte sind nicht als sich allmählich etablierende Einrichtungen zu verstehen, sondern als zeitlich begrenzte, experimentelle, einen Übergangszustand darstellende Phänomene.255 Sie stehen hiermit als Indikatoren pars pro toto für das gesamte Feld der deutsch-polnischen Verflechtungen in einem Übergangszeitraum, der im Grunde von der Mitte der 1980er- bis zum Ende der 1990er-Jahre existierte, auch wenn etwa der Berliner Polenmarkt bereits 1993 aufgrund der veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen zu bestehen aufhörte. Dafür verlagerten sich die Märkte weiter nach Osten, wo sie eine ähnliche Funktion erfüllten. Einen typischen neuen Handelsweg hat Małgorzata Irek beschrieben. Die „polnischen Handelskarawanen“ besorgten sich günstige Waren in der Türkei und schafften sie in die Tschechoslowakei und die DDR, wo sie als „garantiert westdeutsch“ gegen DDR-Mark verkauft wurden. Die Einnahmen tauschte man mit afrikanischen Studenten oder jugoslawischen Arbeitern gegen Devisen und fuhr weiter nach Westberlin, wo man Elektronikprodukte für den

254 Okólski, Marek / Stola, Dariusz: Migrations between Poland and the European Union, Warszawa 1999, S. 6/7. 255 Grundlegend und leider wenig rezipiert: Weber, Ursula: Der Polenmarkt in Berlin, Neuried 2002, hier S. 32/33.

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polnischen Markt erwarb. Diese neuen Europatouristen machten dabei häufig Gewinne von 50 oder gar 100 zu 1.256 Parallel dazu entwickelte sich auch in Polen selbst ein rapide wachsender inoffizieller Markt für westliche Produkte, die bisher häufig nur in den Pewex-Läden zu erhalten gewesen waren. Der Handel mit Devisen und geschmuggelten Waren hatte in den Jahrzehnten zuvor sowieso schon fast alle Länder des Sowjetblocks erfasst, nun weitete sich aber die Perspektive und die Gewinnmargen waren für eine gewisse Zeit enorm. Dem schlecht informierten westdeutschen Studenten, der 1989 zum ersten Mal nach Polen kam, konnte es sehr schnell passieren, dass er beim illegalen Geldtausch auf der Straße nicht die erwarteten Złotyscheine, sondern deutlich wertlosere jugoslawische Dinar erhielt. Ein zweites aktuelles Problem stellte die wachsende Zahl an Spätaussiedlern dar. In den Jahren 1988 und 1989 kamen letztlich fast 400 000 Menschen, vor allem aus Oberschlesien, in die Bundesrepublik. Aufgrund ihres enormen Umfangs wurden diese Prozesse von der Bundesregierung (aber auch von anderen Staaten) schließlich zumindest vorübergehend eindeutig behindert, die damit auf die Unzufriedenheit in der Bevölkerung und das Aufkommen der rechtspopulistischen Partei der Republikaner reagierte. Die zeitweilige Einführung von Visa, vor allem das Aussiedleraufnahmegesetz von 1990, das die Möglichkeiten zur Einreise als deutsche Staatsbürger im Sinne des Grundgesetzes (§ 116) oder deren Nachkommen stark einschränkte, war die insgesamt wohl doch zynisch zu nennende Antwort auf das Verschwinden des Eisernen Vorhangs, das man jahrzehntelang im Westen postuliert hatte.257 In der Praxis hatte dies allerdings vor allem zur Folge, dass sich die Art der Migration zu verändern begann. Kurzfristige Ausreisen nahmen an Bedeutung zu und die Motivlage veränderte sich häufig. Während die kurzzeitigen Migranten der 1980er-Jahre vor allem an der Anhäufung von Kapital interessiert waren, das meist nach der Rückkehr zum Aufbau künftiger beruflicher Perspektiven genutzt wurde, stand in den 1990er-Jahren die Steigerung der Möglichkeiten des Konsums im Rahmen des neuen kapitalistischen Systems im Vordergrund.258 Dazu passten die sozialen Veränderungen. Während vor der Wende der Anteil

256 Irek, Małgorzata: Der Schmugglerzug. Warschau  – Berlin  – Warschau. Materialien einer Feldforschung, Berlin 1998, S. 10–11. 257 Gesetz zur Regelung des Aufnahmeverfahrens für Aussiedler vom 28. Juni 1990, in: Bundesgesetzblatt Nr. 32 vom 30. Juni 1990, S. 1247/1248. 258 Łukowski, Wojciech: A Pendular Society. Hypotheses based on interviews, in: Frejka, Tomáš (u. a., Hrsg.): In-depth studies on migration in Central and Eastern Europe. The case of Poland, hrsg. von Tomáš Frejka / Marek Okólski / Keith Sword, New York / Genf 1998, S. 145–154, hier S. 147.

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höher qualifizierter Migranten überproportional hoch war, begann sich dies nach 1989 deutlich zu ändern.259 In der öffentlichen Wahrnehmung verlagerte sich das Interesse relativ rasch von den Aussiedlern hin zu den Saisonarbeitern. Dabei ist es bis an den Anfang des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts geblieben. Die 1991 zwischen Polen und Deutschland vereinbarte neue Regelung für die Anwerbung von Saisonarbeitern wurde trotz des bürokratischen Verfahrens bis 2004 von einer wachsenden Zahl von Interessierten genutzt. Wurden im ersten Jahr 78 600 Personen vermittelt, so waren es 2004 286 600. Die weit überwiegende Zahl von ihnen wurde in der Landwirtschaft eingesetzt, insbesondere als Spargelstecher und Erdbeerpflücker, wo es den Landwirten häufig nicht möglich war und ist, einheimische Kräfte anzuwerben.260 Neben den ökonomischen spielen aber auch soziale Gründe für die Migrationsentscheidung eine Rolle. Häufig stammen die Erntehelfer aus der gleichen Gegend oder sogar Ortschaft. Allerdings ist in diesem Bereich auch die Fluktuation der Arbeitskräfte höher als anderswo. In der Forschung ist die Frage umstritten, ob hier historische Muster und Stereotype weiterwirken, die etwa in Bezug auf Ostelbien schon Max Weber in seiner klassischen Arbeit untersucht hat.261 In jedem Falle zeigen Fallstudien ein höchst komplexes Geflecht vor Ort. Im anonymisierten norddeutschen Ort „Arnswald“ etwa wurde die Anwesenheit der Erntehelfer, die wie die Störche jedes Frühjahr zurückkamen, durchaus wahrgenommen.262 In den seltensten Fällen entstanden aber engere soziale Kontakte, obwohl die Arbeiter vor Ort Lebensmittel einkauften und teilweise sogar mangels Alternative evangelische Gottesdienste besuchten. Ihr Verhalten wurde als fremd wahrgenommen, etwa wenn sie beim Schützenfest ihre eigenen Getränke im Rucksack mitbrachten. Den Klischees der Einheimischen von den fleißigen, körperlich robusten, den ihnen zustehenden Lohn aber auch vehement einfordernden Polen entsprach in der Regel keine genauere Kenntnis von Polen. Umgekehrt fanden aber auch polnische Stereotype über die Zuverlässigkeit der Arbeitgeber oder die Qualität des deutschen Waschpulvers ihren Weg in eine Traditionslinie, die sicher länger zurückreicht als in die Jahre vor 1989. Man könnte sich theoretisch aber gut vorstellen, dass auch Johann Malchers Handreichung »Wie spreche ich mit 259 Okólski, Marek: Poland’s migration. Growing diversity of flows and people, Warszawa 1999. 260 Becker, Jörg: Erdbeerpflücker  – Spargelstecher  – Erntehelfer. Polnische Saisonarbeiter in Deutschland, temporäre Arbeitsmigration im neuen Europa, Bielefeld 2010, S. 88–90. 261 Weber, Max: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, Berlin 1892. 262 Wagner, Mathias: Arnswald  – Ein Dorf im Strukturwandel, in: Deutsches Waschpulver und polnische Wirtschaft, hrsg. von dems., Bielefeld 2013, S. 47–85.

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meinen polnischen Landarbeitern« von 1903 auch heute oft noch gute Verwendung fände.263 In Branchen, in denen eine geringere Zahl von Saisonarbeitern eingesetzt wurde, stimmte dieses Bild allerdings nur bedingt. Während die aus Polen stammende Kurzmigration in Großbritannien oder Frankreich eher mit Handwerksberufen assoziiert wird, erfolgt diese Verbindung in Deutschland zusätzlich und über die Jahre verstärkt über Pflegeund Putzkräfte. Erstgenannte  – weit überwiegend Frauen  – haben wie keine andere Berufsgruppe zur Verbesserung des Polenbildes in Deutschland beigetragen.264 Hierbei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass es sich selten um eine auf Gleichberechtigung basierende Verflechtung handeln kann. Die polnischen Akteurinnen haben sich zwar selbst zur Migration entschlossen, um aus diversen komplizierten Lebenssituationen zeitweise zu entkommen, und haben häufig in der Konsequenz neben den materiellen auch andere positive, teilweise auch emotionale Folgen dieser Entscheidung erfahren. Allerdings bedeutet die Übernahme einer zeitlich befristeten, oft vom Gesetz nicht gedeckten Pflegetätigkeit in der Regel auch eine starke Abhängigkeit vom Arbeitgeber und/oder von der zu pflegenden Person mit einer erheblichen Einschränkung der individuellen Möglichkeiten im fremden Land, dessen Sprache die Polinnen meist nur unzureichend sprechen. Man sollte sich hier allerdings vor Generalisierungen hüten, denn die individuelle Situation fällt  – nicht nur auf die privaten Beziehungen bezogen, sondern letztlich auch in Bezug auf die deutsch-polnische Verflechtungskomponente  – immer unterschiedlich aus. Die gesamtgesellschaftlichen Folgen sind im Positiven wie im Negativen nicht zu unterschätzen, da man im Allgemeinen annimmt, dass es sich um eine sechsstellige Personenzahl handelt. In jedem Fall gelang es den polnischen Familienhelferinnen seit den Nullerjahren, das Image ihres Herkunftslandes nachhaltig zu verbessern und Stereotype zu verändern. 2011 erschien ein sich gut verkaufendes Taschenbuch, in dem es unter anderem hieß: „Mein Name ist Justyna. Ich komme aus Polen. Ich bin Putzfrau. Ich sehe, wie es wirklich aussieht im Leben der Leute. Und was mir da manchmal begegnet, hätte ich nicht für möglich gehalten.“265 263 Malcher, Johann: Wie spreche ich mit meinen polnischen Landarbeitern, Stuttgart 1903. Weitere Auflagen stammen aus den Jahren 1920 und 1939. 264 Aus der Reihe soziologischer Studien zu diesem Thema unter anderem: Ignatzi, Helene: Häusliche Altenpflege zwischen Legalität und Illegalität, Münster 2014; Satola, Agnieszka: Migration und irreguläre Pflegearbeit in Deutschland, Stuttgart 2015; Kniejska, Patrycja: Migrant Care Workers aus Polen in der häuslichen Pflege, Wiesbaden 2016. 265 Polanska, Justyna: Unter deutschen Betten. Eine polnische Putzfrau packt aus, München 2011.

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I. Überblick

Der Blick auf die schmutzigen Geheimnisse der Deutschen verbindet sich hier mit mehr oder weniger impliziten Überlegungen zum letztlich besseren Zusammenhalt der Polen. Die in lakonischem, aber fehlerfreiem Deutsch, in kurzen prägnanten Sätzen formulierten Erlebnisse an der Grenze zur Satire ließen manche Leser stutzen. Und in der Tat stellte sich nach kurzer Zeit und medialem Hype heraus, dass sich hinter der vermeintlichen „Justyna Polanska“ ein promovierter Psychologiecoach aus Südhessen verbarg.266 Die Wahrnehmung Polens veränderte sich allmählich von den schlecht gekleideten Bauarbeitern und Autodieben hin zu fleißigen Arbeitskräften, um gegen Ende der 2010er-Jahre sich in Richtung „Demokratiefeinde“ zu entwickeln. Freilich wäre es heute im Grunde undenkbar, wie Harald Schmidt oder andere Comedians billige Witze auf Kosten von Polen zu machen.267 Es könnte aber auch sein, dass dies eine Folge der gesellschaftlichen Sanktionierung „unkorrekten Verhaltens“ darstellt. Auf der anderen Seite entwickelte sich die neue Kategorie der „Polenversteher“, also Menschen, die eine größere Öffentlichkeitswirkung dadurch erzielten, dass sie in Deutschland ein positives Bild des wichtigsten östlichen Nachbarn zeichneten. Stellvertretend ist hier der Kabarettist Steffen Möller zu nennen. Ursprünglich als Deutschlehrer tätig, entwickelte er ab 2002 eigene Programme, spielte in einer polnischen Telenovela einen deutschen Bauern, verfasste eine Reihe von Büchern und übernahm damit umgekehrt zusätzlich die Rolle eines „Deutschlanderklärers“.268 Zweifellos trifft die Beobachtung des Journalisten Adam Soboczynski zu, der in seiner stellenweise durchaus anrührenden Autobiografie darauf verweist, wie die nach Deutschland gekommenen Polen (und zwangsläufig zunächst auch deren Kinder) in der Öffentlichkeit kaum präsent waren und ihr Polnischsein versteckten.269 Die Art, Weihnachten zu feiern, oder polnischsprachige Gottesdienste blieben als vereinzelte spirituelle Inseln bestehen. Manche dieser „Unsichtbaren“ entdeckten mit der Zeit aber neue Möglichkeiten, gingen nach Polen zurück oder begannen die eigenen Biografien oder die ihrer Eltern aufzuarbeiten, dabei immer Karrieren wie die von Miroslav 266 2017 entstand zudem ein sehr frei an das Buch angelehnter Spielfilm mit Veronica Ferres in der Hauptrolle. 267 Schmidt, Harald / Feuerstein, Herbert: Schmidteinander. Sexsklave in Polen, https:// www.youtube.com/watch?v=TNiHZrlZ-Wo (zwischen 1990 und 1994) (12.2.2020); Fis, Marek: Baustelle Europa, https://www.youtube.com/watch?v=xzA38xwDLIA (vor 2015) (12.2.2020). 268 Möller, Steffen: Viva Polonia. Als deutscher Gastarbeiter in Polen, Frankfurt am Main 2008; ders.: Weronika, Dein Mann ist da! Wenn Deutsche und Polen sich lieben, München 2019. 269 Soboczynski, Adam: Polski Tango. Eine Reise durch Deutschland und Polen, Berlin 2006.

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Klose und Lukas Podolski im Blick.270 Alles in allem waren und sind die polnischen Spuren wie eh und je eher versteckt und werden in den seltensten Fällen in der medialen (Selbst-)Inszenierung nutzbar gemacht. Ewa Müller, Marek Ćwiertnia und Tomasz Kuklicz hätten mit ihren wirklichen Namen vermutlich kaum Karriere gemacht, Schwesta Ewa, Mark Forster und DJ Tomekk dagegen schon.271 Ein weiteres neues Phänomen im bilateralen Rahmen stellte die Niederlassung von Polen auf deutscher Seite der Oder-Neiße-Grenze und die damit verbundenen grenzübergreifenden Projekte dar. In der Regel handelte es sich dabei um die Folgen günstigen Baulands in Vorpommern und Nordbrandenburg sowie frei stehender Wohnungen im deutschen Teil der Doppelstadt Görlitz-Zgorzelec. Besonders sichtbar ist dieser Trend in der etwa 25 Kilometer von Stettin entfernten Kleinstadt Löcknitz mit ihren etwa 3300 Einwohnern, von denen etwa 15 Prozent Polen sind. Während viele von ihnen weiterhin in Polen arbeiten, stellen sie inzwischen auch einen bedeutenden Anteil unter den Ärzten der Region. Schon 1995 war hier zudem ein Deutsch-Polnisches Gymnasium gegründet worden. Hier und in weiteren Bildungseinrichtungen lernen heute etwa 1000 deutsche und polnische Schüler.272 Umgekehrt begannen viele Deutsche den Weg über die Grenze zu suchen, nicht nur, um dort auf den zahlreichen Märkten einzukaufen, sondern auch, um Dienstleistungen in vielen Bereichen zu nutzen. Neben dem Blumenkauf und Friseurbesuch waren es vor allem die günstigen Angebote im medizinischen und physiotherapeutischen Bereich, die lockten und häufig von deutschen Krankenkassen offensiv beworben wurden.273 Der Trend des Einkaufens in Polen hat freilich auch seine Kehrseiten, etwa wenn zu jedem Jahresende Tonnen illegalen Feuerwerks, die sogenannten Polenböller, über die Oder gebracht werden.

270 Smechowski, Emilia: Wir Strebermigranten, Berlin 2017; Stokowski, Margarete: Wie ich unfreiwillig Reichsbürgerin wurde, in: Spiegel vom 10.12.2019, https://www.spiegel. de/kultur/gesellschaft/wie-margarete-stokowski-unfreiwillig-zur-reichsbuergerin-wurde-a-1300541.html (12.3.2020). 271 Bingen, Dieter / Kaluza, Andrzej / Kerski, Basil / Loew, Peter Oliver (Hrsg.): Polnische Spuren in Deutschland, Bonn 2018, S. 100/101, 108, 379. 272 Łada, Agnieszka / Segeš Frelak, Justyna (Hrsg.), Eine Grenze verschwindet. Die neue polnische Migration nach Deutschland aus lokaler Perspektive, Warschau 2012; Wagner, Winfried: Grenzstadt Löcknitz: Wie polnische Schüler Leben in den kleinen Ort bringen, in: Ostsee-Zeitung vom 3.10.2019, https://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/MV-aktuell/Grenzstadt-Loecknitz-Wie-polnische-Schueler-Leben-in-die-Kleinstadt-bringen (16.3.2020). 273 Pentsi, Angelika: Zur Wurzelbehandlung über die Grenze, in: Märkische Allgemeine vom 5.11.2014, https://www.maz-online.de/Brandenburg/Zur-Wurzelbehandlung-ueber-die-Grenze (16.3.2020).

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Die Existenz sogenannter Doppelstädte, die durch Oder oder Lausitzer Neiße geteilt sind, rückte erst langsam ins Bewusstsein ihrer Bewohner. Es stellte sich jedoch heraus, dass durch den Abbau der Grenzanlagen und endgültig durch die Aufhebung der Grenzkontrollen 2007 eine allmähliche Wiederentdeckung des anderssprachigen Umlands zumindest vorbereitet wurde. Allerdings gilt es, dreißig Jahre später auch festzuhalten, dass jenseits existierender kommunaler und regionaler Kooperation sich kein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hat. Frankfurt an der Oder und Słubice, Guben und Gubin sowie Görlitz und Zgorzelec können trotz aller Fortschritte nur sehr bedingt als Blaupausen für deutsch-polnische Kommunikation nach 1989 dienen.274 Die zeitweisen Grenzschließungen während der Coronapandemie von 2020/2021 bestätigten, dass der Prozess der allmählichen Annäherung der Menschen dies- und jenseits der Grenze weiterhin nicht frei von nationalstaatlichen Entwicklungen verlaufen kann. Ein weiterer Beleg dafür, dass nicht alle Blütenträume von der Annäherung reiften, ist die Entwicklung der gemeinsamen Infrastruktur, insbesondere im Bereich des grenzüberschreitenden Verkehrs. Innerpolnisch dauerte es sehr lange, bis der dringende nötige Bau von Autobahnen und Schnellstraßen in Gang kam. Erst die zur infrastrukturellen Vorbereitung der Fußballeuropameisterschaft 2012 in Polen und in der Ukraine zur Verfügung gestellten Mittel bewirkten hier eine massive Beschleunigung der Bautätigkeit. Umfasste das Autobahn- und Schnellstraßennetz in jenem Jahr nur etwa 700 Kilometer, so hat sich diese Zahl bis Ende 2019 auf 4000 Kilometer erhöht, eine weitere Verdopplung ist geplant.275 Dies wirkte sich jedoch nur bedingt auf die internationalen Verbindungen aus. Wenn man von Berlin aus nach Breslau fährt, ist man nach dem Grenzübergang Olszyna über 70 Kilometer lang gezwungen, auf dem löchrigen Asphalt der alten Reichsautobahn 9 zu fahren. Noch schlimmer sieht es bei den Zugverbindungen aus. Mit Ausnahme der Trasse Berlin–Warschau gibt es 2020 keine internationalen Standards entsprechenden Verbindungen. Die Verantwortung hierfür liegt auf beiden Seiten, vor allem aber bei der Deutschen Bahn, die bisher trotz aller Bemühungen der betroffenen Bundesländer nicht bereit war, in vermeintlich wenig gewinnträchtige Strecken zu investieren.276 274 Jajeśniak-Quast, Dagmara / Stokłosa, Katarzyna: Geteilte Städte an Oder und Neiße. Frankfurt (Oder)  – Słubice, Guben  – Gubin und Görlitz  – Zgorzelec 1945–1995, Berlin 2000. 275 https://moto.pl/MotoPL/7,88389,25386185,od-dzis-w-polsce-jest-4-tys-km-drog-szybkiego-ruchu-to-dokladnie.html (7.11.2019). 276 Schröder, Dietrich: Kleine Schritte statt großer Würfe, in: Lausitzer Rundschau vom 2.2.2019, https://www.lr-online.de/nachrichten/polen/brandenburgisch-polnische-bahn verbindungen-kleine-schritte-statt-grosser-wuerfe-38153742.html (22.3.2020).

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Aber noch einmal zurück ins Jahr 1989. Die Entwicklung Polens hin zu einer funktionierenden Demokratie erfolgte schrittweise. Die Gespräche am Runden Tisch  – eine unmittelbare Reaktion auf den rasanten wirtschaftlichen Niedergang des Landes und die Unfähigkeit der kommunistischen Regierung, dem gegenzusteuern  – begannen am 6. Februar 1989 in Warschau. An ihnen nahmen insgesamt Hunderte von Personen teil. Obwohl hier einige Krisen zu überwinden waren und die gesellschaftlichen Konflikte auch weiterhin auf den Straßen ausgetragen wurden, verständigten sich die Regierung und das Bürgerkomitee Solidarność auf tiefgreifende Veränderungen, die am 5. April formell beschlossen wurden. So wurde unter anderem die Gewerkschaft Solidarność wieder zugelassen, ein Mehrparteiensystem und die Schaffung einer unabhängigen Justiz vereinbart. Die teilweise freien Wahlen vom 4./18. Juni bereiteten den Weg zur Wahl des katholischen Intellektuellen Tadeusz Mazowiecki zum Ministerpräsidenten am 24. August. Die westdeutsche Seite begleitete diesen Prozess mit großem Interesse und Sympathie, konnte ihm aber zugleich nicht allzu viel Aufmerksamkeit widmen, weil sie stark mit der dramatischen Entwicklung in der DDR und Massenausreisen von DDR-Bürgern befasst war. Es war zu diesem Zeitpunkt nur wenigen klar, dass damit der erste große Schritt zur Überwindung der Teilung Europas erfolgt war. Als in Polen die Feiern zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1989 stattfanden, war kein Vertreter der Bundesregierung anwesend. Diese symbolische Leerstelle konnte auch die Bundestagsdebatte zu Polen, die an diesem Tag stattfand, nicht ausgleichen.277 Dabei zeichnete sich bereits zu diesem Zeitpunkt ab, dass die neue polnische Regierung ihre deutschlandpolitischen Vorstellungen auf eine neue Grundlage zu stellen bereit war. Der designierte Außenminister Krzysztof Skubiszewski erklärte bei seiner Anhörung vor dem Auswärtigen Ausschuss des Sejms, dass beide deutsche Staaten das Recht hätten, eine Wiedervereinigung anzustreben, zumal die Frage der polnischen Westgrenze im Grunde geklärt sei. Allerdings müssten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und die Nachbarn einem solchen Schritt zustimmen.278 Intern sah man die Lage offenbar etwas problematischer, zunächst war man aber ganz pragmatisch gefordert. Denn nicht nur in Budapest und Prag, sondern auch in Warschau hatten sich DDR-Bürger auf das Gelände der bundesdeutschen Botschaft geflüchtet, um ihre Ausreise zu erzwingen. Man mag es eine seltsame Ironie des Schicksals nennen, dass die wichtigsten Vertreter der Bundesregierung mit Bundeskanzler Kohl an der Spitze ausgerechnet während des lange vorbereiteten Polenbesuchs im November 277 Siehe dazu https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/11/11154.pdf (18.2.2021). 278 Nach Ludwig, Michael: Polen und die deutsche Frage, 2. Aufl., Bonn 1991, S. 22.

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1989 vom Fall der Berliner Mauer überrascht wurden. Die Freude vieler Polen über das sich abzeichnende Ende der Teilung des Kontinents ging einher mit Befürchtungen, man selbst werde angesichts der neuen Prioritäten Westdeutschlands wieder einmal ins Hintertreffen geraten.279 Die Tatsache, dass der Bundeskanzler seine fünftägige Reise unterbrechen musste, um in Berlin und Bonn vor Ort zu sein, wurde nicht in Abrede gestellt, obwohl es zuvor gewisse Spannungen in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung des Besuches gegeben hatte. Die deutsche Seite beharrte lange auf einem gemeinsamen Auftritt inklusive einer Begegnung mit Vertretern der deutschen Minderheit auf dem oberschlesischen Annaberg, der seit den blutigen Kämpfen nach Ende des Ersten Weltkriegs aber vor allem für die Konflikthaftigkeit der Beziehungen stand.

Abb. 8. Friedensmesse in Kreisau, 1989: Bundeskanzler Helmut Kohl und Polens Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki beim Friedensgruß

Nach komplizierten Gesprächen zwischen den beiden Bevollmächtigten Horst Teltschik und Mieczysław Pszon verständigte man sich schließlich auf den Kompromiss, im niederschlesischen Kreisau, einem symbolischen Ort für den Widerstand gegen Hitler, unter Federführung des Oppelner Bischofs

279 Sehr eindringlich dazu die Erinnerungen Horst Teltschiks, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, München 1991, S. 11–31.

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Alfons Nossol eine Versöhnungsmesse abzuhalten.280 Dies geschah so kurzfristig, dass man sich vor Ort in und um das verfallene einstige Herrenhaus der Familie von Moltke kaum auf dieses „welthistorische“ Ereignis vorbereiten konnte.281 Der Gottesdienst selbst, der trotz aller logistischen Schwierigkeiten über 7000 Menschen anzog, verlief letztlich ohne größere Probleme. Allerdings berichteten viele Teilnehmer später von der kühlen, verkrampften Stimmung, die geherrscht habe. Helmut Kohl wollte nicht nur ein Symbol für die Angehörigen der deutschen Minderheit setzen, sondern seine Kanzlerschaft zudem mit einer Aussöhnung mit Polen krönen. Die polnische Seite musste verschiedene politische Interessen berücksichtigen, hatte insgesamt keine so hohen symbolischen Erwartungen wie die deutsche, hoffte stattdessen vor allem auf finanzielles und wirtschaftliches Entgegenkommen. Hinzu kamen die Wünsche der zahlreich vertretenen Deutschen aus Polen. Wie später etwa auch bei Kohls Wahlkampfauftritt in Dresden zeigte sich in Kreisau die Wirkungsmacht des Schriftlichen überdeutlich. Wahrgenommen wurde von den Beobachtern ein  – viel diskutiertes  – Plakat mit der deutschen Aufschrift „Helmut, du bist auch unser Kanzler!“, was bei manchen Polen ungute Erinnerungen an die Rolle der deutschen Minderheit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs weckte, aber auch die bundesdeutschen Gäste in eine gewisse Verlegenheit stürzte. Im Nachhinein steht jedoch vor allem der  – im Rahmen der katholischen Liturgie übliche  – Friedensgruß zwischen Kohl und Mazowiecki im erinnerungspolitischen Vordergrund. Die Geste selbst fiel kurz aus und nicht wenige empfanden ein gewisses Unbehagen, als der korpulente Riese aus der Pfalz den eher zierlichen polnischen Premier umarmte. Letztlich begleitete diese Geste aber eine Reihe von Vereinbarungen, die während des Besuchs abgeschlossen worden waren und die in der Tat das deutsch-polnische Verhältnis auf eine neue Basis stellten. Allerdings nahmen die Irritationen in Bezug auf eine endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze zu, weil die deutsche Seite zunächst nicht über die Bestimmungen des Vertrags von 1970 hinausgehen wollte.282 Da in der polnischen Regierung 280 Zu den  – nicht immer ganz klaren  – Hintergründen Pszon, Mieczysław: Wspomnienia 1956–1989, in: Polacy i Niemcy pół wieku później, hrsg. von Wojciech Pięciak, Kraków 1996, S. 536–549, hier S. 542–544, sowie Franke, Annemarie: Das neue Kreisau, Augsburg 2017, S. 152–171. 281 Zu den Details siehe Czachur, Waldemar / Feindt, Gregor: Kreisau/Krzyżowa 1945  – 1989  – 2019, Bonn 2019, S. 142–152. 282 Hierzu und zum Folgenden ausführlich, wenngleich nicht aus einer wissenschaftlichen Position heraus Sułek, Jerzy: Der schwierige Weg zum Umbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen 1989–1991 im Lichte der neuesten diplomatischen Dokumente, in: Historischer Umbruch und Herausforderung für die Zukunft, hrsg. von Witold M. Góral­ski, Warschau 2011, S. 29–145.

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I. Überblick

kommunistische und der Solidarność-Bewegung angehörende Mitglieder miteinander rangen und das Außenministerium noch überwiegend mit Altkadern besetzt war, verhärtete sich nun auch die polnische Position wieder. Angesichts der sich abzeichnenden Neuthematisierung der „deutschen Frage“ richtete Polen sein Hauptaugenmerk auf den internationalen Rahmen. So verständlich angesichts der historischen Erfahrungen die polnische Befürchtung war, von Deutschland und den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs noch einmal hintergangen zu werden, so unbegründet waren diese Ängste vor dem aktuellen Hintergrund des Jahres 1989. Der Fehler der westdeutschen Regierung bestand ganz offensichtlich darin, mit Blick auf die innere Entwicklung, insbesondere die bevorstehenden Wahlen, in Bezug auf internationale Vereinbarungen zu den Grenzen eines sich allmählich vereinigenden deutschen Staates eine bremsende Haltung einzunehmen. Obwohl praktisch niemand mehr die Oder-Neiße-Grenze infrage stellte, wurden die polnischen Bedenken zu wenig ernst genommen. Als am Ende der Zwei-plus-vier-Verhandlungen über Deutschland, an denen bei den Gesprächen über die künftigen Grenzen Deutschlands auch Polen beteiligt wurde, eine Übereinkunft stand, die im Grunde mit dem noch ausstehenden Friedensvertrag über Deutschland gleichgesetzt werden konnte, musste bei einigen Akteuren und Beobachtern der Eindruck entstehen, als sei die Einigung über die Grenzen der deutschen Seite abgezwungen worden. Gleichzeitig war auch rasch klar, dass nur ein völkerrechtlicher bilateraler Vertrag endlich Klarheit würde schaffen können. Obwohl Deutsche und Polen ganz zweifellos  – mit den Worten Dieter Bingens  – „mehr Gefangene politischer Gewohnheiten und Denkstile der vergangenen Jahrzehnte [waren,] als sich die Akteure eingestehen wollten“,283 erfolgte der formale Abschluss des Grenzvertrags am 14. November 1990 dann genauso rasch und reibungslos wie der noch viel detailliertere „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ vom 17. Juni 1991.284 Letzterer beinhaltete eine Reihe von Absichten und konkreten Maßnahmen zur Intensivierung der gegenseitigen Kontakte, zur Verbesserung der Lage der deutschen Minderheit in Polen sowie der in Deutschland lebenden Polen, die Gründung bilateraler Einrichtungen wie der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und des 283 Bingen, Dieter: Der lange Weg der „Normalisierung“. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen 1949–1990, in: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1949–2000. Eine Werte- und Interessengemeinschaft?, hrsg. von Wolf-Dieter Eberwein / Basil Kerski, Opladen 2001, S. 35–59, hier S. 57. 284 Vgl. den Vertragstext in Bulletin der Bundesregierung 68 vom 18.6.1991, https://www. bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/vertrag-zwischen-der-bundesrepublikdeutschland-und-der-republik-polen-ueber-gute-nachbarschaft-und-freundschaftlichezusammenarbeit-786742 (4.4.2020).

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Deutsch-Polnischen Jugendwerks. Deutschland verpflichtete sich weiterhin, den Beitritt Polens zur Europäischen Gemeinschaft zu unterstützen. Damit waren die rechtlichen Grundlagen für das gelegt, was der deutsch-polnische Publizist Basil Kerski im Rückblick „goldene Jahre des Aufbruchs“ nannte, die bis zur Entwicklung vor allem außenpolitischer Interessengegensätze um die Jahrhundertwende anhalten sollten.285 Sowohl, was die Fragen der gemeinsamen Institutionen angeht, als auch in Bezug auf die deutsche Minderheit traten trotz der mit den jeweiligen Regierungswechseln in beiden Ländern nicht selten aufkommenden Meinungsunterschiede keine fundamentalen Konflikte zutage. Die Deutschen Oberschlesiens büßten aufgrund der demografischen Entwicklung und der unkomplizierten Reise- und Erwerbsmöglichkeiten in Deutschland allmählich an politischer Bedeutung ein, stellen aber dennoch bis heute in der Kommunalpolitik vor allem des Oppelner Schlesiens einen wichtigen Faktor dar. Durch das polnische Gesetz über nationale und ethnische Minderheiten von 2005 sind in allen Gemeinden, in denen nach den Daten der letzten Volkszählung der Minderheitenanteil über 20 Prozent beträgt, Orts- und Geländenamen in der Minderheitensprache erlaubt. Neben kaschubischen, litauischen, weißrussischen und lemkischen Ortsnamen gilt diese Regelung auch für 31 Orte mit deutscher Minderheit, in denen Deutsch zudem als Hilfssprache in der Verwaltung zulässig ist.286 Die Zahl der Minderheitenvertreter im polnischen Sejm verringerte sich von zwischenzeitlich vier auf derzeit einen Abgeordneten. Von einer politischen Instrumentalisierung der Minderheit haben beide Seiten bisher meistens abgesehen. Dagegen flammten immer wieder Kontroversen um die Rolle und die Entfaltungsmöglichkeiten der in Deutschland lebenden Polen auf. Sie hatten aufgrund ihrer Geschichte als Migrantengemeinschaft nicht den Minderheitenstatus erhalten, der autochthonen Gruppen wie den Sorben und Friesen vorbehalten blieb. Wenngleich das Verhalten der deutschen staatlichen Stellen in Bezug auf ein mögliches Schuldeingeständnis wegen der Enteignung von Polonia-Einrichtungen und der Verfolgung ihrer Angehörigen im Nationalsozialismus tatsächlich Züge eines Skandals trug, hatten die weiterreichenden Forderungen eher den Charakter finanzieller Verteilungskämpfe sowie den eines Versuchs, die äußerst heterogene Gruppe der in Deutschland lebenden 285 Kerski, Basil: Historische Höhepunkte und Krisen. Vom janusköpfigen Charakter der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1989, in: ders.: Die Dynamik der Annäherung in den deutsch-polnischen Beziehungen, Düsseldorf 2011, S. 240–265, hier S. 242.  – In einigen wesentlichen Punkten (etwa beim Jugendwerk) griff man auf die jahrzehntelangen Erfahrungen aus der deutsch-französischen Kooperation zurück. 286 http://mniejszosci.narodowe.mswia.gov.pl/download/86/13576/stan09042019ost.pdf (4.4.2020).

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Polen und aus Polen stammenden Menschen unter durchsichtigen Vorzeichen zu homogenisieren.287 Der ökonomische Transformationsprozess Polens verlief mit viel größeren sozialen Härten als bei der bis heute häufig kritisierten, maßgeblich durch die Treuhand gesteuerten Entwicklung in der ehemaligen DDR. Zentral waren dabei die Überlegungen von Finanzminister Leszek Balcerowicz, durch eine Schocktherapie nur die wettbewerbsfähigen Betriebe zu erhalten und die Privatisierung rasch voranzutreiben. Ausländische Investitionen spielten in diesem Konzept eine ebenso wichtige Rolle wie der Erlass eines großen Teils der Schulden durch westliche Staaten. Erst nachdem das Letztgenannte eingetreten war, entschlossen sich viele deutsche Unternehmen, den Produktionsstandort und Markt Polen für ihre Aktivitäten zu nutzen, dann aber mit Schwung. In den acht Jahren zwischen 1990 und 1998 verdreifachte sich der Handelsaustausch fast von 15 auf über 40 Milliarden Deutsche Mark, um 2019 bereits 123,5 Milliarden Euro (241,5 Milliarden Deutsche Mark) zu betragen.288 Lag die Hauptmotivation für die meisten Firmen lange Zeit in der leichten Verfügbarkeit günstiger und gut ausgebildeter Arbeitskräfte begründet, die zudem die Zahl polnischer Arbeiter in Deutschland stetig steigen ließ, begann sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Relation etwas zu verschieben. Zwar blieb es dabei, dass die wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellungen in beiden Ländern ähnlich blieben, was sich im Übrigen auch im gemeinsamen Unbehagen über die Entwicklungen in Griechenland und Italien nach 2012 äußerte. Und auch die vorherrschenden Asymmetrien in den Wirtschaftsbeziehungen bestanden weiter, etwa bei der Art der verkauften Produkte oder den Direktinvestitionen.289 Allerdings machen sich auf gewissen Feldern wie im Dienstleistungssektor erste Faktoren einer allmählichen Annäherung bemerkbar. Es begann sich aber zu zeigen, dass für wenig qualifizierte polnische Arbeitskräfte der deutsche Markt nicht mehr so interessant war wie zuvor und deutsche Arbeitgeber in Bereichen wie Landwirtschaft und Bauwesen verstärkt auf (billigere) Arbeiter aus Südosteuropa zurückgriffen. Zudem orientierte sich Polen etwa im Hightechbereich allmählich stärker an Ländern wie den USA, 287 Kaluza, Andrzej: Zum Minderheitenstatus der polnischsprachigen Migranten in Deutschland, in: Polen-Analysen Nr. 98 vom 1.11.2011, https://www.laender-analysen.de/polenanalysen/98/zum-minderheitenstatus-der-polnischsprachigen-migranten-in-deutschland/ (4.4.2020). 288 Płóciennik, Sebastian: Besser geht’s nicht? Die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen nach 1990, in: Polen-Analysen Nr. 253 vom 17.3.2020, S. 2–7, hier S. 3; https:// polen.diplo.de/pl-de/02-themen/02-3-wirtschaft/03-dt-poln-wirtschaftsbeziehungen (18.2.2021) (mit den vorläufigen Zahlen für 2019). 289 Ebenda, S. 4.

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Japan und zuletzt auch China. Wie eng die ökonomische Verflechtung dennoch ist, zeigen die nicht enden wollenden Lkw-Kolonnen von Ost nach West und zurück auf den Autobahnen sowie die hohe Frequenz von Kleinbussen und Pkw. Ob die globale Coronakrise der Jahre 2020/21 diese Entwicklung etwa aufgrund eines zunehmenden Wirtschaftsprotektionismus, wie man ihn beispielsweise im Lebensmittelsektor in Ansätzen erkennen kann, aufhalten oder umkehren wird, kann momentan noch nicht eingeschätzt werden. Nicht untypisch für die zunehmende ökonomische Verflechtung war die Situation im Bereich Medien und Banken. Hier war es anfangs allerdings nicht klar, ob sich das postsowjetische Modell einer Übernahme durch reiche Geschäftsleute dubioser Provenienz durchsetzen würde oder ob ausländische Investoren massiv einsteigen würden.290 Am Ende waren es Letztere, die die Oberhand behielten. Nach der Novellierung des Presserechts im Juni 1989 war der Weg frei für westliche Medienunternehmen. Durch die Verbreitung eigener Zeitschriften, die Neugründung von Titeln und die Übernahme bewährter Angebote veränderte sich zum Beispiel die Zeitschriftenlandschaft deutlich. Deutsche Verlage hatten hierbei einen überproportionalen Anteil, insbesondere durch die Aktivitäten von Heinrich Bauer, Burda, Gruner + Jahr und Axel Springer. Anders als in der Tschechoslowakei und Ungarn begann der eigentliche Siegeszug in Polen erst im Jahre 1993. Nach dem Vorbild der DDR nach der Wende wurden niedrigpreisige Titel wie »Pani Domu« in Millionenauflage auf den Markt geworfen. 1998 waren von den 25 meistgelesenen Wochenzeitungen 13 in deutscher Hand.291 Im folgenden Jahrzehnt setzten dann verstärkt Konsolidierungsprozesse ein und der Wettbewerb untereinander wurde noch härter. Die Angst vor einem Ausverkauf und gleichzeitiger inhaltlicher Beeinflussung der polnischen Medien war besonders in nationalkonservativen Kreisen weitverbreitet und führte 2021 zu ersten konkreten Schritten, ausländisches Kapital auf dem Zeitungsmarkt zurückzudrängen.292 Die jahrzehntelange Isolierung und die Dominanz der Zensur hatten fremdenfeindliche Reflexe am Leben gehalten, die schon die Debatten der Zwischenkriegszeit dominiert hatten und die auch in anderen Bereichen der Gesellschaft sichtbar wurden und bis heute sichtbar sind, etwa im Umgang mit Migranten. In der Praxis stellte sich jedoch rasch heraus, dass die ausländischen Verleger vor allem am finanziellen Erfolg interessiert waren und auf die Inhalte praktisch keinen Einfluss nahmen. Allerdings gilt es zu bedenken, dass auf diesem Weg 290 Bachmann, Klaus: Politik in Polen, Stuttgart 2020, S. 119. 291 Dąbrowska-Cendrowska, Olga: Niemieckie koncerny prasowe w  Polsce w  latach 1989–2008, Warszawa 2009, S. 30. 292 Sieradzka, Monika: Polens Regierungspartei PiS greift nach den privaten Medien, in: Deutsche Welle vom 9.12.2020, https://p.dw.com/p/3mQcp (18.2.2021).

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zweifellos westliche Lebensweisen und -muster schneller Verbreitung fanden, die die polnische Gesellschaft auf längere Sicht verändert haben. In anderen Bereichen der Wirtschaft taten sich freilich, ausgehend von komplett unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Prämissen, gravierende Differenzen auf, die sich aus politischen wie ökonomischen Gründen über die Jahre sogar noch verschärften.293 Dazu zählt in erster Linie die Frage der Energieversorgung. Zugegebenermaßen sind die Ausgangsbedingungen hierbei für Polen ungünstig, ist doch die Energieversorgung seit der sozialistischen Zeit von einem ökonomisch wie ökologisch ungesundem Mix aus eigener Stein- und Braunkohle sowie fast ausschließlicher Abhängigkeit von russischem Öl und Gas geprägt. In den letzten Jahrzehnten ist zwar die Steinkohleförderung deutlich zurückgegangen, ein zukunftsweisendes Konzept für die Energiewirtschaft existiert dagegen nicht, sodass Experten hier zu Recht auf den „vollkommenen Mangel an Verantwortungsbewusstsein bei den politischen Eliten, egal welcher Partei“ verwiesen haben.294 Die unter Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeleiteten Bemühungen, eine Art Energiepartnerschaft mit Russland aufzubauen, sind in Polen auf große, historisch und aktuell politisch bedingte Skepsis gestoßen und belasten das bilaterale Verhältnis bis zum heutigen Tage. In erster Linie betrifft dies die beiden Gaspipelines in der Ostsee sowie die personellen Verflechtungen deutscher und russischer (wirtschafts)politischer Akteure. Hinzu kam das polnische Misstrauen gegenüber der deutschen Energiewende, vom beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie nach der Katastrophe von Fukushima im Jahre 2011 bis hin zur massiven Förderung erneuerbarer Energien, die in dieser Form schon aus finanziellen Gründen in Polen nicht machbar wäre.295 Die zweite Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit seit 2015 hat sich zudem weitgehend von klimapolitischen Zielen verabschiedet, obwohl noch Ende 2018 die UNO-Klimakonferenz in Kattowitz stattfand, die sich eine stärkere Vermeidung von klimaschädlichen Prozessen auf die Fahnen schrieb.296 293 Ulatowski, Rafał: Energiesicherheit Polens im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen, in: Deutschland und Polen in der Europäischen Union, hrsg. von Wolfram Hilz / dems., Marburg 2016, S. 109–123. 294 Riedel, Rafał: „Grüner Konservatismus“? Über die polnische Klima- und Energiepolitik, in: Polen-Analysen Nr. 230 vom 5.2.2019, S. 2–7, hier S. 2. 295 Olszewski, Michał: Die Polen und die Energiewende, in: Polen-Analysen Nr. 124 vom 16.4.2013, S. 2–6. 296 Siehe dazu aber jetzt den offiziellen Kohleausstiegsplan der Regierung, über dessen Umsetzbarkeit sich freilich bisher kaum etwas sagen lässt: Immerhin gibt es jetzt einen Kohleausstiegsplan bis 2049 (https://www.newsweek.pl/polska/koniec-wydobywania-wegla-w -polsce-w-2049-r-jest-porozumienie-w-sprawie-zasad-i-tempa/6vz54qg). Diesem Szenario widersprechen auch die Erweiterungspläne für den Braunkohleabbau in Turów. Dagegen hält Polen an der Option der Nutzung von Atomenergie fest und plant den Bau

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Es würde aber zu kurz greifen, die neuen ökonomischen Verflechtungen nur vor einem deutsch-polnischen Hintergrund zu betrachten. Der Prozess globaler Vernetzungen hatte und hat eine mindestens ebenso starke polnischUS-amerikanische, aber auch polnisch-französische Komponente (etwa im Bereich der Super- und Baumärkte). So investierten deutsche Firmen in Polen bis 2016 etwa 32,9 Milliarden, französische 17,4 Milliarden und US-amerikanische 17,1 Milliarden Euro.297 Aktuell haben deutsche Investoren etwa 35 Milliarden Euro in laufenden Projekten in Polen angelegt.298 In der konkreten Politik dominierte nach der Wende von 1989 der Wunsch der vier zentraleuropäischen Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn, möglichst rasch in die Strukturen der Europäischen Union und der NATO aufgenommen zu werden. In Polen wurden diese Erwartungen immer offensiver formuliert, je mehr russische Soldaten das Land verließen. Nachdem Außenminister Skubiszewski noch 1989 eine Integration in das westliche Militärbündnis abgelehnt hatte, war es vor allem Staatspräsident Lech Wałęsa, der ab etwa 1991 diesbezügliche Wünsche deutlich äußerte. Auf westlicher Seite gab es zunächst gewisse Widerstände. In Bezug auf Polen wurde zudem von manchen mit einem gewissen Stirnrunzeln beobachtet, dass das Land  – aufgrund der historischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg verständlicherweise  – der Rolle der Vereinigten Staaten besonderes Gewicht beimaß. Der deutschen Sicherheitspolitik kam hier nun eine wichtige Funktion zu. Auch vor dem Hintergrund der Geschichte, also des deutschen Überfalls von 1939, aber auch der damaligen abwartenden Reaktionen Großbritanniens und Frankreichs, argumentierten manche Akteure zudem moralisch. Polen habe diesmal das Recht auf einen wirksamen Schutz seiner Freiheit. Der damalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe warb als einer der Ersten in einer international stark beachteten Rede vor dem Internationalen Institut für Strategische Studien in London im März 1993 offensiv für einen NATOBeitritt Polens.299 Dies folgte zwei Monate nach der Unterzeichnung einer bilateralen Vereinbarung über militärische Zusammenarbeit. Symbolisch wurde die enge Zusammenarbeit beispielsweise durch die enge Beratertätigkeit des ehemaligen Oberbefehlshabers der Allied Forces Central Europe, Henning von O­ndarza, für zwei polnische Verteidigungsminister nach 1994. Mit einer eigener Kernkraftwerke; https://www.rnd.de/politik/polens-atom-plane-sind-risiko-furdeutschland-berlin-schweigt-KG6WE6XUGJCFTBAQAYPAV5RHDQ.html (19.2.2021). 297 KPMG, American Investments in Poland, Warszawa 2018, https://assets.kpmg/content/ dam/kpmg/pl/pdf/2018/04/pl-raport-polska-ameryka_eng-online.pdf, S. 25 (4.4.2020). 298 https://polen.diplo.de/pl-de/02-themen/02-3-wirtschaft/02-wirtschaftslage-polen//2313784#content_6 (19.2.2021). 299 Leicht verändert abgedruckt in: Rühe, Volker: Shaping euro  – Atlantic policies: A grand strategy for a new era, in: Survival. Global Politics and Strategy 35 (1993), Nr. 2, S. 129–137.

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gewissen Verzögerung engagierten sich auch die USA in dieser Frage, nicht zuletzt aufgrund der inneren Unruhen in Russland und der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Als nach mehrjährigen Verhandlungen im März 1999 Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO aufgenommen wurden, bedeutete dies für die drei Länder einen Meilenstein bei der Integration in die westliche Gemeinschaft, an dem auch die deutsche Seite entscheidend politisch mitgewirkt hatte.300 In der nachträglichen Bewertung der Faktoren, die den polnischen NATO-Beitritt ermöglicht haben, wurde und wird immer auch der jeweilige politische Standort des Betrachters deutlich.301 In den Jahren nach 2000 bewährte sich die bilaterale deutsch-polnische Kooperation im Alltag, selbst wenn in den großen außenpolitischen Fragen nicht immer Einigkeit herrschte wie beim Irakkrieg von 2003, als Polen den militärischen Einmarsch der USA unterstützte, Deutschland (und Frankreich) dagegen nicht. Die internationale Einbindung polnischer Soldaten funktionierte nicht nur in den humanitären und militärischen Auslandseinsätzen (etwa in Afghanistan seit 2002), sondern auch in dem im September 1999 gegründeten Multinationalen Korps Nordost in Stettin, dem polnische, deutsche und dänische Soldaten angehören.302 Es nahm auch an Kampfeinsätzen teil, hat aber  – mehr als zum Beispiel die im Lebuser Land bei Sagan stationierte amerikanische Panzerbrigade mit 4500 Militärangehörigen  – eine strategische und symbolische Bedeutung. Bei diesen Anstrengungen der letzten Jahre sollte aber auch nicht verschwiegen werden, dass sich die Wahrnehmung der internationalen Lage in Deutschland und Polen stark unterscheidet. So wird von der polnischen Bevölkerung die Rolle Russlands deutlich negativer eingeschätzt als von der deutschen. Dies führt dann bei der Beurteilung strategischer und ökonomischer Entscheidungen wie dem Bau der deutsch-russischen Nord-Stream-Pipelines seit 2011 zu ernst zu nehmenden Spannungen, wie sie sonst nur in Fragen der europäischen Mi­ grationspolitik sichtbar werden. Der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft stellte nach 1989 das wichtigste politische Ziel nahezu aller in Polen aktiven Kräfte dar. Schon im Mai 1990 begannen Assoziierungsverhandlungen und im April 1994 stellte man den Antrag auf Vollmitgliedschaft. Je näher die Suche nach einem konkreten 300 Einen Überblick bietet Krzeczunowicz, Andrzej: Krok po kroku. Polska droga do NATO 1989–1999, Kraków 1999, sowie Stefanowicz, Janusz (Hrsg.): Polska  – NATO. Wprowadzenie i wybór dokumentów 1990–1997, Warszawa 1997. 301 So nennt etwa Chwalba, Andrzej: Kurze Geschichte der Dritten Republik Polen 1989 bis 2005, Wiesbaden 2010, S. 180/181, den deutschen Faktor gar nicht, dafür die amerikanische Haltung unter dem Einfluss polnischer Exilkreise. 302 Gareis, Sven Bernhard / Hagen, Ulrich vom: Militärkulturen und Multinationalität. Das Multinationale Korps Nordost in Stettin, Opladen 2004.

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Beitrittstermin rückte, desto stärker geriet Polen in nationale Konkurrenzen einzelner Mitgliedsstaaten, die aus unterschiedlichen Gründen für oder gegen einen raschen Beitritt waren. Das Argument, Polen sei ökonomisch noch nicht so weit, konnte gegen Ende des 20. Jahrhunderts schon nicht mehr guten Gewissens aufrechterhalten werden. 1998 starteten die konkreten Beitrittsverhandlungen, im Zuge derer der 1. Mai 2004 als offizieller Aufnahmetermin vereinbart wurde. Gleichzeitig wuchs die Summe der Hilfsgelder, die mit verschiedenen Programmen nach Polen flossen, bis 2003 auf etwa sechs Milliarden Euro. Von besonderer Bedeutung war hier das Sapard-Programm für den ländlichen Raum. Diese Hilfen waren entscheidend dafür, dass die Quoren in Bezug auf Wahlbeteiligung und Zustimmung beim EU-Referendum vom 7./8. Juni 2003 in allen Woiwodschaften deutlich überschritten wurden.303 Auf deutscher Seite waren die Beitrittsbemühungen Polens von Anfang an breit unterstützt worden. Dies galt auch für führende Vertreter der Wirtschaft. Allerdings wurden früh Bedenken laut, billige polnische Arbeitskräfte würden nicht nur mittelfristig auf den deutschen Markt drängen, sondern zugleich würden deutsche Betriebe weite Teile ihrer Produktion aus Kostengründen nach Osten verlagern. Der erstgenannte Faktor trat freilich nicht ein, unter anderem deshalb, weil die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland und Österreich erst sieben Jahre nach dem EU-Beitritt Polens 2011 erlaubt wurde. Zwischen 2012 und 2014 betrug die polnische Nettozuwanderung nach Deutschland dann in der Tat zwischen 60 000 und 70 000 Menschen pro Jahr (nach 20 000 im Jahre 2010).304 Dies war jedoch deutlich weniger als zuvor prognostiziert (160 000 bis 380 000). Dennoch äußerte sich im Frühjahr 2004 eine deutliche Mehrheit der Deutschen skeptisch. Über 50 Prozent sprachen sich gegen die EU-Osterweiterung aus, einen so hohen Prozentsatz gab es in keinem anderen Mitgliedsstaat.305 Die Entwicklung der folgenden Jahre zeigte jedoch nicht nur, dass die Ablehnung nach erfolgtem Beitritt zurückging. Gleichzeitig wurden etwa polnische Arbeitskräfte zu einem unverzichtbaren Bestandteil der deutschen Volkswirtschaft. Als im Frühjahr 2020 die große globale Coronakrise ausbrach, arbeiteten etwa 440 000 polnische Staatsbürger in Deutschland, deren nunmehrige Abwesenheit aufgrund restriktiver

303 Siehe zu den Quoten: https://www.laender-analysen.de/polen-analysen/15/die-ergebnisse-des-referendums-vom-7-8-06-2003-zum-eu-beitrittsvertrag/ (1.4.2020). 304 Fünf Jahre Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland, https://www.bpb.de/politik/ hintergrund-aktuell/226107/arbeitnehmerfreizuegigkeit (1.4.2020); Wagner, Bettina / Hassel, Anke: Europäische Arbeitskräftemobilität nach Deutschland, https://www. boeckler.de/pdf/p_study_hbs_301.pdf (November 2015) (1.4.2020). 305 Eurobarometer Nr. 61, Frühjahr 2004, https://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/ archives/eb/eb61/eb_61_first_de.pdf (1.4.2020), S. 37.

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polnischer Reiseregelungen und der verbreiteten Furcht vor Ansteckung nicht ausgeglichen werden konnte.306 Ein drittes wichtiges Ereignis auch im deutsch-polnischen Rahmen war die Osterweiterung des Schengenraums  – und somit der weitgehende Wegfall der Grenzkontrollen  – im Dezember 2007.307 Die Symbolik, die zu diesem Anlass gewählt wurde, erinnerte an ähnliche Aktionen im Westen Europas zu Beginn der 1950er-Jahre. Unter großer medialer Aufmerksamkeit wurden Schlagbäume zersägt, besonders groß inszeniert in der Nähe des sächsischen Zittau, wo Deutschland, Polen und Tschechien aufeinandertreffen. Die Freude darüber war bei den noch frischen EU-Mitgliedern freilich deutlich größer als auf der westlichen Seite der Grenze. Hier lebte eine Debatte wieder auf, die schon in den frühen 1990er-Jahren die Gemüter erhitzt hatte. Es ging um die tatsächliche oder gefühlte Kriminalität, die deutlich zugenommen habe. In der Tat ist es recht schwierig, sich einen genauen Überblick über die Verhältnisse zu machen. Zweifellos lockte die offene Grenze Kriminelle an, die hochwertige Fahrzeuge und landwirtschaftliche Geräte über den Fluss schafften. Die Berichterstattung der Medien, nicht selten unter Verwendung traditioneller Stereotype gegen „die aus dem Osten“, die Wahlkampfaktivitäten rechtspopulistischer Parteien und die immer wiederkehrenden Forderungen von Polizei und Grenzschutz, höhere Finanzmittel zur Verfügung gestellt zu bekommen, könnten allerdings auch dazu beigetragen habe, dass die Angst der Einwohner zunahm, Opfer einer Straftat zu werden.308 Die Lektüre offizieller Statistiken ist in jedem Falle nur bedingt hilfreich, um zu klären, ob und wie sich etwa die Diebstähle im grenznahen Bereich verändert haben. Zwar benennen die offiziellen Zahlen für 2018 einen Rückgang der Kriminalität in den 24 Grenzgemeinden Brandenburgs um 20 Prozent gegenüber 2009, es stellt sich aber die Frage, ob tatsächlich alle Delikte angezeigt wurden.309 Die politischen Interessen Deutschlands und Polens im europäischen Rahmen dagegen waren (und sind) nicht immer identisch. Dies hatte auch, aber nicht nur mit etwaigen unterschiedlichen Ausrichtungen der jeweiligen Regierungen zu tun. Das Interesse Deutschlands an einer Vertiefung der 306 Löhr, Julia: Ohne die Polen geht nichts mehr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 79 vom 2.4.2020, S. 19. 307 Siebold, Angela: ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengen-Raums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven, Paderborn 2014. 308 Pudlat, Andreas: Schengen. Zur Manifestation von Grenze und Grenzschutz in Europa, Hildesheim / Zürich / New York 2012, S. 37. 309 Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik des Landes Brandenburg für das Jahr 2018, https://polizei.brandenburg.de/fm/32/Anlage%204%20Auswertung%20PKS_gesamt_2018.pdf, S. 25 (25.3.2020).

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EU-Strukturen erwies sich über die Jahre als deutlich größer als das der Polen, die große Bedenken hegten, ihre neu gewonnene Souveränität auch nur teilweise an als anonym wahrgenommene Brüsseler Organe abzugeben.310 Schon vor dem EU-Beitritt war diese Frage heftig diskutiert worden, etwa als es um die Neuordnung der europäischen Strukturen und die Stimmenverteilung im Europäischen Rat ging. Die Debatte um den 2003 verabschiedeten Vertrag von Nizza, der zu der dann letztlich gescheiterten europäischen Verfassung hinführen sollte, wurde in Polen besonders heftig geführt.311 Trotz der Tatsache, dass zwischen 2004 und 2018 etwa 140 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt nach Polen flossen, hielt sich die polnische Kompromissbereitschaft in Fragen von gesamteuropäischem Interesse besonders dann in engen Grenzen, wenn nationalkonservative Regierungen an der Macht waren.312 Allerdings konnte sich auch in der EU-Finanzpolitik eine deutsch-polnische Zusammenarbeit entwickeln, etwa als es 2015 um eine Positionierung gegenüber den griechischen Forderungen nach einem größeren Entgegenkommen in diesem Bereich und einen weitgehenderen Schuldenerlass ging.313 Auch im Feld der EU-Ostpolitik erwiesen sich deutsche und polnische Vorstellungen nicht immer als deckungsgleich. Zwar hatte es zu Beginn der 1990er-Jahre den Anschein gehabt, als würden hier ähnliche Zielvorstellungen verfolgt, doch spätestens angesichts der politischen Krisen in der Ukraine, Georgien und Belarus, die allesamt stark von politischer und militärischer Einflussnahme Russlands begleitet waren, stellte sich heraus, dass sich Polen jenseits der EU-Außengrenze im Osten deutlich stärker engagierte als die Bundesrepublik und dabei den Konflikt mit Moskau  – weitgehend unabhängig von der jeweiligen Regierung  – billigend 310 Münch, Holger: Leitbilder und Grundverständnisse der polnischen Europapolitik, Wiesbaden 2007. 311 Bielawska, Agnieszka: „Nice or death”, or Polish political discourse on the Treaty establishing a Constitution for Europe and its influence on Polish-German relations, in: Central European Political Studies (2012) 2, S. 237–258. 312 Kullas, Matthias (u.  a.): Umverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten Gewinner und Verlierer der europäischen Transfers, Freiburg 2016, https://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/cep.eu/Studien/Umverteilung/cepStudie_Umverteilung_zwischen_ den_EU-Mitgliedstaaten.pdf_Umverteilung_zwischen_den_EU-Mitgliedstaaten.pdf (25.2.2021); Sieradzka, Monika: Polen und die EU: Money, Money, Money, in: MDRAktuell vom 30.4.2018, https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/ostblogger/poleneu-geld-100.html (25.2.2021). 313 Dagegen ähneln sich griechische und polnische Vorstellungen zu deutschen Entschädigungszahlungen für die Jahre des Zweiten Weltkriegs. Vgl. Lüdeke, Ulf: Reparations„Schlacht“: Haben Polen und Griechen wirklich einen Billionen-Anspruch?, in: Focus online vom 11.9.2019, https://www.focus.de/politik/ausland/fuer-zweiten-weltkrieg-schuldgegenueber-nachbarn-tiefer-so-real-sind-reparationsforderungen-von-polen-und-griechen_id_11128715.html (25.2.2021).

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in Kauf nahm.314 Historische Erfahrungen in Kombination mit der eigenen geopolitischen Lage hatten zur Folge, dass sich Warschau bei diesem Thema immer stärker an der Politik der USA orientierte als an den oftmals zudem divergierenden Interessen der europäischen Partnerstaaten. Auf dem Feld der Kultur dagegen waren die 1990er- und Nullerjahre von einer zunehmenden deutsch-polnischen Zusammenarbeit geprägt. Einen Höhepunkt stellte dabei gleich zu Beginn des neuen Jahrtausends die Vorstellung Polens als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2000 dar (→ S. 212). Mithilfe eines umfangreichen Budgets wurden über 100 Titel polnischer Autoren ins Deutsche und andere westliche Sprachen übersetzt. Parallel präsentierte das polnische Ministerium für Kultur und Kunst ein beeindruckendes Programm kultureller Ereignisse vor Ort, das der Verantwortliche nicht zu Unrecht als „wahres Feuerwerk“ bezeichnete.315 Für diese Imagekampagne wurden umgerechnet etwa zehn Millionen Deutsche Mark investiert. Albrecht Lempp, einer der großen Kulturvermittler der Jahre nach 1989 und federführend für das literarische Programm Polens bei der Buchmesse 2000, verwies aus diesem Anlass auf die quantitativen wie qualitativen Fortschritte beim Literaturexport nach Deutschland.316 Es dürfte jedoch allen Beteiligten klar gewesen sein, dass sich eine solche Ausnahmesituation in Bezug auf Förderung und Resonanz nicht lange würde durchhalten lassen. So war es nicht weiter verwunderlich, dass in den folgenden zwanzig Jahren trotz umfangreicher Projekte wie des von Karl Dedecius herausgegebenen »Panoramas der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts« ein gewisses Maß an „Normalität“ einkehrte, das man auch als Bedeutungsverlust in der deutschen öffentlichen Wahrnehmung verstehen könnte, der im Grunde alle Bereiche der polnischen Kultur betraf. Die deutsch-polnische Entwicklung der 1990er-Jahre und des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts war in erster Linie geprägt durch Debatten über Erinnerungskultur und gemeinsame Vergangenheit (→ Kapitel II.4). Grundsätzlich lässt sich sagen, dass im deutsch-polnischen Verhältnis auf eine Phase der Euphorie über die neuen Möglichkeiten gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine realistischere Betrachtung der Gegenwart folgte. Auch die glühendsten 314 Gerhardt, Sebastian: Polska polityka wschodnia. Die Außenpolitik der polnischen Regierung von 1989 bis 2004 gegenüber den östlichen Nachbarstaaten Polens (Russland, Litauen, Weißrussland, Ukraine). Marburg 2007; Lang, Kai-Olaf: Polens Beziehungen zur Ukraine. „Strategische Partnerschaft“ im Kontext der EU-Erweiterung, Berlin 2012; Włodarczyk, Anna: Polskie koncepcje polityki zagranicznej wobec Białorusi w latach 1989–2013, Białystok 2019. 315 Masłoń, Krzysztof: Najlepszy towar eksportowy. Janusz Fogler o Polsce 2000 we Frankfurcie, in: Rzeczpospolita Nr. 39 vom 23.9.1998. 316 Lempp, Albrecht: Es darf wieder Spaß machen, in: KulturAustausch (2000), Nr. 3, S. 84/85.

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Befürworter einer deutsch-polnischen Freundschaft mussten erkennen, dass mit großen Worten und moralischen Deklamationen allein die neuen Herausforderungen nicht zu stemmen waren. Hier war es schon 1994 der Journalist und Politikwissenschaftler Klaus Bachmann, der in einem viel beachteten Artikel den „Versöhnungskitsch“ im gegenseitigen Verhältnis anprangerte.317 Ganz verschwunden sind die leeren Appelle und floskelhaften Formulierungen bis heute nicht, es war aber doch bald zu erkennen, dass die Debatten über bestimmte Themen stärker von Interessengemeinschaften und -gegensätzen geprägt waren. Allerdings ist nun seit den 2010er-Jahren eine Renaissance manch paternalistischer, teilweise auch kolonialisierender Argumente, zum Beispiel in den Diskussionen zur Gefährdung der Demokratie in Polen, zu beobachten, wenngleich es grundsätzlich angemessen scheint, auf die zahlreichen Verletzungen demokratischer Standards durch die nationalpopulistischen Regierungen Polens hinzuweisen. Die Zeit der großen Worte und Gesten ist seit dem frühen 21. Jahrhundert in den deutsch-polnischen Beziehungen vorbei. Neben die Normalität des Alltags ist eher ein zunehmendes Desinteresse getreten. Obwohl die beiden Gesellschaften enger miteinander verflochten sind als jemals zuvor, wachsen die Anzeichen für eine gewisse Entfremdung, zumindest was die politischen Eliten angeht. Während im Alltag der Bürger deutsche Polenurlauber und polnische Facharbeiter und Pflegekräfte längst zur gelebten unspektakulären Realität geworden sind, lässt sich feststellen, dass generationelle Prozesse und politische Schwerpunktverlagerungen ihre Spuren immer deutlicher hinterlassen. Während in Polen das Interesse an der deutschen Politik, von vereinzelten Aspekten abgesehen, nie besonders groß war, lässt sich nun verstärkt auch umgekehrt eine  – positiv ausgedrückt  – größere Gelassenheit, negativ formuliert, ein wachsendes Unverständnis gegenüber der Situation in Polen beobachten. Jenseits des globalen Themas der Coronapandemie werden die Unterschiede in den gesellschaftlichen Debatten deutlich sichtbar. Während im Jahre 2020 in Deutschland Fragen des Klimawandels, der Energie-, Umweltund Verkehrspolitik im Mittelpunkt standen, nahmen in Polen Fragen der Außenpolitik, sexueller Identitäten und nach wie vor der Geschichtspolitik breiten Raum ein. Versuche der PiS-Regierung, die deutsche Seite vor allem auf letzterem Feld zu provozieren, scheiterten schon im Ansatz. In Deutschland interessierte sich kaum jemand dafür, ob der neue deutsche Botschafter wegen der vermeintlichen NS-Vergangenheit seines Vaters keine Akkreditierung 317 Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muß von Polen ausgehen, in: taz vom 5.8.1994. Darin heißt es definitorisch unter anderem: „Versöhnungskitsch ist, wenn jede normale politische Handlung zwischen zwei Nachbarstaaten nicht mehr als normale Handlung, sondern als Versöhnung gilt.“

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erhält oder ob ein deutscher Journalist die polnische Ehre verletzt hat, wie Staatspräsident Duda im Präsidentschaftswahlkampf von 2020 meinte.318 Und selbst das immer wieder vorgebrachte Thema finanzieller Entschädigungen beziehungsweise Reparationen für die polnischen Verluste während des Zweiten Weltkriegs zündete nicht. Umgekehrt blieb die Debatte um ein Denkmal für die polnischen Opfer der deutschen Besatzungspolitik der Jahre 1939 bis 1945 weitgehend eine innerdeutsche. Seltsamer-, vielleicht aber auch bezeichnenderweise wurden die Polen selbst in die Diskussionen kaum einbezogen.319 Die Akteure der deutsch-polnischen Annäherung sind in die Jahre gekommen oder haben die Bühne inzwischen verlassen. Dies wird bei den meisten Deutsch-Polnischen Gesellschaften ebenso sichtbar wie bei einem Teil der Städtepartnerschaften, wobei dieses Phänomen nicht auf Deutschland und Polen beschränkt ist. Dagegen fehlt es an auf die Zukunft ausgerichteten gesellschaftlichen Gesprächskanälen der heute aktiven wie der jüngeren Generation. Mittlerweile sprechen gar nicht so wenige Deutsche Polnisch und die Kinder der einstigen Spätaussiedler stellen eine wichtige Brücke nach Osten dar. Umgekehrt gehen aber die Deutschkenntnisse auf polnischer Seite deutlich zurück, was bei den Jugendlichen längst dazu geführt hat, dass man sich miteinander auf Englisch verständigt. Ähnliches lässt sich aber immer stärker auch zum Beispiel bei wissenschaftlichen Kontakten beobachten. Die Zahl der Deutschlernenden in Polen betrug einer Statistik des Auswärtigen Amtes zufolge im Jahre 2020 1,953 Millionen. Das sind zwar immer noch weltweit die meisten, dennoch aber etwa 300 000 weniger als fünf Jahre zuvor.320 Umwelt- und LGBT-Aktivisten haben in Polen einen schweren Stand. Die LGBT-Bewegung ist eng mit der im gesamtgesellschaftlichen Rahmen eher marginalisierten politischen Linken vernetzt und sucht den Schulterschluss mit außerpolnischen Gruppen. Die westliche Perspektive verkennt dabei allerdings, dass es etwa in den Auseinandersetzungen um den Schutz des Białowieża-Nationalparks oder den Protesten gegen Fracking in Südostpolen 318 Brössler, Daniel: „Da wird mit aller Macht eine Staatsaffäre konstruiert“, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.7.2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/polen-deutschland-beziehungen-pressefreiheit-botschafter-zustimmung-1.4962781 (26.9.2020); Marschall, Christoph von: Polens Präsident stellt Korrespondent Fritz an den Pranger, in: Tagesspiegel vom 6.7.2020, https://www.tagesspiegel.de/politik/antideutsche-kampagne-polens-praesident-stellt-korrespondent-fritz-an-den-pranger/25980402.html (26.9.2020). 319 Bingen, Dieter: DENK MAL AN POLEN. Eine deutsche Debatte (sic!), Berlin 2020; Krzysztof Ruchniewicz, Już lepiej zrezygnować z polskiego pomnika (12.6.2020), https:// krzysztofruchniewicz.eu/juz-lepiej-zrezygnowac-z-polskiego-pomnika/ (26.9.2020). 320 Deutsch als Fremdsprache weltweit. Datenerhebung 2020, Berlin 2020, S. 16, https:// www.dw.com/downloads/54013137/brodeutsch-als-fremdsprache-weltweit.%20datenerhebung%202020 (26.9.2020)

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durchaus bürgerschaftliches Engagement gab: Ersteres freilich weitgehend von ortsfremden Akteuren getragen, Letzteres mit eher vorökologischen Argumenten gestützt.321 Auch die Debatten um den Tierschutz haben in einem Land, in dem die Agrarlobby noch viel stärker ist als in Deutschland, eine andere Charakteristik. Auf allen diesen Feldern wird die tiefe Spaltung der polnischen Gesellschaft zwischen Stadt und Land sowie zwischen besser und schlechter ausgebildeten Menschen überdeutlich. Eine Änderung zeichnet sich hier jedenfalls momentan nicht ab. Die Mehrheit der polnischen Gesellschaft teilt zweifellos eher konservative Positionen, wie sie auch in Deutschland noch vor 40 Jahren gang und gäbe waren. Zwar gehen die Vorurteile gegenüber Polen in Deutschland ebenso deutlich zurück wie ablehnende Grundhaltungen.322 An manchen Stellen wird aber auch 2020 noch sichtbar, dass Nachbar und Nachbar nicht das Gleiche sind. Während die dänischen Versuche, mittels eines neuen Grenzzauns das Eindringen der Schweinepest von Süden her frühzeitig zu verhindern, auf heftige Kritik der deutschen Anwohner stießen, sind ähnliche Reaktionen der Bürger Polens über den massiven brandenburgischen Schutzzaun bisher nicht überliefert.323 Es ist somit nicht abzusehen, dass sich im deutsch-polnischen Verhältnis der kommenden Jahre etwas Grundlegendes ändern wird. Historiker (und Politologen) sind aber schlechte Propheten, deshalb ist es wohl sinnvoller, die Erfolge der letzten dreißig Jahre hervorzuheben, die Polen und Deutsche  – wenn auch noch nicht in ausreichendem Maße  – einander nähergebracht haben.

321 Blavascunas, Eunice: Foresters, Borders and Bark Beetles, Bloomington, Ind. 2020, S. 153–187; Mrowinski, Julian / Stadnicki, Adrian: „David und Goliath, Żurawlów gegen Chevron“, in: Polen-Analysen 154, 18.11.2014, S. 2–6, https://www.laender-analysen. de/polen-analysen/154/PolenAnalysen154.pdf (26.9.2020). 322 Kucharczyk, Jacek / Łada, Agnieszka: Nachbarschaft mit Geschichte: Blicke über Grenzen, Deutsch-Polnisches Barometer 2020, Warschau; Darmstadt 2020, https://www. deutsches-polen-institut.de/assets/downloads/Barometer-DE-PL/Deutsch-PolnischesBarometer-2020-2.pdf (26.9.2020). 323 Geisslinger, Esther: Dänemark wieder zugänglich, in: taz vom 27.2.2020, https://taz. de/Aktivistinnen-entfernen-Grenzzaun/!5664235/ (26.9.2020); Sauerbier, Michael: Hier baut Brandenburg endlich einen festen Schweinepest-Zaun, in: B. Z. vom 25.9.2020, https://www.bz-berlin.de/berlin/umland/hier-baut-brandenburg-endlich-einen-festenschweinepest-zaun (26.9.2020).

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II. Fragen und Perspektiven

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1. Kulturtransfer und Kulturdiplomatie. Bundesrepublik  – DDR  – Polen

Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war Polen kein genuiner Adressat deutscher Außenkulturpolitik, im Osten wie im Westen. Nach Gründung der Bundesrepublik orientierten sich die neu gebildeten Institutionen erst schrittweise, vorsichtig und zögernd auf die Problematik der atlantischen Allianz, die Beziehungen mit Frankreich und Israel sowie die innerdeutschen Angelegenheiten; das wichtigste Ziel war es, ein positives Bild der Kultur und Gesellschaft Deutschlands wiederaufzubauen. Das neue Polen lag weit im Osten und galt auch unter SPD-Abgeordneten als „Zwischeneuropa“, jene „Völkerzone zwischen dem historischen Deutschland und der Sowjetunion“.1 Der Bund der Vertriebenen bestimmte für lange Zeit das westdeutsche Imaginarium: Erst an Ostern 1970 wurde der Beschluss des Koordinierungsausschusses des Deutschen Fernsehens umgesetzt, im Zuge der Umstellung von Schwarz-Weiß auf Farbe die Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 auf den Fernsehwetterkarten beider Programme nicht mehr zu zeigen. Im DDR-Fernsehen gab es natürlich keine revanchistischen Wolken über Pommerellen und Breslau, die offizielle Imagepflege für den östlichen Nachbarn war jedoch von gegenseitigem Misstrauen getrübt. Mit Ostberlin wurde zwar bereits 1952 ein erstes Abkommen zur kulturellen Zusammenarbeit geschlossen. Für sowjethörige DDR-Funktionäre waren antisowjetischer Nationalismus und Katholizismus in Polen aber feste Größen, deshalb sollten Kulturbeziehungen möglichst nur in offiziell kanalisierter Form stattfinden. Liest man jedoch die einschlägigen Korrespondenzen zwischen den Außenund Kulturministerien, dann fällt schnell auf, dass den vereinbarten Austauschmöglichkeiten im Bereich von Wissenschaft und Hochschulen, Schulwesen und Berufsausbildung, Kunst und Literatur, Musik, Theater, Laienkunst, Presse, Film und Rundfunk (so die Aufzählung in einem offiziellen Arbeitsplan für das Jahr 1954) sehr zögerlich nachgegangen wurde.2 Auch aus Warschau 1 Jaksch, Wenzel: Das deutsche Interesse an Osteuropa. In: Deutschland und die Welt. Zur Außenpolitik der Bundesrepublik 1949–1963, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen / Otto Stenzl, München 1964, S. 338–244, hier S. 338. 2 Die Diplomatische Mission der Deutschen Demokratischen Republik bei der Regierung der Volksrepublik Polen: Arbeitsplan für die Zeit vom 1. Januar 1954 bis 31. Dezember 1954

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kamen in den ersten Nachkriegsjahren nur vereinzelte kulturpolitische Initiativen. Die für die Bundesrepublik zuständige Militärmission in Berlin zeigte sich zwar mehrmals interessiert an einer Zusammenarbeit mit westdeutschen Partnern, im Außenministerium wurden aber jene Initiativen als voreilig und eigensinnig zurechtgestutzt. Eine bemerkenswerte Ausnahme in den trilateralen Kontakten zwischen Vertretern der polnischen Außenpolitik, der SED und linken/KPD-nahen westdeutschen Kreisen waren Aktivitäten der Gerlach-Gesellschaften beziehungsweise ihrer Nachfolgeorganisationen in der Bundesrepublik und in der DDR (→ S. 80–81, 89). Die ostdeutsche Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft wurde 1948 gegründet. Der Impuls entstand bei Vorüberlegungen zwischen der Polnischen Militärmission mit den SED-Genossen Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, die Ende 1947 stattfanden. Da von Anfang an darauf abgezielt wurde, die Gründung nicht als reine Parteiangelegenheit zu diskreditieren, gelang es, für die Vorstandsarbeit einige Nichtkommunisten zu gewinnen, unter anderen zwei Professoren der Humboldt-Universität (Johannes Stroux und Peter Alfons Steiniger) sowie den Journalisten Carl Helfrich. Die Gesellschaft verwies auf die Tradition des 1935 im Exil verstorbenen deutschen Pazifisten Hellmut von Gerlach, der nach dem Ersten Weltkrieg für die Aussöhnung mit Polen eintrat. 1950 folgte die Gründung der Gerlach-Gesellschaft in Düsseldorf, in der der preußische Adlige aus bayerischem Adelsgeschlecht Hanns von Rohr und der Berliner Dramaturg Oskar von Arnim im Vorsitz amtierten. 1953 änderte die Düsseldorfer Zweigstelle ihren Namen in Deutsche Gesellschaft für Kultur- und Wirtschaftsaustausch mit Polen und 1971 ein weiteres Mal in Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die Ostberliner Gesellschaft wurde 1950 in Deutsch-Polnische Gesellschaft für Frieden und gute Nachbarschaft umbenannt und 1953 in die Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland integriert, um schließlich 1961 in der Liga für Völkerfreundschaft aufzugehen. In der Anfangsphase war die Arbeit beider Gesellschaften inhaltlich und organisatorisch weitgehend von der SED-Führung und dem polnischen Außenministerium geprägt. In Düsseldorf sicherten sich die SED und Warschauer Stellen ihren Einfluss durch regelmäßige Arbeitsbesprechungen, finanzielle Unterstützung sowie die Herstellung der vereinseigenen Zeitschriften. Man wollte in der deutschen Bevölkerung die Akzeptanz der OderNeiße-Grenze verbreitern und die Stimmung gegenüber Polen beeinflussen. Der offizielle Duktus der „deutsch-polnischen Freundschaft“, wie er in der zum Abkommen über die kulturelle Zusammenarbeit zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Volksrepublik Polen, 1.10.1953. In: Archiwum MSZ, 10/49/475.

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Abb. 9. Staatsbesuch des polnischen Präsidenten Boleslaw Bierut in Berlin. Empfang des Vorstandes der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Frieden und gute Nachbarschaft durch Präsident Bierut im Amtssitz von Präsident Wilhelm Pieck. Präsident Bierut betrachtet ein Geschenk der Gesellschaft: Sammelbände der Zeitschrift »Blick nach Polen«, links im Bild der Botschafter der Deutschen Demokratischen Republik, Friedrich Wolf.

SED-Agitationsabteilung konzipiert worden war, spiegelte sich in den von der Gerlach-Gesellschaft in Ost und West herausgegebenen Informationsblättern  – »Blick nach Polen« und »Jenseits der Oder«. Vorherrschende Themen waren der sozialistische Aufbau Polens und die Auslegung deutsch-polnischer Vergangenheit im Sinne des Klassenkampfs zwischen deutschen Kapitalisten und polnischen Arbeitern. Nachdem 1956 Gomułka an die Macht zurückgekehrt war und sich das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik zu öffnen begann, wurden die Beiträge in der Düsseldorfer »Jenseits der Oder« (ab 1958 erschien die Zeitschrift unter dem Titel »Deutsch-Polnische Hefte«)

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vielfältiger, bis die westdeutsche Gerlach-Gesellschaft Ende der 1960er-Jahre unter dem Druck der SED auf eine straffere Linie einschwenkte.3 Interessanterweise war an einer „liberalen“ Ausrichtung der Zeitschrift vor allem die Polnische Militärmission interessiert, da man sich einen Einfluss auf breite Kreise der westdeutschen Öffentlichkeit erhoffte. Anfang der 1950er-Jahre wurde sogar an einen von Polen aus finanzierten Verlag gedacht, in dem Werke polnischer Literatur ohne „spürbare propagandistisch-politische Tendenz“ erscheinen sollten.4 Die anvisierte Gründung ist jedoch von der SED-Spitze unterbunden worden. Der Widerspruch gegen die ideologische Ausrichtung der Gesellschaft war in der Bundesrepublik deutlich zu spüren: Von konservativen Politikern und Publizisten sowie von Vertriebenenverbänden wurde sie als „kommunistische Tarnorganisation“ diffamiert, Angriffe in der Presse wegen Landesverrats waren allgegenwärtig, die Tätigkeit der Gesellschaft wurde vom Verfassungsschutz überwacht. Auch das Bonner Auswärtige Amt zeigte sich besorgt über den strapazierten „guten Willen schlecht informierter deutscher Staatsbürger“ und plante die Gründung einer „politisch unbedenklichen Vereinigung“, um den Kulturaustausch mit Polen in gewünschte Bahnen zu lenken und der Monopolstellung der Düsseldorfer Gesellschaft etwas entgegenzusetzen.5 Des ungeachtet war die Deutsche Gesellschaft für Kultur- und Wirtschaftsaustausch mit Polen zwischen 1956 und Mitte der 1960er-Jahre praktisch die einzige Organisation in der Bundesrepublik, die kulturelle Kontakte von und nach Polen vermittelte. Während die Gerlach-Gesellschaft in der DDR nur noch eine marginale Rolle spielte, verfügte die westdeutsche Gesellschaft über eine nicht zu unterschätzende Ausstrahlungskraft auf eine heterogene Gruppe von Poleninteressierten, denen weniger an politischen Diskussionen gelegen war als an einem kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Ein anderer Anknüpfungspunkt für nachhaltige kulturpolitische Initiativen in beiden deutschen Staaten war der 100. Todestag von Adam Mic­ kiewicz im Jahr 1955, das in der DDR wie auch in der Bundesrepublik zum Mickiewicz-Jahr erklärt worden war. Die Ostberliner Akademie der Künste gründete ein Komitee zur Ehrung des polnischen Nationaldichters, den Vorsitz übernahm Louis Fürnberg. Die von Mickiewicz verhandelte Freiheitsidee 3 Lotz, Christian: Zwischen verordneter und ernsthafter Freundschaft. Die Bemühungen der Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft um eine deutsch-polnische Annäherung in der DDR und in der Bundesrepublik (1948–1972), in: Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch, hrsg. von Hans Henning Hahn / Heidi Hein-Kircher / Anna Kochanowska-Nieborak, Marburg 2008, S. 201–218, hier S. 216 f. 4 Polnische Militärmission an das Außenministerium in Warschau, 13.10.1953. In: Archiwum MSZ, 10/31/270. 5 Auswärtiges Amt: Aufzeichnung, 13.1.1960. In: PA AA, B12/611;

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inszenierte Fürnberg im Sinne des Klassenkampfes und erklärte über den in Dresden geschriebenen dritten Teil der »Dziady«: „Daß es unter dem Himmel einer deutschen Stadt geschah, daß hier sich des Dichters Brust der ewige Gesang von den kämpfenden Helden entrang, die Verheißung kommender Größe, ein ‚Sterben wirst du, um zu leben!‘  – dies war die Vorwegnahme, die Perspektive, wenn sie auch länger als ein Jahrhundert brauchte, um wenigstens in einem Teil Deutschlands wahr zu werden. Es ist das Deutschland der Arbeiter und Bauern, das, wie wir aus tiefer Seele hoffen, nun, indem es sich auch hier der Dichtung Mickiewicz[s] nähert, fühlen lernen wird, warum der Dichter seiner Nation, ja allen Menschen teuer ist, die das Gute und Schöne lieben.“6 Nachdem das Ministerium für Kultur die einzelnen Redaktionen zum Abdruck entsprechender Artikel aufgefordert hatte (zum Teil wurden die Texte auch von der Polnischen Botschaft an die Redakteure verschickt), fand Mickie­ wicz ein großes Echo in der Presselandschaft der DDR. Der Aufbau-Verlag brachte das Versepos »Pan Tadeusz« in einer Nachdichtung von Walter Panitz heraus, Stephan Hermlin hielt die Ansprache auf einem Festakt in Ostberlin. In der Bundesrepublik fand die Einrichtung des Mickiewicz-Komitees zunächst so gut wie kein Echo in der Presse. Das Gremium entstand durch die Vermittlung der Polnischen Militärmission, zum Vorsitzenden wurde Hermann Buddensieg (1893–1976) gewählt, den das polnische Ministerium für Kultur mit einer Einladung nach Warschau für die Mitarbeit zu begeistern versuchte. Obwohl die Feierlichkeiten selbst nicht über eine Handvoll Lesungen in Dortmund, Hamburg, Marburg, Göttingen und Düsseldorf hinausgingen, sorgte Buddensieg für die Fortsetzung der „propagandistischen Arbeit“ des Komitees (wie man den westdeutschen Mickiewicz-Festakt in vertraulichen Berichten für das Warschauer Außenministerium zu bezeichnen pflegte).7 Die Wahl des Vermittlers war keinesfalls zufällig. Buddensieg, der im Ersten Weltkrieg schwer verletzt worden war, brach seine Karriere als promovierter Germanist krankheitsbedingt ab und war fortan publizistisch tätig. Über seine Beschäftigung mit Johann Wolfgang von Goethe war Buddensieg auf das Werk Adam Mickiewiczs aufmerksam geworden, der 1829 mit Goethe zusammengetroffen war. Das Mickiewicz-Jahr war für Buddensieg der Anlass für die Gründung der in den Jahren 1956–1974 herausgegebenen Zeitschrift »Mickiewicz-Blätter«. Die publizierten Beiträge deutscher und polnischer Autoren behandelten zunächst das polnische romantische 6 Zit. nach Misterek, Susanne: Polnische Dramatik in Bühnen- und Buchverlagen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, Wiesbaden 2002, S. 277. 7 Polnische Militärmission Berlin: Sprawozdanie z przebiegu uroczystości Mickiewiczowskich w RFN, 22.12.1955. In: Archiwum MSZ, 21/923/67.

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Dreigestirn Mickiewicz, Juliusz Słowacki und Cyprian Kamil Norwid, was auf Buddensiegs persönliches literarisches Interesse zurückzuführen war. Danach dehnte sich der Themenkreis aus, sodass auch Aspekte der neueren und neuesten polnischen und litauischen Literatur, unbekannte Zusammenhänge der deutsch-polnischen Kulturbeziehungen sowie Fragen der Übersetzungstheorie zur Sprache kamen. Obwohl die »Blätter« in Polen wie in der Bundesrepublik eher wenig Resonanz fanden und sich durch Wissenschaftlichkeit eben nicht hervortaten, wurde 1959 in der Bonner Kulturabteilung des Auswärtigen Amts über Buddensiegs Antrag auf eine Teilfinanzierung der Zeitschrift positiv entschieden. Als Vermittlerin fungierte die 1951 gegründete Martin-Behaim-Gesellschaft, die Finanzierung lief über die Stadt Darmstadt und das Land Hessen. Zwischen Buddensieg und der Darmstädter Gesellschaft, die nicht nur für die Weiterleitung der Mittel an die Zeitschrift, sondern auch für deren sachgerechte Abrechnung die volle Verantwortung trug, kam es immer wieder zu Spannungen. Trotz aller Kritik an dem Unternehmen, das Buddensieg seinerseits als „Politicum gewiß seltenen Ranges im Hinblick auf Polen“ einschätzte,8 entschied sich das Auswärtige Amt für eine weitere Bezuschussung. Die Argumentation lautete: „Die Mickiewicz-Blätter sind eine Zeitschrift besonderer Natur, die sich in erster Linie an eine kleine Gruppe interessierter Leser […] wendet. Es liegen zahlreiche Schreiben vor, die zeigen, daß sie, so wie sie ist, ihren Zweck erfüllt. Da im gegenwärtigen Zeitpunkt die kulturellen Beziehungen zu Polen vorsichtig wieder angeknüpft werden sollen, wäre es verfehlt, sie gerade jetzt zu ändern oder einzuschränken.“9 Zahlreiche Dankesbriefe polnischer und deutscher Privatpersonen und Institutionen, die Buddensieg der Kulturabteilung zukommen ließ, vermochten die Weiterfinanzierung des Blattes positiv zu beeinflussen. 1964 wurde der Druckkostenzuschuss „in Anbetracht der steigenden Bedeutung der kulturellen Beziehungen zu Polen“ erhöht auf eine Summe, die nahezu die gesamten Herstellungskosten deckte. Zwei Jahre später gelangten die »Mickiewicz-Blätter« in die Zuständigkeit des mit der Vermittlung deutscher Kultur im Ausland betrauten Vereins Inter Nationes. Auch Buddensiegs Polenreisen wurden aus amtlichen Mitteln finanziert. In einer internen Notiz an den Außenminister rechtfertige die Kulturabteilung diese Entscheidung: „In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, daß Herr Buddensieg […] bei allem Idealismus für seine Aufgabe in den Deutschland und Polen

8 Hermann Buddensieg an die Kulturabteilung des AA, 6.1.1963. In: PA AA, Zwischenarchiv 109664. 9 Auswärtiges Amt an die Martin-Behaim-Gesellschaft, 13.5.1963. Ebenda.

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betreffenden politischen Fragen der deutschen Wiedervereinigung und der deutschen Ostgrenze eindeutig den Standpunkt der Bundesregierung vertritt und aus seiner Meinung in Gesprächen mit den Polen offensichtlich kein Hehl macht.“10 Als die Krakauer Jagiellonen-Universität 1964 ihr 600-jähriges Jubiläum feierte, war Buddensieg einer der wenigen westdeutschen Gäste, die eine persönliche Einladung erhielten. Im Auswärtigen Amt wurde daher beschlossen, nicht nur seine Krakaureise zu finanzieren, sondern auch im Anschluss an die Feierlichkeiten ihn durch das Land reisen und über seine Eindrücke berichten zu lassen. Da er den polnischen Gastgebern unverdächtig vorkam, erhielt Buddensieg die Aufgabe, Verbindungen zu einflussreichen Personen des öffentlichen Lebens anzubahnen und diese nach seiner Rückkehr fortzusetzen. „Die Reise von Dr. Buddensieg nach Polen“  – notierten die Bonner Beamten  – „war eine der seltenen Gelegenheiten, wirksame Kulturpolitik zu betreiben in einem Lande, das der deutschen Handelsvertretung die Aktivität auf diesem Gebiet versagt.“11 1963 wurde eine »Pan Tadeusz«-Fassung Buddensiegs im Münchener Eidos-Verlag veröffentlicht (als Grundlage für seine Nachdichtung benutzte Buddensieg meist ältere Übersetzungen oder von anderen erstellte Interlinearübersetzungen). Auch hier zeigte sich das Auswärtige Amt bereit, eine Anzahl von Exemplaren zu erwerben und diese der Handelsvertretung in Warschau sowie allen wichtigen westdeutschen Botschaften und Vertretungen im Ausland zur Verfügung zu stellen. Das kulturpolitische Gewicht der Initiative wurde folgendermaßen beschrieben: „Die Vertretungen können in einem kurzen Erlaß auf die Bedeutung des Werkes für die Polen und die Anerkennung, die die Übersetzung dort und in den Fachkreisen des In- und Auslands gefunden hat, hingewiesen werden. Dabei könnte hervorgehoben werden, daß in der Sowjetzone bisher nichts Vergleichbares erschienen ist. Referat II 5 erlaubt sich diese Anregung, weil bei den unlängst geführten deutsch-polnischen Wirtschaftsgesprächen wiederum festgestellt werden konnte, wie interessiert Polen an allem sind, was mit ihrem Nationaldichter Mickiewicz zu tun hat.“12 Das Auswärtige Amt unterstützte die verlegerischen Aktivitäten Hermann Buddensiegs bis zu dessen Tod im Jahr 1976. Noch im Februar 1973 erlaubte sich Egon Bahr in seiner Funktion als Bundesminister für besondere Aufgaben in einem Brief an den Herausgeber, die »Mickiewicz-Blätter« „aus 10 Susanne Simonis: Entwurf des Glückwunschschreibens des Bundesministers für Auswärtige Angelegenheiten an Hermann Buddensieg, 6.6.1963. Ebenda. 11 Auswärtiges Amt, Referat IV7: Vermerk, 10.11.1964. Ebenda. 12 Auswärtiges Amt, Referat II5 an Referat IV7: Aufzeichnung, 3.4.1964. Ebenda.

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der Rubrik Poesie herauszunehmen und sie bei Politik einzuordnen“.13 Drei Jahre später würdigte der Leiter der Kulturabteilung das unermüdliche Engagement Buddensiegs, entschied sich allerdings, die bestehenden finanziellen Verpflichtungen aufzukündigen. Für die Weiterführung einer Zeitschrift, deren kulturpolitische Bedeutung darin gelegen hatte, „Kontaktaufnahmen zu polnischen Kreisen vor 1970 zu erleichtern und das in der Bundesrepublik Deutschland bestehende Interesse an der polnischen Kultur zu dokumentieren“, bestand in der Normalisierungsphase der bilateralen Beziehungen keine Notwendigkeit mehr.14 In den 1960er-Jahren hatte die Kultur vorerst vor allem die Aufgabe, den mühsamen deutsch-polnischen Dialog voranzutreiben. Die Sondierungsgespräche von 1961 über ein Kulturabkommen scheiterten am Misstrauen der polnischen Regierung, die hinter dem Vorstoß nur ein weiteres Hinhaltemanöver der Bundesregierung witterte. Der offiziöse Kulturaustausch wurde durch das Auswärtigen Amt mitgetragen. Der Stimmungswandel machte sich spätestens mit dem Amtsantritt Gerhard Schröders als Außenminister im Herbst 1961 bemerkbar: Die bis dahin geltende Blockadepolitik gegenüber den Ostblockstaaten machte Platz für eine beweglichere Haltung gemäß der Einsicht, dass der kulturelle Austausch gerade dann von Wichtigkeit sei, wenn die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen nicht so gut funktionierten (wie es der Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts, Dieter Sattler, formuliert hatte). Eine wesentliche Rolle spielte in diesem Kontext der Verein Inter Nationes. Die Aufgabe dieser 1952 in Bonn als Public-Relations-Organisation der Bundesrepublik für die USA gegründeten Institution bestand in Programmen allgemeiner kultureller Art wie Betreuung ausländischer Gäste, Kontakte mit Einzelpersonen, Bücherversand, Ausrüstung der diplomatischen Vertretungen mit Filmen, Tonbänder sowie die laufende Ausstattung der Bibliotheken der deutschen Kulturinstitute im Ausland. Inter Nationes unterstützte das Auswärtige Amt aber auch beim Ausbau der kulturellen Kontakte nach Osteuropa. Dies belegen unter anderem die Aktivitäten des seit 1958 bestehenden Besucherdienstes. Aufenthalte privaten Charakters in der Bundesrepublik wurden gänzlich aus der Staatskasse finanziert. Bei den Besuchern handelte es sich in erster Linie um Publizisten sowie andere politisch und kulturell wichtige Persönlichkeiten. Ab 1965 stieg die Anzahl von Besuchern aus der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. Vor zu viel Publicity für den Besucherdienst warnte das Auswärtige Amt ausdrücklich: „Die beste Propaganda für die Bundesrepublik

13 Egon Bahr an Hermann Buddensieg, 1.2.1973. In: PA AA Zwischenarchiv 123953. 14 Auswärtiges Amt: Notiz, 12.3.1976. Ebenda.

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ist es, nicht propagandistisch tätig zu sein.“15 Da eine offizielle Einladung nicht nur gegen die Hallstein-Doktrin verstoßen, sondern auch dem betroffenen Gast Schwierigkeiten bei der Beschaffung eines Reisepasses bereitet hätte, arbeitete man verdeckt. Die Einladungen wurden nicht unmittelbar, sondern über Dritte ausgesprochen. Inter Nationes übernahm die Kosten, half aber auch bei der Zusammenstellung des Reiseprogramms. So wurde beispielsweise der Suhrkamp-Verlag im Januar 1966 um eine Einladung für Zbigniew Herbert gebeten, man bat die Verlagsleitung, die Finanzierungsquelle geheim zu halten. Von nun an wurden auf diesem Wege auch andere polnische SuhrkampAutoren eingeladen: unter anderen Wiesław Brudziński, Kazimierz Brandys, Marek Nowakowski und Julian Stryjkowski. Die Auswahl wurde meistens von Inter Nationes getroffen, die Einladung sollte jedoch „strikt als Initiative des Verlages erscheinen“.16 Scharfe Auswahlkriterien lassen sich aus der vorhandenen Korrespondenz nicht herausdestillieren, argumentiert wurde jedoch mit dem hohen Stellenwert der jeweiligen Künstler im literarischen Feld des Herkunftslandes sowie ihrem Einfluss auf die jüngeren Autorenkreise. Inter Nationes wurde durch das Auswärtige Amt Ende der 1960er-Jahre auch mit der Organisation von Ausstellungen polnischer/osteuropäischer Literatur in Westeuropa beauftragt. Die Initiative knüpfte an Erfahrungen an, die man mit der Sonderausstellung auf der Warschauer Buchmesse 1966 unter dem Titel »Polonica aus den Verlagen der Bundesrepublik Deutschland (1946–1966)« gemacht hatte. Die besagte Ausstellung war im Auftrag des Auswärtigen Amts durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels organisiert worden; die Auswahl hatte Karl Dedecius zusammengestellt, der auch den Ausstellungskatalog verfasste. Er schrieb im Geleitwort: „Die Bücher waren und sie blieben zwischen Deutschen und Polen die treuesten und zuverlässigsten Botschafter. Als Polen geteilt und besetzt war, wurden Bücher polnischer Autoren in der Librairie étrangère in Leipzig gedruckt und oft in Weinfässern in das besetzte Land geschmuggelt. […] Selbst heute, im Zustand belastender und ungelöster Spannungen, ist das Buch wieder dabei, auf beiden Seiten die unterbrochene Verbindung zu besorgen.“17 Obwohl Dedecius die für die Ausstellung ausgewählten Bücher im Vorhinein mit dem polnischen Kulturministerium abgestimmt haben sollte, erfolgte 15 Inter Nationes: Prokotoll der Sitzung des Verwaltungsrates und der Mitglieder, 20.6.1967. In: PA AA, B90/913. 16 Götz Fehr an Walter Böhlich, 18.9.1967. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), Siegfried Unseld Archiv (SUA): Suhrkamp/Lektorate03/Inter Nationes e. V. 17 Dedecius, Karl: Botschaft der Bücher. In: Polonica in den Verlagen der Bundesrepublik Deutschland 1946–1966. Eine Auswahl ausgestellt auf der XI. Internationalen Buchmesse in Warschau. Frankfurt am Main 1966, S. 5–20, hier S. 14, 16.

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die Beschlagnahmung eines Teils der Kataloge. Die Ausstellung blieb jedoch unangetastet. Das Auswärtige Amt beschloss daraufhin, das kulturpolitische Potenzial der Warschauer Bücherschau zu nutzen und die Ausstellung in den Vereinigten Staaten zu zeigen. Dedecius nutzte seine Beziehungen zu offiziellen polnischen Kreisen und erhielt vom Leiter der polnischen Militärmission in Westberlin eine Stellungnahme, der zufolge eine Polonica-Ausstellung in den USA als „unbedenklich“ galt, „solange exilpolnische Organisationen diese Ausstellung nicht zum Anlass von Demonstrationen gegen die polnische Regierung in Warschau missbrauchen würden“.18 Mehr als 150 Titel sowie der durchgesehene und ergänzte Katalog wurden von Oktober bis November 1967 an der University of Chicago und in den nächsten zwei Monaten im Goethe-Haus in Milwaukee gezeigt. Dedecius, der die Ausstellung persönlich sowie publizistisch begleitete, unterstrich in einem vertraulichen Bericht den kulturpolitischen Erfolg der Schau, die auf die „Bedeutung der deutschen Sprache als Mittlerin der geistigen Erzeugnisse von Ost nach West“ aufmerksam machte, ließ jedoch auch Kritik an der organisatorischen Vorbereitung verlauten. Dabei waren die „Versäumnisse seitens der deutschen Kulturarbeit“ oder die „Zurückhaltung am falschen Platz“ sehr wohl kalkuliert: Das Generalkonsulat wurde von der Bonner Zentrale instruiert, nicht in Erscheinung zu treten, um „in polnisch-amerikanischen Kreisen den Eindruck zu vermeiden, die Ausstellung werde als eine Propaganda-Aktion der Bundesregierung gezeigt“.19 Auch Götz Fehr betonte seitens Inter Nationes, dass es mit der Polonica-Schau gelungen sei, „den besonders nationalistischen Polen in den USA einen Eindruck von der positiven Stimmung in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Polen zu vermitteln“.20 Zugleich unterbreitete Fehr den Vorschlag, eine breiter angelegte Ausstellung der gesamten deutschen Übersetzungsliteratur aus den osteuropäischen Sprachen zu veranstalten mit dem Ziel, „das von der östlichen Propaganda immer wieder behauptete Ressentiment der BRD gegenüber den osteuropäischen Staaten zu widerlegen und die Offenheit der BRD gegenüber Osteuropa zu dokumentieren“ sowie „die deutsche Sprache als Mittlersprache in und zu Osteuropa bewusst zu machen und ihre Bedeutung für den kulturellen Austausch zu unterstreichen“.21 Eine ursprünglich für die USA geplante Veranstaltung wurde überraschenderweise in die Niederlande verlegt. Die Begründung lautete: Die holländischen Intellektuellen seien für ihre antideutschen 18 Auswärtiges Amt: Aufzeichnung, 27.2.1967. In: PA AA, Zwischenarchiv 109635. 19 Deutsches Konsulat Chicago an das Auswärtige Amt, 20.2.1968. Ebenda. 20 Götz Fehr an das Auswärtige Amt, 14.11.1967. In: PA AA, Zwischenarchiv 109629. 21 Ebenda.

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Ressentiments bekannt und interessierten sich besonders für das Verhältnis der Bundesrepublik zu den osteuropäischen Staaten; daher sollte die Aufgeschlossenheit der Bundesrepublik Deutschland und die Vermittlerrolle des Deutschen als Verkehrssprache der Intelligenzija in Osteuropa dokumentiert werden. Zugleich erhoffte man sich ein günstiges Echo in Osteuropa. Ein deutlicher Hinweis auf die Vermittlung der Bundesrepublik im Ost-West-Konflikt schien gerade angesichts der sich rapide verändernden politischen Verhältnisse in Polen und in der Tschechoslowakei als besonders opportun. Die Ausstellung der deutschen Übersetzungsliteratur aus Osteuropa, darunter vieler polnischer Bücher, wurde Ende 1970 und Anfang 1971 in Amsterdam, Rotterdam sowie in Brüssel gezeigt. Auf weitere geplante Veranstaltungsorte (Frankreich, die Schweiz, Jugoslawien sowie skandinavische Länder) wurde verzichtet. In den 1970er-Jahren wurde der offiziöse Kulturaustausch offenbar nicht mehr als Ersatz der klassischen Diplomatie benötigt. Die Zusammenarbeit zwischen dem bundesdeutschen literarischen/verlegerischen Feld und dem Auswärtigen Amt verlief in den 1960er-Jahren nicht nur durch die Vermittlung von Inter Nationes. Im April und im November 1967 erhielt die Leitung des Suhrkamp-Verlags eine Einladung nach Bonn zu einem „Erfahrungsaustausch über die kulturellen Beziehungen zu den Staaten Osteuropas“, in dessen Rahmen unter anderem eine eventuelle Beteiligung des Auswärtigen Amts an verlegerischen Bemühungen um den polnischdeutschen Literaturtransfer diskutiert wurde. Der Suhrkamp-Verlag reagierte unverzüglich auf diese Anregung. Zu dem Bonner Treffen reiste der Leiter des Verlags, Siegfried Unseld, mit der Denkschrift »Zur Intensivierung des Kulturaustauschs mit sozialistischen Ländern«, die der für die slawischen Literaturen zuständige Lektor Peter Urban erstellt hatte. Die Erwartungen des Verlags waren vielfältig. Erstens sollten die Aktivitäten des Besucherdienstes intensiviert werden: Wo das Auswärtige Amt vor zu viel Publicity warnte, plädierte der Verlag gerade für mehr Öffentlichkeitsarbeit. Aufenthalte osteuropäischer Autoren sollten besser organisiert werden, die Gäste müssten die Gelegenheit erhalten, vor Auditorien und in der Presse aufzutreten. Ebenso wichtig sei der gegenseitige Austausch von Geisteswissenschaftlern und Verlagslektoren. Zweitens ersuchte der Suhrkamp-Verlag um eine Teilfinanzierung der Teilnahme an der Warschauer Buchmesse. Dabei handelte es sich unter anderem um Kosten eines Empfangs für polnische und andere osteuropäische Verleger, Lesereisen deutscher Autoren sowie logistische Ausgaben. Drittens schlug man eine Ausweitung des bisher nur für Jugoslawien und Ungarn geltenden sogenannten Buchexportförderungsprogramms auf Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und die Sowjetunion vor. Viertens wurde eine mögliche institutionelle Unterstützung für Übertragungen aus slawischen Sprachen, vor allem aus dem Polnischen, ins Deutsche angesprochen.

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Vieles wurde tatsächlich in die Tat umgesetzt. Das Buchexportförderungsprogramm wurde erweitert und machte es möglich, deutsche Bücher auch in Polen zu erschwinglichen Preisen zu erwerben. Die gewünschte Unterstützung im Bereich der Literaturübersetzung mündete später in die Gründung des Deutschen Polen-Instituts (→ S. 184/185). Auf seinen Vorschlag einer Finanzierung der Teilnahme an der Warschauer Buchmesse kam Unseld bereits Anfang 1968 zurück: Geplant war eine gemeinsame Veranstaltung der Verlage Suhrkamp und Hanser mit einem offiziellen Empfang für die polnischen Schriftsteller und Kritiker, die Rolle des Ehrengastes übernahm Günter Grass. Das Auswärtige Amt sollte die Empfangs-, Reise-, Aufenthalts- und Honorarkosten für Grass und Dedecius übernehmen sowie die Verteilung von 100 Exemplaren des Gedichtbandes »Inschrift« von Zbigniew Herbert und des Nachlassbandes »Die Republik der Träume« von Bruno Schulz finanzieren. Mit diesen Geschenken wollten beide Verleger „Einblick geben in die Tendenz der literarischen Buchproduktion der Bundesrepublik“ und ihr „Engagement für die polnische Literatur wirkungsvoll dokumentieren“.22 Den geplanten Empfang sagte man wegen der veränderten politischen Verhältnisse in Polen nach den „Märzunruhen“ allerdings kurzfristig ab. Die Warschauer Handelsvertretung organisierte eine Ersatzveranstaltung, an der die eingeladenen Spitzenvertreter polnischer, tschechischer und rumänischer Verlage teilnahmen. Der Suhrkamp-Verlag verzichtete auf die Verteilung des zum Teil auch politisch interpretierbaren Herbert-Bandes, der Hanser-Verlag verteilte nur an die 50 Exemplare der »Republik der Träume«. Im Transferprozess der deutschen Literatur nach Polen spielten vor allem polnische Zeitschriften als Instrument der staatlichen Kulturpolitik eine wichtige Rolle. In den Nachkriegsjahren hatten sie die Aufgabe, das kulturelle Leben anzuregen und Kontakte zum literarischen Ausland zu knüpfen. Aus dem deutschsprachigen Raum vermittelte man vor allem Exilautoren (Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig) und linksorientierte Schriftsteller (Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf). So informierten die Themennummern der Zeitschrift »Kuźnica«  – anlässlich des Breslauer IntellektuellenKongresses im Jahr 1948 und ein Jahr später zum Goethe-Jahr  – über die neuesten Entwicklungstendenzen in der proletarischen Nachkriegsliteratur aus Deutschland und die institutionellen Kontakte zwischen den polnischen und den ostdeutschen Schriftstellerorganisationen. In der ersten Hälfte der 1950erJahre war der kulturpolitisch bedingte Transfer vorübergehend auf stark politisierte Werke aus der DDR ausgerichtet, nach 1956 manifestierte sich aber ein ästhetischer Nachholbedarf im Bereich der deutschsprachigen Weltliteratur. In 22 Siegfried Unseld an das Auswärtige Amt, 23.1.1968, 22.2.1968. In: PA AA, Zwischenarchiv 109950.

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neu gegründeten literarischen Zeitschriften wie »Współczesność« erschienen Namen wie Robert Musil, Paul Celan oder Gottfried Benn, die in der DDR zur gleichen Zeit weiterhin als Tabu galten. In »Twórczość« wurden ab 1969 in der Rubrik »Presseschau« ausführlich und systematisch ost- sowie westdeutsche Kulturmagazine besprochen. In der durch den Schriftstellerverband 1971 mitgegründeten »Literatura na świecie« (Literatur in der Welt) wurde im Rahmen thematischer Schwerpunkte mehrmals die deutschsprachige Literatur in ihrer ganzen Breite vorgestellt, Besprechungen von Neuerscheinungen erschienen in »Nowe Książki« (Neue Bücher), dem von der Nationalbibliothek herausgegebenen Fachorgan für Buchhändler, Verleger und Bibliothekare. Auch jenseits der Großstädte Warschau und Krakau entstanden ab Ende der 1950er-Jahre viele Kulturzeitschriften, die sich  – wie die Posener »Nurt« oder die Breslauer »Odra«  – mehr oder weniger systematisch an der Propagierung der deutschen Literatur beteiligten.23 Auch die Germanistik an polnischen Universitäten war ein nicht zu unterschätzender kulturpolitischer Faktor für die Vermittlung der deutschen Kultur. Das Fach nahm nach 1945, mit Einschränkungen auch in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre, eine starke Position im institutionellen Sinn ein und war an allen universitären Einrichtungen sowie an den meisten Hochschulen vertreten. Die germanistischen Periodika  – unter anderen »Germanica Wratislaviensia« (seit 1957), »Studia Germanica Posnaniensia« (seit 1972)  – sorgten für die Zirkulation der Forschungsresultate, obwohl diese in der deutschen Germanistik meistens eher als Randerscheinungen einer „Anrainergermanistik“ galten.24 Dies blieb auch der Tatsache geschuldet, dass die literaturund kulturwissenschaftlichen Arbeiten sich nicht selten in einer positivistischen Quellenarbeit und der Literaturkritik erschöpften und die polnische Nachkriegsgermanistik keinen Literaturwissenschaftler von theoretischem Format hervorgebracht hat. Die Schwerpunkte gestalteten sich an diversen Standorten unterschiedlich. So wurde zum Beispiel in Breslau und Warschau die Beschäftigung mit dem Barockzeitalter und dem Naturalismus (die sich auf handschriftliche Überlieferungen in den Breslauer Bibliotheken und Archiven stützte) zum Aushängeschild; das Posener Germanistische Institut nahm wiederum die Literatur im Dritten Reich ins Visier.25 Trotz verstärkter 23 Kaszyński, Stefan H.: Die Kulturpolitik der Presse. Zeitschriften als Vermittler deutschsprachiger Literatur. In: Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945–1985, hrsg. von Heinz Kneip / Hubert Orłowski, Darmstadt 1998, S. 452–465. 24 Zybura, Marek: Vorwort (mit einem Exkurs). In: Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in Polen, Bd. 1, hrsg. von Wojciech Kunicki / dems., Leipzig 2015, S. 7–19, hier S. 17. 25 Ebenda, S. 14 f., 18.

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Versuche der DDR-Kulturpolitik, der polnischen Germanistik die Erforschung der DDR-Literatur in Forschung und Lehre aufzuoktroyieren,26 entwickelte sich in Polen ab den 1960er-Jahren eine durchaus plurizentrische Sicht auf die deutschsprachige Kultur, in deren Rahmen die österreichische sowie schweizerische Literatur sich als eigenständige Forschungsfelder etablierten.27 Für den deutsch-polnischen Kulturtransfer war und ist die Tätigkeit der polnischen Germanisten in ihrer Funktion als Übersetzer, Anthologisten, Verfasser von Literaturgeschichten und -lexika sowie Berater und Gutachter der führenden Verlage von großer Bedeutung. Nicht nur die Literatur, auch die klassische Musik, der Film und bildende Künste spielten im deutsch-polnischen Kontext der 1960er-Jahre eine kulturpolitisch bedingt herausragende Rolle. So galt zum Beispiel die Schau »Polnische Malerei vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart«, die das Museum Folkwang vom Dezember 1962 bis Februar 1963 präsentierte, als erste offiziöse Schau, mit der Imagepflege mit den Mitteln der Kultur betrieben wurde. Es handelte sich um ein Gastspiel des Warschauer Nationalmuseums, auf deutscher Seite traten die Firma Krupp und die Stadt Essen als Gastgeber auf. Die Organisatoren taten alles, „um dem Ereignis ein möglichst offizielles Gepräge zu geben: angefangen von der Beflaggung vor dem Museum in polnischen, bundesdeutschen und Essener Farben, über den feierlichen Festakt zur Eröffnung bis zum ambitionierten Besuchsprogramm, das für die Vertreter des Warschauer Nationalmuseums arrangiert wurde. […] Wenn die Ausstellung eine Propagandaschau war, dann weniger eine des polnischen Kulturministeriums als der Firma Krupp und der Essener Stadtväter. In einer Zeit, in der die wenig konstruktive Bonner Polenpolitik zunehmend an Rückhalt verlor, boten Initiativen wie die Folkwang-Ausstellung willkommene Gelegenheit, sich demonstrativ als Wegbereiter polnisch-westdeutscher Annäherung in Szene zu setzen.“28 26 Brandt, Marion: Die Literatur der DDR in Forschungen polnischer Germanisten. In: Kunicki, Wojciech / Zybura, Marek (Hrsg.): Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in Polen, Bd. 1, Leipzig 2015, S. 171–196; Brandt, Marion: Versuche politischer Beeinflussung der polnischen Germanistik von Seiten der DDR. In: Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in Polen, Bd. 2, hrsg. von Wojciech Kunicki / Marek Zybura, Leipzig 2015, S. 15–38. 27 Vgl.: Eberharter, Markus / Kunicki, Wojciech: Die österreichische Literatur in den Forschungen polnischer Germanisten nach dem Zweiten Weltkrieg. In: ebenda, S. 197– 271; Rduch, Robert: Literatur der deutschen Schweiz in der Forschung der polnischen Germanistik. In: ebenda, S. 273–298. 28 Wenninger, Regina: Kunst, Politik, PR. Die erste „offiziöse“ Ausstellung polnischer Kunst in der Bundesrepublik 1962/63. In: Kunstchronik 68 (2015), S. 513–520, hier S. 513 f, 518.

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Zum wesentlichen Bestandteil der deutsch-polnischen Kulturkontakte wurden Ausstellungen polnischer Plakate in den ausgehenden 1950er- und in den 1960er-Jahren. Die internationale Anerkennung der polnischen Gebrauchsgrafik war für Organisatoren ein Erfolgsrezept, die Experimentierfreude und gestalterische Kühnheit wurden von den Kritikern einstimmig gelobt. Eine solche Rezeption brach mit den allgegenwärtigen Stereotypen, die in der osteuropäischen Kunst einen epigonenhaften Abklatsch westlicher Strömungen sahen. Wanderausstellungen polnischer Plakatkunst waren in der Bundesrepublik bereits im Jahr 1950 zu sehen, nach dem Polnischen Oktober 1956 gab es aber einen regelrechten Boom für die zeitgenössische Kunst aus Polen. Von den ca. 100 Ausstellungen, die sich in der Bundesrepublik samt Westberlin nachweisen lassen, waren ein Drittel Plakatausstellungen. Unter den Organisatoren fanden sich diverse gesellschaftliche Gruppen, darunter Kultureinrichtungen, studentische Initiativen und private Sammler. Zu Ausstellungsobjekten zählten vor allem Kultur- sowie touristische Werbeplakate von Henryk Tomaszewski, Józef Mroszczak, Roman Cieślewicz oder Jan Lenica, dessen prägnante Formensprache bis heute in zahlreichen Anthologien zu sehen ist. Auch nachdem die „polnische Welle“ der 1960er-Jahre verebbt war, sorgten Retrospektiven (zum Beispiel »Polnische Plakate der Nachkriegszeit« in der Neuen Sammlung München von 1984) sowie neue Namen (Franciszek Starowieyski) für die Popularität der Kunstform.29 Für die Vermittlung polnischer Plakatkunst in der Bundesrepublik sorgte auch die von dem Warschauer Interpress-Verlag herausgegebene Monatsschrift »Polen«, die in der Zeitspanne 1954–1999 in acht Sprachversionen erschien. Der deutschsprachige Raum wurde von der westdeutschen (1960–1981) sowie der ostdeutschen Ausgabe (1954–1981) abgedeckt. Die Zeitschrift war ein typisches Nation-Branding-Produkt, mit dem die polnische Regierung das Ziel verfolgte, die politische und gesellschaftliche Reputation zu erhöhen, ausländische Investoren anzuziehen und den Tourismus zu fördern, aber auch bessere wirtschaftliche Beziehungen zu anderen Ländern zu entwickeln. Mit Fotoreportagen, Übersetzungen literarischer Texte, der Darstellung der zeitgenössischen Kunst und der Wirtschaftsprodukte wurde das Bild eines modernen, weltoffenen Landes vermittelt.30 In der Tauwetterperiode wurden auch die westdeutsch-polnischen Kontakte im Bereich der zeitgenössischen Musik besonders rege. Galten in Polen 29 Wenninger, Regina: „Frisch, aggressiv, witzig und intellektuell anspruchsvoll“. Polnische Plakatkunst in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit. In: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/polnische-plakatkunst-der-bundesrepublik-dernachkriegszeit?page=1#body-top (20.2.2021). 30 Sarzyński, Piotr: PR PRL. In: Polityka 16 (2019), S. 116–121.

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die avantgardistischen Kompositionstechniken bis dahin als formalistisch, entwickelte sich das erstmals 1956 stattfindende Festival Warschauer Herbst zu einem transnationalen Begegnungsraum. Auch die offizielle Kulturpolitik förderte die Neue Musik und versuchte damit, die künstlerische Freiheit in Polen nach außen hin zu demonstrieren. Verbreitung von Notenmaterialien, Tonbändern und Schallplatten sowie Stipendien des polnischen Kulturministeriums für Besuche im kapitalistischen Ausland sollten zu einem positiven Selbstbild beitragen. Zum bevorzugten „Mekka der Neuen Musik“31 wurden für die polnischen Komponisten wie Włodzimierz Kotoński, Wojciech Kilar, Tadeusz Baird, Bogusław Schaeffer oder Kazimierz Serocki die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt. Gegründet 1946, hatten sie zum Ziel, die der nationalsozialistischen Kulturpolitik geschuldete Wissenslücke in der zeitgenössischen Musik zu schließen und die neuesten musikalischen Strömungen in Konzerten, Seminaren und Vorträgen vorzustellen und zu diskutieren. 1957 nahmen die ersten sieben polnischen Komponisten an den Darmstädter Kursen teil; der damalige Leiter der Kurse, Wolfgang Steinecke, korrespondierte diesbezüglich mit polnischen Behörden und bemühte sich um Stipendien, um einem möglichst breiten Kreis von Musikern die Teilnahme an den Kursen zu ermöglichen. Diese nahmen fundierte Kenntnisse der avantgardistischen Kompositionstechniken mit und verarbeiteten sie dann auch in ihren eigenen Werken. Die Ferienkurse boten für die Komponisten auch eine Plattform, ihr eigenes Schaffen im Westen zu präsentieren. Die intensivste Phase der polnischen Partizipation erstreckte sich bis Anfang der 1960er-Jahre, danach ebbte der Kontakt ab.32 Nebst dem „Warschauer Herbst“ und den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt boten auch andere Festivals westdeutsch-polnischen sowie transnationalen musikalischen Dialog an. Bei den Donaueschinger Musiktagen  – dem ältesten und traditionsreichsten Festival für Neue Musik, 1921 unter fürstlicher Protektion gegründet, bis heute bekannt für alle neuen experimentellen Formen auf dem Gebiet der Klangmusik  – waren ab 1959 einzelne polnische Komponisten wie Włodzimierz Kotoński, Kazimierz Serocki oder Krzysztof Penderecki zu Gast. Für den Letztgenannten leiteten die Auftritte auf den Donaueschinger Musiktagen seine Karriere in der Bundesrepublik ein. Hierbei spielte der Musikwissenschaftler Heinrich Strobel eine nicht unbedeutende Rolle, indem er als Leiter der Musikabteilung des Südwestfunks sowie Präsident der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik ab Anfang 1960er-Jahre durch die Vergabe von Kompositionsaufträgen als wichtiger Förderer der Musik Pendereckis in Erscheinung trat. Die Aufführung 31 Zathey, Janusz: Darmstadt  – Mekka nowej muzyki. In: Ruch Muzyczny 13 (1957), S. 9–13. 32 Nowak, Marianne: Polnische Komponisten bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt um 1960, Wien / Köln / Weimar 2020, S. 66–126.

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von »Anaklasis« für Streicher und Schlagzeug 1960 begründete den internatio­ nalen Ruhm Pendereckis, bis 1971 wurden in Donaueschingen weitere wichtige Werke von ihm gespielt.33 Penderecki war ein regelmäßiger Gast in der Bundesrepublik; er lehrte unter anderem an der Folkwang-Hochschule Essen, erhielt zahlreiche Stipendien und seine »Passion nach dem Heiligen Lukas«, die 1966  – anlässlich des 700-jährigen Bestehens des Münsteraner Doms und kurz nach dem Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen  – uraufgeführt wurde, spielte nach Ansicht vieler eine wichtige Rolle bei der deutsch-polnischen kulturellen Annäherung. Die Motive des Holocaust und der Vergebung traten auch mehrfach in anderen Werken wie »Die Todesbrigade«, »Threnos« und »Dies Irae« auf. Auch Pendereckis Opern hatten in der Bundesrepublik ihren festen Platz, etwa die in Hamburg 1969 uraufgeführten »Teufel von Loudun« oder der für die Münchener Oper 1991 geschriebene »Ubu Rex«. Als Penderecki 2012 den Viadrina-Preis der Europauniversität Frankfurt an der Oder für sein Eintreten für die deutsch-polnische Versöhnung entgegennahm, betonte Rolf Beck, Intendant des Schleswig-HolsteinMusikfestivals, Pendereckis Musik sei „nie der erhobene Zeigefinger, sondern die ausgestreckte Hand“ gewesen.34

Abb. 10. Die Münchener Philharmoniker unter Leitung des polnischen Komponisten und Dirigenten Krzystof Penderecki spielen am 18. Mai 1996 zum Abschluss des Deutsch-Polnischen Jahres in der Nationalphilharmonie.

33 Andraschke, Peter: Penderecki in Donaueschingen. In: Krzysztof Penderecki. Musik im Kontext, hrsg. von Helmut Loos /Stefan Keym, Leipzig 2006, S. 242–263, hier S. 244. 34 Schulze, Carola: Musik als „Brücke über trennende politische Strömungen“. In: Union 62 (2012), S. 2.

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Insgesamt kann der westdeutsch-polnische Musikaustausch in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre und in den 1960er-Jahren als ungleich beschrieben werden: Die polnischen Musikschaffenden partizipierten häufiger am kulturellen Leben der Bundesrepublik als andersherum. Das föderalistisch organisierte musikalische Fördersystem bot viel mehr Möglichkeiten als die Warschauer Zentrale. Dank Konzertreihen der Rundfunkanstalten und Kompositionsaufträgen fand bis Mitte der 1960er-Jahre die Neue Musik aus Polen ihren Eingang in das Repertoire vieler westdeutscher städtischer Orchester.35 Für den reziproken Musiktransfer nach 1956 war auch die florierende polnische Jazzszene von großer Bedeutung. Die Jazzmusik, noch Anfang der 1950er-Jahre durch die polnische Kulturpolitik ästhetisch diffamiert, genoss nun die Unterstützung des staatlichen Kulturbetriebs: Jazzensembles wurden in den Komponistenverband aufgenommen, Jazzfestivals wurden mit nicht unerheblichen Geldbeträgen gefördert. Somit präsentierte sich der Staat als weltoffen und modern. Das erste Sopot Jazz Festival im Jahr 1956, an dem 50 000 Besucher teilnahmen, war ein Vorbote des nahenden Tauwetters. In seinen Folgeeditionen waren die westdeutschen Jazzmusiker und -journalisten (Emil und Albert Mangelsdorff, Joki Freund, Werner Wunderlich, Joachim-Ernst Berendt) stark vertreten. Zu einem wichtigen internationalen Treffpunkt avancierte auch die Jazz-Jamboree, ein seit 1958 ebenfalls bedeutsames Jazzfestival in Warschau. An vielen Orten entstanden weitere wichtige Events, wie das seit 1964 existierende Jazz nad Odrą (Jazz an der Oder). Für die Entwicklung des polnischen Jazz in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre war vor allem der US-amerikanische Input wichtig: die täglichen Jazzsendungen von Willis Conover, der Polen mehrfach besuchte, oder Konzerte von Dave Brubeck. Es gab aber auch polnisch-westdeutsche Kooperationen. So trat zum Beispiel Jan Ptaszyn Wróblewski 1958 zusammen mit dem bereits erwähnten Posaunisten Albert Mangelsdorff auf dem amerikanischen Jazzfestival in Newport auf. 1967 kam der Musikjournalist und -produzent Joachim Ernst Berendt auf die Idee, auf dem Album »Unsere süße europäische Heimat« die beste polnische Lyrik (unter anderen Czesław Miłosz, Wisława Szymborska) mit der Musik des bereits damals legendären Pianisten Krzysz­ tof Komeda zu vereinen. Zum Meilenstein des modernen europäischen Jazz wurde die Zusammenarbeit des Frankfurter Jazzbassisten Günter Lenz mit Komeda, dem Trompeter Tomasz Stańko und dem Altsaxophonisten Zbigniew Namysłowski, die in das gemeinsame Projekt »Astigmatic« (1965) 35 Borchers, Sebastian: Von Warschau nach Darmstadt und zurück. Lutosławski, Penderecki, Górecki und die Neue Musik. In: Osteuropa 62 (2012), S. 73–84, hier S. 79 f.

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mündete.36 Auch in späteren Jahren hat es eine Vielzahl erstklassiger polnischer Musiker immer wieder nach Deutschland verschlagen. Kurz vor der Wende, im Jahr 1986, unterzeichnete Stanisław Soyka einen Plattenvertrag mit dem westdeutschen Label RCA und wirkte zwei Jahre lang in der Frankfurter Jazzszene. Nicht unbedeutend war der westdeutsch-polnische Austausch im Bereich des Films. Der Transfer spielte sich nur zu einem geringen Teil auf dem Feld der Koproduktion ab. Zu bemerkenswerten Ausnahmen zählte der bereits erwähnte Liebesfilm »Der achte Wochentag« (1958) von Aleksander Ford, der in Zusammenarbeit mit der Westberliner CCC-Filmkunst von Artur Brauner entstand. Weitere Projekte von Ford und Brauner, unter anderem ein im Jahr 1968 geplanter Film über Janusz Korczak, scheiterten vorerst infolge einer antisemitischen Hetzkampagne, der auch der Regisseur Ford ausgesetzt war; der Film wurde erst 1973 als deutsch-israelische Produktion gedreht. Nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags 1970 konnten Filmemacher beider Länder im Zuge der Entspannungspolitik ihre Projekte in dem jeweiligen Nachbarland realisieren. Volker Schlöndorff drehte seine Verfilmung der »Blechtrommel« 1978 an Danziger Originalschauplätzen der Romanvorlage von Günter Grass, Krzysztof Zanussi gelang es wiederum dank der Aufträge deutscher Produzenten und Fernsehanstalten, in der westdeutschen Filmbranche Fuß zu fassen. In den 1980er-Jahren wurde in polnisch-westdeutschen Koproduktionen die Aufklärung über den verdrängten Holocaust und die NaziDiktatur zum zentralen Thema. Mit Artur Brauner arbeiteten Regisseure wie Andrzej Wajda (»Eine Liebe in Deutschland«, 1983) und Agnieszka Holland (»Bittere Ernte«, 1984; »Europa, Europa«, 1989) zusammen.37 Im polnischen Kinobetrieb, in Diskutierfilmklubs und Studienkinos wurde in den Jahren 1956–1989 fast die gesamte bundesdeutsche Filmgeschichte gezeigt. Einer besonderen Beliebtheit erfreuten sich gesellschaftskritische Filme von Volker Schlöndorff, Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders und Werner Herzog. Es gab aber mitunter auch Kassenhits, die nicht nur das akademische Publikum ansprachen. In den 1970er-Jahren gehörten Karl-May-Verfilmungen (»Unter Geiern«, 1964; »Der Ölprinz«, 1965) zu den wenigen ausländischen Filmen, die wegen der zu erwartenden hohen Besucherfrequenz synchronisiert wurden. Winnetou war der populärste Leinwandheld 36 Schmidt-Rost, Christian: Jazz in der DDR und Polen. Geschichte eines transatlantischen Transfers, Frankfurt am Main 2015. 37 Wach, Margarete: Deutsch-polnische Koproduktionen seit 1957 bis heute vor dem Hintergrund des Vertriebs und der Rezeption polnischer Filme in Deutschland. In: Deutschland und Polen: Filmische Grenzen und Nachbarschaften, hrsg. von Konrad Klejsa / Schamma Schahadat, Marburg 2011, S. 127–149.

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jener Zeit. Zu einer Sensation wegen der Enttabuisierung der Sexualität wurde auch der Aufklärungsfilm »Helga. Vom Werden des menschlichen Lebens« (1967) von Erich F. Bender. In der Bundesrepublik verdankte sich die Vermittlung polnischer Filme nach 1956 erstmals den kulturpolitischen Aktivitäten der polnischen Militärmission in Berlin. Auf diesem Wege lernte der westdeutsche Zuschauer die Kurzfilme von Jan Lenica, Walerian Borowczyk oder Roman Polański in Filmklubs und an den Universitäten kennen. Zum Bildungserlebnis wurde in den 1960er-Jahren Wajdas »Asche und Diamant« und der Hauptdarsteller Zbigniew Cybulski zu einer Art polnischer James Dean. Kommunalkinos und Festivals waren die wichtigsten westdeutschen Distributionskanäle. Die 1954 gegründeten Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen entdeckten für das Publikum solche Filme wie die in der Bundesrepublik als antikatholische Polemik äußerst umstrittene »Mutter Johanna von den Engeln« (1963) von Jerzy Kawalerowicz oder Roman Polańskis »Das Messer im Wasser« (1963). Auch der polnischen auswärtigen Kulturpolitik, die mit selbstkritischen Filmen die vermeintliche Liberalität des Staates zu präsentieren versuchte, diente das Festival in Oberhausen als Bühne.38 Die Internationale Filmwoche Mannheim wurde wiederum zu einer internationalen Startrampe für Grzegorz Królikiewicz, Krzysztof Kieślowski, Barbara Sass, Robert Gliński und andere. Der Kniefall von Warschau im Dezember 1970 (→ S. 108/109) bedeutete eine Wende in den offiziellen westdeutsch-polnischen Beziehungen, die zwar nicht als Zäsur im kulturellen Austausch gedeutet werden kann, dafür aber eine medienwirksam inszenierte organisatorische und finanzielle Unterstützung Polens durch die Bundesregierung mit sich brachte. In diesen kulturpolitischen Kontext gehörte auch die Schlussakte von Helsinki (1975), in der 35 Teilnehmerstaaten eine Intensivierung des Austausches auf den Gebieten von Kultur, Bildung und Information vereinbart hatten (→ S. 125). Als Ergebnis der Konferenz unterzeichneten der deutsche und der polnische Außenminister im Juni 1976 das Abkommen über die kulturelle Zusammenarbeit. 1977 veröffentlichte die deutsch-polnische Schulbuchkommission ihre Empfehlungen, die vor allem in der Bundesrepublik eine lebhafte Diskussion auslösten (→ S. 117–119). Das im Abkommen institutionell verankerte Forum Bundesrepublik Deutschland –Volksrepublik Polen bot einen Raum für regelmäßige Treffen zwischen Politikern, Wissenschaftlern und Publizisten aus beiden Ländern. Eine der wichtigsten kulturpolitischen Initiativen in der Bundesrepublik nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags war die Gründung des 38 Roth, Wilhelm: Die schwierigen Nachbarn. Ein Festival und seine Mythen. In: kurz und klein. 50 Jahre Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, hrsg. von Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, Ostfildern-Ruit 2004, S. 9–16, hier S. 10.

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Deutschen Polen-Instituts (DPI) am 13. Dezember 1979 in Bonn (→ S. 117, 119, 209). Obwohl eine direkte Anregung zur Gründung des Instituts auf das 1. Forum Bundesrepublik Deutschland  – Volksrepublik Polen zurückgeht, das im Juni 1977 in Bonn tagte, ist die konzeptionelle Vorgeschichte des DPI bereits durch die 1967 von Karl Dedecius verfasste »Denkschrift zum Plan der Gründung einer deutsch-slawischen Bibliothek mit Übersetzerzentrum« dokumentiert. 39 Erst Ende der 1970er-Jahre nahm der Plan Gestalt an: Die Kulturabteilung des Auswärtigen Amts befürwortete die Idee eines Deutschen Polen-Instituts und unterstützte das Unternehmen finanziell; der aus Breslau stammende Oberbürgermeister von Darmstadt, Heinz Winfried Sabais, stellte als Domizil das ehemalige Wohnhaus des Jugendstilarchitekten Joseph Maria Olbrich zur Verfügung. Zu einem Aushängeschild des DPI wurde die im Institut konzipierte, durch die Robert-Bosch-Stiftung finanzierte und im SuhrkampVerlag herausgebrachte »Polnische Bibliothek« (1982–2000). Dieses in seinem Umfang einzigartige Projekt war durchaus ambitioniert: In fünfzig Bänden wurden dem deutschsprachigen Publikum Werke und Entwicklungen des polnischen Schrifttums vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert vorgestellt. Dass die Robert-Bosch-Stiftung als Förderer des Unternehmens auftrat, war direkt auf ihre Tätigkeiten auf dem Gebiet der Völkerverständigung zurückzuführen. Bereits in den 1920er-Jahren erkannte Robert Bosch die Bedeutung des deutsch-französischen Verhältnisses und unterstützte die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern. Mitte der 1970er-Jahre entschied sich die Stiftung für einen Brückenschlag nach Osten: Projekte zur Aufarbeitung der jüngsten Geschichte seit dem Vertrag von 1970, Einladungen zu Informationsreisen in die Bundesrepublik, mit denen eine Vertiefung der kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen erstrebt wurde, sowie Studienreisen für deutsche Schüler und Studenten nach Polen gehörten zum ersten Angebot der Stiftung im deutsch-polnischen Bereich. Ein wichtiges Anliegen bleibt bis heute die Förderung der deutschen Literatur in Polen mit einem Preis für polnische Übersetzer, der von dem Deutschen Polen-Institut verliehen wird. Mit erheblichen Mitteln wurden wissenschaftliche Literatur sowie Deutschlehrbücher an polnische Universitäten, Hochschulen und Fortbildungseinrichtungen gespendet. Ferner unterstützte die Stiftung Fortbildungskurse für polnische Deutschlehrer und Lektoren, erarbeitete Konzepte für sprachliche und landeskundliche Fortbildung und vergab in Zusammenarbeit mit der Alexander-von-Humboldt-Stiftung Forschungsstipendien für polnische Wissenschaftler.40 39 Dedecius, Karl: Denkschrift zum Plan der Gründung einer deutsch-slawischen Bibliothek mit Übersetzerzentrum, o. D. [1967]. DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Reiseberichte. 40 Beziehungen zu den Ländern Mittel- und Osteuropas 1974–1999, Stuttgart 1999.

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Eine besondere Bedeutung für den wissenschaftlichen Austausch war nicht zuletzt die Einrichtung einer Gastprofessur mit dem Schwerpunkt Polen an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz (JGU), an der polnische Wissenschaftler die Gelegenheit erhalten, jeweils für die Dauer eines Semesters zu lehren und zu forschen. Die Anfänge des Programms reichen bis in die 1960er-Jahre zurück, als ein Briefwechsel zwischen polnischen und deutschen Theologen zur Einrichtung der Polentage an der JGU führte. Im Rahmen dieses Austausches besuchten zahlreiche polnische Theologen und Philosophen Mainz, ihre deutschen Kollegen und Kolleginnen waren an polnischen Partnerhochschulen in Breslau, Krakau, Lublin, Neisse, Posen und Warschau zu Gast. 1978 machte die Robert-Bosch-Stiftung das Angebot, einen Schwerpunkt Polen zu finanzieren, 1982 nahm der Schwerpunkt Polen seine Arbeit auf. In Zusammenarbeit mit diversen Instituten und Einrichtungen der JGU beteiligt sich der Schwerpunkt Polen an (über)regionalen Konzerten, Symposien und Kulturwochen. Darüber hinaus besteht an der JGU das Mainzer Polonicum  – eine am Institut für Slawistik angesiedelte Dauereinrichtung, die auf eine Initiative des Soziologen Wilfried Schlau aus dem Jahre 1979 zurückgeht. Das Mainzer Polonicum bietet einen Grundlehrgang der polnischen Sprache, gerade in den 1980er-Jahren intensiv genutzte niederschwellige Angebote zum Erlernen der polnischen Sprache sowie Exkursionen mit Sprachkursen nach Polen an. Im Bereich der bilateralen, aber auch transnationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Standort Deutschland war und ist für die polnischen Forscher der kulturpolitische Einsatz der Alexander-von-Humboldt-Stiftung von entscheidender Bedeutung. Die ersten polnischen Humboldtianer kamen bereits 1959 in die Bundesrepublik  – sechs Jahre nach der Wiedererrichtung der Stiftung. Sprunghaft vergrößerte sich ihre Anzahl in den 1970er-Jahren (durchschnittlich 70 Wissenschaftler pro Jahr). Die Tendenz verstärkte sich in den 1980er-Jahren, als Polen an der Spitze aller geförderten Länder lag. Obwohl die Stiftung bis zum heutigen Tag keine Fach- noch Länderquoten kennt, war eine kulturpolitische Dimension des damaligen Engagements unübersehbar. Rechnet man alle Humboldt-Stipendiaten zusammen, die bis 2018 von der Stiftung aus Polen gefördert wurden, so kommt man auf 1272 Personen. Etwa 30 Prozent der geförderten polnischen Wissenschaftler rekrutierte sich aus dem Bereich der Geisteswissenschaften, weitere 30 Prozent waren Naturwissenschaftler, jeweils 20 Prozent Lebens- und Naturwissenschaftler. Die Stiftung entwickelte ein vielfältiges Instrumentarium der Nachbetreuung, mit dem Wunsch, auch nach Abschluss des Stipendiums den Kontakt zu den geförderten Forschern nicht abreißen zu lassen. Mit Rückkehrstipendien, Einladungen zu Jahreskonferenzen und Buchspenden werden die Humboldtianer lebenslang gefördert. Für die dauerhafte Verbindung sorgen auch Regionaltagungen in den betreffenden Heimatländern.

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So gesehen, prägten Steuerungsversuche und Eigendynamik die deutschdeutsch-polnischen Kulturbeziehungen von den 1950er-Jahren bis 1989. Die politische Indienstnahme eines scheinbar eigengesetzlichen Kulturaustauschs war vor allem vor der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen wichtig, und zwar nicht nur auf polnischer Seite, sondern auch in Westdeutschland. Mit Empfehlungen, Anregungen und finanzieller Unterstützung wurden Einzelvorhaben gefördert, es fehlte aber an systematischen und langfristigen Strategien. Diese Ersatzdiplomatie machte nach 1970 institutionalisierten Vorhaben Platz (dies gilt selbstverständlich nur für westdeutsch-polnische Beziehungen), die sich bis zum Systemwechsel in Polen rasch entwickelten. Nach dem demokratischen Umbruch schuf das 1997 abgeschlossene deutsch-polnische Kulturabkommen eine Grundlage für neue bilaterale Beziehungen. In der Bundesrepublik gehören das Goethe-Institut und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) zu den wichtigsten Mittlerinstanzen in Bereichen wie Literatur, Musik, Theater, bildende Kunst, Film, Wissenschaft und Bildung, Sprachförderung und Medien. Zu kulturpolitischen Botschaftern zählen deutsche Lehrer an polnischen Schulen, DAAD-Dozenten an polnischen Universitäten sowie Vertreter der politischen Stiftungen. So wurde das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz 1998 von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt. Das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt veranstaltet seit 2009 in Zusammenarbeit mit wechselnden Partnern alle zwei und mittlerweile alle drei Jahre einen Polenforschungskongress, der interessierte Historiker, Politologen, Soziologen, Wirtschafts-, Musik-, Kultur- und Literaturwissenschaftler zusammenbringt. Das 1991 von beiden Regierungen gegründete Deutsch-Polnische Jugendwerk unterstützt Jugendbegegnungen durch Finanzierung, Beratung, Weiterbildungen und Publikationen. Die Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder wurde zu einer der wichtigsten Institutionen für akademische Zusammenarbeit. Prognosen über die künftige kulturpolitische Rolle der Germanistik und der deutschen Sprache in Polen sind schwierig. Nach einer Datenerhebung des Auswärtigen Amts aus dem Jahr 2020 zählt Polen zwar die meisten Deutschlernenden weltweit (1,95 Millionen, davon 1,84 Millionen an Schulen), doch erschwert die Bildungsreform aus dem Jahre 2017, mit der zum zweistufigem Schulsystem aus achtjähriger Grundschule und einer weiterführenden Schule zurückgekehrt wurde, den Erwerb der deutschen Sprache (entscheidend dafür ist auch die verkürzte Stundenanzahl für die zweite Fremdsprache sowie Englisch als verbindliche erste Fremdsprache). Die Gesamtzahl der Deutschlernenden ist gegenüber 2015 um 14 Prozent zurückgegangen  – trotz des Anstiegs der Gesamtzahl an Schülerinnen und Schüler um ca. acht Prozent. Der stärkste Einbruch ist an Universitäten und Hochschulen zu verzeichnen: Lernten 2015

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noch rund 97 000 Studenten Deutsch, waren es 2020 nur noch 56 000 (davon wählten 48 000 Deutsch als studienbegleitendes Fach). Ein Gegentrend lässt sich aber zugleich außerhalb der Schulen und Universitäten beobachten: Durch den Zuwachs an Niederlassungen deutscher Firmen in Polen sind immer mehr Unternehmen auf der Suche nach künftigen Mitarbeitern, die neben Englisch auch über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. Daher haben gezielte Programme des Goethe-Instituts in enger Zusammenarbeit mit Schule und Wirtschaft einen hohen Wirkungsgrad.41 Die polnische auswärtige Kulturpolitik in der Bundesrepublik wird vor allem durch Kulturinstitute in Berlin (mit Filiale in Leipzig) und in Düsseldorf getragen. Als Einrichtungen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten werden die Institute mit der öffentlichen Kulturdiplomatie betraut und spiegeln besonders nach der Machübernahme durch die nationalkonservative Regierung im Jahre 2015 im verstärkten Maße die politischen Wünsche der Warschauer Zentrale wider. In diesem Kontext ist auch das 2019 eröffnete Pilecki-Institut in Berlin zu nennen, dessen Tätigkeit sich zum Ziel setzt, „zur Vertiefung der Kenntnisse der Geschichte Polens beizutragen“.42 Deutlich unabhängiger kann dagegen das von der Polnischen Akademie der Wissenschaften getragene Zentrum für Historische Forschung in Berlin agieren, ein polnisches Gegenstück zum 1993 gegründeten Warschauer Deutschen Historischen Institut. Beide Institute ermöglichen durch Übersetzungen und Anregung wissenschaftlicher Forschung ein hohes Niveau der polnischen Deutschlandwie der deutschen Polenforschung. Weitgehend unabhängig von den zentralen kulturpolitischen Richtlinien agieren auf kommunaler Ebene zahlreiche deutsch-polnische Gesellschaften und Städtepartnerschaften. Hier vollzieht sich gerade der holprige Weg zu gutnachbarlichen und partnerschaftlichen deutsch-polnischen Beziehungen, indem dank konkreten Projekten und persönlichen Kontakten überholte Vorstellungen abgebaut und das Verständnis für den Nachbarn entwickelt werden.

41 Auswärtiges Amt (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache weltweit. Datenerhebung 2020, Berlin 2021, S. 24 f. 42 https://instytutpileckiego.pl/en/instytut (19.2.2021).

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Die Chronik des weitgehend politisch gesteuerten Imports der polnischen Literatur in die DDR sowie der ostdeutschen nach Polen wurde bereits thematisiert (→ S. 44–49, 54–56). Ebenso illustrierten Beispiele des westdeutschpolnischen literarischen Austausches die komplexe Verflechtungsgeschichte der Bundesrepublik und Polens nach 1949. Dieses Kapitel skizziert die Rezeption der westdeutschen literarischen Kultur in Polen in den Jahren 1949–1990 und erzählt eine Geschichte der polnischen Literatur in Westdeutschland aus der Perspektive der Verleger und Zeitschriftenredakteure. Die erste Rezeptionsphase der Literatur aus der Bundesrepublik Deutschland in Polen umfasst die Jahre 1949 bis 1956. Vor der Gründung des westdeutschen Staates wurden deutschsprachige Autoren in polnischen Verlagen kaum verlegt, auch danach war es damit nicht viel besser bestellt. Zwar richtete die katholische Presse bereits um 1950 ihr Augenmerk auf einige in Westdeutschland lebende Schriftsteller aus dem christlichen Spektrum, der Durchschnittsleser bekam davon jedoch wenig mit. Allgemein betrachtet, spielte in der Zeitspanne 1945–1970 die nationale Kategorisierung der Autoren deutscher Sprache eine eher untergeordnete Rolle. So las man Franz Kafkas Werk im Kontext existenzialistischer Ideen von Albert Camus und Jean-Paul Sartre, Stefan Zweig fungierte als transnationaler, kosmopolitischer Humanist, Friedrich Dürrenmatts oder Max Frischs dramatisches Werk wurde nicht unbedingt als besonders schweizerisch, sondern als zivilisationskritisch aufgefasst. Auch die deutsche Unterhaltungs-, Kinder- und Jugendliteratur sowie Sachbücher unterlagen keiner nationalspezifischen Aura. Erst in den 1970er-Jahren erfolgte eine strengere Abgrenzung zwischen Autoren aus der Bundesrepublik, der DDR, Österreich und der Schweiz.43 Bis dahin teilte die polnische Literaturkritik  – unter anderen Adolf Sowiński, Egon Naganowski, Roman Karst, Wilhelm Szewczyk und Marceli Ranicki  – deutschsprachige Texte vorab nach Begriffspaaren ein: progressiv gegen reaktionär, bürgerlich gegen sozialistisch, realistisch gegen unrealistisch. 43 Orłowski, Hubert: Distributive Rezeption. Deutschsprachige Literatur in Polen 1945– 1985. In: Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschensprachigen in Polen 1945–1985, hrsg. von Heinz Kneip / dems., Darmstadt 1988, S. 270–286, hier S. 274, 276.

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Vor allem Ranicki, der spätere bundesdeutsche Literaturpapst, spielte in der deutsch-polnischen literarischen Verflechtungsgeschichte in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre eine nicht zu unterschätzende Rolle. Der in Włocławek geborene Marceli Reich (Ranicki kam erst durch einen Geheimdienstdecknamen hinzu) musste 1929 als Neunjähriger seine Heimatstadt verlassen und wurde mit seinen arbeitslosen Eltern von Verwandten in Berlin aufgenommen. Sein späterer Lebensweg war geradezu idealtypisch für das vielschichtige deutschpolnisch-jüdische Dreieck. Nach einem neunjährigen Aufenthalt in der Reichshauptstadt wurde Reich 1938 im Rahmen der „Polen-Aktion“ der NS-Führung mit anderen polnischen sowie staatenlosen Juden deportiert. Das antisemitische Klima der Zweiten Polnischen Republik hat den späteren Literaturkritiker tief geprägt. Im Krieg arbeitete er im Warschauer Ghetto als Schreiber des Judenrates, entging dank eines erfolgreichen Fluchtversuchs zusammen mit seiner im Ghetto geheirateten Frau Teofila dem Tod in Treblinka und versteckte sich bei der Familie eines polnischen Schriftsetzers. Unmittelbar nach dem Krieg trat Reich in den Dienst des stalinistischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit: zunächst kurz in der Funktion eines Militärzensors zuständig für die Postkontrolle in Oberschlesien, dann als Angestellter des Büros für Restitution und Kriegsentschädigung in der beim Alliierten Kontrollrat akkreditierten und von Oberst Jakub Prawin geleiteten Polnischen Militärmission in Berlin (→ S. 31–34). Im April 1946 wurde Leutnant Marceli Reich nach Warschau zurückbeordert, kehrte ins Sicherheitsministerium zurück, begab sich aber Anfang 1947 als Vizekonsul nach London, wo er als eifriger Befürworter des Regimes schnell avancierte: Im August 1948 war er bereits Konsul, Anfang 1949 kommissarischer Leiter des Generalkonsulats, der jüngste unter Londons Diplomaten. Aus Reich wurde Ranicki: Ein Name, der ihm der biografischen Überlieferung zufolge einfiel, weil er „gerade ein Mädchen kannte, das Ranicka hieß. Ein reiner Zufall“.44 Die Namensänderung war aber nicht ganz dem Zufall überlassen: Das „Mädchen“ war eine Kollegin, die als Zensorin und Übersetzerin in der Warschauer Zweigstelle des Sicherheitsministeriums arbeitete.45 Ranickis Zuständigkeitsbereich war breit gefächert, seine wichtigste Aufgabe war es jedoch, die dem Kommunismus feindlich gesinnten polnischen Emigranten auszuspähen.46 Nach zwei Jahren kam es zwischen Ranicki und seinen Auftraggebern zum Konflikt: Er wurde abberufen, zu einer zweiwöchigen Haftstrafe verurteilt und im März 1950 aus der Partei ausgeschlossen, fand aber zuletzt eine Anstellung 44 Zit. nach Hage, Volker / Schreiber, Mathias: Marcel Reich-Ranicki, Köln 1995, S. 39. 45 Gnauck, Gerhard: Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre, Stuttgart 2009, S. 123, 260. 46 Ebenda, S. 128.

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im Verlag des Verteidigungsministeriums. Dort bot sich ihm die Möglichkeit, zu der „lange vernachlässigten Partnerin“ seiner frühen Jahre, „zur Literatur also“, zurückzukehren.47 Binnen kürzester Zeit, obwohl zwischen 1953 und 1954 mit einem Publikationsverbot belegt, genoss Marceli Ranicki im polnischen Literaturbetrieb „den Ruf eines zuverlässigen und gut lesbaren Fachmanns für deutsche Literatur“.48 Bis zu seiner Ausreise in die Bundesrepublik schrieb er mehr als 150 Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften sowie 13 Vor- und Nachworte zu Werkausgaben deutschsprachiger Autoren. Gemäß dem vorgeschriebenen sozialistischen Realismus exekutierte Ranicki die geltenden Richtlinien. So war der »Zauberberg« Thomas Manns unter seiner Feder das Werk eines „großen Realisten und eines irrenden Ideologen zugleich“, der dem „übermäßigen Einfluss der Theorien Sigmund Freuds“ unterlag.49 In der 1955 herausgegebenen deutschen Literaturgeschichte, die den Zeitraum 1871–1954 umfasst, beklagte der Kritiker, die Literatur in Westdeutschland sei vorwiegend eine Fortsetzung der faschistischen, nihilistischen und pessimistischen Tendenz; sie distanziere sich zwar von den nationalistischen Parolen, übe aber dennoch einen äußerst schädlichen Einfluss aus. Die Buchhandlungen in der Bundesrepublik, wo die „amerikanischen Besatzer“ herrschten, seien „voller pornographischer Bücher“ und das literarische Leben „unter den polizeilichen Verhältnissen des Adenauer-Regimes“ sei insgesamt wenig erfreulich. Ranicki resümierte: „Die neohitleristische Literatur erfreut sich der vollen Unterstützung der Führung Westdeutschlands und ist ein wichtiges Instrument der Remilitarisierung der Gesellschaft.“50 Trotz seiner kulturpolitischen und ästhetischen Irrungen in der Ära Stalin gelang es Ranicki, namhafte Autoren dem polnischen Publikum nahezubringen. Im Jahr 1952 interviewte er Bertolt Brecht und seine Frau Helene Weigel während ihres Besuchs in Warschau, einige Monate später begleitete der junge Kritiker Anna Seghers auf ihrer Polenreise und verfasste eine Monografie über ihr Werk. Ende 1956 kam Heinrich Böll als erster Schriftsteller aus der Bundesrepublik nach Warschau. Ranicki schilderte die emotionelle Berührung der wenigen Übersetzer und Verlagslektoren, die an dem Treffen im Haus der Literaten teilnahmen: „Hier sprach ein Schriftsteller aus der in Polen als revanchistisch verrufenen Bundesrepublik gleichsam in einem Atem von deutscher Literatur und von deutscher Schuld  – und jeder seiner eher schlichten und 47 48 49 50

Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben, Stuttgart 1999, S. 331. Ebenda, S. 339. Zit. nach Gnauck, Wolke und Weide, S. 179. Ebenda S. 178 f.

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bisweilen linkischen Sätze wirkte überzeugend. […] Ich ging mit ihm spazieren, ich zeigte ihm, natürlich auf seinen Wunsch, die Zerstörungen Warschaus, die auf Schritt und Tritt zu sehen waren, und ich zeigte ihm den Wiederaufbau. Ich kommentierte alles so trocken wie möglich, er sprach wenig, er hörte zu. Ich glaube, er hat in diesen Stunden viel gelitten.“51 In der entspannten Atmosphäre des polnischen Tauwetters wurden immer wieder nationalkommunistische und antisemitische Stimmen laut. Viele jüdische Freunde und Bekannte Ranickis verließen das Land, auch er trug sich mit Plänen, von der vorsichtigen Annäherung zwischen Bonn und Warschau, die eine Ausreise von deutschstämmigen Aussiedlern ermöglichte, Gebrauch zu machen. Ende 1957 weilte Ranicki in der Bundesrepublik, begegnete Siegfried Lenz, Heinrich Böll, Karl Dedecius und versuchte seine Chancen im westdeutschen Literaturbetrieb auszukundschaften. Endlich war es so weit: Im Juli 1958 verließ Marceli Ranicki Polen und nannte sich nach einer kurzen Einbürgerungsphase Marcel Reich-Ranicki. In seinen ersten Jahren in der Bundesrepublik widmete er sich noch ab und zu den Polonica, etwa mit einer 1962 herausgegebenen Anthologie »Sechzehn polnische Erzähler«. Mit seinem Lob der im Hanser-Verlag 1959 verlegten »Unfrisierten Gedanken«, der Aphorismen von Stanisław Jerzy Lec  – der als Offizier 1944, nachdem der Krieg für Reich geendet hatte, sein erster Vorgesetzter gewesen war –, mag er zum Erfolg des bisher in Deutschland auflagenstärksten polnischen Autors beigetragen haben. In späteren Jahren hat sich Reich-Ranicki  – nach seiner eigenen Aussage „ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude“52  – von der polnischen Literatur und von Polen entfremdet, auch nach der Wende blieb das Verhältnis angespannt  – nicht zuletzt wegen seiner lange verschwiegenen politischen Aktivität in den 1940er- und 1950er-Jahren. Auf archivarische Enthüllungen der deutschen und polnischen Journalisten reagierte Reich-Ranicki mit wuchtigen Gegenschlägen. In Deutschland fand er begeisterte Abnehmer; ob er dort wirklich aufgenommen und heimisch wurde, bleibt dahingestellt. In Polen weckt sein Name bis heute gemischte, oft negative Assoziationen. Ein polnisch-deutsch-jüdisches Schicksal, wenn auch in einer eigenwilligen Selbststilisierung. Als Marcel Reich-Ranicki in Frankfurt am Main 1958 in die Medien ging, läuteten die politischen Ereignisse des Jahres 1956 und die sich seit 1955 abzeichnende Liberalisierung in der Kulturpolitik in seiner zurückgebliebenen Heimat eine zweite Rezeptionsphase der westdeutschen Literatur ein. Diese wurde erstmals im hektischen Tempo, dann aber systematisch und planmäßig 51 Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben, S. 364 f. 52 Zit. nach Gnauck, Gerhard: Wolke und Weide, S. 11.

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Abb. 11. Marcel Reich-Ranicki, Holocaust-Überlebender und Literaturkritiker (r.), während einer Rede bei einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag zu Ehren der Toten beider Weltkriege und der Opfer des Nationalsozialismus

gesichtet und verlegt. In dieser Zeitspanne wurden ca. 90 Werke übersetzt, begleitet von fachlichen Vorworten, Rezensionen und kritischen Überblicken in Zeitschriften, die für ein besseres Verständnis der Bundesrepublik in Polen sorgten. Die Auflagen waren imposant: Sie lagen bei Romanen und Prosabänden bei 10 000 Exemplaren, bei Lyrikbänden wurden um 1000 Exemplare gedruckt. Die deutschsprachige Literatur erschien vor allem in großen Verlagshäusern: im Warschauer Czytelnik und PIW, außerhalb der Hauptstadt aber auch in Posen (Wydawnictwo Poznańskie), Kattowitz (Wydawnictwo Śląsk) und Krakau (Wydawnictwo Literackie). Nicht zu unterschätzen waren auch thematische Nischen. So kamen die religiöse Dichtung bei PAX, Kriegsromane im Militärverlag MON, maritime Literatur im Verlag Wydawnictwo Morskie sowie Kinder- und Jugendliteratur im Kinderbuchverlag Nasza Księgarnia unter.53 Zu den meistverlegten westdeutschen Autoren der zweiten Rezeptions­ phase gehörten Siegfried Lenz, Günther Grass, Hans Hellmut Kirst, Luise Rinser und Heinrich Böll. 53 Kaszyński, Stefan H.: Barometer und Instrument. Literatur der Bundesrepublik in Polen. In: Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945–1985, hrsg. von Heinz Kneip / Hubert Orłowski, Darmstadt 1988, S. 335–354, hier S. 336, 340.

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Der Letztere erschien in mehreren Neuauflagen in der exklusiven Reihe »Nike« des Verlages Czytelnik, vereinzelte Übersetzungen wurden auch bei PAX und PIW herausgebracht. Das Werk Bölls wurde als progressive westdeutsche christliche Literatur und erstmals vor allem durch die katholisch orientierte Kritik bewertet. Man attestierte ihm die Nähe zum Existenzialismus und verglich seine Romane mit denen von André Maurois und Graham Greene. Besonders hervorgehoben wurden das von Böll kritisch skizzierte Bild der bundesrepublikanischen Gesellschaft sowie seine Kritik des deutschen Militarismus. Mitunter gab es auch Kritiker, die sich an dem vermeintlichen „demonstrativen Indifferentismus“ (so der Breslauer Germanist Norbert Honsza) des Literaturnobelpreisträgers aus dem Jahre 1972 störten und seine politisch-moralische Haltung zu relativieren versuchten.54 Trotz jener nicht immer logisch nachvollziehbaren Kritiken zählte Böll zu den meistgedruckten, -gelesenen und -kritisierten Schriftstellern aus der Bundesrepublik und galt als Autor, der sich für Polen interessierte: als Rezensent der in deutscher Übersetzung erschienenen Werke von Jerzy Andrzejewski, Czesław Miłosz und anderen, als Kulturvermittler und nicht zuletzt als Unterstützer der polnischen Regimekritiker. Gemeinsam mit Siegfried Lenz, Wolf Biermann, Sarah Kirsch, Elias Canetti, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und anderen unterzeichnete Böll im Jahre 1981 einen Brief an den polnischen Ministerpräsidenten Wojciech Jaruzelski, in dem er um die Freilassung von Jacek Kuroń und Adam Michnik bat. Trotz seines sich verschlechternden Gesundheitszustands nahm er an zahlreichen Friedensdemonstrationen teil und protestierte gegen die polnische Militärregierung und die Verhängung des Kriegsrechts. In der dritten Phase  – von der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags und der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen bis zur politischen Wende  – entwickelte sich der Transfer westdeutscher Literatur nach Polen unter recht günstigen Bedingungen. Die Kritik in Zeitschriften sowie in der Tagespresse beschäftigte sich vor allem mit der deutsch-polnischen Grenzlandproblematik. Vor allem das Werk von Günter Grass sorgte in dieser Zeit für heftige Polemiken. Für die erste kritische Auseinandersetzung mit dem in Danzig geborenen Autor sorgte bereits die erste polnische Ausgabe von »Katz und Maus«, in der manche Kritiker einen „beißenden Spott“ gegenüber Polen entdeckt zu haben meinten,55 für Irritationen sorgte aber erst recht die Übersetzung des Romans »Die Blechtrommel«, die 1979 im „zweiten“, offiziösen Umlauf ediert worden ist. Seitdem hatte Grass in Polen seine entschiedenen 54 Ebenda, S. 345. 55 Orłowski, Hubert: Verlagsgutachten und Nachworte zur Förderung und Zensierung deutscher Literatur in Polen nach 1945, in: Studia Germanica Posnaniensia XXII (1995), S. 125–137, hier S. 131.

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Befürworter sowie Gegner, sein Werk wurde auch zum Instrument in der jeweils aktuellen polnischen Kultur- und Deutschlandpolitik. Die erklärten Widersacher interpretierten die „Danziger Trilogie“ (»Die Blechtrommel«, »Katz und Maus«, »Hundejahre«) als historische Dokumente und zogen daraus voreilige politische Schlüsse, die Grass-Sympathisanten begeisterten sich für die vieldeutige Problemstellung und ästhetische Qualitäten des Werks. Die Leser selbst wussten das Letztere zu schätzen: Sowohl die erste wie die zweite offizielle Auflage der »Blechtrommel« aus dem Jahre 1983 waren unverzüglich vergriffen.56

Abb. 12. Bundespräsident Richard von Weizsäcker (Mitte) besichtigt mit dem Schriftsteller Günter Grass (2. v. r.) und Edmund Piszcz, Bischof von Ermland, die Kathedrale von Frauenburg. Weizsäcker besuchte als erstes Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland Polen.

Mit der westdeutschen Literatur in Polen war es also bis 1989 keinesfalls schlecht bestellt. Von der Entstehung der Bundesrepublik bis 1989 erschienen in polnischer Übersetzung die meisten repräsentativen Autoren, viele von ihnen wurden auch mehrfach in der Presse rezensiert. War der Transfer in die entgegengesetzte Richtung zumindest teilweise ebenso erfolgreich? Eine besonders reiche Materiallage erlaubt uns an dieser Stelle, hinter die Kulissen des 56 Kaszyński, Stefan H.: Barometer und Instrument, S. 346.

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Literaturbetriebs zu schauen und eine Antwort auf die bisher wenig berücksichtigten Fragen zu formulieren: Was sahen aber die westdeutschen Verleger in Texten polnischer Autoren? Wie haben sie diese Texte eingeschätzt? Was wollten sie herausgeben und was dem Publikum lieber vorenthalten? Dazu ein paar Beispiele. Polnische Beobachter beurteilten die westdeutschen Vermittlungsbemühungen immer wieder kritisch und äußerten ihre Überzeugung, dass die Zahl der Übersetzungen aus der polnischen Prosa und Lyrik spärlich und die Auswahl der Titel nicht richtig sei. Die für falsch gehaltene Werkauswahl wurde vor allem auf zwei vorherrschende Prinzipien zurückgeführt: auf kommerzielle, rentabilitätsbezogene Erwägungen und auf den vorwiegend politischen Charakter der Rezeption in der Bundesrepublik. Das mehrfach vermerkte Unbehagen über die mangelnde Präsenz polnischer Literatur im bundesdeutschen Literaturbetrieb erinnert an den von den Historikern Henri Beunders und Herman Selier so bezeichneten Calimero-Komplex. Dabei handelt es sich um das ständige Verweisen auf das gleichnamige, von Tony Pagot 1963 entworfene Zeichentrickküken, das immer beklagt, es sei unfair, dass es selbst so klein und die anderen so groß seien. Die einstige Auffassung Marcel Reich-Ranickis  – „Bücher polnischer Autoren werden von den westdeutschen Zeitungen meist gelobt, mitunter überschwänglich gerühmt. Aber sie werden wenig verkauft. Man begegnet dieser Literatur mit Sympathie und mit Interesse. Aber man liest sie kaum.“57  – muss aus der heutigen Sicht mit Vorsicht genossen werden. Den Eintragungen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ist zu entnehmen, dass die Übersetzungen aus dem Polnischen im Jahr 1965 ein Prozent der gesamten deutschsprachigen Übersetzungsproduktion ausmachten, in den darauffolgenden Jahren halbierte sich aber der Anteil der polnischen Erstauflagen im Ensemble der sonst noch ins Deutsche übertragenen Literatur. Als Vergleich: Während heutzutage zum Beispiel das Niederländische seit Jahren mit ca. zwei Prozent auf einem mittleren Platz unter den zehn wichtigsten Herkunftssprachen liegt, fällt das Polnische mit ca. 0,5 Prozent deutlich zurück. Aufschlussreicher als diese Standortbestimmung ist jedoch die Tatsache, dass in der Bundesrepublik seit 1945 doppelt so viel an polnischen Büchern erschienen ist wie in anderen westlichen Ländern.58 57 Reich-Ranicki, Marcel: Polnische Literatur in Deutschland. In: Deutsch-Polnische Hefte 7/8 (1963), S. 395. 58 Vgl. Nosbers, Hedwig: Polnische Literatur in der Bundesrepublik Deutschland 1945/1949 bis 1990. Buchwissenschaftliche Aspekte, Wiesbaden 1990; Gasse, Annegret: Ausgaben der polnischen Belletristik in deutscher Übersetzung 1990 bis 2004  – Geschichte, Förderung und Präsenz einer vermeintlich unbekannten Nationalliteratur, Erlangen 2008.

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Der erste Abschnitt der Rezeption polnischer Literatur datiert auf die Jahre 1945–1958, in denen sich, vor allem nach 1953, das Interesse der Verlage an aktuellen Entwicklungen in Polen erstmals regte. Im Windschatten der polnischen Klassiker (Adam Mickiewicz, Józef Ignacy Kraszewski, Henryk Sienkiewicz, Władysław Reymont, Bolesław Prus) erschienen auch zeitgenössische Autoren. Die Auswahl entsprach den auf Konfrontation angelegten politischen Haltungen. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch, dessen Publikationen zur Erforschung und Kritik des Kommunismus in den Jahren 1950 bis zum Tod des Verlegers (1967) zwischen zehn und 30 Prozent des Programms ausmachten, brachte 1953 »Verführtes Denken« heraus  – eine Sammlung von Aufsätzen des späteren Literaturnobelpreisträgers Czesław Miłosz. Das Buch erschien im selben Jahr in New York und Paris als »The Captive Mind«, in Deutschland hatte die vom Kongress für kulturelle Freiheit (jener linksliberalantikommunistisch ausgerichteten Intellektuellenorganisation, die dank den Zuwendungen aus dem Umfeld der CIA entstand; CCF) finanzierte Zeitschrift »Der Monat« bereits 1951 Vorabdrucke gebracht. Die redaktionelle Einleitung unterstrich das kulturpolitische Potenzial des Werks: „Den Kreisen der polnischen Exilregierung stand er fern, doch war er andererseits kein Kommunist; er galt, wie er es selbst schildert, im Verhältnis zum ‚Neuen Glauben‘ als einer jener ‚guten Helden‘, deren Bekehrung man für wahrscheinlich hielt und deren Loyalität man gewiß zu sein glaubte. Im Augenblick aber, da er das Sakrament des sozialistischen Realismus empfangen sollte, sagte er ‚nein‘. Es ist der Augenblick, den er im ‚Murti-Bing‘ vom Standpunkt des osteuropäischen Intellektuellen schildert, so schonungslos die Gewalt und die Verführung des Bolschewismus auf den ziel- und steuerlosen Menschen der Gegenwart beschwörend, wie es vielleicht in keiner der zahlreichen Darstellungen dieser Situation geschah.“59 Dem CCF-Milieu war der „intellektuelle Überläufer“ längst bekannt. Als polnischer Delegierter hatte Miłosz 1949 an der Waldorf-Astoria-Konferenz, der Geburtsstunde des Kongresses für kulturelle Freiheit, teilgenommen. Im Mai 1950 trat der junge Lyriker, Eliot-Übersetzer und damalige Kulturattaché der polnischen Botschaft auf einer Pariser Pressekonferenz des Kongresses persönlich auf. Der Verleger Joseph Caspar Witsch wusste den durch den CCF unterstützten polnischen Autor medienwirksam durchzusetzen. Die Einleitung zum Buch verfasste der „Hausgott“ des Piper-Verlags, Karl Jaspers: „Die Sammlung von Aufsätzen, die Czeslaw Milosz unter dem Titel The Captive Mind zu einem Buch vereinigt hat, halte ich für ein Dokument und gleichzeitig für eine Interpretation ersten Ranges. […] Wir erfahren 59 Miłosz, Czesław: Murti-Bing. In: Der Monat 35 (1951), S. 451–464, hier S. 451.

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etwas vom Anderswerden des Menschen unter völlig neuen Bedingungen, nämlich des Lebens im Misstrauen aller gegen alle in gegenseitiger Beobachtung, im erbarmungslosen Kampf unter den Masken, im Spiel der Rolle, im Identischwerden mit ihr. Ein neuer Mensch? Nein, sondern der Mensch, der wir alle der Möglichkeit nach sind, unter solchen Bedingungen.“60 Witsch sorgte für eine groß angelegte, auch im Rundfunk geführte Medienkampagne für Miłoszs Buch, außerdem nutzte er die CCF-Kanäle, um eine Bezuschussung der ersten Auflage durch das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zu erwirken, das als bevorzugter Ansprechpartner der US-Dienststellen für antikommunistische Aktionen in den 1950er-Jahren bundesweit Millionen in die Propaganda gegen die DDR investierte. Das Publikationsreferat des Ministeriums sagte zu, 2000 Exemplare von »Verführtes Denken« abzunehmen. Die erhebliche kulturpolitische sowie werbliche Unterstützung erzielte die gewünschte Wirkung: Ein Jahr nach Erscheinen des Buches wählte die in Darmstadt ansässige Jury des Vereins Buch des Monats »Verführtes Denken« zum Buch des Monats März 1954. Witsch gelang es, Miłosz an seinen Verlag zu binden; in den darauffolgenden Jahren verlegte er »Tal der Issa« (1957), »West- und Östliches Gelände« (1961) und »Lied vom Weltende« (1966). Das CCF-Umfeld unterstützte auch andere polnische Autoren des Verlags: Józef Czapski, für dessen »Unmenschliche Erde« (1967) Günther Birkenfeld, CCF-naher Vertreter der Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit, Fürsprache eingelegt hatte, sowie Gustaw Herling (»Welt ohne Erbarmen«, 1953). Die gesellschaftliche und politische Wende im Herbst 1956 sowie die Abkehr von den Prinzipien des sozialistischen Realismus steigerten das westdeutsche Interesse an der polnischen Literatur, die mit den stalinistischen Praktiken abrechnete und künstlerisch innovativ soziale und historische Realien zur Sprache brachte. In der Zeitschrift »Merkur« präsentierte Wanda Brońska-Pampuch  – eine deutsch-polnische Publizistin, Übersetzerin und Ostblockexpertin deutscher Zeitungen  – in ihrem Aufsatz »Polens Literatur auf neuen Wegen« eine Abrechnung mit der schdanowschen Kunstauffassung in Werken von Jerzy Andrzejewski, Kazimierz Brandys, Roman Bratny, Marek Hłasko, Leopold Tyrmand und Adam Ważyk. Die Vermittlerin betonte die Tatsache, dass der Oktoberumschwung für die Überbrückung der Kluft zwischen polnischen Schriftstellern in Polen und im Exil sowie für die Wiederherstellung der Beziehungen zur westdeutschen Literatur (gesteigerte Anzahl von Übersetzungen) sorgte. Mit Verweis auf Schriften des 60 Jaspers, Karl: Vorwort. In: Miłosz, Czesław: Verführtes Denken. Köln 1953, S. 7–9, hier S. 7.

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gesellschaftskritischen Philosophen Leszek Kołakowski warnte sie zugleich vor den Folgen „des nun wieder einsetzenden Frostes“ und der „Flucht in die politische Passivität“.61 In jener zweiten intensiven Erschließungsphase wurde die westdeutsche Leserschaft mit einem breiten Spektrum zeitgenössischer Literatur aus Polen vertraut gemacht. Bis 1971 erschienen jährlich ca. 15 Neuausgaben. Signalcharakter hatte die 1959 von Karl Dedecius herausgegebene Anthologie der neuen polnischen Lyrik, »Lektion der Stille«. Diverse Sammelbände der polnischen Nachkriegsprosa, des modernen Dramas sowie der Satire boten Orientierungshilfe und zeichneten sich durch ein fast vollständiges Textrepertoire aus. Eine in der Kriegsprosa angesiedelte Besatzungs- und Lagerliteratur, die aus persönlicher Erfahrung über das Gewöhnliche des Alltags berichtete, wurde in der Rezeption als ein innovativer Beitrag zur Weltliteratur aufgefasst. Nicht alle Verleger entdeckten diese „polnische Welle“ rechtzeitig für sich. Peter Suhrkamp habe den späteren Erinnerungen von Dedecius zufolge die Chancen der polnischen Literatur in der bundesdeutschen Nachkriegslandschaft unterschätzt und diese Verlagssparte weitgehend vernachlässigt. Als der Direktor des Suhrkamp-Verlages, Siegfried Unseld, 1965 zum ersten Mal an der Warschauer Buchmesse teilnahm, notierte er missmutig in seinem Reisebericht: „Es gibt keine reiche polnische, zeitgenössische Literatur, aber es gibt doch eine. Wir müssen leider feststellen, daß der Suhrkamp Verlag an dieser Literatur vorbeigegangen ist. Der wichtigste Mann in ganz Polen, Kołakowski, ist in den Händen von Piper; der wichtigste Prosaiker, Andrzejewski, in den Händen von Langen-Müller; der Satiriker, Stanisław J. Lec, in den Händen von Hanser; ebenfalls ein bedeutender polnischer Autor, Tadeusz Borowski, ist mit einem sehr guten Erzählungsband bei Piper vertreten. Die beiden großen Alten der polnischen Literatur, Iwasz­ kiewicz und Dąbrowska, sind ebenfalls vergeben.“62 In seinem Reisebericht bereute Unseld, dass er sich weitere Autoren hatte entgehen lassen, unter anderen Kazimierz Brandys, Adolf Rudnicki, Tadeusz Różewicz, Sławomir Mrożek und Ireneusz Iredyński. Rasch entdeckte aber Unseld in Zbigniew Herbert eine herausragende dichterische Stimme. Die Präsenz im Suhrkamp-Verlag machte Herbert zu einem der bekanntesten polnischen Dichter im deutschsprachigen Raum. Unseld blieb ein treu sorgender Freund und Berater seines Autors. Nach dessen Tod schrieb er an Katarzyna Herbert: 61 Bronska-Pampuch, Wanda: Polens Literatur auf neuen Wegen. In: Merkur 2 (1958), S. 171–180, hier S. 179 f. 62 Unseld, Siegfried: Reise Warschau vom 18. bis 25. Mai 1965. In: DLA, SUA: Suhrkamp/ 01VL/Reiseberichte.

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„Mit Zbigniew ist mir ein sehr lieber Mensch und ein Freund gestorben. Ich hatte über Jahre, Jahrzehnte hinweg den Eindruck einer sehr intensiven, lebendigen Verbindung, einer Sympathie und Zusammengehörigkeit. […] Ich danke Zbigniew, daß er dem Suhrkamp Verlag durch seine Publikationen so viel Ruhm eingebracht hat. Wir werden uns dankbar erweisen, indem wir sein Werk lebendig erhalten.“ 63 In den 1960er-Jahren war es nicht nur die schöne Literatur aus Polen, die sich der Aufmerksamkeit der deutschen Verleger erfreute. 1960 wurde der damals 33-jährige polnische Philosoph Kołakowski Autor des Piper-Verlages  – mit »Der Mensch ohne Alternative«, einer von Wanda Brońska-Pampuch übersetzten Sammlung von Aufsätzen, die er während der Jahre 1956–1959 in führenden Zeitschriften Polens hatte erscheinen lassen, um die ideologischen Grundlagen des Marxismus nach dem 20. Kongress der KPdSU leidenschaftlich zur Debatte zu stellen. Zwei Jahre zuvor war er dem Ruf auf den Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie an der Universität Warschau gefolgt. Im Jahre 1966 wurde Kołakowski wegen seines Eintretens für oppositionelle Studenten aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgeschlossen, woraufhin er 1968 seinen Lehrstuhl verlor und nach Kanada ausreiste. Dort unterhielt er Gastprofessuren in Montreal und Berkeley, ab 1970 lehrte er am All Souls College in Oxford, es folgten weitere Professuren in Yale und Chicago. Auf Vorschlag von Jürgen Habermas sollte Kołakowski 1970 zusammen mit dem Münsteraner Soziologen Horst Baier den Adorno-Lehrstuhl an der GoetheUniversität in Frankfurt am Main übernehmen. Gegen die Berufung sprachen sich jedoch die Assistenten und Studenten der Fachschaft des Frankfurter Philosophischen Seminars in einem offenen Brief an Kołakowski aus. Die antiautoritären Fachschaftsmitglieder warfen ihm vor, den „Rekurs auf die Ideologie persönlicher Freiheit“ sowie „wesentliche Bestandteile des Marxismus“ preisgegeben zu haben.64 Kołakowski war der einzige polnische Philosoph, der sich in der Bundesrepublik mit seinem Werk erfolgreich durchsetzen konnte. Ausschlaggebend für Pipers Bemühungen um Kołakowski Ende der 1950er-Jahre dürfte zweierlei gewesen sein: zum einen die Tatsache, dass hier ein erfrischend undogmatischer, antistalinistischer Versuch einer marxistischen Fundierung des Sozialismus vorlag, zum anderen der Umstand, dass der Autor aus einer Kultur kam, für die man sich in Deutschland erst seit Kurzem verlegerisch interessierte. „Marx zu retten gegen die Deterioration seiner Gedanken durch

63 Siegfried Unseld an Katarzyna Herbert, 9.9.1998. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Herbert, Zbigniew. 64 Berufliches: Leszek Kolakowski. In: Der Spiegel 9 (1970), S. 206.

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den Stalinismus“,65 erschien als ein hochachtenswertes Unternehmen, zumal Kołakowski gegen Dogmen des institutionellen Marxismus in allgemein verständlicher Sprache und ohne Rückgriff auf die fachspezifische Terminologie zu Felde zog. Der Verlag verschickte Leseexemplare des Buches an alle namhaften Journalisten und Politiker. Das Begleitschreiben des Verlegers lautete: „Die Gedankengänge des jungen polnischen Philosophie-Professors Leszek Kołakowski sind durch die jüngste Diskussion in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Ich nehme deshalb an, Ihrem Interesse zu begegnen, wenn ich mir erlaube, Ihnen ein Exemplar des in unserem Verlag erschienenen Buchs […] zugehen zu lassen. Ich bin überzeugt, dass wir mit Veröffentlichung dieses Buches einen wichtigen, für die Sache der Freiheit nützlichen Beitrag zur Information über die gegenwärtige geistige Situation in Osteuropa leisten könnten.“66 Brońska-Pampuch stand im direkten Kontakt mit Vertretern von Presse und Rundfunk. Manche Kritiker ließen sich von ihr dazu bewegen, nicht nur eine „normale“ Besprechung zu liefern, sondern wie etwa Immanuel Birnbaum in der »Süddeutschen Zeitung« einen Bericht über den „Fall des Buches“ zu bringen. Der SPD-Parteivorstand versprach der Übersetzerin, den Band publizistisch zu forcieren und kollektive Einkäufe des Buches zu propagieren. Das Ergebnis des PR-Einsatzes war durchaus befriedigend: Die Pressemappe des Verlages weist für den Band mehr als achtzig Kritiken auf, die im Laufe von wenigen Monaten in der Tagespresse und in Zeitschriften erschienen; bis 1967 erlebte das Buch vier Auflagen. In den folgenden Jahren verlegte und vermarktete Klaus Piper unermüdlich seinen polnischen Autor. Mit dem 1965 verlegten »Himmelsschlüssel« trat der Verlag den Beweis an, dass Kołakowski durchaus auch die Qualitäten eines Schriftstellers hatte. Der zweite Essayband »Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft« (1967) zeigte Kołakowski als Philosophen, der seine sozialistische Herkunft zwar nicht zu leugnen vermochte, der aber die Einschränkungen des marxistischen Systems für sein Denken überwunden hatte. 1968 kamen die »Gespräche mit dem Teufel« auf den Markt, 1971 erschien eine Einführung in die »Philosophie des Positivismus«, für deren Übertragung sich Hannah Arendt besonders eingesetzt hatte, zwei Jahre später kam schließlich »Die Gegenwärtigkeit des Mythos« heraus. Der von Peter Lachmann übersetzte erste Band der »Hauptströmungen des Marxismus« erschien 1977, werbewirksam flankiert von der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, 65 Amery, Jean: Wie tot ist Karl Marx? Zur Neuausgabe von Leszek Kolakowskis „Der Mensch ohne Alternative“. In: Die Zeit 11 (1977), S. 12. 66 Klaus Piper an Otto Best, 6.12.1960. In: DLA, A: Piper, Reinhard Verlag.

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der Kołakowskis „theoretische und zugleich existenzielle Auseinandersetzung mit Nationalismus und Stalinismus“ sowie seinen „unbeirrbaren Nonkonformismus“ würdigte.67 Das dreibändige Opus magnum darf zweifelsohne als wichtiges Medium der Historisierung des Marxismus gelten. Im bundesdeutschen Kontext waren vor allem die letzten Kapitel des dritten Bandes von Bedeutung, in denen Kołakowski der Frankfurter Schule, Herbert Marcuse sowie dem utopischen Marxismus der Neuen Linken ausführliche Darstellungen widmete. Als Mittel, um eine Zeitdiagnose zu formulieren, hat das Lehrbuch  – mit seinem verspäteten Erscheinen in einer Zeit, als, wie Jürgen Habermas analysierte, die Linke gesellschafts- und kulturpolitisch in die Defensive geraten war  – jedoch sein Ziel verfehlt. In dieser Zeit zählte Kołakowski auch zu den wichtigsten Autoren der Zeitschrift »Merkur«, in der der Philosoph 1958 durch Vermittlung von Wanda Brońska-Pampuch debütierte. Dem Herausgeber, Hans Paeschke, der in den 1950er-Jahren reformkommunistische Stimmen in den Staaten des Ostblocks genau beobachtete und regelmäßig zu Wort kommen ließ, ging es mit der Veröffentlichung des ersten Aufsatzes Kołakowskis weniger darum, vermeintliche Auflösungsmechanismen des „Ostens“ zu zeigen, als vielmehr um die Möglichkeit zum Gespräch mit unorthodoxen kommunistischen Autoren. Ein verstärktes Interesse für Kołakowskis Texte zeigte der Herausgeber nach 1968, er tat es jedoch nicht mit Hinsicht auf den politischen, ökonomischen oder soziologischen Revisionismus, sondern aus Begeisterung für das „Phänomen, dass jemand innerhalb des marxistischen Bereiches das Böse außersoziologisch wiederentdeckt, im individuellen Bereich des Psychologischen und auch im Metaphysischen. Dass der Marxismus keine Anthropologie schuf, rächt sich nun. Die echten Impulse für eine Revision gehen von den Moralisten aus.“68 Jene »Merkur«-Rezeption in den späten 1960er- und den 1970er-Jahren unterschied sich damit gravierend von der Motivation des Piper-Verlages, der die Herausgabe von Kołakowskis Schriften als antikommunistischen Impfschutz konzipierte. Meinte ein Lektor des Suhrkamp-Verlags, ein „Essay-Band von Kołakowski über Pascal, christliche Symbolik und Reformation ist nicht gerade das, was die Leser von der edition suhrkamp erwarten und was wir mit dieser Reihe verknüpft sehen möchten“,69 schwärmte Paeschke geradezu von Kołakowskis Aufsätzen über Selbstmissverständnisse der Linken (1971), Freiheit (1972), Euthanasie (1973), Teufel (1974), Unsicherheit (1975) oder 67 Schwan, Gesine: Laudatio. In: Leszek Kolakowski. Ansprachen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises. Frankfurt am Main 1977, S. 19–38, hier S. 22, 25. 68 Peter Bender an Hans Paeschke, 9.2.1978. DLA, D: Merkur/Bender, Peter 69 Günther Busch an Ernst Geisenheyner, 24.6.1968. DLA, SUA: Suhrkamp/03Lektorate.

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Entfremdung (1976)  – alles „Fragen der Ethik […], die heute überall gegen rein ästhetischen oder rein logischen Abhandlungen zu kurz kommen. Sie sind einer der wenigen Moralisten unserer Tage, als solchen verehrte ich Sie!“70 Texte des „tanzenden Teufels im orthodoxen Marxismus“, des „Häretikers der Ratio im orthodoxen Christentum“ wurden unabänderlich an erster Stelle des Heftes abgedruckt. Im Kontext der Zeitschrift »Merkur« ist auch der Briefwechsel mit dem Prosaiker und Dichter Witold Wirpsza interessant. Einen direkten Kontakt zu Wirpsza suchte Paeschke mehrmals ab März 1968 durch Vermittlung von Karl Dedecius. Der Schriftsteller erfreute sich in der Bundesrepublik ab Mitte der 1960er-Jahre eines medienwirksamen Interesses der Kritiker und kulturpolitischen Einrichtungen. Dargestellt in der von Dedecius herausgegebenen Anthologie »Polnische Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts« (1964), wurde Wirpsza 1967 zum ersten polnischen Stipendiaten des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und brachte bei Hanser seinen Roman »Orangen im Stacheldraht« heraus. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt verlieh im Mai 1967 Wirpsza und seiner Frau, Maria Kurecka, den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung, die wichtigsten literarischen Podiumsdiskussionen im deutschsprachigen Raum kamen ohne den polnischen Prosaiker und Dichter nicht aus. Als Stipendiat der Westberliner Akademie der Künste hielt Wirpsza als erster Autor aus den Ostblockstaaten eine Eröffnungsrede anlässlich der 19. Internationalen Buchmesse in Frankfurt, publizierte in den wichtigsten überregionalen Tages-, Wochen- und Kulturzeitschriften, knüpfte Kontakte zu literarischen Größen der Bundesrepublik (unter anderen Heinrich Böll, Günter Grass, Elias Canetti) und wurde damit zum „polnischen Dichter vom Dienst“. Nach einem kurzen Aufenthalt in Polen 1968–1969 nahm Wirpsza die Einladung des Luzerner C.-J.-Bucher-Verlags an, bei dem 1971 sein Essay »Pole, wer bist du?« erschien  – ein Buch, das ihn an der Heimatfront rasch zur Persona non grata machte. Ab Herbst 1971 lebte Wirpsza in Westberlin, galt aber auf einmal als „unverkäuflich“ und schwer übersetzbar. Dass diese verlegerische und rezeptionsästhetische Argumentation zumindest zum Teil auf die kulturpolitische Kehrtwende der Entspannungsära zurückzuführen ist, belegt auch Wirpszas Briefwechsel mit Hans Paeschke. Im »Merkur« wollte Wirpsza vor allem mit seiner Lyrik dargestellt werden; als „ungerecht“ empfand er die Lage, in Deutschland mehr als Prosaiker bekannt zu sein. Für Paeschke war das ausschließlich unter der Voraussetzung möglich, dass „wir nicht nur den paradoxen Sprachspieler, sondern auch den politischen Kopf vorstellen“.71 Die vorgelegten Verse wurden als 70 Hans Paeschke an Leszek Kołakowski, 15.1.1970. DLA, D: Merkur/Kolakowski, Leszek. 71 Hans Paeschke an Karl Dedecius, 19.11.1971. DLA, D: Merkur/Dedecius, Karl.

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„wortspielerische Sprachexperimente“ abqualifiziert, die vorgeschlagenen Erzählungen waren dagegen entweder zu lang für das Zeitschriftenformat oder galten als „politische Satirade, die […] von viel zu viel bunter Phantasie übersprüht wird“.72 Daraufhin bat der Herausgeber um eine „persönliche Betrachtung zum deutsch-polnischen Verhältnis“ „mit Blick auf die politische Aktualität, aber unter volkspsychologischem Gesichtspunkt“.73 Paeschkes Einfall war nicht neu: Noch vor dem Abschluss des Warschauer Vertrags im Dezember 1970 bemühte er sich  – ohne Erfolg  – bei seinen polnischen Vermittlern und Autoren (Leszek Kołakowski, Zbigniew Herbert, Irena Krońska, Józef Wittlin) um essayistische Stimmen zum neuesten Stand der deutsch-polnischen Politik- und Kulturbeziehungen. Als Ende September 1972 das erwartete Manuskript eintraf, zeigte sich Paeschke enttäuscht. Er las in einem Begleitbrief: „Lieber Herr Paeschke, Sie haben mir vorgeschlagen, einen Aufsatz über die deutsch-polnischen Beziehungen zu schreiben. Nun stellt sich mir aber die Frage: Was soll ich eigentlich behandeln? Die Beziehungen zwischen dem polnischen und deutschen Staat, also zwischen deutschen und polnischen Berufspolitikern? Oder die Beziehungen zwischen den Polen und den Deutschen, vornehmlich im geistigen Bereich? Die sich wiederholende Erfahrungen haben mir die Auffassung nahe gebracht, dass es sich um zwei grundverschiedene […] Bereiche handelt. Der Politiker […] stört den ungehinderten Kreislauf im Geistigen, der wirklich ungehinderte Kreislauf im Geistigen ist für den Politiker mindestens unbequem. […] Und da sich meiner tiefsten Überzeugung nach die Existenz von spezifisch politischen Werten nicht nachweisen lässt und jedes politische Handeln in Wirklichkeit nur zum Zweck einer Herstellung von Situationen vorgenommen wird, bedeutet mir das Primat der Politik nichts anderes, als ein Primat der Situation gegenüber den Werten. Wenn dies erreicht ist, haben wir es mit dem Totalitarismus zu tun. Und deswegen lehne ich es entschieden ab, über Politik in politischen Kategorien zu denken […].“74 Der Titel des Aufsatzes lautete »Das natürliche und das manipulierte Verhältnis«. Paeschke machte sich an die Lektüre und unterstrich im Text die für ihn wichtigen Perspektiven zur deutsch-polnischen Geschichte. Interessant fand er besonders die von Wirpsza skizzierten Gemeinsamkeiten beider Nationen: ihre „pubertären Züge“, die in einen „massenpsychologischen Größenwahn umfabrizierten Minderwertigkeitskomplexe“, „politische Traumas 72 Karl Dedecius an Hans Paeschke, 21.11.1971. Ebenda; Hans Paeschke an Witold Wirpsza, 9.8.1972. DLA, D: Merkur/Wirpsza, Witold. 73 Hans Paeschke an Witold Wirpsza, 9.8.1971. Ebenda. 74 Witold Wirpsza an Hans Paeschke, 25.9.1972. Ebenda.

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der schlecht gebastelten Staaten“, „das Gefühl, dass ihnen von der Außenwelt Unrecht geschah und sie deswegen das Recht haben der ganzen Welt bei Gelegenheit, also auch sich selbst gegenseitig, Vorwürfe zu machen“, sowie der an „internen Gelegenheiten“ gescheiterte Versuch, einen „Universalstaat“ zu bauen.75 Die pauschale Aburteilung des Politischen, und dies noch im deutschpolnischen Bereich, erfüllte Paeschke aber mit Sorgen. Überschaut man nämlich die entsprechenden Beiträge der gesamten 1950er- und 1960er-Jahre, dann lässt sich feststellen, dass die Zeitschrift niemals zum Organ des Kalten Krieges wurde; Texte, die den Ost-West-Konflikt thematisierten, blieben nicht bei der aktuellen Auseinandersetzung stehen, sondern transzendierten diese. Auch die neue Ostpolitik der Bundesregierung wurde im »Merkur« essayistisch breit flankiert. Im Falle Wirpszas verzichtete Paeschke auf die übliche Politik der „Polarisierung“; er fand, im Moment eines „hochpolitischen Gesprächs“ könne solche schroffe Schilderung einer amoralischen Politik, die anscheinend auf die „östlichen Erfahrungen“ des Autors zurückzuführen sei, nur einen Schaden anrichten. Willy Brandts Kniefall in Warschau gelte als ein moralischer wie ein politischer Akt, im deutsch-polnischen Verhältnis sei nämlich „Politisches mit Moralischem untrennbar verknüpft“.76 Wirpsza bestand auf seiner kategorischen Ablehnung der Vorstellung eines übergeordneten Politiksystems, die Gleichstellung von Moral und Politik betrachtete er als einen logischen Fehler, der die Einteilung sozialer Systeme ignoriert. Paeschke argumentierte dagegen mit der kulturpolitischen Funktion seiner Zeitschrift: „Wir müssen nur darauf sehen, daß für das deutsch-polnische Gespräch auf politischer Ebene kein Schaden entsteht. Als deutsche Zeitschrift muß ich auch daran denken, daß unser jetziger Bundeskanzler Willy Brandt in entscheidenden Punkten seiner Politik moralisch motiviert ist. Schließlich steht am Beginn des deutsch-polnischen Gesprächs sein Kniefall in Warschau. Sie brauchen das nicht zu erwähnen. Aber es müßte der Eindruck vermieden werden, als hielten Sie so etwas für politisch irrelevant. Sie würden dann hier in Deutschland nur seinen Gegnern nützen.“77 Paeschkes Absage kam für Wirpsza nicht unerwartet. Die Argumentationslinie für den Essay über das deutsch-polnische Verhältnis übernahm Wirpsza aus seinem unveröffentlichten Artikel »Totalitaryzm, czyli polityka polityczna« (Totalitarismus als politische Politik), den er in der Übertragung von Maria Kurecka in der »Neuen Rundschau« zu publizieren beabsichtigte. Der Herausgeber Rudolf Hartung erklärte dem Autor, die Überzeugung, 75 Witold Wirpsza: Das natürliche und das manipulierte Verhältnis. Ebenda. 76 Hans Paeschke an Witold Wirpsza, 7.11.1972, 16.11.1972, 15.11.1974. Ebenda. 77 Hans Paeschke an Witold Wirpsza, 3.1.1973. Ebenda.

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Politik sei ein „schmutziges Geschäft“, werde von seinen Lesern nicht positiv rezipiert, denn „hier ist die Tendenz zur Politik außerordentlich stark und auch die Neigung, alles  – zum Beispiel künstlerische Sachverhalte  – nur unter gesellschaftlich-politischem Gesichtspunkt zu sehen“. In Osteuropa könne ein solches „Pamphlet gegen Politik“ möglicherweise Beachtung finden, sogar als ein „politischer Akt“ interpretiert werden, weil das „Pamphlet zum Misstrauen gegen Übermächtigkeit der alle Bereiche des Lebens verwaltenden Politik aufruft“. Umstritten sei jedoch die Einstellung der Studie, die „Politiker nur als Machtpolitiker verstehen will“, in der, plakativ „von dem Politiker im allgemeinen“ geschrieben wird, gemeint wird aber immer ein „totalitärer Politiker“ beziehungsweise ein Politiker in einem totalitären Staat.78 Abschlägig beschieden wurde Wirpszas Essay auch im Münchner Paul-List-Verlag sowie im Süddeutschen Rundfunk. Leszek Kołakowski, der den Text in Hinsicht auf die Möglichkeit seiner Publikation in der Pariser Exilzeitschrift »Kultura« las, beanstandete ebenfalls die steile These über den totalitären Charakter der politischen Handlung.79 Wirpszas unversöhnliche politische Reflexion war für die „gemeinsame Gewissensforschung“ in der deutsch-polnischen Entspannungsära nach 1970 wenig geeignet.80 Als Paeschke „eine gehörige Portion Gedenk- und Besinnungsdaten, […] 100 Jahre seit Bismarcks Nationalstaatsgründung und weniger Tage als Jahre seit dem Warschauer Abkommen“ in eine Komposition zu bringen versuchte, entschied er sich für drei kurze Texte Wisława Szymborskas, die zwar nicht direkt, trotzdem aber „haargenau“ das „komplizierte bis zerrissene Selbstbewußtsein der polnischen Augen“ zum Ausdruck brachten.81 Als poetischen Kommentar auf den vorangestellten Artikel Rüdiger Altmanns »Der nahe Osten rückt näher« gefiel Paeschkes am besten Szymborskas »La Pologne«: „‚La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?‘, fragte sie mich und atmete gleich leichter. Es gibt jetzt so viele unsichere Länder, daß es noch am sichersten ist, über das Klima zu sprechen. ‚O ja‘, möchte ich ihr antworten, ‚die Dichter meines Landes schreiben in Handschuhen. Ich behaupte nicht, daß sie sie überhaupt nicht ausziehen; wenn der Mondschein wärmt, dann schon. In ihren Strophen, das donnerndes Getrampel skandiert, denn nur dieses dringt durch das Heulen 78 Rudolf Hartung an Witold Wirpsza, 30.11.1970 [Hervorhebung im Original]. Akademie der Künste Berlin (AdK), Wirpsza 93. 79 Hansjörg Graf (Paul List Verlag) an Witold Wirpsza, 3.12.1974. AdK, Wirpsza 106; Helmut Heißenbüttel (Süddeutscher Rundfunk), 4.12.1971. AdK, Wirpsza 128; Leszek Kołakowski an Witold Wirpsza, 20.11.1971. AdK, Wirpsza 243. 80 Hans Paeschke an Karl Dedecius, 16.12.1970. In DLA, D: Merkur/Dedecius, Karl. 81 Hans Paeschke an Karl Dedecius, 16.12.1970. DLA, D: Merkur/Dedecius, Karl.

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des Sturmes, besingen sie das einfache Leben der Seehundshirten. Die Klassiker stochern mit Tintenzapfen in den festgetretenen Dünnen. Der Rest, die Dekadenten, beweinen das Geschick der kleinen Schneesterne. Wer sie ertränken will, muß eine Axt haben, um eine Wake zu schlagen. So ist das, Gnädigste.‘ So möchte ich ihr antworten. Aber ich habe vergessen, wie Seehund auf Französisch heißt. Ich bin mir auch des Zapfens in der Wake nicht sicher. ‚La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?‘ ‚Pas du tout‘, antwortete ich eisig.“82 War für Paeschke in der Zeit bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den Ostblockstaaten eine direkte politische Dimension der Texte ausschlaggebend, wählte der Herausgeber nach 1970 vor allem „allegorische historische Masken“ von Zbigniew Herbert, Jan Józef Szczepański, Józef Wittlin und anderen. Mit „Lektionen des polnischen Feuilletons“, in denen sich Peter Bender über den „Hintersinn“ des als „politische Waffe“ geltenden Genres begeisterte,83 flankierte der »Merkur« Edward Giereks Besuch in der Bundesrepublik. Fasziniert zeigte sich der Herausgeber auch von der literarischen Reportage Hanna Kralls, in der man „auf anschauliche Weise etwas über polnisches Leben erfährt, was sonst nirgendwo zu erfahren ist  – nicht in der Literatur, und nicht in den Korrespondenten-Berichten und schon gar nicht in den polnischen Selbstdarstellungen für das Ausland“.84 In den 1970er-Jahren entwickelte sich Suhrkamp neben dem Carl-HanserVerlag zu einem der wichtigsten Verlage für die polnische Literatur. Kamen hier Autoren wie Zbigniew Herbert oder Wisława Szymborska wegen ihrer literarischen Qualitäten in Betracht, wurden mit Stanisław Lem vor allem gute Geschäfte gemacht. Spannungen und Konflikte prägten die Beziehung zwischen Unseld und Lem von Anfang an, die beiden großen Kapitalisten des Literaturbetriebs wussten aber, was sie aneinander verdienten. Die außerordentlich expandierende Vermittlung der Science-Fiction-Prosa von Lem in der Bundesrepublik war geradezu um Lichtjahre verspätet im Vergleich zu den sozialistischen Ländern, insbesondere der ČSSR und DDR, aber auch zur Sowjetunion, in denen die Lem-Rezeption Anfang der 1950er-Jahre begonnen hatte und bald stark in Erscheinung getreten war. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre setzte sich in der Bundesrepublik ebenfalls die Meinung durch, dass es auch jenseits des Eisernen Vorhangs eine Science-Fiction gab, die nicht nur systemkonforme Gesellschaftsentwürfe vorlegte. In dem von 82 Szymborska, Wisława: La Pologne? In: Merkur 1 (1971), S. 8–9. 83 Bender, Peter: Lektionen des polnischen Feuilletons. In: Merkur 9 (1976), S. 829–843, hier S. 831, 839. 84 Peter Bender an Hans Paeschke, 9.2.1978. DLA, D: Merkur/Bender, Peter.

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Unseld übernommenen Insel-Verlag erschien zur Frankfurter Buchmesse 1971 die Anthologie »Ratte im Labyrinth« mit der titelgebenden Erzählung von Stanisław Lem. Der gute kommerzielle Erfolg von Lems Werken führte dazu, dass der Suhrkamp-Verlag bereits 1973 begann, gebundene Bücher von ihm zu drucken. Den Auftakt machten »Robotermärchen«, ein Jahr später folgte der autobiografische Roman »Das hohe Schloß«. Lem wurde zum Großautor der 1976 gestarteten Reihe »Phantastische Bibliothek« und ein Bestsellerautor, von dessen Taschenbüchern über 10 000 Exemplare jährlich abgesetzt wurden (bereits 1979 überschritten die Verkaufszahlen 800 000 Exemplare). Doch wie immer man die berühmte Suhrkamp-Kultur (George Steiner) verstehen will, in ihr richtig angekommen ist Lem nie. Liest man die Verlagskorrespondenzen, dann fühlte sich der Autor auf jede erdenkliche Weise von seinem Verlag düpiert. Einerseits war Unseld bereit, hohe Vorauszahlungen zu leisten, organisierte zahlreiche Lesereisen, stellte dem Schriftsteller immer wieder einen Dienstwagen zur Verfügung und, als Lem im Mai 1983 aus Westberlin nach Wien umzog, wurde unter dem Kryptonym „Walter“ die Verfrachtung seines Mercedes finanziert. Lem wurde bereits 1976 eine Gesamtausgabe in Aussicht gestellt: „Es gehört hier zum Ansehen eines Schriftstellers, dass er irgendwann einmal eine solche Ausgabe bekommt. Zum 65. Geburtstag von Max Frisch erscheint jetzt eine Ausgabe seiner Werke in zeitlicher Form. Ebenfalls bringen wir eine Gesamtausgabe von Beckett. Sie sind hier also wirklich in bester Gesellschaft.“85 Andererseits war der Verleger öfters erzürnt über die Publikationsstrategie des Autors und seines Agenten Wolfgang Thadewald, „der alten und neuen, kontaminierten, ergänzten, überarbeiteten Vor- und Nachdrucke von Texten. […] Das beste Werk kann auf Dauer solche Verzettelungen nicht aushalten.“86 Als Lem mit seinem letzten Roman »Fiasko«  – danach hörte Lem auf, Romane zu schreiben  – 1986 zum S.-Fischer-Verlag ging, schlug dies bei Suhrkamp hohe Wellen der Entrüstung. Der Autor beklagte sich seinerseits über den seiner Meinung nach geringen Werbeeinsatz und bescheidene Auflagen der weniger verkäuflichen Bücher. Es war aber vor allem das leidige Problem der Übersetzer, das Lem zur Verzweiflung brachte. Für Lem, der sehr gut Deutsch sprach, fand sich niemand, der ihn zufriedenstellend übersetzen würde. Für »Kyberiade« (1983) brauchte man mehr als zehn Jahre, da Karl Dedecius und viele andere anscheinend „keinen gut ausgebildeten Sinn für Humor“ hatten, bis ihn schließlich die Übertragung von Jens Reuter überzeugte. Deswegen 85 Siegfried Unseld an Stanisław Lem, 26.3.1976. DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Lem, Stanisław. 86 Gottfried Honnefelder an Wolfgang Thadewald, 13.2.1986. Ebenda.

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wurden häufig Übersetzungen aus der DDR übernommen. Die späteren Schriften Lems erschienen nicht mehr bei Suhrkamp, sondern in anderen Verlagen. Als Essayist hat er aber in Deutschland nie so recht Anerkennung gefunden. Die Lesergemeinde schrumpfte, die Verkaufszahlen gingen stark zurück. Im März 1978 bekam Unseld die polnische Ehrenauszeichnung „Verdienter der polnischen Kultur“, in der darauf folgenden Zeit ließ jedoch sein Engagement für einzelne Autoren (bis auf Zbigniew Herbert und Wisława Szymborska) nach. Die zwischen 1980 und 2000 herausgebrachten ca. 150 polnischen Titel bestanden zu einem Drittel aus den 50 Bänden der »Polnischen Bibliothek«, einer Edition, die im Deutschen Polen-Institut besorgt wurde (→ S. 184–185). Sieht man von den weiteren 44 Titeln Lems ab, beschränkte sich der Verlag größtenteils auf Reprints der Lizenzausgaben. Kein zeitgenössischer polnischer Autor wurde zu dieser Zeit für den Verlag neu entdeckt. Siegfried Unseld erschienen viele Texte der Nachkriegsliteratur so „spezifisch polnisch“, dass er sich fragte, ob der deutsche Leser etwas damit anfangen könne. Er reflektierte gegenüber seinem Mitarbeiter Gottfried Honnefelder: „Das Verlegen polnischer Literatur bei uns ist ein Abenteuer. Wir lieben ja die Polen, doch was man liest, ist nicht immer das Einfache. Der brillierende Aphorismus vieler polnischer Autoren erscheint mir oft als ein Blitz, der über der Katastrophe tanzt, und leuchten Herberts Gedichte wie Sterne, deren Licht noch in Lichtjahren Nächte und Finsternis durchdringt.“87 Hat die polnische Literatur dem für sie so verdienstvollen Verleger auch die Realität des Landes nähergebracht? Hat sie dem weltgewandten Buchproduzenten geholfen, Stereotype abzulegen und vorurteilsfrei auf Polen zu schauen? Im November 1996 reiste Unseld nach Krakau. Das Hauptziel der Reise war das Treffen mit zwei wichtigen polnischen Suhrkamp-Autoren: der Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska und Stanisław Lem. Darüber hinaus knüpfte Unseld wie üblich neue Kontakte, baute Beziehungen aus und forschte nach neuen Autorenstimmen. Er besuchte Verlage, schaute sich in Buchhandlungen um und grübelte in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau über das Ausmaß der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Es müssen beeindruckende Herbsttage gewesen sein. Seinen Bericht aus Polen schmückt ein Zitat aus dem Brief Goethes an das Ehepaar Herder aus dem Jahr 1790: „… [I]ch bin wieder hier in Breslau, nachdem wir von einer Reise nach Tarnowitz, Krakau, Wilitzka, Czenstochowa glücklich zurückgekommen sind. Ich habe an diesen acht Tagen viel Merkwürdiges, wenn es auch nur meist negativ merkwürdig gewesen wäre, gesehen.“ 87 Siegfried Unseld an Gottfried Honnefelder, 24.2.1975. In: DLA, Suhrkamp/01VL/Notizen.

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Es ist auch das Merkwürdige über Polen, was Unseld noch vor der Überschreitung der Grenze zu melden hatte. Er schrieb: „In Dresden hatte ich mir einen Sprachführer Marco Polo  – Polnisch. Sprechen und verstehen  – ganz einfach gekauft. Was lernt man da? Am Anfang einen Auftakt: Was reden und fragen die Polen? „Chciałbym się z Tobą przespać! Czy mogę odprowadzić Pana do domu? Czy masz kondomy?” [Ich möchte mit dir schlafen! Darf ich Sie nach Hause begleiten? Hast du Kondome?] Ich muß schon sagen: Welch ein Auftakt! Aber es ist auch etwas Eigenes mit dieser polnischen Sprache. Das häufigste Wort „tak“ heißt „ja“  – eine Lebensbejahung. Eine poetische Sprache. Die Monate werden nicht nach dem Lateinischen angegeben, also November, sondern „jetzt fallen die Blätter“, und Polen lieben Untertreibungen und Verkleinerungen, schätzen Diminutive, „woda“ heißt „Wasser“, „wódka“ Wässerchen.“88 Ein merkwürdiger „Auftakt“ des Besuches in einem Land, dessen Literatur Unseld seit 1962 mit großem Eifer verlegte … Im Unterschied zu Suhrkamp konzentrierte sich der Carl-Hanser-Verlag in seinem Polen-Schwerpunkt stets auf einzelne Autoren, nie auf ein umfassendes Programm. Wie bereits erwähnt, spielte Hanser für die Rezeption der Literatur Polens in der Bundesrepublik über Jahrzehnte eine maßgebliche Rolle. Dem Verleger war es wichtig gewesen, dass sein Unternehmen bereits in den 1950er-Jahren an der Warschauer Buchmesse vertreten war. Die Liste polnischer Hanser-Autoren ist lang. Die »Unfrisierten Gedanken« von Stanisław Jerzy Lec hatten 1984 ihre 16. Auflage erreicht. Ähnlich hat sich der Verlag für den als „polnischen Kafka“ apostrophierten Bruno Schulz sowie Tadeusz Różewicz eingesetzt. 1983 begannen Fritz Arnold und Rolf Fieguth eine umfängliche Ausgabe der Romane, Erzählungen, Dramen und Tagebücher von Witold Gombrowicz  – 13 Bände mit redigierten, teils korrigierten Übersetzungen. Ab 1985 wurden ein Roman, Essays und drei Lyrikbände von Adam Zagajewski vorgelegt. Kurz vor der politischen Wende wurde es in der Bundesrepublik noch einmal laut um die polnische Literatur. Mit dem Roman »Die schöne Frau Seidenman« kam Andrzej Szczypiorski zu plötzlichem Ruhm. Von dem Züricher Diogenes-Verleger Daniel Keel ins Programm genommen, wurde der Roman in der ersten Sendung des »Literarischen Quartetts« besprochen, bald in mehr als 100 000 Exemplaren verbreitet und als Taschenbuch verlegt. Dass gerade Marcel Reich-Ranicki das Buch außerordentlich gelobt hat, hatte vielleicht mit dem ihm vertrauten Stoff zu tun. Das Buch ging über Schicksale im Warschau 88 Unseld, Siegfried: Reisebericht Krakau, 6.10.1996. In: DLA, Suhrkamp/01VL/Autorenkorr./Dedecius, Karl.

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2. Polnisch-westdeutsche Literaturbeziehungen

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der Kriegszeit, um Juden, Polen und Deutsche: Es handelt von einer blonden, blauäugigen Jüdin und Arztwitwe, die unter einem polnischen Namen aus dem Warschauer Ghetto entkommt und von einem jüdischen Mitbürger denunziert wird. Der Roman wurde infolge seines deutschsprachigen Erfolgs dann in mehr als zwanzig weitere Sprachen übersetzt und verfilmt. Es begann ein regelrechter Medienwirbel um den in Deutschland bislang unbekannten Szczy­piorski, der zu Polens „geistigem Botschafter“ in Deutschland avancierte und zu Deutschlands Fürsprecher in Polen. Als er 2000 in Warschau starb, wurde Szczypiorski nicht nur als Literat, sondern vor allem als Politiker und Brückenbauer geehrt, als einer, der mit öffentlichen Reden, Aufsätzen und Gesprächen für Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen eintrat in einer Zeit, als das Verhältnis beider Länder noch keineswegs entspannt war. Viele bundesdeutsche Verleger und Vermittler wussten die polnische Literatur zu schätzen, wurden aber immer wieder von einem produktiven Unverständnis begleitet. An die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2019, Olga Tokarczuk  – eine literarische Stimme, mit der die Gegenwartskritik mit der Mythologie immer wieder verquickt wird –, hat sich der deutsche Literaturbetrieb erstmals vorsichtig vorangetastet. Die einzelnen Übertragungen erschienen jeweils in unterschiedlichen Verlagen; von der Kritik gelobt, wurden sie dennoch kaum bekannt und gelesen. So bleibt abzuwarten, ob die 2015 mit dem polnischen Nike-Preis ausgezeichneten und 2019 ins Deutsche übersetzten »Jakobsbücher« mit dem künftigen Interesse der deutschen Leserschaft rechnen werden können. Wie sollte nämlich, stellte einmal die Rezensentin der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« fest, diesen Roman jemand lesen, der „weder mit den Details der polnischen Geschichte oder mit den Feinheiten des polnisch-jüdischen Verhältnisses vertraut, noch in Judaistik oder Religionsgeschichte besonders bewandert ist?“89 Mit ihrer Zuwendung zum Irrationalen, zum Sakralen, zu Mysterien bis hin zum Okkulten wurde Tokarczuk für die meisten Leser zu einer interessanten Autorin, auf deren Bücher man aber wenig Lust hatte. Es wäre dennoch nicht richtig, zu behaupten, dass die großen deutschen Verlagshäuser sich der polnischen Literatur nicht annähmen. „Die Literatur hat eine neue Hauptstadt erhalten, sie heißt Dukla“,90 schrieb Thomas Steinfeld im Aufmacher der FAZ-Buchmessebeilage im Oktober 2000, dem Jahr, 89 Kijowska, Marta: Der falsche Messias. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.10.2018, S. 8. 90 Steinfeld, Thomas: Ich kenne den Weg zum durchsichtigsten Ort der Welt. Andrzej Stasiuk findet den Geist der Karpaten und gründet eine neue Hauptstadt der Literatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 241 vom 17.10.2000, S. L1.

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in dem Polen sich als Gastland der Frankfurter Buchmesse präsentierte. Sein enthusiastisches Urteil galt einem Prosaband von Andrzej Stasiuk, »Die Welt hinter Dukla«. Zwischen 2000 und 2020 veröffentlichte der Verlag zwanzig „Stasiuks“, vertrat die Weltrechte und hat den Autor international durchgesetzt. Mit diesem Erfolgsdebüt hat Suhrkamp wieder polnische sowie andere zahlreiche osteuropäische Autoren für sich entdeckt. Unter diversen Schwerpunkten des Suhrkamp-Verlagsprogramms um 2020 ist Polen nicht zu finden. Vielleicht ist es gut so, denn Literatur kennt bekanntlich keine Grenzen und lässt sich schwerlich an Nationalstaaten binden. Es bleibt dennoch interessant, dass das einzig „spezifisch Polnische“ bei Suhrkamp unter dem Hyperonym „Osteuropa“ subsumiert wurde. Autoren wie Wojciech Kuczok, Andrzej Stasiuk und Michał Witkowski passen anscheinend in ein zwischen Universalismus und Exotismus oszillierendes Rezeptionsschema, in dem sie „europäisch“ erzählen, zugleich aber eine Welt entwerfen, die sich durch den Kontrast zum westlichen Abendland abhebt. Osteuropa ist nämlich, so informiert uns der Verlag, „der wilde Westen nebenan. Rauer, härter, aufregender geht es dort zu. Und die Geschichten liegen dort auf der Straße.“91

91 Raabe, Katharina: Das wilde Leben. East Side Storys, Frankfurt am Main 2012.

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3. Posthumane Verflechtungen

Wissenschaft lebt von Wellenbewegungen, Neuinterpretationen und überraschenden Funden. Schon im 19. Jahrhundert war dies nicht anders, als Gelehrte wie Leopold von Ranke und Johann Gustav Droysen die Maßstäbe für eine moderne Geschichtswissenschaft formulierten, die vor allem mit Begriffen wie methodischer Genauigkeit und Überprüfbarkeit verbunden war. Ganze Disziplinen mussten sich erst allmählich entwickeln, so wie Psychologie und Soziologie sich vor allem aus der Philosophie herausbildeten. Im 20. Jahrhundert legte etwa Claude Lévi-Strauss die Grundlagen für eine neue Anthropologie im strukturalistischen und sprachwissenschaftlichen Geiste. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten derart dramatische Neubewertungen ausblieben, so ist doch die Geschichte der Geisteswissenschaften von einigen mehr oder weniger erwarteten Wendungen (turns) geprägt, die im 21. Jahrhundert gerne schon ausgerufen werden, bevor sie sich in der wissenschaftlichen Gemeinschaft durchgesetzt haben. Damit einher geht ein gewisser Methodenpluralismus. Dem Siegeszug der Kulturwissenschaften, der seit den 1980er-Jahren auf eine eher an sozialen Fragen orientierte Mehrheitsströmung folgte und seinen Ausdruck unter anderem in der sogenannten Postmoderne als erster Phase fand, folgte ein gewachsenes Interesse an den Folgen der globalen Umweltzerstörung und des Klimawandels. Insbesondere die Rolle des Menschen dabei rückte in den Blickpunkt. Auch wenn die mittlerweile etablierte Bezeichnung des neuen geologischen Zeitalters des Anthropozäns den menschlichen Faktor ganz unterschiedlich definiert, so ist doch zumindest die Wahrnehmung einer tiefgreifenden Veränderung des Lebens ähnlich. In vielen Fällen führt dies dazu, ein posthumanes Denken und Schauen zu stärken, um die Bedeutung von nichtmenschlichen Akteuren (Tieren, Pflanzen, Dingen) in den Vordergrund zu stellen. Die konkreten Veränderungen wurden im Bewusstsein vieler so dominant, dass das Bedürfnis auch der Wissenschaftler zu wachsen begann, wieder stärker jenseits von Konstruktionen, Abstraktionen und Performanzen zu forschen. Zugleich entwickelte sich aus den Studien zum Feminismus heraus ein steigendes Interesse an anderen bisher vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppen in globaler Perspektive. Wenn nun die dominierende Perspektive des Menschen zusätzlich hierzu infrage gestellt wird, hat das auch konkrete Konsequenzen für die vertrauten Themenfelder. In der deutsch-polnischen

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Verflechtungsgeschichte sind solch methodologische Überlegungen bisher kaum angekommen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, brauchte doch auch die allgemeine Geschichtswissenschaft häufig mehrere Jahrzehnte, um soziologische und anthropologische Trends auf ihr eigenes Forschungsfeld fruchtbringend anzuwenden. Veränderungen in der Blickrichtung sind nötig, um vermeintlich sicheres Wissen kritisch zu hinterfragen, bisher wenig oder gar nicht beachtete Aspekte eines Themas zu beleuchten oder veränderte Umstände in Raum und Zeit besser einbringen zu können. Während dies bei bestimmten, lange vernachlässigten Bevölkerungsgruppen für die Zeit nach 1945 bisher ansatzweise in Bezug auf eines der beiden Länder oder beide bereits geschehen ist, etwa durch Arbeiten zur LGBT-Bewegung, Körperbehinderten oder dunkelhäutigen Menschen, ist dies im Rahmen einer Verflechtungsgeschichte praktisch gar nicht erfolgt. Dabei gäbe es eine Fülle von Ansatzpunkten. Im Folgenden soll anhand von vier kurzen Beispielen der Versuch unternommen werden, solche Modelle zu testen. Im ersten Fall geht es um einen Perspektivwechsel vom Menschen zum Tier, wobei es für die Stringenz keine Rolle spielt, ob das Tier real oder fiktiv ist. Das zweite Beispiel stammt aus dem Bereich der Erinnerungskultur und bezieht die konkrete Materialität des Objektes mit ein, während Beispiel drei aus dem Repertoire der Wissenschaftsund Technikforschung stammt und ebenfalls den Blick des Betrachters hin zu einem nichtmenschlichen Subjekt verschiebt. Die letzte Geschichte dreht sich um Pflanzen und ihr  – tatsächliches oder vermeintliches  – Eingreifen in die deutsch-polnische Geschichte. Schäferhunde gelten in der allgemeinen Überzeugung als besonders lebhaft, klug und treu. Somit ist es kein Zufall, dass sie in den meisten militärischen und polizeilichen Diensten weltweit prominent in Erscheinung treten. In jüngster Vergangenheit waren sie sogar das Thema eines wissenschaftlichen Hoax, eines Aufsatzes, der allein auf der Fantasie des Autors und nicht auf irgendwelchen Fakten beruhte.92 In fast allen Kriegsfilmen, in denen Hunde wichtige Rolle spielen, sind dies Schäferhunde.93 Wenn es auch aus menschlicher Sicht unmöglich ist, die eigene Perspektive zu verlassen  – literarische Grenzüberschreitungen wie bei Michail Bulgakow einmal ausgenommen –, so lässt sich doch versuchen, ihren besonderen Stellenwert in Einzelfällen zu 92 Schulte, Christiane [Pseudonym]: Der deutsch-deutsche Schäferhund  – Ein Beitrag zur Gewaltgeschichte des Jahrhunderts der Extreme, in: Totalitarismus und Demokratie 12 (2015), Nr. 2, S. 319–334. 93 Skabelund, Aaron: Dogs at War: Military Dogs in Film, in: McLean, Adrienne (Hrsg.), Cinematic Canines. Dogs and Their Work in Fiction Film, New Brunswick 2014, S. 123– 142.

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ermitteln, selbst wenn es sich lediglich um eine künstlerische Positionierung handelt. Spik, Trymer und Atak waren jedenfalls echte Schäferhunde, nur dass sie nicht unter diesen Namen bekannt wurden. In insgesamt drei Staffeln mit 21 Folgen waren sie die wahren Helden der zwischen 1966 und 1970 in Polen und zwischen 1968 und 1972 in der DDR ausgestrahlten Fernsehserie »Vier Panzersoldaten und ein Hund«.

Abb. 13. Vier Panzersoldaten und ein Hund

In dieser heute als eine der wichtigsten Kultserien der Volksrepublik Polen bekannten Produktion ging es um das Schicksal von Soldaten der kommunistischen Volksarmee auf ihrem Weg von der Aufstellung in der Sowjetunion bis zur Teilnahme am Sturm auf Berlin im Mai 1945. Neben den vier Soldaten spielt der Schäferhund Szarik (russisch „šarik“ für „Kügelchen“) eine tragende Rolle. Die Geschichte selbst reicht bis in die frühen 1960er-Jahre zurück, als das polnische Verteidigungsministerium einen Wettbewerb zur Erinnerung an die eigenen Kriegstraditionen veranstaltete. Das Ergebnis blieb zwar hinter den Erwartungen zurück, doch einer der zwanzig Texte, die schließlich gedruckt wurden, stammte von dem damals 40-jährigen Janusz Przymanowski. Er war selbst Soldat im Krieg (und später Offizier) gewesen. Der Szarik aus dem

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Roman ist allerdings ein russischer Laika-Hund. In der Fernsehserie wird er dagegen entweder als Deutscher oder als Elsässischer Schäferhund bezeichnet. Das ist zwar im Grunde das Gleiche, aber Elsass entsprach als Opfer der deutschen Kriegs- und Besatzungspolitik eher den Vorstellungen der Ideologen. Die Charaktere der eingesetzten Hundedarsteller waren unterschiedlich, sodass ihre Verwendung nach Bedarf variiert wurde. Die Macher orientierten sich also durchaus an der tierischen Handlungsmacht. Grenzen wurden aber dennoch mitunter überschritten. In einer bekannten Szene sollte sich Szarik in der Berliner U-Bahn im Mai 1945 mit einem Rucksack zwischen den Zähnen durch eine enge Röhre quetschen, um einen chemischen Zünder zu entschärfen. Bei dieser in Lodz gedrehten Sequenz hielt sich Trymer an die Anweisungen, die ihn bis ans Ende seiner Kraft brachten, wie es im Roman beschrieben war: „Der Wolfshund wedelte leicht mit dem Schwanz und machte sich noch einmal auf den Weg. Er spürte, wie ihm die Muskeln schmerzten und es in seiner Brust stach. […] Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen. […] Er entsann sich Janeks Stimme, wußte, daß er sein Ziel erreichen musste, und er schaffte es.“94 Der Hund als echter Kamerad „kannte also den Feind“. Das positive Image des treusten Freunds des Menschen dient hier dem höheren Zweck der bedingungslosen Bekämpfung des deutschen Aggressors. Mehr noch als die menschlichen Schauspieler wurde Szarik zur Heldenfigur und alle seine Darsteller, die ein hohes Alter erreichten und von Privatleuten verwöhnt wurden, endeten ausgestopft in der Hundepolizeischule von Sułkowice, wo sie noch heute zu finden sind.95 Wir haben es also bei unserer Beschäftigung mit Szarik mit verschiedenen Ebenen zu tun. Zunächst ist da die platonische Idee des Hundes, der wir hier in zwei Ausführungen begegnen. Im Roman des Originals ist sie eng mit dem russisch-sowjetischen Ideal des zähen Hirtenhundes verbunden, der zudem einen russischen Namen trägt. In der Fernsehserie wird daraus ein Schäferhund, der sich durch Wagemut und bedingungslose Treue auszeichnet. Der Zuschauer kann dies aufgrund seines medialen Vorwissens entsprechend einordnen. Auf einer weiteren Ebene fügt sich der Hund des Romans 94 Przymanowski, Janusz: Vier Panzersoldaten und ein Hund. Aus dem Polnischen von Ruprecht Willnow, Berlin 1985 (zuerst in vier Bänden zwischen 1969 und 1974 erschienen), S. 718/719; zu der Szene siehe die Aussagen des Hundetrainers Franciszek Szydełko, zitiert nach: Łazarz, Marek: Czterej pancerni i pies. Przewodnik po serialu i okolicach, Wrocław 2006, S. 117/118. 95 Pręgowski, Michał Piotr / Włodarczyk, Justyna: Researching the Human-Canine Relationship in Democratic Poland, in: Free Market Dogs. The Human-Canine Bond in Post-Communist-Poland, hrsg. von dens., West Lafayette, Ind. 2016, S. 9–11.

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wie der Serie in die volkspolnische Überlieferung des Zweiten Weltkriegs ein und macht den Kampf der kommunistischen Soldaten menschlicher, ohne dass Mensch oder Tier entgeht, wer der Feind ist. Wir können uns aber auch mit den konkreten Hunden beschäftigen, die Szariks Rolle spielen. Hier wird deutlich, dass trotz intensiven Trainings die Handlungsmacht des Tieres äußerst wichtig ist. Für bestimmte Drehsituationen eignet sich der eine Hund mehr als der andere, entsprechend wird er eingesetzt, weil man das Tier zu nichts zwingen kann, was seinem Wesen völlig fremd ist. Dennoch werden die eigentlichen Beweggründe des Hundes letztlich nicht klar  – oder um es mit einem bekannten Bonmot des französischen Philosophen Jacques Derrida zu sagen: Meine Katze sieht mich morgens an, als ich nackt im Bad stehe, und ich bin verlegen. Und dann ist da noch Szarik als Ikone und Vorbild in der medialen Repräsentation. Er wird zu dem polnischen Schäferhund schlechthin, seine Darsteller sind über ihren Tod hinaus als ausgestopfte Objekte und auf Zelluloid gebannt wirksam. In all diesen Funktionen ist Szarik auch für eine deutsch-polnische Verflechtungsgeschichte wirksam. Blicken wir nun aber nach Warschau. Wenn wir uns auf der Lewartowski-Straße der großen Fläche im Zentrum des ehemaligen Ghettos im Bezirk Śródmieście von Süden her nähern, ragt alsbald die beeindruckende Fassade des Museums der Geschichte der polnischen Juden vor uns auf, das das finnische Architektenbüro Lahdelma & Mahlamäki Oy zwischen 2007 und 2013 geplant hat. Dabei könnte man glatt übersehen, dass das eigentlich ikonische Element, das diesen Standort über sechzig Jahre prägte, noch davor liegt. Wir gehen auf den elf Meter hohen Block zu und fassen den spröden schwarzen Stein an. Anders als häufig beschrieben, ist es kein Granit, sondern Labradorit, wegen seiner andersfarbigen Flecken auf der Oberfläche auch Pfauenstein genannt, ein entfernter Gesteinsverwandter in der Gruppe der Feldspate. Für das kontinentale Klima Warschaus ist er nur bedingt geeignet. Er verträgt zwar Frost gut, weniger aber Hitze. Dass aus diesem Stoff Natan Rapoport 1948 das Denkmal für die Opfer des Ghettoaufstandes von 1943 herstellte, war jedoch kein Zufall. Auf der Suche nach geeignetem Material vermittelte ihm die Jüdische Agentur in Stockholm die Information zum Steinbruch von Hunnebostrand, etwa 50 Kilometer nordwestlich von Göteborg.96 Dort lagerte in einem Depot bereits fertig geschnittener Labradorit. Deutschland und Schweden hatten sich 1940 auf die Lieferung von großen Gesteinsmengen zum Neubau deutscher Städte und zur Errichtung von Denkmälern geeinigt. 1943 wurde der Transport eingestellt, 96 Zur Geschichte des Denkmals vgl. Young, James E.: The Biography of a Memorial Icon: Nathan Rapoport’s Warsaw Ghetto Monument, in: Representations, No. 26 (Frühjahr 1989), S. 69–106.

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Teile des bereits gelieferten Granits verwendeten nach Kriegsende die Sowjets, etwa für das Berliner Ehrenmal im Treptower Park.97 Die Stelen aus Schweden ließ sich Rapoport 1947 direkt nach Warschau liefern. Sein Projektpartner Mark Leon Suzin hatte zunächst vor, die Trümmer an der Stelle des künftigen Denkmals zu entfernen. Da dafür aber kein Gerät zur Verfügung stand, versuchte man es mit bloßen Händen. Als dies erfolglos blieb, integrierte man sie in das Denkmal, indem Beton und anderes Material darüber gegossen wurden. Dies führte aber dazu, dass sich die Schuttreste unter der Last des Labradoritblocks allmählich absenkten und das Denkmal bereits 1959 ein erstes Mal saniert werden musste. Das für das Warschauer Klima offenbar ungeeignete Gestein zwang in der Folgezeit zu einer Reihe weiterer Reparaturen, zuletzt 1997 und 2012. Die Trennfugen platzten und das Metall korrodierte. Zum Schutz vor Vandalismus und Graffiti wurden Schutzschichten aufgetragen, die Umgebung immer wieder neu gestaltet. Auch wenn die Wirkung auf den Raum heute nicht mehr so groß ist wie bei seiner Errichtung inmitten der Überreste des zerstörten jüdischen Viertels von Warschau, ist das Denkmal durch den Kniefall Willy Brandts im Dezember 1970 zum wohl zentralen Erinnerungsort der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945 geworden. Es hat damit so etwas wie eine Neukodierung erfahren. Mittlerweile steht es allerdings in einer Art Austausch mit weiteren Erinnerungsorten auf diesem Platz, sodass man von einem materialisierten Gedächtnisnetzwerk sprechen könnte. Ein kleiner Platz mit einer Gedenktafel aus Bronze, geschaffen von der Bildhauerin Wiktoria Czechowska-Antoniewska, erinnert seit 2000 an Willy Brandt, eine Sitzbankskulptur seit 2013 an den Diplomaten Jan Karski, der die Nachricht vom Holocaust in den Westen brachte, ohne dass ihm geglaubt wurde. Ein Weg erinnert an Irena Sendler, die zahlreiche jüdische Kinder rettete, und eine Wiese an den Dichter Bolesław Leśmian, was trotz dessen jüdischer Herkunft nicht so recht zum Ensemble passen mag. Es dominiert jedoch das Museum durch seine Architektur und seine Inhalte, es zieht die Besucherströme an. Das Ghettodenkmal, von dem in der Gedenkstätte Yad Vashem eine Art Kopie steht, mit seinem durchaus beeindruckendem Bildprogramm, ist an den Rand geraten, seine Materialität erreicht den Besucher nur noch bedingt. Das nächste Beispiel führt uns an die Lausitzer Neiße. Seine Heldin ist die Kohle, an deren Nutzung deutlich wird, wie eng Verflechtung und Entflechtung miteinander verbunden sind. Wenn wir von der Braunkohle ausgehen, bedeutet das nicht, dass wir ihr eine konkrete Handlungsfähigkeit zuschreiben. Es verändert sich aber unser Blick, wenn wir ihre reale Materialität und 97 Wennö, Peter: Hitlers svenska sten, in: Göteborgs-Tidningen vom 17.8.2010 (https:// www.expressen.se/gt/kultur/hitlers-svenska-sten) (20.7.2019).

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Subjekthaftigkeit in den Mittelpunkt der Perspektive stellen. Vor vielen Millionen Jahren entstanden, konnte sie durch neue Verarbeitungsmethoden ab dem 19. Jahrhundert gezielt genutzt werden. 1911 wurde in der Region von Hirschfelde bei Zittau das erste deutsche Braunkohlekraftwerk eröffnet. Nach 1945 ergab sich hier jedoch ein gewisses Problem. Die neue Grenzziehung an Oder und Lausitzer Neiße führte dazu, dass ein großer Teil der Abbaustätten und das Kraftwerk sich in zwei verschiedenen Staaten befanden. Der Besitz der Kohle allein hätte sie kaum verwertbar gemacht. Aufgrund einer Verordnung der sowjetischen Militäradministration und später eines zwischenstaatlichen Vertrags zwischen der DDR und Polen wurde sie weiterhin aus dem Tagebau in Türchau/Turów über die Neiße geliefert, ein Teil des erzeugten Stroms kam im Austausch nach Polen.

Abb. 14. Pläne zur Verlegung der Lausitzer Neiße

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Die Zusammenarbeit staatlicher Stellen in beiden Ländern verlief nicht unproblematisch, mal meldeten die Polen erhöhten Strombedarf an, mal kritisierte die DDR die verzögerte Rücknahme der Asche zur Endlagerung. Freilich wurde die vereinbarte Lösung sowieso als vorübergehend angesehen. Die DDR erschloss in Berzdorf und Olbersdorf eigene Tagebauvorkommen, Polen begann mit dem Bau eines gewaltigen Kraftwerkkomplexes, dessen verschiedene Blöcke nach und nach fertiggestellt wurden. Letztlich war es die politische Lage, die ein Ende des Warenaustausches herbeiführte. Die Erfolge der Gewerkschaft Solidarność und die von den Menschen erzwungene Liberalisierung in Polen beobachtete die SED-Führung äußerst kritisch. Seit 1982 wurde gar keine Braunkohle mehr in die DDR geliefert. Die Kohle als Subjekt hatte jedoch weiterhin ihre Bedeutung in der Region. Zu ihren Eigenschaften gehört es, dass bei der Verbrennung Kohlendioxid, Stick- und Schwefeloxide, Feinstaub, Quecksilber und Blei freigesetzt werden. 1984 wurden aus den Schornsteinen des Kraftwerks jede Stunde durchschnittlich 14,1 Tonnen Flugstaub, 28,2 Tonnen Schwefeldioxid und 2,6 Tonnen Stickoxid emittiert.98 Die Folgen für die Umwelt waren und sind gewaltig. Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Bedrohungen für die menschliche Gesundheit gehörten zu den zentralen Problemen, mit denen auch die kommunistische Führung der 1970er- und 1980er-Jahre in beiden Staaten konfrontiert war. Durch die besondere geografische Lage war die Umweltsituation im Zittauer Becken, im Kessel von Hirschberg (Jelenia Góra) und im angrenzenden Nordböhmen besonders verheerend. Da alle drei betroffenen Staaten aufgrund des weitgehenden Fehlens anderer eigener Bodenschätze (in der DDR), schlechter Brennwerte für die einheimische Steinkohle (in Polen und der ČSSR) und infolge der Verteuerung sowjetischer Öllieferungen auf die heimische Braunkohle angewiesen waren, gab es kaum Alternativen zu ihrer Verbrennung. Das Geld für Schutzmaßnahmen fehlte und in den 1980er-Jahren wurden die Proteste der Bevölkerung trotz Diktatur immer lauter. Eine Vielzahl von Eingaben an Staats- und Parteiorgane wurde eingereicht, in Polen begannen sich kritische Journalisten und Mediziner für das Thema zu interessieren. Dass die Braunkohle aufgrund ihrer geologischen Konstitution aber zudem unberechenbar war und durchaus als Akteurin auftreten konnte, zeigte sich hier an der Grenze ebenfalls. Im Rahmen sozialistischer Planungsfantasien hatte man bereits in den 1970er-Jahren erwogen, den Flusslauf der Neiße vorübergehend zu verändern, um die darunterliegende Kohle abbauen 98 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 13374 Büro des Bezirksarchitekten beim Rat des Bezirkes Dresden Nr. 1050: Allgemeiner Raumordnungsplan der Stadt und Gemeinde Bogatynia, Entwurf des Wojewodschaftsamts für Raumplanung in Jelenia Góra, Oktober 1984, S. 4.

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zu können. Dies war wegen der technischen Unwägbarkeiten und der hohen Kosten letztlich nicht realisiert worden. Mitte 1989 entstand aber durch den Kohleabbau ein ungleich größeres geologisches Problem, das nur durch energisches Handeln beider Staaten und jede Menge Glück nicht in einer Kata­strophe endete. Ein Teil der geologischen Formation unterhalb des Flusses, des sogenannten Neißepfeilers, verschob sich und drohte abzubrechen. Ursache dafür war, dass der Kohleabbau auf polnischer Seite ohne genügende Sicherung in immer tiefere Regionen vordrang. Bei einem kompletten Abbruch wäre nicht nur der Tagebau von Turów mit Wasser vollgelaufen, sondern auch Ortschaften auf der ostdeutschen Seite wären es. Deutschen und polnischen Technikern gelang es in den folgenden Monaten mit vereinten Kräften, die Gefahr abzuwenden.99 Freilich wurden auch die Interessengegensätze der beiden Länder deutlich, die trotz aller Modernisierungen in Kraftwerk und Grube im Grunde bis heute weiterbestehen. Während die Kohle in Polen nach wie vor als Symbol für Wohlstand und Autarkie steht, hat sie in Deutschland längst die Rolle des überholten fossilen Problemmaterials angenommen, das wesentlich zur Erwärmung der Erdatmosphäre beiträgt. Die besondere Rolle der Kohle für das deutsch-polnische Verhältnis in dieser wegen der massiven Umweltverschmutzung oft auch als „Schwarzes Dreieck“ bezeichneten Region ließe sich noch in weiteren Bereichen demonstrieren. Das ständige Ausgreifen der Tagebaue hatte und hat unmittelbare Konsequenzen auf das Leben der Menschen. Dörfer wurden aufgegeben und zerstört, die gesamte Infrastruktur musste  – auch grenzübergreifend  – immer wieder neu geplant und verändert werden. Das Ende des Abbaus im sächsischen Teil in den frühen 1990er-Jahren hatte gravierende Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit, bot zugleich aber Chancen für einen neuen, sanften Tourismus. Die Errichtung einer Euroregion Neiße belebte die Kooperation zunächst deutlich, ehe sie in den Nullerjahren wieder abnahm. Die Gründe dafür sind nicht einfach zu fassen. Vielen Bewohnern genügten sicherlich die neuen Möglichkeiten insbesondere infolge der offenen Grenzen, die nächsten Generationen taten sich generell schwer damit, sich gesellschaftlich zu engagieren, und die sprachlichen Barrieren gewannen eher an Bedeutung. Aus einer für die Energiegewinnung Polens wie der DDR zentralen Landschaft ist heute eine in gewissem Sinne durch die Kohle gespaltene geworden. Kohle spielt in der Oberlausitz keine Rolle mehr, hat aber besonders durch die Energiepolitik der PiS-Regierung im Gebiet zwischen Zgorzelec und der tschechischen Grenze nach wie vor eine entscheidende Bedeutung für ganz Polen inklusive einer geplanten Ausweitung des Abbaugebiets in Richtung 99 Rozlał, Janusz: Przechytrzyć fatum, in: Nowiny Jelenogórskie 51/52 (1989); Noch 30 Jahre Zeit, in: Der Spiegel Nr. 19 vom 10.5.1993.

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Süden in den nächsten 30 Jahren. Die Verbrennung der Kohle ist heute kein so großes umweltpolitisches Problem mehr, die Eingriffe in die Landschaft durch ihre Förderung dagegen umso mehr trotz aller Rekultivierungsmaßnahmen. Zuletzt wenden wir uns den Pflanzen zu, die von den Geisteswissenschaften lange verkannt und als letztlich nur passive Objekte verstanden wurden. Spätestens seit den populären Büchern Peter Wohllebens wissen wir, dass sie aber häufig ausgeklügelte Systeme und Strategien des Überlebens und der Ausbreitung in ihrer Umwelt entwickeln.100 Bisher ist im historischen Kontext kaum thematisiert worden, welche Veränderungen die massiven Bevölkerungsverschiebungen am Ende des Zweiten Weltkriegs für die Landschaften östlich von Oder und Neiße mit sich brachten. Am ehesten waren es zunächst vertriebene Agrarwissenschaftler und Kulturhistoriker, die  – freilich mit eindeutig wertender Perspektive  – auf den tatsächlichen oder vermeintlichen Wandel der Strukturen hingewiesen haben. Ihnen ging es vor allem um volkswirtschaftlich relevante Daten, Ernteerträge und Veränderungen der Besitzverhältnisse und des landschaftlichen Charakters. In den zwischen 1955 und 1967 vom Marburger Herder-Forschungsrat herausgegebenen fünf Bänden zu »Ostdeutschland unter fremder Verwaltung« findet man noch am ehesten einige nützliche Informationen zu Pflanzenarten.101 Sie betreffen jedoch vor allem Getreidesorten, während die Vernachlässigung von Flächen etwa mit der Überhandnahme von „Riedgras und Gesträuch“ beschrieben wird.102 Ersteres steht für die Folge der Beendigung deutscher Entwässerungs- und Meliorationsmaßnahmen, denn Sauergrasgewächse gedeihen am besten auf feuchten Böden. Die botanischen Verhältnisse und die Rolle von Pflanzen, die keiner unmittelbaren Nutzung unterlagen, interessierten allerdings kaum. Selbst wenn es konkreter wird, überwiegt der kulturpessimistische, propagandistische Blick. Der einstige Danziger Journalist Detlef Krannhals, der sich nach 1945 als Hanns von Krannhals neu erfand, schrieb davon, dass in Westpreußen nun als Erstes die „blaugraue Distel, also eine typische Steppenpflanze“, erschienen sei. 1947 habe das „harte, stumpfgrüne Steppengras in breiter Front die Weichsel“ überschritten. Auf die Westwanderung der „versengenden Spuren der Heere“ sei die der asiatischen Flora gefolgt.103 Es sind also keine genauen biologischen Bezeichnungen, sondern Wörter, die eine bestimmte Konnotation von Unkraut und (rassischer?) Fremdheit 100 Wohlleben, Peter: Das geheime Leben der Bäume, München 2015; ders.: Das geheime Netzwerk der Natur, München 2017. 101 Ostdeutschland unter fremder Verwaltung. 5 Bde. Marburg 1955–1967. 102 Bahr, Ernst: Ostpommern 1945–1955, Frankfurt am Main / Berlin 1957, S. 39. 103 Krannhals, Hanns von: Katastrophen der Kulturlandschaft an der Weichsel, in: Wir von der Weichsel und Warthe, hrsg. von Erhard Wittek, Salzburg 1950, S. 148.

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erzeugen sollten. Deutsche Kontrolle und Ordnung sind hier verloren gegangen. Wenn man nun etwas genauer hinschaut, wie und wo die Bezeichnung „Steppengras“ auftaucht, stellen sich gewisse Aha-Effekte ein. Zwar existiert in der russischen Literatur seit dem Igor-Lied eine Tradition des Begriffs, im deutschen Kontext ist er aber offenbar eng mit kolonialen Erfahrungen verflochten, sei es in Afrika, den Weiten des amerikanischen Wilden Westens oder eben in Russland. Das Steppengras ist „trocken“, „dürftig“ oder „wuchernd“, hat jedenfalls in den „deutschen Kulturlandschaften“ eigentlich nichts zu suchen. Erlaubt man sich die Spielerei, die Häufigkeit des Vorkommens im Korpus von Google Books zu testen, ist die Spitze um das Jahr 1940 erreicht.104 Mit dem Verlust der Ostgebiete wird es kurzzeitig als invasiver Akteur aus dem Osten zu einem Teil deutsch-polnischer Verflechtungsgeschichte. Es sind aber nicht nur altostdeutsche Wissenschaftler und Publizisten, selbst der polnische Exilhistoriker Janusz Piekałkiewicz schrieb in seinem auf Deutsch verfassten Stalingradbuch vom niedrigen, braunen Steppengras, „in dem die schmutzige Lehmfarbe der Sowjetuniformen beste Tarnung ist“.105 In gewisser Weise entwickelte sich aus ideologischen Prämissen heraus weltweit eine botanische Neophytenforschung, die also nicht nur in Deutschland und Polen bis heute durchaus gefragt ist. Dort, aber auch in öffentlichen Debatten, wird gerne auf die Gefahr für einheimische Arten verwiesen und es entwickeln sich biologistische Ausrottungsfantasien, etwa in Bezug auf den Großen Bärenklau, der in Polen aufgrund seiner ursprünglichen Herkunft aus dem Kaukasus mitunter als „Stalins Rache“ bezeichnet wird.106 Man könnte diese negativen Verflechtungen also auch gesamteuropäisch deuten, wobei das Böse oft aus dem Osten kommt, selbst bei den Pflanzen. Die angeblich bedrohten Ökosysteme werden dabei als unhinterfragte Kontinuitäten verstanden, was aber den Prozessen der Veränderung, denen sie natürlich trotzdem unterliegen, widerspricht. Methodisch erscheint es bedeutsam, dass die Pflanzen hier durchaus als Akteure verstanden werden, die sich neuen Lebensraum erobern. In Bezug auf die Pflanzen der ehemaligen deutschen Ostgebiete ist festzustellen, dass sie in polnischen kulturwissenschaftlichen Arbeiten der letzten Zeit spannende methodische Neuerungen erfahren, die es in Zukunft weiter auszubauen gilt.107 Hat die „asiatische Steppe“ im Zuge eines veränderten Verständnisses von Unkraut etwa in der Zwischenzeit auch die Elbe oder gar den Rhein erreicht? 104 105 106 107

http://books.google.com/ngrams (22.7.2019). Piekałkiewicz, Janusz: Stalingrad. Anatomie einer Schlacht, München 1977. Dajdok, Zygmunt (u. a.): Inwazyjne obce rośliny naczyniowe Polski, Suwałki 2015. Etwa bei Praczyk, Małgorzata: Ekonkwista twierdzy Kostrzyn  – powojenna historia miejsca, in: Historyka 46 (2016), S. 11–23.

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Ließe sich denn aus den gewählten Beispielen noch mehr ableiten als der Versuch, die deutsch-polnischen Verflechtungen in der Wissenschaft methodisch weiterzuentwickeln und sie kulturwissenschaftlich neu zu denken? Es gäbe hierfür tatsächlich einen größeren Bedarf, und zwar nicht in einem sehr schmalen Forschungssegment, sondern vielleicht sogar für eine breitere Leserschaft, die Universitäten wie Institute bei ihrer Jagd nach Drittmitteln und Nischenresonanzen in den letzten Jahrzehnten häufig vergessen haben. In den 1980er-Jahren fassten Wissenschaftler um Werner Conze den Beschluss, eine »Deutsche Geschichte im Osten Europas« in Auftrag zu geben. Mit Unterstützung des Siedler-Verlages erschienen bis 1999 insgesamt zehn Bände mit durchaus unterschiedlichem Niveau.108 Im Blick zurück kann man feststellen, dass hier letztmals vor allem Vertreter der deutschen Ostforschung Bilanz zu ziehen versuchten. Seitdem ist die Beschäftigung mit dem deutschen Faktor in der Geschichte Osteuropas vereinzelt durchaus weitergeführt worden. Gesamtdarstellungen kamen in den letzten 20 Jahren aber nur noch in wenigen Fällen zustande  – und wenn, dann immerhin schon im länderübergreifenden Rahmen.109 Es wäre somit durchaus an der Zeit, historische Landschaften in einer diachronischen Untersuchung der Verflechtungen in den Blick zu nehmen. Dabei sollte das Zusammenleben der Menschen allerdings nicht aus einer nationalen Perspektive untersucht werden, sondern aus ihrer Verflechtung mit ihrer Umgebung unter Berücksichtigung verschiedenster Faktoren. Das deutsch-polnische Element wäre neben sozialen, geschlechtsspezifischen, religiösen und naturräumlichen nur eines unter vielen. Im Mittelpunkt würden Alltagsereignisse und -situationen stehen, die in den größeren historischen (chronologischen) Rahmen eingebettet werden müssten. So ließe sich etwa eine ganz andere Geschichte der Karpaten, der Weichsel oder des Bernsteins schreiben, die der Punktualität, Inkohärenz und Zufälligkeit der Vergangenheit viel stärker Rechnung trüge, als dies eine klassische vorstrukturierte, in gewisser Weise eine zielgerichtete Deutung voraussetzende Gesamtdarstellung täte. Was bedeuten im Zeitalter des Anthropozäns geologische oder paläontologische Veränderungen in Deutschland und Polen im Rahmen einer deep history?110 Wie verhielten sich denn deutschsprachige Siedler, walachische Wanderhirten und lemkische Bauern in Bezug auf ihre natürliche Umgebung 108 Conze, Werner / Boockmann, Hartmut (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin 1992–1999. 109 Als ein Musterbeispiel: Bahlcke, Joachim / Gawrecki, Dan / Kaczmarek, Ryszard (Hrsg.): Geschichte Oberschlesiens: Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 2011. 110 Smail, Daniel Lord: On Deep History and the Brain, Berkeley, Ca. 2008.

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und wie wurden sie Teil der großen Erzählungen? Was bedeuteten die menschengemachten Veränderungen des Flusslaufes der Weichsel im 19. Jahrhundert für das Leben der Flößer? Warum sammelten die Fischer entlang der Ostsee Bernstein und gegen was tauschten sie ihn ein? Welche Rolle spielte tatsächlich die jeweilige Nationalität für das individuelle Handeln in den Krisen- und Kriegssituationen des 20. Jahrhunderts? Nahm und nimmt der durchschnittliche Deutsche den Wald anders wahr als die durchschnittliche Polin? Durch welche Hände wanderte derselbe täglich genutzte Gegenstand, seit ihn seine Danziger Besitzerin 1945 zurückließ?111 Unabhängig von den konkreten Beispielen ist es immer sinnvoll, althergebrachte Methoden und Ansätze nicht nur zu überprüfen, sondern unser Wissen und unseren Blick auf die Dinge auch mit dem alten und neuen Instrumentarium der verwandten Nachbarwissenschaften zu erweitern beziehungsweise zu verändern. Nur die Vielfalt von Perspektiven verhindert, dass wir uns einer bestimmten Fragestellung ausliefern und ein eindimensionales Bild der Vergangenheit zeichnen, das weniger etwas über diese aussagt als vielmehr über unsere Gegenwart. Besonders wichtig ist dies auf dem Feld der Verflechtungsgeschichte. Entgegen der landläufigen Überzeugung hilft uns hier die Behauptung nicht weiter, es habe gewisse  – negative oder positive  – Kontinuitäten in der Geschichte gegeben. Die These von einer tausendjährigen deutsch-polnischen Feindschaft ist nichts anderes als ein aus dem Zeitalter des Nationalismus herrührendes unsinniges Konstrukt. Die diversen Kulturwissenschaften haben in den letzten Jahren wieder verstärkt den Faktor Zeit in den Blick genommen. Dabei geht es aber nicht so sehr um die lange Dauer, sondern eher um das Wissen von der Kurzzeitigkeit und Kontingenz konkreter Verbindungen. Ob diese Verflechtungen dann von den Akteuren her gedacht werden, von den Praktiken oder Strukturen, ist erst einmal zweitrangig. Wichtiger erscheinen die Vielfalt und das Nebeneinander von temporär miteinander verbundenen Prozessen oder auch nur der Möglichkeit von ihnen. Die Bewertung konkreter Ereignisse wird damit sicherlich ebenso wenig leichter wie die längerfristiger historischer Entwicklungen. Sie wird dadurch aber ein Stück weit ehrlicher und unideologischer. Ergänzt werden muss sie immer durch den Versuch einer Selbstanalyse und -verortung im historischen Rahmen  – auch auf die Gefahr hin, dass Antworten schwerer fallen.

111 Siehe als Beispiel für jene „Memorialobjekte“ etwa bei Stefan Chwin: BednarskaKociołek, Joanna: Danzig/Gdańsk als Erinnerungsort. Auf der Suche nach der Identität im Werk von Günter Grass, Stefan Chwin und Paweł Huelle, Frankfurt am Main 2016, S. 168–174.

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4. Deutsch-polnisch-jüdische Täter-OpferDiskurse seit 1945. Vom Ersetzen der Geschichte durch Erinnerung

Jede Generation schreibt ihre eigene Geschichte, heißt es mitunter. Im Grunde ist dieses Diktum eine kritische Weiterentwicklung der historistischen These von der Suche nach der historischen Wahrheit, die erreicht werden kann, wenn man sich des entsprechenden wissenschaftlichen Instrumentariums bedient. Das Neuschreiben durch Memoralisierung folgt den Gesetzen der jeweiligen temporären gesellschaftlichen Standards. Der oder die Schreibende muss die jeweils verbreiteten Codes kennen, um angemessen rezipiert zu werden. Der Zweite Weltkrieg war und ist die entscheidende Sollbruchstelle für das deutsch-polnische Verhältnis im 20. Jahrhundert. Alles, was sich in der gemeinsamen Geschichte vorher ver- und entflochten hat, ist in der heutigen öffentlichen Wahrnehmung beider Länder kaum präsent. Während in Deutschland das Vergessen älterer Epochen zum Standard geworden ist und diese höchstens noch in der verkitschten Form von Fantasyspielen oder Mittelaltermärkten mehr oder weniger regelmäßig in Erscheinung treten, scheint dies in Polen zunächst anders zu sein. Aufbauend auf traditionell vermitteltem Schulwissen, dienen erbauliche Geschichten aus der goldenen Vergangenheit weiterhin zur Konstruktion einer nationalen Identität, die vom ersten Herrscher Mieszko I. (oder gar dem mythischen Stammvater Piast) bis in die Gegenwart reicht. Es bleibt allerdings fraglich, ob jenseits einer schmalen Schicht von Geschichtsinteressierten damit ein breiteres Publikum angesprochen wird. Für die neuere Geschichte gilt jedoch in besonderer Form, dass die Erinnerung an für die jeweilige dominierende Erzählung prägende Ereignisse in der Öffentlichkeit immer wieder neu vermittelt und dargestellt werden muss, um identitätsstiftend zu wirken.112 Ein zentraler Unterschied in der Geschichtspolitik und -didaktik beider Länder besteht darin, dass in Polen viel stärker in Täter-Opfer-Kategorien gedacht wird. Dies ist nicht überraschend, jedenfalls dann, wenn man die Geschichte der Teilungen Polen-Litauens und ihrer Folgen ebenso im Hinterkopf hat wie den Zweiten Weltkrieg. Es ist dies nicht der Ort, um näher auf 112 Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 137/138.

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4. Deutsch-polnisch-jüdische Täter-Opfer-Diskurse seit 1945

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die Wurzeln dieses Geschichtsbilds einzugehen. Zumindest aber soll darauf hingewiesen werden, dass der ewige Wettstreit zwischen Romantik und Positivismus in Polen bis heute fortlebt und die gesellschaftlichen Verhältnisse entscheidend prägt. Sogar die Entwicklung der letzten 30 Jahre wird vor diesem Hintergrund als Leidens- oder Erfolgsgeschichte gedeutet. Blickt man aber auf die gesamte polnische Geschichte und ihre Verarbeitung seit 1939, so kann man  – ähnlich wie etwa bei den baltischen Nationen  – verschiedene bilaterale Täter-Opfer-Diskurse unterscheiden. Neben dem polnisch-deutschen, auf den im Folgenden geblickt wird, sind dies in erster Linie der polnisch-russische und der polnisch-ukrainische, in bescheidenerem Rahmen aber auch der polnisch-tschechische, der polnisch-litauische und als ein Sonderfall der polnisch-jüdische. Täter-Opfer-Diskurse sind von bestimmten gesellschaftlichen Konjunkturen abhängig. Sie können nie die Gesamtheit aller verbreiteten Überzeugungen abdecken, zumal unabhängig von den geschichtspolitischen Absichten jeweils individuelle Überlieferungen daneben existieren. Diese hängen sehr stark vom persönlichen Erleben und seiner Verarbeitung einerseits, vom Nichterleben und Nichtwissen(wollen) andererseits ab. Dies gilt besonders dann, wenn ein für alle Zeitgenossen prägendes und traumatisierendes Ereignis wie der Zweite Weltkrieg im Mittelpunkt steht. Ohne psychologische Deutungsmuster aufzurufen, die bis in die Gegenwart immer wieder bemüht werden und deren Anwendung sicherlich auch sinnvoll ist, muss hier aber zumindest für den deutschen, mit Einschränkungen aber auch für den polnischen Kontext davon gesprochen werden, dass es nach 1945  – mit den Worten Reinhart Kosellecks  – eine Transformation des Opferbegriffs gegeben hat.113 Während zuvor das aktive Sichopfern für eine Sache im Vordergrund stand  – neben der ideologischen Konnotation des Opfers für das Vaterland schwingt hier selbstverständlich noch der religiöse Aspekt mit, den wir mindestens seit dem Alten Testament kennen –, wurden teilweise schon während, insbesondere aber bald nach dem Krieg alle Deutschen irgendwie zu Opfern: des Nationalsozialismus, der britischen Bomber, der sowjetischen Soldateska, der jüdischen Weltverschwörung, des polnischen nationalen Größenwahns usw. Und wenn alle irgendwie Opfer sind, dann gibt es im Grunde auch keine Täter mehr, sondern höchstens noch verschiedene graduelle Stufen des Opferseins. Koselleck entlastet bis zu einem gewissen Punkt dieses Opferdenken, indem er die unterschiedlichen Erfahrungsräume hervorhebt. Die Konsequenz aus einem passiven Opferverständnis passt dann wiederum gut in unsere globalkapitalistischen Konkurrenzen um mediale 113 Koselleck, Reinhart: Die Diskontinuität der Erinnerung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), Nr. 2, S. 213–222, hier S. 215.

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und finanzielle Aufmerksamkeit. Der Opferbegriff dient „der Begründung von Ansprüchen gegen andere, gleichsam der Besetzung einer pole position im wohlfahrtsstaatlichen Verdrängungswettbewerb“.114 Wer ein Opfer ist, dem gebühren nach heutigem allgemeinen common sense finanzielle und moralische Wiedergutmachung, seine Position in der gesellschaftlichen Pyramide ist vergleichsweise hoch. Nicht mehr die Sieger sind die wahren Helden, sondern die Verlierer, sofern ihre Grundhaltung bestimmten Vorstellungen einer angenommenen oder gegebenen Gruppe entspricht.115 Häufig werden aus reichhaltigen Traditionen aber gerade die ausgewählt, die den Vorstellungen derjenigen entsprechen, die die Deutungshoheit über die nationale Geschichte erlangen oder festigen wollen. Es würde allerdings zu kurz greifen, dies nur als deutsch-polnisches Phänomen zu interpretieren. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass wir es überall mit einer „obsessiven Opferbesessenheit“ unserer Zeit zu tun haben, die offenbar eine ähnlich gemeinschaftsstiftende und entlastende Funktion hat wie der Sündenbock.116 Allerdings bietet die Selbstwahrnehmung als Opfer eine gewisse Kategorisierungshilfe, denn jedwede Form von Fremdzuschreibung könnte auch eine Form versteckter Diskriminierung bedeuten, wie sie zum Beispiel bei der lange Zeit weitverbreiteten These zu erkennen ist, die Juden hätten sich von den Deutschen wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Auf der anderen Seite ist dennoch immer nach dem „Opfer wovon?“ zu fragen. Ein einschlägiges Nachschlagewerk zum deutschen Schulddiskurs nach 1945 bescheidet hier knapp: „Opfer sind diejenigen, die vom Nationalsozialismus diskriminiert, verfolgt, eingesperrt wurden, die mit diesem Selbstverständnis nach 1945 schreiben und die in ihren Texten auf diese persönlichen Erfahrungen, die sie zu Opfern machten, referieren. Es sind diejenigen, die der Nationalsozialismus sich zu Feinden erklärt hat.“117 Während sich aber im deutschen (und westeuropäischen) Rahmen die Entwicklung der Forschung und die  – freilich elitengesteuerte  – gesellschaftliche Wahrnehmung allmählich von den klassischen von oben vorgegebenen Kategorien ab- und der Selbstwahrnehmung von Opfern und Opfergruppen zuwandte, beobachten wir im freien Polen nach 1989, verstärkt nach 114 Münkler, Herfried / Fischer, Karsten: „Nothing to kill or die for …“. Überlegungen zu einer politischen Theorie des Opfers, in: Leviathan 28 (2000), Nr. 3, S. 343–362, hier S. 348. 115 Todorov, Tzvetan: Angesichts des Äußeren, München 1993, S. 57. 116 Erner, Guillaume: La société des victimes, Paris 2006, S. 9; Girard, René: Der Sündenbock, Zürich 1988. 117 Kämper, Heidrun: Opfer  – Täter  – Nichttäter. Ein Wörterbuch zum Schulddiskurs 1945–1955, Berlin / New York 2007, S. xii.

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dem Beginn der konservativen Gegenrevolution Mitte der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts, ein Comeback von oben gesteuerter nationaler Mythen, also einer Sinnstiftung aus Angst vor den Herausforderungen der globalen Spät­moderne.118 Auf die deutsch-polnische Verflechtungsgeschichte nach 1945 und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg angewendet, lassen sich verschiedene, einander bisweilen überlappende zeitliche Abschnitte unterscheiden. Es ist aber kaum möglich, die Diskurse gerade in diesem Bereich nur binational zu verstehen, da die Kriegsthematik ohne die Geschichte des Holocausts selbstverständlich nicht denkbar ist. In den ersten Jahren nach Kriegsende gab es in Polen, da sich das kommunistische System noch nicht komplett durchgesetzt hatte, eine Vielfalt von Meinungen und Initiativen zur Bewertung der Ereignisse und zur Erinnerung an diese. Am engagiertesten waren diejenigen polnischen und polnisch-jüdischen Organisationen, die das Schicksal der Überlebenden der Lager, der Zwangsarbeit und der Vertreibungen im Blick hatten. Allerdings waren sie sich zwangsläufig in ihren Bewertungen nicht immer einig, was angesichts der Konkurrenz um Ressourcen nicht weiter verwunderlich ist.119 Auch in den in Polen stattfindenden Prozessen gegen deutsche Kriegsverbrecher überlagerten sich unterschiedliche Motive. Die Staats- und Parteiorgane ließen die Verbrechen an der polnischen Bevölkerung in den Vordergrund rücken. Die Morde an den polnischen und nichtpolnischen Juden wurden zwar nicht ausgeblendet, aber auch nicht in ihrer welthistorischen Bedeutung verfolgt. Die jüdischen Einzelpersonen und Organisationen, die gleich nach 1945 maßgeblich an der Sammlung von Materialien und der Belastung von Tätern mitgewirkt hatten, mussten immer mehr darauf achten, der offiziellen Erzählung nicht allzu sehr zu widersprechen, um ihre Rolle im System weiterspielen zu können.120 Zu diesen innenpolitischen Neuausrichtungen gehörte auch, dass seit den späten 1940er-Jahren in Bezug auf die Deutschen  – ohne ihre nationale Verantwortung ganz zu ignorieren  – die Systemfrage in den Vordergrund trat. Deutsche Täter tauchten in Propaganda, Wissenschaft und Politik nunmehr fast ausschließlich im westdeutschen Staat in Erscheinung. Diese Periode, die 118 Grundlegend zu diesen Wellenbewegungen Hallama, Peter: Geschichtswissenschaften, Memory Studies und der Passive Turn, in: Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa, hrsg. von K. Erik Franzen / Martin Schulze Wessel, München 2012, S. 9–27. 119 Zur Entwicklung der Erinnerungspolitik in den ersten Nachkriegsjahren vgl. Wóycicka, Zofia: Arrested Mourning. Memory of the Nazi Camps in Poland, 1944–1950, Frankfurt am Main 2013. 120 Vgl. etwa Finder, Gabriel N. / Prusin, Alexander V.: Justice behind the Iron Curtain. Nazis on Trial in Communist Poland, Toronto / London 2018, insbesondere Kap. 5.

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mit der Bezeichnung für eine ähnliche Entwicklung in Frankreich „gesellschaftliches Trauern“ benannt werden kann, ging spätestens mit der fortschreitenden Stalinisierung Polens zu Ende. Nun war es nicht mehr entscheidend, die Aspekte des Heldentums und des Opfergangs in den Debatten zusammenzubringen, denn der kommunistischen Partei ging es auf der Suche nach gesellschaftlicher Unterstützung eher um eine Betonung des heldenhaften Kampfes gegen die Besatzer. Auf diesem Wege glaubte man auch die Frage umgehen zu können, ob man denn „nur“ der toten (nichtjüdischen) Polen oder auch der Juden gedenken sollte. Es zeigte sich rasch, dass die Strategie der Machthaber, das Thema Holocaust zu marginalisieren, im Einklang mit dem Willen eines großen Teils der Bevölkerung stand. Symbol hierfür wurde die „Internationalisierung“ des Lagers Auschwitz-Birkenau als Ort des heldenhaften Kampfes gegen den Faschismus, ohne den besonderen Charakter der NS-Vernichtungslager als Orte der massenhaften Tötung von Juden zu betonen. Hier wie in Majdanek sollte den Besuchergruppen zudem die besondere Rolle der Sowjetunion vorgeführt werden.121 Es wäre freilich interessant, zu erforschen, wann der martyrologische Aspekt der Geschichte des Krieges wieder in den Vordergrund zu rücken begann. Klar ist allerdings, dass er sich in erster Linie auf die nichtjüdische polnische Bevölkerung bezog. Man kann vermuten, dass ein Zusammenhang mit der Nationalisierung der kommunistischen Geschichtspolitik nach 1956 besteht, die sich in den 1960er-Jahren gemeinsam mit der antiwestdeutschen Propaganda verstärkte. Hilfreich sind hier die Untersuchung der Geschichte der Kombattantenverbände einerseits und der diversen Gremien zur Aufklärung deutscher Kriegsverbrechen andererseits.122 In beiden Fällen veränderten sich Prioritäten und Terminologien ebenso wie das Bild des polnischen Widerstands beziehungsweise der militärischen Aktivitäten. An dieser Schwerpunktsetzung änderte sich in den 1970er- und 1980er-Jahren trotz aller politischen Krisen wenig. Erst in den 1990er-Jahren erfolgte im freien Polen eine Neubewertung nicht nur des historischen Verhältnisses zur Sowjetunion, sondern auch des polnisch-jüdischen Verhältnisses. In Bezug auf Ersteres hatte eine 1987 gegründete Kommission mit Parteihistorikern erste Schritte hierfür unternommen und dabei vor allem das Thema der Ermordung polnischer Offiziere in Katyn 1940 durch die Sowjets in den Blick genommen. Zu einer 121 Kranz, Tomasz: Shoah und Zweiter Weltkrieg. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur im deutsch-polnischen Vergleich, Leipzig 2008. 122 Wawrzyniak, Joanna: Veterans, victims, and memory. The Politics of the Second World War in Communist Poland, Frankfurt am Main 2015; Jasiński, Łukasz: Sprawiedliwość i  polityka. Działalność Głównej Komisji Badania Zbrodni Niemieckich/Hitlerowskich w Polsce 1945–1989, Warszawa 2018.

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Entkrampfung des seit den antisemitischen Exzessen von 1968 schwer belasteten polnisch-israelischen Verhältnisses kam es formell zwar erst durch die Wiederaufnahme der gegenseitigen Beziehungen im Februar 1990, aber schon 1988 war eine Polnisch-Israelische Handelskammer ins Leben gerufen und der einstige KZ-Häftling Pinchas Joskowicz zum ersten Oberrabbiner seit 15 Jahren ernannt worden. Die Debatten um die Errichtung eines Kreuzes auf dem Auschwitzer Lagergelände, um die Morde von Jedwabne und den polnischen Antisemitismus insgesamt veränderten ab den 1990er-Jahren den polnischen Blick auf die polnischen Juden, zeigten aber auch die Schwierigkeiten bei dem Versuch, die Rolle der Täter in allen Fällen allein den Deutschen zuzuschreiben. Erste Ansätze zu einer Neuorientierung hatte es schon im Jahrzehnt davor gegeben, als die Darstellung Polens in Claude Lanzmanns monumentalen »Shoah«Filmen ebenso heftig diskutiert wurde wie das Verhalten der Polen angesichts des Aufstands im Warschauer Ghetto von 1943, worauf der Publizist Jan Błoński in einem aufsehenerregenden Essay hingewiesen hatte.123 Während diese Auseinandersetzungen in Deutschland kaum wahrgenommen wurden, zeigten sich unter den Bedingungen eines freien Polens die tiefen Risse innerhalb der polnischen Gesellschaft. Teile von ihr, insbesondere im Umfeld des nationalistischen Lagers, aber auch der katholischen Kirche, waren nicht bereit, auf ihr Bild von Polen als dem zentralen Opfer des Krieges zu verzichten. Immer wieder war die Rede vom „Holocaust an den Polen“ (Polocaust). Diese Spannungen fanden ihre Ventile in immer neuen Kontroversen, die bis zum heutigen Tage anhalten. Während die Frage, ob sich im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ein katholisches Kloster und überdimensionierte Kreuze befinden sollten, vor allem unter religiösen Vorzeichen geführt wurde124, reichte der Streit um die Beteiligung von Polen an der Ermordung jüdischer Landsleute tiefer. Hier stand erstmals ein zentrales Narrativ polnischen Erinnerns grundsätzlich infrage, denn selbstverständlich ist es ein Unterschied, ob man aus welchen Gründen auch immer dem (deutschen) Täter bei seinen Untaten zusieht oder ob der (polnische) Täter von den Deutschen wohlwollend beobachtet wird. Die eher unscheinbare Scheune im podlachischen Dorf Jedwabne, in der Polen am 10. Juli 1941 über 340 Juden umbrachten, wurde zu einem Symbol kollektiven Versagens, das angesichts der Millionen von den Deutschen Ermordeten zahlenmäßig unbedeutend war, 123 Forecki, Piotr: Od Shoah do Strachu. Spory o  polsko-żydowską przeszłość i  pamięć w debatach publicznych, Poznań 2010, S. 132–149; Błoński, Jan: Biedni Polacy patrzą na getto, in: Tygodnik Powszechny vom 11.1.1987, S. 1, 4, dt. Version: https://www.via-regia. org/bibliothek/pdf/Heft2122/blonski_armen_polen.pdf (18.3.2021). 124 Forecki, Shoah, S. 167–280.

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aber an den Grundfesten der Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs rüttelte.125 Die meisten Fakten waren lange bekannt gewesen, der polnische Antisemitismus hatte auch anderenorts vorher wie nachher seine Opfer gefunden. Das allgemeine Verschweigen war nun nicht mehr möglich, die Frage nach Schuld und Verantwortung wurde aber weiterhin gestellt und erstreckte sich in den Jahren danach auch auf Themen wie den Raub jüdischen Vermögens oder die Kollaboration mit den deutschen Besatzern. Von Jedwabne aus führt zudem ein Weg zur aktiven polnischen Geschichtspolitik der Nullerjahre, deren restaurative Variante ein vorrangiges Interesse an der Bewahrung (oder eher Wiederherstellung) von „Polens Größe“ hegt. Die deutschen Stimmen zu diesen polnischen Debatten waren meist von einer gewissen verständlichen Zurückhaltung geprägt.126 Die folgenden wissenschaftlichen Studien hatten eher zum Ziel, das Wissen über die Besatzungsherrschaft in Polen im Allgemeinen und die konkreten Abläufe vor Ort im Speziellen zu vertiefen. Die Debatte um Konzentrations- und Vernichtungslager beziehungsweise um die Rollenzuschreibung oder -übernahme während des Krieges ist aber nur ein Teil, wenngleich wohl der zentrale Teil auch deutsch-polnischer Täter-Opfer-Diskurse. Ein weiteres wichtiges Element hierin war und ist die Frage nach deutschen Entschädigungsleistungen. Die rechtlichen, politischen und moralischen Konsequenzen wurden hier unterschiedlich gezogen. Während aber mit Israel und westlichen Staaten sowie dem Jüdischen Weltkongress bereits in den 1950er-Jahren sogenannte Globalzahlungen vereinbart wurden und mit Jugoslawien zur Tarnung der Zahlungen Investitionskredite getätigt wurden, verhinderte die westdeutsche Hallstein-Doktrin bis 1970 offizielle Abkommen mit Warschauer-Pakt-Staaten.127 Zwar hatte Polen 1953 als Staat auf Reparationen aus der Bundesrepublik und der DDR verzichtet, individuelle Ansprüche seiner Bürger blieben davon allerdings unberührt.128 Mit Ausnahme weniger Fälle hatten ehemalige polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter kaum Chancen, auf dem Verhandlungs- oder Gerichtsweg 125 Aus der Fülle von Publikationen zu Jedwabne: Gross, Jan Tomasz: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001; Forecki, Piotr: Spór o Jedwabne. Analiza debaty publicznej, Poznań 2009; Machcewicz, Paweł / Persak, Krzysztof: Wokół Jedwabnego, 2 Bde., Warszawa 2002. 126 Friedrich, Klaus-Peter: Deutsche Stimmen zur „Jedwabne“-Debatte in Polen. Eine Bilanz, in: Zeitschrift für Genozidforschung 6 (2005) 2, S. 8–41. 127 Die Sowjetunion hatte 1953 auf alle Reparationen verzichtet. Einen Überblick über die Summen findet man unter https://www.zwangsarbeit-archiv.de/zwangsarbeit/entschaedigung/uebersicht_ entschaedigungszahlungen/index.html (18.9.2019). 128 Ruchniewicz, Krzysztof: Deutschland und das Problem der Nachkriegsentschädigungen für Polen, in: Grenzen der Wiedergutmachung, hrsg. von Hans Günter Hockerts, Göttingen 2006, S. 667–739.

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zu Entschädigungen zu kommen, selbst wenn sie nicht in der Volksrepublik Polen lebten. Anders verhielt es sich lediglich bei den Opfern medizinischer Experimente. Hier erklärte sich die Bundesrepublik auf Druck der USA bereit, unter Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes Finanzbeihilfen zu gewähren. Zwischen 1960 und den frühen 1970er-Jahren erhielten 1357 polnische NS-Opfer insgesamt 39,4 Millionen Deutsche Mark.129 Auch einige Tausend zwischen 1953 und 1965 nach Israel emigrierte osteuropäische Juden erhielten eine Entschädigung.130 In die deutsche Öffentlichkeit drangen die internen Debatten über Entschädigungen zu diesem Zeitpunkt kaum. Überhaupt wurde etwa Zwangsarbeit erst im Jahre 2000 als NS-typisches Unrecht anerkannt. Ab den 1980erJahren hatte zur Aufarbeitung der Schicksale verschleppter Einwohner Mittel- und Osteuropas eine breite, oft regional fokussierte Forschertätigkeit in Deutschland eingesetzt, die durch Ausstellungen, aber auch audiovisuelle Medien ein breiteres Publikum erreichte, ohne dass sich von einem Massenphänomen sprechen ließe.131 So wurde auch das Schicksal des 17-jährigen Walerian Wróbel aus der heutigen Woiwodschaft Heiligkreuz (Świętokrzyskie) bekannt, der 1941 nach Bremen verschleppt worden war, dann aus Heimweh eine Scheune anzündete und dafür zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.132 Die Erinnerungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern spielten in der privaten Überlieferung vieler polnischer Familien für das jeweilige Deutschlandbild eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nicht immer waren die Erzählungen ausschließlich negativ. Bis zum Ende des Jahrhunderts hatten dagegen nur zwölf Firmen, die Sklavenarbeiter beschäftigt hatten, von sich aus Zahlungen geleistet.133 Es gilt allerdings zu bedenken, dass es jenseits des 129 Ebenda, S. 698. 130 Hakohen, Devorah: Immigrants in Turmoil: Mass Immigration to Israel and Its Repercussions in the 1950s and After, Syracuse 2003, S. 267. 131 Als Beispiele für wissenschaftliche Beschäftigung hierzu: Stefanski, Valentina Maria: Zwangsarbeit in Leverkusen. Polnische Jugendliche im I.G. Farbenwerk, Osnabrück 2000; Hoffmann, Katharina: Ausländische ZwangsarbeiterInnen in Oldenburg während des Zweiten Weltkrieges: eine Rekonstruktion der Lebensverhältnisse und Analyse von Erinnerungen deutscher und polnischer ZeitzeugInnen, Oldenburg 2000; Skibińska, Joanna: Die letzten Zeugen. Gespräche mit Überlebenden des KZ-Außenlagers „Katzbach“ in den Adlerwerken Frankfurt am Main, Hanau 2005. 132 Schminck-Gustavus, Christoph: Das Heimweh des Walerjan Wróbel. Ein Sondergerichtsverfahren 1941/42, Bonn 1986. Rolf Schübel drehte 1990 einen Kinofilm über dieses Schicksal, 2007 wurde ein Weg in Bremen nach Wróbel benannt. 133 Buggeln, Marc: Die Zwangsarbeit im Deutschen Reich 1939–1945 und die Entschädigung vormaliger Zwangsarbeiter nach dem Kriegsende: Eine weitgehend statistische Übersicht (2015), https://www.historikerkommission-reichsarbeitsministerium.de/sites/ default/files/inline-files/Working-Paper/UHK/A4_Buggeln_1.pdf (18.9.2019).

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staatlichen Rahmens zumindest für polnische KZ-Überlebende auch kirchliche Initiativen in Deutschland gab, die sich um finanzielle Hilfestellung bemühten, nämlich das katholische Maximilian-Kolbe-Werk (seit 1973) und die evangelische Einrichtung Zeichen der Hoffnung (seit 1977).134 Im Zuge der brandtschen Ostpolitik wurde die Entschädigungsfrage für polnische Staatsbürger von der Warschauer Staats- und Parteiführung wieder angesprochen. Es wurde aber rasch klar, dass es dabei weniger um die Interessen einzelner polnischer Betroffener ging als vielmehr um Zahlungen an den polnischen Staat. So war es nicht verwunderlich, dass das letztlich 1975 geschlossene Abkommen einen problematischen Deal vorsah. Gegen die Zusicherung, Deutsche aus Polen ausreisen zu lassen, erhielt der polnische Staat einen niedrig verzinsten Kredit als „indirekte Wiedergutmachung“. Beide Seiten hatten zu diesem Zeitpunkt kein Interesse daran, individuelle Ansprüche zu befriedigen. Dies änderte sich im Grunde erst nach dem Sturz der kommunistischen Systeme in Zentral- und Osteuropa beziehungsweise nach dem Ende des Systems von Jalta durch die Zwei-plus-vier-Verhandlungen über Deutschland 1990. Mithilfe der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung im Jahre 1991 sowie der Bundesstiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (2000) wurde die letzte Möglichkeit genutzt, Überlebenden der deutschen Verfolgung noch finanzielle Hilfe zukommen zu lassen.135 Damit schien die Frage deutscher Zahlungen erledigt zu sein, doch tauchte ab den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts immer wieder zu Wahlkampfzeiten in Polen die Frage auf, ob Deutschland nicht zu Reparationsleistungen aufgrund der während des Zweiten Weltkriegs angerichteten Schäden verpflichtet sei. Eine Expertise des Büros für Sejmanalysen kam im Jahre 2017 hierbei auf eine Summe von ca. 840 Milliarden Euro.136 Ein neuer, umfassenderer Bericht war für 2020 angekündigt, ist bisher aber nicht erschienen. Auch einzelne zerstörte Städte wie etwa Wieluń erhoben Ansprüche gegenüber dem deutschen Staat.137 2004 hatte 134 Süss, Dietmar: Wiedergutmachung von unten? Katholische Vergangenheitsbewältigung und die Entstehung des Maximilian-Kolbe-Werkes, in: Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, hrsg. von Hans Günter Hockerts, Göttingen 2003, S. 157–175; Zeichen der Hoffnung  – znaki nadziei: 25 Jahre; 1977–2002, Frankfurt am Main 2002. 135 Ruchniewicz, Deutschland, S. 737/738. 136 Jastrzębski, Robert: Opinia prawna w sprawie możliwości dochodzenia przez Polskę od Niemiec odszkodowania za szkody spowodowane przez drugą wojnę światową w związku z  umowami międzynarodowymi [6.9.2017], https://dlademokracji.pl/wp-content/ uploads/2018/01/17-09-06__BAS_reparacje.pdf (25.2.2021). 137 Mieszkańcy Wielunia będą domagać się od Niemiec reparacji wojennych, in: Radio Łódź vom 15.12.2017, https://www.radiolodz.pl/posts/40788-mieszkancy-wielunia-bedadomagac-sie-od-niemiec-reparacji-wojennych (25.2.2021).

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der damalige Warschauer Oberbürgermeister Lech Kaczyński für seine Stadt eine Summe von 45,3 Milliarden US-Dollar als Entschädigung verlangt.138 Die Tatsache der Übernahme deutschen Territoriums durch die polnischen Behörden wurde und wird dabei aus verständlichen Gründen komplett ausgeblendet. Konkrete Schritte zur Durchsetzung der eigenen Ansprüche sind vonseiten der polnischen Regierung bisher nicht erfolgt. Sie sind vermutlich dann zu erwarten, wenn von etwaigen innenpolitischen Schwierigkeiten abgelenkt werden soll. Die Frage nach den deutschen Tätern in Bezug auf Polen ist in Westdeutschland bis weit in die 1950er-Jahre hinein gar nicht oder kaum thematisiert worden. Generell herrschte die Überzeugung, dass einige wenige führende Nationalsozialisten für die Gräueltaten während des Krieges verantwortlich gewesen seien. Damit ließ sich recht unproblematisch der überwiegende Teil der Gesellschaft entlasten, der den Krieg gutgeheißen oder passiv zur Kenntnis genommen hatte. Die meisten Bundesbürger waren lange davon überzeugt, zumindest die Wehrmacht sei doch im Grunde genommen die ganze Zeit über „anständig geblieben“. Deutsche Gerichte stützten die These vom Befehlsnotstand nach § 34 Strafgesetzbuch, wonach individuelle Schuld an NS-Verbrechen in einer Gefahr für Leib und Leben eingeschränkt gewesen sei. Dagegen herrschte über die deutschen Verbrechen im Osten kollektives Schweigen. Soldaten, Verwaltungsangestellte, Lehrer: Kaum einer von denen, die im besetzten Polen tätig gewesen waren, fühlte sich bemüßigt, von seinen Erfahrungen zu berichten. Wenn manche dies dann oft viele Jahre später doch taten, schwang mitunter die Erinnerung an eine goldene Zeit mit, in der man „die Polen“ immer gut behandelt zu haben glaubte. Die Täter sprachen, sofern sie sich nicht vor Gericht für ihr Handeln verantworten mussten, wenig über das Erlebte. Es kam nicht selten vor, dass sie mit oder ohne Wissen über ihre Vergangenheit Karriere in Nachkriegsdeutschland machten. SS-Gruppenführer Heinz Reinefarth, einer der Hauptverantwortlichen für die blutige Niederschlagung des Warschauer Aufstands und insbesondere die bestialischen Verbrechen im Stadtteil Wola, wurde Bürgermeister von Westerland auf Sylt und schleswig-holsteinischer Landtagsabgeordneter. Im Unterschied zu anderen war er von den westlichen Besatzungsmächten nicht an Polen ausgeliefert worden, offenbar, weil er für deren Geheimdienste arbeitete. Gerhard Scheffler, NSDAP-Oberbürgermeister von Posen, wirkte in den 1950er-Jahren an wichtigen Sozialgesetzgebungsprojekten im Bundesinnenministerium mit. 138 Gruszczyński, Krzystof Jerzy: Odpowiedzialność odszkodowawcza NRF [sic!] w  XXI wieku  – Próba opisu, in: Humanum. Międzynarodowe Studia Społeczno-Humanistyczne 27 (2017) 4, S. 81–115, hier S. 89.

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Derartige Beispiele gibt es viele und es ist nötig, auf die Menge dieser Fälle hinzuweisen, wenn man positive Gegenbeispiele erwähnt, die immer die Ausnahme darstellten. Franz-Heinrich Bock, ein aus Magdeburg stammender Verwaltungsbeamter, war während der deutschen Besatzung Bürgermeister der großpolnischen Gemeinde Poddębice, die zwischen 1943 und 1945 den passenden Namen Wandalenbrück trug. Er führte ein Tagebuch, das nach 1945 unter Pseudonym publiziert wurde. Weit davon entfernt, ein Opfer zu sein, gibt jener „Alexander Hohenstein“ in seinen Erinnerungen einen tiefen Einblick nicht nur in den Besatzungsalltag, sondern liefert auch Erkenntnisse zur Verfolgung und Ermordung der Juden.139 Schlüsseldokumente der Täter wie das Diensttagebuch von Generalgouverneur Hans Frank oder der Stroop-Bericht zur Vernichtung des Warschauer Ghettos erreichten außerhalb der Wissenschaft kaum Aufmerksamkeit, selbst wenn sie zum Teil früh in Auszügen übersetzt wurden.140 Gleiches gilt für Berichte polnischer Autoren, selbst wenn manche von ihnen ins Deutsche übersetzt wurden.141 Es gibt allerdings mindestens zwei Ausnahmen von der deutschen Nichtwahrnehmung: die Lebensläufe von Janusz Korczak und Pater Maksymilian Kolbe. Ersterer wurde allerdings kaum als Pole, sondern in erster Linie als Jude wahrgenommen, der seine Schutzbefohlenen bis zum Tode nicht im Stich ließ, vielleicht auch noch als bedeutender Pädagoge und Schriftsteller. Selbst, als ihm 1972 posthum der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt wurde, spielte der nationale Faktor und die Ermordung Korczaks durch Deutsche in der Laudatio Hartmut von Hentigs praktisch keine Rolle.142 Immerhin sind aber heute etwa 50 Schulen in Deutschland nach ihm benannt143, Straßen 139 Hohenstein, Alexander: Wartheländisches Tagebuch aus den Jahren 1941/42, Stuttgart 1961. 140 Geiss, Imanuel / Jacobmeyer, Wolfgang (Hrsg.): Deutsche Politik in Polen 1939–1945. Aus dem Diensttagebuch des Generalgouverneurs Hans Frank, Opladen 1980; Wirth, Andrzej (Hrsg.): Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr! Der „StroopBericht“ über die Vernichtung des Warschauer Ghettos. Fotomechanischer Nachdruck. Neuwied / Berlin-Spandau / Darmstadt 1960; Moczarski, Kazimierz: Rozmowy z katem, Warszawa 1977 (dt.: Gespräche mit dem Henker, Düsseldorf 1978). 141 Beispielsweise Datner, Szymon: Walka i zagłada białostockiego ghetta, Białystok 1946; Friedman, Filip: Zagłada Żydów lwowskich, Łódź 1945; Klukowski, Zygmunt: Dziennik z lat okupacji Zamojszczyzny (1939–1945), Lublin 1958 [dt.: Berlin 2017]. Als deutscher Sammelband: Beer, Frank / Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hrsg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944–1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. Dachau / Berlin 2014. 142 www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/1972_korcak. pdf (sic!) (11.9.2019). 143 https://www.jk-schule.de/interaktive-karte-der-janusz-korczak-schulen/ (25.2.2021).

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heißen nach ihm und im schwäbischen Günzburg erreichte der Theatermacher Siegfried Steiger 2003, dass ihm zu Ehren ein Denkmal errichtet wurde.144 Die Bedeutung Kolbes für den deutsch-polnischen Dialog hatte wiederum einen anderen Kontext. Er ist eng mit der katholischen Kirche verbunden und hatte kaum eine staatliche Dimension. Kolbes Opfertod im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, wo er sich im Juli 1941 gegen einen katholischen Landsmann mit Familie austauschen ließ, wurde zum Symbol christlicher Nächstenliebe. Kolbe war nicht irgendein Priester, sondern einer der wichtigsten Vertreter des katholischen Pressewesens im Vorkriegspolen. In dem von ihm gegründeten Ort Niepokalanów bei Warschau gab er eine Reihe von Publikationen heraus, die teilweise deutlich antisemitische Züge aufwiesen. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils vereinbarten deutsche und polnische Bischöfe 1963 in Rom ein gemeinsames Schreiben zur Unterstützung einer Heiligsprechung Kolbes, die dann 1982 durch Papst Johannes Paul II. erfolgte. Im gleichen Jahr 1963 widmete der Schriftsteller Rolf Hochhuth sein skandalumwittertes Theaterstück »Der Stellvertreter« über die vermeintliche Untätigkeit von Papst Pius XII. angesichts des nationalsozialistischen Judenmords dem Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg und Maksymilian Kolbe. Kolbe wurde dadurch auch in der Bundesrepublik bekannt und, als zehn Jahre später ein Hilfswerk für polnische Überlebende deutscher Konzentrationslager entstand, verständigte man sich rasch auf Kolbe als seinen Namensgeber.145 In Bezug auf den Holocaust ließ sich etappenweise eine deutliche Steigerung des westdeutschen Interesses beobachten, zu der verschiedene Faktoren beitrugen: die großen NS-Prozesse der 1960er- und 1970er-Jahre, die Debatte um Verjährung von NS-Verbrechen, die amerikanische Fernsehserie »Holocaust« aus dem Jahre 1979 sowie die Diskussionen im Umfeld der beiden Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht von 1995 und 2001.146 Während Letztere zusätzlich den deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion in einen breiteren Fokus der Öffentlichkeit rückten, galt dies nicht für den deutschen Überfall auf Polen und die Jahre der Besatzung. Obgleich hierbei berücksichtigt werden muss, dass auch die deutschen Kriegsverbrechen in Italien, Jugoslawien oder Griechenland bis heute lediglich anlässlich von 144 https://www.janusz-korczak.de/janusz-korczak-denkmal/ (25.2.2021). 145 Stempin, Arkadiusz: Das Maximilian-Kolbe-Werk. Wegbereiter der deutsch-polnischen Aussöhnung 1960–1989, Paderborn / München / Wien / Zürich 2006. 146 Eder, Jacob S.: Holocaust angst: the Federal Republic of Germany and American Holocaust memory since the 1970s, New York 2016; Miquel, Marc von: Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004; Fischer, Torben / Lorenz, Matthias N. (Hrsg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 3. Aufl., Bielefeld 2015.

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Jahrestagen thematisiert werden, ist es dennoch erstaunlich, wie schwer sich die deutsche Gesellschaft lange mit den Verbrechen in Polen tat. Noch 1994 verwechselte Bundespräsident Herzog die Warschauer Aufstände von 1943 und 1944147 und erst 2019 rückte zum 80. Jahrestag des Kriegsausbruchs die Tatsache stärker ins Zentrum, dass es die zentralpolnische Kleinstadt Wieluń war, die von deutschen Bombern am 1. September 1939 fast völlig zerstört wurde.148 Die systematischen Ermordungen von Angehörigen der polnischen Intelligenz wurden höchstens in Fachkreisen debattiert. Die Frage, ob für die von Deutschen verschuldeten Opfer des Krieges ein eigenes Denkmal oder ein Dokumentationszentrum errichtet werden soll, begann in der breiten Öffentlichkeit erst ab 2018 diskutiert zu werden (→ S. 16, 160).149 Vereinfacht könnte man zusammenfassen, dass die Täter schwiegen, ihre Nachkommen sich nicht interessierten und die Opfer nicht gehört wurden. In gewisser Weise lässt sich dies auch beim allgemeinen Wissen über die Insassen der deutschen Konzen­trationslager beobachten. Hier kehrt erst in den letzten Jahren das Bewusstsein darüber zurück, dass eine nicht unerhebliche Anzahl nichtjüdischer Polen in ihnen nicht nur inhaftiert war, sondern auch ums Leben kam. Als ein Symbol für gewisse Perspektivwechsel mag die Wechselausstellung über den Oberkommandierenden der polnischen Untergrundarmee im Zweiten Weltkrieg, Stefan „Grot“ Rowecki, dienen, die seit 2014 in einer Baracke des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Oranienburg gezeigt wird, wo er im Sommer 1944 nach mehrjähriger Haft ermordet wurde.150 Den Schicksalen solcher Menschen mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, hat sich in Polen seit 2017 auch das staatliche Pilecki-Institut zur Aufgabe gemacht, das nach einem polnischen Soldaten und Widerstandskämpfer benannt ist, der sich 1940 nach Auschwitz einschleusen ließ, um später der westlichen Welt über die dortigen Verbrechen berichten zu können.151 Es errichtete zudem eine Außenstelle in Berlin, auch um geschichtspolitisch auf deutsch-polnische Debatten Einfluss nehmen zu können. 147 In einem »Stern«-Interview unmittelbar vor seiner Polenreise 1994. Siehe dazu Jochum, Michael: „Ich bitte um Vergebung“. Wie Roman Herzogs Warschauer Rede entstand, in: Die Zeit vom 10.2.2000, http://www.zeit.de/2000/07/Ich_bitte_um_Vergebung/seite-2 (25.2.2021). 148 Immerhin erinnert im modernisierten und erweiterten Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden seit 2011 eine geborstene Gehwegplatte an die Ereignisse in der mittelpolnischen Stadt am 1.9.1939. 149 Der Aufruf hierzu stammte aus dem Jahre 2017. Vgl. https://www.deutsches-polen-institut.de/assets/Uploads/Aufruf-Polendenkmal.pdf (25.2.2021). 150 https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/das-letzte-jahr-von-general-grot-rowecki (25.2.2021). 151 Fairweather, Jack: The Volunteer: The True Story of the Resistance Hero Who Infiltrated Auschwitz, London 2019.

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Die Überzeugung vieler Deutscher, sie seien letztlich in erster Linie Opfer des Krieges gewesen, lässt sich entgegen anderslautenden Thesen schon auf die Zeit unmittelbar nach Kriegsende zurückführen. Es würde nämlich eine gewaltige Überschätzung medialer Öffentlichkeit bedeuten, etwaige Veränderungen erst seit den 1990er-Jahren zu beobachten, auch wenn hier zweifellos die Debatten um die Vertreibung der Deutschen und den Bombenkrieg in den Städten, später auch über Vergewaltigungen deutscher Frauen an Fahrt aufnahmen. Gerade die Deutschen, die nicht in Städten gelebt hatten oder aus Mittel- und Ostdeutschland stammten, waren ja in der Tat lange Zeit in vielen Lebensbereichen kaum vom Krieg betroffen gewesen, wenn man einmal vom Bangen um Familienangehörige, die zur Wehrmacht eingezogen worden waren, oder gewissen Versorgungsengpässen absieht. Die Kriegswahrnehmung von Millionen Deutschen war somit ganz zwangsläufig eher von den dem Bombenkrieg und dem Kriegsende folgenden Vertreibungswellen aus den Osten geprägt. Mehr noch als die Sowjets, die zusammen mit den Westmächten diese Politik letztlich durchgesetzt hatten, fungierten in der Wahrnehmung Polen  – neben Tschechen, Rumänen und Jugoslawen  – oft als Täter. Aber auch diejenigen, die als politisch Verantwortliche nach 1945 für eine Umerziehung der Deutschen plädierten, wussten, dass sie auf die Mithilfe der deutschen Bevölkerung angewiesen waren. Schon der amerikanische Chefankläger in den Nürnberger Prozessen, Robert Jackson, hatte zwischen der verbrecherischen Clique um den Führer und der gut(gläubig)en deutschen Bevölkerung unterschieden. Selbst Täter und Profiteure des NS-Regimes scheuten sich nicht, für die Entnazifizierungsverfahren Persilscheine bei denjenigen zu erbitten, deren physische Vernichtung die nationalsozialistische Ideologie angestrebt hatte. Der jeder Sympathie für den Nationalsozialismus unverdächtige Bundeskanzler Adenauer machte einen Kommentator der Nürnberger Rassegesetze  – Hans Globke  – zu seinem engsten Mitarbeiter, der SPD-Vorsitzende und KZ-Überlebende Kurt Schumacher lehnte bei einem Treffen im Jahre 1951 jede Art von Kollektivschuld sogar in Bezug auf die SS ab.152 So nimmt es nicht Wunder, dass über die Situation im nun kommunistischen Polen lediglich mit Blick auf den „verlorenen Osten“ und die angebliche Unfähigkeit der neuen Machthaber berichtet wurde. Dies kontrastierte deutlich mit dem verbreiteten Wunsch unter den Vertriebenen, mehr aktuelle Informationen über ihre Heimat zu erhalten, Informationen freilich, bei denen die nun dort lebenden Polen oder Tschechen eher eine untergeordnete Rolle spielten. Nichtsdestotrotz begann sich durch die allmählich einsetzenden Reisen von Vertriebenen in ihre Herkunftsgebiete, die sogenannten Heimatreisen, 152 Eichmüller, Andreas: Die SS in der Bundesrepublik Deutschland. Debatten und Diskurse über ehemalige SS-Angehörige 1949–1985, Berlin 2018, S. 26.

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die fast unvermeidlich mit Kontakten zu den neuen Bewohnern verbunden waren, eine Art temporäres und meist äußerst instabiles Beziehungsgeflecht zu entwickeln. Es gab auch Fälle, in denen Deutsche und polnische Familien, die mittlerweile in ihren Häusern und Wohnungen lebten, länger anhaltende Verbindungen entwickelten. Häufiger waren aber Berichte über Vernachlässigung, Schmutz und Verfall, die das Stereotyp von der „polnischen Wirtschaft“ aufgriffen und verfestigten. Die parallel zur Heimatsehnsucht in der Bundesrepublik errichtete Erinnerungslandschaft verstärkte eher die Brücken in eine angenommene und somit konstruierte Vergangenheit.153 Dies begann sich erst in den 1960er-Jahren zu ändern, wozu häufig Journalisten beitrugen, die in die polnischen Westgebiete reisten und dabei die Folie der deutschen Kriegsverbrechen immer mitbedachten.154 Über die familiäre Erinnerung blieb in jedem Falle das Thema Flucht und Vertreibung oft bis zur Jahrhundertwende in Deutschland präsent, es verlor jedoch immer mehr seine politischen Implikationen. Die geräuschvollen Aktivitäten der Vertriebenenorganisationen überdeckten nicht nur ihren dramatischen Mitgliederschwund, sondern auch die Tatsache, dass ihnen nie eine Mehrheit der altostdeutschen Bevölkerung angehört hatte. Jenseits der Gedenktage und Großtreffen, an denen mit den Jahren immer weniger und immer ältere Teilnehmer der verlorenen Heimat gedachten, spielt dieser Teil der deutschen Geschichte seit den 1990er-Jahren im kommunikativen Gedächtnis kaum mehr eine Rolle. Die Überzeugung mancher, es habe eine Art politische Schweigespirale gegeben, sodass Flucht und Vertreibung tabuisiert worden seien, lässt sich für keine Phase der deutschen Nachkriegsgeschichte belegen. Was es freilich gab, war gerade in den Kreisen der Bevölkerung, die sich als links oder liberal verstanden, eine zunehmende peinliche Berührtheit, wenn das Thema angeschnitten wurde. In der übertriebenen Annäherung an realsozialistische Führungseliten im Ostblock wurden teilweise eigene biografische Wurzeln ausgeblendet und politisch ab den 1970er-Jahren völlig unbedeutende revisionistische Ansprüche einiger weniger Politiker unnötig aufgeblasen. Etwas anders sah es in der DDR aus. In der offiziellen staatlichen Politik spielte die deutsche Besatzung Polens als Teil der allgemeinen „faschistischen Okkupationspolitik“ von Anfang an eine große Rolle. Die DDR-Geschichtswissenschaft erwarb sich bei all ihrer ideologischen Vorprägung große Verdienste um die Erforschung und Darstellung der rassistischen und politischen 153 Scholz, Stephan / Röger, Maren / Niven, William John (Hrsg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn 2015. 154 Demshuk, Andrew: The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945–1970, Cambridge 2012, insbesondere S. 185–231; Felsch, Corinna: Reisen in die Vergangenheit? Westdeutsche Fahrten nach Polen 1970–1990, Berlin 2015.

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Grundlagen jener Politik. Teilweise wurden polnische Arbeiten übersetzt, teilweise eigene Bände verfasst und herausgegeben.155 Eine gewisse Wirkung auf den politisch interessierten Teil der Bevölkerung wurde damit durchaus erzielt. Gleiches gilt für die wenigen Filme, die etwa den Kriegsausbruch 1939 thematisierten, zum Beispiel die Rekonstruktion des Überfalls auf den Sender Gleiwitz nach einem Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase aus dem Jahr 1961. Allerdings stand in der Breite immer der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Mittelpunkt. Die Übernahme eigener Verantwortung für Krieg und Verbrechen sah man nicht, da die DDR, entsprechend der ideologischen Selbstverortung, nur die antifaschistischen Traditionen der deutschen Geschichte verkörperte.156 Etwaige Entschädigungs- oder Wiedergutmachungsleistungen waren damit jedenfalls ausgeschlossen, die Schicksale der aus den nun polnischen Gebieten in die SBZ/DDR gekommenen Flüchtlinge und Vertriebenen wurden tabuisiert. Zudem wurden entsprechend der Vorgaben aus Moskau polnische und jüdische Opfer nicht unterschieden, sondern alle als „Polen“ bezeichnet, was in Bezug auf die Staatsbürgerschaft zwar oft zutraf, aber nicht sichtbar machte, dass die Deutschen für die Juden die vollständige Vernichtung vorgesehen hatten. Nach 1989 veränderte sich unter den neuen demokratischen Verhältnissen die Wahrnehmung der Vergangenheit in Polen insgesamt. Davon war auch das Schicksal der Deutschen nach 1945 betroffen. Für etwa ein Jahrzehnt schien es so, als ob so etwas wie eine länderübergreifende gemeinsame Einschätzung des Themas Flucht und Vertreibung möglich werden würde. Polnische Zeitungen berichteten über Einzelschicksale, Wissenschaftler publizierten Akten und Sammelbände, die Rolle der deutschen Minderheit wurde sachlich dargestellt. Allerdings erreichte die Debatte kein breites Publikum, vielleicht weil sie nicht emotional geführt wurde, weder im Positiven noch im Negativen.157 Oft vergessen wird hierbei aber, dass etwa gleichzeitig im 155 Als Beispiele sei neben der späten Quellenedition zur Besatzung, die Werner Röhr 1989 verantwortete („Die faschistische Okkupationspolitik in Polen, 1939–1945“, Berlin 1989), die 1961 in Leipzig bei Felix-Heinrich Gentzen verteidigte Doktorarbeit von Eva Seeber zur „Verschleppung polnischer Bürger aus dem sogenannten Generalgouvernement nach Deutschland und ihre Ausbeutung in der faschistischen Kriegswirtschaft“ genannt. 156 Hammerstein, Katrin: Gemeinsame Vergangenheit  – getrennte Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich, Göttingen 2017. 157 Majewski, Piotr M.: Die Hauptakteure der neueren polnischen Debatten zum Thema Zwangsmigrationen, in: Das Thema Vertreibung und die deutsch-polnischen Beziehungen in Forschung, Unterricht und Politik, hrsg. von Thomas Strobel / Robert Maier, Hannover 2008, S. 49–59; Krzoska, Markus: Wypędzenie Niemców z Polski: debata publiczna w Polsce i najnowsze wyniki badań naukowych, in: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 56 (2001), Nr. 2, S. 191–212.

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regionalen Rahmen, insbesondere in den ehemals deutschen Gebieten, eine Beschäftigung mit der Vergangenheit fortgesetzt und intensiviert wurde, die schon in den 1980er-Jahren begonnen hatte. An vorderster Stelle zu nennen sind hier die Aktivitäten in Ermland und Masuren, die 1990  – als die rechtlichen Möglichkeiten dafür bestanden  – zur Gründung der Kulturgemeinschaft Borussia führten. An vielen Orten wurden aus Deutschland Kulturgüter wie Kirchenbücher, Glocken oder historische Quellen an die Herkunftsorte zurückgegeben, es entstanden die ersten Gedenksteine und Denkmäler, die an Opfer der Vertreibungen oder bekannte Persönlichkeiten der deutschen Zeit erinnerten. Mitunter waren es die Vertreter der Heimatkreise vertriebener Deutscher, die rasch erkannten, dass die Zukunft des von ihnen gesammelten Materials nur von den polnischen Bewohnern ihrer Herkunftsorte weiter gepflegt werden würde. Aus diesen Initiativen konnten auch Museen hervorgehen, etwa das in Międzyrzecz/Meseritz in der Woiwodschaft Lebus.158 Auch an die jüdische Vergangenheit einzelner Städte wurde nun verstärkt erinnert, beispielsweise in Breslau, wo nicht nur der traditionsreiche jüdische Friedhof revitalisiert wurde, sondern auch die in ihrer baulichen Substanz gefährdete Synagoge Zum Weißen Storch von 1829 wieder in alter Pracht erstand.159 Zur Aufarbeitung der viel beschworenen „weißen Flecken“ gehörte daneben die Geschichte der Lager in Polen nach 1945, wo neben Regimegegnern auch Teile der deutschen und ukrainischen Bevölkerung festgehalten wurden. Gewisse Kontinuitäten über das Kriegsende wurden ebenso thematisiert wie die Exzesse der Kommandanten in berüchtigten Lagern wie Potulice (Potulitz), Łambinowice (Lamsdorf) oder Świętochłowice (Schwientochlowitz). Im Unterschied zu Teilen der deutschen Diskussionen in Vertriebenenkreisen wurde hierbei allerdings auch nicht vergessen, dass an diesen Orten während des Krieges Polen und Russen untergebracht und misshandelt worden waren. Gerade in Oberschlesien, wo die nationalen Trennlinien oft nicht eindeutig waren, trugen die Debatten häufig zu einer Entemotionalisierung der Geschichte bei. Lokale und regionale Initiativen konnten es in Verbindung mit vertriebenen Deutschen nun häufig ermöglichen, dass an zerstörte Friedhöfe und Denkmäler oder auch gefallene Soldaten erinnert wurde, selbst wenn dabei mitunter heftige Debatten geführt wurden, an denen unter anderen die deutsche Minderheit beteiligt war. Teilweise wurden Denkmäler auch zerstört 158 Eröffnung der Ausstellung „Deutsche und andere Bewohner in Meseritz“ (Polen), in: rbb-Fernsehen, Brandenburg aktuell vom 24.2.2012; https://www.youtube.com/ watch?v=RB7vzbdgRaY (25.2.2021). 159 Łagiewski, Maciej: Breslauer Juden 1850–1945. Katalog zur Ausstellung, St. Augustin 1990; https://fbk.org.pl/de/synagoge-2/geschichte-der-synagoge/ (25.2.2021).

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oder beschmiert.160 Es gibt aber auch positive Gegenbeispiele. Im niederschlesischen Glogau beschloss der Stadtrat Ende 1999, das einstige Denkmal für den Reichspräsidenten Friedrich Ebert, das die Nazis umgewidmet und die Polen 1945 verständlicherweise nicht wiedererrichtet hatten, in ein Denkmal für die Opfer des Krieges zu verwandeln. Partner hierbei war die Organisation ehemaliger deutscher Bewohner der Stadt, der Glogauer Heimatbund. Die neue Inschrift gedenkt in polnischer und deutscher Sprache der „deutschen und polnischen Opfer von Krieg, Gewalt und Vertreibung“. Die Einweihung im Leśny-Park, einem ehemaligen evangelischen Friedhof der Stadt, erfolgte unter Beteiligung heutiger und früherer Bürger der Stadt im Mai 2000.161 Des Weiteren hatte auch die Belletristik für die neue Offenheit in Polen eine große Bedeutung. Was früher nur vereinzelt angedeutet worden war, wurde nun zum zentralen Thema wichtiger Romane wie Stefan Chwins »Hanemann«, Olga Tokarczuks »Taghaus, Nachthaus« oder Artur Liskowackis »Eine kleine …«.162 Trotz der raschen Übersetzung dieser Werke ins Deutsche wurden die polnischen Stimmen in Deutschland kaum wahrgenommen. Zwar waren im Kontext der deutschen Wiedervereinigung, der Zwei-plus-vierGespräche und der beiden Verträge mit Polen vereinzelt Fragen der Vergangenheit auch medial aufbereitet worden, letztlich blieb das Thema Flucht und Vertreibung aber den Resten der organisierten Milieus der einst Betroffenen vorbehalten. Es ist schwer, zu sagen, warum sich gegen Ende der 1990er-Jahre erneut ein deutsch-polnischer Konflikt entzündete, der in den Jahren nach 2003 einen Höhepunkt erreichte. Sicherlich hatte sich die deutsche Debatte allmählich verändert, die Rolle der eigenen Kriegsopfer wurde stärker als bisher thematisiert. Letztlich tauchten aber in erster Linie lange an den rechten Rand der Gesellschaft verdrängte Themen in ihrer Mitte auf, etwa wenn es um Bombenangriffe auf deutsche Städte, die Opfer der Roten Armee oder die Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ ging. Zu dieser Verschiebung trug vor allem die veränderte Medienlandschaft bei. Die „Erfindung“ des Zeitzeugen in Übernahme angloamerikanischer Infotainmentmodelle, wie sie besonders in den ZDF-Filmen zur deutschen Geschichte sichtbar wurden, war hier ebenso wesentlich wie die intellektuelle Debatte etwa über die Heraushebung deutscher Kriegsopfer in der Novelle »Im Krebsgang« von Günter Grass (2002) oder 160 Kosmala, Gerard: Konflikt o  pomniki żołnierzy niemieckich poległych podczas I i II wojny światowej rozgrywający się w województwie opolskim w latach 1992–2004, Wrocław 2007. 161 Schmidt-Häuer, Christian: Die Weisen von Glogau, in: Die Zeit Nr. 45 vom 30.10.2003. 162 Chwin, Stefan: Hanemann, Gdańsk 1995; deutsch: Tod in Danzig, Berlin 1997; Tokarczuk, Olga: Dom dzienny, dom nocny, Wałbrzych 1998; deutsch: Taghaus Nachthaus, Stuttgart 2001; Liskowacki, Artur Daniel: Eine kleine …, Szczecin 2000; deutsch: Sonate für S., München 2003.

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in Martin Walsers wegen ihres unterschwelligen Antisemitismus missglückter Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1998.163 Auch die neue (seit 1998) Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, hatte durch ihre medial verbreiteten scharfen Stellungnahmen, die sich nicht zuletzt gegen Polen und die Tschechische Republik richteten, ihren Anteil am Wiederaufflammen erinnerungspolitischer Diskussionen. Vielen Polinnen und Polen fehlte nicht nur deutsche Empathie für ihr Schicksal während des Krieges, sie erkannten insgesamt, dass das Wissen über und die Darstellung polnischen Leids in Deutschland nicht besonders tief verwurzelt war. Noch 15 Jahre später ist darauf hingewiesen worden, dass deutsche Schulbücher zwar die wichtigsten Fakten zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs enthalten, dass der Anteil von Materialien zum Schicksal der Polen dabei aber unterproportional ausfällt.164 Von einer grundsätzlichen Neuorientierung des deutschen Vergangenheitsdiskurses konnte allerdings keine Rede sein, sodass die Gründe für die allmähliche Schwerpunktverlagerung der polnischen Bewertung von Flucht und Vertreibung der Deutschen eher im innenpolitischen Spektrum Polens gesucht werden müssen. Die Angst vor einer grundsätzlichen Veränderung der deutschen Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg war dabei freilich real. Nur so wird verständlich, warum die nun folgende heftige Kontroverse um die museale Erinnerung an die Vertreibung lagerübergreifend geführt wurde und sich an ihr nicht nur nationalkonservative Hardliner beteiligten, sondern auch der linke Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski und der langjährige Außenminister Władysław Bartoszewski. Die Kontroverse konzentrierte sich jedenfalls auf das geplante Zentrum gegen Vertreibungen mit Sitz in Berlin, das Hauptprojekt der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, nach ihrem Amtsantritt 1998, auch wenn das Projekt erst einige Jahre später Fahrt aufnahm.165

163 Brumlik, Micha / Funke, Hajo / Rensmann, Lars: Umkämpftes Vergessen. Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik. Berlin 2000; Schirrmacher, Frank (Hrsg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999; Röger, Maren: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, Marburg 2011, insbes. S. 79–109. 164 Maier, Robert: Die Darstellung des Zweiten Weltkrieges im Schulbuch: Unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in Deutschland und in Polen, in: Lernen aus der Geschichte (2014), Nr. 7, http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/11914 (25.2.2021). 165 Łada, Agnieszka: Debata publiczna na temat powstanie Centrum przeciw Wypędzeniom w prasie polskiej i niemieckiej, Wrocław 2006.

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Im Sommer 2003 entwickelte sich zunächst eine heftige innerdeutsche Auseinandersetzung, die infolge eines Warschaubesuchs Steinbachs im September dann zu einer deutsch-polnischen wurde, nachdem es bis dahin kaum eine polnische Rezeption der Idee eines Vertreibungszentrums gegeben hatte. Da sich mediale Debatten im 21. Jahrhundert fast immer an vermeintlich Skandalösem entzünden, ist es nicht verwunderlich, dass es auch hier so kam. Das Wochenmagazin »Wprost«, das in der Vergangenheit immer wieder durch Bildmontagen aufgefallen war, zeigte Erika Steinbach als Domina in SS-Uniform, auf dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder reitend. Der dazugehörende Artikel mit dem Titel »Das deutsche trojanische Pferd« bezeichnete den Bund der Vertriebenen nicht nur als „Botschaft des Dritten Reichs“, sondern thematisierte in diesem Kontext die polnischen Entschädigungsforderungen an Deutschland wegen des Zweiten Weltkriegs.166 Dies war auch eine Konsequenz dessen, dass ab dem Jahre 2000 in Deutschland vonseiten der neu gegründeten Organisation Preußische Treuhand Ansprüche von privater Seite gegen Polen erhoben worden waren. Den Akteuren ging es dabei um die „Sicherung des Anspruchs bzw. Rückgabe des im Osten von den Vertreiberstaaten völkerrechtswidrig konfiszierten Eigentums“.167 Trotz halbherziger Dementis gab es dabei durchaus eine personelle Verbindungslinie zu den Landsmannschaften. Allerdings war und ist die gesellschaftliche Breitenwirkung dieses Vereins marginal. Vor allem das polnische Fernsehen beteiligte sich in der Folgezeit massiv und häufig einseitig an der Berichterstattung, was seine Wirkung in der Öffentlichkeit nicht verfehlte.168 Dabei wurden auch aus der Zeit der Volksrepublik Polen bekannte typische Topoi des Täter-Opfer-Diskurses wie der Revanchismusbegriff wieder aufgegriffen. Auch in den Jahren darauf blieb das geplante Zentrum gegen Vertreibungen eines der wichtigsten Themen des deutsch-polnischen Verflechtungsalltags. Dazu trugen zum einen die beiden deutschen Ausstellungsprojekte des Jahres 2006 bei, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema Vertreibung auseinandersetzten, zum anderen beschäftigten interne Querelen innerhalb der Gremien insbesondere die wissenschaftliche Welt. Vor allem die Berliner Ausstellung der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, die unter dem Titel »Erzwungene Wege« erstmals ein

166 Sieradzki, Sławomir (u.  a.): Niemiecki koń trojański, in: Wprost (2003), Nr. 38 vom 21.9., S.  16–20, https://www.wprost.pl/tygodnik/49330/Niemiecki-kon-trojanski.html (14.10.2019). 167 http://www.preussische-treuhand.org/de/PVerwirklichung.html (14.10.2019). 168 Umfassend Röger, Maren: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, Marburg 2011, insbes. S. 110–140.

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Konzept des zu errichtenden musealen Erinnerungsortes der Öffentlichkeit vorstellte, stieß dabei in Deutschland und Polen auf heftige Kritik.169 Nicht immer ist bei solchen von Polen ausgehenden politischen Kampagnen ganz klar, ob es sich um tatsächliche oder inszenierte Betroffenheit handelt. In jedem Falle bleiben der Zweite Weltkrieg und seine Folgen im Mittelpunkt der geschichtsbezogenen Wahrnehmung der polnischen Öffentlichkeit. Dies galt auch für die heftigen polnischen Reaktionen auf die international preisgekrönte ZDF-Serie »Unsere Mütter, unsere Väter« aus dem Jahre 2013. Die Serie, die die Schicksale von fünf jungen Deutschen während des Krieges im Osten nachzeichnet, geht am Rande auch auf das polnisch-jüdische Verhältnis jener Jahre ein.170 Während aber etwa das durchaus problematische Russlandbild der Serie kaum erwähnt wurde, entzündete sich besonders an einer Szene, die den feindseligen Umgang des polnischen Untergrunds mit jüdischen KZ-Häftlingen zeigen soll, ein hochemotionaler Streit. Vor dem Hintergrund der Debatte um den Judenmord von Jedwabne und der diesbezüglichen Veröffentlichungen des polnisch-amerikanischen Soziologen Jan Tomasz Gross warfen Kritiker den deutschen Produzenten eine Verfälschung der historischen Realität vor. Obwohl die Darstellung der Polen in diesen Filmen tatsächlich holzschnittartig war, ließe sich Ähnliches sicher auch über die gezeigten Deutschen sagen. Auch die jüdisch markierte Hauptfigur erscheint angesichts der historischen Begebenheiten eher unglaubwürdig. In gewisser Weise stehen die beanstandeten Szenen aber dann doch vor allem für ein verzerrtes deutsches Polenbild, das nicht von allzu großem Hintergrundwissen der hinzugezogenen Experten geradegerückt wird.171 Immerhin erklärte sich das ZDF bereit, eine historische Dokumentation nachzuschieben, in der der Regisseur Andrzej Klamt die Geschichte des polnischen Widerstands gegen die deutsche Besatzung thematisierte.172 Während in diesem Fall den Akteuren eine gewisse Betroffenheit zugestanden werden kann, ist dies im Falle der medial inszenierten Debatte um 169 Als Überblick Schmidt, Ute: Vermintes Gelände. Drei Ausstellungen zu Flucht und Vertreibung in Berlin, in: Zeitschrift des Forschungsverbunds SED-Staat (2006), Nr. 20, S. 162–172. Zu den Kontroversen über ein „sichtbares Zeichen“ der Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen siehe Regente, Vincente: Flucht und Vertreibung in europäischen Museen, Bielefeld 2020, S. 369–410. 170 Benkert, Volker: „Unsere Mütter, unsere Väter“. Apologie und Erlösung von der Vergangenheit im Fernsehkrieg, in: „So war der deutsche Landser“. Das populäre Bild der Wehrmacht, hrsg. von Jens Westemeier, Paderborn 2019, S. 155–168. 171 Wieliński, Bartosz: Kto wytłumaczy Niemcom, że AK to nie SS, in: Gazeta Wyborcza vom 23.3.2013; Herbert, Ulrich: „Unsere Mütter, unsere Väter”. Nazis sind immer die anderen, in: taz vom 21.3.2013; Schuller, Konrad: Sie schonen sich nicht. Polen debattiert „Unsere Mütter, unsere Väter“, in: FAZ vom 23.6.2013. 172 https://halbtotalfilm.de/kampf-ums-ueberleben/ (14.10.2019).

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die Verwendung des Begriffs „polnische Konzentrationslager“ wohl eher nicht der Fall. Die seit etwa 2008 verfolgte Strategie polnischer staatlicher Stellen, gegen Verwender dieser Bezeichnung nicht nur publizistisch, sondern auch juristisch vorzugehen  – seit 2018 sogar im Rahmen eines neu erlassenen Gesetzes –, richtet sich nicht gegen etwaige Verfälscher der Geschichte.173 Vielmehr ist es die Gedankenlosigkeit der Urheber, die zu derartig missverständlichen Formulierungen führte. An diesem Beispiel wird zudem deutlich, wie eine zunächst völlig randständige Debatte, die ab den 1990er-Jahren geführt wurde, mittels Instrumentalisierung interessierter nationalkonservativer Kreise allmählich zu einem medialen Schwerpunkt der deutsch-polnischen Diskus­ sionen werden konnte. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg  – und damit auch an die Rolle der Deutschen  – veränderte sich in den über achtzig Jahren seit Kriegsende fortwährend. Diese spezielle, und wohl ganz überwiegend die polnische Wahrnehmung von Deutschland prägende Verflechtung, ließe sich problemlos für alle Felder von Politik und Gesellschaft nachzeichnen. Die generationenübergreifende Bezeichnung der Deutschen als Täter und der Vorwurf, diese wollten sich mehr und mehr von ihren Verbrechen reinwaschen, stehen in deutlichem Gegensatz zur deutschen Selbstwahrnehmung, der zufolge man wie kein anderes Volk die eigenen Taten während des Krieges erinnert und aufgearbeitet habe.174 Gerade im kulturellen Sektor wurde aber von polnischer Seite die Täter-Opfer-Konstellation im Grunde auf 1000 Jahre gemeinsamer Geschichte ausgedehnt. Dabei handelt es sich um eine Traditionslinie, die bereits im 19. Jahrhundert entwickelt wurde und in den Werken von Henryk Sienkiewicz, aber auch populären, zu politischen Absichten kreierten Legenden von der Vergangenheit breiten Niederschlag fand. Nach 1945 wurde unter (national)kommunistischen Vorzeichen dieses Modell aufgegriffen und weiterentwickelt. Allerdings konnten bei genauerer Betrachtung selbst vermeintlich eindeutige Stellungnahmen eine komplexere Struktur erkennen lassen. Der polnische Jude und Kommunist Aleksander Ford drehte 1960 im Auftrag der PVAP mit modernster westlicher Technik und unter Ausnutzung erheblicher Ressourcen den Jubiläumsfilm zum 550. Jahrestag der Schlacht bei Tannenberg. In den »Kreuzrittern« (»Krzyżacy«) fällt das traditionelle Bild von den deutschen Aggressoren (des Deutschen Ordens) mit der wehrhaften Kraft der 173 https://www.deutschlandfunk.de/reaktion-auf-kritik-polen-entschaerft-holocaust-gesetz.1773.de.html?dram:article_id=421459 (27.2.2021). 174 Czachur, Waldemar / Loew, Peter Oliver / Łada, Agnieszka: Das Dynamische (Un-) Gleichgewicht. Wie die Deutschen und Polen miteinander und übereinander kommunizieren, Darmstadt / Warschau 2020, https://www.deutsches-polen-institut.de/publikationen/einzelveroeffentlichungen/das-dynamische-un-gleichgewicht/ (25.2.2021).

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polnischen Kämpfer zusammen. Ford wollte ganz bewusst Prozesse zeigen, die „unter anderen historischen Bedingungen und in einer anderen Szenerie ihre Fortsetzung finden“.175 Der gleiche Regisseur war nur acht Jahre später infolge der antisemitischen Kampagne der Parteiführung gezwungen, Polen zu verlassen, und lebte zeitweise auch in Westdeutschland, wo er unter anderem Regie in einem von dem in Lodz geborenen Artur Brauner produzierten  – von der Öffentlichkeit kaum beachteten  – deutsch-israelischen Spielfilm über Janusz Korczak führte.176 Noch deutlicher sind die veränderte Darstellung beziehungsweise die unterschiedliche staatliche Geschichtspolitik in musealen Präsentationen der nationalen Zeitgeschichte im Allgemeinen und des Zweiten Weltkriegs im Besonderen. Hier rückten die maßgeblichen Akteure im Laufe der Jahrzehnte nach und nach vom zunächst dominierenden Bild von den Deutschen als einzigen Gegnern und den Kommunisten als einzigen Widerstandskämpfern ab. Dies erfolgte in Bezug auf die Rolle der Heimatarmee und der polnischen Soldaten im Westen schleppend, in Bezug auf den sowjetischen Überfall und das Trauma von Katyn, also die Ermordung Tausender polnischer Soldaten durch den NKWD, selbstverständlich erst nach 1989. Im Laufe der letzten 30 Jahre wiederum ist eine klare Verschiebung der Schwerpunkte hin zu vermeintlich oder tatsächlich tabuisierten Elementen der Weltkriegsgeschichte zu erkennen. Die polnischen Opfer im Osten sowie der Kampf gegen den Kommunismus nach 1945 rückten in den Vordergrund. Im neuen Heldenpantheon des Zweiten Weltkriegs und der Jahre danach fanden nun auch nationalistische Teile des Widerstands bis hin zu faschistischen Organisationen wie der Heiligkreuz-Brigade (Brygada Świętokrzyska) Platz, die zeitweise mit den Deutschen zusammenarbeitete.177 Die „verfemten Soldaten“, die im Untergrund nach 1945 gegen die Kommunisten weiterkämpften, begannen das zeithistorische Narrativ zu dominieren.178 Eine entscheidende Rolle in diesen Neupositionierungen spielte und spielt das Institut für Nationales Gedächtnis (IPN), das direkt von den jeweiligen 175 Nastulanka, Krystyna: Widz jest panem … Rozmowa z Aleksandrem Fordem, in: Polityka 4 (1960), Nr. 28 (175), 9.7.1960, S. 2, zitiert nach Jockheck, Lars: Ein Nationalmythos in „Eastman Color“. Die Schlacht bei Tannenberg 1410 im polnischen Monumentalfilm »Krzyżacy« von Aleksander Ford, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 51 (2002) 2, S. 216–252, hier S. 236. 176 Haltof, Marek: Polish Film and the Holocaust: Politics and Memory, New York / Oxford 2012. 177 Wnuk, Rafał: Brygada Świętokrzyska. Zakłamana legenda, in: Gazeta Wyborcza. Ale Historia vom 25.1.2016. 178 Kończal, Kornelia: The Invention of the “Cursed Soldiers” and Its Opponents: Post-war Partisan Struggle in Contemporary Poland, in: East European Politics and Societies and Cultures, DOI: 10.1177/0888325419865332

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Regierungen gesteuert wird. Selbstverständlich fand all dies auch seinen Niederschlag im Museumswesen.179 Stellvertretend lassen sich hierzu die Entstehungsgeschichten dreier Museen präsentieren: des Museums des Warschauer Aufstands und des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau sowie des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Die deutsch-polnischen Konfliktgeschichten des 20. Jahrhunderts werden hier höchst unterschiedlich dargestellt. Das von konservativen Kreisen in nationalpolnischer Diktion geplante Aufstandsmuseum im Stile von reenactment-Szenarien zielt darauf ab, die Distanz zwischen Thema und Besucher zu verringern und Letzteren nicht nur in einem bestimmten Sinne zu informieren, sondern auch zu emotionalisieren. Dabei erscheinen die Aufständischen als Helden, die in der Tradition der Mythen des 19. Jahrhunderts allein gegen den Rest der Welt kämpfen. Die lange Zeit von Teilen der ehemaligen Mitwirkenden und der historischen Forschung ebenso prominent vertretene These vom Aufstand als einer Katastrophe der polnischen Nation, die den Kommunisten letztlich die Machtübernahme erleichterte, kommt in diesem Museum nur am Rande vor.180 In dem seit den 1990er-Jahren geplanten Polin-Museum im einstigen Warschauer Ghetto wiederum geht es in erster Linie darum, die jüdische Geschichte als Teil der polnischen zu präsentieren und zugleich eine Erzählung allein vom Holocaust her zu verhindern. Vielmehr soll das Leben der Juden in Polen vom Mittelalter bis zur Gegenwart gezeigt werden.181 Für das 20. Jahrhundert bilden Egodokumente die zentrale Darstellungskategorie, allerdings weniger in der Form postumer Zeitzeugenberichte. Die von Verfolgung und Holocaust betroffenen Juden sollen nicht wie anderswo durch großflächige bildliche Darstellungen gewissermaßen erneut zum Opfer gemacht werden. Auch deshalb treten multimediale Präsentationen hierbei in den Hintergrund. Das vom liberalen Milieu forcierte Danziger Weltkriegsmuseum setzte dagegen auf die Einbettung des polnischen Schlachtfelds in einen breiten internationalen Rahmen.182 Dabei soll sich der Besucher auf der Grundlage vielfältiger Informationen selbst ein Bild von den Geschehnissen machen. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr militärische Ereignisse und Widerstandsaktivitäten, sondern der Alltag der Menschen, die den Krieg erlebt haben. Dabei erscheint 179 Als allgemeiner Überblick: Korzeniewski, Bartosz: Das veränderte Bild des Zweiten Weltkriegs in polnischen Museen nach 1989, in: Der Zweite Weltkrieg im polnischen und deutschen kulturellen Gedächtnis, hrsg. von Jerzy Kałążny / Amelia Korzeniewska / Bartosz Korzeniewski, Frankfurt am Main 2016, S. 107–142. 180 Heinemann, Monika: Krieg und Kriegserinnerung im Museum, Göttingen 2017, S. 375– 402. 181 Kirshenblatt-Gimblett, Barbara / Polonsky, Antony (Hrsg.), Polin: 1000 lat historii Żydów polskich, Warszawa 2014. 182 Machcewicz, Paweł: Der umkämpfte Krieg, Wiesbaden 2018.

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auch die polnische Gesellschaft jener Jahre nicht mehr als monolithischer Block, sondern als Ansammlung von sich oftmals widersprechenden temporären Einzelinteressen. Die Täter-Opfer-Zweiteilung wird so nicht mehr aufrechterhalten, wenngleich die Verantwortung Deutschlands und später der Sowjetunion ganz klar herausgestellt wird. Gerade hier zeigte sich aber, dass eine solche Darstellung nicht dem nationalistischen Geschichtsbild der PiS-Regierung entspricht, die danach trachtet, durch personelle Maßnahmen wie den Austausch von Museumsdirektoren oder mitunter durchaus subtile Schwerpunktsetzungen einerseits pluralistische, komplexe Vorstellungen von Geschichte an den Rand zu drängen und andererseits gleichzeitig den Gedanken vom heldenhaften Agieren der Polen  – sei es in den Schlachten des Krieges oder im Umgang mit verfolgten Juden  – in der Mitte der Gesellschaft zu platzieren. Die Idee, das Museum mit einer neuen, den militärischen Widerstand betonenden Gedenkstätte auf der Westerplatte zusammenzulegen, passt in dieses Bild unmittelbar, auch wenn in Zukunft nicht damit zu rechnen ist, dass der Warschauer Aufstand, der in den letzten 25 Jahren zum Hauptnarrativ der offiziellen Geschichtspolitik geworden ist, diese Rolle als zentraler Bezugspunkt der polnischen Weltkriegserinnerung zugunsten der früheren Betonung des 1. Septembers 1939 wieder verlieren wird. Das Feld der Erinnerung und des Gedenkens scheint in einem angenommenen deutsch-polnisch-jüdischen Dreieck desto mehr Raum einzunehmen, je weiter sich die Ereignisse selbst entfernt haben. Es leben nur noch wenige Menschen, die den Zweiten Weltkrieg bewusst miterlebt haben. Experten diskutieren seit Jahren intensiv darüber, wie man das Wissen über den Holocaust am besten an die nächsten Generationen weitergeben kann. Das deutsch-polnische Verhältnis kam nach 1945 im Konkreten ohne die ermordeten, geflohenen, vertriebenen oder emigrierten Juden aus, sie blieben jedoch sowohl in den symbolhaften Aktivitäten als auch im Unterbewusstsein der meisten Menschen in beiden Ländern präsent  – und nicht nur dort. Nachkommen oder Verwandte deutscher und polnischer Juden leben über die ganze Welt verstreut. Ihnen sind bestimmte Teile der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben. Das Verdrängte ließ sich nicht auf Dauer unter der Oberfläche halten. Nicht nur die Mörder waren unter uns, sondern auch die Profiteure und Zuschauer. Hiervon sind auf eine zutiefst ungerechte Weise Deutsche und Polen ähnlich betroffen. Aus verständlichen Gründen waren nur wenige polnische Juden nach Deutschland gekommen, um zu bleiben. Als die unmittelbare Nachkriegszeit zu Ende war, gab es auch in Polen selbst nur noch wenige von ihnen. Die meisten davon waren assimiliert, nicht selten überzeugte Kommunisten geworden. Sie mussten 1968 erfahren, dass sie von einem Teil der Gesellschaft als nicht so polnisch akzeptiert wurden, wie sie dachten. Viele wurden ihrer Arbeitsplätze beraubt und aus dem Land

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getrieben. Auch die im Land der Täter lebenden deutschen Juden waren auf Schritt und Tritt mit Antisemitismus und dem Erbe der Vergangenheit konfrontiert. Anfeindungen von rechts, teilweise aber auch von links, gehörten und gehören bis heute zu ihrem Alltag. Auch wenn der polnische Antisemitismus viel stärker als der deutsche nach wie vor eine religiöse Komponente enthält und sich seltener in physischen Angriffen äußert, so ist sein konkretes Erbe, das aus den Erfahrungen des Krieges herrührt, ebenfalls nach wie vor sichtbar, etwa wenn es um ehemaliges jüdisches Eigentum oder um staatliche Versuche geht, kritische wissenschaftliche Forschung juristisch wie politisch zu unterbinden. Es trifft sicherlich zu, dass vor dem Hintergrund der unauslöschlichen deutschen Schuld gegenüber den Juden Europas die Wahrnehmung der polnischen Leiden während des Zweiten Weltkriegs von Anfang an im Schatten stand. Die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten trug ebenfalls dazu bei, dass die ihr zugrunde liegenden deutschen Verbrechen im besetzten Polen lange Zeit zu wenig beachtet wurden. Dies hat sich allerdings in den letzten Jahren zu ändern begonnen. Im Grunde gibt es die Opferkonkurrenz zwischen Juden und Polen nicht mehr, die etwa auch die westdeutsche Außenpolitik lange Zeit geprägt hatte. Das bedeutet nicht, dass alle Probleme gelöst und politische Instrumentalisierungen ein für alle Mal verschwunden wären. Aber das Bewusstsein, dass die Polen  – neben den Tschechen  – zu den ersten Opfern der nationalsozialistischen Politik außerhalb Deutschlands gehört haben, ist in der Gesellschaft mittlerweile doch deutlich weiter verbreitet als noch vor 25 Jahren. Dieser besonderen Verantwortung müssen sich die nächsten Generationen immer wieder aufs Neue versichern und neue Formen hierfür finden. Die Einbeziehung des jüdischen Themas in eine deutsch-polnische Beziehungsgeschichte ist dafür unbedingt erforderlich, es sollte aber nicht ohne Rücksicht auf die jeweiligen konkreten historischen Prozesse oder zwanghaft erfolgen.

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Personenregister Abakanowicz, Magdalena (1930–2017)  17 Abusch, Alexander (1902–1982)  32, 44 Ackermann, Anton (1905–1973)  31 Adenauer, Konrad (1876–1967)  11, 84–88, 99, 101, 191, 239 Adorno, Theodor W. (1903–1969)  200 Albertz, Heinrich (1915–1993)  130 Albrecht, Ernst (1930–2014)  110 Altmann, Rüdiger (1922–2000)  206 Amerongen, Otto Wolff von (1918– 2007) 112 Anderson, Sheldon (*1951)  38 Andrzejewski, Jerzy (1909–1983)  46, 61, 89, 194, 198, 199 Apitz, Bruno (1900–1979)  55 Arendt, Hannah (1906–1975)  201 Arnim-Wiepersdorf, Oskar von (1900– 1969) 166 Arnold, Fritz (1916–1999)  210 Axer, Erwin (1917–2001)  47 Bachmann, Klaus (*1963)  17, 159 Bahr, Egon (1922–2015)  99, 171, 172 Bahro, Rudolf (1935–1997)  130 Baier, Horst (1933–2017)  200 Baird, Tadeusz (1928–1981)  91, 180 Balcerowicz, Leszek (*1947)  150 Bartoszewski, Władysław (1922–2015)  244 Barzel, Rainer (1924–2006)  109 Becher, Johannes (1891–1958)  31, 47 Beck, Rolf (*1945)  181 Beckenbauer, Franz (*1945)  125 Becker, Jurek (1937–1997)  55 Beckett, Samuel (1906–1989)  208 Beitz, Berthold (1913–2013), 87, 88, 114 Bender, Erich F. (1909–1983)  184 Bender, Peter (1923–2008), 37, 38, 202, 207 Benedikt XVI. (*1927)  117 Benn, Gottfried (1886–1956)  177 Berendt, Joachim-Ernst (1922–2000)  182 Bereska, Henryk (1926–2005)  46, 55 Beunders, Henri (*1953)  196 Beuys, Joseph (1921–1986)  128 Bialik, Włodzimierz (*1949)  62 Biermann, Wolf (*1936)  55, 194 Bierut, Bolesław (1892–1956)  25, 42, 167 Bingen, Dieter (*1952)  148

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Birkenfeld, Günther (1901–1966)  198 Birnbaum, Immanuel (1894–1982)  201 Bismarck, Klaus von (1912–1997)  72 Blachnicki, Franciszek (1921–1987)  134 Bloch, Ernst (1885–1977)  43, 45 Bloch, Karola (1905–1994)  45 Błoński, Jan (1931–2009)  231 Bobrowski, Johannes (1917–1965)  49, 55 Bocheński, Jacek (*1926)  45 Bock, Franz-Heinrich (1901–1964)  236 Bohley, Bärbel (1945–2010)  57 Bolesław I. Chrobry (Boleslaus der Tapfere, 967–1025) 35 Bolesław III Krzywousty (Boleslaus Schiefmund, 1086–1138)  28 Böll, Heinrich (1917–1985)  90, 130, 191– 194, 203 Borowczyk, Walerian (1923–2006)  184 Borowski, Tadeusz (1922–1951)  46–48, 199 Bosch, Robert (1861–1942)  185–186 Böx, Heinrich (1905–2004)  93 Brandt, Willy (1913–1992)  11, 15, 50, 88, 96, 99–101, 104–109, 115, 205, 218, 234 Brandys, Kazimierz (1916–2000)  45, 89, 173, 198, 199 Bratny, Roman (1921–2017)  198 Braun, Volker (*1939)  55 Brauner, Artur (1918–2019)  91, 183 Brecht, Bertolt (1898–1956)  45, 46, 49, 55, 176 Bredel, Willi (1901–1964)  32, 49, 79 Brentano, Heinrich von (1904–1964)  84–86 Breschnew, Leonid (1906–1982)  58 Brinkmann, Rolf Dieter (1940–1975)  92 Brońska-Pampuch, Wanda (1911–1972)  198, 200–202 Brubeck, Dave (1920–2012)  182 Brudziński, Wiesław (1920–1996)  173 Bruyn, Günter de (1926–2020)  56 Brycht, Andrzej (1935–1998)  54 Bryll, Ernest (*1935)  55 Buddensieg, Hermann (1893–1976)  115, 169–172 Bujak, Zbigniew (*1954)  129 Bulgakow, Michail (1891–1940)  214 Bunsch, Karol (1898–1987)  28, 29

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Personenregister

Camus, Albert (1913–1960)  189 Canetti, Elias (1905–1994)  194, 203 Celan, Paul (1920–1970)  177 Chruschtschow, Nikita (1894–1971)  42, 86 Chwin, Stefan (*1949)  225, 243 Cibulka, Hanns (1920–2004)  55 Cieślewicz, Roman (1930–1996)  179 Cohn-Bendit, Daniel (*1945)  101, 102 Conover, Willis (1920–1996)  182 Conze, Werner (1910–1986)  224 Cybulski, Zbigniew (1927–1967)  184 Cyrankiewicz, Józef (1911–1989)  24, 25, 42, 87, 88, 108 Cyrus, Josef (*1947)  120, 121 Czapski, Józef (1896–1993)  82, 198 Czechowska-Antoniewska, Wiktoria (*1929) 218 Czechowski, Heinz (1935–2009)  60 Czepuck, Harri(bald) (1927–2015)  78 Dąbrowska, Maria (1889–1965)  46, 199 Dauzenroth, Erich (1931–2004)  114 David, Kurt (1924–1994)  55 Dean, James (1931–1955)  184 Dedecius, Karl (1921–2016)  80, 89, 119, 158, 173, 174, 176, 185, 192, 199, 203, 204, 206, 208, 209 Dejmek, Kazimierz (1924–2002)  103 Derrida, Jacques (1930–2004)  217 Deyna, Kazimierz (1947–1989)  125 Dirks, Walter (1901–1991)  72, 98 DJ Tomekk (*1975)  143 Dobraczyński, Jan (1910–1994)  80 Döpfner, Julius (1913–1976)  98, 115, 116 Droysen, Johann Gustav (1808–1884)  213 Dubček, Alexander (1921–1992)  101 Duda, Andrzej (*1972)  160 Dürrenmatt, Friedrich (1921–1990)  189, 194 Dutschke, Alfred Willi Rudi (1940– 1979) 102 Dutschke-Klotz, Gretchen (*1942)  102 Dygat, Stanisław (1914–1978)  47 Ebert, Friedrich (1871–1925)  187, 243 Eckert, Georg (1912–1974)  118 Eliot, T.S. (1888–1965)  197 Erb, Gottfried (1931–2019)  114 Fassbinder, Rainer Werner (1945–1982)  183 Fechner, Max (1892–1973)  34 Fehr, Götz (1918–1982)  174 Ferres, Veronika (*1965)  142 Feuchtwanger, Lion (1884–1958)  79, 176 Fieguth, Rolf (*1941)  210 Filipowicz, Kornel (1913–1990)  46, 61

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Ford, Aleksander (1908–1980)  91, 183, 247, 248 Forster, Mark (*1983)  143 Frank, Hans (1900–1946)  236 Freud, Sigmund (1856–1939)  191 Freund, Joki (1926–2012)  182 Frisch, Max (1911–1991)  120, 189, 194, 208 Fühmann, Franz (1922–1984)  49, 55, 60 Fuchs, Jürgen (1950–1999)  130 Fuchs, Maximilian (1898–1974)  78 Fürnberg, Louis (1909–1957)  168, 169 Gawlina, Józef (1892–1964)  73 Genscher, Hans-Dietrich (1927–2016)  127 Gentzen, Felix-Heinrich (1914–1969)  241 Gerlach, Hellmut von (1866–1935)  80, 81, 89, 113, 166–168 Giedroyc, Jerzy (1906–2000)  82 Gierek, Edward (1913–2001)  50, 58, 111, 127 Gliński, Robert (*1952)  184 Globke, Hans (1898–1973)  239 Goethe, Johann Wolfgang von (1749– 1832)  117, 119, 169, 174, 176, 187, 188, 200 Gombrowicz, Witold (1904–1969)  90, 133, 210 Gomułka, Władysław (1905–1982)  24, 42, 47, 49, 83, 85, 91, 104, 107, 111, 167 Górski, Kazimierz (1921–2006)  126 Grass, Günter (1929–2015)  108, 176, 183, 193–195, 203, Greene, Graham (1904–1991)  194 Grimm (Brüder)  79 Gross, Jan Tomasz (*1947)  246 Grotewohl, Otto (1894–1964)  34, 39, 166 Habermas, Jürgen (*1929)  200, 202 Hacks, Peter (1928–2003)  55 Hallstein, Walter (1901–1982)  84, 85, 99, 173, 232 Hampe, Johann Christoph (1913–1990)  72 Harich, Wolfgang (1923–1995)  43–45 Hartung, Rudolf (1914–1985)  205, 206 Heiduczek, Werner (1926–2019)  62 Heigert, Hans (1925–2007)  98 Hein, Christoph (*1944)  62 Heinrich II. (Kaiser) (973–1024)  35 Heinrich V. (Kaiser) (1081–1125)  29 Heinemann, Gustav (1899–1976)  85, 104, 105 Heisenberg, Werner (1901–1976)  93 Helfrich, Carl (1906–1960)  166 Hentig, Hartmut von (*1925)  236 Herbert, Katarzyna (*1929)  199, 200 Herbert, Zbigniew (1924–1998)  55, 90, 173, 176, 199, 200, 204, 207, 209 Herder, Johann Gottfried (1744–1803)  209

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Personenregister

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Jackson, Robert H. (1892–1954)  239 Janka, Walter (1914–1994)  43, 44 Janke, Jutta (1932–2004)  47, 60, 61 Jaruzelski, Wojciech (1926–2014)  59, 61, 128,129, 194 Jasnorzewska-Pawlikowska, Maria (1891– 1945) 55 Jaspers, Karl (1883–1969)  197 Jastrun, Mieczysław (1903–1983)  47, 48 Jędrychowski, Stefan (1910–1996)  105, 108 Johannes Paul I. (1912–1978)  117 Johannes Paul II. (Karol Wojtyła) (1920– 2005)  117, 237 John, Otto (1909–1997)  77 Joho, Wolfgang (1908–1991)  48 Joskowicz, Pinchas (1924–2010)  231 Just, Gustav (1921–2011)  45

Kerski, Basil (*1969)  149 Ketteler, Emmanuel (1811–1877)  117 Kiesinger, Kurt Georg (1904–1988)  100, 101, 105 Kieślowski, Krzysztof (1941–1996)  17, 184 Kilar, Wojciech (1932–2013)  180 Kirsch, Sarah (1935–2013)  55, 194 Kirst, Hans-Hellmut (1914–1989)  193 Kiszczak, Czesław (1925–2015)  129 Klamt, Andrzej (*1964)  246 Klose, Miroslav (*1978)  143 Knuth, Maria (1908–1954)  77 Koch, Erich (1896–1986)  67 Kogon, Eugen (1903–1987)  72 Kohl, Helmut (1930–2017)  63, 64, 110, 134, 145–147 Kohlhaase, Wolfgang (*1931)  241 Kołakowski, Leszek (1927–2009)  45, 199– 204, 206 Kolbe, Maksymilian (1894–1941)  234, 236, 237 Komeda, Krzysztof (1931–1969)  182 Kominek, Bolesław (1903–1974)  97, 116 Korczak, Janusz (1878/79–1942)  114, 183, 236 Koselleck, Reinhart (1923–2006)  227 Kotoński, Włodzimierz (1925–2014)  180 Kowalewski, Jerzy 48 Kozioł, Urszula (*1931)  55 Krall, Hanna (*1935)  207 Krannhals, Detlef Hanns (von) (1911– 1970) 222 Kraszewski, Józef Ignacy (1812–1887)  197 Krenz, Egon (*1937)  63 Kristoffersen, Erwin (*1932)  129 Królikiewicz, Grzegorz (1939–2017)  184 Kroński, Tadeusz (1907–1958)  45 Krońska, Irena (1915–1974)  204 Kruczkowski, Leon (1900–1962)  47, 80 Krupp (Familie)  87, 88, 114, 178 Kuczok, Wojciech (*1972)  212 Kunert, Günter (1929–2019)  49, 55 Kunze, Reiner (*1933)  51, 55 Kurecka, Maria (1920–1989)  203–205 Kurella, Alfred (1895–1975)  31, 44 Kuroń, Jacek (1934–2004)  101–103, 194 Kwaśniewski, Aleksander (*1954)  244

Kaczyński, Lech (1949–2010)  235 Kant, Hermann (1926–2016)  49, 55, 60, 62 Karski, Jan (1914–2000)  218 Karst, Roman (1911–1988)  45 Kawalerowicz, Jerzy (1922–2007)  184 Keel, Daniel (1930–2011)  210 Kennedy, John F. (1917–1963)  99

Lachmann, Peter (*1935)  201 Lafontaine, Oskar (*1943)  64 Lanzmann, Claude (1925–2018)  231 Lato, Grzegorz (*1950)  126 Leber, Georg (1920–2012)  129 Lec, Stanisław Jerzy (1909–1966)  9, 45, 90, 192, 199, 210

Herder, Karoline (1750–1809)  209 Herling-Grudziński, Gustaw (1919– 2000) 198 Hermlin, Stefan (1915–1997)  169 Herrnstadt, Rudolf (1903–1966)  31 Herzog, Roman (1934–2017)  238 Herzog, Werner (*1942)  183 Heuss, Theodor (1884–1963)  86 Hexel, Ruth 41, 42 Heym, Stefan (1913–2001)  45 Heymann, Stefan (1896–1967)  42 Hirsch, Ralf (*1960)  57 Hitler, Adolf (1889–1945)  25, 31, 39, 41 Hłasko, Marek (1934–1969)  47, 91, 92, 198 Hochhuth, Rolf (1931–2020)  237 Hohenstein, Alexander s. Bock, FranzHeinrich Holland, Agnieszka (*1948)  17, 183 Honecker, Erich (1912–1994)  51, 58, 59, 62, 63, 128, 136 Honnefelder, Gottfried (*1946)  209 Honsza, Norbert (1933–2020)  194 Hrynkiewicz, Janusz (1924–1988)  111 Husserl, Edmund (1859–1938)  116 Iredyński, Ireneusz (1939–1985)  199 Irek, Małgorzata 138 Iwaszkiewicz, Jarosław (1894–1980)  47, 108, 199

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Personenregister

Lechoń, Jan (1899–1956)  55 Lem, Stanisław (1921–2006)  61 Lempp, Albrecht (1953–2012)  158 Lenica, Jan (1928–2001)  179, 184 Lenin, Wladimir Iljitsch (1870–1924)  102 Lenz, Günter (*1938)  182 Lenz, Siegfried (1926–2014)  192–193 Leśmian, Bolesław (1877–1937)  218 Lévi-Strauss, Claude (1908–2009)  213 Lichtenberg, Bernhard (1875–1943)  237 Liskowacki, Artur Daniel (*1956)  243 Löbe, Paul (1875–1967)  15 Löwenthal, Richard (1908–1991)  102 Lubowiecki, Edward (1902–1975)  73 Lukács, György (1885–1971)  43, 102 Lukaschek, Hans (1885–1960)  16 Lustiger, Arno (1924–2012)  135 Lutosławski, Witold (1913–1994)  91 Łątka, Janusz 133 Maas, Heiko (*1966)  8 Maczek, Stanisław (1892–1994)  26 Maizière, Lothar de (*1940)  63, 64 Malcher, Johann 140 Mangelsdorff, Albert (1928–2005)  182 Mangelsdorff, Emil (*1925)  182 Mann, Thomas (1875–1955)  176, 191 Marcuse, Herbert (1898–1979)  202 Marchwitza, Hans (1890–1965)  32 Marx, Karl (1818–1883)  200–203 Matern, Hermann (1893–1971)  31 Matuszewski, Ryszard (1914–2010)  47 Maurois, André (1885–1967)  194 May, Karl (1842–1912)  79 Mazowiecki, Tadeusz (1927–2013)  56, 63, 64, 145–147 Meckel, Markus (*1952)  64 Mehlhorn, Ludwig (1950–2011)  57 Meyer, Enno (1913–1996)  118 Michnik, Adam (*1946)  194 Mickiewicz, Adam (1798–1855)  80, 103, 168–171, 197 Mieszko I. (+992)  69, 226 Mikołajczyk, Stanisław (1901–1966)  23, 24 Miłosz, Czesław (1911–2004)  82, 133, 182, 194, 197, 198 Modrow, Hans (*1928)  63 Modzelewski, Karol (1937–2019)  101–103 Möller, Steffen (*1969)  142 Moltke (Familie)  16, 147 Montgomery, Bernard (1887–1976)  26 Morawska, Anna (1922–1972)  56, 57 Mroszczak, Józef (1910–1975)  179

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Mrożek, Sławomir (1930–2013)  17, 46, 47, 90, 199 Müller, Gerd (1945–2021)  126 Müller, Heinrich 78 Müller, Helmut (1930–2019)  59 Musil, Robert (1880–1942)  177 Naganowski, Egon (1913–2000)  48, 189 Nałkowska, Zofia (1884–1954)  46 Namysłowski, Zbigniew (*1939)  182 Nietzsche, Friedrich (1844–1900)  9 Norwid, Cyprian Kamil (1821–1883)  170 Nossol, Alfons (*1932)  147 Novak, Helga M. (1935–2013)  43 Nowak-Jeziorański, Jan (1914–2005)  133 Nowakowski, Marek (1935–2014)  173 Nowakowski, Tadeusz (1917–1996)  89 Olbrich, Joseph Maria (1867–1908)  185 Olschowsky, Heinrich (*1939)  55 Olszowski, Stefan (*1931)  58 Ondarza, Henning von (*1933)  153 Osadczuk, Bohdan (1920–2011)  82 Osóbka-Morawski, Edward (1909–1997)  24 Paeschke, Hans (1911–1991)  202–207 Pagot, Tony (1921–2001)  196 Panitz, Walter → Pentz, Carl August von Penderecki, Krzysztof (1933–2020)  91, 180,181 Pentz, Carl August von (1884–1969)  169 Pieck, Wilhelm (1876–1960)  31, 38, 166, 167 Piekałkiewicz, Janusz (1925–1988)  223 Pietraß, Richard (*1946)  60 Pilecki, Witold (1901–1948)  188, 238 Piper, Klaus (1911–2000)  197, 199–202 Piszcz, Edmund (*1929)  195 Pius XII (1876–1958)  237 Plenzdorf, Ulrich (1934–2007)  51, 55, 62 Podolski, Lukas (*1985)  143 Polanska, Justyna → Schlageter, Holger Polański, Roman (*1933)  184 Poppe, Gerd (*1941)  57 Poppe, Ulrike (*1953)  57 Prawin, Jakub (1901–1957)  31–33, 190 Prądzyński, Jerzy (1908–1954)  82 Prus, Bolesław (1847–1912)  197 Przyłębski, Andrzej (*1958)  8, 9 Przymanowski, Janusz (1922–1998)  215 Pszon, Mieczysław (1915–1995)  56, 146 Rahner, Karl (1904–1984)  98 Raiser, Ludwig (1904–1980)  94 Rakowski, Mieczysław (1926–2008)  108, 129

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Personenregister Ranke, Leopold von (1795–1886)  213 Rapacki, Adam (1909–1970)  84–86 Rapoport, Natan (1911–1987)  217, 218 Ratzinger, Joseph → Benedikt XVI. Reich-Ranicki, Marcel (1920–2013)  7, -80, 189–193, 196, 210 Reich-Ranicki, Teofila (1920–2011)  190 Reinefarth, Heinz (1903–1979)  235 Remarque, Erich Maria (1898–1970)  79 Reuter, Jens 208 Reuthe, Manfred (*)  81 Reymont, Władyslaw Stanisław (1867– 1925) 197 Rhode, Gotthold (1916–1990)  118 Rinser, Luise (1911–2002)  193 Rohr, Hanns von (1895–1988)  81, 166 Rowecki-„Grot”, Stefan (1895–1944)  238 Różewicz, Tadeusz (1921–2014)  54, 90, 199, 210 Rudnicki, Adolf (1909–1990)  199 Rühe, Volker (*1942)  153 Sabais, Heinz Winfried (1922–1981)  119, 185 Särchen, Günter (1927–2004)  56 Sartre, Jean-Paul (1905–1980)  189 Sass, Barbara (1936–2015)  184 Sattler, Dieter (1906–1968)  89 Sauer, Hermann (1902–1959)  72 Schaeffer, Bogusław (1929–2009)  180 Scheel, Walter (1919–2016)  99, 105, 108, 109 Scheffler, Gerhard (1894–1977)  235 Schenk, Fritz (1930–2006)  86 Schlageter, Holger (*1973)  141, 142 Schlau, Wilfried (1917–2010)  186 Schlesinger, Klaus (1937–2001)  55 Schlöndorff, Volker (*1939)  183 Schmid, Carlo (1896–1979)  86–88, 99 Schmidt, Harald (*1957)  142 Schmidt, Helmut (1918–2015)  127, 128, 142 Schröder, Gerhard (CDU) (1910– 1989)  92,93, 172 Schröder, Gerhard (SPD) (*1944)  152, 245 Schulz, Bruno (1892–1942)  46, 90, 176, 210 Schütz, Klaus (1926–2012)  105 Schumacher, Kurt (1895–1952)  15, 239 Schwan, Gesine (*1943)  9 Schweitzer, Albert (1875–1965)  71 Schweizer, Wolfgang (1916–2009)  94 Schwesta Ewa (*1984)  143 Seghers, Anna (1900–1983)  32–33, 48, 49, 79, 176, 191 Seiberlich, Josef 78 Selier, Herman (*1953)  196 Sendler, Irena (1910–2008)  218 Serocki, Kazimierz (1922–1981)  180

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Sienkiewicz, Henryk (1846–1916)  30, 80, 197, 247 Skubiszewski, Krzysztof (1926–2010)  145, 153 Słowacki, Juliusz (1809–1849)  170 Sniegowski, Bruno 77 Soboczynski, Adam (*1975)  142 Sojka, Stanisław (*1959)  183 Sowiński, Adolf (1914–1963)  189 Späth, Lothar (1937–2016)  134 Splett, Carl Maria (1898–1964)  78 Spychalski, Marian (1906–1980)  83 Staeck, Klaus (*1938)  130 Staemmler, Klaus (1921–1999)  115 Stalin, Jossif Wissarionowitsch (1878– 1953)  24, 31, 39, 42 Stańko, Tomasz (1942–2018)  182 Starowieyski, Franciszek (1930–2009)  179 Stasiuk, Andrzej (*1960)  211, 212 Steiger, Siegfried (*1956)  237 Steinbach, Erika (*1943)  96, 244, 245 Steinecke, Wolfgang (1910–1961)  180 Steiner, George (1929–2020)  208 Steinfeld, Thomas (*1954)  211 Steiniger, Peter Alfons (1904–1980)  166 Stempowski, Jerzy (1893–1969)  82 Stojanowski, Karol (1895–1947)  35 Stokłosa, Katarzyna (*1974)  98 Stomma, Stanisław (1908–2005)  56, 85, 115 Strauß, Franz-Josef (1915–1988)  129, 134 Strobel, Heinrich (1898–1970)  180 Stroop, Jürgen (1895–1952)  236 Stroux, Johannes (1886–1954)  166 Stryjkowski, Julian (1905–1996)  73 Suhrkamp, Peter (1891–1959)  199 Suzin, Leon Mark (1901–1976)  218 Swinarski, Konrad (1929–1975)  46 Szczepański, Jan Józef (1919–2003)  61, 207 Szczypiorski, Andrzej (1924–2000)  210, 211 Szewczyk. Wilhelm (1916–1991)  189 Szmidt, Józef (*1935)  125 Szymborska, Wisława (1923–2012)  182, 206, 207, 209 Światło, Józef (1915–1994)  77 Teltschik, Horst (*1940)  146 Templin, Wolfgang (*1948)  57 Thadewald, Wolfgang (1936–2014)  208 Thompson, Edward P. (1924–1993)  103 Tkaczyk, Wilhelm (1907–1982)  45 Toeplitz, Krzysztof Teodor (1933–2010)  44 Tokarczuk, Olga (*1962)  211, 243 Tomaszewski, Henryk (1914–2005)  179 Tyrmand, Leopold (1920–1985)  90, 198

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Personenregister

Uexküll, Gösta von (1909–1993)  83 Uhse, Bodo (1904–1963)  49 Ulbricht, Walter (1893–1973)  31, 33, 38, 40–42, 49–51, 104, 166 Unseld, Siegfried (1924–2002)  175, 176, 199–200, 207–210 Urban, Jerzy (*1933)  61 Urban, Peter (1941–2013)  175 Volmārs, Jānis (1900–1982)  13 Wajda, Andrzej (1926–2016)  17, 183, 184 Wałęsa, Lech (*1943)  153 Walser, Martin (*1927)  108, 244 Wandel, Paul (1905–1995)  31 Ważyk, Adam (1905–1982)  45, 198 Weber, Max (1864–1920)  140 Wehner, Herbert (1906–1990)  128 Weigel, Helene (1900–1971)  191 Weiskopf, Franz Carl (1900–1955)  49 Weizsäcker, Carl Friedrich von (1912– 2007) 93 Weizsäcker, Richard von (1920–2015)  135, 195 Welck, Wolfgang von (1901–1973)  88 Wenders, Wim (*1945)  183 Werfel, Franz (1890–1945)  79 White, Hayden (1928–2018)  7, 8

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Wierzyński, Kazimierz (1894–1969)  55 Winzer, Otto (1902–1975)  50 Wirpsza, Witold (1918–1985)  203–206 Witkiewicz, Stanisław I. (1885–1939)  90 Witkowski, Michał (*1975)  212 Witsch, Joseph Caspar (1906–1967)  197, 198 Wittlin, Józef (1896–1976)  204, 207 Wloch, Karl (1905–1982)  40 Wohlleben, Peter (*1964)  222 Wolf, Christa (1929–2011)  49, 55, 61, 62 Wolf, Friedrich (1888–1953)  47, 49, 79, 167, 176 Wolf, Gerhard (*1928)  60 Wolfers, Arnold (1892–1968)  93 Wolff-Powęska, Anna (*1941)  38 Wróbel, Walerian (1925–1942)  233 Wróblewski, Jan Ptaszyn (*1936)  182 Wulf, Kirsten (*1934)  55 Wunderlich, Werner (1926–2013)  182 Wyszyński, Stefan (1901–1981)  83, 98, 115 Zagajewski, Adam (1945–2021)  210 Zanussi, Krzysztof (*1939)  183 Ziemann, Sonja (1926–2020)  91, 92 Zweig, Arnold (1887–1968)  47, 49 Zweig, Stefan (1881–1942)  79, 176, 189 Żukrowski, Wojciech (1916–2000)  47

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Ortsregister Aachen  36, 131 Afghanistan  12, 59, 127, 154 Allenstein (Olsztyn)  70 Argentinien 126 Arolsen 76 Augustdorf  74, 75 Auschwitz(-Birkenau)  52, 116, 209, 230, 231, 237, 238 Australien 27 Bad Segeberg  113 Baden-Baden 74 Bautzen  34, 35 Belarus 157 Belgien  36, 54 Belgrad 88 Bensberg  98, 99, 114, 115 Berkeley  101, 200 Berlin (West-, Ost-)  8, 12, 18, 23, 31, 33, 37, 38, 41, 42, 45, 46, 48, 49, 51, 53, 58, 67, 71, 74, 76-78, 81, 82, 86, 91, 93, 95, 99, 101, 102, 104, 105, 107, 113, 129-131, 133, 134, 138, 144, 146, 165-169, 174, 179, 183, 184, 188, 190, 203, 208, 215, 216, 218, 237, 238, 244, 245 Berzdorf 220 Bethel 74 Białowieża 160 Biberach 115 Bieszczady 83 Bochum 114 Bogatynia → Reichenau Bonn  49, 50, 64, 67, 78, 82, 84-89, 92, 93, 100, 104-107, 109, 114, 119, 127, 129, 146, 168, 170-172, 174, 175, 178, 185, 192 Bremen  113, 114, 233 Breslau (Wrocław)  15, 16, 29, 32, 33, 35, 47, 68-70, 79, 97, 118, 119, 124, 130, 144, 165, 176, 177, 185, 186, 194, 209, 242 Budapest  63, 92, 145 Bulgarien  37, 175 Carlsberg 134 Chełmno → Kulm Chicago  174, 200 Chile 131 China  54, 151

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Chorzów → Königshütte Częstochowa → Tschenstochau Dachau 116 Danzig (Gdańsk)  16, 25, 70, 78, 113, 183, 194, 195, 222, 225, 249 Darmstadt  91, 117, 119, 170, 180, 185, 187, 198, 203 Detmold 74 Donaueschingen  180, 181 Dortmund 169 Dresden  147, 169, 210 Dukla  211, 212 Düsseldorf  74, 166-169, 188 Ermland  68, 195, 242 Essen  80, 132, 178, 181 Frankfurt am Main  73, 74, 76-79, 101, 126, 131, 134, 135, 158, 182, 183, 192, 200, 203, 208, 212 Frankfurt an der Oder  36, 144, 181, 187 Frankreich  18, 37, 66, 101, 132, 141, 153, 154, 165, 175, 230 Freiburg i. Br. 80 Fulda 116 Galizien  29, 31 Gdańsk → Danzig Gdingen (Gdynia)  25, 114 Gdynia → Gdingen Geisenheim 72 Genf 74 Georgien 157 Gießen 114 Gleiwitz (Gliwice)  187, 241 Gliwice → Gleiwitz Glogau (Głogów)  243 Głogów → Glogau Görlitz  12, 36, 39, 40, 50, 52, 64, 66, 68, 143, 144 Gorzów Wielkopolski → Landsberg an der Warthe Göteborg 217 Göttingen  113, 169 Griechenland  150, 237 Groß-Gerau 124

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Ortsregister

Großbritannien  14, 26, 66, 132, 141, 153 Guben  36, 38, 144 Gubin  36, 144 Haiti 126 Hammerstein 79 Hannover  74, 79, 113, 134 Haren (Maczków)  26 Helsinki  56, 125, 127, 184 Hinterpommern 68 Hirschberg (Jelenia Góra)  220 Hirschfelde 219 Höxter 74 Hunnebostrand 217 Ingelheim 115 Israel  27, 54, 87, 92, 135, 165, 183, 231-233, 248 Italien  126, 150, 237 Japan  101, 151 Jasło 87 Jedwabne  231, 232, 246 Jelenia Góra → Hirschberg Jugoslawien  83, 126, 138, 139, 154, 175, 232, 237, 239 Kanada  27, 200 Karpaten  87, 224 Katowice → Kattowitz Kattowitz (Katowice)  152, 193 Katyn  230, 248 Kiel 113 Köln  79, 92, 116, 131, 133 Königshütte (Chorzów)  125 Königstein im Taunus  73, 132 Köslin (Koszalin)  69, 70 Koszalin → Köslin Krakau (Kraków)  25, 34, 56, 57, 80, 86, 113116, 171, 177, 186, 193, 209 Kraków → Krakau Kreisau (Krzyżowa)  16, 146, 147 Krosno 87 Krzyżowa → Kreisau Kuba 99 Kulm (Chełmno)  15 Lamsdorf (Łambinowice)  242 Landsberg an der Warthe (Gorzów Wielkopolski) 61 Lausitz  34, 35 Legnica → Liegnitz Leipzig  45, 63, 72, 74, 173, 188 Liegnitz (Legnica)  68 Loccum 107

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Löcknitz 143 Lodz (Łódź)  16, 25, 30, 45, 91, 113, 114, 128, 216, 248 London  85, 153, 190 Lübeck 113 Ludwigsburg 86 Łambinowice → Lamsdorf Łódź → Lodz Maczków → Haren Magdeburg  56, 236 Mainz  116, 131, 186 Majdanek 230 Marburg  169, 222 Masuren  68, 242 Meseritz (Międzyrzecz)  242 Mexiko Stadt  101 Międzyrzecz → Meseritz Montreal 200 Moskau  11-13, 15, 23, 30, 31, 33, 34, 39, 42, 51, 59, 66, 83-86, 88, 106, 107, 109, 157, 241 München  77, 78, 91, 113, 115, 116, 125, 126, 131, 132, 171, 179, 181 Münster  181, 200 Neisse (Nysa)  186 Neiße (Lausitzer Neiße)  11, 15, 30, 95, 97, 116, 144, 218-220, 222 Neviges 116 Niederlande  36, 54, 126, 174 Niederschlesien  11, 69 Niepokalanów 237 Norderstedt 113 Nürnberg  113, 239 Nysa → Neiße Oberhausen 184 Oberlausitz 221 Oberschlesien  16, 67, 97, 120, 125, 139, 146, 149, 190, 242 Oder  11, 15, 34, 45, 60, 95, 97, 116, 143, 144, 219, 222 Olbersdorf 220 Oldenburg 118 Olszyna 144 Olsztyn → Allenstein Opole → Oppeln Oppeln (Opole)  146 Oppelner Schlesien  149 Oranienburg 238 Österreich  79, 80, 138, 155, 178, 189 Ostpreußen  31, 67 Oxford 200

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Palästina  25, 27 Paris  71, 82, 85, 91, 101-103, 197, 206 Poddębice 236 Pommerellen  68, 165 Pommern 10 Posen (Poznań)  25, 29, 42, 78, 86, 105, 113, 177, 186, 193, 235 Potsdam  38, 39, 62, 66 Potulice → Potulitz Potulitz (Potulice)  242 Poznań → Posen Prag (Praha)  35, 37, 63, 64, 101, 106, 128, 145

Treblinka 190 Tschechien  153, 154, 156 Tschechoslowakei  35, 37, 49, 56, 57, 59, 85, 95, 101, 102, 107, 138, 151, 172, 175 Tschenstochau (Częstochowa)  209 Tübingen 114 Türchau (Turów)  219 Türkei  131, 138 Turów → Türchau

Rastatt 74 Reichenau (Bogatynia)  68 Rio de Janeiro  101 Rom  73, 101, 125, 237 Rügen 34 Rumänien  37, 59, 121, 175

Velbert 26 Vereinigte Staaten von Amerika  24, 27, 30, 66, 85, 91, 100, 101, 124, 135, 150, 153, 154, 172, 174, 233 Vietnam 102 Vorpommern 143

Saargebiet 72 Sachsenhausen 238 Schlesien  10, 28, 68, 134 Schwäbisch Hall  115 Schweden  126, 217, 218 Schweiz  70, 79, 93, 175, 178, 189 Schwientochlowitz (Świętochłowice)  242 Sibirien 26 Slowakei 153 Słubice  36, 144 Sopot → Zoppot Sowjetunion  10, 11, 14, 23, 24, 26, 30, 36, 39, 40, 44, 52, 58, 59, 64, 66, 83, 85, 91, 92, 94, 100, 105, 107, 108, 124, 127, 130, 131, 136, 165, 175, 207, 215, 230, 237, 241, 250 Stettin (Szczecin)  11, 62, 69, 70, 143, 154 Stockholm 217 Stuttgart  73, 108, 113 Sylt 235 Szczecin → Stettin

Waldenburg (Wałbrzych)  69, 70 Wałbrzych → Waldenburg Warschau (Warszawa)  8, 11, 12, 15, 16, 18, 23, 25-27, 29-31, 34, 35, 38, 41, 42, 46-51, 53, 54, 58, 59, 63, 64, 66, 67, 70, 72, 76, 78, 81, 84-88, 91-93, 96, 98, 99, 101, 103, 104, 106-110, 112-114, 120, 124, 128, 130, 131, 134, 137, 144, 145, 158, 165, 166, 169, 171, 173-180, 182-184, 186, 188, 190-194, 199, 200, 204-206, 210, 211, 217, 218, 231, 232, 234-238, 245, 249, 250 Warszawa → Warschau Washington 85 Westerland 235 Wieluń  234, 238 Wien  31, 138, 208 Wiesbaden 92 Włocławek 190 Wrocław → Breslau

Świętochłowice → Schwientochlowitz Tarnowitz (Tarnowskie Góry)  209 Tarnowskie Góry → Tarnowitz Thorn (Toruń)  113 Toruń → Thorn

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Ukraine  10, 14, 144, 157 Ungarn  43, 44, 59, 83, 84, 151, 153, 154, 172, 175

Yale 200 Zeilsheim (Frankfurt)  135 Zgorzelec  36, 143, 144, 221 Zittau  156, 219, 220 Zoppot (Sopot)  182

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Bildnachweis Agencja Gazeta (S. 146) Archiwum Państwowe w Szczecinie (S. 51) Bistumsarchiv Essen (S. 75) Bundesarchiv (S. 32, 48, 163, 167, 181, 193, 195, 219) Narodowe Archiwum Cyfrowe (S. 29, 33) Polska Agencja Prasowa (S. 215) Riechers, Albrecht: Hilfe für Solidarność. Zivilgesellschaftliche und staatliche Beispiele aus der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1980– 1982, Bonn 2006 (S. 133)

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Dieter Bingen, geb. 1952, war bis 2019 Direktor des Deutschen Polen-Instituts. Hans-Jürgen Bömelburg, geb. 1961, ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Co-Vorsitzender der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission. Peter Oliver Loew, geb. 1967, ist seit 2019 Direktor des Deutschen PolenInstituts und lehrt als Honorarprofessor am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt.

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Die Geschichte von Deutschen und Polen ist eng miteinander verwoben, ja man kann sogar von einer historischen Symbiose beider Völker und Nationen sprechen. Auf die vielen Jahrhunderte einer Nachbarschaft, die von engster Verflechtung und umfangreichen Wanderungsbewegungen geprägt war, hat sich das 20. Jahrhundert mit einem großen Schatten gelegt: Die tragischen Geschehnisse vor allem des Zweiten Weltkriegs versperrten lange den Blick auf eine faszinierende Beziehungsgeschichte, die erst von der modernen Forschung wiederentdeckt wird. Die ›Deutsch-Polnische Geschichte‹ in fünf Bänden, verfasst jeweils von einem deutsch-polnischen Autorenteam unter Federführung des Deutschen Polen-Instituts, wird das Verständnis füreinander weiter fördern: Europa braucht solche Geschichten. Prof. Dr. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D., Präsidentin des Deutschen Polen-Instituts

1945 bedeutete für das deutsch-polnische Verhältnis eine Zäsur ohne historisches Beispiel. In der Folge war der Westteil Deutschlands durch den Eisernen Vorhang von Polen weitgehend abgeschnitten, während der Ostteil sich notgedrungen in einer systemischen Partnerschaft mit seinem östlichen Nachbarn wiederfand. Die zwanghafte Fixierung auf die Frage der Anerkennung der Grenze, die neue Ostpolitik Willy Brandts und die Unklarheit des Westens, wie er mit dem Kampf der SolidarnośćBewegung umgehen sollte, sind die Parameter der wechselvollen Beziehung. Heute finden sich das wiedervereinigte Deutschland und das postsozialistische Polen als größte Länder Zentraleuropas in einer neuen Partnerschaft wieder, was seinen Ausdruck auch darin findet, dass dieser Band von einem polnischen und einem deutschen Autor gemeinsam verfasst wurde.

Kommen Sie ins Gespräch mit Leser:innen und Autor:innen auf wbg-community.de

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-24766-0

WBG Deutsch-Polnische Geschichte

Die Herausgeber:

08.10.2021

Krzoska · Zajas

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V

Markus Krzoska · Paweł Zajas

WBG Deutsch-Polnische Geschichte 1945 bis heute

Die Autoren: Markus Krzoska ist Privatdozent an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen. Paweł Zajas ist Literaturwissen-

schaftler an der Adam-MickiewiczUniversität in Poznań und research fellow an der University of Pretoria.

Umschlagabbildung: 7. Dezember 1970: Der ikonische Kniefall Willy Brandts in Warschau vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos. Foto: © picture alliance/dpa. Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim