WBG Deutsch-Französische Geschichte / Das Trauma des großen Krieges 1918-1932/33 / WBG Deutsch-Französische Geschichte 8: Hrsg. im Namen des Deutschen Historischen Instituts Paris 3534147065, 9783534147069

Schwieriger lassen sich die Bedingungen für eine gute Koexistenz kaum vorstellen als für Frankreich und Deutschland in d

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German Pages 256 [282] Year 2009

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung: Verletzungen und Traumata
I. Überblick
1. Den Krieg beenden?
1.1. Eine allgemeine Erwartung: Der Sieg
1.2. Ende der Kriegshandlungen und Beginn einer neuen gegenseitigen Feindschaft
1.3. 1918–1919: Deutsch-französischer Krieg mit anderen Mitteln
1.3.1. Die Blockade
1.3.2. Der Fall des Elsass
2. Den Krieg trotz allem hinter sich lassen: Die Demobilisierung der Soldaten in Deutschland und Frankreich
2.1. Eine überwundene Krise
2.2. Ein kostspieliger Erfolg
3. Kriegerischer Frieden: Versailles
3.1. Ein Streit der Interpretationen
3.2. Eine deutsch-französische Angelegenheit
4. Auge in Auge: 1919–1924
4.1. Krieg nach dem Krieg oder Krieg dem Kriege
4.2. Eskalation und Deeskalation in den deutsch-französischen Beziehungen: Von der Ruhr zum Dawes-Plan
5. 1924–1930: Die große Illusion des Friedens
5.1. 1924 – Das Übergangsjahr
5.2. Internationale Zusammenarbeit, Abrüstung und Europagedanke: Die Rückkehr des Idealismus?
5.3. Ein circulus vitiosus? Stabilisierung durch Annäherung und Annäherung durch Stabilisierung
5.4. Die wilden Jahre in beiden Ländern
5.5. Trügerische Stabilisierung in Deutschland
6. Innere und äußere Krisen (1929–1933)
6.1. Frankreich: Von einer latenten zu einer tiefen und dauerhaften Krise
6.2. Die innere Krise in Deutschland: eine „totale“ Krise
6.3. Ein neuer Rahmen für die deutsch-französischen Beziehungen: Die Anfänge eines tragischen Missverständnisses
II. Fragen und Perspektiven
1. Verletzte und geschundene Gesellschaften
1.1. Kriegstrauer als gemeinsames Schicksal?
1.2. Nach dem Sieg
1.3. Nach der Niederlage
1.4. Die Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses nach dem Krieg – ein Vergleich: Das Beispiel der Kriegerdenkmäler
2. Wiederaufbauen und Reparieren
2.1. Das Land und die Städte
2.2. Die verletzten Körper und Seelen der Heimkehrer
2.3. Leere ausfüllen und Lehre aus dem Krieg ziehen: militante Diskurse und Praktiken am Beispiel der Dolchstoßlegende
3. Die besetzten Gebiete: Ort des interkulturellen Zusammentreffens und der täglichen Erfahrung von ,Fremdherrschaft'
3.1. Eine besondere deutsch-französische Geschichte
3.2. Zeitlich und räumlich unterschiedliche Situationen
3.3. Die Gewalt des ersten Kontakts. Die militärische Besatzung 1918–1919: „Prestige des Siegers“ oder Ursprungstrauma?
3.4. Die Hasskampagne der „schwarzen Schmach“
4. Die Mandatsgebiete: Besatzung und französische Einflussnahme auf deutschem Gebiet
4.1. Das Saargebiet unter Mandat: Eine Besatzungserfahrung?
4.2. Die östlichen Randgebiete und die französische „Besatzung“: Oberschlesien
5. Vom offenen Kampf zum Machtkampf
5.1. Der Höhepunkt: Kampf, Krise und Krieg an der Ruhr
5.2. Die Illusion der Befriedung und die kulturelle Auseinandersetzung zwischen Besatzern und Besetzten im Rheinland
5.3. Marginale oder identitätsstiftende Erfahrungen?
6. Langsamkeit und Zufälligkeiten bei der kulturellen Demobilisierung: Zwei Fallstudien
6.1. Die „kulturelle Demobilisierung“: Versuch einer Definition
6.2. Den Krieg nach dem Krieg erinnern: Die Kriegsliteratur nach 1918
6.3. Eine langsame und relative Demobilisierung: Das Beispiel der Wissenschaften an den Universitäten
6.3.1. Boykott und Gegen-Boykott
6.3.2. Studenten und Professoren angesichts der deutsch-französischen Beziehungen: Einige Beispiele
6.3.3. Der besondere Fall der Universität Straßburg
6.3.4. Die Mehrdeutigkeit von Projekten zum Kennenlernen des Anderen
7. Unter der Ägide von Locarno
7.1. Die Initiativen der Pazifisten: Friede durch die Idee
7.2. Kulturelle Vermittler, deutsch-französische Komitees und Zusammenarbeit von Experten: Frieden durch Handlungen
7.3. Die Aporien des Geistes von Locarno
8. 1918–1932/33 als Epoche
8.1. Deutsch-französisches Verständnis der Zeit: Chronologie und Zeiterfahrung, zeitgenössische und aktuelle Einschätzungen der Epoche
8.2. Die „Brutalisierung“ der Gesellschaften in Frankreich und Deutschland und ihre Rezeption in der Geschichtsschreibung
Zusammenfassung
Deutsch-französische Chronologie 1918–1933
III. Bibliographie 1918–1933
1. Quellen, Dokumentensammlungen und Memoiren
1.1. Dokumenten- und Quellensammlungen
1.2. Zwischen 1918 und 1933 veröffentlichte Werke, Memoiren, Autobiographien und Selbstzeugnisse, Berichte
2. Sekundärliteratur nach Themen geordnet
2.1. Allgemeine Werke und Artikel mit interdisziplinärem und methodologischem Bezug
2.2. Biographische Wörterbücher, Prosopographien und Biographien
2.3. Internationaler Kontext, allgemeine Werke
2.4. Vergleiche, Transfers, Verflechtungen: Methoden und Debatten, Fragen der Geschichtsschreibung und thematische Recherchen
2.5. Deutschland: Allgemeine Geschichte und/oder Weimarer Republik
2.6. Frankreich: Allgemeine Geschichte und/oder französische Zwischenkriegszeit
2.7. Der Erste Weltkrieg, Versailles und die Folgen: Der Krieg nach dem Krieg
2.8. Deutsch-französische Beziehungen und internationale Fragen
2.9. Politische Leben, politische Bewegungen und politische Kulturen in Frankreich und Deutschland
2.10. Besatzung und regionale und die Grenzen betreffende Fragen (Rheinland, Saarland, Ruhrgebiet, Schlesien, Elsass-Lothringen …)
2.11. Wirtschaftliche und soziale Fragen
2.12. Kulturelles und intellektuelles Leben, Transfers, Kenntnis des Nachbarn und Verständigung, europäische Idee
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WBG Deutsch-Französische Geschichte / Das Trauma des großen Krieges 1918-1932/33 / WBG Deutsch-Französische Geschichte 8: Hrsg. im Namen des Deutschen Historischen Instituts Paris
 3534147065, 9783534147069

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WBG Deutsch-Französische Geschichte Band 8

WBG Deutsch-Französische Geschichte Herausgegeben im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Paris von Gudrun Gersmann und Michael Werner

Nicolas Beaupré

Das Trauma des großen Krieges 1918–1932/33 Aus dem Französischen übersetzt von Gaby Sonnabend

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Einbandbild: Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919. Gemälde von William Orpen, um 1925, Imperial War Museum, London. Foto: akg-images.

Für Dorota

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2009 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Redaktion: Christina Kruschwitz, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de

ISBN 978-3-534-14706-9

Inhalt

Inhalt

Einleitung: Verletzungen und Traumata

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I. Überblick 1. Den Krieg beenden? 19 1.1. Eine allgemeine Erwartung: Der Sieg 19 1.2. Ende der Kampfhandlungen und Beginn einer neuen gegenseitigen Feindschaft 22 1.3. 1918–1919: Deutsch-französischer Krieg mit anderen Mitteln 29 1.3.1. Die Blockade 29 1.3.2. Der Fall des Elsass 32 2. Den Krieg trotz allem hinter sich lassen: Die Demobilisierung der Soldaten in Deutschland und Frankreich 38 2.1. Eine überwundene Krise 38 2.2. Ein kostspieliger Erfolg 44 3. Kriegerischer Frieden: Versailles 50 3.1. Ein Streit der Interpretationen 50 3.2. Eine deutsch-französische Angelegenheit 52 4. Auge in Auge: 1919 –1924 57 4.1. Krieg nach dem Krieg oder Krieg dem Kriege 57 4.2. Eskalation und Deeskalation in den deutsch-französischen Beziehungen: Von der Ruhr zum Dawes-Plan 61 5. 1924–1930: Die große Illusion des Friedens 68 5.1. 1924 – Das Übergangsjahr 68 5.2. Internationale Zusammenarbeit, Abrüstung und Europagedanke: Die Rückkehr des Idealismus? 72 5.3. Ein circulus vitiosus? Stabilisierung durch Annäherung und Annäherung durch Stabilisierung 76 5.4. Die wilden Jahre in beiden Ländern 83 5.5. Trügerische Stabilisierung in Deutschland 88 6. Innere und äußere Krisen (1929 –1933) 93 6.1. Frankreich: Von einer latenten zu einer tiefen und dauerhaften Krise 93 6.2. Die innere Krise in Deutschland: eine „totale“ Krise 97

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Inhalt

6.3. Ein neuer Rahmen für die deutsch-französischen Beziehungen: Die Anfänge eines tragischen Missverständnisses 101

II. Fragen und Perspektiven 1. Verletzte und geschundene Gesellschaften 107 1.1. Kriegstrauer als gemeinsames Schicksal? 109 1.2. Nach dem Sieg 115 1.3. Nach der Niederlage 119 1.4. Die Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses nach dem Krieg – ein Vergleich: Das Beispiel der Kriegerdenkmäler 121 2. Wiederaufbauen und Reparieren 125 2.1. Das Land und die Städte 125 2.2. Die verletzten Körper und Seelen der Heimkehrer 128 2.3. Leere ausfüllen und Lehre aus dem Krieg ziehen: Militante Diskurse und Praktiken am Beispiel der Dolchstoßlegende 132 3. Die besetzten Gebiete: Ort des interkulturellen Zusammentreffens und der täglichen Erfahrung von ,Fremdherrschaft‘ 138 3.1. Eine besondere deutsch-französische Geschichte 138 3.2. Zeitlich und räumlich unterschiedliche Situationen 140 3.3. Die Gewalt des ersten Kontakts. Die militärische Besatzung 1918 –1919: „Prestige des Siegers“ oder Ursprungstrauma? 142 3.4. Die Hasskampagne der „schwarzen Schmach“ 148 4. Die Mandatsgebiete: Besatzung und französische Einflussnahme auf deutschem Gebiet 155 4.1. Das Saargebiet unter Mandat: Eine Besatzungserfahrung? 155 4.2. Die östlichen Randgebiete und die französische „Besatzung“: Oberschlesien 159 5. Vom offenen Kampf zum Machtkampf 165 5.1. Der Höhepunkt: Kampf, Krise und Krieg an der Ruhr 165 5.2. Die Illusion der Befriedung und die kulturelle Auseinandersetzung zwischen Besatzern und Besetzten im Rheinland 171 5.3. Marginale oder identitätsstiftende Erfahrungen? 179 6. Langsamkeit und Zufälligkeiten bei der kulturellen Demobilisierung: Zwei Fallstudien 181 6.1. Die „kulturelle Demobilisierung“: Versuch einer Definition 181 6.2. Den Krieg nach dem Krieg erinnern: Die Kriegsliteratur nach 1918 183 6.3. Eine langsame und relative Demobilisierung: Das Beispiel der Wissenschaften an den Universitäten 188 6.3.1. Boykott und Gegen-Boykott 188

Inhalt

7

6.3.2. Studenten und Professoren angesichts der deutschfranzösischen Beziehungen: Einige Beispiele 191 6.3.3. Der besondere Fall der Universität Straßburg 193 6.3.4. Die Mehrdeutigkeit von Projekten zum Kennenlernen des Anderen 197 7. Unter der Ägide von Locarno 201 7.1. Die Initiativen der Pazifisten: Friede durch die Idee 201 7.2. Kulturelle Vermittler, deutsch-französische Komitees und Zusammenarbeit von Experten: Frieden durch Handlungen 206 7.3. Die Aporien des Geistes von Locarno 213 8. 1918–1932/33 als Epoche 217 8.1. Deutsch-französisches Verständnis der Zeit: Chronologie und Zeiterfahrung, zeitgenössische und aktuelle Einschätzungen der Epoche 220 8.2. Die „Brutalisierung“ der Gesellschaften in Frankreich und Deutschland und ihre Rezeption in der Geschichtsschreibung 230 Zusammenfassung 238 Deutsch-französische Chronologie 1918 –1933 241

III. Bibliographie 1918 –1933 1. Quellen, Dokumentensammlungen und Memoiren 245 1.1. Dokumenten- und Quellensammlungen 245 1.2. Zwischen 1918 und 1933 veröffentlichte Werke, Memoiren, Autobiographien und Selbstzeugnisse, Berichte 246 2. Sekundärliteratur nach Themen geordnet 248 2.1. Allgemeine Werke und Artikel mit interdisziplinärem und methodologischem Bezug 248 2.2. Biographische Wörterbücher, Prosopographien und Biographien 249 2.3. Internationaler Kontext, allgemeine Werke 250 2.4. Vergleiche, Transfers, Verflechtungen: Methoden und Debatten, Fragen der Geschichtsschreibung und thematische Recherchen 251 2.5. Deutschland: Allgemeine Geschichte und/oder Weimarer Republik 251 2.6. Frankreich: Allgemeine Geschichte und/oder französische Zwischenkriegszeit 253 2.7. Der Erste Weltkrieg, Versailles und die Folgen: Der Krieg nach dem Krieg 253 2.8. Deutsch-französische Beziehungen und internationale Fragen 260

8

Inhalt

2.9. Politische Leben, politische Bewegungen und politische Kulturen in Frankreich und Deutschland 262 2.10. Besatzung und regionale und die Grenzen betreffende Fragen (Rheinland, Saarland, Ruhrgebiet, Schlesien, ElsassLothringen …) 264 2.11. Wirtschaftliche und soziale Fragen 269 2.12. Kulturelles und intellektuelles Leben, Transfers, Kenntnis des Nachbarn und Verständigung, europäische Idee 271 Karte 18 Register 278

Einleitung: Verletzungen und Traumata

Verletzungen undEinleitung Traumata

Das Jahr 1918 bedeutete nicht für alle das Ende des Krieges. Für ungefähr 1 376 000 junge Franzosen und 2 034 000 junge Deutsche1 endete dieser auf tragische Weise im Schlamm des Artois, Flanderns, Lothringens, der Somme oder in den weiten Ebenen Osteuropas. Darüber hinaus sollte der Konflikt – trotz des Endes der Feindseligkeiten – für eine ganze Reihe von „Heimkehrern“, so nannten sich die Veteranen bisweilen, niemals enden: Hatte Kurt Tucholsky nicht 1925 geschrieben, der Soldat des Ersten Weltkriegs sei an das Leben zurückgegeben worden als „ein Ding, das der ziemlich guten Nachahmung eines Menschen glich“2? Parallel dazu hatte der französische Schriftsteller und Soldat Léon Werth von der Hauptfigur seines autobiographischen Kriegsromans gesagt, dass dieser, „vom Krieg befreit, rasch begriffen hatte, dass der Krieg ihn nicht unversehrt an das Leben zurückgegeben hatte“3. Die Kriegsversehrten, die durch Gas Vergifteten, die „Kriegsneurotiker“ (4 266 000 französische und 4 216 058 deutsche Verletzte zwischen 1914 und 1918) wie auch die vergewaltigten Frauen, die durch die langen Perioden der Besatzung misshandelten Zivilisten, die Waisenkinder, all die Trauernden, die Witwen, die Eltern, die ihre Söhne an der Front oder durch die Hungerblockade verloren hatten, sie alle mussten ihre Leben während des Ersten Weltkrieges an ihrem Körper, ihrem Herz und ihrem Geist befestigt tragen. Weiterhin waren Millionen von Kindern und Heranwachsenden während der Kriegsjahre sozialisiert worden, einige von ihnen in den besetzten Gebieten in direktem Kontakt mit einem als grausam und schlecht beschriebenen Feind4. Die anderen hatten – selbst wenn sie weiter von der Front entfernt waren – eine patriotischere und nationalistischere Erziehung erhalten als je zuvor5.

1 Winter 2004 [417], S. 1077. Die weiter unten zitierten Zahlen zur Kriegsbilanz stammen, falls nicht anders vermerkt, alle aus diesem Artikel. 2 Tucholsky, Staatsmorphium, in: Die Weltbühne 17. 11. 1925, zitiert nach http:// www.textlog.de/tucholsky-staatsmorphium.html [28], siehe auch dasselbe auf Französisch in Tucholsky 1981 [83], S. 84. 3 Werth 1919 [86], S. 313. 4 Pignot 2006 [655]. 5 U. a. Audoin-Rouzeau 1993 [258].

10

Einleitung

Die Zwischenkriegszeit als Versuch der Kriegs- und Traumabewältigung Um die Anfänge von Weimar besser zu verstehen, hatte der Historiker Peter Gay, Freud-Biograph und Kenner der deutschen Kultur, seit 1968 die Vorstellung des „Geburtstraumas“ der deutschen Republik vorgeschlagen, indem er „die vier ersten Jahre der Republik (betonte), die aus fast ununterbrochenen Krisen bestanden“ und „einem blutigen Bürgerkrieg“6. Der Begriff wurde seither auch von anderen Historikern übernommen. Diese resümierend, spricht Jean Solchany in Bezug auf Weimar von einer „außergewöhnlichen Anhäufung von Traumata“7. Während die Historiker jedoch vor allem die Traumata dieser Zeit, die Niederlage und Versailles in den Vordergrund stellen, vergessen sie fast, die große Ursprungskrise zu benennen. Das große Trauma war nicht nur das der Gründung der Republik, es war in erster Linie das des Krieges und des Kriegsausgangs. In dieser Hinsicht war Deutschland kein Sonderfall. Die Problematik betraf jede Bevölkerung, die vom industriellen Töten betroffen war und diesem in weiten Teilen und zu ihrem Unglück zugestimmt hatte, zumindest für eine gewisse Zeit. Die Zivilbevölkerung musste nun nolens volens „im Schatten des Weltkriegs“8 weiterleben. Selbst ein Richard Bessel, der durchaus Zweifel hinsichtlich der Kriegsauswirkungen hegte und sie dabei nicht immer in sozialer Hinsicht bemaß, schließt sein Werk doch mit der Feststellung ihrer enormen Bedeutung für Deutschland9. Vielleicht muss man tatsächlich auch an anderer Stelle als in der Gesellschaft und den sozialen Gruppen nach den Auswirkungen des Krieges suchen. Wie dem auch sei, Michael Geyer stellte fest: „In kaum einer anderen Zeit standen Krieg und Tod so sehr im Mittelpunkt wie in der ersten Nachkriegszeit“10. Die Geschichte Frankreichs und Deutschlands im Speziellen und Europas im Allgemeinen in dieser Zeit ist zunächst und vor allem diejenige der Verarbeitung und Bewältigung der individuellen und kollektiven Erfahrungen im Ersten Weltkrieg11 sowie der Verletzungen, die diese sowohl für die Individuen als auch für die Gesellschaften bedeuteten. Man kann daraus freilich nicht schließen, dass all diese unleugbaren Verletzungen und Erfahrungen sich in dauerhaften Traumata niedergeschlagen haben. Noch weniger kann man behaupten, „das“ Trauma als individuelles und persönliches Phänomen könnte im Fall einer großen Anzahl von Traumatisierten in ein „Kollektivtrauma“ mit greifbaren sozialen Folgen 6 Gay 1968 [199], S. 25 –26 7 Solchany 2003 [225], S. 22. 8 Um einen Ausdruck im Titel des Werkes von Krumeich/Schröder 2004 [632] zu übernehmen. 9 Bessel 1993 [191], S. 284. 10 Geyer 1995 [322], S. 678. 11 Über den Begriff der Kriegserfahrung siehe u. a. Buschmann/Carl 2001 [293], S. 11– 26.

Verletzungen und Traumata

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münden. Spezialisten zufolge erlebt der Einzelne ein Trauma, wenn er sich in Todesgefahr befindet. Die – meist visuelle – Wahrnehmung ist der Ausgangspunkt für einen psychischen Einbruch, hervorgerufen durch einen „unvorhergesehenen Unfall“, der einen Effekt von „Lähmung“, ein Eintauchen in „das Entsetzen, den Terror“ hervorruft, indem er den Tod und die Zerstörung des Körpers gegenwärtig macht. Der Staat ist nicht mehr in der Lage, einen Diskurs herzustellen, der ausreichend isoliert betrachtet werden und „rechtfertigen (könnte), warum der Einzelne sich dort wiederfand, zu genau jenem Zeitpunkt, als sein Leben verneint wurde, sein Tod vergegenwärtigt“. Anschließend wird die Wiederholung, deren Rhythmus sich nach einer Latenzphase beschleunigt, das bestimmende Symptom der traumatischen Neurose12. Aber das Trauma drückt sich ebenso oft im Schweigen aus. Der Psychiater Jean-Marc Berthomé erinnert daran, dass es sich jenseits der Erfahrung befindet, dass es a priori nicht „objektiv“ sein kann13. Für viele Menschen war es deshalb seelisch – wie auch körperlich – unmöglich, den Krieg hinter sich zu lassen. Auf der Grundlage der Quellen, über die wir verfügen, ist es sehr schwierig, die Anzahl der wirklich Traumatisierten, im exakten Sinn des Wortes, festzustellen. Es ist jedoch unzweifelhaft, dass der Erste Weltkrieg Millionen von Individuen getroffen und diese in jeder Hinsicht „verletzt“ hat. Doch auch wenn die durch den Massenmord verursachten Traumata ihre Wurzeln in der seelischen Struktur haben, stellen sie ebenso einen Untersuchungsgegenstand für den Historiker dar. Michael Geyer hat in dieser Hinsicht auf den unterschiedlichen „Umgang mit dem (Massen)tod“ nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg in Deutschland hingewiesen. Man könnte hier die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland bezüglich der Art anfügen, wie sie den Krieg hinter sich ließen. Diese Unterschiede machen seiner Meinung nach die Vorstellung von einer einzigartigen psychischen und ahistorischen Antwort auf das Trauma zunichte und eröffnen damit „die Möglichkeit einer historischen Betrachtung dieser Problematik“14. Eine der Aufgaben, die sich dem Historiker stellen, besteht genauer gesagt darin, diese Millionen von individuellen Verletzungen zusammenzurechnen. Ab wann wird diese Addition einzelner traumatischer Schocks zum großen kollektiven Trauma einer ganzen Gesellschaft, zu einer „sozialen Krankheit“15, um den Ausdruck von George L. Mosse zu übernehmen? Eine „soziale Krankheit“, die die Zauberlehrlinge der Politik sich weiterentwickeln lassen, um besser behaupten zu können, sie zu behandeln. Der Nationalsozialismus konnte von den Deutschen, die sich ihm anschlossen, als ein Mittel betrachtet werden, das Trauma des Krieges und der Niederlage zu bekämpfen – im selben Moment, als sie dieses Mittel ersannen und 12 13 14 15

Berthomé 1997 [91], S. 35–41. Ebd., S. 32 – 24. Geyer 1995 [322], S. 678 Mosse 2000 [372].

12

Einleitung

ohne Unterlass immer wieder neu erfanden16. Dieses Trauma war daher vielleicht mehr noch als eine medizinisch feststellbare Realität eine kulturell und politisch vermittelte Konstruktion – zum Beispiel durch die Kriegsliteratur, aber auch durch Mythen, politische Reden, künstlerische und kulturelle Produktionen sowie durch Interpretationen. Selbst wenn sich diese Darstellungen als falsch und ohne Bezug zum wirklich im Krieg Erlebten erwiesen, so stellt sich die Frage, warum auf diese mittelbaren kulturellen Konstruktionen des Krieges zurückgegriffen wurde. Die Frage kann nicht dadurch gelöst werden, dass man die Idee eines direkten Einflusses des Krieges auf die Nachkriegsgesellschaften und ihre politische Entwicklung verneint17, und gleichzeitig die Einflüsse der kulturellen Produktion eingesteht, die ein mythisches Bild des Krieges bieten. Der Bezugsrahmen in diesem Fall, so instrumentalisiert und deformiert er auch sein mag, bleibt der vorangegangene Krieg mit seinen Auswirkungen. Die sozialen Akteure, die sich seiner bemächtigen, beabsichtigen daraus Gewinn zu ziehen, selbst wenn sie ihr politisches Kalkül eingestehen müssen. Sie erwarten implizit, dass diese Mobilisierung ein Echo in der vom Krieg geplagten Öffentlichkeit findet, während diese ihn zu vergessen sucht. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums war der Pazifismus durch seine radikale Demobilisierung der kollektiv geteilten Vorstellungen während des Krieges letztlich auch ein Mittel, eine neue Bedeutung zu erschaffen, die der Kriegswirklichkeit übergestülpt werden konnte. Er erlaubte, diese neu zu interpretieren und sich von dem Sinn, den man dem Krieg zwischen 1914 und 1918 gegeben hatte, ebenso zu distanzieren wie von jenem, den ihm die politischen Gegner nach 1918 gegeben hatten. Ohne in die Falle des teleologischen Ausdrucks „Zwischenkriegszeit“ zu tappen, ohne sich vom „Dämon des Ursprungs“18 heimsuchen zu lassen oder sich in monokausalen Erklärungen zu ergehen, geht es darum, eine Darstellung der deutsch-französischen Geschichte nach 1918 zu wagen und auf diese Art und Weise vielleicht neue Interpretationsmöglichkeiten zu eröffnen.

Die Angemessenheit historischer Zugänge für das Problem und den gewählten Blickpunkt Für die Fragen, die wir aus unserem Blickpunkt an den Kriegsausgang stellen, funktionieren die üblicherweise von Historikern benutzten Analyserahmen, die Untersuchung des Sozialen, Ökonomischen, Politischen und Kulturellen nicht – auch wenn sie für Einzelstudien über die eine oder andere Frage oder für Vergleichsdarstellungen durchaus aussagekräftig sind19. Es geht auch nicht 16 17 18 19

Krumeich 2004 [631], S. 9. Für eine Darstellung dieser Debatten siehe II.8. Bloch 1974 [93], S. 27. Z. B. Charle 2001 [166].

Verletzungen und Traumata

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darum, lediglich die „Beziehungen“ zwischen den zwei Ländern zu untersuchen, seien es nun diplomatische Beziehungen oder, in einer neueren Perspektive, die Kontakte und Transfers zwischen den verschiedensten transnationalen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen. Ebenso wenig soll die zentrale Frage nach dem Vermächtnis des Ersten Weltkriegs beantwortet werden, indem man sich damit zufriedengibt, zwei Antworten nebeneinanderzustellen – so treffend diese Differenzierung auch sein mag: auf der einen Seite eine Siegermacht, auf der anderen Seite ein besiegtes Land. Dieser Vergleich würde es verhindern, die gemeinsame Dynamik und die „Verflechtungen“ zu erfassen, die beide Gesellschaften gleichermaßen betrafen. Um auch diese Frage beantworten zu können, haben wir uns entschieden, „in Fällen zu denken“20, auch wenn die Auswahl bisweilen willkürlich erscheinen mag. Wir werden dabei von Inhalten ausgehen, die es erlauben, ganz nahe an die Fragen des Kriegsausgangs und des Traumas mit seinen Auswirkungen in der untersuchten Epoche heranzugehen – notfalls anhand von sehr genau beschriebenen Beispielen. Dennoch ist diese Herangehensweise nicht willkürlicher als die klassische nationale oder binationale Analyse – wie die deutsch-französische Perspektive – oder die Untersuchung einer Epoche21, die in unserem Fall eine Relevanz für die deutsche Geschichte besitzt – jene von Weimar, 1918 –1932/33 –, aber auf den ersten Blick weitaus weniger wichtig für Frankreich ist. Für Marc Bloch und die Annales-Historiker findet sich alles in der gestellten Frage. Im Mittelpunkt des vorliegenden Werkes steht ein Problem: die Verletzungen zweier Gesellschaften – die eine siegreich, die andere besiegt – und ihre Auswirkungen als Vermächtnis des Krieges und seiner unmittelbaren Folgen. Dieses Problem mittels einiger spezifischer Themen anzugehen, sollte den Tunnelblick verhindern, durch den uns andere miteinander verbundene und voneinander abhängige Geschichten, andere „geteilte Geschichten“ entgangen wären. Tatsächlich blickt Deutschland nicht nur gen Westen und auf Frankreich. Die Beziehung Frankreichs zu seinem alten besiegten Gegner wiederum ist keineswegs eine exklusive gegenüber anderen, genauso wichtigen Zusammenhängen. Die Auswahl einiger Inhalte erlaubt es außerdem, die Ergebnisse neuerer Forschungen und Herangehensweisen zu würdigen und zu präsentieren, welche die Untersuchungen zur deutsch-französischen Zeitgeschichte in den letzten Jahren nachhaltig beeinflusst haben. Hartmut Kaelble hat darauf hingewiesen, dass die vergleichende Geschichte, die Geschichte von kulturellen Transfers, die transnationale Geschichte, die historischen Verflechtungen oft von den Praktizierenden der deutsch-französischen Geschichte initiiert, getragen und ausprobiert – und sogar kritisiert – wurden.22 20 Revel 2005 [184]. 21 Der Folgeband der Reihe von Stefan Martens beginnt im Jahr 1932. 22 Kaelble 1991 [176], Kaelble 1999 [177].

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Einleitung

Es überrascht also nicht, dass sich hier Kapitel zur vergleichenden Geschichte ebenso finden wie andere, die kulturelle Transfers in den Mittelpunkt stellen oder versuchen, historische Verflechtungen aufzuzeigen. Ein Ziel dieser verwandten, aber doch verschiedenen Methoden ist es dabei, neue Fragen aufzuwerfen.

Eine vergleichende Kulturgeschichte des Kriegsausgangs in zeitlicher Tiefe Gleichzeitig mit einer Erneuerung der Methoden, die den nationalen Bezugsrahmen für Untersuchungen hinter sich lassen, erleben wir seit rund 15 Jahren neben neuen Studien zum Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg23 auch eine grundlegende Erneuerung hinsichtlich der Geschichte des Ersten Weltkriegs auf beiden Seiten des Rheins, aber auch in Großbritannien, Belgien24, Irland und den Vereinigten Staaten. Im Zentrum dieser neuen Arbeiten steht die Frage nach der „Kriegserfahrung als Gewalterfahrung“25 und nach deren Auswirkungen auf kurze, mittlere und lange Sicht. Es geht vor allem darum, zu verstehen, wie „derjenige, der den Krieg erlebt hat, einen ungestillten Hass hervorbringen konnte, der sich in den Taten und Gesten der ,Freikorps‘ und der SA-Trupps ausdrückte, sich vielleicht auch in den Aktionen der Croix-de-Feu zeigte, und gleichzeitig pazifistische Überzeugungen und Bewegungen schaffte“26. Diese Frage drückt im Prinzip die Möglichkeit und die Formen dessen aus, was John Horne die „kulturelle Demobilisierung“ nannte. Sie wird auch von George L. Mosse gestellt, wenn er von der „Brutalisierung“ der europäischen Gesellschaften durch den Ersten Weltkrieg spricht27. Die Berücksichtigung dieses Phänomens zur „Erklärung“ der Nachkriegszeit schließt wohlgemerkt den Einfluss anderer, eher politischer Faktoren nicht aus – wie etwa die Niederlage, den Versailler Vertrag, den Sturz des bestehenden politischen Systems, die gescheiterte Revolution, die fehlgeschlagenen Putschversuche der extremen Rechten sowie eher konjunkturelle, wirtschaftliche und soziale (Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise ab 1929, Arbeitslosigkeit) oder sogar lokale Faktoren, im Falle der besetzten oder unter Mandat stehenden Gebiete wie dem Saargebiet. Eine der Schwierigkeiten für den Historiker liegt genau darin, das Gewicht der einzelnen Faktoren sowie ihre Gesamtwirkung zu bestimmen. 23 Über die Unterschiede, Gemeinsamkeiten und den Dialog innerhalb der Geschichtsschreibung zu beiden Kriegen vgl. u. a. Beaupré/Duménil/Ingrao 2004 [271]. Zum Nationalsozialismus und den Debatten zum französischen Faschismus vgl. den Folgeband von Stefan Martens. 24 Jaumain/Amara/Majerus/Vrints 2005 [341], Hirschfeld/Krumeich/Renz 2003 [335] und Audoin-Rouzeau/Becker 2004 [267]. 25 Majerus 2004 [364]. 26 Krumeich 2002 [350], S. 13. 27 Zu den Diskussionen über dieses Modell siehe Punkt 8.2.

Verletzungen und Traumata

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Die gewählte Zeiteinteilung ist eine weitere Schwierigkeit des Unterfangens. Sie ist tatsächlich in erster Linie politisch und deutsch, denn sie korrespondiert auf den ersten Blick mit den kurzen 15 Jahren der Weimarer Republik. Die Frage der Verletzungen und ihrer Behandlung – oder der Unmöglichkeit ihrer Behandlung – erlaubt es gerade, den chronologischen Rahmen hinter sich zu lassen, der politisch gesehen keine Relevanz für Frankreich besitzt, obwohl im Januar und Februar 1934 auch die Frage nach dem Umgang Frankreichs mit dem Erbe des Ersten Weltkriegs gestellt wird, denn die Akteure des 6. Februar 1934 sind in erster Linie Kriegsveteranen. So wichtig dieses Ereignis auch sein mag, es besitzt für die französische Geschichte dennoch bei weitem nicht das Gewicht, das in der deutschen Geschichte dem „Tag von Potsdam“ zukommt, der symbolischen Machtübergabe zwischen dem alten Feldmarschall und dem kleinen Gefreiten fünfzehn Jahre nach Kriegsende. Der Zugang über die Frage des Kriegsausgangs erlaubt es also auch, einen Vergleich über den starren chronologischen Rahmen der deutschen Politikgeschichte hinaus anzustellen, der sonst einfach über den französischen Fall übergestülpt würde. Er erlaubt außerdem den bereits von anderen vor uns unternommenen Versuch, „den Verzerrungseffekt zu überwinden, der aus der außerordentlichen Aufmerksamkeit resultiert, die der Nationalsozialismus auf sich zieht und der den Blick auf das zeitgenössische Deutschland als Ganzes vernebelt“28. Der gleichzeitige Blick auf Deutschland und Frankreich sowie auf die Entwicklungsgeschichte des untersuchten Zeitraums verhindert die Fokussierung auf die Weimarer Republik als letzten chronologischen Abschnitt des Sonderwegs, der von Bismarck zu Hitler oder bei einigen sogar von Luther zu Hitler führte, oder auch als Zeit der „Krise der klassischen Moderne“29. Es ist richtig, dass der Nationalsozialismus, der Höhepunkt des gewählten Zeitabschnitts, implizit auch der Ausgangspunkt dieser Studie ist. Der Vergleich, aber vielleicht noch mehr die Reflexivität30 dieser Arbeit und all jener, die sie ermöglicht haben, lassen uns die Teleologie beleuchten, welche die Darstellung dieses Zeitabschnitts mehr als jeder andere beinhaltet, und sogar die Bedeutung von Zufälligkeiten herausarbeiten. Ohne der im Nachhinein so bezeichneten „Zwischenkriegszeit“ eine hypothetische Einheit bezüglich des Vorausgegangenen und dem Folgenden zuzuschreiben und ohne den Zeitraum auf einen simplen „zwangsläufigen Übergang“ von einem Krieg zum nächsten zu reduzieren, geht es darum, die beiden Ländern gemeinsamen und unterschiedlichen, voneinander abhängigen und getrennten, transnationalen und nationalen kulturellen und sozialen Dynamiken herauszuarbeiten, die diesen fünfzehnjährigen Frieden im dreißigjährigen Krieg belebten. 28 Solchany 2003 [225], S. 2. 29 Peukert 1987 [217]. Die Interpretation von Peukert ist selbst eine Art Antwort auf das Modell des Sonderwegs, siehe Möller/Kittel 2002 [511], S. XV; Wirsching 1999 [187]. 30 Werner/Zimmermann 2004 [186].

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Einleitung

Das vorliegende Werk möchte daher die deutsch-französische Geschichte von 1918 bis 1932/33 eher erforschen denn ex cathedra präsentieren31. Diese Erforschung beinhaltet zunächst eine ausführliche Darstellung, die als Untersuchungsrahmen dient und es dem Leser ermöglicht, die ausgewählten und von der Herangehensweise bestimmten Fälle einzuordnen32. Diesem einleitenden Abschnitt folgen einzelne Schlaglichter, die es erlauben, die methodischen Werkzeuge der vergleichenden Geschichte, der Geschichte der Transfers und der Geschichte der Verflechtungen anzuwenden. Wir untersuchen in ganzer chronologischer Breite über den Gesamtzeitraum die von der Geschichtsschreibung neu gestellte Frage nach den Verletzungen des Krieges und den Mitteln, die von den Individuen und der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wurden, um sie zu überwinden. Anschließend beschäftigen wir uns mit Fragen, die ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Sozial- und Kulturgeschichte erneut untersucht werden: Die Besetzung des Rheinlands und des Ruhrgebiets sowie die Völkerbundsmandate über das Saarland und Oberschlesien – wo Frankreich eine zentrale Rolle spielte – werden heute als Orte der direkten Wechselwirkung ganz unterschiedlicher Natur zwischen Deutschen und Franzosen betrachtet. Diese Frage der Interaktion, der transnationalen Begegnungen wird ebenfalls zwei thematische Kapitel füllen; sie sind dem kulturellen und intellektuellen Transfer in dieser Zeit gewidmet, einem Pionierthema hinsichtlich der deutsch-französischen Untersuchungen. Das Buch schließt mit einem Kapitel, das die zwei jüngsten Interpretationen des behandelten Zeitraums präsentiert und hier unter dem Fokus der deutsch-französischen Herangehensweise genauer beleuchtet.

31 Der Aufstieg des Nationalsozialismus und das autoritäre bzw. faschistische Abgleiten in Frankreich werden im nächsten Band der Reihe behandelt. 32 Siehe auch die Chronologie am Ende des Bandes.

I. Überblick

I. Überblick

1. Den Krieg beenden? 1.1. Eine allgemeine Erwartung: Der Sieg 1. Den Krieg beenden?

Bei der Wahl einer Perspektive ist es manchmal wichtig, „nicht alles sehen zu können“, um „einen Gesamtüberblick zu erhalten“33. Einen solchen partiellen Gesamtüberblick wollen wir hier geben. Wir haben in der Tat nicht vor, die x-te Meistererzählung anzubieten, sondern vielmehr einen Rahmen, in den sich sowohl eine reflexive Ebene hinsichtlich der Probleme und Untersuchungsobjekte dieser Epoche als auch die ,Fälle‘ und Themen einordnen lassen, die wir im zweiten Teil dieses Buches behandeln werden. Heute erinnert man sich an das Jahr 1918 wegen seines Endes, gleichsam als hätte es im November begonnen. Dieser Monat markierte das Ende des Kaiserreichs und somit den Anfang einer neuen Epoche. Trotzdem ist dieses Jahr nicht nur wegen seines doppelten Endes ein Übergangsjahr, denn im Laufe des Jahres 1918 veränderte der Erste Weltkrieg noch einmal sein Gesicht. Deshalb ist es grundlegend wichtig, sich mit dem letzten Kriegsjahr zu beschäftigen, um die Auswirkungen des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit auf die 1920er und 1930er Jahre zu ermessen34. Dies ist umso wichtiger, als die klassischen Geschichtswerke dieser Epoche, sowohl deutsche als auch französische, aufgrund von chronologischen Trennlinien die Kriegszeit selten mit einbeziehen. Die Spezialisten für Weimar oder die französische Zwischenkriegszeit, die sich mit Gesamtdarstellungen befasst haben, sind selten Experten für den Ersten Weltkrieg. In diesem Zusammenhang ist dieses Werk ebenso ein Versuch wie auch eine Synthese, die die Wechselwirkungen zwischen beiden Nachbarländern zusammenfasst. Aus dieser Perspektive verdienen einige Elemente eine besondere Aufmerksamkeit. Über die politische Regelung des Konfliktes durch die Pariser Verhandlungen und die Verträge von 1919 hinaus geht es darum zu untersuchen, wie die beiden Länder militärisch den Krieg hinter sich gelassen haben und wie das Kriegsschicksal interpretiert wurde, als es sich abzeichnete sowie kurz danach. Es geht aber auch darum, in welchem Zustand die deutsche und französische Bevölkerung im letzten Kriegsjahr und im ersten Friedensjahr lebte, das für die einen vom Sieg, für die anderen von der Niederlage gekennzeichnet war. Der Versuch, diese Erfahrungen zu rekonstruieren, die von ganz verschiedenen Variablen wie Alter, Geschlecht, Nationalität, regionale Herkunft, soziale 33 Arnold Gehlen zitiert nach Breuer 1996 [486], S. 8. 34 Über die Debatten, die sie hervorrufen, siehe II.8.

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I. Überblick

Klassen etc. abhängen, ohne die spezifische Reaktionsweise jedes Individuums auf das Ereignis mit einzubeziehen, mag ein gewagtes Unterfangen sein. Es ist jedoch ohne Zweifel eine der Pflichten des Sozial- und Kulturhistorikers, dieses Wagnis einzugehen, selbst wenn er um die Unvollkommenheit des Ergebnisses weiß. Die Aufgabe ist umso schwieriger, als der Sinn, der dieser Erfahrung gegeben wird, mindestens genauso wichtig ist wie die Erfahrung selbst. Dieser Sinn aber, der für den Historiker durch die überlieferten Quellen leichter zugänglich ist – etwa durch Memoiren, Zeugnisse, Korrespondenzen und kulturelle Hinterlassenschaften –, ist gleichzeitig eine Projektionsfläche und ein Schutzschirm. Die Aussage von Zeitzeugen, um nur ein grundlegendes Beispiel zu nennen35, erlaubt eine Annäherung an die Kriegserfahrungen, lässt aber gleichzeitig einen Vorhang zwischen diese und den Leser fallen, der unter Umständen ein Gefangener des Blicks des Zeitzeugens werden kann. Aber man darf sich nicht mit der Aporie zufriedengeben. Der Kriegsausgang bietet einen großen und weiten Interpretationsspielraum für den Krieg im Spiegel seiner Auswirkungen. Er erfordert es auch, zu den Erwartungen der Akteure zurückzukommen, zu ihren Zukunftsvorstellungen, zu der Art und Weise, wie die Zukunft, die sie sich vorstellten, Vergangenheit wurde36. Der daraus resultierende Streit der Interpretationen schafft die Möglichkeit, etwas von dem Kaleidoskop an Erfahrungen wiederzufinden. Eine andere Methode kann der Vergleich und die Reflexivität des historischen Blicks darstellen. Die Historisierung von Erwartungen – und ihre Enttäuschung37 – ist ebenfalls wichtig. Daher erscheint es angemessen, zunächst die Erwartungen an den Konflikt zu untersuchen sowie die Weise, wie sich Deutsche und Franzosen den Kriegsausgang vor 1918 vorstellen konnten. Wir behaupten nämlich, dass der Schock über die Diskrepanz zwischen Kriegserwartung und tatsächlichem Kriegsausgang im Zentrum der Erfahrungen des Kriegsendes steht und in beiden Ländern schwer auf der Nachkriegszeit lastet. Der Sinn, der diesen Ereignissen gegeben wurde, und die Art und Weise ihrer Darstellung sind nicht nur Projektionen, sondern echter Teil der Erfahrung selbst, ebenso wie die „wirklich erlebte“ Alltagserfahrung. Beide sind unzertrennlich. Die neueren Untersuchungen zur Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs haben sich genau auf diese Kriegserwartungen konzentriert, das heißt letztlich auf die ultimativen Ziele, die man sich von der Konfliktregelung erwartete. Das Aufkommen dieser Erwartungen und die enorme Investition spontaner Gefühle in diese Erwartungen bildete das Zentrum der „Kriegskulturen“38. Tatsächlich 35 36 37 38

Beaupré 2006 [741], Reimann 2000 [384]. Koselleck 1990 [100]. Freud 1915 [46]. Die Debatten um diesen Begriff zählen zu den spannendsten der letzten Jahre. AudoinRouzeau/Becker 1997 [266]. Vgl. den Abschnitt 2.6. der Bibliographie.

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drückten sie sich in ihrer großen Verschiedenheit durch Praktiken und Darstellungsformen aus, die gleichzeitig Antworten auf neue Erfahrungen sind, so wie sie erlebt wurden, aber auch das Resultat der affektiven und/oder ideologischen Investition der Individuen angesichts dieser privaten Erfahrungen wie auch der allgemeinen Konfliktsituation. Zusammenfassend könnte man einfach sagen, dass der Krieg niemals indifferent lässt und dass man fast immer etwas Großes von ihm erwartet, etwas Ultimatives: ob das der dauerhafte Frieden ist, der Krieg, der alle künftigen Kriege verhindert – das was die Franzosen mit dem Ausdruck „la der des ders“ bezeichnen –, oder die Auslöschung des Gegners und der finale Sieg. In dieser Hinsicht ist die Stärke der Investition in die Erwartung genauso wichtig wie der Inhalt und die Art der Erwartung. Der Schock der Enttäuschung oder Desillusionierung nach 1918 konnte tatsächlich heftiger kaum sein. Im Fall des besiegten Deutschland ist der Schock zweifellos noch größer, auch wenn der Sieg in Frankreich häufig als bitter und sehr teuer bezahlt empfunden wurde. Le Petit Provençal beschreibt die Freudenszenen am 11. November 1918, als 500 000 Personen auf den beflaggten Straßen von Marseille unterwegs waren: „Jeder vibriert! Enthusiasmus ist an der Tagesordnung. Dennoch sind einige traurig, denn sie beweinen einen der Ihren, der im 51-monatigen Sturm verschwunden ist. Sie weinen um das teure Wesen, das sie dem Vaterland gegeben haben, damit Frankreich eines Tages glücklich sein könne. (…) Falls Sie einen Trauerschleier, einen Trauerflor sehen, Einwohner von Marseille, werdet leise! Verbeugt euch vor dem Schmerz, der für Frankreich erlebt wurde! Verbeugt euch vor denen, die einen der Helden beweinen, die den Sieg errungen haben, den ihr feiert.“39

Unter den großen Erwartungen rangierte unbestritten der Friedenswille, manchmal auch interpretiert als „Friedensehnsucht“. Diese war weit verbreitet, aber nicht dem Pazifismus gleichzusetzen. Tatsächlich war der während des Krieges erwartete Frieden keiner um jeden Preis. Jüngste Forschungen zur Ikone des Pazifismus, Henri Barbusse, haben gezeigt, dass auch für ihn der Frieden einem Sieg über Deutschland untergeordnet war, dem „zentralen Schlupfwinkel von Kaiser, Kronprinz, Gutsherren und Haudegen, die ein Volk einkerkern und die anderen einkerkern möchten“40. Wenn dieser Satz sein Engagement 1914 rechtfertigte, musste er seinen Appell für einen siegreichen und aufopferungsvollen Frieden während des gesamten Krieges wiederholen, wie z. B. nach den Meutereien, die die französische Armee erschütterten, in den 191741 veröffentlichten Artikeln mit dem Titel Pourquoi te-bats tu? (Warum kämpfst du?) oder Jusqu’au bout (Bis zum Ende): „Führt diesen Krieg bis zum Ende, bis zum Ende des Elends, des Leidens, des Unglücks und der Schande, die der Krieg seit Millionen Jahren über die Erde verbreitet 39 Le Petit Provençal vom 12. November 1918, zit. von Le Naour 2005 [358], S. 125. 40 Zitiert nach Beaupré 2006 [741], S. 34. 41 Über das Jahr 1917, u. a.: Becker 1997 [281].

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I. Überblick hat, opfert euch und gebt euch hin bis zum Ende, damit eure Kinder eines Tages nicht das tun müssen, was ihr getan habt.“42

Zweifellos waren die in den Sieg gesetzten Erwartungen von sehr unterschiedlicher Natur. Während die Mehrheit hofft, dass der Krieg „der letzte der letzten“ sein wird, der „Krieg, der allen Kriegen ein Ende setzen wird“, sind die Mittel, um dies zu erreichen, und die mit dieser Idee verbundenen Vorstellungen sehr verschieden. Barbusse versprach sich davon eine neue Welt, besser und befriedet, die nach dem Krieg unter seiner Feder eine kommunistische werden wird. Andere erhoffen sich, Deutschland zu bestrafen oder zumindest durch Waffengewalt und die Verträge eine endgültige Sicherheit für Frankreich und seine Grenzen zu erreichen. Ihrer Meinung nach wird allein diese Sicherheit der Garant für den künftigen Frieden sein. Aber die Verschiedenartigkeit dieser Erwartungen, die manchmal eine sehr ausgeprägte eschatologische Dimension43 enthalten, verdecken nicht, dass die häufigste Erwartung der siegreiche Frieden ist. Diese Erwartung erklärt, warum eine Mehrheit von Franzosen wie Deutschen, trotz ihrer extremen Kriegsverdrossenheit und ihres Willens, den Krieg bald enden zu sehen, „nicht ertragen konnten, besiegt zu leben“44. Diese Tatsache sollte man umso mehr im Hinterkopf behalten, als das Jahr 1918 eine erneute Mobilisierung dieser großen Erwartungen erlebt, hauptsächlich auf eine Rückkehr des Bewegungskrieges, der eine baldige Entscheidung des Krieges voraussehen ließe.

1.2. Ende der Kriegshandlungen und Beginn einer neuen gegenseitigen Feindschaft Noch vor dem Frieden von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 wurde man sich erst in den Kanzleien und dann der Front bewusst, dass die Entscheidung auf den Schlachtfeldern des Westens fallen würde. Natürlich waren Franzosen und Deutsche bei weitem nicht die einzigen Kriegsparteien, die sich gegenüberstanden, aber der Krieg sollte nun in Frankreich gewonnen oder verloren werden. Obwohl der Krieg ein Weltkrieg blieb – die Auswirkungen des US-amerikanischen Kriegseintritts im April 1917 begannen sich nun direkt bemerkbar zu machen –, wurde er in gewisser Weise im Jahr 1918 wieder deutsch-französisch. Die Geister wurden erneut mobilisiert, und die Hoffnungen auf den Sieg waren, nach der wiederholten Niedergeschlagenheit über die Kriegsdauer und nach den Niederlagen in den großen Materialschlachten der Jahre 1915, 1916 und 1917, 42 Zitiert nach Demm 1999 [310], S. 363. Siehe auch Lindner-Wirsching 2004 [361] und Beaupré 2006 [741]. 43 Audoin-Rouzeau/Becker 2000 [262], S. 182–195. 44 Geyer 2006 [325], S. 41.

1. Den Krieg beenden?

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wiederbelebt. Das Jahr 1917 war in der Tat durch eine extreme Kriegsmüdigkeit unter den Kriegsparteien gekennzeichnet, vor allem in Deutschland und in Frankreich. Auch wenn Deutschland nicht wie Frankreich große Wellen von Soldatenmeutereien erlebte, so gab es in beiden Ländern vergleichbare umfassende Streiks45. Diese Streikwellen hatten Ausläufer bis zu Beginn des Jahres 1918, vor allem in Deutschland mit dem großen Streik im Januar 1918. Ihre Auswirkungen waren sogar über das Jahr 1918 hinaus zu spüren, denn sie wurden den Sozialdemokraten in Deutschland ständig von deren politischen Gegnern zum Vorwurf gemacht. Dennoch wurde diese „Ernüchterung“46 ab dem Winterende 1917/1918 unterbrochen. Die geschätzte Anzahl der Streikenden 1917 und 1918 bestätigt diese Unterbrechung: In Deutschland waren es 1917 667 000 und 392 000 im Jahr 1918, und in Frankreich 294 000 1917 und 176 000 1918. Im Jahr 1919 steigen diese Zahlen wieder auf 2 321 000 beziehungsweise 1 151 00047. De facto hatte die Aussicht auf das Kriegsende, und damit auf eine letzte Anstrengung zur Beendigung des Krieges, einen gewissen abschreckenden Effekt, der sich in diesem umfassenden Absinken der Anzahl der Streikenden im Jahr 1918 niederschlägt. Weiterhin muss angefügt werden, dass die Streiks in der Heimat nicht die Solidarität der Frontsoldaten fand, die sie in ihrer ganz großen Mehrheit ablehnte. Diese Tatsache wird besonders deutlich im Fall des deutschen Streiks vom Januar 1918. Die Soldaten – von denen die Mehrheit Bauern waren und aus der Provinz stammten – hielten die Berliner Arbeiter für Privilegierte, die unberechtigterweise den Krieg durch die Streiks verlängerten, und forderten sie auf, zu ihnen an die Front zu kommen48. Im Fall Deutschlands können der deutsche Sieg im Osten 1918 und seine Inszenierung durch das Große Hauptquartier, das an seine eigenen utopischen Fiktionen vom Aufbau eines von Deutschland abhängigen Militärstaates glaubt, der Bevölkerung weismachen, dass die Armee ihre Bemühungen auf die Westfront übertragen und schließlich den Sieg davontragen könnte. Das Abenteuer der Besatzung im Osten und im sogenannten Gebiet Ober Ost wird von intensiven Propagandabemühungen und einer millenarischen Phantasiewelt bezüglich eines Großdeutschland, der Kolonisation und der Vormundschaft über weite Gebiete Osteuropas begleitet. Diese Propaganda und die Erfahrung, die Millionen Soldaten im eroberten Osten machten, generierten neue mentale Karten (mental maps) zeitgleich mit Erwartungen und Ängsten bezüglich der Territorien und ihrer zu kontrollierenden Bevölkerung. Die Erfahrun45 Becker 1997 [281], S. 105–111. 46 Peukert 1987 [217], S. 36; Gay 1993 [199], S. 25. 47 Die Zahlen stammen aus R. Ia. Ezerov, I. P. Mador, T. T. Timofeev, zit. von Charle 2001 [166], S. 285. 48 Ziemann 2004 [426], S. 142–144.

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I. Überblick

gen bezüglich sozialer und demographischer Projektplanung von Ober Ost, die gekonnt in Szene gesetzt wurden, kultivierten diese Erwartungen und Ängste49. Sicherlich kompensiert die Anregung der Vorstellungskraft nicht immer die leeren Bäuche und die immer schwierigeren materiellen Bedingungen, denen die vom Krieg erschöpfte deutsche Bevölkerung unterworfen ist. Die Härte der aufeinanderfolgenden „Steckrübenwinter“, die zum Teil der alliierten Blockade zuzuschreiben sind, und die im Krieg ungefähr 800 000 Tote bedingten50, bestätigte die Deutschen in ihrer doppelten Überzeugung, einerseits einen gerechteren Krieg als der Gegner zu führen, und dass es andererseits notwendig sei, ihn rasch zu beenden. Der Frieden sollte schnell eintreten, aber auch siegreich sein. Die großen siegreichen Frühjahrsoffensiven 1918 und die Rückkehr zum Bewegungskrieg verstärkten den Eindruck, das Ende sei nah und der Sieg noch immer möglich. Tatsächlich hat die Großoffensive den Effekt einer erneuten Mobilisierung51, und „das tiefe Streben nach Frieden, das sich in den Korrespondenzen der Soldaten zumindest seit der zweiten Hälfte des Jahres 1916 ausdrückt, geht nun völlig in der Hoffnung auf eine entscheidende Offensive auf“52. Die Frustration angesichts des Scheiterns ab dem Sommer hätte größer nicht sein können. Zugegebenermaßen waren die Erfolge zu Beginn des Frühjahrs überzeugend. Dank eines gewissen Überraschungseffekts aufgrund reduzierter Artillerievorbereitung und der neuen Taktik, mobile Stoßtruppen in das feindliche Grabensystem einsickern zu lassen, ermöglicht es die Offensive Michael ab dem 21. März 1918 zum ersten Mal seit 1914 wieder, die Front in der Picardie zu durchbrechen. Ende Mai wird die Front bei der dritten großen deutschen Offensive im Sektor des Höhenzugs Chemin des Dames nochmals innerhalb von drei Tagen mehr als 60 km tief durchbrochen. Seither erblickten selbst die am wenigsten kriegerischen deutschen Soldaten, selbst jene, die vorher zu einem Frieden um jeden Preis bereit waren, die Möglichkeit eines siegreichen Friedens, womit sie sich mit denen trafen, für die ein Frieden ohne Sieg undenkbar war. Und erst nachdem Deutschland „seine wesentlichen Ressourcen an Männern und Material in eine intensive Anstrengung hatte fließen lassen, den Sieg zu erzwingen, bevor die Ankunft der amerikanischen Truppen das strategische Gleichgewicht verändern würde, erlebte es eine schwere militärische Krise, die Niederlage und das Chaos der Revolution“53. Es stimmt, dass diese zunächst erfolgreiche Offensive extrem kostspielig an Menschen war und die logistische Schwäche einer ausgebluteten Armee ebenso offenbarte wie die Blindheit des Oberkommandos, allen voran Ludendorffs, der Mitte Juli einen Rückzug nach der Niederlage seiner Offensive südlich von Reims ablehnte. Am 18. Juli starteten die

49 50 51 52 53

Liulevicius 2002 [362], S. 189–217. Vincent 1985 [405], S. 124–156. Ziemann 2004 [426], S. 144–145; Ziemann 1999 [421]. Duménil 2004 [316], S. 235. Ebd., S. 229.

1. Den Krieg beenden?

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Alliierten eine Gegenoffensive im Bereich der Somme. Der Generalstab, und hauptsächlich Prinz Ruprecht von Bayern, begriff nun, dass der Krieg militärisch verloren war. Diejenigen, die sich selbst vom Gegenteil überzeugen wollten, konnten dies nach dem „schwarzen Tag des deutschen Heeres“ am 8. August 1918 nicht mehr: An diesem Tag wird die Offensive von Amiens – durchgeführt vor allem mithilfe von mehr als 400 Kampfpanzern, eine Waffe, an die die Deutschen nicht glaubten – mit 12 000 deutschen Gefangenen und ungefähr 18 000 Toten und Verletzten bezahlt. Das Jahr 1918 ist demnach von extremen Wechseln der Truppenmoral gekennzeichnet, deren revolutionäre und gegenrevolutionäre politische Auswirkungen noch näherer Untersuchungen bedürfen54. Im Oktober 1918 bewegt eine Debatte die Ebene ziviler und militärischer Führungsträger, bevor sie in die Öffentlichkeit gelangt: die einer levée en masse (Massenaushebung). Für Michael Geyer, der ihre Bedeutung betont, konnten Revolution und Niederlage erst ihren Lauf nehmen55, als die Option eines Volkskrieges oder eines Endkampfes – oft nur mit größtem Widerwillen wie im Falle des Reichskanzlers Max von Baden – beiseite geschoben war. Die politische Entscheidung des Kanzlers und des Reichstages, keinen Endkampf mithilfe einer Massenaushebung zu führen – eine Möglichkeit, die vor allem von Walther Rathenau unterstützt wurde –, als die militärische Niederlage, wie vom Führungsstab zugegeben, vollzogen war, zeugt von großem politischen Mut: „Wichtiger als die militärischen und die Belange des Nationalstolzes war es, den Krieg durch politische Mittel zu beenden“56, schreibt Michael Geyer, nicht ohne anzufügen, dass diese Entscheidung der Ausgangspunkt für tiefe soziale und politische Spaltungen war. Für viele auf Seiten der Rechten und der extremen Rechten war der Endkampf nur vertagt. Die Erzählungen vom Kriegsende und dem Anfang der Weimarer Republik betonen nun aber immer den „verdeckten Streik der Soldaten“ und die „Verdrossenheit“57 der Zivilbevölkerung. Selbst wenn diese Phänomene echt sind und sich auf chronische Weise verschärfen, als die dramatischen Nachrichten vom Zustand der Armee an der Front durchsickern, darf man nicht vergessen, dass diese Haltung einer mächtigen Bewegung allgemeiner Remobilisierung, vor allem im Jahr 1918, folgte. Dieser Augenblick der Remobilisierung war selbst eine Episode enormen Einsatzes, der 50 Monate lang – mit Höhen und Tiefen – die Bevölkerung beider Länder mobilisiert hatte. Die Demobilisierung von im Krieg befindlichen Körpern und Geistern folgte also auf sehr große Erwartungen. Sie war auch weniger die Ursache als die Konsequenz der militärischen Niederlage. In Deutschland zerbrach die „Dynamik der Zustimmung“58 angesichts des Wissens um die Niederlage. 54 55 56 57 58

Ziemann 1999 [421], S. 182. Geyer 2001 [323], S. 475. Ebd., S. 502. Deist 1986 [305] und Deist 1992 [306]. Duménil 2004 [316], S. 255.

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I. Überblick

Detlev Peukert hat außerdem betont: „Angesichts der millenarischen Hoffnungen, die der Weltkrieg geweckt hatte, musste jeder Friedensschluss zur Enttäuschung führen“59. Dies ist umso wahrer, als diese „millenarischen Hoffnungen“ und andere „eschatologischen Erwartungen“ ein letztes Mal in der ersten Hälfte des Jahres 1918 anschwollen und sich bis zur Idee einer Massenaushebung oder eines Endkampfes im Oktober hielten. Dabei erreichten diese Hoffnungen ein Niveau, das sie seit 1914 nicht mehr hatten. Es handelte sich hier weniger um Euphorie – schwer möglich nach vier Jahren Massensterben – als vielmehr um den Entschluss, den Sieg zu erzwingen, um Frieden zu haben. Sebastian Haffner, damals ein Jugendlicher, verdeutlicht diese geistige Remobilisierung sehr gut: „Ich wartete tatsächlich auf den Endsieg noch in den Monaten Juli bis Oktober 1918, obwohl ich nicht so töricht war, nicht zu merken, dass die Heeresberichte trüber und trüber wurden und dass ich nachgerade gegen alle Vernunft wartete“60. An anderer Stelle fügt er hinzu: „Wie aber so ein Kriegsende ohne Endsieg aussehen würde, davon hatte ich keinen Begriff; ich musste es erst sehen, um es mir vorstellen zu können“61. Trotz des verdeckten Streiks, der so gerne als untrügliches Zeichen der Verdrossenheit gewertet wird, verhinderten die Frontsoldaten nicht, dass 1918 die heftigsten Kämpfe des ganzen Krieges stattfanden, und das noch vor dessen Höhepunkt, den die minoritäre Selbstmobilisierung der Freikorps darstellte. Die Verlustraten vom Frühjahr zum Sommer 1918, als die Deutschen in die Offensive und schließlich in die Defensive gingen, sind in der Tat die höchsten des Krieges62. Die Zäsur tritt in den Einheiten auf, die in diesem letzten Ansturm dezimiert wurden, als der Sieg nicht mehr denkbar scheint und als individuelle Überlebensstrategien die Oberhand gewinnen. Aber auch diese dominieren nicht völlig, da sehr viele, komplett aufgelöste Einheiten weiterkämpfen und Schritt für Schritt zurückweichen, beherrscht von der Angst, dass der „Verwüstungskrieg“, den sie erlebt haben, in ihr Land transportiert werden könnte63. Da sie undenkbar war, stellte man sich die Niederlage sehr lange Zeit nicht einmal vor. Für einige blieb sie unwirklich, beziehungsweise der Krieg blieb unvollendet, und der für 1918 erwartete Endkampf sollte noch kommen. Auf französischer Seite war das Jahr 1918 ebenfalls von einer geistigen Remobilisierung geprägt. Die „Friedenssehnsucht“ kulminierte 1917 nach der Niederlage der Nivelle-Offensive auf dem Chemin des Dames. Der deutsche Vorstoß vom Frühjahr 1918 lässt noch einmal defensive Phantasien hervortreten, die im Zentrum der französischen Kriegskultur standen. Noch einmal wird Paris direkt bedroht. Die Luftangriffe und der Beschuss der Hauptstadt mit schwerer, weit59 60 61 62 63

Peukert 1987 [217], S. 168. Haffner 2002 [50], S. 26. Ebd., S. 29. Geyer 2001 [323], S. 489. Duménil 2004 [316], Geyer 2004 [324].

1. Den Krieg beenden?

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reichender Artillerie wurden im Januar 1918 wieder aufgenommen, ein Beispiel dafür ist der Beschuss der Kirche Saint-Gervais am 29. März 1918 während des Karfreitagsgottesdienstes. Diese Angriffe prägten die Menschen und schweißten das Land zusammen, indem sie die verschiedensten Zwistigkeiten zwischen Front und Hinterland, zwischen Norden und Süden abmilderten. Als in Paris bei einem Zeppelinangriff am 31. Januar 1918 26 Menschen den Tod erlitten, richtete der Stadtrat von Marseille eine Unterstützungsadresse an die Hauptstadt64. Es gibt also neue Kämpfe an der Marne, und in gewisser Weise spielt man 1918 das Jahr 1914 nach. Anschließend erreichen das deutsche Scheitern und die Aussicht auf einen möglichen Sieg eine geistige Remobilisierung für den besten Frieden, der vorstellbar ist: den Sieg. Je schneller er erreicht wird, desto schneller können die Soldaten demobilisert werden und in das normale Leben zurückkehren, auf das sie hoffen. Hier zeigt sich erneut, dass sich die Hoffnung auf den Sieg – die notwendigerweise über den Kampf führt –, die Erschöpfung der Männer und der Wille zum Frieden und zur Rückkehr in den Alltag nicht ausschließen. Die Archive der Postkontrollbehörde bezeugen diesen Anstieg der Truppenmoral und ihren Willen, mit einem Sieg zum Ende zu kommen65. In gewisser Weise wurden die Ermüdung und der Verschleiß – teilweise – durch die Aussicht auf den Sieg kompensiert. Die Stimmung ist seitdem abhängig vom Vorrücken und vom Fortschritt der Armee, ebenso wie die Lebensbedingungen. Als der Winter näherkommt, während der Sieg schon im Sommer in Reichweite schien, sinkt die Stimmung wieder. Die Beunruhigung wird durch eine Spanische-Grippe-Epidemie verstärkt, die zu wüten beginnt. Aber, wie Bruno Cabanes schreibt: „Diese Erschöpfung der Truppen im September – Oktober 1918 bedeutet auch nicht, dass die Soldaten damit einverstanden wären, dass Frankreich einen raschen Frieden zu jedem erdenklichen Preis unterzeichnet.“ Der Historiker fügt an, dass Formulierungen wie: „Der Moment ist noch nicht gekommen, es ist wichtig den Feind zu schlagen, bevor man mit ihm redet“, die häufigsten in den Soldatenbriefen sind66. Die immer massivere Ankunft der neuen amerikanischen Alliierten und die zunehmende Entdeckung des Zustands der überfallenen, nun befreiten Territorien tragen ebenfalls zur Remobilisierung der Truppen bei. Wenn wir auf diese französischen und deutschen Erwartungen von 1914 bis 1918 zurückkommen, 1918 zunächst wiederbelebt, dann ab Ende des Jahres zunehmend demobilisiert, dann deswegen, weil sie in Untersuchungen zumeist vergessen werden – diese beginnen häufig am 11. November 1918. Und das, obwohl die Erwartungen des Sieges und an den Sieg eine wichtige Rolle für das Selbstund Fremdbild spielen. Sie wiegen schwer im Moment der Konfrontation mit der Erfahrung des Waffenstillstands, der Niederlage, des Sieges und schließlich der Konsequenzen der Friedensverträge. 64 Le Naour 2005 [358], S. 114 65 Cabanes 2004 [294], S. 24. 66 Ebd., S. 32.

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I. Überblick

Die Beibehaltung und die Remobilisierung von aus dem Krieg erwachsenen Vorstellungen im Jahre 1918 erklären, warum weder der Waffenstillstand noch die Verträge einen Schlusspunkt für alle setzen. Gerd Krumeich betont, der Waffenstillstand von Rethondes (in der Nähe von Compiègne)67 habe eher einer bedingungslosen Kapitulation geglichen als einem Waffenstillstand im echten Sinne des Wortes. Klassischerweise war ein Waffenstillstand „eine momentane und gegenseitig vereinbarte Einstellung der Kampfhandlungen, eine Art Waffenruhe, die normalerweise der Erholung und der Wiederherstellung der Mittel der Kriegsparteien dient, dessen Funktion jedoch auch darin bestehen kann, Friedensverhandlungen zu beginnen“68. Obwohl es die Deutschen sind, die aufgrund der militärischen Niederlage den Waffenstillstand verlangen, sind sie kaum in der Position zu verhandeln, nicht mehr übrigens als die Russen ein Jahr zuvor. Seit dem 29. September und dem Eingeständnis des Scheiterns der großen Offensive sind die deutschen Generäle nicht mehr in der Position der Stärke, um irgendetwas durchzusetzen. Ludendorff selbst forderte die Eröffnung von Waffenstillstandsgesprächen, jedoch unter der Verantwortung einer neuen Regierung und des Parlaments, was es ihm erlaubte, die Verantwortung für die Niederlage auf das Letztere abzuwälzen. Tatsächlich waren Ludendorff und Hindenburg nicht dazu bereit, sich für besiegt zu erklären und die Verantwortung für den Waffenstillstand auf sich zu nehmen, obwohl sie sie für die militärische Niederlage trugen69. Der Rücktritt Ludendorffs am 26. Oktober, zwei Tage nachdem er von den deutschen Soldaten unter dem Vorwand, der von den Alliierten vorgeschlagene Frieden sei nicht „ehrenvoll“, die Fortsetzung des Kampfes gefordert hatte – während er gegen Rathenaus Endkampf-Lösung gewesen war –, eröffnet den Weg zum Waffenstillstand. Doch indem der General zurücktrat, bevor er seine Verantwortung für die Niederlage übernehmen musste, gelang ihm ein symbolischer Coup. Im Folgenden suchte er Sündenböcke für die Niederlage und wurde einer der führenden Vertreter der Dolchstoßlegende. Die Tatsache, dass der Waffenstillstand aufgezwungen und nicht ausgehandelt wurde, warfen Ludendorff und seine Freunde nicht nur den Alliierten vor, sondern auch und vielmehr den innenpolitischen Gegnern. Unter diesem Blickwinkel gehört die Geschichte des Waffenstillstands und des Kriegsendes ebenso zur Geschichte des Krieges wie zu jener der Jahre 1918 –1933.

67 Renouvin 1968 [386]. 68 Krumeich 2004 [351], S. 981. 69 Ebd., S. 987.

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1.3. 1918–1919: Deutsch-französischer Krieg mit anderen Mitteln Der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland wurde im Übrigen von 1918 bis 1920 mit anderen Mitteln fortgesetzt. Das Ende der Kampfhandlungen bedeutete nicht das Ende der Feindseligkeit. Die Demobilisierung des „Krieges der Geister“ sollte noch länger dauern. Dies wird besonders klar anhand von drei erwähnenswerten Fällen. Der erste und zweifellos sowohl politisch als auch symbolisch wichtigste Fall ist, seit November und gemäß der Waffenstillstandsklauseln, jener der Besetzung weiter deutscher Territorien durch fremde und vor allem französische Armeen, was eine totale Umkehrung des Verhältnisses Besatzer – Besetzte im zu Ende gegangenen Krieg markiert. Dieser Aspekt, der gerade eine entscheidende historiographische Erneuerung erfährt, wird noch Gegenstand langer Ausführungen im zweiten Teil des Buches70. Wir erinnern anschließend an weitere Aspekte dieser Fortsetzung des Krieges in anderer Form, zunächst an die Fortsetzung der Wirtschaftsblockade gegen Deutschland, anschließend an den Fall der Rückkehr der „verlorenen Provinzen“ an Frankreich (genauer gesagt der Fall des Elsass). Dieses erlaubt uns, den Analysemaßstab zu variieren, indem wir die Konsequenzen der Fortsetzung des Krieges in der Nachkriegszeit landesweit, regional und bezüglich eines besonders wichtigen Wirtschaftszweiges berücksichtigten. Hinzuzufügen ist, dass diese Kontinuitäten auch anhand anderer Beispiele illustriert werden könnten, wie etwa der Beschäftigung von ungefähr 300 000 deutschen Gefangenen 1918 bis 1919 zur Säuberung der Schlachtfelder71 oder der gegenseitigen Beobachtung deutscher und französischer Hochschullehrer zum Kriegsende72.

1.3.1. Die Blockade Die Blockade73 wird nach dem 11. November beibehalten und dient sogar als Druckmittel bis zu ihrer tatsächlichen Aufhebung im März 1919, was aus dem Waffenstillstand vom November de facto einen bedingten Waffenstillstand macht. Die Franzosen sind die Letzten, die der Aufhebung zustimmen.

70 71 72 73

Kapitel II.3 bis II.5. Delpal 2001 [309]. Siehe Kapitel II.6.3. Es gibt nur ein Überblickswerk zu diesem grundlegenden Problem: Vincent 1985 [405]. Zu den Auswirkungen der Blockade in Berlin: Winter/Robert 1997 [419], S. 305 – 341 und 487– 523.

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I. Überblick

Die Blockade macht sich seit 1917 bemerkbar in einer, verglichen mit französischen und englischen Städten, spektakulär hohen Sterblichkeitsrate in den deutschen Städten. In Berlin steigt die Sterblichkeit von Kindern und Frauen an. Bei Frauen über 60 Jahren steigt die Sterblichkeit von ungefähr 62/1000 im Jahr 1916 auf fast 85/1000 1917. 1919 ist die Rate mit mehr als 65/1000 höher als die von 1916. Im Fall der Sterblichkeit von unter einjährigen Mädchen ist die Rate 1919 sogar weitaus höher (ungefähr 180/1000) als während des Krieges (sie betrug 110/1000 im Jahr 1916). Bei unehelichen Kindern ist die Rate noch höher und hält sich bis 1921 bei 300/1000. Auch in diesem Fall steigt sie am stärksten zwischen 1918 und 191974. Zwar schlägt zu diesem Zeitpunkt die Epidemie der Spanischen Grippe zu, doch trifft diese ganz Europa, sodass sich die erhöhte Sterblichkeit in Berlin im Vergleich zu Paris oder London dadurch nicht erklären lässt. Allerdings trifft die Grippe Deutschland ganz besonders hart aufgrund der vom Hunger und den seit Winter 1917 besonders spürbaren Einschränkungen geschwächten Körper. Natürlich ist diese übermäßige Sterblichkeit nicht nur der Blockade zuzuschreiben. Ihre Ursachen wurden auch in Deutschland diskutiert, wobei vor allem die Linke das kaiserliche Regime und die Armeeführung im Nachhinein der Fahrlässigkeit und Unfähigkeit anklagte, da beide gänzlich auf die Kriegswirtschaft gesetzt und die Zivilbevölkerung vernachlässigt hätten75. Sozialgeschichtliche Untersuchungen haben seither diese Unfähigkeit des Staates76 bestätigt, die zum großen Teil auf die ideologisch geprägte Vision der „Welt im Krieg“ und auf die Kraftanstrengungen der deutschen kriegführenden Generäle zurückzuführen ist. Der übertriebene Dirigismus und der Mangel an Lebensmitteln gingen einher mit einem Aufschwung des Schwarzmarktes77, was sich noch stärker auf die Versorgungslage und den ungleichen Zugang zu Nahrungsmitteln auswirkte. Die Inflation und die Blockade, das Nachkriegschaos und der Regimewechsel haben diese Situation zusätzlich verschlimmert. Nach Meinung von Beobachtern war es also möglich, die ganze Verantwortung für das Versorgungsdefizit der Bevölkerung auf manichäische Weise entweder den Regierungsverantwortlichen oder der alliierten Kriegführung zuzuschreiben. Wie dem auch sei, die Auswirkungen der Blockade waren echt und trugen zur übermäßigen Sterblichkeit der jüngsten und ältesten Altersklassen sowie der am meisten benachteiligten sozialen Gruppen bei, indem sie zu einer Kürzung der individuellen Rationen führten, die viel drastischer ausfiel als in anderen kriegführenden Ländern. So waren Ende 1918 die Fleischrationen in Berlin auf 12 % des Vorkriegsstandes gefallen und die Rationen der Getreideprodukte wie 74 Die Zahlen stammen alle aus Winter/Robert 1997 [419], S. 487– 524. 75 Über diese Debatte und ihre Verbindungen zur Dolchstoßlegende siehe Barth 2003 [270], S. 26 – 37. 76 Bonzon/Davis 1997 [290], S. 333–339. 77 Davis 2000 [304].

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Brot auf 48 %78. Diese Effekte waren zudem dauerhaft, und ihr Ausgleich dauerte seine Zeit. Noch 1922 betrug die Jahresration an Fleisch in Deutschland nur die Hälfte des Vorkriegsniveaus (52 kg 1913 und 26 kg 1922)79. Es ist sehr schwierig, die Verluste, die direkt auf die Blockade zurückzuführen sind, zu beziffern, denn die anderen Faktoren wie z. B. für die Bevölkerung unglückliche innenpolitische Entscheidungen haben sie ebenfalls stark beeinflusst. Zudem war der Hunger nicht immer die direkte Todesursache, sondern begünstigte vielmehr die Verbreitung tödlicher Krankheiten wie der Tuberkulose, die während des Krieges ausbrach. Ebenso war die von der Spanischen Grippe verursachte Sterblichkeit in Deutschland nach den Berechnungen von C. Paul Vincent um 250 % höher als in Großbritannien, im Verhältnis zur Anzahl der Betroffenen. Folglich sind, immer noch gemäß Vincent, die Zahlen in einem Memorandum des Reichsgesundheitsamtes (die Berechnungen wurden im Dezember 1918 eingestellt), das 763 000 Hungeropfer während der Blockade auswies, weitgehend plausibel – umso mehr, da sie weder die Opfer des Jahres 1919 noch die Opfer der Spanischen Grippe einbeziehen, die bereits Ende 1918 gestorben sind80. Die Blockade hatte auch nicht zu vernachlässigende symbolische Auswirkungen. Indem sie sich gegen Frauen und Kinder wandte, brachte sie eine spezifische Form der Kriegsgewalt ins Zentrum der Heimatfront und trug zur Totalisierung des Krieges bei – wie bei den ersten Bombardierungen von Zivilisten oder bei den U-Boot-Angriffen gegen Passierschiffe. Zusammen mit der Beschädigung des Staatsgebietes und dem Verlust der Kolonien, wie auch mit der Erinnerung an die Besetzung weiter Gebiete im Osten des Kontinents81, trug die Erinnerung an die Blockade, die bisweilen für politische Zwecke absichtlich kultiviert wurde, auch zum Erfolg der Idee vom mangelnden Lebensraum und der dringenden Notwendigkeit einer unabhängigen Lebensmittelversorgung, eventuell durch Ostkolonisation, bei82. Diese Idee ging über die Kreise der Ökonomen und Geographen hinaus und erreichte bisweilen sogar die breite Öffentlichkeit. Einer der großen Bucherfolge der Weimarer Republik war beispielsweise – trotz seiner schwerverdaulichen und kleingedruckten 1300 Seiten – der Roman Volk ohne Raum von Hans Grimm, der all diese Themen zusammenmischte. 1926 erschienen, waren 1933 bereits 200 000 Exemplare des Buchs verkauft. Die Blockade stellte für jene, die sie erlebt hatten, eine „Kriegserfahrung“ dar. Dieses Faktum sollte auch von denjenigen beachtet werden, die anführen, dass die Nationalsozialisten mehr Zuhörer und Anhänger unter der jungen Gene78 79 80 81 82

Bonzon/Davis 1997 [290], S. 317. Vincent 1985 [405], S. 136. Ebd., S. 141–145. Liulevicius 2002 [362]. Vincent 1985 [405], S. 150.

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ration fanden, die die Front nicht erlebt hatte, und dadurch die These der „Brutalisierung“ durch den Krieg entkräften wollen83. Die junge Generation, die dem Nationalsozialismus anhing, hatte natürlich nicht den Grabenkrieg erlebt, aber auf andere Art und Weise machte auch sie die Erfahrung des Krieges. Belinda Davis beschreibt dies folgendermaßen: „die Schrecken des Regimes, das Weimar folgte (…) muss in Relation gesehen werden zu der Gewalt der Erfahrungen an der Heimatfront wie auch zu denen, obwohl sehr verschieden davon, an der Kriegsfront“84. Diese jungen Menschen waren nicht nur während des Krieges sozialisiert worden, sondern in gewisser Weise auch durch den Krieg und vor allem durch die Blockade. Für C. Paul Vincent wurde die „zum Opfer gewordene Jugend von 1915– 1920 die radikalste Anhängerschaft des Nationalsozialismus“85. In dieser Hinsicht bestätigt die Tatsache, dass es die Jugendlichen und nicht die Veteranen waren, die die nationalistischen und revanchistischen Kohorten bildeten, vielleicht nicht die These von der „Brutalisierung“ nach Mosse, aber sie entkräftet sie auch nicht. Weiterhin verlängerte die Blockadeerfahrung de facto den Krieg über den Waffenstillstand hinaus und lieferte denen Argumente, die die Haltung der Sieger im Allgemeinen und der Franzosen im Besonderen anprangerten. Die Franzosen wollten tatsächlich die Blockade weiter verlängern. Wenngleich die Verantwortung für diese während des Krieges aufgrund ihres in erster Linie maritimen Charakters den Briten zugeschrieben wurde, ist ihre Verlängerung über den 11. November hinaus den Franzosen zuzuschreiben.

1.3.2. Der Fall des Elsass Die deutsch-französische Perspektive schließt auch die regionale Analyseebene ein. Tatsächlich ist die deutsch-französische Geschichte auch die Geschichte der Regionen zwischen Frankreich und Deutschland, der Grenzen und der Kontakte. In der Zeit, die uns beschäftigt, stellt der Fall Elsass-Lothringen und damit die Rückkehr der verlorenen Provinzen – wie es in der französischen Terminologie damals hieß – einen wichtigen Aspekt dieser Geschichte dar. Abgesehen von der Freude der Bevölkerung bei der Ankunft der französischen Truppen, die am 22. November in Straßburg kulminierte und Poincaré bei dieser Gelegenheit sagen ließ: „Das Plebiszit ist geschaffen“86, war eine der 83 84 85 86

Siehe Kapitel II.8. Davis 2000 [304], S. 243. Vincent 1985 [405], S. 162. Zitiert nach Roth 2004 [658], S. 1065. Siehe auch Granier 1969 [600]. Der echte Enthusiasmus der Elsass-Lothringer hinderte diese nicht daran, ihre sozialen, schulischen und religiösen Rechte zu verteidigen, die sie während des Deutschen Kaiserreichs erhalten hatten, das sie ansonsten wenig vermissten. Zum Einzug der Truppen selbst siehe Baechler 1969 [558], S. 393–407.

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radikalsten politischen Äußerungen der fortgesetzten Feindseligkeit nach dem 11. November 1918 die französische Politik gegenüber den deutschstämmigen Elsässern, die gewöhnlich als Altdeutsche oder umgangssprachlich auf Elsässisch als Schwowa bezeichnet werden. Dieser Ausdruck bedeutete eigentlich Schwabe, wurde aber verwendet für alle Deutschen, die nicht ursprünglich aus dem Elsass stammten. Zwischen 1871 und 1914 ließen sich mehr als 120 000 dort nieder87. Sehr schnell – am 2. November 191888, noch vor dem Waffenstillstand – entschieden die Franzosen, sie in großer Zahl aus dem Elsass zu vertreiben. Diese „Säuberung“89, wie sie zeitgenössisch in Quellen genannt wird, wurde nicht nur außerhalb des Elsass beschlossen. Die Wirtschaftskrise, die Versorgungsprobleme und die Arbeitslosigkeit, die die Arbeiter traf, spiegelten sich in einem zunehmenden Gegensatz zwischen Elsässern und Deutschen wider. So entstanden „von unten“ offiziöse „Säuberungskomitees“, um zur Auswahl und zur Vertreibung der Deutschen von den Arbeitsplätzen zu schreiten, und sehr schnell auch aus dem Gebiet selbst. François Uberfill schreibt überdies, dass die Polizei in Straßburg von Denunziationsbriefen buchstäblich überflutet wurde. Die ersten Vertreibungen von November bis Dezember 1918 waren bisweilen brutal und willkürlich, indem sie den Menschen nicht mehr als 24 Stunden ließen, um 40 kg Gepäck zusammenzustellen und das Elsass zu verlassen, oft bis zur Brücke von Kehl begleitet von einer feindseligen Menschenmenge. Maria Falk, eine Straßburgerin, beschreibt die Vertreibung einer deutschen Freundin am 8. Dezember 1918: „Das Portal öffnete sich. Die ersten Ausgewiesenen kamen heraus, sie trugen Koffer und Bündel. Für einen kurzen Moment hielt die Menge erstaunt inne, dann ging ein Sturm von Beleidigungen los: ,Da sind sie, die dreckigen Deutschen, die Schweine! Haut ab! …‘ – alles wurde von großem Geschrei begleitet. (…) Jedes Mal, wenn ein Deutscher mit seinem Namen gerufen wurde, wurde er mit Beschimpfungen überschüttet. Alle waren bleich und versuchten, sich gegenseitig zu helfen. Der Rollstuhl, auf dem sich die alte Dame befand, wurde hereingebracht. Ihr Koffer war auf ihre gelähmten Beine gelegt. Ihre Tochter konnte ihr nicht mehr zu Hilfe kommen. ,Die Alte da‘, schrie die Menge, ,stapelt sie in den Lastwagen. Lasst sie Gymnastik machen‘90.“

Die allgemeine Freude, die Deutschen gehen zu sehen, spiegelt sich in den berühmten Zeichnungen von Hansi, eigentlich Jean-Jacques Waltz, wider91. Man 87 Wahl/Richez 1994 [675], S. 114–121. 88 Grünewald 1984 [603], S. 20 und Uberfill 2001 [673]. Die Passagen zu dieser Frage verdanken den beiden Werken vieles, auf die mich Jean-Marc Dreyfus freundlicherweise hingewiesen hat. Sie sind die einzigen, die eingehend auf diese Frage eingehen. Das letztgenannte ist besonders präzise und wertvoll, behandelt jedoch nur Straßburg. In ihrer Gesamtheit wartet diese Episode noch auf ihren Historiker. Der sehr patriotische Granier 1969 verliert kein Wort über diesen Punkt. 89 Uberfill 2001 [673], S. 196–284. 90 Ebd., S. 336. 91 Siehe die Frontispiz-Zeichnung dieses Kapitels, S. 17.

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findet sie auch in hochgradig symbolischer Weise in der Demontage und der Zerstörung von Statuen, die die deutsche Präsenz symbolisieren, durch die Menge. Der Kopf Wilhelms I. wird am 21. November 1918 durch die Straßen von Straßburg geschleift, am Tag vor der Ankunft General Gourauds und seiner Truppen92. Einige Wochen später entfernten die Straßburger eine allegorische Statue, die von den Deutschen aufgestellt worden war, den „Vater Rhein“, und verlegten die Bewachung der Grenze an die Mosel93. Durch diesen hochgradig politischen und symbolischen Akt stellten sie die französische Konzeption des Rheins als nationale Grenze wieder her und wiesen jene zurück, die bisher Geltung hatte, die des „deutschen Rheins“. Sie stimmten hierin mit der Konzeption einiger Militärs, Politiker und Literaten überein, die eine „Französisierung“ der linken Rheinseite über das Elsass hinaus vorhersahen94. Angesichts der Flut von Anträgen der Zivilbevölkerung, die Ausweisungen zu beschleunigen, versuchten die Behörden Anfang 1919, beruhigend zu wirken und die offizielle Einrichtung von „Auswahlkommissionen“ – eine Idee, die auf den ersten französischen Einfall in das Elsass im Oktober 1914 zurückging – zu verzögern. Die Kommissionen existierten von Mitte Januar bis Mitte Juni 191995. Diese Maßnahmen richteten sich zunächst gegen die „Unerwünschten“ – Deutsche und Elsässer, die als den Deutschen zu nahestehend galten –, wurden jedoch rasch auf die Gesamtheit der Altdeutschen ausgeweitet, die nach und nach alle unerwünscht waren. Doch in der Zwischenzeit hatten einige ihre Landsleute oder Elsässer geheiratet und Kinder bekommen. Politische Kriterien – die echte oder vermutete Feindschaft zu Frankreich – wurden zu ethnischen Kriterien und betrafen alle deutschstämmigen Einwohner des Elsass. Die Ausweisungen wurden somit massiv und systematisch. Die Kriterien zur Feststellung der Nationalität gingen hier ebenfalls auf die Kriegsjahre zurück, genauer gesagt auf die ElsassLothringen-Konferenz vom 19. bis 26. April 1915, die die Rückeroberung als eines der Hauptkriegsziele Frankreichs betrachtete. Diese Konferenz sah die Einrichtung von vier Kategorien und Typen von Ausweisen vor. Alfred Wahl und Jean-Claude Richez fassen es so zusammen: „Jeder erhielt einen Ausweis gemäß seiner nationalen Herkunft. Seit dem 14. Dezember 1918 wurden durch einen Ministererlass vier Kartenmodelle eingerichtet: A, B, C und D. Die Karte A, die mit den Farben der Trikolore gekreuzt war, wurde an all diejenigen ausgeteilt, deren Eltern und Großeltern in Frankreich oder im Reichsland geboren worden waren. Die Karte B, die von zwei roten Strichen gekreuzt wurde, stand jenen zu, von denen ein Eltern- oder Großelternteil deutschen Ursprungs war. Die Karte C,

92 Granier 1969 [600], S. 43. 93 Oettinger 2004 [651]. Dieser Autor sieht hierin nur eine unverständliche Bewegung einer antideutschen Menge, ohne den symbolischen Aspekt dieser Demontage zu erfassen. 94 Wein 1992 [676]. Siehe auch Kapitel II.5. 95 Uberfill 2001 [673], S. 206.

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von zwei blauen Strichen gekreuzt, war für jene vorgesehen, deren mütterliche und väterliche Herkunftslinien aus einem alliierten oder während des Krieges neutralen Land stammten. Die Karte D schließlich, ohne jede Linie, wurde an die ,Ausländer aus feindlichen Ländern‘ ausgegeben, also an Deutsche, darunter auch diejenigen, die nach 1871 in Elsass-Lothringen geboren worden waren“96. Wahl und Richez erwähnen sogar Zeugnisse, gemäß derer „die Inhaber der Karte A sich darüber empörten, dass die Inhaber der Karte B ihnen nicht den Vortritt in den Warteschlangen lassen mussten“97. Diese Unterscheidung hatte auch unmittelbare finanzielle Auswirkungen, denn die Inhaber der Karte A profitierten von einem vorteilhaften Kurs von 1,25 FF für 1 Mark (im November waren es noch 1 Mark für 0,60 FF)98, während der Standardkurs bei 0,80 FF für 1 Mark für die anderen lag. Indem die Behörden die feindlichen und die alliierten oder neutralen Ausländer voneinander unterschieden und indem sie Kindern, von denen ein Elternteil deutsch war, auch wenn sie im Elsass geboren worden waren, eine Unterkategorie (B) zuschrieben, stigmatisierten sie sie gemäß ihrer Abstammung. Dies stellt in der Geschichte der Republik einen einmaligen Fall dar, der sich weit von der französischen Tradition des Staatsbürgerschaftsrechts entfernt. Immerhin scheint es klar, dass diese Maßnahmen ihrem Ursprung nach ein direktes Erbe antideutscher Feindseligkeiten sind, die sich während des Krieges radikalisiert und biologisiert haben, und die, so scheint es, anschließend die elsässische Bevölkerung erreichten. Zweifellos reihen sich diese Maßnahmen eher in eine Kontinuität mit dem Ersten Weltkrieg ein, als dass sie die diskriminierende und klassifizierende Gesetzgebung des Vichy-Regimes ankündigen99. Tatsächlich dienten die Karten auch zur Unterstützung bei der Ausweisung der Deutschen aus dem Elsass. Im Fall Straßburgs schätzt François Uberfill die Anzahl der Ausgewiesenen auf 28 000 bis 29 000 zwischen November 1918 und Ende 1921, wobei der Großteil von ihnen zwischen November 1918 und November 1919 ausgewiesen wurde. Die Anzahl der ausgegebenen Karten D betrug 31 200 für die elsässische Hauptstadt. Im Juni 1919 wird gemäß dem Wunsch des Generalkommissars Millerand eine neue Institution geschaffen100: die Sonderkommission zur Prüfung der Ausländer (Commission spéciale d’examen des étrangers – CSE), die die von der Armee eingerichteten Auswahlkommissionen ablöst. Sie soll die Denunziationsfälle behandeln und die Fälle derjenigen, die aus dem ein oder anderen Grund im Elsass bleiben möchten. 96 Wahl/Richez 1994 [675], S. 117. 97 Ebd., S. 118. 98 Uberfill 2001 [673], S. 196–284. Die Währungsumstellung schuf auch neue Ungleichheiten innerhalb der elsässischen Bevölkerung und ließ die Lebenshaltungskosten steigen. 99 Zu dieser Frage: Noiriel 1999 [249]. 100 Dieser publizierte wenig eloquente Erinnerungen zu dieser Frage: Millerand 1923 [69], S. 30 – 31.

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Die Gesamtanzahl der Ausgewiesenen für das Elsass ist schwierig festzustellen, umso mehr als die Archive lückenhaft sind und die Angelegenheit von elsässischen Autonomisten wie von Vereinigungen ausgewiesener Deutscher instrumentalisiert wurde. Gemäß François Uberfill erscheint die Zahl von 129 000 Vertriebenen oder ,freiwillig‘ Repatriierten plausibel, die in einer Sammelpublikation aus den 1930er Jahren mit dem Titel Das Elsass 1870 –1932 auftaucht. Für A. Wahl und J.-C. Richez beläuft sich die Gesamtanzahl auf 100 000101. Während sich die Vertreibungen in ihrer symbolischen Dimension sowohl in die Geschichte des Elsass als auch in diejenige des Ersten Weltkrieges einordnen lassen, erfüllten sie darüber hinaus eine nachgeordnete, aber ebenfalls sehr wichtige Funktion als Mittel, um die Situation der elsässischen Bevölkerung in dieser Zeit der Krisen, des Mangels und der Arbeitslosigkeit zu verbessern: Die Vertreibungen befreiten den Kaufmann von einem Konkurrenten, boten dem Arbeitslosen eine Stelle etc. Unter dieser Masse von Vertriebenen und Repatriierten erhielten einige mehr Aufmerksamkeit als andere. Die deutschen Eliten beispielsweise wurden sehr systematisch ausgewiesen und wurden Objekt von Spezialbehandlung und Spezialkonvois, von denen die bekanntesten und symbolhaftesten jene der Hochschullehrer der Straßburger Kaiser-Wilhelm-Universität sind102. Von den deutschstämmigen Professoren schaffte es nur Werner Wittich, aufgrund seiner Ehe und seiner Verbindungen, vor Ort zu bleiben, allerdings verlor er seinen Posten an der Universität. Die deutsche Universität und Wissenschaft blieb verbunden mit ihrer Rolle, die sie bei der Germanisierung des Elsass gespielt hatte, sowie mit der Erinnerung an das Manifest der 93 im Jahr 1914 und an den Gaskrieg, der die Alliierten aufs Äußerste empört hatte. Der deutsche Professor hatte während des Krieges ein sehr mächtiges und mobilisierendes Feindbild dargestellt. Der Boykott, der die deutsche Wissenschaft in den Nachkriegsjahren traf, ist auch sehr eng mit diesen Erinnerungen verbunden, und die Behandlung der Hochschullehrer in Straßburg fügt sich somit in einen allgemeineren Kontext ein. 1918–1919 wird der Krieg also auf dem regionalen Niveau des Elsass sowie auf deutschem Territorium im Milieu der aus dem Elsass vertriebenen Deutschen fortgesetzt, die die Frage Elsass-Lothringens – mit sehr begrenztem Erfolg103 – auf der Agenda der großen Politik zu halten versuchen. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg hingegen findet diese Fortsetzung des Krieges dann an anderen

101 Wahl/Richez 1994 [675], S. 118; Uberfill 2001 [673]: In seinem Vorwort unterstreicht Pierre Ayçoberry, dass das Verschwinden der Archive der Auswahlkommission, das jede exakte Rechnung erschwert und den Blick auf die Vorgehensweisen dieser Kommissionen verdunkelt, vielleicht Ausdruck eines schlechten Gewissens sei und/oder das Zeichen, dass man die Spuren dieser Arbeit verwischen wollte. 102 Uberfill 2001 [673], S. 239 ff. 103 Bariéty 1977 [430], S. 5–25; Grünewald 1984 [603].

1. Den Krieg beenden?

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Fronten statt. Dies steht nicht notwendigerweise im Widerspruch zum Willen, zum Alltagsleben zurückzukehren und somit eine rasche Demobilisierung einleiten zu können, die von weiten Teilen der deutschen und französischen Veteranen und Zivilisten gewünscht wird.

2. Den Krieg trotz allem hinter sich lassen: Die Demobilisierung der Soldaten in Deutschland und Frankreich

2.1. Eine überwundene Krise 2. Die Demobilisierung der Soldaten in Deutschland und Frankreich

Obwohl der Krieg in seinen Grundzügen in verschiedenen Bereichen fortgesetzt wurde, sehnten sich die französischen und deutschen Gesellschaften in großen Teilen nach Frieden und einer Rückkehr zum Alltag. Der Friede wird in der Tat mit enormer Erleichterung begrüßt. Ernst Troeltsch spricht sogar von einem „Traumland der Waffenstillstandperiode“104. Die Rückkehr zur Normalität verlief zunächst und vor allem durch die Rückkehr von ungefähr fünf Millionen französischer und sechs Millionen deutscher Soldaten nach Hause und ins Zivilleben. Die Sehnsucht, ein normales Leben wiederzuerlangen, was Jay Winter als „Nostalgie“105 bezeichnet, hatte sich nach und nach während des Konflikts herausgebildet und ging, bisweilen bei ein und derselben Person, mit der bereits erwähnten Hoffnung auf einen Sieg einher. Sobald Gewissheit über das Ende herrschte, erleichterte diese Sehnsucht die Rückkehr der Soldaten nach Hause und zur Arbeit sowie die gleichzeitige Rückkehr der Frauen von den Fabriken an den heimischen Herd106. Die Soldaten konnten sich gewiss sein, dass sie Anerkennung finden würden, beziehungsweise, dass gegen ihre Vorgesetzten und die Niederlage revoltiert werden würde. Allerdings teilten die Soldaten die erwähnte Nostalgie mit der Bevölkerung hinter der Front, was den Erfolg der beiden Demobilisierungen teilweise zu erklären vermag. Auch andere Faktoren erklären diese ruhige Rückkehr107, darunter diffuse Ängste der führenden Eliten in Deutschland wie in Frankreich, etwa vor einer revolutionären Ansteckung. Diese Eliten sahen – vor allem im Falle Deutschlands – die sozio-ökonomische Krise am Kriegsende voraus, welche die wirtschaftliche Wiedereingliederung der Demobilisierten erschwerte, und fürchteten dabei die

104 105 106 107

Zitiert nach Schulze 1987 [224], S. 617. In der Einleitung von Winter/Robert 2007 [878]. Bessel 1983 [691]. Auch wenn die Frage der Demobilisierung in der Kulturgeschichte eine Erneuerung erlebt (Cabanes 2004 [294]), erschienen hinsichtlich sozialer und wirtschaftlicher Aspekte seit längerer Zeit Publikationen, z. B. Bessel 1993 [191] und Mommsen 1983 [717] sowie die gesamten Arbeiten von Gerald Feldman (siehe die Bibliographie). Für einen vergleichenden Überblick der hier vorgetragenen Thesen: Feldman 1983 [707].

2. Die Demobilisierung der Soldaten in Deutschland und Frankreich

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Unzufriedenheit der Soldaten, die so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückkehren wollten. Sie entschieden sich nach und nach, den teuren Preis zu zahlen, damit sich die Demobilisierung so gut wie möglich abspielte. Aber dorthin musste man erst noch gelangen. Dieser „Übergang“ war in der Tat entscheidend. De facto war er stark ritualisiert und eingeteilt in „drei Phasen, die den auf Übergangsriten spezialisierten Ethnologen wohlbekannt sind“108: „Während einer Trennungsphase verabschiedet sich der Soldat gleichzeitig vom physischen Kontakt mit der Kampfzone, der Gesellschaft einiger seiner Kameraden, der Nähe der Toten (…) Daran schließt sich eine einleitende Phase an (…), in der sich der Veteran nach und nach eine neue Identität schafft. Schließlich, in einer mehr oder weniger langen Eingliederungsphase, integrieren sich die Männer – oder versuchen, sich zu integrieren – in das zivile Wirtschaftsleben, in die Regeln der Zivilgesellschaft, in die alltäglichen Familien- und Freundschaftsbeziehungen“109.

Hieran wird noch einmal deutlich, wie wichtig der Erfolg dieser Operation für das künftige Gleichgewicht der Nachkriegsgesellschaften ist, die zu diesem Zeitpunkt, 1918–1920, Gesellschaften im Übergangszustand sind, im „Dazwischen“110. Der Fall Frankreichs kann angesichts des herannahenden Sieges von vornherein als weniger schwierig betrachtet werden als jener Deutschlands. Vielleicht sind daher die mit der Demobilisierung verbundenen konkreten Probleme von französischer Seite weniger gut vorausgesehen worden111. Wie dem auch sei, der Sieg erlaubt es eher, den gesamten Maßnahmen der Anerkennung einen Sinn zu verleihen. Darüber hinaus ist die politische Lage weit weniger chaotisch, und trotz sehr starker sozialer Spannungen erscheint die Möglichkeit einer Revolution weniger wahrscheinlich. Im deutschen Fall macht die Niederlage Anerkennungsmaßnahmen schwieriger, und die Revolution ist bereits da. Die neuen republikanischen Führer müssen diese gleichzeitig erhalten, die neuen republikanischen Institutionen schaffen und es vermeiden, von einer noch viel radikaleren Revolution überschwemmt zu werden, während es ihre größte Angst ist, dass die bewaffneten und häufig ausgehungerten Soldaten sich den Gegnern des Regimes auf der Rechten oder Linken anschließen. Sie müssen die Soldaten demobilisieren, um sie zu entwaffnen, und dabei gleichzeitig ein bewaffnetes Kontingent zu ihrem eigenen Überleben behalten. De facto hatte das Deutsche Kaiserreich, auch wenn es seit 1916 Demobilisierungpläne besaß112, nicht damit gerechnet, dass es diese in einem Kontext der Niederlage, der Revolution, des politischen Regimewechsels und des Chaos wür-

108 Falls nicht anders gekennzeichnet, stammen die Fakten zum französischen Fall aus Cabanes 2004 [294]. Hier S. 278. 109 Ebd. 110 Nach dem Psychoanalytiker Daniel Sibony, zitiert nach Cabanes 2004 [294], S. 278. 111 Cabanes 2004 [294], S. 280. 112 Bessel 1993 [191], S. 49–68.

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I. Überblick

de ausführen müssen. Doch schließlich verwandeln sich diese chaotische Situation und die von den Alliierten aufgezwungenen Einschränkungen, die eine rasche Demobilisierung und einen Rückzug vom linken Rheinufer fordern, zu einer Ressource, die es erlaubt, die Demobilisierung zu beschleunigen und die Hauptforderung der Soldaten, nach Hause zurückzukehren, zu erfüllen. Am 1. Dezember 1918 haben sich bereits eine Million von ihnen selbständig auf den Weg gemacht und sich damit selbst demobilisiert113. Richard Bessel beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: „Die übereilte und chaotische Natur der militärischen Demobilisierung war nicht notwendigerweise schlecht“114. Im Gegensatz zu Frankreich, wo sie notwendig war, wäre eine progressive Demobilisierung in Etappen, so wie sie vorgesehen war, unnötig und angesichts des starken Willens, nach Hause zurückzukehren, sogar gefährlich gewesen. Aber diese Rückkehr schuf Probleme hinsichtlich der Logistik, des Transports und der Aufrechterhaltung der Ordnung. Unruhe, Verbrechen und Straftaten aufgrund der Unordnung stiegen an, und die Soldaten zögerten nicht, ihre Waffen, ihre Pferde und alles von Wert zu verkaufen. Die Regierung schätzte, dass 1920 fast 1,9 Millionen Gewehre und 8500 Maschinengewehre im Land zirkulierten115. Die Soldaten hingegen waren von der schleppenden Versorgung mit Nahrungsmitteln und Zivilkleidung irritiert. Ein Mittel, um die Geister zu beruhigen, lag darin, eine „moralische Ökonomie der Anerkennung“ zu schaffen. Es ging darum, die Soldaten in ihren Garnisonsstädten und daheim gut zu empfangen und ihnen die Anerkennung der Familie, der Stadt, der ganzen Nation auszudrücken. In genau diesem Kontext entstand die Legende der auf dem Feld unbesiegten Armee. Damals hatte diese Legende eine unmittelbare soziale Funktion. Weil man die Soldaten so sehr fürchtet, dass man beschließt, sie zu ehren, organisieren die Gemeinden, die Soldatenräte bis hin zu Ebert Zeremonien, um ihnen für ihre Opfer zu danken. All die Triumphbögen, Dekorationen, Girlanden und Fanfaren sollten diese Anerkennung ausdrücken. Jeder hatte verstanden, dass die Rückkehr zur Ruhe – sogar die Verteidigung der Revolution und der Republik in diesem unentschiedenen und unruhigen Monat Dezember – zu diesem Preis erfolgte. In diesem Kontext muss auch die Rede Eberts im Dezember verstanden werden, als er die Soldaten unter dem Brandenburger Tor empfängt, dem Symbol der preußischen Siege. Wie die Mehrheit der Amtsträger jener Zeit, unterstreicht er am 10. Dezember, dass die tapferen Soldaten „auf dem Schlachtfeld unbesiegt“116 zurückgekehrt seien, um nachdrücklicher auf der Anerkennung des Landes zu bestehen. Wenn dies auch nicht bedeutete, das Ebert die Niederlage als solche be113 114 115 116

Ziemann 1997 [420], S. 373. Bessel 1993 [191], S. 76. Ebd., S. 81. Barth 2003 [270], S. 214.

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stritt117, konnte diese Art von Reden mittelfristig aus ihrem Zusammenhang gerissen werden und zum Glauben an den Dolchstoß beitragen, denn sie verlieh ihm letztlich ein notwendiges Argument: die Tatsache, dass die Armee nicht besiegt worden war und man daher die Gründe für die Niederlage woanders suchen musste118. Für den Augenblick funktionierte jedoch die Politik der moralischen Anerkennung gegenüber den Soldaten im Großen und Ganzen, denn die von den Soldaten gewünschte Rückkehr entwickelte sich zwischen 1918 und 1920 nicht zu einem Sturz der Republik. Trotz der Putschversuche und der Aufstände der extremen Rechten schloss sich die Mehrzahl der Soldaten zunächst zumindest der Revolution und der Republik an, blieb passiv oder akzeptierte es sogar, der bewaffnete Arm der gemäßigten Republik gegen die Anhänger einer radikaleren Revolution auf der Linken zu sein. Die symbolische Reintegration und die Demobilisierung in einem politisch unruhigen Kontext Ende 1918 und Anfang 1920 war allerdings nicht das einzige Problem, das es zu lösen galt. Es war überdies die notwendige wirtschaftliche und soziale Wiedereingliederung in einer dafür ungünstigen Periode zu bewältigen. Wenn auch in Frankreich weitaus weniger Chaos herrschte, so war es doch mit einer Reihe spezifischer Probleme konfrontiert. Weil der Waffenstillstand nicht das Kriegsende bedeutet – man muss sicherstellen, dass die Deutschen die Bedingungen erfüllen werden –, demobilisiert er nicht sofort, auch wenn die Soldaten verlangen, nach Hause gehen zu können. Zudem muss Frankreich relativ kurzfristig in der Lage sein, eine bestimmte Truppenzahl in Bereitschaft zu lassen, die bestimmte Waffenstillstandsklauseln (v. a. die Besetzung des linken Rheinufers) garantieren und den Status Frankreichs als große Siegermacht, vor allem im Osten des Kontinents, sicherstellen sollen. Das Chaos in Deutschland betont diese Notwendigkeit zusätzlich. Ende April 1919 zählt die französische Armee noch 2,3 Millionen Mann119, nachdem eine erste Demobilisierungsphase bereits zwischen November 1918 und April 1919 stattgefunden hat. Schließlich kann eine bestimmte Anzahl Demobilisierter wegen der Kriegsschäden auf französischem Boden nicht zu sich nach Hause zurückkehren. Alle diese Faktoren und eine relativ mangelhafte Vorbereitung der Regierenden – ein Unterstaatssekretariat zur Demobilisierung wird erst am 6. Dezember 1918 geschaffen – führen dazu, dass die Demobilisierung zunächst chaotisch verläuft und dass die Unzufriedenheit der Soldaten auf besorgniserregende Weise ansteigt120. Die Entscheidung, die Soldaten zugleich nach Alterskategorie gemäß

117 Siehe die gegenteiligen Ansichten hinsichtlich dieses Punktes von Behrenbeck 1999 [285], S. 317 und Barth 2003 [270], S. 215, v. a. Fußnote 70 sowie die Untersuchung von Jardin 2005 [340], S. 451 ff. 118 Ebd., S. 440 ff. 119 Prost 1983 [380]. 120 Ebd., S. 178 –180.

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Dienstalter, nach der Familiengröße und der Anzahl der Getöteten in der Familie zu demobilisieren121 – und nicht Einheit für Einheit –, verstärkte zudem die Ungewissheit der Soldaten bezüglich des Zeitpunkts ihrer Demobilisierung, stimmte aber mit den egalitären Prinzipien überein, denen die Soldaten meist „zutiefst verbunden“122 waren. Wie dem auch sei, die Langsamkeit der Demobilisierung schürte die Unzufriedenheit der Soldaten, die es eilig hatten, nach Hause zu kommen. So konnte General Gérard von der 8. Armee am 25. März 1919 nur notieren: „Beinahe alle finden den Fortgang der Demobilmachung und vor allem die Friedensverhandlungen nach ihrem Geschmack zu langsam“123. Die Kräfte können nur gesteigert werden, wenn die zu entlassenden Soldaten nach Hause gelangen. Zahlreiche Zwischenfälle begleiten diese Rückkehr, die gekennzeichnet ist von den charakteristischen widersprüchlichen Gefühlen dieses Übergangsmoments: Ungeduld, Zorn und Freude mischen sich. De facto werden einige Offiziere angerempelt, die Züge der Soldaten werden beschädigt (13 000 Glasschäden und 400 zerstörte Türen durchschnittlich jeden Monat124). Mit ihrer Rückkehr an den heimischen Herd legten sich die Ungeduld und der Zorn der Soldaten nicht unbedingt. Paare und Familien konnten durch den Krieg zerstört worden sein – das war eines der Themen der Kriegsliteratur, sehr präsent bei Roland Dorgelès oder Henri Poulaille beispielsweise, und sogar des Kinos mit der ersten Version von J’accuse (Ich klage an) von Abel Gance125. Außerdem florierte die sozio-ökonomische Lage nicht, sodass sich der Kontrast zwischen den Erwartungen der Soldaten und der Realität wiederum als überaus problematisch herausstellen konnte. General Nollet beschrieb die geistige Verfassung der Soldaten im April 1919 mit folgenden Worten: „Der Krieg hat bei den Männern eine gewisse Sorglosigkeit gegenüber der Zukunft hervorgebracht, die Unterstützungszahlungen haben ihren Familien den Unterhalt gesichert, für die Zukunft zählen sie auf den Staat. Es ist eine Desillusionierung zu befürchten, deren Konsequenzen ernst sein können … schon jetzt beklagen sich einige Leute, man halte die gegebenen Versprechen nicht“126.

Ziemlich häufig stellt sich in diesem Moment der Bruch zwischen der Front und dem Hinterland heraus, der schon während des Krieges empfunden wurde, und wird zum Topos in der Kriegserinnerung der Soldaten. Die zurückgekehrten Soldaten beschuldigen die Zivilisten nicht nur, dass diese hinterhältig gewesen seien, sondern auch, dass sie ihnen ihren Platz, ihre Arbeit weggenommen hätten

121 122 123 124 125 126

Prost 1983 [380], Cabanes 2004 [294]. Cabanes 2004 [294], S. 284. Zitiert nach Prost 1983 [380], S. 180. Cabanes 2004 [294], S. 313 Veray 1995 [402], Veray 2000 [403]. Zitiert nach Prost 1983 [380], S. 180.

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und sich weigerten, diese zurückzugeben127. Diese Rhetorik zeigt sich bis ins Manifest der Association des écrivains combattants (AEC) vom Juli 1919: „Aber nach diesen Jahren der Strapazen, der Angst und der Qualen wollen wir wieder unseren Platz in der Gesellschaft einnehmen. Hier gibt es verarmte oder dezimierte Häuser. Das Vergessen, in dem wir uns fünf Jahre lang befanden, in das wir abgeschoben wurden, verstärkte die Dunkelheit. Wer wäre nicht bewegt von der packenden Gerechtigkeit unserer Sache? Man hält uns für heftig Reuige, Schwankende. Man fürchtet uns nicht mehr. Die Kampagne, die gegen die Schriftsteller und die Bücher des Krieges geführt wird, bezeugt es. Sie enthüllt die unausstehlichen Intentionen derjenigen, die während unserer Abwesenheit unsere Plätze eingenommen haben und überdies unsere Inbrunst verhöhnen und uns in die Armut und in den Schatten zurückstoßen wollen. (…) Und diese uneingestandene, aber aktive Feindseligkeit, die wir bei unseren Stellvertretern spüren, die nicht gekämpft haben, wird von unserem versammelten Bataillon gebrochen werden“128.

Die Demobilisierten demonstrieren bisweilen ihre Unzufriedenheit auf der Straße, vor den Präfekturen. Der berühmte Satz von Clemenceau – „Sie haben Ansprüche an uns“ – bestätigte implizit die Soldaten in ihren Forderungen nach Integration und Anerkennung. Eine der Lösungen, um mit dieser „außergewöhnlichen Bewegung von Männern“129 fertigzuwerden, lag, wie in Deutschland, im Bereich der Symbolik. Es ging darum, die fünf Millionen Männer zu empfangen, die in ihre Häuser zurückkehrten. Auf lokaler Ebene wurden, wie übrigens auch in Deutschland, zahlreiche Zeremonien veranstaltet, vor allem in den Garnisonsstädten zur Rückkehr der Regimenter. Auf nationaler Ebene wurden sowohl finanzielle als auch symbolische Maßnahmen beschlossen. Anfang des Jahres wurde ein Gesetzt verabschiedet, das eine Demobilisierungszahlung in der Höhe von etwa zwei Monaten Lebenshaltungskosten vorsah130. Ein Abgeordneter erklärte, dass diese finanzielle Maßnahme eine sehr unzureichende Form der Gegenleistung sei im Verhältnis zu den immensen dargebrachten Opfern: „Der Gedanke, der uns (diesen Gesetzesvorschlag) diktiert hat, ist ein Gedanke der Gerechtigkeit und der Achtung gegenüber den Frontsoldaten (…) Diese Vergütung ist keine Entschädigung“131. Die Prämien wurden gemäß der Dauer der Mobilisierung und der Präsenz an der Front verteilt. Da die Mehrheit der Soldaten den Wunsch äußerte, ein greifbares Souvenir ihrer Anwesenheit an der Front zu behalten, erhielten sie die Erlaubnis, ihren Helm aufzubewahren, und man verteilte auch eine offizielle Plakette, auf der „Soldat des Ersten Weltkriegs“ eingraviert war. Laut Bruno Cabanes hatte diese 127 Ebd., S. 186. 128 Zitiert nach Beaupré 2006 [741], S. 240–241. 129 Cabanes 2004 [294], S. 277. Man müsste die Empfangsriten innerhalb der Familien noch detaillierter untersuchen. 130 Prost 1977, Bd. 1 [378], S. 7, zitiert nach Cabanes 2004 [294], S. 342. 131 Abgeordneter Etienne Rognon, zitiert nach Cabanes 2004 [294], S. 343.

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symbolische Geste eine große Bedeutung bei der Demobilisierung, indem sie den Soldaten gestattete, ein konkretes Zeichen ihrer vergangenen Identität und der Anerkennung ihres Mutes, ihrer Opfer und ihres speziellen Status durch die ganze Gesellschaft aufzubewahren.

2.2. Ein kostspieliger Erfolg Schließlich und endlich stellte die Demobilisierung in Deutschland wie in Frankreich eine überwundene Krise dar. Dennoch war der Enderfolg kostspielig, sowohl in wirtschaftlicher als auch symbolischer Hinsicht. Man konnte in der Tat sehen, dass es kurzfristig möglich war, die Rückkehr nach Hause zu beschleunigen, den Übergang zum Zivilleben durch die Vergütungszahlungen ein wenig zu erleichtern. Für die Jüngsten gab es an den Universitäten eine zusätzliche Maßnahme: In Deutschland öffnete man diese weiter für die Einschreibung der Veteranen-Studenten, indem man zum Beispiel Sondersemester im Frühjahr und Herbst 1919 einführte, im Fall der Mediziner bezog man die Praxisjahre an der Front in die Studien- oder Facharztausbildung mit ein. Dennoch war der Staat, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich, nicht in der Lage, eine Anstellung für alle zu garantieren, und dies umso weniger, als die wirtschaftliche Lage eine berufliche Wiedereingliederung bestimmter Kategorien von Soldaten erschwerte. Der Arbeitsmarkt gehorchte anderen Regeln, und das wirtschaftliche Chaos drohte die Rückkehr der Soldaten noch schwieriger zu gestalten. Dennoch existierten Brücken. In beiden Ländern – vor allem in Frankreich – stammte die Mehrheit der Soldaten vom Land, und die wirtschaftliche Wiedereingliederung konnte im landwirtschaftlichen Sektor leichter vollzogen werden, vor allem für alle diejenigen, die nicht als Arbeiter von einem Arbeitgeber abhängig waren, sondern auf eigene Rechnung oder in einem Familienbetrieb arbeiteten. In diesem Sinne begünstigten die Landwirtschaft und die „Tradition“ in gewisser Weise die Demobilisierung und eine Art Rückkehr zur „Normalität“132. Im Falle Deutschlands konnte die zeitlich versetzte Rückkehr der Kriegsgefangenen, die länger als die der besiegten Länder inhaftiert blieben – 800 000 deutsche Gefangene kehren erst Ende 1919, Anfang 1920 zurück –, paradoxerweise ebenfalls als Stoßdämpfer wirken, indem sie ihre Wiedereingliederung staffelte. Die Städte und Industrieregionen mit einer starken Konzentration an zu demobilisierender Kriegsindustrie stellten die Räume dar, wo die Spannung aufgrund der wirtschaftlichen Wiedereingliederung der demobilisierten Soldaten potentiell am größten war. Auch die hier anstehenden Probleme bei der Umstellung der Kriegswirtschaft wurden durch eine chaotische Situation wie in Deutschland 132 Ziemann 1997 [420], S. 392.

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verlangsamt. Im Vergleich mit London und Paris „war der Übergang zum Frieden in der alten deutschen Hauptstadt viel schmerzhafter und verbitterter als es der Übergang zum Krieg weniger als eine Dekade vorher gewesen war“133. In diesem Zusammenhang war die massive Rückkehr der Frauen in den Haushalt eine der vorgeschlagenen „Lösungen“ des Problems. Diese Rückkehr wurde von der traditionellen Vorstellung zur Frauenrolle begünstigt. So veröffentlichte der deutsche Kriegsminister noch vor dem Abschluss des Waffenstillstands ein Memorandum mit dem Titel „Frauenarbeit in der Übergangswirtschaft“, das empfahl: „1. Die Frauen müssen heraus: a) alle Frauen aus den Arbeitsplätzen, die für die heimkehrenden Männer freigemacht werden müssen. b) alle Frauen aus schwerer und gesundheitsschädigender Arbeit, bei Knappheit der Arbeit ferner: c) Ortsfremde Frauen aus Arbeitsplätzen, die für Ortseingesessene benötigt werden, d) Jugendliche aus ungelernter Arbeit. 2. Die Frauen müssen herein: a) nicht erwerbsbedürftige Frauen in die Familie, b) erwerbsbedürftige Frauen in die früheren Berufe, die Mangel an Arbeitskräften haben (Hauswirtschaft, Landwirtschaft) und solche sonstigen Berufe, in denen sie infolge zweckmäßiger Arbeitsteilung, den Männern keine Konkurrenz machen, c) ortsfremde Frauen müssen tunlichst in die Heimat zurückgeführt werden, d) Jugendliche in geregelte Ausbildung“134

Diese Vorstellung wurde übrigens teilweise von den Frauen selbst geteilt, die darin die Möglichkeit einer „Rückkehr zur Normalität“ erblickten. Die Aufgabe einer Fabriktätigkeit konnte de facto ein Heiratsprojekt oder mehr noch die Planung von einem oder mehreren Kindern erleichtern, die während des Krieges bisweilen aufgeschoben wurde. Während die Entlassungen der Frauen die langfristige Tendenz einer immer höheren Frauenerwerbsarbeitsquote nicht umkehren konnten, trugen sie „durch die Öffnung des Arbeitsmarktes für die rückkehrenden Kriegsteilnehmer erheblich dazu bei, die drohende Gefährdung des alten wirtschaftlichen Systems und der neuen politischen Ordnung abzuwenden“135. Schließlich zielten auch sozialpolitische Maßnahmen, die sich speziell an Veteranen, Kriegsversehrte und Kriegsopfer richteten (2,7 Millionen Kriegsversehrte in Deutschland), darauf ab, den Schock einer eventuellen Arbeitslosigkeit oder einer vorübergehenden oder dauerhaften Arbeitsunfähigkeit zu dämpfen136. 133 Cole 1997 [300], S. 226. 134 Zitiert nach Bessel 1983 [691], S. 211–212. 135 Bessel 1983 [691], S. 229. Über die Frauenarbeit während des Krieges siehe Daniel 1989 [303]. 136 Geyer 1983 [321].

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Wenn sie auch sozial wirksam und individuell unerlässlich waren, erwiesen sich diese Maßnahmen mittelfristig zugleich als kostspielig und vor allem überaus wenig erfolgreich in symbolischer Hinsicht137. In Deutschland muss man den Fall der „verlorenen Soldaten“ anfügen, all jener, die die Niederlage zurückwiesen und im Innern wie an den Grenzen des Landes weiterkämpften. Sie waren natürlich weit weniger zahlreich als diejenigen, die hauptsächlich zurück nach Hause wollten, stellten jedoch eine potentielle Gefahr für die Republik und ihre neuen Führer dar138. Diese benutzte sie daher für ihre eigenen Zwecke. Jene Allianz diente in gewisser Weise als Sicherheitsventil und erlaubte es – trotz Putschversuchen und politischen Attentaten –, diese der Republik zutiefst feindlichen Kräfte zumindest bis 1920 in Schach zu halten und zu lenken. Aber der rein taktische Anschluss eines Teils der Truppen, von denen einige zu den radikalsten gehörten, war mit dem hohen Preis einer Art Selbstbeschränkung der Revolution und einer definitiven Trennung zwischen den Sozialdemokraten und der „linken Linken“ verbunden. Hierbei ist es nötig, den weitgehend utopischen Willen der Bevölkerung nach Stabilität und Rückkehr zur Normalität zu erwähnen. Jay M. Winter hat gezeigt, dass der Erste Weltkrieg in den unterschiedlichen Kriegsgesellschaften bereits von einer Form von Nostalgie begleitet wurde, die zusammen mit der empfundenen Notwendigkeit existierte, den Krieg dennoch zu gewinnen139. Die Hoffnung auf Frieden, auf Stabilität, auf ein normales Leben konnte selbst Spannungen hervorbringen, da sie de facto nicht zu erfüllen war. Aufgrund der beschränkten Mittel und Manövrierfähigkeit der Weimarer Republik, aber auch wegen des utopischen Charakters dieser sozialen Stabilität, war diese tatsächlich „unmöglich zu erreichen und existierte nie von vornherein“ in einer Welt, „in der der Krieg der Zivilgesellschaft einen Stempel der Gewalt aufgedrückt hatte“140. Diese Spannung zwischen dem Willen zur Normalität auf der einen Seite, für die man vom Staat erwartet, dass er die Realisierung und die strukturellen, sozialen und sogar intimen Gegebenheiten der Nachkriegszeit erlaubt oder zumindest erleichtert, zeigt sich gut an den Heiratszahlen. Diese steigen in beiden Ländern an. Doch gleichzeitig erhöht sich auch die Anzahl der Scheidungen nach dem Krieg141. Die Geburtenrate findet auch nicht zu ihrem Vorkriegsstand zurück. Obwohl sie in Deutschland im Vergleich zu den Kriegsjahren wieder ansteigt, übertrifft sie nicht jene der Jahre 1913 und 1914142. Sie zeichnet sich außerdem durch eine Steigerung der unehelichen Geburten aus. In Frankreich sinkt die 137 Cohen 2001 [299], Whalen 1984 [408], Kienitz 2001 [343]. Zu diesem Aspekt siehe Kapitel II.2. 138 Zu den Freikorps siehe Schulze 1969 [391]. Siehe auch Liulevicius 2002 [362], S. 278 – 300. 139 Winter 2007 [877]. 140 Bessel 1993 [191], S. 284. 141 Ebd., S. 229. Siehe die kurze Ausführung zu diesem Thema in Kapitel II.8.2. 142 Ebd., S. 233.

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Geburtenrate, die bereits bemerkenswert niedrig war, im Vergleich zum Nachbarn und zu Europa im Allgemeinen nach dem Krieg weiter. Die Soldaten heiraten nach den Krieg oft und setzen rasch Kinder in die Welt, aber sie tun dies weniger langfristig, und ihre Ehen sind zerbrechlicher. Andere kehren in ihre vom Krieg zerstörten Häuser zurück und fügen sich in die Scheidung. Was die häusliche Sphäre betrifft, gibt es noch ein ganzes Spektrum der Geschichte familiärer, zwischengeschlechtlicher und intergenerationeller Beziehungen, die es zu erforschen gilt. Dem muss man hinzufügen, dass bestimmte Kategorien von Menschen noch dazu mehr oder weniger verstoßen wurden und in dieser Zeit die „Vergessenen des Ersten Weltkriegs“ waren oder, genauer gesagt, der Anerkennungsmaßnahmen während der Demobilisierungsphase. Dazu zählen, vor allem im Frankreich, die zivilen Opfer des Krieges: die besetzte Bevölkerung, Flüchtlinge, zivile Deportierte etc. – und im Fall beider Länder die Kriegsgefangenen. Diese Kategorie blieb weitgehend ausgeschlossen von den Anerkennungsmaßnahmen. Ihre gestaffelte Rückkehr, vor allem in Deutschland, wo eine größere Anzahl von ihnen zum Arbeiten in Frankreich bleiben musste, beispielsweise zum Räumen der Schlachtfelder oder als Geiseln vor der Unterzeichnung der Friedensverträge, hatte zur Folge, dass sie nicht an den Begrüßungszeremonien der heimgekehrten Soldaten teilnahmen. Aus der Berechnung der Demobilisierungskosten heraus wurden die Gefangenen in Frankreich den Mobilisierten gleichgestellt, die nicht gekämpft hatten143. Ihre Erfahrungen wurden daher an den Rand gedrängt, ihr spezifisches Leiden nicht berücksichtigt und – zu ihren Lasten – mit dem der Frontsoldaten verglichen. Sie mussten bis 1922 darauf warten, dass ihre im Lager gestorbenen Kameraden das Recht auf die Bezeichnung „gestorben für Frankreich“ erhielten144. Das was sie im Gegenzug als Missachtung erlebt haben – die Tatsache, dass sie den nichtkämpfenden Mobilisierten wegen der Berechnung der Demobilisierungszahlungen gleichgestellt worden waren –, wurde niemals wirklich thematisiert, trotz des Kampfes der Vereinigungen, die sie vertraten. Die Debatte um eine spezielle Zahlung für die Kriegsgefangenen taucht einige Male im Parlament auf, jedoch ohne Erfolg. Die Zurückweisung war bisweilen sogar brutal. Wie 1931, als ein Senator – General Hirschauer – deutlich machte: „Die Beibehaltung des Lebens ist schon etwas. Das Leben zu behalten ist es schon wert, ein wenig Hunger zu leiden. Die Gefangenen, die sich in den Konzentrationslagern ernste Krankheiten zugezogen haben, erhalten eine Pension. Die anderen, das wiederhole ich, haben nicht die Gefahren durchlebt wie diejenigen, die gekämpft haben“145. Pierre Laval, der damals Regierungschef war, widersetzte sich völlig auch nur der geringsten Zahlung an die Kriegsgefangenen, was aus ihnen de facto eine Kategorie von marginalen „Kriegsopfern“ machte. Fünf 143 Cabanes 2004 [294], S. 359–424. 144 Becker 1998 [277], S. 369. 145 Zitiert nach Abbal 1998 [256], S. 415.

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Jahre später wurde der Bürgermeister von Lille und Innenminister der Volksfrontregierung, Roger Salengro, ehemaliger Kriegsgefangener, durch eine Diffamierung der extremen Rechten in den Suizid getrieben; sie warf ihm vor, er habe sich 1915 gefangen nehmen lassen. Auch de Gaulle, der 1916 in Gefangenschaft geriet und fünf Fluchtversuche unternahm, blieben Verleumdungen nicht erspart, die letztlich aus dem größeren Verdacht herrührten, der über den Kriegsgefangenen schwebte. In beiden Ländern konnte sich die Demobilisierung, auch wenn sie erstaunlicherweise kurzfristig eine Erfolgsgeschichte war – es ging darum, „Helden in Arbeiter zu verwandeln“146 –, mittel- und langfristig als sehr kostspielig herausstellen. In Deutschland ging die Politik der Anerkennung der Jahre 1918 bis 1919 gegenüber der „unbesiegten Armee“ sowohl in finanzieller als auch symbolischer Hinsicht sehr weit. Sie konnte gar als Nährboden für all jene dienen, die die Niederlage verdrängten147 oder abstritten sowie für jene, die deren Ursache einem Gegner im Inneren zuschrieben: dem Bourgeois, Juden, Kommunisten oder Sozialdemokraten. Doch besaßen die Führer der Republik angesichts der ernsten Situation und ihrer damaligen Ängste einen großen Manövrierraum, wenn sie das im Entstehen begriffene Regime zu erhalten beabsichtigten? Den Rückkehrwillen der Mehrheit der Männer hatten sie sicherlich unterschätzt, doch die Anwesenheit in einem Land mitten im Chaos einer Minderheit von immerhin 400 000 Soldaten, die nicht bereit waren, die Waffen abzugeben, und die sich bei den Freikorps engagierten, konnte sie verständlicherweise Blut und Wasser schwitzen lassen. Wenn sie sich auch langfristig als unnütz herausgestellt haben mögen, so trugen die Konzessionen den Soldaten gegenüber doch unbestritten zu den Ergebnissen der Wahlen von 1919 bei, als die republikanischen Parteien gute Ergebnisse bei den Soldaten erzielten und mit großem Vorsprung gewannen. Und die Republik zu stabilisieren war das oberste Ziel ihrer Führer. Die Geschichte der Demobilisierung in Frankreich zeigt, dass die Periode von 1918 bis 1920 noch nicht die der geistigen Demobilisierung ist. Obwohl der Wunsch nach Heimkehr stark und deutlich wahrnehmbar ist, bleibt die Feindschaft gegenüber Deutschland lebendig. Langfristig jedoch werden die durchgeführten Maßnahmen der Anerkennung, im Gegensatz zu Deutschland, durch den Kontext des Sieges begünstigt. Ihre rhetorische Wirksamkeit richtet sich nicht etwa gegen ihre Erfinder, sondern schafft vielmehr die Fundamente einer geistigen Demobilisierung, die im Pazifismus der Veteranen des „allerletzten Krieges“ (der des der) spürbar ist, der sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in der gesamten Gesellschaft ausbreitet. Der geteilte Sieg erlaubt es in gewisser Weise, die symbolisch hohen Kosten abzufangen, die von der nichtkämpfenden Bevölkerung und dem Regime zugestanden wurden. 146 Feldman 1983 [707], S. 177. 147 Heinemann 1983 [203].

2. Die Demobilisierung der Soldaten in Deutschland und Frankreich

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Über die interne Dynamik einer jeden Gesellschaft hinaus lastet diese Zeit auch schwer auf den Beziehungen zwischen beiden Ländern. Die jüngste Geschichtsschreibung insistiert mehr und mit Recht auf der Fortsetzung des Krieges und der extremen Gewalt in den östlichen Randgebieten Deutschlands und im Osten des europäischen Kontinents148. Dennoch markieren die Jahre 1918 bis 1920 auch im deutsch-französischen Rahmen nicht nur einen Übergang zum Frieden. Wir haben diese Zeit besonders herausgestellt, weil sie uns essentiell erscheint, um die Grundzüge der fortgesetzten deutsch-französischen Feindseligkeit über den Waffenstillstand und den Versailler Vertrag hinaus zu verstehen. Eine Feindseligkeit, die im Krisenfall jederzeit wiederaufflammen kann. Diese Jahre zeigen außerdem, von welcher Grundlage, von welchem Kontext und Rahmen diejenigen ausgingen, die sich bewusst an die geistige Demobilisierung machten beziehungsweise an die Rückkehr zu friedlichen Aktivitäten, an die Annäherung an den Feind oder daran, die Idee eines friedlichen Europa voranzutreiben. Letztere mussten eine beachtliche geistige Anstrengung unternehmen, um sich eines Gegensatzes zu entledigen, den der Kriegsausgang letztlich nur noch verstärkt hat. Nur wenige waren zu einer derartigen Bemühung langfristig in der Lage, und auch wenn die deutsch-französische Frage in beiden Ländern aus dem Vordergrund und von der Agenda der Weltpolitik verschwand, sollte die Erinnerung an den Krieg, wie sie sich von 1918 bis 1920 herauskristallisiert und verfestigt hatte, schwer wiegen und letztlich als bedrohlicher Hintergrund erhalten bleiben, oder vielmehr als ein Repertoire, aus dem die extremsten Kräfte nach Belieben schöpfen konnten.

148 JMEH 2003 [342].

3. Kriegerischer Frieden: Versailles 3.1.

Ein Streit der Interpretationen 3. Kriegerischer Frieden: Versailles

Eine Frage dominiert während des ersten Nachkriegsjahres alles: jene der Regelung des Konflikts durch Verträge. Mit dieser Frage stellt sich auch das Problem der Verantwortung für den Krieg. Und da die Pariser Konferenz und der Versailler Vertrag die politische Agenda bis Juni 1919 bestimmen, wird der Versailler Vertrag diese zum Teil auch deshalb bis zum nächsten Krieg niemals verlassen. In Deutschland beschäftigt er die Geister bisweilen bis zur Obsession. In einem ersten Schritt initiierte die Pariser Konferenz das, was Jacques Bariéty und Raymond Poidevin als „kalten deutsch-französischen Krieg“149 bezeichneten, der in politischer Hinsicht mindestens bis 1925 andauerte. Bei dieser quasi permanenten Spannung zwischen beiden Ländern ging es bald nicht mehr nur um regionale (Elsass, die Grenze, Saarland, Rheinland, Ruhr …) oder bilaterale Fragen. Sie wurde zur europäischen, ja weltweiten Herausforderung, sodass die deutschfranzösische Geschichte zwischen 1918 und 1925 über ihren eigenen Rahmen weit hinausreichte150. Der Frieden hätte nicht konfliktträchtiger sein können. 1918 bis 1919 waren die „Friedensziele“ noch Kriegsziele, vor allem für die Franzosen, die den Weltkrieg in erster Linie als deutsch-französische Auseinandersetzung auf ihrem eigenen Boden erlebt hatten. Über die Friedenskonferenz und die Verträge ist viel geschrieben worden, und dies nicht nur in Frankreich und Deutschland. Die Geschichtsschreibung über die Zwischenkriegszeit, anschließend die klassische politische Historiographie haben daraus eine der am meisten diskutierten und untersuchten Fragen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs und der Zwischenkriegszeit gemacht, bis hin zu dem Eindruck, dass dies das einzige verbindende Element zwischen den zwei Zeitabschnitten sei. Es wäre zu langweilig, auf diese Literatur zurückzukommen, die oft polemisch ist und in ihren politischen Ansichten von nationalen Interessen oder politischen Meinungen diktiert wurde, auch wenn dies nie systematisch geschah. Aber der Vertrag mit seinen Konsequenzen war nicht nur um seiner selbst willen Objekt der Geschichte oder der Politikwissenschaft. Durch Interpretationen und Kriegsberichte, die er transportierte, stellte er explizite Fragen an 149 Für Bariéty/Poidevin 1977 [434], S. 240, dauerte dieser streng genommen von 1920 bis 1923. 150 Bariéty 1977 [430], S. 752.

3. Kriegerischer Frieden: Versailles

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die Historiker. Man kann tatsächlich sagen, dass die Frage nach den Kriegsursachen, die lange Zeit die Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg dominierte – bis hin zur Polemik gegenüber den Thesen von Fritz Fischer151 in den sechziger Jahren –, das direkte Ergebnis des Vertrages selbst und vor allem seines berühmten Paragraphen 231 war: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“

Die Thesen Fischers und seiner Schüler, die implizit in dieselbe Richtung wiesen wie dieser Paragraph, revidierten die klassische Interpretation, gemäß derer Versailles durch seine objektive Härte den Ursprung des deutschen Revisionismus in seiner extremsten Form darstellte: des Nationalsozialismus. Eine Idee, die der SPD-Abgeordnete Otto Wels im Exil in die schöne Formulierung fasste: „Erst kam das Diktat, dann der Diktator“152. Für Fischer lagen die Ursprünge des Nationalsozialismus in einem deutschen Imperialismus, der sich deutlich in der Kriegserklärung 1914 und den formulierten Kriegszielen ausgedrückt hatte. Fritz Fischer stellte tatsächlich die Weichen für eine Erklärung, die mehr im Innern Deutschlands lag und nach und nach, indem sie sich um eine soziale Dimension erweiterte, zum Paradigma wurde: den Sonderweg. In dieser Perspektive werden der Versailler Vertrag wie auch die Ereignisse und ihre Zufälligkeiten in den Hintergrund verbannt. Mit dieser Generation von Historikern verändert sich der Versailler Vertrag vom Grund für den Aufstieg des Nationalsozialismus zu einer simplen rhetorischen Triebfeder für die nationalsozialistische Propaganda. Aber auch wenn die beiden großen Erklärungsmodelle aufeinander abgestimmt zu sein und sich zu widersprechen scheinen, so schließen sie sich doch nicht gegenseitig aus. Die sozialen und kulturellen Auswirkungen und vor allem die Furcht vor den Auswirkungen des Versailler Vertrages in der Bevölkerung waren lange Zeit vernachlässigte Themen oder wurden nur in klassischen Untersuchungen über die öffentliche Meinung thematisiert, die in erster Linie auf Presseauswertungen beruhten und in einen nationalen Maßstab eingebettet waren153. Eine transnationale Geschichte der konkreten Auswirkungen des Versailler Vertrags wie auch der Darstellungen, die diese Effekte erzielen konnten, muss in weiten Teilen noch geschrieben werden. 151 Es gibt eine große Anzahl von Werken und Artikeln über diese Polemik, die den Rahmen dieses Buches sprengen würden. Eine gute Beschreibung findet sich in: Jarausch 2003 [98]. 152 Zitiert nach Schulze 2001 [392], S. 421. 153 Für Frankreich: Miquel 1972 [366].

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I. Überblick

In Deutschland sind der Vertrag und seine Implikationen seit 1919 ein Thema der „intensiven gegenseitigen Durchdringung von Historie und Politik“154. In diesem Sinn schreibt z. B. der Historiker Gerhard Ritter, selbst Kriegsteilnehmer und im Krieg verletzt, im Juni 1919, dass der Vertrag seiner Meinung nach ein Versuch sei, „einem Siebzigmillionenvolk planmäßig das Lebensblut auszusaugen“155. Als Konfliktort der Interpretationen sollte er zum „Erinnerungsort“ einer konfliktgeladenen Erinnerung werden156. Aber die Konsequenzen des Friedens wurden unmittelbar nach seiner Unterzeichnung auch im Umkreis von Sozialwissenschaftlern der anderen kriegführenden Länder debattiert, wie die bekannten Werke des französischen Historikers Jacques Bainville oder des Ökonomen John Maynard Keynes belegen157. Erst vor kurzem wurde die Akte Versailles unter dem Blickpunkt neuer historischer Herangehensweisen erneut geöffnet und untersucht158. Alle diese Stufen der Geschichtsschreibung erlauben uns nunmehr, uns eine klare Vorstellung von den Ereignissen selbst zu machen, auch wenn die Tragweite des Vertrages, vor allem hinsichtlich der Gesellschaften und ihrer Mentalitäten, weiterhin debattiert wird und debattiert werden muss. Hauptsächlich geht es darum, die exzessiven Visionen zu überwinden, die aus Versailles entweder einen objektiven Grund für den Aufstieg des Nationalsozialismus machen oder einen rein rhetorischen Kunstgriff. Unter diesem Gesichtspunkt hat Gerd Krumeich gezeigt, bis zu welchem Punkt diese Rhetorik in der deutschen Gesellschaft einen Konsens und einen Querschnitt bildete159.

3.2. Eine deutsch-französische Angelegenheit Wenn Versailles auch nicht nur eine deutsch-französische Angelegenheit ist, so ist sie es doch in erster Linie. Seine gänzlich symbolische Unterzeichnung am 28. Juni 1919, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Attentat auf Franz Ferdinand, am selben Ort, an dem das Deutsche Kaiserreich 1871 proklamiert worden war, macht aus dem Versailler Vertrag tatsächlich eine Art Abrechnung zwischen beiden Nationen. Auch Clemenceaus Einladung einer Delegation von Soldaten mit Gesichtsverletzungen zählt zu dieser symbolischen Dimension160. Die Einladung richtet sich sowohl an die Verletzten selbst, denen Clemenceau laut der Zeitung L’Illustration vom 5. Juli 1919 zu verstehen gibt: „Ihr habt gelitten, aber 154 155 156 157

Cornelissen 2001 [578], S 237. Ebd. Schulze 2001 [394]. Zum Beispiel die gegensätzlichen Analysen von Keynes und Bainville (Husson/Todd 2002 [55]). Siehe auch Deperchin 2001 [311] über die Juristen. 158 Krumeich 2001 [348]. 159 Ebd., S. 53 ff. 160 Delaporte 1996 [307]; Audoin-Rouzeau 2001 [263].

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hier ist eure Entschädigung“161, als auch an Deutschland, das damit angeklagt wird, einen die Menschheit verstümmelnden Krieg verursacht und geführt zu haben. Die Akteure der Zeremonie hatten sich nicht getäuscht; ein Journalist des Petit Parisien gab am 30. Juni die Worte eines Verwundeten wider: „Indem die französische Regierung uns ausgewählt hat, demonstrierte sie ihren Willen, den deutschen Delegierten die schmerzhaften Konsequenzen des Krieges zu demonstrieren, den sie verschuldet haben.“162 Stéphane Audoin-Rouzeau betont, dass die fünf gueules cassées (so nannte man in Frankreich die Gesichtsverletzten), deren Gesichtsverletzungen im Spiegelsaal von Versailles vervielfacht widergespiegelt werden, in gewisser Weise den berühmten Paragraphen 231 verkörpern. Gleichzeitig bedeuten sie auch von vornherein, dass die hauptsächlichen Kriegsopfer die Soldaten sind, was nicht ohne Wirkung bleibt in Bezug auf den Platz der zivilen Opfer bei den Anerkennungsmaßnahmen nach dem Krieg. Bei der Pariser Konferenz und den Verhandlungen zu den Vertragsklauseln gab es bereits direkte Auseinandersetzungen zwischen deutschen und französischen Delegierten, die häufig von den Belgiern unterstützt wurden. Briten und Amerikaner nahmen neben den Gegnern eine moderierende Position ein. Die Verhandlungen ließen sogar neue Risse zwischen den Alliierten erkennen. Die Mehrheit der französischen Politiker hoffte, die deutsche Militärmacht zerstören, ja sogar das Bismarckreich zerschlagen zu können. Aber auch sie stritten sich über die Mittel, um an dieses Ziel zu gelangen. Nachdem sie für eine Annexion des linken Rheinufers eingetreten waren, verhandelten Foch und Weygand im Juni 1918 mit den lokalen Amtsträgern in Baden, Württemberg und Bayern und stachelten bisweilen zur separatistischen Agitation an. Dahinter stand der Versuch, den Süden des Reiches abzutrennen. Diese extreme Sichtweise kollidierte sogar mit Clemenceau, der kaum im Verdacht zärtlicher Gefühle gegenüber Deutschland stand und zusammen mit Tardieu einst versucht hatte, die linke Rheinseite zu annektieren, bevor er im April 1919 auf eine „aktive Rheinlandpolitik“ verzichtete. Dass dies kein definitiver Verzicht war, zeigte die französische Politik gegenüber Deutschland bis zur Ruhrkrise163. Auf jeden Fall sind sich Zeugen weitgehend einig in der Aussage, dass die Atmosphäre innerhalb der Delegationen und während der Konferenz zumeist scheußlich und chaotisch gewesen sei164. Nach fast vier Monaten Arbeit wurde der Vertragstext den deutschen Delegierten am 7. Mai 1919 feierlich übergeben. Der Leiter der deutschen Delegation, Graf Brockdorff-Rantzau, blieb während der Ansprache bei der Überreichung des Vertragsentwurfs sitzen165. Deutschland sollte demnach ein Siebtel seines Territoriums und ein Zehntel seiner Bevölke161 162 163 164 165

Zitiert nach ebd., S. 280. Zitiert nach ebd., S. 286. Bariéty 1977 [430], S. 46–61; Soutou 2004 [665]. Sharp 1991 [396], S. 19. Ebd., S. 38.

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I. Überblick

rung verlieren. Der Vertrag brachte sogar die Regierung zu Fall. Der neue Kanzler Bauer versuchte noch am 22. Juni, den Paragraphen 231 zu modifizieren, erhielt jedoch als Antwort ein Ultimatum. Falls Deutschland sich weigern sollte zu unterzeichnen, würden die Feindseligkeiten in 24 Stunden wiederaufgenommen. Dieses Ultimatum und der Eindruck, dass die deutschen Delegierten nur sehr wenig auf die Endfassung Einfluss nehmen konnten, bilden den Ursprung des Ausdrucks „Diktat von Versailles“, der sofort überwältigenden Erfolg hatte. Wenn auch der Versailler Vertrag zweifellos ein Frieden der Sieger war, hat der Historiker Hagen Schulze doch recht, wenn er schreibt, dass „die alliierten Staatsmänner erheblich milder gehandelt hatten, als Militärs und die öffentliche Meinung in den Siegerstaaten von ihnen erwartet hatten“166. Im Sieg noch vereint, sind die Franzosen über und durch die Verträge gespalten, auch wenn nur wenige von ihnen die Verträge als zu hart erachten – die Bruchstelle verläuft zwischen denen, die sie gerecht finden, und denen, die sie als zu konziliant ansehen167. Dieser Bruch verwandelt sich anschließend in eine Trennung zwischen denen, die sich auf die Buchstaben des Vertrages beziehen, und den anderen, die sich auf den Geist des Vertrages berufen, zwischen denen, die eine strikte Anwendung wollen, und jenen, die mehr und mehr Hoffnungen auf eine Befriedung der Beziehungen mit Deutschland setzen, das seinen Status als Feind für den eines Partners aufgeben sollte. Davon ist man 1919 allerdings noch weit entfernt. Trotz der Aufspaltungen und Desillusionierung, die der Vertrag potenziell hervorruft, dominiert zu diesem Zeitpunkt und vor allem direkt nach dem Krieg die Meinung: „Der Deutsche muss zahlen“, und das in jeder Hinsicht168. Der junge Offizier und aus Deutschland zurückgekehrte Gefangene Charles de Gaulle, der am 25. Juni 1919 an seine Mutter schreibt, verkörpert diese Überzeugung sehr gut: „Hier ist also der unterzeichnete Frieden. Er muss noch vom Feind umgesetzt werden, denn so wie wir ihn kennen, wird er nichts tun, nichts hergeben, nichts zahlen, so dass man ihn zwingen wird, es zu tun, herzugeben, zu zahlen, und dies nicht nur mit Gewalt, sondern auch mit der letzten Brutalität“.169

Auf der anderen Seite des Rheins sind die Deutschen zutiefst durch den Krieg und die Niederlage gespalten, ebenso über den Sinn, den man beiden geben muss. Doch sie finden sich zusammen in einer gemeinsamen Abscheu gegenüber dem „Diktat“, dem „Schandvertrag“. Und auch wenn die Gründe für diese Abscheu nicht immer dieselben sind, ist ihre Intensität doch innerhalb der gesamten Gesellschaft sehr groß170. Jüngste Recherchen haben die starke Verwicklung kon166 167 168 169 170

Schulze 2001 [394], S. 415. Z. B. Jacques Bainville, in Husson/Todd 2002 [55], S. 287– 459. Miquel 1972 [366]. Zitiert nach Baumann 2005 [4], S. 100. Zur Haltung der Linken siehe Klein 2001 [512], zum bürgerlichen Milieu siehe Barth 2003 [270], S. 444–465.

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servativer Frauenvereinigungen in den militanten Aktivismus gegen den Vertrag und für seine Revision dargelegt; eine militante Haltung, die umso aktiver war, als sie sich von einem Schuldgefühl gegenüber den von den Männern während des Krieges dargebrachten „Opfern“, vom Verlust und der Trauer nährte171. Das soziale Engagement gegen den Vertrag konnte somit eine Form der moralischen Reparation sein. Diese Einheit im Negativen sollte gleichwohl im Augenblick nicht sehr integrativ wirken, und die Spaltung innerhalb der Gesellschaft blieb tief, auch wenn die Parteien der Rechten und extremen Rechten sogleich ein Mobilisierungs- und Vereinigungspotential erhielten, das ein Argument für die Revision des Versailler Vertrags sein konnte. Dies findet sich in den ersten beiden Punkten des Programms der NSDAP vom 24. Februar 1920, als diese noch eine Splittergruppe war: „1. Wir fordern den Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu einem Groß-Deutschland. 2. Wir fordern die Gleichberechtigung des deutschen Volkes gegenüber den anderen Nationen, Aufhebung der Friedensverträge von Versailles und St. Germain.“

De facto schwappte der Hass auf den Vertrag auf die Republik über, die ihn unter Zwang unterzeichnet hatte: „Versailles stand für die Krankheit der Weimarer Republik, ihre Heilung hieß Revision (…)“172. Während der Sieg in Frankreich ein Fest gewesen ist – allerdings ein von Trauer überschattetes Fest –, wurde der Versailler Vertrag als ein Minimum betrachtet, über das sich nicht verhandeln ließ; laut einer Reihe von französischen Beobachtern waren bereits während der Verhandlungen zu viele Konzessionen eingeräumt worden. Auch wenn diese gegenüber Briten und Amerikanern gemacht worden waren, so wurden sie doch zugestanden, und es war keine Frage, mit den Deutschen zu verhandeln. Die französische Politik der Unnachgiebigkeit wurde mindestens bis 1924 verfolgt. Das einzige Element, das am Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit Franzosen und Deutsche hätte zusammenbringen können, waren entgegengesetzte Hoffnungen in den Wilsonismus, die letztlich von kurzer Dauer waren. Die amerikanische Intervention hatte in Frankreich – auf der Linken wie der Rechten – zunächst eine Welle des Enthusiasmus für die Vereinigten Staaten und im Besonderen für die Person und Ideen Wilsons hervorgerufen. Er wurde als Retter, als Sieger und als Visionär in einem angesehen, als Friedensapostel und derjenige, der garantieren sollte, dass der „Krieg von 1914“ wirklich „der letzte der letzten“ war. Bei jeder seiner Reisen nach Frankreich anlässlich der Verhandlungen von 1919 wurde er mit Enthusiasmus begrüßt. Dennoch beabsichtigte die Mehrheit der Franzosen nicht, die allgemeinen Prinzipien Wilsons auf die Besiegten und ganz speziell auf Deutschland anzuwenden. Sie hatten auch nicht vor, die 171 Süchting-Hänger 2001 [547]. 172 Schulze 2001 [394], S. 417 u. 420.

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Bevölkerung der verlorenen Provinzen, die wieder ins Staatsgebiet integriert worden waren, einem Referendum zu unterwerfen. Ebenso war die Idee eines Beitritts Deutschlands zum künftigen Völkerbund weit entfernt davon, bei einer Mehrheit Zustimmung zu finden173. In Deutschland hatten die großzügigen, humanitären und pazifistischen Ideen Präsident Wilsons ebenfalls Hoffnungen geweckt, vor allem das berühmte „Recht der Völker auf Selbstbestimmung“. Zweifellos einigermaßen naiv – oder wohl eher zynisch –, glaubten die öffentliche Meinung und die deutschen Entscheidungsträger, dass diese Prinzipien auch auf Deutschland angewendet und es vor einem „Frieden der Sieger“ bewahren würden. Die Desillusionierung war vielleicht umso stärker, und die Prinzipien Wilsons zur Selbstbestimmung der Völker angewendet auf Deutschland und die Deutschen fanden sich bis zu den Extremisten instrumentalisiert, die am weitesten von den philosophisch-politischen Ansichten Wilsons selbst entfernt waren, wie etwa das bereits erwähnte Programm der NSDAP. Doch die Ablehnung des Wilsonismus durch die Amerikaner selbst schaffte es, die Ideen Wilsons, oder zumindest das, was von ihnen nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags übrig geblieben war, in Misskredit zu bringen. Der Völkerbund bündelte und trug dennoch weiterhin die Hoffnungen aller aufgeklärten Geister, die vor allem eine mentale Demobilisierung wünschten. 1919 stellten sie sowohl in Deutschland als auch in Frankreich noch eine winzige Minderheit dar174. Gleichwohl lässt sich die Welle des Wilsonismus wie eine Ankündigung einer ähnlichen und parallelen Woge in beiden Ländern lesen, als sich für eine kurze Zeit – zwischen Locarno und dem Briand-Kellogg-Pakt – Vertrauen in den Völkerbund sowie der weitreichende Glaube an Abrüstung, Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik, die Möglichkeit eines Friedens und eines mit sich selbst versöhnten Europa entwickelten. Man kann also davon ausgehen, dass der Idealismus Wilsons in gewisser Weise einen zweiten Ausbruch in anderer Form erlebte. 1919 bis 1920 erschien die Politik der Stärke aktueller denn je und die geistige Demobilisierung noch ein frommer Wunsch, auch wenn die kämpfenden Truppen am Arbeitsplatz, auf dem Land oder zu Hause demobilisiert wurden.

173 Miquel 1972 [366], S. 37–214. 174 Horne 2000 [501], Guieu 2006 [792].

4. Auge in Auge: 1919–1924 4.1.

Krieg nach dem Krieg oder Krieg dem Kriege 4. Auge in Auge: 1919–1924

Die beiden Länder wurden von offenbar gegensätzlichen Meinungsströmungen durchzogen, die allerdings bisweilen in ein und demselben Individuum zusammenkamen. Die Hoffnung auf Frieden, eine Rückkehr zum normalen Leben, die Normen des Zivillebens und das Ende der kriegsbedingten Entbehrungen war, wie wir gesehen haben, in der öffentlichen Meinung beider Länder weit verbreitet. Diese Hoffnung schloss im Fall Frankreichs jedoch keineswegs eine bestehende Feindseligkeit gegenüber demjenigen aus, den man noch als „le Boche“ bezeichnete. Der Wille, Deutschland zahlen zu lassen, der sich nicht nur auf den Poincarismus beschränkte, illustriert diese ambivalenten Gefühle. In Deutschland wurde die Hoffnung auf Frieden ebenfalls von einer Feindseligkeit gegenüber den ehemaligen Feinden und vor allem den Franzosen ergänzt. Der Frieden von Versailles verstärkte diese Animosität noch, die sich, vor allem bei der Rechten, gegen neue Feinde im Innern richtete, die für die Niederlage verantwortlich gemacht wurden: Sozialisten, die mittels der Niederlage die Republik begründet hatten, Kommunisten, die Unruhe und Chaos stiften, Separatisten, Profitmacher und Juden, denen man vorwarf, all das auf einmal zu sein. Diese Ambiguität zeigt sich auch auf politischer Ebene im Abstimmungsverhalten der Wähler. Angesichts einer expandierenden Sozialistischen Partei (SFIO, Section Française de l’Internationale Ouvrière), die jedoch gespalten und auf dem Weg der Zersplitterung war – die Abspaltung vollzog sich 1920 auf dem Kongress von Tours –, angesichts einer Radikalsozialistischen Partei (Parti radical), die hinsichtlich des einzugehenden Wahlbündnisses – mit der Rechten oder mit der Linken – gespalten war, schließen sich die Rechten in Frankreich zu einem Block zusammen und bilden den „Nationalen Block“. Dieser profitiert in der öffentlichen Meinung von den Auswirkungen des remobilisierenden Ausbruchs des Jahres 1918 sowie denen des Sieges und der Vertragsverhandlungen, aber auch von der Welle der bisweilen sehr gewalttätigen sozialen Unruhen der Jahre 1918 bis 1919 – das Departement Seine zählte 1919 130 Streiks, das waren fast 370 000 Streikende175 – und von der Angst vor dem Bolschewismus und der Rhetorik des „Bürgerkriegs“176. Es ist Antikommunismus vermischt mit Antigermanismus, die im gemein175 Wirsching 1999 [187], S. 89. 176 Ebd., S. 45 – 57.

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samen Wahlmanifest harte Nationalisten, konservative Katholiken und gemäßigte Republikaner zu einem ungleichen ,Block‘ vereinten. Ihr Wahlprogramm propagiert in der Tat die „Verteidigung der Zivilisation gegen den Bolschewismus, der nichts als eine Form der deutschen Gefahr und eine Negierung jeglichen sozialen Fortschritts ist“177. In den Wahlen vom 16. und 30. November erhält der Nationale Block 319 Sitze, das ist die absolute Mehrheit. Allerdings behalten auch die zentristischen Parteien und parlamentarischen Gruppen, falls sie sich von der Rechten lösen und sich vereinigen sollten, die Möglichkeit, Mehrheiten zu bilden. Wegen der Präsenz einer größeren Anzahl von Veteranen wird die Kammer „chambre bleu horizon“ genannt. Eine Kammer, über die Maurice Agulhon schrieb: „Wenn es gestattet ist, einen weiteren Augenblick auf die Farben einzugehen, kann man sagen, dass diese blaue Kammer – geboren aus einem anti-roten Reflex heraus – auch etwas Weißes (Weiß ist traditionell die Farbe der kirchennahen Monarchisten) hatte. Denn eine der Hauptideen der Rechten (und zweifellos eines Teils der Linken) war, dass der Antiklerikalismus der Vorkriegszeit veraltet war (…)“178. Die französische Politik erprobte also neue Spaltungen im Vergleich zur Vorkriegszeit, während sie die aus dem Krieg hervorgegangenen Denkweisen gleichzeitig zum Teil beibehielt. Nach der Wahl von Paul Deschanel – gegen Clemenceau – zum Präsidenten der Republik durch die beiden Kammern bildet Alexandre Millerand, einer der „Architekten“179 des Blocks, eine Regierung, die vielmehr einer kleinen Union sacrée (allerdings ohne Sozialisten) ähnelt als einer harten Rechtsregierung. Im Innern jedoch führen die Regierungen Millerand (1919 –1920), Leygues (1920), Briand (1921–1922) und schließlich Poincaré (1922 –1924) eine Politik, die „im Nachhinein wie eine reaktionäre Politik erscheint, wenngleich sie in dem Moment als Übersetzung des nationalen Konsens konzipiert war, der sich während des Krieges gebildet hatte“180. Es war eine harte Politik gegenüber dem besiegten Deutschland, die im „kleinen Krieg“ im Ruhrgebiet 1923 –1924 ihren Höhepunkt erreichte, die sich aber schon in der „Generalprobe“181 1921 mit der Besetzung von Düsseldorf, Ruhrort und Duisburg abgezeichnet hatte sowie mit den Zollsanktionen im Anschluss an die deutsche Weigerung, die auf der Pariser Konferenz im Januar 1921 getroffenen Zahlungsmodalitäten der Reparationszahlungen zu akzeptieren, sowie mit der Unterstützung Polens in der Angelegenheit von Oberschlesien 1921–1922182. Diese Jahre zeichnen sich gleichwohl auch durch das Aufkommen eines diffusen Pazifismus in der französischen Gesellschaft aus, der seinen Ursprung oft 177 178 179 180 181 182

Zitiert nach Becker/Berstein 1990 [236], S. 190. Agulhon 1990 [234], S. 332. Becker/Berstein 1999 [236], S. 196. Ebd., S. 198. Jeannesson 1998 [614], S. 53. Mouton 1995 [466], S. 223–260. Zu dieser Frage siehe Kapitel II.4.2. Zur Ruhrbesetzung siehe II.5.

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im Milieu der Veteranen selbst hat183. Dieser weitgehend integrierende Pazifismus mündete nur selten in antimilitaristische Positionen. Die Association Républicaine des Anciens Combattants (ARAC), die vom Schriftsteller und Kriegsteilnehmer Henri Barbusse, der der extremen Linken nahestand, gegründet und geleitet wurde, zählte zwar in jener Zeit 20 000 Mitglieder, blieb jedoch eine Minderheit im Vergleich zu den großen Vereinigungen Union Fédérale (UF) und Union Nationale des Combattants (UNC), die 1932 beide nahezu eine Million Mitglieder hatten. In Frankreich geht dieser Pazifismus zumeist mit einem gewissen Patriotismus einher184, auch wenn andererseits auch nebulöse, aktivistische Pazifistenorganisationen entstehen, die sich „integral“ nennen und einen Bruch mit dem patriotisch-pazifistischen Konsens vollziehen. In Deutschland werden die Gedankenströmungen, die widersprüchlichen politischen und sozialen Nachkriegsbewegungen durch die Auswirkungen der Niederlage, des Regimewechsels und des „Diktats von Versailles“ intensiviert. Selbst wenn eine gewisse Hoffnung auf Demokratie, auf Rückkehr zu einer friedlichen Lage existiert und in einigen Regionen oder sozialen Schichten von der Mehrheit gehegt wird185 – wie zum Beispiel in den Landstrichen, die stark von der Generalmobilmachung und daher von den Kriegsverlusten betroffen waren –, regieren in anderen Regionen, in anderen Milieus oder in den großen Städten Chaos und Agitation. Die komplexe Litanei der revolutionären Bewegungen, der reaktionären Staatsstreiche, der Grenzkämpfe der Freikorps, der politischen Attentate, die die ersten Jahre der Weimarer Republik prägten, zeugen von dem Zustand der „politischen Desintegration“186, in dem sich die deutsche Gesellschaft befindet. Auch wenn sich Historiker uneinig sind über die direkten Auswirkungen des Krieges auf die offene und/oder latente Gewaltsituation, in die sich Deutschland in den Jahren 1918 –1924 hineingeworfen findet, sind die Resultate doch unleugbar: Die deutsche Gesellschaft ist ein Januskopf mit einem Gesicht, das bei der Rückkehr zum Frieden lacht, und einem anderen, hassverzerrten Gesicht. Die Ergebnisse der Wahlen spiegeln, wie im Falle Frankreichs, in gewisser Weise diese Spaltung wider. Erzielte das demokratische Lager – SPD, DDP, Zentrum, BVP – 1919 noch 76 % der Stimmen bei den Parlamentswahlen, geht es 1920 auf 47 % zurück und bleibt bis 1928 um die 50 %. Die autoritären Parteien der Rechten und extremen Rechten (DNVP, DVP, NSDAP) steigen von 15 % 1919 auf 30 % im darauffolgenden Jahr, um sich von 1920 bis 1930 zwischen einem Viertel und einem Drittel der Wählerstimmen einzupendeln. Die Parteien am linken Rand (USPD und KPD) erreichen ihren Höhepunkt 1920 mit 20 % und schwanken anschließend zwischen 9 % und 17 %. Hans-Ulrich Wehler unter183 Prost 1977 [378] und Prost 1977 [379]. 184 Zum Pazifismus siehe Kapitel II.7.; Kittel 2000 [510], S. 261– 294; Prost 1977 [378] und Prost 1977 [379], Ingram 1991 [502]. 185 Ziemann 1997 [420], Brandt/Rürup 1991 [569]. 186 Barth 2003 [270], S. 407–486.

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streicht in seinem Werk, dem auch diese Zahlen entnommen sind, dass dem noch die „Splitterparteien“ hinzugefügt werden müssen, die ebenfalls, über die Wahlergebnisse selbst hinaus, „ein irritierendes Indiz für die nachlassende Integrationskraft der großen etablierten Parteien“187 waren. Diese integrative Schwäche ist zweifellos auch eine der Ursachen für die politische Gewalt, obwohl die großen Parteien mit ihren privaten Schutzmilizen sicherlich ebenso an ihr teilhatten. Die politische Gewalt kulminierte 1918 bis 1924, blieb aber eine Konstante im politischen und sozialen Leben der Weimarer Republik. Während in Frankreich das Kriegsende durch eine Rhetorik des Bürgerkriegs gekennzeichnet war, blieb diese in Deutschland nicht auf dem Niveau von Worten, sondern nahm verschiedene Formen an, die sich in sieben große, sich bisweilen überlagernde Typen einteilen lassen: – die revolutionären Aufstände gefolgt von ihrer Niederschlagung durch Regierungs- oder Hilfskräfte (Freikorps), – die Streiks mit Aufstandscharakter, – die Putschversuche der extremen Rechten (Kapp-Lüttwitz-Putsch, die Schwarze Armee von Küstrin bis hin zum Putsch im Bürgerbräukeller durch Hitler und die Nationalsozialisten), – die Straßenkämpfe zwischen den politischen Kräften, – der Terrorismus, die politischen Morde und Attentate von allen Seiten (aber zahlenmäßig ganz klar dominiert von denen der extremen Rechten), – der regionale und regionalistische Separatismus, – die Konflikte zwischen Berlin und der Provinz, vor allem Bayern (bis 1924), dem Rheinland, Preußen. Walther Rathenau verkörperte in gewisser Weise die gespaltene Persönlichkeit der Gesellschaft. Er weckte auf der einen Seite Erwartungen und Hoffnungen – allerdings gegensätzliche188: auf Frieden, auf wirtschaftliche Gesundung, auf die Rückkehr Deutschlands in den ersten Rang der Nationen –, und auf der anderen Seite kristallisierte sich um ihn herum ein vielgestaltiger Hass heraus: Ihm wurde wild durcheinander vorgeworfen, ein vaterlandsloser Jude zu sein, ein Industrieller, der nur seinen eigenen Interessen dient, oder gar darin gescheitert zu sein, den deutschen Sieg sicherzustellen. Der junge nationalistische Intellektuelle Ernst von Salomon, der an der Ermordung Rathenaus am 14. Juni 1922 beteiligt war, bezeugte in seinem Roman Die Geächteten diese Mischung aus Hass und Hoffnungen, die ihn zu Verschwörung und terroristischer Handlung führte. Das Beispiel der Ermordung Rathenaus war in Deutschland bei weitem kein Einzelfall. Es fügte sich in einen Kontext der politischen Gewalt ein, die sich erst zwischen 1925 187 Wehler 2003 [230], S. 358. 188 Sabrow 1999 [535], Haffner 2002 [50].

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und 1928 etwas beruhigte, um dann nach dem 1. „blutigen Mai“ 1928 in Berlin wieder richtig aufzuleben. Während die konservativen Veteranenvereinigungen in Frankreich weiterhin von einem diffusen Pazifismus erfüllt sein konnten, war dies in Deutschland undenkbar. Am Ende der zwanziger Jahre zählte die größte dieser Veteranenvereinigungen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg existierte, der überaus konservative Kyffhäuserbund, 29 000 Vereine und mehr als zwei Millionen Mitglieder189, der anti-republikanische Stahlhelm ungefähr 400 000 bis 500 000190. Beide befanden sich über den Sinn des Krieges unwiderruflich im Kampf mit dem aus der KPD hervorgegangenen Rotfrontkämpferbund mit etwa 100 000 Mitgliedern und dem SPD-nahen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (ungefähr eine Million Mitglieder), das den Bund republikanischer Kriegsteilnehmer191 beherbergte, ohne dass sie ein „pazifistischer und patriotischer“ Konsens einte. Selbst wenn sie sich bisweilen, wie in Frankreich, darauf einigen konnten, dass die Soldaten gleichzeitig Helden und Opfer waren, blieb dennoch offen, wessen Opfer sie gewesen sind: des Krieges, des blinden Imperialismus der alten Eliten, des vermuteten Verrats der neuen republikanischen Eliten. Hier konnte es keine Übereinstimmung geben, nicht einmal über ein vorsichtig zu bewahrendes Schweigen über diese Verantwortung, denn das hätte als einvernehmliche Geste des Gedenkens wahrgenommen werden können. Dieser Zeitabschnitt, in dem sich die Interpretationen des Krieges durch jene, die ihn erlebt hatten, herauskristallisierten oder durch jene, die daraus einen politischen Hebel machen wollten, fiel mit einer besonders gespannten internationalen und vor allem deutsch-französischen Lage zusammen, die sich erst 1924 –1925 entspannte, indem sie andere Alternativen anbot, sich den Krieg und die Nachkriegszeit vorzustellen.

4.2. Eskalation und Deeskalation in den deutsch-französischen Beziehungen: Von der Ruhr zum Dawes-Plan Die französischen Pläne reichten nicht nur über die Notwendigkeit hinaus, die ungezahlten Reparationen einzutreiben, sondern auch über das Gebot der Sicherheit. Dennoch wollte Poincaré zur gleichen Zeit keinen definitiven Bruch mit seinen ehemaligen Alliierten riskieren, um an seine Ziele zu gelangen192. Man darf nicht vergessen, dass die Hypothese einer ersten Ruhrbesetzung, zeitgleich zur Affäre um Oberschlesien, die französisch-britischen Beziehungen überschattet hatte und selbst die guten Beziehungen zu den USA bedrohte. 189 190 191 192

Kittel 2000 [510], S. 277–278. Berghahn 1966 [484]; Vincent 1997 [227], S. 460. Rohe 1966 [531]; Vincent 1997 [227], S. 385. U. a. Soutou 2006 [666], Soutou 2004 [665], Jeannesson 1998 [614], Schirmann 2006 [474].

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Ausgehend von den zwei kategorischen Imperativen der französischen Außenpolitik dieser Zeit – Sicherheit und Reparationen193 – blieb Poincaré letztlich nur ein begrenzter Manövrierraum zwischen einer Verhärtung seiner Politik gegenüber Deutschland und seinem Verhältnis zu den Alliierten. Seit dem Donnerschlag von Rapallo am 16. April 1922 und der gegenseitigen deutsch-sowjetischen Anerkennung194 hatte sich allerdings die harte Linie gegenüber Deutschland durchgesetzt – verkörpert vor allem von Paul Tirard, dem Interalliierten Hauptkommissar in den rheinischen Provinzen, und General Degoutte, dem Oberbefehlshaber der Interalliierten Besatzungstruppen195. Dies geschah ohne größere Probleme, denn diese wurde als einzige Möglichkeit angesehen, Sicherheit und Reparationszahlungen zu „garantieren“ – ein anderer Schlüsselbegriff der französischen Außenpolitik. Außerdem fügte sich diese harte Linie auch in einen größeren französischen Planungskontext für Europa ein, weil die innenpolitische Opposition im Land aufgrund eines starken, anhaltenden antideutschen Gefühls der öffentlichen Meinung geschwächt war, und schließlich fügte sie sich auch in eine Dynamik der Spannungen und Eskalation gegenüber Deutschland ein. Das deutsche Problem war für die Franzosen nicht das einzige, dem sie sich stellen mussten, zusammen mit der durch die Russische Revolution hervorgerufenen Beunruhigung blieb es jedoch ein zentrales. Man kann demnach die französische Verblüffung und die Sorge angesichts des Abkommens zwischen Deutschland und der Sowjetunion verstehen, den zwei größten Gefahren auf internationaler Ebene für Frankreich. Aus deutscher Sicht war die Politik hinsichtlich Westeuropas und Sowjetrusslands eng verflochten. Die eine wirkte sich jeweils auf die andere aus mit dem Ziel, in eine Art Win-Win-Spiel einzutreten, im Osten wie im Westen zu gewinnen. Aber Frankreich hatte auch nicht Rapallo abgewartet, um seine Ambitionen in Europa bekannt zu machen. Diese Ambitionen wurden zum Teil durch die Notwendigkeit diktiert, die Aufgabe seiner rheinischen Ambitionen angesichts der Anglo-Amerikaner während der Verhandlungen in Versailles zu kompensieren. Daher verstärkt Frankreich seine Freundschaften, indem es die belgischluxemburgische Wirtschaftsunion akzeptiert und indem es eine Militärkonvention mit Belgien abschließt. Im Osten unterstützt es das tschechische Projekt einer „Kleinen Entente“, um sich, gemäß der Ansicht von Beneš, „einer eventuellen österreichisch-ungarischen Restauration zu widersetzen“196. Das Projekt kam 1921 zustande und wurde drei Jahre später von einer Schutzgarantie von Seiten Frankreichs gekrönt. Diese unterstützt auch Polen in der Angelegenheit Oberschlesiens. Obgleich es dieser Serie von Abkommen von vornherein an Kohärenz zu mangeln scheint, bilden sie doch in ihrer Gesamtheit eine Form von containment 193 194 195 196

U. a. Lauter 2006 [634]. Buffet 1998 [440], Schulze Wessel 2001 [477]. Jeannesson 1998 [614], S. 7–83. Schirmann 2006 [474], S. 52.

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gegenüber Deutschland197, das sich in wirtschaftlicher Hinsicht noch steigert, was sich durch die Ansiedlung und Investitionen in den Ländern Osteuropas zeigt, mit denen Frankreich politische oder militärische Abkommen unterzeichnet hat. Diese Unternehmensniederlassungen schließen sich an die Ausbeutung des saarländischen Erzes im Westen an. Die Stahlgruppe Schneider ist somit sehr verankert in Polen und der Tschechoslowakei, und die Pariser Banken (Paribas, Banque de L’Union Parisienne) übernehmen wichtige Anteile, sogar die Mehrheit in den von Schwierigkeiten betroffenen ungarischen und österreichischen Banken. Im Ölgeschäft bleibt sich Frankreich ebenfalls nichts schuldig, als es 1920 den Anteil der Deutschen Bank an der Turkish Petroleum Company erhält. Aber dieses containment, das sich an die Bestimmungen von Versailles anschließt, erfüllt nicht alle Erwartungen. Nach Rapallo, dem sicherlich härtesten Schlag gegen diese Politik, kommt es zur langsamen Wiederherstellung der deutschen Industriemacht sowie zu dessen Zögern, die Reparationen zu zahlen, und zum Mangel an Koks, der den französischen Aufschwung und Wiederaufbau behindert. Diesem europäischen Kontext schließt sich eine Dynamik der Eskalation an. Die Idee einer Besetzung des Ruhrgebietes war nicht neu198 und zirkulierte seit 1920 vor allem unter den Anhängern der Bildung eines autonomen Rheinstaates. Zudem hatte die als Sanktion gedachte, von Millerand beschlossene Besetzung von Frankfurt, Dieburg, Hanau, Homburg und Darmstadt im April 1920 im Anschluss an den Einmarsch der Reichswehr in die entmilitarisierte Zone gegen die Kommunisten der Roten Ruhrarmee während des „Ruhrkrieges“ von 1920 einen Präzedenzfall geschaffen. Die Debatte über eine längere Besetzung der rechten Rheinseite blieb an der Tagesordnung in der französischen Presse199. Die Übernahme der Regierung durch Briand 1921 mildert die Spannungen nicht. Dieser befindet sich eher auf einer harten Linie gegenüber Deutschland und versucht sogar, Lloyd George von der Notwendigkeit zu überzeugen, Sanktionen gegenüber Deutschland im Falle der Weigerung von Reparationszahlungen ins Auge zu fassen. Dies geschieht im März 1921, als der deutsche Außenminister Walter Simons die Beschlüsse der Londoner Konferenz zurückweist. Die britischen, französischen und belgischen Alliierten beschließen danach gemeinsam am 7. März 1921 die Besetzung von Ruhrort, Duisburg und Düsseldorf. Diese Sanktionsmaßnahme wird diesmal noch durch eine „Pfandnahme“ verdoppelt, wie es Briand am 5. April dem Senat erklärt: „In der Position einer Gläubigernation haben wir Rechte gegenüber unserem Schuldner, einem unaufrichtigen Schuldner …; wir nehmen ein Pfand … Morgen, am 197 Die Beispiele stammen aus Schirmann 2006 [474], S. 53–54. Für den späteren Zeitabschnitt: Schirmann 2000 [472]. 198 Zu den jetzt gut bekannten Vorläufern: Bariéty 1977 [430], Jeannesson 1998 [614], Soutou 2004 [665], Fischer 2003 [589], Lauter 2006 [634]. 199 Lauter 2006 [634], S. 261–264.

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I. Überblick Fälligkeitstag, versucht Deutschland durch erneutes Herumgedruckse, sich seinen Verpflichtungen zu entziehen (…) Eine feste Hand wird ihm die Schlinge umlegen. Unsere Alliierten können das nicht ignorieren.“200

Jeder konnte somit begreifen, dass Briand, über die Rechtfertigung für die laufende Aktion hinaus, indirekt die Besetzung des gesamten Industriebeckens androhte201. Dieses Klima war demnach günstig für die Verfechter einer noch härteren Linie und für die „annexionsbereite französische Rheinlobby“202. Die versteckte französische Drohung wird deutlicher, als am 3. Mai 1921 der Jahrgang 1919 mobilisiert wird. Weiterhin erreicht die Militärpräsenz im besetzten Rheinland mit 250 000 Soldaten, davon 210 000 Franzosen, ihren Höhepunkt. Am 5. Mai 1921 wird ein Ultimatum an Deutschland übermittelt. Es hat eine Woche Zeit, um den Betrag und die Modalitäten der Reparationszahlungen zu akzeptieren, deren Höhe von der Ad-hoc-Kommission am 27. April auf 132 Milliarden Goldmark festgelegt worden war203. Im Falle einer Weigerung sollten die Alliierten am 12. Mai das Ruhrgebiet besetzen. Die deutsche Regierung Fehrenbach-Simons stürzt, und das Kabinett Wirth, das sie ersetzt, akzeptiert es, sich zu unterwerfen und gibt nach in der Hoffnung, eine weitere und längere Besatzung zu vermeiden und in Oberschlesien zu retten, was zu retten ist204. Aber die Spannung ist weit davon entfernt zu sinken. Der Sozialist Vincent Auriol beunruhigte sich am Rednerpult des Parlaments am 24. Mai 1921 über diese Stimmung: „Das Ruhrgebiet? Man hat aus diesem Wort einen Glaubensartikel gemacht. Man hat es in die Menge geworfen. Und die Menge wiederholt: ,Man muss das Ruhrgebiet besetzen‘, so wie sie sagte: ,Deutschland wird zahlen.‘“205

Es muss dazu gesagt werden, dass im Innern des Landes, mit Ausnahme der Kommunisten und der Sozialisten, eine harte Linie gegenüber Deutschland – zumindest in diesem Moment – auf eine große Unterstützung durch die öffentliche Meinung zählen konnte206. Nachdem Deutschland das Ultimatum angenommen hatte, hätte man mit einem Sieg der Vernunft und der Beschwichtigung auf beiden Seiten rechnen können. Rathenau und Loucheur verhandelten und unterzeichneten am 6. und 7. Oktober 1921 ein Abkommen in Wiesbaden. Im Gegenzug zu hohen und garantierten Sachleistungen erreichte Rathenau die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen und vor allem die Aufgabe der „rheinischen Idee“ durch die Franzosen, die von 200 201 202 203 204 205 206

Zitiert nach Bariéty 1977 [430], S. 69. Ebd. Lauter 2006 [634], S. 266. Bariéty 1977 [430], S. 73. Ebd., S. 74. Zitiert nach Lauter 2006 [634], S. 266. Jeannesson 1998 [614], S. 132–136 und 208–217 und auch Lauter 2006 [634], S. 254 – 264.

4. Auge in Auge: 1919–1924

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der Lobby Foch–Tirard–Degoutte verteidigt wurde. „Ohne Vorwarnung hatte Briand eine Kehrtwendung unternommen“207, auch wenn die Franzosen unter der Hand die Aktionen der Separatisten und alle zentrifugalen Kräfte weiterhin unterstützten. Aber die Auswirkungen dieses Abkommens sind gleich null. Der Rhein, die Separatistenbewegungen und das Saargebiet waren nicht die einzigen Steine des Anstoßes in den deutsch-französischen Beziehungen. Im Osten lässt das Problem Oberschlesiens Franzosen und Deutsche erneut gegeneinander Aufstellung nehmen und im Innern den Sturz der beiden Regierungen beschleunigen. Die Volksabstimmung von 1921 hatte – zur Überraschung vieler – ein für die Deutschen genehmes Urteil gesprochen mit etwa 60 % der Stimmen für Deutschland208 und 55 % der Wahlbezirke. Doch es ging darum, eine Grenze zu ziehen, die gleichzeitig dieses Ergebnis, die geopolitische Lage und die wirtschaftlich fundamentale Bedeutung der Industrieregion in Betracht zieht. Dadurch dass die Saarminen in französische Kontrolle übergegangen waren und das Ruhrgebiet pausenlos als eventuelles Pfand im Fadenkreuz der Franzosen stand, waren die Industrie und die Minen Oberschlesiens umso lebensnotwendiger für das Land. Es kam dem Völkerbund zu, über den Grenzverlauf zu entscheiden. Die Entscheidung fiel nur wenige Tage nach dem Wiesbadener Abkommen, das einen ersten Schritt hin zum Abbau der Spannungen markierte. Die Entscheidung vom 12. Oktober, die am 19. Oktober vom Obersten Rat des Völkerbundes bestätigt wurde, werteten die Deutschen als unerträglich, da sie das Land des größten Teils der wirtschaftlichen Ressourcen der Region beraube. Am 22. Oktober, also zwei Wochen nach der Unterzeichnung des Wiesbadener Abkommens, trat Wirth zurück, bevor er einige Tage später eine Regierung ohne Rathenau, einem der Unterzeichner dieses Abkommens, bildete. Die deutsch-französischen Beziehungen waren erneut auf Äußerste gespannt, denn während die Franzosen – und die Polen – eher zufrieden waren mit der Regelung der oberschlesischen Frage, hielten die Deutschen in ihrer überwiegenden Mehrheit den Völkerbund für einen Befehlsempfänger der Franzosen209. Dies bestätigte einen gewonnenen und verbreiteten Eindruck im Anschluss an die Reaktionen der politischen Kräfte im Saargebiet auf die Politik des Chefs der Regierungskommission des Völkerbunds, Victor Rault. Sein Amtskollege in Oberschlesien, General Henri Le Rond, wurde derselben Voreingenommenheit bezichtigt. Außerdem ertrug die Mehrheit des Nationalen Blocks in Frankreich die Entwicklung in der Reparationsfrage nur schwer. Die Regierung Wirth ohne Rathenau, dem Unterhändler von Wiesbaden, zog die Dinge noch mehr in die Länge. Die Briten schlugen daraufhin eine Senkung der Reparationenzahlungen vor im 207 Bariéty 1977 [430], S. 86. Über Briands Werdegang siehe u. a.: Unger 2005 [142]. 208 Zu dieser Frage siehe II.4. Die Literatur wird dort zitiert. 209 Wintzer 2006 [480], S. 243–253.

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I. Überblick

Gegenzug für deren Garantie. Briand schien bereit, Verhandlungen auf dieser Basis aufzunehmen, doch Millerand und die Mehrheit schrieben ihm vor, es nicht zu tun, und veranlassten ihn, am 12. Januar zurückzutreten. Er bestätigte hiermit seine im Oktober vollzogene Wendung und hielt sich weiterhin für die Republik bereit. Indem er dies tat, überließ er das Feld Poincaré, dem Lothringer, für den Deutschland einen echten „Albtraum“ darstellt210. In einem ersten Schritt macht sich dieser daran, das Wiesbadener Abkommen anzuwenden. Aber ein Donnerschlag setzt dieser Politik ein Ende. Am 16. April 1922 wird der deutsch-sowjetische Vertrag zur gegenseitigen Anerkennung der ganzen Welt zur Kenntnis gegeben. Die französische Politik des Nationalen Blocks gegenüber Deutschland ruhte auf zwei Prinzipien: Reparationen und Sicherheit. Während die Frage der Reparationen immer noch nicht geregelt ist, wird die Rapallo-Affäre wie ein direkter und brutaler Angriff auf die Sicherheit Frankreichs erlebt. Für Poincaré „stellte (dieser Vertrag) auf offensichtlichste Weise eine Bedrohung für den Frieden dar“211, ein diplomatischer Angriff gegen Frankreich und gegen den Versailler Vertrag. Eine in gerader Linie aus dem Krieg entstandene Rhetorik lässt sich erneut bei den französischen Führern vernehmen, wie bei Jacques Seydoux, der am 15. Juli 1922 schreibt: „Es handelt sich um das Wohl der europäischen Zivilisation. Wir können nicht Deutschland, nach und mit Russland, Europa vergiften lassen. Es muss funktionieren, ob mit Ordnung oder Unordnung, in der Realität oder im Traum, zum Guten wie zum Schlechten“212.

Rapallo öffnet de facto gleichzeitig ein Fenster von Möglichkeiten für die Deutschland am feindlichsten gesinnten „Rheinländer“ Tirard und Degoutte. Darüber hinaus ist die Atmosphäre im Land entweder gleichgültig oder offen feindselig gegenüber Deutschland. Es gibt kein echtes innenpolitisches Hindernis gegen eine aggressive Deutschlandpolitik, und als sich die Idee einer direkten Inbesitznahme – implizit eine Besetzung – von „produktiven Pfändern“ präzisiert, stellen sich nur die Kräfte auf der Linken, vor allem die Kommunisten, fest dagegen. Die fast ein Jahr später „im beschränkten Komitee, durch Staatsmänner, Technokraten“213 getroffene Entscheidung, das Ruhrgebiet zu besetzen, war in 210 Bariéty/Poidevin 1977 [434], S. 249. Zur Politik Poincarés siehe Jeannesson 1998 [614]. 211 Poincaré am 22. Mai 1922, zitiert nach Jeannesson 1998 [614], S. 76. 212 Zitiert nach ebd., S. 77. 213 Jeannesson 1998 [614], S. 141–143 unterscheidet drei Gruppen, die auf die Entscheidung Einfluss nehmen: die ,Rheinländer‘ (hohe Verantwortungsträger bei der Besatzung der rheinischen Territorien), die Beamten verschiedener Ministerien, die sich für verschiedene Aspekte der Operation interessierten – vor allem ökonomisch-industrielle –, und Poincaré selbst. Über das Zögern und die Intervention Belgiens: Ypersele 2004 [679] und Mignon 2005 [646].

4. Auge in Auge: 1919–1924

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höchstem Maße und in erster Linie eine politische. Indem sie das Ruhrgebiet besetzten, hofften Poincaré und seine Mitarbeiter nicht nur, sich in den Besitz „produktiver Pfänder“ für die Reparationen zu bringen, die Deutschen zum Zahlen zu zwingen und das Heft gegenüber der deutschen und der russischen Diplomatie nach Rapallo wieder in die Hand zu nehmen, sondern auch gegenüber den Kanzleien seiner ehemaligen britischen und amerikanischen Alliierten. Auch strategische und geopolitische Gründe fehlten bei der französischen Beschäftigung mit dieser Episode nicht214. Aber die französischen Pläne reichten nicht nur über die Notwendigkeit hinaus, die ungezahlten Reparationen zu decken, sondern auch über die Gebote der Sicherheit. Die französischen Führer hofften auf eine Autonomisierung der Rheinregion nach dem saarländischen Modell und setzten auf eine Destabilisierung des Reichs. Der Vorschlag von Konrad Adenauer und Hugo Stinnes zur Beendigung der Krise, die Gründung „ein(es) Rheinisches Bundesstaates, der freilich im Staatsverband der Weimarer Republik bleiben sollte“215, erweckte zweifellos einige Hoffnungen auf französischer Seite, doch die Republik überlebte diese zentrifugalen Versuche, in erster Linie dank der Festigkeit Stresemanns, ebenso wie den beunruhigenden HitlerPutsch vom 9. November 1923. In diesem Kontext bedeuten der Dawes-Plan und dann die Locarno-Verträge für die französischen Entscheidungsträger tatsächlich eine Konversion, die – wie es Georges-Henri Soutou so schön beschreibt – darin besteht, „nicht mehr nur gegen das Reich zu denken, sondern mit ihm“216. Es handelte sich darum, von der „Zeit der Erfüllung zu der der Verhandlung“217 überzugehen.

214 215 216 217

Für ein zusammenfassendes Resümee: Jeannesson 1998 [614], S. 137–143. Wehler 2003 [230], S. 408. Soutou 2004 [665]. Bariéty 1977 [430], S. 755.

5. 1924–1930: Die große Illusion des Friedens

5.1.

1924 – Das Übergangsjahr 5. 1924–1930: Die große Illusion des Friedens

Die Befriedung und die „Normalisierung“ der deutsch-französischen Beziehungen – falls man von einer Normalisierung überhaupt sprechen kann angesichts der Tatsache, dass die Feindseligkeit während langer Jahre die Regel gewesen zu sein scheint – gründet sich auch auf mehrere innere Faktoren in beiden Ländern, vor allem wirtschaftlicher und politischer Natur. In wirtschaftlicher Hinsicht spielte in Frankreich die Krise des Francs vom Januar bis März 1924 eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der Abschwächung der französischen Machtpolitik. Diese Krise resultierte zum Teil aus der ungelösten ersten Krise des Francs von 1919 bis 1921 – die sich nur auf Kosten der Schwäche der anderen Ökonomien, vor allem der deutschen und der britischen, überwinden ließ –, dem Verlust der Illusionen hinsichtlich der raschen und umfassenden Rückzahlung der von Deutschland geschuldeten Reparationen sowie aus der Ruhrkrise, die einen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft verursacht und damit die Reparationszahlungen noch unwahrscheinlicher gemacht hatte218. Die Überwindung der Krise durch eine harte Politik der Regierung Poincaré – Gesundung der öffentlichen Finanzen, Erhöhung der Steuern – und durch die Verhandlung eines Kredits, pompös als „finanzielles Verdun von 1924“ bezeichnet, führt zu einer größeren Abhängigkeit Frankreichs, dem das Darlehen der Morgan Bank und ein anderes der Bank of England zugute kommt, gegenüber der internationalen Finanzwelt, die eine destabilisierende und aggressive Politik gegenüber Deutschland ungern sieht. „Man kann sich fragen, ob der finanzielle Sieg von 1924 nicht ein Pyrrhussieg ist“219, der zudem von sehr kurzer Dauer ist. Auf jeden Fall verpflichtet er in der Folge Frankreich zu mehr Geschmeidigkeit in der Außenpolitik. Weiterhin verschafft die Unbeliebtheit der von der Situation auferlegten Strenge der Linksopposition „die notwendigen Waffen für den politischen Kampf“220. Diese Opposition – das Linkskartell – ist nun aber strukturell weniger vehement gegenüber Deutschland. 218 Das chronische und hohe Haushaltsdefizit spielte auch eine strukturelle Rolle. 219 Becker/Berstein 1990 [236], S. 229. 220 Ebd.

5. 1924–1930: Die große Illusion des Friedens

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Die Wahlergebnisse sind tatsächlich günstig für die Linke und das Zentrum, isolieren die extremen Parteien und schwächen die buchstabengetreue Lesart des Versailler Vertrages ab. Eine Lesart, die Poincaré und seine Mehrheit selbst aufzugeben begonnen haben – obschon zu spät, um die Dividende dafür in Wählerstimmen einzufahren –, um die Beziehungen Frankreichs mit Briten und Amerikanern wieder zu erwärmen. Nicolas Roussellier schreibt der Funktionsweise des Parlaments in der Dritten Republik und dem Raum, der darin der Eloquenz und Beratung gewährt wird, diese Entwicklung hin zu einer größeren Geschmeidigkeit Poincarés zu, dem „Volkstribun der Toten“221, und seiner Mehrheit bleu horizon, die 1920 aus dem in großen Teilen gegen Deutschland gewählten Nationalen Block entstanden ist. Er schreibt: „Auf halbem Weg der Geschichte der Dritten Republik hat es die beratende Demokratie einer Kammer, die im Zeichen des unnachgiebigen ,Nationalismus‘ gewählt worden ist, erlaubt, sich auf dem Wege der Vernunft, der Eloquenz und durch den Austausch gegensätzlicher Argumente hin zu einem ,Pazifismus‘ zu entwickeln, der besser an die Realitäten des Nachkriegseuropas angepasst ist“222.

Man kann sich hier fragen, ob er nicht teilweise die Ursachen und die Folgen verwechselt. Die Situation Frankreichs gegenüber seinen Alliierten, die finanziellen Probleme und natürlich die Entwicklung der Mentalitäten hin zum Pazifismus stellen zweifellos die tieferen Ursachen für diesen Prozess dar. In diesem Fall erleichtert die Geschmeidigkeit des beratenden Regimes die Entwicklung mehr als sie ihr Ursprung ist. Trotz dieser Fähigkeit zum Kompromiss und zur Beratung verpflichtet das Wahljahr: Die üble Lage im Ruhrgebiet und die Finanzkrise können zu Wahlkampfzwecken benutzt werden und zwingen die politischen Kräfte, Position zu beziehen. Die Radikalsozialistische Partei, die bereits wenig positiv gegenüber Poincarés Deutschlandpolitik eingestellt ist, nimmt eine entschlossene Oppositionshaltung ohne Konzessionen gegenüber Letzterem ein und kappt alle Verbindungen zum Nationalen Block. Man muss hinzufügen, dass die öffentliche Meinung in diesen Übergangsjahren 1924 –1925 müde von den Prahlereien und den Abenteuern am Rhein war, sich immer weniger für die deutschen Angelegenheiten interessierte, was dazu beitrug, die französische Politik zumindest für einige Jahre von einem Primat der Außenpolitik zu einem Primat der Innenpolitik übergehen zu lassen. Kurt Tucholsky, der sich auf einer Reportage Ende 1924, Anfang 1925 in Frankreich aufhielt, bemerkte dieses Gefühl sehr wohl und schrieb mit seinem knirschenden Humor: „Noch immer gibt es Unentwegte, die in Deutschland den Erbfeind sehen (aber sie sind verschwindend klein, diese Gruppen); die Politiker blicken unruhig über den 221 Roussellier 1997 [531], S. 227. 222 Ebd., S. 275.

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I. Überblick Rhein, welche Dummheit man nun wieder dort machen wird, um ihnen hier ihre schwere Aufgabe noch mehr zu erschweren – das Volk spricht nicht von Deutschland“223.

Das Linkskartell gewann die Wahlen im Mai und Juni 1924 und zwang den Präsidenten der Republik, der sich offen für den Nationalen Block engagiert hatte, zurückzutreten. Auch wenn Paul Painlevé, der Kandidat des Kartells, scheitert, wählen die beiden Kammern doch mit Gaston Doumergue einen Präsidenten der Republik, der gegenüber Deutschland gemäßigter eingestellt war als Alexandre Millerand, der früher die Funktionen des Generalkommissars für Elsass-Lothringen ausgeübt und 1923 wenig wohlwollende Erinnerungen aus Deutschland mitgebracht hatte. Gleichzeitig bildete Edouard Herriot eine Regierung, in der er die Ämter des Regierungschefs mit denen des Außenministers bekleidete. Unterstützt von den Sozialisten, die sich nicht an der Regierung beteiligten, führte er eine echte „linke Außenpolitik“224. Es war an ihm, den endgültigen Rückzug aus dem Ruhrgebiet unter Schmerzen auszuhandeln (zwischen Juni und August 1924) sowie die Staffelung der Reparationszahlungen und die Durchführung des Plans des amerikanischen Bankiers Charles Dawes, der am 9. April vorgestellt wurde. Der Dawes-Plan, der eine erneute Annäherung zwischen Frankreich und Großbritannien und den USA begründen sollte und der den Paradigmenwechsel in der französischen Deutschlandpolitik ankündigte, die anschließend von der Politik des Linkskartells konkretisiert wurde, war noch von Poincaré bezahlt worden – um den Preis der Aufgabe jeglicher Anwandlung, das Rheinland vom Reich abzutrennen225; dabei war dieses Projekt noch das Herzstück der Ruhrbesetzung gewesen. Bezüglich der Annäherung mit den Briten sind es die Deutschen, die dies vor den Franzosen erreichten und die in gewisser Weise hier eine erste „Westanbindung“ durchführten, indem sie Frankreich umgingen, ja es sogar nötigten. Tatsächlich macht Herriot, aufgrund seiner Unerfahrenheit und seiner mangelnden Vorbereitung, auf der Konferenz von London von Juli bis August umfangreiche Konzessionen, wie die völlige Evakuierung des Ruhrgebiets. Sein Manövrierraum war allerdings nicht besonders groß gegenüber den Deutschen und den Angelsachsen sowie gegenüber internationalen und nationalen öffentlichen Meinungen, die der Ruhrbesetzung überdrüssig waren. Poincaré, der dieses heikle Erbe hinterlassen hatte, sah übrigens davon ab, Öl ins Feuer zu gießen, indem er nicht direkt in die Debatten um die Ratifikation des Londoner Abkommens eingriff. Die wichtigsten dieser Konzessionen waren die Garantie, dass die Einheit Deutschlands erhalten bleiben würde, obwohl die besetzten und demilitarisierten 223 Tuchoslky Kurt, Das nervöse Paris, geschrieben am 21. 12. 1924, zitiert nach http:// www.textlog.de/tucholsky-paris-1925.html [28]. 224 Becker/Berstein 1990 [236], S. 260. 225 Bariéty/Poidevin 1977 [434], S. 262.

5. 1924–1930: Die große Illusion des Friedens

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Gebiete sowie die Mandatsgebiete verschiedene Status hatten, weiterhin die Reduzierung und vor allem die Indexierung der Reparationen entsprechend dem Wohlstand in Deutschland und eine amerikanische Hilfe in Form eines Kredits von 800 Millionen Goldmark. Der Plan wurde in London nach harten Verhandlungen mit den Franzosen gebilligt, die sich de facto gegenüber den Briten, Amerikanern und Deutschen isoliert fanden. Dieses Abkommen beinhaltete außer einer sofortigen Evakuierung des Ruhrgebiets die Demontage aller unter französischer oder interalliierter Kontrolle befindlichen Verwaltungen wie die MICUM (Mission interalliée de Contrôle des Usines et des Mines, Interalliierte Kontrollkommission für Fabriken und Bergwerke) oder die Eisenbahnverwaltung. In der Konsequenz zerstörte es all die Arbeit und die Hoffnungen Tirards, einen vom Reich mehr oder weniger unabhängigen „Rheinstaat“ entstehen zu sehen. Zudem gab Frankreich de facto die Instrumente und Druckmittel auf, die es ihm erlaubt hätte, sich selbst „zu bedienen“ oder „Pfänder“ zu nehmen, so wie es das vorher im Fall der Nichtbezahlung getan hatte. Weiterhin sah der Plan nicht einmal die garantierte Gesamtsumme für die Reparationen vor. Was zu Beginn also eine große Konzession war, die Herriot bei seinem Amtsantritt unter Schmerzen verhandelt hatte, verwandelte sich unterdessen in ein neues Paradigma der Beziehungen zwischen beiden Ländern und errichtete eine Periode der Stabilisierung und der Annäherung, die eine Menge Hoffnungen aufkommen ließ: die eines wirklichen Friedens und eines wiedergefundenen Wohlstands – zwei Dinge, deren Deutschland, vielleicht noch mehr als Frankreich, dringend bedurfte. Der Plan sollte es Deutschland hauptsächlich erlauben, sich nach dem Jahr 1923, das wirklich ein annus horribilis gewesen war, wirtschaftlich zu erholen. Obwohl die Ruhrkrise eine Zeitlang die Deutschen gegen Frankreich zusammengeschweißt hatte, hatte sie doch auch die inneren Spannungen verstärkt, die noch immer von den indirekten Folgen dieser Krise und vor allem der Hyperinflation herrührten. Außenpolitisch erlaubte sie zwar, enorme Schulden zu tilgen, doch im Innern regierte das Chaos oder vielmehr, wie es der Zeitzeuge Sebastian Haffner ausdrückt, die Form eines „gigantischen karnevalistischen Totentanz(es)“226, ein „nicht endende(s) blutig-groteske(s) Saturnialfest“, das alle Werte entwertete oder umkehrte und sich mittelfristig in einer Proletarisierung und einer echten „Panik im Mittelstand“ ausdrückte227. Der Dawes-Plan und das Londoner Abkommen stellten also nolens volens die erste Etappe einer internationalen Annäherung dar – in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht – und schufen die ersten nötigen Voraussetzungen für wirtschaftlichen Aufschwung und einen echten Dialog.

226 Haffner 2002 [50]. 227 Theodor Geiger 1931, zitiert nach Möller 2007 [212], S. 157.

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I. Überblick

5.2. Internationale Zusammenarbeit, Abrüstung und Europagedanke: Die Rückkehr des Idealismus? Die Politik Stresemanns beinhaltete aber auch einen Sicherheitsaspekt mit dem Ziel, die Situation Deutschlands in Europa zu stabilisieren und, falls möglich, das Land von der drückenden Last des Versailler Vertrages zu befreien, vor allem von der französischen Besatzung. Das Angebot, die westlichen Grenzen zu garantieren, erlaubte es indirekt, im Osten eine aktive Revisionspolitik zu betreiben228. Bei den Franzosen war das Interesse an einer Übereinkunft nicht minder ausgeprägt, trotz der zuzugestehenden Konzessionen. Sie hofften auf eine Abschwächung des deutschen Revisionismus und eine Garantie ihrer Grenzen. Daher verzichtete Frankreich, das ein Jahr zuvor symbolisch teilweise auf Reparationen verzichtet hatte, diesmal im Falle einer Übereinkunft nicht auf seine Sicherheit. Frankreich hatte es in der Tat nötig, den Sicherheitsaspekt in seiner Außenpolitik zu verstärken, denn das Genfer Protokoll „zur friedlichen Regelung internationaler Streitpunkte“, das im September 1924 durch MacDonald und Herriot angenommen wurde und das auf dem Dreiklang „arbitrage, sécurité, désarmement“ (Schiedsgerichtsbarkeit, Sicherheit, Abrüstung) beruhte, wurde durch die Rückkehr der britischen Konservativen an die Regierung im November 1924 hinfällig. Chamberlain brach ab März 1925 tatsächlich mit dem Protokoll. Der Vertrag von Locarno bestätigte daher eine Interessensverschiedenheit zwischen der Außenpolitik Briands und der Stresemanns. Er subsumierte sie sogar, um äußerst rasch eine symbolische Dimension zu erhalten229, die einer neuen und entscheidenden Etappe auf dem Weg zum Frieden zwischen den beiden Erbfeinden. So verwandelte sich die wohlverstandene Interessenpolitik der beiden Außenminister in eine Friedenspolitik und die beiden Letztgenannten zu „Aposteln“ oder „Pilger“ des Friedens. Die Verhandlungen in Locarno im Oktober 1925 zwischen Stresemann, Briand, Chamberlain, Mussolini und Vandervelde umfassten im deutsch-französischen Bereich: 앫 Die doppelte Anerkennung der deutsch-französischen Grenze und des Fortbestandes der entmilitarisierten Zone im Rheinland. Diese Beibehaltung der Entmilitarisierung wird von Italien und Großbritannien garantiert. 앫 Die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund als ständiges Mitglied unter Bedingung der Evakuierung der Kölner Zone. 앫 Das Verbot des Durchmarsches ausländischer Truppen durch deutsches Gebiet im Fall einer Krise in Osteuropa.

228 U. a. Bariéty/Poidevin 1977 [434], S. 266; Hildebrand 1995 [452], S. 535. 229 Siehe Kapitel 6.

5. 1924–1930: Die große Illusion des Friedens

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Die Befriedung der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ist im Gange. Auch wenn Stresemann in Berlin kühl empfangen wird – wohingegen Briand in einem mehr und mehr friedlichen, ja pazifistischen Frankreich triumphal begrüßt wird –, gelingt es ihm trotz der Gegnerschaft der Nationalisten, der Mehrheit begreiflich – oder glauben – zu machen, dass der Kapitalzufluss und die ausländischen Kredite eng mit der Befriedung der Beziehung zu Frankreich und damit mit der Anerkennung der Grenzen und der Demilitarisierung des Rheinlands verbunden sind230. Somit war dieser Zeitabschnitt trotz der Fragilität der Stabilisierung – eine Fragilität, die im Nachhinein umso auffälliger wirkt, als sie es damals nicht war –, was die Beziehungen zwischen beiden Ländern als sich überschneidende Perzeptionen betrifft, durch einen radikalen Paradigmenwechsel markiert. Dieser scheinbar so grobe und schnelle Meinungswechsel zwischen der Ruhrbesetzung und dem passiven Widerstand von 1923 –1924 und der Unterzeichnung des Locarno-Vertrages erweckte eine Welle des Optimismus, die stark an eine sich selbst erfüllende Prophezeiung erinnert: Der Frieden durch Schiedsverfahren war denkbar, möglich. Als Poincaré 1926 erneut die Amtsgeschäfte übernahm, setzte er die Außenpolitik des Kartells fort. Poincaré hatte die Entwicklung der Mehrheit der Franzosen hin zum Pazifismus wahrgenommen, am stärksten jene der Veteranen. Außerdem war ihm bewusst, dass die innere Stabilisierung Frankreichs sich keine neue Destabilisierung der Beziehungen zu Deutschland erlauben konnte. Letztlich wurde seine Rückkehr an die Regierung allein im Zusammenhang mit der innenpolitischen Krise betrachtet231. Zwischen der Unterzeichnung des Vertrages von Locarno im Oktober 1925 und Poincarés Amtsübernahme hatten sich nicht weniger als sechs Regierungen abgewechselt, und die Lösung Poincaré sollte auch die der Stabilität sein, innenpolitisch wie außenpolitisch. Man musste auf allen Gebieten beruhigen. Poincaré entschloss sich daher, Briand als Außenminister zu behalten. Auch hier bedingten sich innere Stabilisierung und Annäherung zwischen ehemaligen Feinden gegenseitig. Während im Falle Deutschlands die Verständigung mit den ehemaligen Alliierten ein – sicherlich provisorischer – Faktor der inneren Stabilisierung war, konnte sich im Falle Frankreichs 1926 die zwingende innere Stabilisierung keine erneuten starken internationalen Krisen leisten. Wie Locarno es vorsah, trat Deutschland am 8. September 1926 in den Völkerbund ein, und dies auf einer gleichberechtigten Ebene mit den anderen großen Mächten. So wie der Völkerbund zu Beginn eine Organisation der Sieger und der neutralen Staaten gewesen ist, gab Deutschland etwas von seinem Status des Verlierers und Schuldigen am Krieg auf, selbst wenn Versailles nicht außer Kraft 230 Bariéty/Poidevin 1977 [434], S. 268. 231 Die Wirklichkeit sieht weitaus facettenreicher aus, da das Finanzproblem, das Frankreich damals belastet, auch an die Schulden und die Nichtzahlung der Reparationen gebunden ist. Über diese Rückkehr siehe Punkt 5.3 dieses Kapitels.

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I. Überblick

gesetzt war. In einer lyrischen Rede, die rasch berühmt wurde, begrüßte Briand Deutschland in der internationalen Institution: „Zwischen Deutschland und Frankreich ist es Schluss mit den schmerzhaften und blutigen Zusammentreffen, mit denen alle Seiten der Geschichte befleckt sind. Es ist Schluss mit den langen Trauerschleiern über Leiden, die niemals nachlassen werden. Keine Kriege mehr, keine brutalen und blutigen Lösungen mehr für unsere Meinungsverschiedenheiten. (…) Weg mit den Gewehren, den Maschinengewehren und den Kanonen! Macht Platz für den Ausgleich, die Schiedsverfahren und den Frieden!“232

Der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund folgte unmittelbar das Treffen zwischen Briand und Stresemann in Thoiry nur eine Woche später. Es ging um eine deutsche Wirtschaftshilfe – in Form einer vorgezogenen Zahlung eines Teils der Reparationen – an ein Frankreich, das noch schlecht gegenüber politischen Konzessionen eingestellt war (wie gegen einen vorgezogenen Rückzug der französischen Truppen am Rhein, die Rückgabe des Saargebiets). Die beiden Minister einigten sich, aber der Plan blieb letztlich eine Totgeburt, da Poincaré es schaffte, den Franc ohne deutsche Kapitalhilfe rasch zu stabilisieren und somit ohne die von Stresemann gewünschten politischen Konzessionen machen zu müssen, worüber Stresemann tatsächlich sehr verbittert war. In politischer Hinsicht zeigte diese Unterredung – von der damals nichts nach außen drang – letztlich eine geringe Wirkung. In symbolischer Hinsicht markierte sie einen Bruch. Der frühere Feind wurde auf nationalem Boden empfangen, darüber hinaus zum Abendessen in die Wärme eines Landgasthofs geladen233. Dies bot dem sich herausbildenden Mythos der „Freundschaft“ zwischen Briand und Stresemann Stoff. Der Friedensnobelpreis für die beiden Männer im selben Jahre sorgte für den Rest. Die Unterredung unterstützte also die Idee einer Beschleunigung der Verständigung. Umso mehr als am 30. September die Internationale Rohstahlgemeinschaft (IRG) gegründet wurde, ein vom luxemburgischen Industriellen Emile Mayrisch initiiertes europäisches Kartell. Mayrisch begründete im selben Jahr auch das Deutsch-Französische Studien- und Informationskomitee, das zur Förderung der geistigen Annäherung ins Leben gerufen wurde234. Das Ziel der IRG, die französische, deutsche, belgische und luxemburgische Industrielle umfasste (1927 gefolgt von österreichischen, tschechischen und ungarischen), war die Regulierung der Stahlproduktion durch ein Quotensystem235. Auch wenn diese Quoten vor allem in Krisenzeiten nicht immer eingehalten wurden, regelte die IRG im Allgemeinen die Streitigkeiten bezüglich des Stahls und der Schwerindus232 233 234 235

Zitiert nach Schirmann 2006 [474], S. 133. Horne 2002 [801], S. 77. Siehe die Kapitel II.6 und II.7. Berger 2000 [689], S. 41–50, und Berger 1995 [687].

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trie, die im vergangenen Zeitraum im Zentrum der deutsch-französischen Spannungen gestanden hatten, weil sie für das Reparationsproblem zentral waren. Tatsächlich hatte Frankreich nur weniger als zwei Jahre vorher noch die wichtigste deutsche Stahlregion besetzt, und seine Stahlindustriellen hatten sich am passiven Widerstand beteiligt. Nun unterstützte das Kartell sogar die Annäherung der Interessen zwischen französischen und deutschen Industriellen, denn da sie beide wichtige, stark voneinander abhängige Binnenmärkte besaßen, fanden sie sich bei Verhandlungen im Kreis des Kartells bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise oft auf derselben Wellenlänge gegenüber den Luxemburgern und Belgiern, die fast ausschließlich Exporteure waren. Dem Stahlkartell folgte Ende des Jahres 1926 ein deutsch-französisches Kalikartell. Im August 1927 unterzeichneten Deutschland und Frankreich nach langen und anstrengenden Verhandlungen sogar einen Handelsvertrag, der den ersten bilateralen Vertrag der beiden Länder seit dem Krieg darstellte236. Im März desselben Jahres zogen sich die französischen Truppen aus dem Saargebiet zurück. Diese Entspannung, die überwiegend vom Pragmatismus der beiden Partner diktiert wurde, rief daraufhin „eine Art von Verständigungsmystik“237 hervor und wiederbelebte die Idee einer Sicherheit, die kollektiv sein und verhandelt werden konnte. Nunmehr wird der Realismus von Idealismus begleitet. Die Abrüstungsinitiativen vervielfachen sich. Gleichzeitig verlässt die Förderung der Europaidee die Kreise der Aktivisten, um sich einen Weg in die Politik zu bahnen. So fangen Briand und Stresemann, die klugen Unterhändler und Meister der Geheimdiplomatie, selbst Feuer für ihre Politik und werden Parteigänger des Friedens, auch wenn Stresemann, die „tragische Persönlichkeit“238, sich am Ende seines Lebens der potentiellen Gefahr durch den Wiederaufstieg seines Landes bewusst wird, für den er so hart gearbeitet hatte. Der mehr auf französischer als auf amerikanischer Initiative beruhende Briand-Kellogg-Pakt vom 27. August 1928, die Annahme des Young-Plans im August 1929 in Gegenwart von Briand und Stresemann und schließlich die große Europa-Rede Briands am 5. September 1929 in Genf verkörpern den Höhepunkt dieser Periode. Der in Paris von 15 Staaten, darunter Frankreich und Deutschland, unterzeichnete Briand-Kellogg-Pakt erklärt den Angriffskrieg für völkerrechtswidrig. Die Vertragspartner verurteilen den Krieg und verzichten auf ihn „als Mittel ihrer nationalen Politik“. In Frankreich nimmt man daher an, dass der Pakt indirekt sein Sicherheitsproblem löst. Den anderen Aspekt des deutsch-französischen Problems, die Reparationen, erachtet man als durch den Young-Plan geregelt, der den Dawes-Plan verlängert. Die Restzahlung der Reparationen wird auf 109,8 Milliarden Goldmark festgelegt, die in 59 Jahresraten zu zahlen sind 236 Schirmann 2006 [474], S. 133; Blessing 2002 [692]. 237 Bariéty/Poidevin 1977 [434], S. 272. 238 Ebd., S. 271– 272.

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(d. h. bis 1988). Dabei konnten mehr als 80 % der Summe gestaffelt gezahlt werden (87 Milliarden) und wurden an die deutschen Schuldenrückzahlungen an die USA gekoppelt. Der Plan sah auch den Rückzug aller alliierten Truppen – in erster Linie französische Truppen, da sich Amerikaner und Briten bereits zurückgezogen hatten – aus dem Rheinland bis spätestens 1930 vor, außerdem den Verzicht Frankreichs auf das Komitee zur Überwachung der Einhaltung der Entmilitarisierung des Rheinlands239. Als die beiden Pfeiler der französischen Außenpolitik nach 1918 – Sicherheit und Reparationen – zumindest auf dem Papier solide verankert zu sein schienen, lancierte Briand auf der Rednertribüne des Völkerbundes am 5. September 1929 sein Projekt einer europäischen föderalen Union240. Auch wenn sich die Akteure darüber noch nicht völlig im Klaren waren, wird mit diesem dreifachen Höhepunkt und im „Donner des Applauses“241 von Genf dieser Moment der Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich beendet. Ein Moment, der eher eine Parenthese war, selbst wenn er bisweilen die Gestalt einer Aufwärtsspirale im Innern der beiden Länder angenommen hatte.

5.3. Ein circulus vitiosus? Stabilisierung durch Annäherung und Annäherung durch Stabilisierung Der Kontext der wirtschaftlichen Stabilisierung in den Jahren 1924 –1925 im Inneren und der internationalen Beziehungen in außenpolitischer Hinsicht führt in der deutschen Gesellschaft zu einem gewissen Glücksgefühl. Sebastian Haffner beschreibt dieses Gefühl mit der lapidaren Formulierung: „Zum ersten Mal sah es wirklich nach Frieden aus“242. Die Politik Stresemanns brach gleichwohl nicht mit der Revisionspolitik hinsichtlich des Versailler Vertrages. Er stellte sich allerdings gegen die Mittel der Rechtskonservativen und des Truppenamtes des Generals von Seeckt, die er als starr und ideologisch einstufte243. Für Stresemann ging es darum, den Revisionismus zu revidieren. Das sollte Deutschland erlauben, sich völlig in das internationale System zu integrieren, vor allem zunächst in wirtschaftlicher Hinsicht, bevor man auf die Integration im Bereich der internationalen Beziehungen abzielte, die sich im Eintritt Deutschlands in den Völkerbund konkretisierte. Wenn es einmal seinen Platz wieder eingenommen und seine Souveränität wiedererlangt haben sollte, wäre es in der Lage, den Versailler Vertrag zu revidieren. Stresemanns Verständigungspolitik war in dieser Hinsicht weit mehr taktische Realpolitik als vom 239 240 241 242 243

Ebd., S. 274. Réau 1996 [838], S. 97–123; Théry 1998 [869], S. 120 –140. Richard Coudenhove-Kalergi, zit. nach Réau 1996 [839], S. 103. Haffner 2002 [50], S. 67. Lee/Michalka 1987 [460], S. 76.

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Idealismus motiviert, auch wenn sie so erscheinen konnte244. In der Tat verstärkte die Periode der „Stabilisierung“, die im Nachhinein von vielen Historikern als „trügerisch“ bezeichnet wurde, die Mäßigung in der Außenpolitik, wie es die lange Dauer Stresemanns an der Spitze des Auswärtigen Amts zeigt. Die innere und äußere Stabilisierung verstärkten sich gegenseitig zu einem Kreis, der Zeitgenossen als „tugendhaft“ erscheinen konnte. Doch dieser war für den geringsten Störfaktor anfällig. Es ging nur darum, keinen zu hohen innenpolitischen Preis für diese Wiedereingliederung ins internationale Spiel zu zahlen und sie gegenüber der Bevölkerung, die von der Niederlage, dem Versailler Vertrag, der Inflation und der Wirtschaftkrise geprägt war, in ein erneutes Wirtschaftswachstum umzumünzen, das die angesammelten Frustrationen kompensierte. Tatsächlich nahm die deutsche Wirtschaft wieder an Fahrt auf, auch wenn sie noch nicht ihr Vorkriegsniveau erreichte. Wenn auch die Schwierigkeiten bestehen blieben – vor allem die hohe Arbeitslosigkeit und die langsam steigenden Gehälter –, schaffte der Kontrast zur vorhergegangenen Periode mit wirtschaftlichem, politischem und sozialem Chaos eine mental als viel stabiler erlebte Phase. Wie H.-U. Wehler richtig betont, ließ dann der Kontrast zu der Periode, die der Weltwirtschaftskrise von 1929 folgte, in der kollektiven Erinnerung – auch in Frankreich – die Idee entstehen, dass der Zeitabschnitt von 1924 bis 1930 eine Art goldenes Zeitalter verkörperte245: „Bei uns war nichts Neues, alles war geordnet, alles ging seinen ruhigen Gang. Manchmal gab es einen Regierungswechsel, manchmal regierten die Rechtsparteien, manchmal die Linksparteien. Man merkte keinen großen Unterschied. Immer hieß der Außenminister Gustav Stresemann. Das bedeutete: Frieden, keine Krisen zu erwarten, business as usual“246.

Die makroökonomischen Zahlen bestätigen zum Teil die Eindrücke des Zeitzeugen. H.-U. Wehler führt an: „Das Volkseinkommen stieg von 1925 = 57 Milliarden bis 1928 = 71 Milliarden (…). Der Privatkonsum kletterte von 1925 = 5,19 bis 1928 = 6,36 Milliarden (…). Die Industrieproduktion vermehrte sich zwischen 1924 und 1928 um 46 %, von 1927 bis 1929 lag sie erstmals wieder über dem Vorkriegsstand“247. Diese innere und äußere Stabilisierung bleibt nicht ohne Auswirkungen, wie es die Wahlergebnisse der Jahre 1924 –1928 zeigen. Niemals hatten die extremen Parteien dermaßen schlechte Ergebnisse. Die NSDAP ist nach dem Putsch im Bürgerbräukeller von 1923 völlig marginalisiert. Während sie bei der ersten Reichstagswahl 1924 noch 6,5 % erreichte, erzielte sie nur 3 % bei der zweiten 244 245 246 247

Ebd., S. 80. Wehler 2003 [230], S. 253 Haffner 2002 [50], S. 68. Wehler 2003 [230], S. 253

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Wahl im Dezember desselben Jahres248. Im Mai 1928 fiel sie sogar auf 2,6 %. Selbst die DNVP verlor in dieser Zeit einen Teil ihrer Wählerbasis und sank von 20 % 1924 auf 14 % im Jahr 1928, ohne dass dieser Verlust in der Folge durch einen Anstieg der extremen Rechten kompensiert worden wäre. Am anderen Ende des politischen Spektrums fielen die Unabhängigen Sozialdemokraten, die 1920 fast 18 % erreicht hatte, auf unter 1 % im Mai 1924 und verschwanden nach und nach. Die KPD, die 1920 ein wenig mehr als 2 % erreicht hatte, schaffte es bei weitem nicht, die Wählerschaft der USPD zu gewinnen. Von 12,6 % im Mai 1924 fielen sie auf 9 % im Dezember, und 1928 war ihr Wachstum nur gering (10,6 %). Beobachter konnten sich also ernsthaft fragen, ob außenpolitische Verständigung und wirtschaftliche und soziale Verbesserungen sich im politischen Bereich in einer zurückkehrenden Unterstützung der Republik ausdrückten, wie es an den Urnen unmittelbar nach dem Krieg den Anschein hatte. In Frankreich brauchte die Stabilisierung paradoxerweise länger, um sich zu etablieren. Im Vergleich zu Deutschland schien die politische Mehrheit im Parlament stabiler, denn die Linke hatte die Wahlen gewonnen, und diese verankerten eine Rechts-Links-Spaltung. Auf den ersten Blick war diese klare RechtsLinks-Spaltung trotz eines latenten Antiparlamentarismus seit den Anfängen der Dritten Republik weniger desintegrierend. In der Außenpolitik schlug sich der Sieg des Linkskartells, wie wir gesehen haben, in einem Wechsel des außenpolitischen Paradigmas nieder sowie in einer Beruhigung der Spannungen mit Deutschland, aber auch mit den ehemaligen Alliierten. Am Vorabend der Wahlen von 1924 schien das „finanzielle Verdun“ Poincarés die finanzielle Lage des Landes stabilisiert zu haben, indem es Frankreich gleichzeitig – in gewisser Weise ganz ähnlich wie Deutschland – abhängiger vom Ausland machte und vor allem von seinen angelsächsischen Kreditgebern. Dies machte die Schulden noch schwerer. Über den Sturz des Linkskartells 1926 ist viel geschrieben worden; er kam zustande aufgrund des nicht gelösten Schuldenproblems, der inneren Widersprüche innerhalb der Mehrheit zwischen Sozialisten und der linken Mitte, des Einflusses der Geschäftskreise auf die Politik der Banque de France – von Herriot als „Wand aus Geld“ bezeichnet – und aufgrund der Entscheidung des Kartells, bei der Lösung der Liquiditätsprobleme vorzupreschen, während das Land verschuldet war. Diese Krise überlebte das Kartell nicht. Im Juni–Juli 1926 drückte sie sich in einer Devisenkrise aus, die den Kurs des Pfundes von 173,25 F am 30. Juni 1926 auf 235 F am 21. Juli steigen ließ249. An diesem Tag stürzte Herriot. Nun gelangte Poincaré wieder an die Regierung. Indem er angesichts der Krise die Rhetorik und die Politik der „Union nationale“ reaktivierte, gelang es 248 Alle Wahlergebnisse sind zusammengefasst in Kolb 1984 [207], S. 252 – 253. 249 Becker/Berstein 1990 [236], S. 274.

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ihm, die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität zu erzielen, die sich in Deutschland schon seit zwei Jahren etabliert hatte. Gemäß Jean-Jacques Becker und Serge Berstein gelang diese Stabilisierung durch „die Berücksichtigung der kriegsbedingten Veränderungen, die es in das Leben des Landes zu integrieren gilt, denn die Erfahrung der Jahre 1918 –1926 hat gezeigt, dass man sie unmöglich auslöschen kann“250. So ist es am Ende nicht das Kartell, das die Früchte ernten darf für seinen Bruch mit der alten antideutschen Politik, die von Poincaré verkörpert wurde, sondern, und das ist nicht das geringste Paradox, Poincaré selbst. 1926 spielte sich dasselbe in umgekehrter Richtung ab wie 1924, als das Kartell die Wahlen wegen der Finanzfrage gewann, während der Aufschwung von Poincaré bereits eingeleitet worden war. Ein weiteres Paradox besteht darin, dass Poincaré auf die Rhetorik der „Union nationale“ zurückgriff, um den „Kriegsausgang“ in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht in Gang zu setzen, und dann eine Regierung mit den Radikalsozialisten bildete, die somit ihre 1924 errungene Mehrheit verspielten. Diese Regierung, die am 23. Juli 1926 gebildet wurde, war eine der längsten in dieser Zeit und dauerte bis November 1928, denn Poincaré, der im April 1928 einen großen Wahlsieg erzielte, entschloss sich, sie fortzuführen, obwohl er rein rechnerisch die Radikalsozialisten zur Bildung einer Mehrheit nicht mehr brauchte. Sie sind es, die de facto sechs Monate später die Regierung im Anschluss an den „Coup von Angers“ – die Stadt, in der sie ihren Kongress abhielten – verlassen. Poincaré hatte allerdings noch die Mehrheit, um eine neue Regierung zu bilden. Er verausgabte sich jedoch bei der Arbeit und überließ Briand im Juli 1929 die Zügel. Dessen Regierung stürzte am Vorabend des Schwarzen Freitags an der Wall Street. Die Phase der politischen Stabilisierung in Frankreich hatte sich überlebt. Sie war jedoch reell gewesen. Über die Langlebigkeit der Regierung hinaus wurde sie in politischer Hinsicht von einem klaren Rückgang der Extremen begleitet. Ein Rückgang, der mit einer gezielten Politik einherging und sich in der Entscheidung ausdrückte, die politisch Extremen mit der Waffe der Gerichtsbarkeit zu bekämpfen. So wurden einige Schläge gegen jene Kräfte durchgeführt, die die Regierung als destabilisierend betrachtete: die extreme Rechte, die extreme Linke und die elsässischen Autonomisten. Die antirepublikanische verbale Gewalt der extremen Rechten und vor allem der Action Française war nach dem Ersten Weltkrieg fortgeführt und mit der Übernahme der Regierung durch das Linkskartell sowie mit den Zeichen der Verständigung gegenüber Deutschland sogar verstärkt worden. Dieser Kreislauf der zunehmenden verbalen Gewalt hatte sogar früher begonnen, insbesondere seit der Ermordung des Generalsekretärs der Bewegung, Marius Plateau, im Januar

250 Ebd., 279.

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1923 durch einen jungen militanten Anarchisten. Der Zeitraum 1923 –1926 wird daher als eine Form von Höhepunkt und von „Selbstvertrauen“ der Bewegung betrachtet251. Der führende Kopf der Bewegung, Léon Daudet, beschuldigte bei dieser Gelegenheit alles und jeden, was ihm 1925 eine Verurteilung zu fünf Monaten Gefängnis wegen Verleumdung einbrachte. Als er alle Berufungsmöglichkeiten ausgeschöpft hatte, flüchtete er sich im Juni 1927 in eine Zeitungsredaktion, um sich dort zu verschanzen. Zunächst festgenommen, verhalfen ihm Freunde zur Flucht, sodass er gezwungen war, ins Exil zu gehen, bevor er 1929 begnadigt wurde. Noch deutlicher jedoch als durch die gerichtlichen Verurteilungen sah sich die Action Française durch die Beteiligung der Rechten an den Regierungsgeschäften und deren Anpassung an die aktuellen Verhältnisse in außenpolitischer Hinsicht marginalisiert sowie dadurch, dass der Papst die Action Française verurteilte. Die günstige wirtschaftliche Situation und die innere Zerrissenheit (Spaltung der Action Française 1930) spielten ebenfalls eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Zur gleichen Zeit, 1930, übernahm François de la Roque die Leitung der Veteranenvereinigung Croix de Feu, um sie in eine politische Massenbewegung zu verwandeln, die de facto mit der geschwächten Action Française konkurrierte, sodass diese in der Folge nur während der vielgestaltigen Krise von 1934 einen kurzen „Altweibersommer“252 erlebte, bevor sie unaufhaltsam unterging. Aber die Schläge der Regierung zielten vor allem auf die extreme Linke ab. Sie verkörperte einen neuen inneren und äußeren Feind. Die Verbindungen, die die Kommunisten zwischen innerer und äußerer Bedrohung geschaffen haben sollen, wurden für die Antikommunisten dadurch bewiesen, dass die Kommunisten 1924 die von Moskau gewünschte „Bolschewisierung“ der Partei253 akzeptierten, dass sie in Opposition zum repressiven kolonialen Rifkrieg standen, dass Jacques Doriot eine Unterstützungsreise nach Asien zu Ho Chi Minh unternahm und dass kommunistische Aktivisten in eine Spionageaffäre zugunsten der UdSSR verwickelt waren. Zu alldem gesellte sich noch ein sichtbarer Anstieg des Aktivismus: eine feindselige Demonstration bei der Überführung der sterblichen Überreste Jaurès’ ins Pantheon, die Bildung von „proletarischen Hundertschaften“, eine Art von Hilfskräften, die die Straße und die Vororte einnehmen sollten. Wie Jean-Jacques Becker und Serge Berstein unterstreichen, erscheint diese Besetzung des Terrains und der politischen Agenda im Nachhinein wie eine „Gestikulation ohne großen reellen Effekt“ und wie ein Mittel zur internen Verwendung, das es erlaubt, durch das Auslösen einer Welle von Unruhe und Feindseligkeiten „die Reihen zu schließen“, die Zweifel der Aktivisten „verstummen“254 zu lassen und die bittere Arznei der Bolschewisierung und der Säuberungen der histo251 252 253 254

Weber 1985 [551], S. 173. Ebd. Ducoulombier 2004 [494]. Becker/Berstein 1990 [236], S. 290.

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rischen Führer vorübergehen zu lassen. Wenn dies tatsächlich das Ziel gewesen sein sollte, hat es funktioniert, denn die Regierung und die anderen politischen Kräfte eröffneten eine politische und gerichtliche Front gegen den Kommunismus und klagten ihn des Verrats und der Verletzung der Staatssicherheit an. Die Kommunisten wurden in der Tat nachdrücklich bekämpft, ebenso von der Rechten wie von den Radikalsozialisten, ein wenig so, als ob sie die Deutschen als außenpolitischen Gegner und den Klerikalismus als innenpolitischen Gegner ersetzten. Albert Sarraut, der Herriot an der Spitze der Radikalsozialistischen Partei abgelöst hatte, zögerte nicht, diese Verbindung herzustellen, als er während seiner Rede von Constantine am 22. April 1927 den Ausspruch von Gambetta „Der Klerikalismus, das ist der Feind“ bemühte und das Wort „Klerikalismus“ einfach durch „Kommunismus“ ersetzte. In diesem Kontext erschien die zweite Radikalisierung der Kommunistischen Partei durch ihre Übernahme der von der Komintern gewünschten „Klasse gegen Klasse“-Taktik im Januar 1928 wie ein weiterer Beweis für ihre Gegner, und einige kommunistische Abgeordnete wurden sogar im Gedränge festgenommen, nachdem ihre Immunität aufgehoben worden war. Die Regierung eröffnet sogar eine dritte Front, die indirekt durch die Stabilisierung der Beziehungen mit Deutschland möglich geworden und darüber hinaus auch mit dem Kampf gegen den Kommunismus verbunden ist. Sie richtet sich gegen die elsässischen Autonomisten255. In der Tat hatten sich die Kommunisten, nachdem sie 1925 ihren Kongress in Straßburg abgehalten und sich für die Selbstbestimmung des Elsass ausgesprochen hatten, sogleich den beiden anderen großen Tendenzen der Autonomiebewegung – der katholischen und der liberalen – angeschlossen. Sie verteidigten hier nur das „lokale Recht“. Moskau erhoffte sich, durch diese Allianz die deutsch-französische Verständigung zu untergraben, die seinen eigenen außenpolitischen Zielen zuwiderlief 256. Ab 1924 erlebt die Autonomiebewegung, wie ihre Anhängerschaft dank der „elsässischen Malaise“ gewinnt. Die Euphorie vom November 1918 ist zurückgegangen, die wirtschaftliche Situation im benachbarten Deutschland, die bis 1923 katastrophal war, verbessert sich schneller als in Frankreich, und das Kartell bringt erneut die Religions- und Schulfrage auf, indem es betont, eine rasche administrative Vereinigung in diesen Bereichen zu wollen. Angesichts der Beunruhigung einer Bevölkerung, die am Konkordatsregime und den aus der deutschen Zeit ererbten sozialen Vorteilen hängt, versuchen die Autonomisten, sich zusammenzuschließen und hin zu einem bestimmten Separatismus zu radikalisieren. Der 1926 gegründete Heimatbund übernimmt die Führung bei der Vereinigung der verschiedenen autonomistischen Tendenzen. Pfingsten 1926 unterzeichnen 200 Persönlichkeiten ein scharfes autonomistisches Manifest. Die Reaktion der Regierung folgte unmittelbar. Seit dem 11. Juni 1926 verfolgt der Justizminister 255 U. a.: Baechler 1982 [559], Gaines 1991 [594], Goodfellow 1992 [598]. 256 Gaines 1991 [594], S. 213.

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Pierre Laval die Autoren des Manifestes und bestraft Beamte und religiöse Unterzeichner. Auch wenn das Manifest nicht die Zustimmung des gesamten Elsass gefunden hat, werden die Sanktionen und Verfolgungen als schlimm erlebt und in der Lokalpresse angeprangert. Genauso ist es nach der Welle von Verhaftungen am Weihnachtsvorabend 1927 und dem Prozess von Colmar gegen 22 führende Autonomisten im Mai 1928. Sie waren vor allem angeklagt, von Deutschland finanziert worden zu sein – was seit 1926 der Fall war, doch die französische Regierung hielt keine Beweise dafür in den Händen. Mehrere der Beschuldigten ließen sich einige Tage vor dem Prozess in das Parlament wählen, darunter einer der Anführer der Bewegung, Joseph Rossé. Nach seiner Verurteilung wurde dies annulliert, aber nach einem präsidentiellen Gnadenakt für ihn und seine Mitangeklagten kaum zweieinhalb Monate nach seiner Verurteilung wurde er wiedergewählt. Laut dem katholischen und den Autonomisten nahestehenden Elsässer Kurier waren die Verfolgungen eine „Katastrophe für die französische Sache“257. Ein anderer Prozess in Besançon 1929 endet mit dem Freispruch der Angeklagten. Ohne die Peitsche aufzugeben, benutzt die Regierung auch Zuckerbrot, indem sie in der Sache des Konkordats einlenkt und das Erlernen der deutschen Sprache in der Schule erleichtert258. Aber wie im Fall der Kommunisten und der Action Française scheiterte die Taktik der „Kriminalisierung“ der politisch Extremen auch im Fall der Autonomisten. Hatten sie vor diesen Vorgängen eine nur relative Anhängerschaft, vergrößert sich diese nun; 1932 gewinnen die Autonomisten die Mehrheit der elsässischen Deputiertensitze. Über die falsche Taktik – auf rechtlichem Wege angreifen, machte die geplanten Bewegungen sehr sichtbar – und die Niederlage dieser Politik der Kriminalisierung der Extremen hinaus zeigte der dreifache Kampf gegen die „Extremen“, dass die Regierung sich stark und unterstützt genug fühlte, um es zu riskieren. Sie konnte sich dabei auf eine gute wirtschaftliche und soziale Konjunktur stützen. Diese und die Verurteilung der Action Française durch den Heiligen Stuhl erklären den relativen Rückgang der Extremen in Frankreich, und nicht die zielgerichtete Politik der Regierung gegen sie. Auf der anderen Seite erklärt das internationale Klima der Annäherung an Deutschland, warum die antiautonomistische Politik, die alle Zutaten enthielt, um eine deutsch-französische Affäre, ja sogar Krise zu werden, keine wurde. Es blieb eine rein französisch-elsässische Angelegenheit. Mit Locarno war ein weiterer Beweis erbracht, dass die Rückkehr Elsass-Lothringens seit langem nicht mehr auf der diplomatischen Tagesordnung Deutschlands stand259. Die deutsche Finanzhilfe für die Autonomisten im Elsass und die Vereinigungen der Elsässer in Deutschland folgte auf deutscher Seite noch mehr innenpolitischen Zielen als 257 Baechler 1982 [559], S. 404. 258 Gaines 1991 [594], S. 207. 259 Bariéty 1977 [430], S. 750.

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außenpolitischen. Außerdem waren die Endziele dieser Politik nicht mehr die strikte territoriale Forderung, sondern sie waren indirekt, da Deutschland in Locarno seine Westgrenzen anerkannt hatte, auch wenn Stresemann zur internen Verwendung eine kasuistische Interpretation der Möglichkeit entwickelte, die Grenzen durch Verhandlungen zu verändern. Der wichtigste „äußere“ Nutzen der Autonomiebewegung lag in der Tatsache, dass sie „die moralische Grundlage des Versailler Vertrages und die These der deutschen Schuld insoweit (untergrub), als er einen Akzent auf die Nicht-Respektierung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung legte“260. Es handelte sich zweifellos hauptsächlich darum, durch eine möglichst diskrete Finanzierung, die Frankreich nicht kränkte, die Forderungen der verschiedenen Interessengruppen so weit es möglich war zu beschränken, vor allem die der Auslandsdeutschen aus Elsass-Lothringen, sowie darum, ein nationalistisches oder nationalsozialistisches Sich-Überbieten zu verhindern, das sich immer stärker Gehör verschaffte. Die Forderung Stresemanns an den Völkerbund im März 1929 nach Garantien für die nationalen Minderheiten ging in dieselbe Richtung. Man muss erwähnen, dass die von den Jahren der Verständigung ausgelöste Euphorie begann, in Deutschland innenpolitisch ernsthaft unterminiert zu werden, auch wenn die kulturelle Explosion, die zum Teil just von diesem Klima angeregt worden war, diese Realität noch teilweise überdecken konnte.

5.4. Die wilden Jahre in beiden Ländern In kultureller Hinsicht war diese Periode tatsächlich in beiden Ländern von einer Fülle und Erfindungsgabe geprägt, die aus ihr ein goldenes Zeitalter des künstlerischen Schaffens machten. Mit der Wende der Wirtschaftskonjunktur 1924–1926 trug die überbordende kulturelle Modernität zum Mythos eines goldenen Zeitalters der zwanziger Jahre bei. Während die USA ihre „Roaring Twenties“ erlebten, durchschritten die zwei Mächte des alten Kontinents das, was sie als années folles oder „Goldene Zwanziger“ bezeichneten. Die „Rückkehr zur Ordnung“ der Kriegsjahre war in der Tat vergessen261. Die Neuschöpfung nährte sich aus sich widersprechenden Bewegungen, die beide Gesellschaften durchzogen: die Erwartung, den Krieg hinter sich zu lassen, aber auch das Vermächtnis des Krieges, die wirtschaftliche und soziale Stabilisierung, aber auch die Gewalt der politischen Gegensätze, die Vermassung der Kultur, die Veränderung der Sitten, die Säkularisierung der Gesellschaften, aber auch die Beschleunigung der technischen Revolution, die neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnete und diese simplen „technischen Mittel“ völlig in den Rang der Kunst erhob (Kino, Radio und Photographie vor allem). 260 Baechler 1987 [560], S. 85, 90, hier 92. 261 Silver 1991 [861].

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In kultureller Hinsicht geht diese Fülle streng genommen über die Phase der Stabilisierung hinaus und umfasst den gesamten Zeitabschnitt in beiden Ländern, auch wenn die zweite Hälfte der zwanziger Jahre unzweifelhaft einem goldenen Zeitalter in den goldenen Zwanzigern entspricht. Auch wenn die künstlerischen Ausdrucksformen bisweilen – vor allem wegen erneuerter Kontakte zwischen Künstlern262 – in dieselbe Richtung deuten, unterscheiden sie sich meist radikal in beiden Ländern. Somit bleibt der Expressionismus in erster Linie eine deutsche Bewegung, und der Kubismus ist besser in Frankreich als in Deutschland verankert. Der Dadaismus, der in beiden Ländern am Ende des ersten Jahrzehnts verbreitet ist, wandelt sich in Frankreich zum Surrealismus und in Deutschland zur Neuen Sachlichkeit. Hinzu kommt noch, dass diese kulturelle Dynamik sich in beiden Ländern gerade durch gegensätzliche Bewegungen und eine „Vielfalt“ auszeichnet, die eben das Markenzeichen der zwanziger Jahre darstellt263. Doch trotz der großen formalen Unterschiede, die aus den unterschiedlichen künstlerischen Traditionen und Organisationen des nationalen kulturellen Bereichs herrühren, aber auch aus der unterschiedlichen sozialen und politischen Konjunktur in beiden Ländern, zeichnet sich dieses goldene Zeitalter im kulturellen Feld beider Länder durch eine dreifache Dynamik aus, die ihr Markenzeichen ist: Der kulturelle Bereich (re)politisiert sich, er richtet sich auf die Masse aus – und ist dabei, sich zu diversifizieren –, und er modernisiert sich erheblich. Das erste große Kennzeichen der Epoche ist demnach die Entstehung einer Populärkultur, die zunächst die städtischen Massen erreicht. Die kulturellen und sportlichen Freizeitvergnügen drücken sich als gewichtiges Phänomen in beiden Ländern aus. Bezeichnend hierfür ist der gigantische Erfolg der größten Ausstellung dieser Epoche, der GeSoLei (Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen) von Mai bis Oktober 1926, die 7,5 Millionen Besucher in Düsseldorf anzieht. Parallel dazu explodiert die Anzahl der Kinosäle in beiden Ländern zu Beginn der zwanziger Jahre und die Zahl der Radiogeräte Anfang der dreißiger Jahre. Die Zahl der Kinos steigt in Frankreich von 2800 auf 4200 im Lauf der zwanziger Jahre an, in Deutschland von 2800 auf 5200264. Die Anzahl der jährlich produzierten Filme war ebenfalls enorm. Trotz eines leichten Absinkens in dieser Zeit blieb Deutschland bei weitem das erste Produktionsland in Europa, indem es in diesem Jahrzehnt mehr Filme produzierte als der gesamte Kontinent. Es produzierte 1922 646 Filme, 1927 waren es 241. Von der Krise schwer getroffen, fiel die Filmproduktion auf 121 Filme im Jahr 1932. Es wurde damit von Frankreich eingeholt, das sich von 130 Filmen 1922 auf 158 im Jahr 1933 steigerte265. Diesem 262 Gaehtgens 1999 [787] zeigt zum Beispiel den Einfluss von Delaunay in Deutschland und vor allem auf das Bauhaus. 263 Rioux/Sirinelli 2005 [843], S. 218. 264 Goetschel/Loyer 1995 [789], S. 61; Richard 1983 [219], S. 220. 265 Laqueur 1978 [208], S. 307; Rioux/Sirinelli 2005 [843], S. 190 –191.

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Produktionsreichtum entsprach eine enorme Bandbreite, die es Regisseuren mit großem Talent (Louis Delluc, René Clair, Abel Gance, Jean Renoir, Julien Duvivier, Robert Wiene, Ernst Lubitsch, Fritz Lang, F. W. Murnau, G. W. Pabst u. a.) erlaubte, sich auszudrücken oder ihnen Anerkennung verschaffte und zur Herausbildung eines echten Starsystems führte, indem der Starkult durch eine auf das Kino oder die Mode spezialisierte Presse stark verbreitet wurde. Diese Massenkultur wird gleichzeitig von einer ersten Amerikanisierung der kulturellen Konsumgewohnheiten begleitet, die außer dem Kino durch die Entwicklung und die Schwärmerei für den Jazz auch die Musik betrifft. Im Bereich des Sports, und in erster Linie beim Boxen266, kann man sogar von einer globalisierten Vorliebe für die Champions sprechen, die Weltstars sind (der Amerikaner Jack Dempsey, der Franzose Georges Carpentier, der Deutsche Max Schmeling). Parallel zu dieser Herausbildung kultureller und die Freizeit betreffender Massengewohnheiten – die sich in jener Zeit zu überschneiden begannen – kann man eine große Involviertheit der Intellektuellen und Künstler in das Feld der Politik beobachten, trotz verschiedener Nuancen in beiden Ländern. Auch hier handelt es sich um kein neues Phänomen, da bereits das 19. Jahrhundert mit seiner fortschreitenden Automatisierung des kulturellen Bereichs267 den Künstlern paradoxerweise erlaubt hatte, sich mehr oder weniger kontinuierlich im Bereich der Politik einzusetzen. Die Dreyfus-Affäre hatte in Frankreich dieses neue Paradigma des Interventionismus herausgebildet, für das das Konzept des Intellektuellen entstanden war. Der Krieg und anschließend die großen konkurrierenden Ideologien der liberalen Demokratie (Sozialismus, dann vor allem Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus) radikalisierten dieses Engagement noch ein wenig mehr. Der Erste Weltkrieg wurde von einem seltenen pazifistischen sowie einem intensiven268 patriotischen Engagement der Protagonisten im Kulturbereich begleitet. Dieses Investieren drückte sich im französischen Fall im Schutze des Sieges durch eine Gewissensprüfung aus, die häufig zu einer Konversion hin zu einem militanten Pazifismus führte, wie beispielsweise im Fall des Philosophen Alain oder bei Jean Giono, zum Kommunismus (Henri Barbusse, Paul Vaillant-Couturier, Raymond Lefebvre u. a.) oder sogar zu einer Verurteilung des intellektuellen Engagements, wie sie Julien Benda in seiner Trahison des clercs (Der Verrat der Intellektuellen) von 1927 vollzog. Aber dieser Moment des Rückzugs bleibt der einer Minderheit, und die Ideologien üben eine immer stärkere Anziehungskraft im intellektuellen Lager aus, vor allem der Kommunismus. Dessen Attraktion stieg zu Beginn der dreißiger Jahre mit der faschistischen und nationalsozialistischen Bedrohung. In Deutschland war der künstlerische und intellektuelle Pazifismus während des Krieges bereits viel früher vorhanden als in Frankreich. Die Niederlage und 266 Gumbrecht 2001 [108], S. 68–81. 267 Bourdieu 1992 [94]. 268 Beaupré 2006 [741]; Prochasson/Rasmussen 1996 [528].

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die Notwendigkeit, gegen die konkurrierenden Kriegsinterpretationen zu kämpfen – hauptsächlich die Varianten der Dolchstoßlegende –, sollten ihn noch mehr radikalisieren269. Dieser radikale Pazifismus wurde bisweilen von einer subtilen, aber nicht weniger radikalen Kritik – vor allem durch die Frankfurter Schule und Walter Benjamin – an der Gesellschaft und dem Weimarer Regime begleitet. Diese Opposition hatte er gemein mit einem großen Teil der intellektuellen Rechten, auch wenn die Prämissen seiner Kritik völlig andere waren. Was das linke Engagement in Deutschland motivierte, war ebenso die Anziehungskraft des russischen bolschewistischen Modells als Alternative zur alten deutschen Sozialdemokratie, wie die interne Dynamik der Opposition zu einer harten Rechten, die ebenfalls von brillanten Intellektuellen vertreten wurde, die Repräsentanten der „kulturpessimistischen“ Bewegung eines Spengler waren oder dessen, was man als „Neonationalismus“ oder „Konservative Revolution“ (Ernst Jünger, Carl Schmitt, Ernst Niekisch u. a.) bezeichnete. Wie Walter Laqueur schrieb, „hörte das Problem des Engagements während der gesamten Republik nicht auf, sich zu stellen“270, auch wenn es sich, wie übrigens auch in Frankreich, in Krisenzeiten auf akutere Weise stellte. Das Drama der intellektuellen Linken war allerdings in Deutschland weitaus ernster, wo sie die Sozialdemokratie und das Weimarer Regime mindestens ebenso verabscheute wie die Rechte und die extreme Rechte, die dem Regime feindlich gegenüberstanden. Die Weltbühne von Carl von Ossietzky liefert angesichts der Radikalität seiner Angriffe ein gutes Beispiel für dieses Dilemma. Sie konnte oder „wollte nicht zugeben, dass es letztendlich einen gewissen qualitativen Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und der bürgerlichen Demokratie geben mochte“271. Zur Ausrichtung auf die Masse und zur intensiven Politisierung des kulturellen Feldes kommt noch seine extreme Modernität hinzu. Nicht nur im Bereich der bildenden Kunst erlebt Deutschland in den zwanziger Jahren den Schwanengesang des Dadaismus und des Expressionismus, den Höhepunkt der Neuen Sachlichkeit und die Geburtsstunde des Bauhauses, um nur von den wichtigsten Bewegungen zu reden. Frankreich steht dem in nichts nach. Es erlebt mit dem Dadaismus und anschließend vor allem mit dem Surrealismus eine künstlerische Avantgarde, die, den erwähnten deutschen Bewegungen folgend, sich verzweigt und eine künstlerische Suche in so verschiedenen Bereichen wie der Poesie, der Philosophie, der Malerei, der Bildhauerei, der Photographie und dem Kino ins Leben ruft. Die Interdisziplinarität dieser Bewegungen ist auch ein Markenzeichen der Epoche, die nicht nur neue Formen erfindet, sondern auch neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten. Es muss festgehalten werden, dass diese dreifache Dynamik von Ausrichtung 269 Siehe II.7. 270 Laqueur 1978 [208], S. 97. 271 Ebd., S. 102. S. auch Ossietzky 1984 [70].

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auf die Masse, Politisierung und Modernisierung im kulturellen Bereich die beiden Länder, in verschiedenem Maße und zu verschiedenen Zeiten, betrifft und aus Paris und Berlin extrem anziehende Hauptstädte der Modernisierung machen. Auch wenn die nordamerikanische Massenkultur die Leinwand, Radios, Tanzlokale, Cabarets und Varietés zu überschwemmen beginnt, finden die nach Paris strömenden amerikanischen Künstler und Schriftsteller hier deren Pioniere vor: Gertrude Stein und Alice B. Toklas, die seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in der französischen Hauptstadt lebten. Ebenso wird Berlin eine Hauptstadt der Kunst, die weder Paris, Wien noch New York beneiden muss. Und wenn diese Erneuerung und kulturelle Beschleunigung auch hauptsächlich die beiden Hauptstädte betrifft, ist sie doch nicht auf diese begrenzt. Was die deutsch-französische Perspektive betrifft, lässt sich feststellen, dass das Rheinland florierende Avantgarde-Bewegungen erlebt272. Man muss dennoch feststellen, dass diese dreifache Dynamik nicht unbedingt im Verbund verlief. So engagieren sich Intellektuelle an der Spitze der Modernität, etwa die Surrealisten, beispielsweise politisch, lehnen aber gleichzeitig die Massenkultur ab. Andererseits kann die Ausrichtung auf die Masse das Resultat einer Entwicklung der modernen Technik sein, aber auch zum Träger von gänzlich traditionellen Werten werden. Auf diese Weise sollte die Massenkultur gleichzeitig das Ziel der Kritik von links werden, weil sie die Massen verdumme und ein neues Opium für das Volk sei, aber auch den Kulturpessimismus der intellektuellen Rechten nähren. Ebenso sollte die erste Amerikanisierung, die dieses Phänomen begleitete, einige – wie beispielsweise Brecht – faszinieren, viele mehr aber beunruhigen. Dieses Phänomen bleibt somit ein in erster Linie städtisches und in sozialer Hinsicht zum großen Teil elitäres, auch wenn es sich, inspiriert von der extremen Linken, an die Massen wenden soll. Die ländliche Bevölkerung, die die Basis der beiden Gesellschaften bildet, ist noch wenig von dieser kulturellen Dynamik betroffen, die bisweilen durch ihre Intensität sowohl die starken sozialen und kulturellen Kontinuitäten als auch die eher konjunkturellen, aber ebenso starken politischen Spannungen verdeckt. Auch der wichtige und langfristige internationale Einfluss dieser Bewegungen konnte den Effekt der Maskierung der sozialen und politischen Realitäten hinter der kulturellen Dynamik der beiden Länder begünstigen, so wie auch den Austausch, der sich zwischen den kulturellen Feldern beider Länder entwickelte. Doch etliche Zeitgenossen selbst wollten allgemein an eine Stabilisierung glauben, die vor allem in Deutschland trügerisch war. Diese Feststellung ist heute viel leichter zu treffen als in dem Augenblick selbst, als man von dieser legitimen Erwartung erfüllt war.

272 Cepl-Kaufmann/Krumeich/Sommers 2006 [575], Breuer 1994 [755].

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5.5. Trügerische Stabilisierung in Deutschland Die von Stresemanns weniger aggressiven Politik des „revidierten Revisionismus“ initiierte Aufwärtsspirale hätte nur wirklich in Gang gebracht werden können, wenn sich die innere Stabilisierung tiefer verwurzelt hätte. Doch die Spannungen legten sich nicht, weder in wirtschaftlicher und sozialer noch in innenpolitischer Hinsicht. Obwohl das politische Spektrum Weimars in viele Parteien zersplittert war, hatten sich drei große Strömungen herausgebildet: die extreme Linke, die Parteien, die die Verfassung geschaffen hatten, und die Ultrarechten. Bei den Wahlen von 1924 und in schwächerer Weise auch noch 1928 konnten die Sozialdemokraten und die bürgerlichen Parteien von der Schwäche der Extremisten profitieren, doch gleichzeitig befanden sich die Rechte, die Mitte und die Linke in dieser Zeit ständig in einer Pattsituation. Die Parteien der „Weimarer Koalition“ fanden tatsächlich nie mehr zu ihrem Niveau von 1919 zurück, d. h. zur absoluten Mehrheit. Sie hingen folglich voneinander, von ihren unmittelbaren Nachbarparteien und von den „kleinen Parteien“ ab und gerieten somit de facto unter den Druck der extremen Parteien, obwohl diese schwach blieben. Wie aber Detlev Peukert betont, reicht dieser „Zangenangriff“273 allein nicht aus, um die Instabilität der Regierungen zu erklären. Die Parteien wurden auch von internen Strömungen und Dynamiken erfasst oder von periodischen Zielen angetrieben, die gleichzeitig ihre Fähigkeit untergruben, mit ihren politischen Partnern oder Gegnern zurechtzukommen. So zögerte die SPD, die eine tribunizische Berufung behielt, zwischen einer sozialen Oppositionspolitik und einer Regierungsbeteiligung, die sie verpflichten würde, zu viele Kompromisse zu machen, und dem Risiko aussetzte, ihre Identität zu untergraben. Dies wurde noch verschlimmert durch die Schwäche und Spaltung der politischen Mitte (DVP, Zentrum, BVP, DDP), was zum Verlust ihres integrierenden Charakters führte und die Koalitionen destabilisierte, wenn sich eine oder zwei Parteien daraus zurückzogen. Diese Spaltung wiederum verstärkte sich noch durch die immer drückendere Existenz einer Reihe von Splitterparteien, die Partikularinteressen vertraten (Wirtschaftspartei, Landvolkpartei, Bauernpartei) und die Stimmen der anderen Parteien einfingen – zusammen überschritten sie die 10 %-Marke in den Jahren 1928 und 1930. Die Instabilität der Regierung, die aus dieser Situation resultierte, aber auch die Politik der Großen Koalition nach dem Sieg der SPD 1928 (29,8 %), von dem man sich eine größere Stabilität erhofft hatte, nutzte den Gegnern des Regimes, die den Parlamentarismus und die Kompromisskultur anprangerten. Ein Kompromiss, der im Ergebnis zudem die tiefen Spaltungen in der deutschen Gesell273 Peukert 1987 [217], S. 205–208, hier S. 207.

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schaft jener Zeit überdeckte und damit jenen nutzte, die diese realen Spaltungen verkörperten. Somit konnten die „bürgerlichen Parteien“ und die Sozialdemokraten symbolisch von der nationalistischen Rechten und der KPD274 „in denselben Sack gesteckt“ und von den Linksintellektuellen verspottet werden. Diese Situation verschlimmerte sich durch die politische und auch soziale Spaltung der Arbeiterbewegung. In politischer Hinsicht hatte es die SPD geschafft, die aus dem Krieg entstandene Teilung zu überwinden, die in die Entstehung der USPD gemündet war. Dafür schien die Spaltung zwischen SPD und KPD, die einen Teil der Wähler und Mitglieder der USPD hinter sich gebracht hatte, seit der Trennung in der Gewalt und im Blut der Revolution von 1918 – 1919 unwiderruflich. Schüchterne Annäherungen sind außerdem durch die Verabschiedung der politischen Linie „Klasse gegen Klasse“ durch Moskau und die Komintern völlig unmöglich geworden. Sie ist in erster Linie gegen die „Sozialverräter“ gerichtet, die in der revolutionären Rhetorik der KPD den Faschisten gleichgesetzt werden. Seither investieren beide Parteien ihre gesamte Energie in die Konkurrenz und in den Bruderkampf um die Eroberung des Arbeitermilieus275. Was zur Folge hat, dass ihre Wachsamkeit gegenüber dem Aufstieg der NSDAP geschwächt wird, die durch ihren sozialpolitischen Diskurs ebenfalls ausdrücklich auf das Arbeitermilieu abzielt276. Der Reichspräsident zog den Widerstand auf sich, auf den die Republik und die Sozialdemokratie von allen Seiten trafen. Präsident Ebert wurde in der Tat sowohl von der politischen Linken attackiert, die ihn gerne als „Arbeiterverräter“ bezeichnete, als auch von seiner eigenen Partei, die ihn zu gemäßigt fand, vor allem aber von den Rechten, die ihn als „Landesverräter“ und als Hauptschuldigen am Dolchstoß betrachteten, da er die Streiks 1918 unterstützt hatte. Die Rechten hörten nicht auf, ihn zu diffamieren, und diese Hetzkampagne, die eine Form der Erinnerung an den Krieg war, verstärkte ihre Intensität 1924. Der Präsident musste seine Ehre in mehr als 170 Prozessen verteidigen. Das Urteil im letzten Prozess in Magdeburg vom 9. bis zum 23. Dezember 1924 war für ihn besonders hart. Obwohl die Zeitung, die ihn angegriffen hatte, wegen öffentlicher Beleidigung verurteilt wurde, beinhaltete das spitzfindige Urteil in seiner Begründung, dass sich der Präsident anlässlich der großen Streiks 1918 „vom strafrechlichen Standpunkt aus des Landesverrats schuldig“ gemacht hatte. Der Schlag war hart für ihn, der zwei Söhne im Krieg verloren hatte. Mit seinem Tod aufgrund einer Blinddarmentzündung – er hatte die Operation wegen des Prozesses verschoben – verlor die Republik einen ihrer treuesten Diener und eine solide Schutzmauer277.

274 Die Kritik an der Weimarer Republik von rechts ist bekannt (siehe z. B. über Carl Schmitt: Beaud 1997 [483]). Der Antiparlamentarismus von links ist ein neues Untersuchungsobjekt. Siehe v. a. Bavaj 2005 [482]. 275 Peukert 1987 [217], S. 152–157. 276 Lüdtke 2000 [716], u. a S. 72, 99. 277 Für ein Portrait der beiden Präsidenten siehe Möller 2007 [212], S. 11–78.

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Sein Verschwinden und die Wahl einer väterlichen und zugleich prestigeträchtigen Figur wie Hindenburg erweckte zunächst den Eindruck, in der Lage zu sein, die 1924 aufgestauten Spannungen zu beruhigen und sogar auf die Funktion des Präsidenten der Republik abzufärben. Aber Hindenburg war kein Anhänger der republikanischen Ordnung, sondern schlicht und einfach der Ordnung. Und auch wenn er das Spiel der Institutionen spielte, solange diese infolge der inneren und äußeren Entspannungssituation stabil waren, ließ nichts in seiner Karriere und seiner Weltanschauung darauf schließen, dass er sie im Falle einer ernsten Krise bis zum Äußersten verteidigen würde. Dies vermutete auch der linksliberale Publizist Theodor Wolff seit der Wahl Hindenburgs und sah in ihr eine „verlorene Schlacht“ für die aufrechten Republikaner. Auch wenn es die Zeit der Entspannung mit dem alten Kriegsgegner Frankreich war, verkörperte Hindenburgs Präsenz an der Spitze des Staates eine Erinnerung an den Krieg, die dessen stilles Dementi war, denn er präsentierte sich – und schlimmer noch, er wurde weitgehend so gesehen – als Sieger von Tannenberg und nicht als Verlierer von 1918. Weiterhin machte seine Wahl aus der Institution des Reichspräsidenten eine sichere Stütze der Reichswehr, die sich in den Händen der unbeugsamsten Gegner der Republik befand. Kastengeist und Habitus eines Generals waren in der Tat die sichersten Antriebskräfte der politischen Handlungen des Feldmarschalls. Dies bewahrheitete sich in der Affäre um den Panzerkreuzer A. Die Armee forderte dieses Kriegsschiff und führte an, dass seine Konstruktion nicht gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages verstießen, die Kommunisten und die Sozialdemokraten waren jedoch dagegen. Die Frage beschäftigte einen Teil der Wahlkampagne 1928. Der Präsident ließ vernehmen, er trete zurück, falls die Kredite nicht verabschiedet würden. Schließlich wurden die Kredite mit den Stimmen der rechten Opposition bewilligt, während der Kanzler und die SPD-Minister sich dagegen ausgesprochen hatten. Diese Krise zeigte, falls dies überhaupt noch nötig war, dass die Periode der Stabilisierung der Jahre 1924 –1928 sich nicht automatisch in eine politische Stabilisierung verwandelt hatte, denn die Große Koalition hatte sich rasch entzweit über eine Frage am Schnittpunkt von Rüstungspolitik, Erinnerung an den Krieg und den Versailler Vertrag sowie Außenpolitik, denn Franzosen und Briten konnten den Baubeginn von Kriegsschiffen natürlich nicht gerne sehen. Diese Affäre war damit aufschlussreich hinsichtlich der Spannungen innerhalb der Regierungskoalition und der Vorbehalte des Präsidenten Hindenburg gegenüber der aktuellen Regierung – und erst recht gegenüber dem Regime – sowie hinsichtlich seiner Fähigkeit, seine präsidentielle Macht zu benutzen, ja zu missbrauchen. Doch die Debatten um den Young-Plan278, der die Krönung der Außenpolitik Stresemanns war, offenbarten ein politischen Phänomen, das für die Zukunft des Regimes genauso beunruhigend war: den Nationalsozialismus. Dieser existierte zwar schon seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, aber Hitler, der 278 Siehe oben I.5.2.

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als Einpeitscher angesehen wurde, hatte es noch nicht geschafft, daraus Kapital zu schlagen. Schlimmer noch, die Wahlen von 1928 waren eine herbe Niederlage für seine Partei, die weit unter 5 % (2,6 %) blieb und sogar 100 000 Wähler zwischen 1924 und 1928 verlor. Hitler präsentierte den Young-Plan wie einen Rückzug und rief zusammen mit Vertretern des Stahlhelms, der DNVP, des Alldeutschen Verbandes und des Langnamvereins der Schwerindustrie eine Unterschriftenkampagne für die Durchführung eines Volksentscheids ins Leben, was nach der Weimarer Verfassung möglich war. Das Ad-hoc-Komitee schaffte es, 10 % der Unterschriften des gesamten Wahlkörpers zu sammeln, und die Regierung war verpflichtet, einen Volksentscheid durchzuführen. Dieser wurde verloren, verursachte aber nach der Unterschriftenkampagne eine zweite Wahlkampagne, die es der NSDAP erlaubte, weiterzubestehen. Somit erstand die 1928 abgestürzte Partei weniger als ein Jahr später aus ihrer Asche auf, bevor sie sogar Kapital aus der Weltwirtschaftskrise schlug. Ihr Führer entwickelte sich bei gleicher Gelegenheit vom Rang eines Agitators, mit dem man nichts zu tun haben wollte, zu einem salonfähigen Parteichef innerhalb der politischen Rechten, des Wirtschaftsmilieus und der Veteranen. Die vielen geknüpften Verbindungen und Netzwerke sollten ihm von großem Nutzen sein. „Der Erfolg macht salonfähig“279, und die Kampagne gegen den Young-Plan war unzweifelhaft und paradoxerweise trotz des gescheiterten Volksentscheids ein Erfolg, weil eine Partei, die nicht einmal 2,6 % der Wähler verkörperte, mehrere Monate lang in weiten Teilen die innenund außenpolitische Agenda bestimmt hatte. Anschließend war der Erfolg der Nazis bei den Lokalwahlen des Jahres 1929 spektakulär. Noch größer war er bei den studentischen Wahlen. Der NSSB (Nationalsozialistischer Studentenbund) gewann die Mehrzahl der Wahlen, indem er die radikale Wandlung der jugendlichen Eliten ermöglichte, die sich bereits stark nach rechts neigten280. Nur kurze Zeit später war diese Wandlung auch auf nationalem Niveau an den Wahlurnen sichtbar. Die NSDAP stieg von 2,6 % 1928 auf 18,3 % im Jahr 1930 an und wurde somit ein direkter Konkurrent für die Arbeiterparteien, stärkte aber auch ihr Prestige bei den Eliten, die über den gleichzeitigen Anstieg des Kommunismus beunruhigt waren. Die wirtschaftlichen und traditionellen Eliten zogen es vor, die Arbeiter arbeitslos in braun zu sehen als in rot. Weiterhin nahmen die Nationalsozialisten auf dieselbe Weise, wie sie die traditionellen Eliten gewonnen hatten, um sie umzuwandeln, eine Umwandlung der Ideen vor, indem sie das alte antisemitische Reservoir anzapften, um es wiederzubeleben, zu radikalisieren und ihm sowohl eine apokalyptische Dimension zu übertragen als auch die Ressentiments, die aus der Niederlage entstanden waren281. 279 d’Almeida 2006 [701], S. 44. Über die faschistische und nationalsozialistische „Verführung“ siehe den folgenden Band der Serie von Stefan Martens. 280 Siehe II.6. Die genutzten Quellen bezüglich dieses Aspektes sind dort zitiert. 281 Burrin 2004 [488]. Zum Nationalsozialismus vgl. die Ausführungen im nächsten Band von Stefan Martens.

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Die gegen den Young-Plan geführte Kampagne zeigte auch, dass der Erfolg des Stresemann’schen milderen Revisionismus – der allerdings darauf abzielte, die Größe Deutschlands wiederherzustellen – nicht zu einem Zurückdrängen der Mehrheit der deutschen Rechten geführt hatte, weit gefehlt. Aus dieser Perspektive konnte ihnen der Revisionismus eines Hitler in keiner Weise extremistisch erscheinen – umso weniger, als die Krise die inneren und äußeren Spannungen verschärfte.

6. Innere und äußere Krisen (1929 –1933) 6. Innere und äußere Krisen (1929–1933)

Auf die Phase der inneren Stabilisierung und des Entspannungsklimas in beiden Ländern folgte eine Phase des Bruchs des prekären Gleichgewichts der vorausgegangenen Periode. Die inneren und äußeren Faktoren, die im vergangenen Zeitabschnitt zusammengekommen waren, um die inneren Spannungen zu verdecken, die die Gesellschaften durchliefen, verschwanden auf brutale Weise mit der weltweiten wirtschaftlichen und sozialen Krise. Zufälligkeiten waren ebenfalls im Spiel, denn beide zentralen Protagonisten der vorausgegangenen Periode starben: Gustav Stresemann am 3. Oktober 1929 und Aristide Briand am 7. März 1932. In diesem Sinne spielte die Krise von 1929 weniger die Rolle des Aufstiegsfaktors der extremen Parteien in beiden Ländern, die in Deutschland in der Machtübernahme der Nationalsozialisten, in Frankreich in der Krise des 6. Februar 1934 und der sich daran anschließenden antifaschistischen Dynamik gipfeln sollte, als vielmehr die eines Katalysators und Aufdeckers. Die Krise offenbarte in der Tat die seit 1918 existierende tiefere Krise wie auch die Widersprüche der Außenpolitik zweier Länder, die jeweils eigene Ziele verfolgten. Sie sollte zeigen, dass die vorausgegangene Phase weniger der Entwicklung gemeinsamer Ziele diente, als vielmehr dazu, gleichzeitig getroffene Entscheidungen über die Veränderung von Handlungsweisen zu verbinden, um in erster Linie vom Nationalinteresse diktierte Ziele zu erreichen. In internationaler Hinsicht erhielt der idealistische Firnis, mit dem die Außenpolitik bestrichen war, überall Risse. Indem er einriss, enthüllte er nicht mehr einen verborgenen und gemäßigten Realismus, sondern eine doppelte Versuchung: die des Rückzugs und die der Macht. Diese Versuchungen wurden von den inneren Krisen in Frankreich und Deutschland angefacht, die sehr unterschiedliche politische und kulturelle Auswirkungen nach sich zogen, auch wenn die sozialen Effekte (Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit) übereinzustimmen schienen. Die leichte Verzögerung, mit der die Wirtschaftskrise Frankreich traf, erklärt jedoch zweifellos nicht alles.

6.1. Frankreich: Von einer latenten zu einer tiefen und dauerhaften Krise Was die französische Krise zu Beginn der dreißiger Jahre kennzeichnet, ist in der Tat weniger die Langsamkeit, mit der sie das Land trifft, als die Verzögerung, mit der die politischen Eliten wie auch die Gesellschaft diese Krise zur Kenntnis

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nehmen. Der andere große Unterschied zum deutschen Fall ist der republikanische Konsens. Der Antiparlamentarismus bleibt sicherlich lebhaft, doch ist er in der öffentlichen Meinung weniger verbreitet. Außerdem geht es für bestimmte Gegner des Parlamentarismus nicht darum, die Republik als Regierungsform zu stürzen, sondern ihre Funktionsweise von innen her zu verändern, um sie zu reformieren und zu stärken. Das ist vor allem der Fall bei Tardieu, der auf die kurze Regierung Briand (Juli 1929–Oktober 1930) folgt. Poincaré hatte sich am 27. Juli, erschöpft von seiner Krankheit, von den Amtsgeschäften zurückgezogen und war durch Briand ersetzt worden, dessen Ministerium rasch von einer in internationalen Fragen weiter rechts als er gelagerten Mehrheit an den Rand gedrängt wurde. André Tardieu folgte ihm also nach: Reformist von rechts, ein Mann im Hintergrund, eher dafür bekannt, dass er ein enger Mitarbeiter Clemenceaus bei der Ausarbeitung des Versailler Vertrages war und die strikte Anwendung desselben befürwortete, als für seine vorangegangenen Ministerfunktionen. De facto betrat mit Tardieu eine neue Generation Politiker die Bühne. André Tardieu, Camille Chautemps, Théodore Steeg, Pierre Laval, die als Regierungschefs vom Juli 1929 bis Mai 1932 aufeinander folgen, sind sicherlich keine politischen Novizen, erreichen aber zum ersten Mal die höchsten Funktionen. Mit starkem Willen und festen Überzeugungen, unterstützt vom Präsidenten der Republik Gaston Doumergue und mit einer rechten Mehrheit der Union nationale ausgestattet, die aus den von Poincaré gewonnenen Wahlen hervorgegangen war, mangelte es André Tardieu nicht an Trumpfkarten. Überdies sah es so aus, als bliebe Frankreich auf wundersame Weise von der Krise verschont. Diese wurde sicherlich als ernst wahrgenommen, aber häufig auch als ein Phänomen, das in erster Linie das nordamerikanische kapitalistische System betraf. Trotz eines großen Preisrückgangs seit 1929 schienen die wirtschaftlichen Anzeichen auf Stabilität hinzudeuten. So stieg die Wirtschaftsproduktion bis 1930 an. Die Arbeitslosigkeit blieb niedrig (50 000 Arbeitslose im März 1931)282 und wurde dadurch ausgeglichen, dass die ausländischen Arbeitnehmer (vor allem Polen) schrittweise „eingeladen“ wurden, das Territorium zu verlassen. Wenn man den Ausländern nicht kündigen konnte, waren die Frauen betroffen283. Diese angenommene Widerstandsfähigkeit des französischen Wirtschaftsmodells, das sich auf einen sehr starken Agrarsektor und ein Netz von Kleinbetrieben stützte, die hauptsächlich auf dem Binnenmarkt funktionierten, sowie auf einen Handel, der vom „natürlichen“ Absatzmarkt des Kolonialreichs und eines lange Zeit im Vergleich zum Pfund schwachen Francs profitierte, erlaubte es 282 Zahlen, Indizes und Tendenzen stammen aus: Borne/Dubief 1989 [240], S. 20 – 35. Es gibt kein allgemeines und zentralisiertes System zur Arbeitslosenversicherung in Frankreich. Die Unterstützung der Arbeitslosen obliegt den Kommunen (kommunaler Arbeitslosenfonds). Die Zahlen sind daher sicherlich sehr ungenau und niedriger als in der Realität. 283 Vgl. ebd., S. 36. 1934 befrachteten die Bergwerke im Departement Pas-de-Calais 17 Züge nach Polen. 300 000 Frauen wurden zwischen 1931 und 1936 entlassen.

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Tardieu 1930, verschiedene Projekte durch das Parlament zu bringen: die Finanzierung und den Bau des großen Kanals durch das Elsass, Talsperren zur Elektrifizierung der ländlichen Regionen, die Abschaffung der Schulgebühren im Collège, die Heraufsetzung der Beamtenversorgung, die Pensionen der Veteranen und die Entschädigung von Katastrophenopfern. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die Kredite zur Finanzierung der Maginot-Linie beschlossen. Die Befriedung der deutsch-französischen Beziehungen hatte nicht alles Misstrauen ausgelöscht, und auch wenn die öffentliche Meinung nach und nach weitgehend für den Pazifismus gewonnen war, hatten die Militärs ein Projekt einer Verteidigungslinie in der Schublade, das jenes der politischen Vereinbarungen zur Sicherheit des Landes verdoppeln sollte. Die finanzielle Konsolidierung von 1926 erlaubte es, ein 1925 vom Kartell gemachtes Versprechen einzulösen, und die ersten Arbeiten an der zukünftigen Maginot-Linie begannen in kleinem Umfang 1928, dann intensiver ab 1930, um 1933 beendet zu werden. Auch wenn diese Linie nach Deutschland gerichtet war, war sie weniger Ausdruck des Misstrauens, als einer Konzession an die Armee, die den politischen Vereinbarungen skeptisch gegenüberstand. Aber sie zeigte auch, bis zu welchem Punkt die Armee von einer wesentlich defensiven Vorstellung durchdrungen war, die sich im Grunde genommen mit dem einvernehmlichen und prinzipiellen Pazifismus der Mehrheit der Veteranen und der öffentlichen Meinung vereinbaren ließ. Tardieu hoffte, durch seine sozialen Maßnahmen und die großen Bauarbeiten die Gunst der Massen gewinnen und so Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten zum Scheitern bringen zu können. Auch wenn diese Maßnahmen nicht als keynesianische Anti-Krisen-Politik gedacht waren, denn die Schwere der Krise wurde als solche noch nicht erkannt, verlangsamten oder verschleierten sie de facto die sozialen Auswirkungen der Krise, indem sie sie abmilderten. Trotz all dieser Faktoren hielt die erste Regierung Tardieu nur dreieinhalb Monate. Die von Chautemps dauerte vier Tage, was Tardieu erlaubte, wieder ins Amt zu gelangen, diesmal für acht Monate (März–November 1930). Auch wenn Tardieu neben Pierre Laval der starke Mann dieser kurzen Periode von 1929 bis Ende 1932 war, gab es in jener Zeit zahlreiche Einbrüche, und die Instabilität der Regierung steigerte sich noch. Von Juli 1929 bis Januar 1933 erlebte Frankreich tatsächlich nicht weniger als elf Regierungen. Während Poincaré mit seiner Statur die Radikalsozialistische Partei in der Tat zur Versöhnung bewegen konnte, zögerte Tardieu nicht, sich gegen sie zu richten, sie sogar frontal anzugreifen. Der Konflikt erwies sich als überaus schädlich für Tardieu, Laval und die Regierungsrechte, als die Auswirkungen der Krise wirklich fühlbar und immer tiefer wurden. Die optimistische Selbstbeweihräucherung der Größe Frankreichs, die mit der Hundertjahrfeier der Einnahme von Algier 1930 und vor allem der Kolonialausstellung 1931, die ungefähr 8 Millionen Besucher anzog, ihren Höhepunkt erreichte, versuchte, die sich an die politische Krise anschließende wirtschaftliche und soziale Krise zu überdecken. Als 1931 die Entwertung des Pfunds auf einen Schlag aus dem Franc eine starke Währung machte, was zu einem Rückgang der

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Exporte führte, konnten die Franzosen und ihre Politiker nur feststellen, dass die Krise sie von jetzt an auch traf, und im Rückblick sogar, dass ihre Wirtschaft bei weitem nicht so erfolgreich und zum Widerstand gegen eine Krise dieses Ausmaßes gerüstet war, dies umso mehr, als die finanzielle Last des Krieges noch lange nicht bewältigt war. 52 % des Staatshaushalts im Jahre 1931 waren tatsächlich noch für Ausgaben im Zusammenhang mit dem Krieg bestimmt (in erster Linie Schulden und Pensionen)284. Die industrielle Produktion, die hergestellten Güter stürzten genauso ab wie die Agrarpreise. Die Pleiten vervielfachen sich und betrafen auch den Banksektor. Der Agrarbereich, der als Kern des Widerstands gegen die Krise eingeschätzt wurde, stand nunmehr in vorderster Linie der Krise. Dies drückte sich in einem Anstieg des „bäuerlichen Unbehagens“ und in Agitation auf dem Land aus285. Die Arbeitslosigkeit und mit ihr die Unzufriedenheit der Arbeiter begannen ebenfalls zu steigen – auch wenn es noch bis zur Krise des 6. Februar 1934 und bis zur Volksfront dauern sollte, bis diese sich wirklich ausdrückte und bis es zu den Pleiten der Kleinbetriebe kam, die einen Teil der Mittelklasse in die Verzweiflung stürzten. Obwohl die politische Krise den Auswirkungen der Wirtschafts- und Sozialkrise vorausgegangen war, wurde sie von diesen verschärft. Davon zeugte die Intensität des Wahlkampfes für die Parlamentswahlen 1932. Tardieu brach mit einer Tradition, als er als amtierender Ratspräsident für die Rechte direkt in den Wahlkampf eingriff. Weil er das neue Medium Radio mit Bravour nutzte, erhielt er von seinen Gegnern rasch den Spitznamen „der Mann mit dem Mikrophon zwischen den Zähnen“. Das Manöver schlug nicht ein, und die Rechte wurde geschlagen, was die Rückkehr des Chefs der Radikalsozialisten, Edouard Herriot, an die Regierungsspitze sicherstellte. Dieser änderte die Politik zur Bekämpfung der Krise nicht grundlegend. Wie seine Vorgänger lehnte er die Währungsabwertung ab und verfolgte eine malthusianische Politik der Produktionsbegrenzung nebst einer protektionistischen Politik, um die Preise zu halten und die Einfuhr ausländischer Produkte zu beschränken. Herriot ließ sogar ein Gesetz zum „Schutz der nationalen Arbeitskräfte“ beschließen, das darauf abzielte, die Einwanderung zu bremsen286. Die „gemäßigte“ Rechte, die mit Tardieu eine recht ähnliche Politik betrieben hatte, lehnte es jedoch ab, ihn zu unterstützen. Schließlich stürzte die Regierung über eine Frage der Außenpolitik, die indirekt mit dem Verhältnis zu Deutschland verbunden war. Während Deutschland sich weigerte, die geschuldeten Reparationen zu zahlen, wollte Herriot aus Prinzip mit der Rückzahlung der französischen Schulden an die USA fortfahren. Das Parlament überstimmte ihn am 13. Dezember 1932 mit 402 gegen 187 Stimmen287. Hierauf folgte eine Phase 284 Feiertag 2004 [706], S. 1175. 285 Paxton 1996 [527]. Eine Agitation, die von Henri Dorgères aufgefangen wurde, der 1935 die protofaschistische Bewegung der bäuerlichen Jugend oder „Grünhemden“ gründete. 286 Noiriel 2007 [468]. 287 Mayeur 1984 [247], S. 329.

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schwerer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Instabilität, die in der Krise des 6. Februar 1934 kulminieren sollte288. Wie in Deutschland nährten sich die politische, moralische, wirtschaftliche und soziale Krise gegenseitig. In Frankreich wie in Deutschland hatte sich der circulus virtiosus, falls es ihn jemals gegeben hatte, in einen Teufelskreis, in einen circulus vitiosus verwandelt.

6.2. Die innere Krise in Deutschland: eine „totale“ Krise In Deutschland war die Krise weitaus stärker und verdient die Bezeichnung „total“289. Wie in Frankreich trat die Wirtschaftskrise in dem Kontext einer politischen Krise auf. Eine politische Krise, die noch dadurch verschärft wurde, dass kein Konsens hinsichtlich des Regimes bestand. Die aus den Wahlen vom Mai 1928 hervorgegangene und von Hermann Müller geführte Große Koalition traf in der Tat sogar vor dem Schwarzen Freitag auf eine erbitterte und heftige Opposition, wie es die doppelte Krise um den Panzerkreuzer und die Volksabstimmung über den Young-Plan gezeigt hatte. Während die Sozialdemokraten und die Republikaner innerhalb des Kabinetts mit mehr oder weniger erklärten Gegnern des Regimes – der Koalitionspartner DVP radikalisierte sich nach dem Tod Stresemanns 1929 – und einem Präsidenten zurechtkommen mussten, der kein Geheimnis aus seiner Ablehnung der Großen Koalition machte, überboten sich die Parteien der extremen Rechten (NSDAP und DNVP), die beide einen Rückgang erlitten hatten, gegenseitig im Bemühen, die Stimmen der Enttäuschten zu gewinnen. Die extreme Linke, die im Gegensatz dazu Stimmen gewonnen hatte und sich in ihrer Taktik der Radikalopposition zur Sozialdemokratie bestätigt sah, stand dem in nichts nach und beschuldigte Müller, so wie sie es vorher mit Ebert getan hatte, nichts als ein „Radieschen“ zu sein: „außen rot und innen weiß“290. In der Folge hielt ihre konstante Zunahme zwischen 1928 und 1932 – 3,2 Millionen Wähler 1928, 4,6 im Jahr 1930, 5,3 und dann 6 Millionen bei den beiden Wahlen von 1932 – sie davon ab, sich wenigstens taktisch den verabscheuten Sozialdemokraten anzunähern. In sozialer Hinsicht hätte der spektakuläre Produktionszuwachs während der Phase der Stabilisierung 1924 –1928 der Arbeiterbewegung nutzen können. Aber dieser Zuwachs fiel dennoch leicht niedriger aus als der weltweite Durchschnitt. Obwohl die Arbeitslosigkeit tendenziell sank, machte sie auch während der Stabilisierungsphase Auf-und-ab-Bewegungen: 1925 gab es 2,4 Millionen Arbeitslose, 1927 nur 900 000 und fast 1,4 Millionen im darauffolgenden Jahr, be288 Siehe der nächste Band von Stefan Martens. 289 Peukert 1987 [217], S. 243. 290 Tucholsky, Kurt, Feldfrüchte, zitiert nach http://www.textlog.de/tucholsky-feldfruechte. html [28]. Das Lied, das die Arrangements der SPD und Hermann Müllers thematisiert und anprangert, stammt aus dem Jahr 1926.

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vor die Marke von drei Millionen zwei Jahre später überschritten wurde291. Das Gefühl von Unsicherheit und Instabilität auf dem Arbeitsmarkt war demnach kurz- und mittelfristig durch den Aufschwung 1924 nicht abgeklungen. Angesichts einer Arbeitslosigkeit, die strukturell bedingt schien, blieb die Unsicherheit bestehen, bis dann im Jahr 1930 die Krise Deutschland erreichte. Der spektakuläre Wiederanstieg der Arbeitslosigkeit machte sich tatsächlich seit 1929 bemerkbar. Wie Gerald Feldman gezeigt hat, wurde die Stabilisierung von innen heraus durch eine Inflation untergraben, die seit dem Krieg chronisch geworden war. Die große Inflation von 1923 war keine simple Episode ohne Nachwirkung gewesen, und sowohl die Wirtschaft als auch die deutsche Gesellschaft und Politik waren noch krank vom Krieg. Die guten Zahlen und das bisweilen spektakuläre Aufholen von 1924–1928 verdeckten die Tatsache, dass die deutsche Wirtschaft viel abhängiger von außen blieb und dass sie weniger wettbewerbsfähig war als 1914. Die Handelsbilanz war negativ, und der Anteil der Exporte an der Binnenwirtschaft blieb niedriger als vor dem Krieg. Aufgrund des Dawes-Plans hing Deutschland außerdem noch stärker als die anderen Nationen vom guten Funktionieren des globalen kapitalistischen Systems ab. Stresemann hatte tatsächlich eine Art von Sozialvertrag mit der deutschen Gesellschaft abgeschlossen: wirtschaftliche und politische Öffnung und ein pragmatischerer Revisionismus – und damit eine gewisse Dämpfung der Aggressivität und des frontalen Revisionismus von Versailles – im Gegenzug zum Wohlstand. Wie Detlev Peukert betont, sollte sich dies im Falle einer heftigen weltweiten Krise als fatal herausstellen. Doch als Stresemann diese Wahl traf, hatte er keine andere Möglichkeit mehr. Das ist es, was der Politik der Verständigung und des relativen Wohlstands der Jahre 1924 –1928 seine „trügerische“, und man ist versucht zu sagen tragische, Dimension verleiht. Die Affäre um den Young-Plan und dann anschließend die Wirtschaftskrise machen in der Tat die Zerbrechlichkeit des Gleichgewichts eher sichtbar, als das sie es zerstören. Nach dem Tod Stresemanns bricht es von selbst zusammen, trotz der Bemühungen der Großen Koalition, den Kurs zu halten; und weil es in der Bevölkerung keine Mehrheit zur Verteidigung des Regimes gab und die Krise den latenten „Irrationalismus“292 in der politischen Kultur Weimars verstärkte, bekamen nun nicht mehr nur die Regierungsparteien die Auswirkungen zu spüren, sondern das Regime selbst und mit ihm das, was seinen Kern ausmachte: die repräsentative Demokratie und der Parlamentarismus293. Das Regime erschien in der Tat – ob zu Recht oder zu Unrecht, ist unwichtig – als unfähig, der Krise die Stirn zu bieten. Deren Ursachen sind inzwischen wohlbekannt – eine strukturell beschädigte Wirtschaft durch den Krieg, die Nachkriegskrise, die Hyperinflation von 1923, die Krise von 1929 und die Abhän291 Möller 2007 [212], S. 164–165; Peukert 1987 [217], S. 123. 292 Sontheimer 1998 [543], S. 455 und 463. 293 Dazu: der nächste Band von Stefan Martens.

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gigkeit von den USA –, und ihre Konsequenzen sind dramatisch. Seit 1930 stehen alle Wirtschaftsindikatoren auf Rot. Die Produktion von Konsumgütern ist um mindestens 20 % gefallen, die Arbeitslosigkeit trifft bereits 14 % der aktiven Bevölkerung294. Zwei Jahre später ist die Situation noch weitaus schlimmer, die „offizielle“ Arbeitslosenrate erreicht praktisch 30 %295. Die Weimarer Republik, die 1927 eine Arbeitslosenversicherung eingeführt hatte, als die Arbeitslosigkeit am niedrigsten war (6,2 %), ist angesichts der Situation gezwungen, die Dauer und Höhe der an die Arbeitslosen ausgezahlten Beträge zu kürzen oder von seiner Verwaltung zu verlangen, sich besonders pedantisch bei der Zuerkennung der Summen zu zeigen. All dies hat desaströse Auswirkungen für das Regime: „Wann immer man hatte hoffen können, der Weimarer Republik mit den Sozialstaatsgarantien der Verfassung Legitimation verleihen zu können, war dies durch die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise in ihr Gegenteil umgeschlagen: Die Republik delegitimierte sich durch ihr offenkundiges Versagen an der sozialen Front“296. Tatsächlich vergrößerten die Arbeitslosen die Anhängerschaft der extremistischen Parteien und ihrer paramilitärischen Truppen, die sich immer häufiger in offenen Straßenschlachten gegenüberstanden. So forderten diese Straßenschlachten allein in Preußen 300 Tote im Jahr 1931297. Zu diesen Kämpfen kam aufgrund der extremen Armut eine neue Form der Kriminalität mit der Bildung von „Jugendbanden“298, welche verwüsteten und stahlen und das Gefühl der Unsicherheit bei einer demoralisierten Bevölkerung noch ein wenig mehr verstärkten. Um diese besonders schädlichen Auswirkungen der Krise zu bekämpfen, sind die politischen Spielräume eng. Das Kabinett Müller steckt den Schock als Erstes ein und überlebt ihn nicht lange. Es stürzt ausgerechnet über die schwierige Frage der Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, weil es den großen Regierungsparteien, dem Zentrum, der SPD und der DVP, letztlich nicht gelingt, sich in dieser Frage zu verständigen. Paradoxerweise sind es die Gewerkschaften und ein Teil der SPD-Abgeordneten, die einen von Brüning mühsam ausgearbeiteten Kompromiss ablehnen, damit den Rücktritt Müllers provozieren und de facto, wie es Müller kurze Zeit vor seinem Rücktritt vorausgesagt hatte, das Ende des parlamentarischen Systems. Brüning folgte am 30. März 1930 auf Müller und unternahm – hauptsächlich unter dem Einfluss des Juristen Carl Schmitt299 – 294 Peukert 1987 [217], u. a. S. 243–252. 295 Das entspricht 5,6 Millionen Personen (Peukert 1987 [217], S. 246). Die Historiker sind sich einig darin, dass angesichts der Teilzeitbeschäftigung und der wachsenden Ausgrenzung eines Teils der Gesellschaft (Jugendliche, Langzeitarbeitslose etc.) diejenigen „ohne Arbeit“ zwischen 7,5 und 8,5 Millionen Personen verkörpern (Solchany 2003 [225], S. 78). Zu diesem Aspekt siehe auch Kruedener 1985 [715]. 296 Peukert 1987 [217], S. 248. 297 Flonneau 2003 [197], S. 137. 298 Peukert 1987 [719]. 299 Beaud 1997 [483]. Schmitt, ein Vertrauter von Schleicher, wurde ab 1930 offiziöser

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zusammen mit dem Präsidenten Hindenburg, den konservativen Eliten und der Armee unter dem Vorwand der Krise und der Dringlichkeit der Situation eine tiefgreifende Veränderung der Verfassungsinterpretation, die es dem Präsidenten erlaubte, die ihm zugestandenen Vollmachten maximal auszuschöpfen. Seither stützte sich der Kanzler dank Artikel 48 der Verfassung auf den Präsidenten und nicht mehr auf das Parlament und regierte durch Präsidialverordnungen300. Dieses präsidiale Abgleiten stieß zunächst auf eine gewisse Opposition der politischen Klasse. Demgemäß verlangte der Reichstag mit 236 gegen 221 Stimmen die Annullierung der Dekrete, die eine Politik der Deflation zur Krisenbekämpfung eingeleitet hatten. Auf den Rat Brünings hin löste Hindenburg das Parlament auf und setzte Wahlen für den 14. September an. Diese werden zum Triumph für die extremen Parteien: Die KPD erhält 77 Sitze und die NSDAP 107. Brüning regiert weiterhin, um nicht den extremen Parteien ausgeliefert zu sein, durch Verordnungen. Die Regierungsparteien, die sich ihm widersetzen wollen, werden schließlich zur Zustimmung gezwungen, um den Extremisten nicht in die Hände zu spielen. So rettet die SPD die umgebildete Regierung Brüning im Oktober 1931, indem sie nicht für einen Misstrauensantrag stimmt. Weniger als ein Jahr später werden die Sozialisten sogar verpflichtet sein, die Wiederwahl Hindenburgs gegen Hitler zu akzeptieren, indem sie keinen eigenen Kandidaten präsentieren. Allerdings verdiente die Wirtschafts- und Sozialpolitik von Hindenburg und – vor allem – Brüning, zumindest ideologisch, kaum die Unterstützung der Sozialisten. Trotz einer intensiven Debatte Mitte der 1980er Jahre um die Thesen des Wirtschaftshistorikers Knut Borchardt, der auf die chronischen Aspekte des Übels verwies, das die deutsche Wirtschaft traf und die Wahl Brünings verteidigte, der letztlich nur über wenig Spielraum verfügte, wird die Deflationspolitik von der Mehrheit der Historiker dennoch weiterhin als ein Faktor gesehen, der die Situation verschlimmert hat301. Die Zeitgenossen täuschten sich nicht, als sie ihn „Hungerkanzler“ nannten. Abseits jeglicher Polemik bestand der Fehler Brünings tatsächlich eher in der Priorität, die er den verschiedenen Problemen beimaß, denen Deutschland sich stellen musste. Trotz der so tiefgreifenden inneren Krise blieb für Brüning der „Primat der Außenpolitik“ bestimmend. Er räumt tatsächlich der definitiven Ablösung der letzten offenen deutsch-französischen Forderungen aus dem Versailler Vertrag, nämlich den Reparationen, die Priorität ein. Schließlich ist es ebenso diese Obsession bezüglich Versailles, die das Problem der Krise nachranging werden lässt, wie die getroffenen Entscheidungen zur Krisenbekämpfung, die – vor allem in sozialer Hinsicht – die innere Situation verschlimmern. Vielleicht hoffte er, dass er durch die Abwicklung von Versailles einen Konsens um sich juristischer Berater der Regierungen. Im Gegensatz zu einer von Schmitt selbst verbreiteten Legende hatte dieses präsidentielle Abdriften überhaupt nicht das Ziel, das Regime „zu retten“. 300 Ebd. Siehe auch der nächste Band von Stefan Martens. 301 Zu dieser Debatte siehe v. a. Winkler 1985 [733]; Marcowitz 2004 [210].

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schaffen konnte. Er wurde darin ermutigt, da für viele Deutsche die Krise weniger aus wirtschaftlichen Gründen als aus einer direkten Verantwortung des Versailler Vertrags und seiner Befürworter resultierte302. Somit sollte Brüning, statt die von der Krise gestellten Probleme zu lösen, diese eher als Hebel benutzen, um an seine außenpolitischen Ziele zu gelangen. In dieser Perspektive muss seine deflationistische Politik verstanden werden. Zynischerweise dachte er, dass die katastrophale wirtschaftliche Lage, die es ihm tatsächlich unmöglich machte, seine Schuld zu begleichen, als Vorwand für die Lösung der Reparationsfrage genutzt werden konnte, diesmal definitiv und zu seinen Gunsten303.

6.3. Ein neuer Rahmen für die deutsch-französischen Beziehungen: Die Anfänge eines tragischen Missverständnisses In Bezug auf die deutsch-französischen Beziehungen stellte das Jahr 1930 einen echten Wendepunkt dar. Abgesehen von der Wirtschaftskrise sah es in dieser Domäne grundsätzlich gar nicht so schlecht aus. Experten beiderseits des Rheins riefen dazu auf, die Auswirkungen der Krise gemeinsam, auf europäischem Niveau, zu bekämpfen304. Die aus dem Versailler Vertrag hervorgegangenen Verpflichtungen schienen weitgehend geregelt. Tardieu, der zu den Verfassern des Vertrages zählte, akzeptierte nach bisweilen gespannten Verhandlungen in Den Haag305 die Umsetzung des Young-Plans – und damit den unmittelbaren Rückzug der noch im Rheinland stationierten französischen Truppen – und den Verzicht auf Sanktionen im Falle der Nichterfüllung des Vertrags306. Aber dieser Erfolg der Stresemann’schen Politik post mortem bedeutete paradoxerweise nicht das Ende der Spannungen. Die Entscheidung für eine protektionistische Politik setzt den Hoffnungen der Experten rasch ein Ende. Brüning und sein Außenminister Julius Curtius wollen die definitive Revision des Versailler Vertrags auf eine weniger konziliante Weise als Stresemann erreichen. Dies würde es Brüning im Inneren erlauben, den Nationalsozialisten nach ihrem Erfolg bei den Wahlen von 1930 einen Lohn zukommen zu lassen. Er zögerte tatsächlich nicht, am 6. Oktober 1930 Hitler die Ziele seiner Außenpolitik und vor allem hinsichtlich der Liquidierung des Young-Plans darzulegen, den Hitler damals bekämpft hatte. Er erneuerte sogar die Rhetorik des Ersten Weltkriegs, indem er an einen außenpolitischen Burgfrieden appellierte307. Indem sie außerdem maximal von dem Handlungsspielraum zu profitieren verstanden, den ihre Vorgänger gewonnen hatten, lancierten Brüning und 302 303 304 305 306 307

Hermann Graml 1969 [154], nach Lee/Michalka 1987 [460], S. 115. Lee/Michalka 1987 [460], S. 118–119. Schirmann 2000 [472]. Baechler 1980 [427]. Zur Organisation und den – bedeutsamen – lokalen Folgen des Rückzugs vgl. II.5. Lee/Michalka 1987 [460], S. 115–116.

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Curtius zugleich die Frage der Reparationen und eine Interessenpolitik in Mitteleuropa, was ihnen den Franzosen gegenüber ein Wechselgeld zur Verfügung stellte. Frankreich steht demgemäß einer diplomatischen Offensive an zwei Fronten gegenüber. Im März 1931 torpedieren Österreich und Deutschland die Diskussionen um das Europaprojekt Briands und geben das Vorhaben einer Zollunion bekannt. Drei Monate später verkündet Deutschland den Abschluss privilegierter Handelsabkommen mit Rumänien – ein traditioneller Verbündeter Frankreichs –, anschließend mit Ungarn. Von London unterstützt gelingt es Frankreich, Brüning auf sein Zollunionsprojekt verzichten zu lassen, doch der profitiert von diesem Zugeständnis, um seine Pläne in der für ihn zentralen Frage der Reparationen voranzutreiben. Wie vorauszusehen war, verkündet Deutschland dann am 15. Juni 1931, dass es die vom Young-Plan vorgesehenen Zahlungen nicht mehr leisten könne308. Der amerikanische Präsident Hoover schlägt fünf Tage später ein Zahlungsmoratorium von einem Jahr vor, das von der in Frankreich im Amt befindlichen Regierung Laval/Briand akzeptiert wird. Die Franzosen entschließen sich, die Hand zu reichen. Brüning wird nach Paris eingeladen; ihm wird ein Kredit von 2 Milliarden Reichsmark mit langer Rückzahlungsdauer angeboten. Indem sie den Kredit jedoch an politische Garantien knüpften – den Verzicht auf Aufrüstung und Revision des Versailler Vertrages für zehn Jahre –, machten ihn die Franzosen, absichtlich oder unabsichtlich, für Brüning inakzeptabel, der seine eigenen Prioritäten hatte309. Für ihn spielt sich die Sanierung Deutschlands zunächst durch die Revision des Vertrages ab, und er gibt dem französischen Vorschlag nicht nach. Wenn auch der „Höflichkeitsbesuch“ Lavals in Berlin im September desselben Jahres die Scherben mit der Bildung der deutsch-französischen Wirtschaftskommission wieder zusammenzufügen scheint, ist diese Hoffnung doch von kurzer Dauer310. In diesem Zusammenhang ist die im gleichen Jahr eröffnete Abrüstungskonferenz ein angekündigter Misserfolg. Der französische Vorschlag zur Schaffung einer internationalen Militärstreitmacht im Februar 1932 blieb ein leeres Wort, und die Deutschen zogen sich im Juli 1932 davon zurück. Zur selben Zeit fanden sich die Partner am Ende des Hoover-Moratoriums in Lausanne zusammen, um über die ein Jahr lang suspendierten Zahlungen des Young-Plans zu diskutieren. Die Protagonisten hatten sich jedoch verändert. Von Papen, der zum Kanzler gewordene Kanzlermacher311, musste sich nur bücken, um die Früchte der Politik seines Vorgängers einzusammeln. Der neue Regierungschef Herriot glaubt an seine Pflicht, Deutschland zu helfen, das sich noch 308 309 310 311

Bariéty/Poidevin 1977 [434], S. 279. Ebd., S. 280; Knipping 1987 [457], S. 47–49; Schirmann 1995 [471], S. 3. Schirmann 1995 [471], S. 3–32. Zu den politischen Veränderungen von 1932 bis 1933 und der Machtübernahme der Nationalsozialisten siehe der nächste Band von Stefan Martens.

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immer in einem sehr kritischen Zustand befindet. Die französische Delegation akzeptiert es deshalb, im Gegenzug zu einer letzten Zahlung von 3 Milliarden Goldmark einen Schlussstrich unter die Reparationen zu ziehen. Ein Entgegenkommen, von dem man nicht sicher ist, ob es jemals honoriert würde. Das Jahr 1932 wird mit der Unterzeichnung deutsch-französischer Wirtschaftsvereinbarungen im Dezember abgeschlossen, die die Abkommen von 1927 an die Krise anpassen sollten. Auch wenn beide Seiten ihre Zufriedenheit ausdrücken, erreichen die Vereinbarungen keinen Abbau der nationalen Egoismen, denn sie weisen im Gegenteil letztlich in die Richtung einer Stärkung der Möglichkeiten für jeden Partner, protektionistische Maßnahmen zu ergreifen, und nicht in die Richtung einer verstärkten Zusammenarbeit312. Schließlich läutete all dies, sogar vor der Machtübernahme durch Hitler, eine neue Phase der deutsch-französischen Beziehungen ein, die auf ein tragisches Missverständnis gegründet war, das der Chef der Nationalsozialisten perfekt ausnutzen sollte: Während für die große Mehrheit der französischen öffentlichen Meinung und einen großen Teil ihrer Politiker und Experten der Geist von Locarno zur Verwurzelung eines prinzipiellen Pazifismus beigetragen hatte, hatte dieser Geist jenseits des Rheins seit langem schon aufgehört zu wehen. Es hatte in Deutschland nur einen Firnis gegeben, der rasch rissig geworden war, ohne dass die Nachbarn – von wenigen Äußerungen abgesehen –, die bezüglich der Spezifizität des nationalsozialistischen Phänomens blind waren, es bemerkt hätten. Hitler erkannte angesichts eines mehrheitlich pazifistischen Frankreich im Gegenzug genau, welch hervorragender Hebel die Angst vor einem neuen Krieg mit Deutschland für seine Außenpolitik sein konnte.

312 Schirmann 1995 [471], S. 28; Schirmann 2000 [472].

II. Fragen und Perspektiven

II. Fragen und Perspektiven

1. Verletzte und geschundene Gesellschaften

1. Verletzte und geschundene Gesellschaften

Maurice Agulhon sprach angesichts Frankreichs nach dem Kriege von einem „am Krieg erkrankten“ Land313. Diese Feststellung ließe sich für beide Länder treffen. Sie teilen die gemeinsamen Wunden: die der Trauer und des massenhaften Todes, der Spanischen Grippe, die bisweilen die dem Krieg entkommenen Kinder oder die von der Trauer geschwächten Eltern dahinrafft, die der Rückkehr der Kriegsversehrten, der Invaliden, der vom Erlebten verstörten Soldaten auf der Suche nach Anerkennung oder einfach „Normalität“ – falls diese überhaupt noch existiert angesichts der Vielfalt der verwirrenden Situationen der Nachkriegszeit. Diese Wunden – davon zeugen die zahlreichen Vereinigungen314, von denen jede eine Kategorie von „Kriegsopfer“ verkörperte – waren zudem infiziert durch einen Kriegsausgang während der Jahre 1918 –1920, der im Augenblick in keiner Weise den deutsch-französischen Gegensatz entschärfen konnte315. Darüber hinaus gibt es in jedem Land spezifische Verletzungen. Frankreich muss zehn vom Krieg zerstörte Departements und die systematischen Zerstörungen beim Rückzug 1917 entlang der Hindenburg-Linie wiederaufbauen316. Es muss auch die Wunden der besetzten Gebiete heilen, die bisweilen verdächtigt wurden, mit dem Feind zu paktieren und zu den „Boches des Nordens“ oder „des Ostens“ wurden317. Diese erduldeten Leiden können in Konkurrenz mit jenen der Soldaten treten oder von den anderen, „nicht überfallenen“ Gebieten unverstanden bleiben. In demographischer Hinsicht treffen die Verluste das Land umso mehr, als es das erste war, das im Laufe des 19. Jahrhunderts die Geburtenrate stark reduziert hatte318. Aufgrund dieses Malthusianismus sind die demographischen Verluste schwieriger auszugleichen, der „Männermangel“ ist schwerwiegender und die aufgrund des Geburtendefizits ausgedünnten Jahrgänge sind noch ausgedünnter. In den Familien mit einem, zwei oder drei Kindern ist es, über den Schmerz der Trauer hinaus, eine Tragödie, den oder die einzigen Söhne zu verlieren: Wer sichert die 313 Agulhon 1990 [234], S. 323. 314 Siehe die „gueules cassées“ (Delaporte 1996 [310]) oder auch die Französische Vereinigung der Familien von Verstorbenen oder auch Vereine nach der Art der Verletzung: Amputierte, Gasgeschädigte, Lungenverletze etc. Siehe oben. 315 Siehe I. 316 Geyer 2006 [325]. 317 Nivet 2004 [373]. 318 Für einen Vergleich mit Deutschland siehe Kaelble 1991 [176].

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II. Fragen und Perspektiven

Zukunft des Familiennamens, nimmt die Bewirtschaftung der Landwirtschaft, des Geschäfts oder des handwerklichen Verkaufsstandes wieder auf?, fragen sich die Eltern, die bereits außer sich vor Schmerz sind. Wer kümmert sich um die Grabstätten, wenn die Eltern auch verstorben sein werden? In diesem Sinne vererbte in dem kleinen Dorf Mergey in der Champagne eine Familie, die ihre zwei Söhne im Krieg verloren hatte, einen Großteil ihres Landes an eine andere Familie im Austausch für die Zusage, dass diese immer die Gräber und vor allem die der beiden im Krieg gefallenen Söhne pflegen werde. In Deutschland können die demographischen und sozialen Strukturen ebenfalls ein verstärkender Faktor für den Verlust sein, der durch den Tod eines Soldaten verkörpert wird. In den kinderreichen Familien im bäuerlichen oder Arbeitermilieu beeinträchtigt der Verlust des Vaters, bisweilen noch verdoppelt durch den des ältesten Sohnes, die wirtschaftliche Zukunft der ganzen Familie319. Zudem muss sich Deutschland anderen Verletzungen stellen, die diesmal wirklich spezifisch sind: die territorialen Verluste, die sich auch oft in Bevölkerungsverschiebungen niederschlagen – Verschiebungen, deren Geschichte weitgehend noch geschrieben werden muss. Man nimmt im Allgemeinen an, dass die Weimarer Republik im Anschluss an die Grenzveränderungen der Ankunft von mindestens 700 000 Flüchtlingen die Stirn bieten und mit dem ungelösten Problem der Besatzung eines Teils ihrer Grenzregionen umgehen musste. Zudem kommen in Deutschland zu den Toten des Krieges und der Grippe auch diejenigen der Blockade, die trotz der Unterzeichnung des Waffenstillstands fortgesetzt wird. Neben diesen Problemen gibt es außerdem die inneren Spaltungen, die aus der Niederlage, ihrer Interpretationen und aus dem Chaos herrühren, das sich an den Krieg anschließt. Wie Jay M. Winter schreibt, gehorcht in diesem Zusammenhang die absichtliche oder unabsichtliche Einführung von Erinnerungsrahmen an den Krieg während der Jahre 1918 –1933 Geboten, die eher existenziell denn politisch bedingt sind320. Die beiden Gesellschaften geben sich demnach in diesen Jahren Mühe, ebenso den Krieg zu denken wie ihn zu überwinden: zu denken, um zu überwinden, und zu überwinden, um zu denken. Die beiden Gebote treffen sich bisweilen, aber sie können auch miteinander kollidieren, wie die Konflikte zeigen, die um die Erinnerung an den Krieg auftauchen können.

319 Wie im vorausgegangenen Fall sind diese Fälle nicht spezifisch für Deutschland oder Frankreich. Sie sind statistisch präsenter in dem ein oder anderen Land aufgrund der sehr unterschiedlichen demographischen Strukturen in beiden Ländern. Die Familienstrukturen sind wohlgemerkt im Innern jedes der beiden Länder sozial und regional in Korrelation gebracht. 320 Winter 1995 [415], S. 2, 78–79, 224.

1. Verletzte und geschundene Gesellschaften

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1.1. Kriegstrauer als gemeinsames Schicksal? Die große Frage, die die Gesellschaften nach dem Kriegsende bewegt, ist zunächst die des individuellen, politischen und sozialen Umgangs mit dem Verlust. Die Zahl der Toten legt zwar quantitativ über das Blutvergießen Rechenschaft ab, das den Gesellschaften am Kriegsende auferlegt ist, reicht aber nicht aus, um die individuellen und kollektiven Auswirkungen der Kriegstrauer in der Nachkriegszeit bewusst zu machen. Die öffentliche Politik der Kriegstrauer – auf lokalem wie nationalem Niveau – wie zum Beispiel die Einführung von Ritualen, Symbolen und die Errichtung von Monumenten sagt uns indirekt etwas über die Bedeutung dieser Fragen für die Gesellschaften am Ausgang des Krieges. Aber sie informiert uns nicht gänzlich über die individuellen Aspekte der Trauer, über ihre direkten Auswirkungen auf das soziale Leben der Individuen. Diese Geschichte ist wohlgemerkt zweifellos am schwierigsten zu schreiben. Sie ist es auch, die in heuristischer Hinsicht aktuell eine tiefgehende Erneuerung erlebt. Wenn diese Erneuerung und dieser Blick auf die Trauernden und nicht nur auf die Zahlenbilanz oder Erinnerungspolitik so neu ist, dann auch, weil die Trauerwunden zum großen Teil bestimmt sind durch die Art, das Alter und den Platz in den Gesellschaften im und nach dem Krieg. Frauen und Kinder sind die ersten Opfer dieser Leiden. Frauen und Kinder, die im Allgemeinen erst seit kurzem ihre Historiker(innen) finden. Diese Verzögerung verstärkte in gewisser Weise die Rückkehr zur männlichen Ordnung, die die Nachkriegsgesellschaften charakterisierte, auch wenn der Erste Weltkrieg, das ist bekannt, im Gegensatz zu abgedroschenen Klischees keine besonders günstige Periode für die weibliche Emanzipation war321. Weiterhin sind die Schmerzen der Trauer paradoxerweise diesmal gemeinsame Leiden, für diejenigen, die die Erfahrung an der Front gemacht haben, und diejenigen, die sie hinter der Front gemacht haben. Es sind jedoch die Leiden und Opfer der Frontsoldaten, die in der Nachkriegszeit in den Vordergrund gerückt werden, selbst während man die Trauernden zu trösten versucht. Auch wenn die öffentliche Trauerpolitik darauf abzielte, die Trauernden zu trösten, vermännlichte, heroisierte oder stellte sie die Soldaten als Opfer dar, indem sie das Paradigma des Helden wie des Opfers des Krieges schaffte. Die Frauen werden darauf reduziert, „Situationen zu beweinen, die sie nicht kennen“322. Im Gegenzug erwarteten die männlichen Gesellschaften von ihnen, dass sie die Trauer ertragen, ohne sich aber zu lange mit ihrem eigenen Schicksal aufzuhalten oder es zu beweinen. Die Witwenrenten sollten dafür da sein, wiedergutzumachen. Sie mach321 U. a.: Morin-Rotureau 2004 [370], Hagemann 1990 [713], Hagemann/Davy/Kätzel 2005 [96], Hagemann/Schüler-Springorum 2002 [327], Capdevilla/Rouquet/Virgili/Voldmann 2003 [295]. 322 Becker 2004 [277], S. 151.

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II. Fragen und Perspektiven

ten – wenn auch ungenügend323 – einen materiellen Verlust wieder gut, aber was war mit dem Schmerz?324 Außerdem wurden jene, die es wagten, sich wieder zu verheiraten, in Frankreich sogar stigmatisiert: 1925 fror man ihre Pension auf die Rate von 1919 ein. Es gab Stimmen, die diese Maßnahme noch ungenügend fanden und schlicht und einfach die Abschaffung der Pension für wiederverheiratete Witwen forderten, die als „untreu“ gegenüber ihrem glorreichen Mann angesehen wurden, der für Frankreich gestorben war. Wie die Historikerin Stéphanie Petit betont, waren die Kriegerwitwen in der nationalen Ehrung für die Opfer des Großen Krieges durch den Haut-Conseil de la mémoire combattante nur am 11. November 2000 mit einbezogen. Die Historiker haben die aus der Zwischenkriegszeit hervorgegangenen Erinnerungsrepräsentationen sehr häufig verstärkt, indem sie sich mehr den Erfahrungen der Männer an der Front als denen hinter der Front widmeten. Es stimmt auch, dass die Quellen lückenhaft sind, wenn es darum geht, die Geschichte der Kriegstrauer zu erzählen und zu analysieren. Außerdem begünstigt die Verdrossenheit der Öffentlichkeit über alles, was den Krieg betrifft325, nicht gerade das Zustandekommen von Zeugenaussagen, die eine Erfahrung wachrufen, die Jahre andauern kann und sich mit dem Alltagsleben vermischt. In der Tat sind diese Quellen, weil sie nicht publiziert oder verstreut sind, schwer zugänglich und sozial fragwürdig. Die Tagebücher der Trauernden oder die Erinnerungsalben, die zu Ehren der Verstorbenen veröffentlicht wurden, oder auch die Korrespondenzen, die die Spuren dieser Trauer bewahren, stammen zumeist aus den gebildetsten Schichten der Bevölkerung. Gleichwohl kann uns ein gleichzeitiger Blick auf die zahlenmäßige Bilanz des Krieges, auf die öffentliche Politik der Kriegstrauer und auf einige fragmentarische Beispiele von Trauergeschichten eine Vorstellung davon vermitteln, wie sehr der Krieg und vor allem das Schmerzhafteste, das er mit sich brachte, auf den Nachkriegsgesellschaften lastete: der Verlust eines geliebten Menschen. Und wenn auch jede Trauergeschichte verschieden ist, vom nicht überwundenen Trauma bis zur Resilienz, erzählt die Addition dieser individuellen Schmerzen die Geschichte zweier trauernder Gesellschaften. Während die Trauer, der Schmerz und Verlust eine Gemeinsamkeit der beiden Gesellschaften ist, ist der Kontext, in dem sie gesehen werden müssen, dennoch sehr unterschiedlich. Die nationalen Geschichten und Traditionen, die religiösen Faktoren, aber auch der Kriegsausgang beeinflussen die Entscheidungen der Akteure. Aber bevor man sich auf den Einfluss dieser politischen Faktoren auf die Trauer über die Kriegstoten konzentriert, ist es nötig, die Kennzeichen eines Phänomens in Erinnerung zu rufen, das sowohl zur Geschichte des Krieges als auch der Nachkriegszeit gehört. 323 Petit 2004 [374]. 324 Man schätzt zum Beispiel die Zahl der französischen Kriegerwitwen auf 600 000 und auf ungefähr 533 000 (1926) in Deutschland (Charle 2001 [166], S. 314). 325 Siehe II.6.

1. Verletzte und geschundene Gesellschaften

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Das Ausmaß des Phänomens erleichtert es sicher nicht. Jene, die dazu imstande sind, zu trösten, zu helfen, sind bisweilen selbst in Trauer um einen Angehörigen. Diese besondere Schwierigkeit angesichts des massenhaften Todes drückt sich in einem der zentralen Kennzeichen der Kriegstrauer aus: ihre kollektive und soziale Dimension, die sich in dem Umstand zeigt, dass „normale Leute, gläubig oder nicht, gemeinsam der Leere und dem Verlust gegenüberstehen, die der Krieg hinterlassen hat“326. Zudem konnte ein und dieselbe Person in kurzer Zeit dazu gezwungen sein, die Trauer um mehrere Angehörige zu ertragen. Friedrich Ebert hatte zwei Söhne verloren, General Castelnau drei und Paul Doumer vier327. Wenn man die verschiedenen „Trauerkreise“ (nahe Familie, Freunde, entferntere Familie) berücksichtigt, führte das massenhafte Sterben im Krieg zweifellos dazu, dass sich die ganzen Gesellschaften in Trauer befanden328. Weiterhin verkehrt der Tod im Krieg „die normale Nachfolgeordnung der Generationen“329: Die Söhne sterben vor den Eltern. Eine Soldatenmutter drückt es in ihren Worten aus: „Es ist so stark gegen die Natur, dass unsere Kinder vor uns gehen, denn Gott hat sie uns gegeben, damit sie uns die Augen schließen“330. Während es Worte gibt zur Bezeichnung derjenigen, die ihren Ehemann verloren haben – Witwe – oder ihre Eltern – Waisen –, so gibt es keinen Ausdruck für die Trauernden, die den Verlust des Kindes ertragen müssen. Die Eltern sind gewissermaßen Waisen ihrer Kinder. Zu diesem besonderen Schmerz kommt häufig noch das Schuldgefühl hinzu, die Söhne bisweilen ermutigt zu haben, in den Krieg zu ziehen, sich freiwillig zu melden oder zumindest nichts getan zu haben, sie davon abzuhalten. Indem der Staat systematisch mobilisierte, kann er als schuldig gesehen werden am Tod der Kinder, und die Trauer und das Schuldgefühl können in Wut auf die umschlagen, die für den Krieg verantwortlich gemacht werden. Hier reicht es nicht immer aus, die Schmerzen der sich schuldig fühlenden Eltern zu lindern, und die von den Schuldgefühlen verstärkte Trauer kann sich lange hinziehen. Die Trauer von Käthe Kollwitz angesichts des Verlustes ihres Sohnes illustriert deutlich diesen doppelten Aspekt. Sie schrieb in ihr Tagebuch: „Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind“331. Diese oft zitierten Zeilen aus dem Jahr 1922 verweisen auf die eigene Erfahrung der Künstlerin. Ihre Kunst und ihr Engagement für den Frieden verstehen sich seit dem Krieg als Mittel, auch ihre eigene Ratlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit zu überwinden. Auch sie ist seit 1914

326 327 328 329 330 331

Winter 1995 [415], S. 53. Audoin-Rouzeau/Becker 2000 [262], S. 247. Ebd., S. 241. Zitiert nach Becker/Audoin-Rouzeau 2000 [262], S. 242. Ebd. Kollwitz 1999 [60], Tagebucheintrag vom 2. 12. 1922.

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II. Fragen und Perspektiven

vom Schmerz der Trauer über ihren Sohn und vom schlechten Gewissen einer Mutter erfüllt, die das freiwillige Engagement ihres Sohnes damals gutgeheißen hat. Die Themen des Krieges, die Trauer und die menschlichen Leiden besetzen nunmehr quasi die Gesamtheit ihrer künstlerischen Arbeit. Nach einer Reise nach Belgien mit ihrem Ehemann 1926 vollendet sie 1931 eines ihrer Meisterwerke, Die trauernden Eltern. Im folgenden Jahr, 1932, werden die Granitskulpturen auf dem Friedhof von Roggevelde aufgestellt, wo ihr verstorbener Sohn liegt. Die individuelle und familiäre Trauer der Künstlerin und ihres Ehegatten werden in gewisser Weise sublimiert in einem Werk, das dem Krieg einen neuen Sinn gibt und sein wahres Gesicht enthüllen will: das des immensen Schmerzes über den Verlust der Kinder. Weiterhin kann die bis dahin an den Rand gedrängte Trauer überhandnehmen, ohne dafür einen möglichen sozialen Begriff zu finden. Der Verlust des Liebsten oder des Verlobten schafft „Quasi-Witwen“, die ihre Trauer nur sehr schlecht ausdrücken und zeigen können. Die Art des Todes führt auch zu unterschiedlicher Trauer. Wenn auch die Rechtfertigungsreden und patriotischen Diskurse manchmal einen Sinn stiften und eine beruhigende Rolle spielen können, was bei weitem nicht immer der Fall ist, können andere Merkmale des Kriegstodes die Arbeit der Trauernden hingegen heikler und schmerzhafter machen. Die Distanz zum toten Körper, der weit weg von dem Friedhof begraben ist, wo die anderen Familienmitglieder ruhen, sogar in ausländischer Erde für die Deutschen, erschwert die Grabrituale und die Friedhofsbesuche. 1919 –1920 wurde in Frankreich heftig über dieses Thema debattiert. Zahlreiche Familien forderten den Körper ihrer auf Militärfriedhöfen begrabenen Kinder, gruben sie sogar aus, um sie in die Familiengruft zurückzuführen. Einige Veteranen sprachen sich im Gegensatz dazu für das Zusammenbleiben der im Kampf getöteten Kameraden aus. Die nationale Kommission für Militärgrabstätten tendierte, im Namen des republikanischen Gleichheitsprinzips, eher dazu, die Gefallenen auf Militärfriedhöfen zu belassen. Der Abgeordnete Louis Barthou, der einen Sohn im Krieg verloren hatte, forderte dessen sterbliche Überreste vor der Kommission mit den Worten: „Seine Mutter und ich, wir warten auf ihn“332. Angesichts dieses Phänomens debattierte schließlich die Nationalvertretung, und ab September 1920 erlaubte ein Gesetz, dann ein Dekret die Überführung der Körper in die Familiengrabstätten. Noch wichtiger war diese Distanz im Falle Deutschlands. Zu der größeren Entfernung von den Friedhöfen kam noch die Desorganisation des Landes, die die rasche Schaffung von Friedhöfen und Denkmälern verhinderte, sowie die Feindschaft der lokalen Bevölkerung – die im Bereich der Front das ganze Ausmaß der Kriegszerstörung und Besetzung ertragen mussten – gegenüber dem „Feind“. Konflikte zwischen der französischen und der deutschen Verwaltung 332 Zu diesen Aspekten und dem Zitat von Barthou siehe Audoin-Rouzeau/Becker 2000 [262], S. 245 –247.

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hinsichtlich der deutschen Militärfriedhöfe waren nicht selten. Letztere beschuldigte, indem sie Beweise und Beispiele sammelte, die Franzosen, wenig Sorgfalt bei deutschen Namen auf den Listen walten zu lassen. Dies verursachte eine Reihe von orthographischen Fehlern auf den Kreuzen oder Plaketten der Beinhäuser, was die Lokalisierung der Gefallenen für die Familien erschweren oder deren Schmerz verstärken konnte, wenn sie einen falsch geschriebenen Namen erblickten. Diesen Schmerz lud die Institution, die sich um die Grabstätten kümmerte, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, mit politischem Gehalt auf, indem sie den Versailler Vertrag und die Franzosen beschuldigte333. Mehr noch, das so häufige Fehlen der Leiche – viele Soldaten werden als vermisst geführt – kann die Trauer bisweilen unmöglich machen. Umso mehr, als die genauen Umstände des Todes manchmal völlig unbekannt bleiben. Das Beispiel der Entdeckung eines „lebenden unbekannten Soldaten“ – de facto ein Soldat mit Amnesie, der seine Identität verloren hat – zeigt dies. Hunderte Familien wurden dazu überredet, in ihm den Sohn, den Ehemann, den Vater zu erkennen334. Stéphane Audoin-Rouzeau hat die sehr unterschiedlichen Charaktere der Kriegstrauer aufgezeigt335. Louise Clermont, die Schwester des Schriftstellers Emile Clermont, schreibt eine ihn heiligsprechende Biographie ihres Bruders und verschwindet dabei hinter ihm. Sie gibt dem Opfer ihres Bruders einen religiösen Sinn, der ohne Zweifel für einen Schmerz notwendig ist, den sie in ihrem Buch niemals erwähnt. Dass der Schmerz existiert, auch wenn er quasi stumm ist, zeigt eine zweite Publikation über ihren Bruder aus dem Jahre 1927, ein „zweites Denkmal für den Toten“336. Jane Catulle-Mendès, die zweite Frau des Dichters Catulle Mendès, hatte ihren Sohn Primice im Krieg verloren. Sie widmet ihm 1921 ein Werk, La prière sur l’enfant mort (Gebet für das tote Kind), das ganz anders als das von Luise Clermont ist. Wenngleich es den Toten erwähnt, erzählt es vor allem vom Schmerz der Trauer um das Kind, das 1917 getötet wurde, bis hin zu körperlichen Bekundungen (wie Tränen, Ohnmacht, Krankheit). Dieser Schmerz wird von ihrer eigenen Zustimmung zum Krieg noch verdoppelt: „Ich fühle mich schuldig, schuldig zu leben, während er tot ist. (…) Ich habe nichts getan, denn ich habe es nicht verhindert“337, sowie durch ihren Patriotismus, der ihr keinerlei Trost ist: „Diejenigen, die die Kraft haben zu sagen: ,Ich bereue nichts …‘, bewundere ich weder, noch tadele ich sie. Aber diese Worte wird man mir nicht entreißen können, die nichts an mir sich entreißen lässt. Der hehrste Grund kann mich nicht akzeptieren lassen, dass mein Kind nicht mehr existiert. Ich war sein ganzer Schutz, ich habe auf

333 334 335 336 337

Brandt 2000 [291], S. 135–145. Le Naour 2002 [357]. Audoin-Rouzeau 2001 [260]. Ebd., S. 53 – 95, hier 89. Alle Zitate stammen aus: ebd., S. 211–261.

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II. Fragen und Perspektiven das Recht verzichtet, ihn zu schützen, das ist das Ende meines Mutes. Er ist tot (…) Er ist tot (…) Alle Fasern meines Körpers sind nur noch ein quälendes Bedauern. (…) Niemand hat mehr Dankbarkeit und Vaterlandsliebe als ich. Aber das Kind ist auch das Vaterland. Es ist das naheste, das am meisten geliebte Gesicht des Vaterlandes (…) Niemand liebt Frankreich mehr als ich. Aber man liebt nichts mehr als sein Kind“338.

Aber auch wenn diese Revolte gegen sich selbst und gegen das Vaterland einige Jahre dauert, schwächt sie sich doch ab. 1925 veröffentlicht sie ein neues Werk, diesmal mit dem Titel France, ma bien aimée (Frankreich, meine Geliebte), in dem sie ihren Glauben an das Vaterland und einen neuen Glauben an Gott betont, die ihr gemeinsam mit der Zeit helfen konnten, zu trauern und dem für sie lange Zeit unverständlich und empörend gewesenen Tod ihres Sohnes einen Sinn zu geben. Doch schließlich kehrt sie, um trauern zu können, in gewisser Weise zum Krieg zurück, indem sie schematische Vorstellungen vom patriotischen Opfer wieder mobilisiert und zum Katholizismus zurückkehrt. Paradoxerweise bedeutet für sie den Tod des Sohns zu verarbeiten nicht notwendigerweise, den Krieg hinter sich zu lassen. Für die einen erleichtern die Einrichtungen zur Sinngebung, die von der Heimat und dem Staat geschaffen wurden, von der Religion oder einfach von den Kameraden des Toten, die über die letzten Momente berichten, den Schmerz und können helfen, den Tod zu verarbeiten, indem sie ihm einen Sinn verleihen. Bei anderen, und selbst in patriotischen Familien, gelingt dies nicht, und der Tod im Krieg bleibt eine Art Skandal, der die Trauerarbeit fast unmöglich macht. Das „Opfer“ oder den „Heroismus“ der Verstorbenen übertriebenermaßen zu heiligen, konnte außerdem auch „das notwendige Loslassen der Überlebenden gegenüber denen, die sie geliebt und verloren hatten, schwieriger als in Friedenszeiten“339 gestalten, ein Loslassen, das im Zentrum der Trauerarbeit steht. In Frankreich konnte der Sieg ein erzählerisches Mittel darstellen, dem Opfer von Millionen junger Menschen, „gestorben auf dem Feld der Ehre“ „für das Vaterland“, wie es die Inschriften der Denkmäler in allen Dörfern bestätigen, einen Sinn zu geben. Zweifellos ein unvollkommenes und oft unangemessenes Mittel, aber im Kontrast dazu wurden in Deutschland die gleichen auf die Denkmäler gravierten Formulierungen nicht einmal von dem Sieg unterstützt und klangen noch hohler. Der Sieg und die Niederlage tönten auch den Sinn, der dem Konflikt im Nachhinein verliehen wurde, in unterschiedlichen Farben.

338 Zitiert nach ebd., S. 240. 339 Audoin-Rouzeau/Becker 2000 [262], S. 256.

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1.2. Nach dem Sieg In Frankreich beflaggen die Siegesfeiern, von denen man jüngst Farbfotografien gefunden hat, die Straßen der Städte und Dörfer und füllen sie mit Freude. Dennoch vermischt sich auch das Schwarz der Trauer mit der Trikolore. Für die Trauernde Jane Catulle-Mendès ist es sogar unmöglich, am Siegesdefilee teilzunehmen: „Ich werde ihn nicht ansehen. Ich könnte es nicht ertragen, den Sieg ohne Dich zu sehen“340, schreibt sie. Die Siegesfeiern vom 14. Juli 1919 sollen dem Opfer einen kollektiven Sinn geben, aber für die trauernde Mutter spenden sie keinen Trost: „Alle sagen, dass die Toten morgen unter dem Triumphbogen wieder aufleben werden. Für alle wirst du wieder aufleben, außer für mich“341. Dennoch zieht Jane keinen explizit politischen Schluss aus ihrer Trauer, da sie es ablehnt, sich einem Pazifismus oder Antipatriotismus zuzuwenden, die eine Form des Verrats an den Idealen ihres Sohnes gewesen wären. Die Billigung des Todes für das Vaterland macht die Trauer schließlich nur noch schwieriger: „Ich hatte die schönste Vorstellung, die Vorstellung vom Vaterland. / Es hat mir meinen Sohn getötet. / Ich habe keine Vorstellung mehr. / Ich wohne auf dem Gipfel der Einsamkeit“342. Anlässlich der Zeremonien des 14. Juli 1919 veröffentlichte der Figaro auf der ersten Seite diesen Text, eine Art Gedicht in Prosaform, geschrieben von einer Kriegerwitwe: „Allein … Mein Mann und mein Bruder sind dort gestorben, voll des Ruhms. Ich beweine sie, und mein Schmerz ist immens. Eines Tages jedoch werden die anderen kommen, und dieser Tag ist nah. An diesem Tag möchte ich ganz vorne stehen, um den erhabenen Rückkehrern zuzujubeln. An diesem Tag wird mein Trauerflor nicht mein Gesicht bedecken, damit mein schwarzer Schatten nicht jene traurig stimmt, die vorübergehen … An diesem Tag werde ich für sie Küsse und Blumen haben. Auf diese Art werde ich meine Toten feiern, denn sie sind tot, damit diese dort zurückkehren. Sie gehen vorüber, schön, stattlich, inmitten von Hochrufen und Geschrei. Sie gehen vorbei. Wenn der Letzte vorbeigegangen sein wird, werde ich in meine leere Wohnung zurückkehren, meinen schwarzen Schleier anlegen und ich werde weinen“343.

Außerdem vermischen sich die Kriegsgefallenen mit den Toten der Spanischen Grippe, die damals Europa heimsucht. Der Dichter Blaise Cendrars hat diese Atmosphäre nach dem Waffenstillstand sehr gut wiedergegeben, als sich Freude über den Sieg und Trauer mischen. Er beschreibt die Beerdigung seines 340 341 342 343

Zitiert von Audoin-Rouzeau 2001 [260], S. 241. Ebd., S. 242. Ebd. Zitiert nach Becker 1996 [275], S. 34.

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Freundes Guillaume Apollinaire am 13. November 1918, der am 9. November an der Spanischen Grippe verstorben war344: (…) Apollinaire ist nicht tot Ihr seid einem leeren Leichenwagen gefolgt Apollinaire ist ein Magier Er ist es, der in der Seide der Fahnen an den Fenstern lächelte Er amüsierte sich dabei, euch Blumen und Kränze zuzuwerfen Während ihr vorbeigingt, hinter dem Leichenwagen Dann kaufte er eine kleine dreifarbige Kokarde Ich habe ihn am selben Abend auf den Boulevards demonstrieren gesehen Er saß rittlings auf dem Motor eines amerikanischen Lastwagens und Schwenkte eine enorme, internationale, ausgebreitete Fahne Wie ein Flugzeug VIVE LA FRANCE! (…)

In dieser Geisteshaltung, in der sich die Erleichterung über das Kriegsende mit Traurigkeit über die Verluste und der Freude über den Sieg vermischt, führen die Behörden sehr schnell die Architektur der nationalen Gedenkfeiern ein, die noch der kleinsten Gemeinde Frankreichs ihren Stempel aufdrückt. Wie Annette Becker schreibt, „schuf man für die verlorene Generation ein vollkommen tragisches Stück: Einheit der Zeit, der 11. November, Einheit des Ortes, das Kriegerdenkmal, Einheit der Handlung, die Gedenkzeremonie“345. Die erste große nationale Zeremonie ist die des 14. Juli 1919, die dazu bestimmt ist, den „Sieg zu feiern“. Man wählt dieses Datum, weil es mit dem Nationalfeiertag zusammenfällt und mit dem Moment, in dem die Nation durch die Militärparade mit seiner Armee kommunizieren soll. Dieser 14. Juli ist immens. Seit dem Staatsbegräbnis für Victor Hugo hatte Paris keinen derartigen Andrang mehr erlebt. Man vermutet, dass zwei Millionen Menschen aus der Provinz oder den Vororten in die Hauptstadt gekommen sind. Dazu muss man die Pariser zählen, die dem Defilee beiwohnen346. Die Stadt ist komplett beflaggt, und Joffre, Foch und Pétain, die am Abend vorher von Präsident Poincaré zu Marschällen ernannt worden sind, führen die Truppen und die Veteranen an. Am Abend tragen beleuchtete Wagen die Namen der Helden oder der Schlachten des Krieges. Der Abend wird mit einem Feuerwerk beendet. Die Nation und die Armee feiern sich. Allerdings hatte die „Siegesfeier“ am Abend vorher mit einer Totenwache begonnen. Außerdem hatten 1000 Kriegsversehrte den Zug eröffnet, und als sie vorübergingen, konnten sich die Zuschauer gewissermaßen dem Gesicht des 344 Zitiert nach und dazu mehr: Beaupré 2002 [739], S. 526 – 533. 345 Becker 2004 [278], S. 1102. 346 Becker 1996 [275], S. 34.

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Krieges gegenübersehen: „Der Tod schlich ganz schön um den Sieg herum. Die Öffentlichkeit beschloss, zum Grabmal zu gehen, ebenso wie zur Straßburg-Statue auf der Place de la Concorde, die zum Denkmal für die Toten umgewandelt wurde. Hunderttausende defilierten in Stille oder in Tränen. Sie wollten sehr nahe an den Sarg herankommen, der nichts enthielt, ein Symbol für die Leere, die 1 350 000 Getötete hinterlassen haben. Die Toten stahlen den Lebenden ihren Tag des Ruhms“347. Der Sarg erwartete tatsächlich noch einen Körper, der dort am 11. September 1920 niedergelegt werden sollte – unter dem Triumphbogen: der Unbekannte Soldat, die „Erfindung zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg par excellence“ und dessen „Anonymität den Heroismus aller garantiert und die Trauer aller erlaubt“348. Daniel J. Sherman schreibt, der Unbekannte Soldat „ermöglichte im Angesicht von massivem Verlust und tiefem Schmerz die Bestätigung, dass der Krieg tatsächlich einen Sinn hatte, einen einzigen oder eine umgrenzte Menge bekannter Zwecke, die die französische Nation vier Jahre vereint hatte und, sofern wiederentdeckt, es wieder tun könnte“349. Er symbolisiert auch die „Rückkehr der Toten“ in die Nation, die Verbindung zwischen vor und hinter der Front, aber auch zwischen vorher und nachher. In der Tat ist Verdun, seit 1916 ein Symbol des Widerstands, der Ort, an dem der Unbekannte Soldat in einer feierlichen Zeremonie ausgewählt wird. Der Kriegsminister, André Maginot, selbst kriegsversehrt, überträgt an den Soldaten Auguste Thin die Aufgabe, den Unbekannten Soldaten aus acht Särgen auszuwählen. „Ein unbekannter Soldat wählt den Unbekannten Soldaten“350, indem er einen Strauß von Blumen auf den Sarg legt, die auf dem Schlachtfeld gepflückt wurden. Die Leiche wird anschließend in die Hauptstadt transportiert, wo sie vor dem Pantheon ausgestellt wird, und dann am 11. November 1920 unter den Triumphbogen gebracht, wo sie am 28. Januar 1921 definitiv begraben wird. Die Menge folgt der feierlichen Prozession mit Ergriffenheit351. Aber vor dieser Zeremonie, die erneut die ganze Nation versammeln sollte und die außerdem mit dem 50. Geburtstag der Dritten Republik zusammenfällt, versammeln sich Sozialisten und Katholiken für ihre eigenen Zeremonien zum Gedenken an den Krieg. Am 31. Juli organisierte die Zeitung L’Humanité ein Treffen, das ebenso eine Gedenkfeier zum fünfjährigen Todestag von Jaurès war wie für die Kriegsopfer352. Die Feier wird folgendermaßen in der Zeitung angekündigt:

347 348 349 350 351 352

Ebd. Becker 2004 [278], S. 1108. Sherman 1999 [397], S. 102. Ackermann 1991 [257], S. 27 Zahlreiche Abbildungen in Jagielski 2005 [339]. Sie hatten bereits einen sozialistischen 14. Juli 1919 organisiert, der 250 Personen versammelt hatte: Becker 1996 [275].

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II. Fragen und Perspektiven „Wir sind sicher, dass unsere Leser durch ihre andächtige Inbrunst zur Größe einer Feierlichkeit beitragen werden, die eher religiös ist (im besten Sinne des Wortes) denn politisch … Wenn es ernstere Pflichten gibt, als den Besuch eines Grabes, gibt es sicher keine vornehmere als diejenige, die darin besteht, die Toten im Chor der Lebenden nach Hause zu bringen, um aus dieser Vereinigung die Lektion zu lernen, die für die Zukunft interessant ist“353.

Wenn auch die Sozialisten die militärische Ehrerbietung gegenüber den Toten ablehnen, ist ihre Leidenschaft, deren Erinnerung zu bewahren, nicht weniger groß und inbrünstig als die der Millionen Menschen, die das Defilee des 14. Juli begleitet hatten. Genauso verhält es sich mit den Katholiken, die die Abwesenheit Gottes in der Zeremonie zum 14. Juli beklagen, eine echte Brüskierung der Union sacrée, an der sie beteiligt waren. Sie versammeln sich vom 16. Bis 19. November in der Basilika Sacré-Cœur, ein zentrales Pariser Monument des engagierten Katholizismus, das für diese Gelegenheit genutzt wird. Diese drei Zeremonien markieren gleichzeitig eine Demobilisierung der Union sacrée aus der Kriegszeit und eine Rückkehr zu einem politischen Leben, in dem man die verschiedenen politischen Milieus der Vorkriegszeit wiederfindet. Dennoch tragen alle den Stempel des Konflikts und nehmen letztlich teil an der Ehrung der Toten, egal welchen Sinn sie dem Krieg geben. Dass die Ehrung der Toten als ein kategorischer Imperativ empfunden wird, zeigt sich in der Errichtung von Denkmälern für die Toten und durch die rituelle Wiederholung der Gedenkzeremonien am 11. November. Außerdem wird der 11. November ab 1922 ein Feiertag – ein Feiertag für die Trauer. Im folgenden Jahr, am 11. September 1923, beginnt ein neues Ritual, das darin besteht, jeden Abend eine Flamme auf dem Grab des Unbekannten Soldaten zu entzünden. Es sind die Veteranenvereinigungen, die sich um das Ritual kümmern. Wenn es stimmt, um eine Idee von R. Koselleck aufzugreifen, dass die Denkmäler für die Toten Orte der Identitätsstiftung für die (Über-)Lebenden sind, dann ist diese Identität eher eine leidende und verletzte als eine siegreiche, selbst wenn der Kult des Unbekannten Soldaten und die Denkmäler für die Toten letztlich ausreichend flexibel sind, um ihnen verschiedene Sinngehalte zu injizieren, je nach der Interpretation, die man sich vom Krieg macht. Die Denkmäler für die Toten müssen also dafür herhalten, die Verletzungen und Leiden zu zeigen, sie zu enthüllen, sie zu behandeln, ja sogar sie zu verdrängen, sie zu verstecken. Wie Daniel J. Sherman schreibt, handelt es sich darum, die Abwesenheit einzuschreiben, das Gefühl der Trauer vom Körper auf den Namen zu übertragen354. Der Prozess war umso wichtiger, als ein großer Teil der Kriegstoten Verschollene waren. Das Kriegerdenkmal vervollständigte somit als kollek-

353 Zitiert nach ebd., S 36. 354 Sherman 1999 [397], S. 83 und 85.

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tives Hilfsmittel der Trauerarbeit den Unbekannten Soldaten, der „keinen Namen brauchte“355. Auch wenn sich unterschiedliche Stimmen anlässlich der Zeremonie des 14. Juli 1919 zu Wort melden und seltener wegen des Unbekannten Soldaten, auch wenn die Errichtung von Kriegerdenkmälern auf lokaler Ebene Anlass zu politischen Diskussionen über deren Form gibt – fast nie über das Prinzip, ein Denkmal zu errichten –, auch wenn der Unbekannte Soldat im Folgenden mit widersprüchlichen politischen Inhalten versehen wird356, sind diese Gedächtnisfeiern durch Stein und Ritual auch die Gelegenheit, noch einmal, obwohl die Union sacrée eine alte Geschichte ist, die Einheit der Republik und der Nation zu bekräftigen. Ist seither das Fehlen des Unbekannten Soldaten in Deutschland, das mit dessen Präsenz in den anderen kriegführenden Ländern kontrastiert, nicht ein Zeichen der Unmöglichkeit der – selbst rein theoretischen – Bildung einer politischen Nachkriegsidentität in Deutschland?

1.3. Nach der Niederlage Auch wenn in den Städten, trotz der Niederlage, die Rückkehr der deutschen Soldaten zahlreiche Ähnlichkeiten zum französischen Fall zeigt357, ist der Gegensatz im offiziellen und zentralen Umgang mit der Trauer um die getöteten Soldaten und der des nationalen Gedächtnisses an den Krieg dagegen sehr auffällig. Auf der einen Seite Frankreich, das sehr schnell ein zentrales und nationales Monument errichtet – das Grabmal des Unbekannten Soldaten unter dem Triumphbogen –, und auf der anderen Seite Deutschland, dem es trotz – oder wegen? – zahlreicher Projekte nicht gelingt, ein solches Monument zu errichten358. Die klassischen Erklärungen für diesen Misserfolg der Weimarer Republik, einen zentralen Erinnerungsort für den Ersten Weltkrieg zu schaffen, sind die chronische politische Spaltung, unter der die Republik leidet, sogar, gemäß Reinhart Koselleck, das „nie völlig homogenisierte Nationalbewußtsein der Deutschen“359. Nach Benjamin Ziemann sind die Spaltungen, die den Erfolg des Vorhabens verhindern, nicht nur politisch, sondern auch regional. Der Wettbewerb zur Errichtung eines Reichsehrenmals wird 1924 auf Initiative Eberts ausgeschrieben. 1928 wurden bereits 300 Projekte eingereicht. Die verschiedenen Regionen Deutschlands fordern das Nationalmonument für sich, sei es ein Wald für die 355 Ebd., S. 103. 356 So kann der Unbekannte Soldat für die Linke sogar das Symbol des „allumfassend betrogenen Soldatenvolks“ werden. Henri Barbusse, zitiert von Jagielski 2005 [339], S. 183. 357 Siehe Kapitel I.2. 358 Für einen vergleichenden Ansatz: Inglis 1994 [338]. 359 Zitiert in Ziemann 2000 [423], S. 67–68. Siehe auch Koselleck 1992 [344], Koselleck/ Jeismann 1994 [345] und Koselleck 1997 [101].

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Helden „Heldenhain“ oder ein Denkmal für den Unbekannten Soldaten. Wenn die überaus aktiven Rheinländer wie Johannes Horion (Landeshauptmann der Rheinprovinz), die Option einer Toteninsel in Lorch verteidigen, oder wenn Adenauer ein Grabmal für den Unbekannten Soldaten im Kölner Dom vorschlägt, dann geschieht dies im Kontext der französischen Besatzung und der Loslösung vom Rest des Landes, von dem sie eine Geste erwarten360. Der Kampf um den Standort ist also auch ein politischer Kampf und einer für die Erinnerung an den Krieg, der sich für bestimmte Regionen in Deutschland verlängert. Wenn auch die zu wählende Symbolik für die Erinnerung an den Krieg für Benjamin Ziemann sekundär erscheint361 – er zeigt sehr gut, dass die Ideen des Heldenhains, des Grabmals des Unbekannten Soldaten von einem politischen Ufer zum anderen reisen können –, liegt es vielleicht einfach daran, dass es keine Übereinstimmung darüber gibt, wessen man sich durch dieses Monument erinnern soll: Es ist viel schwieriger, dem Opfer der Helden nach der Niederlage zu gedenken, und diese wird in den verschiedenen politischen Lagern der Republik überhaupt nicht gleich interpretiert, sie wird sogar bisweilen schlicht und einfach bestritten. Obwohl der Sieg in Frankreich auch Gelegenheit zu politisch sehr unterschiedlichen Interpretationen gibt, so bleibt es doch ein Sieg. Zudem wird der neue Nationalfeiertag, der 11. November, eher als ein Tag der einigenden Trauer erlebt denn als eine Siegesfeier, die widersprüchlichen Interpretationen unterliegt. Wenn die Kriegerdenkmäler, wie Koselleck denkt, Orte des Ausdrucks einer Identität der (Über-)Lebenden sind, zeigt das Zusammenwirken eines fehlenden Resultats und der großen Anzahl sehr verschiedener Projekte hinsichtlich ihrer Form und ihres Standorts die Schwierigkeit der Republik, um sich herum eine politische Identität zu schaffen, wenn es darum geht, an die Leiden des Kriegs zu erinnern. Der wesentlichen Vereinigung von Veteranen, die für die Republik war und der SPD nahe stand (das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold), gelang es nicht, ein einvernehmliches Projekt durchzusetzen, das, anfangs mit dem Stahlhelm abgestimmt, Heldenhain und Grab des Unbekannten Soldaten in Weimar vermischte: „Dieses Scheitern ist symptomatisch für die Probleme des Reichsbanner, sich in der fragmentierten politischen Kultur der Weimarer Republik gegenüber der Definitionsmacht des nationalen Lagers behaupten oder gar durchsetzen zu können“362. Wenngleich das Projekt des Unbekannten Soldaten des Reichsbanners einvernehmlich sein und wie in den anderen am Krieg beteiligten Ländern die Leiden der Soldaten und die Trauer der Familien zeigen wollte, wurde es als pazifistisches Monument und als inakzeptabel für seine Gegner angesehen363. Das gegnerische politische Lager hatte in der Tat sein Monument, das die 360 361 362 363

Zahlenangaben und Beispiele stammen aus Ziemann 2000 [423]. Über die verschiedenen Projekte und ästhetischen Vorstellungen siehe Tietz 1994 [399]. Ziemann 2000 [423], S. 80. Ebd.

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Überreste von 20 unbekannten Soldaten enthielt, und das nicht nur das Gedenken an die Toten und den Krieg beging, sondern auch an einen Sieg, denn es handelte sich um das gigantische Monument für den Sieg von Tannenberg von 1914. Die Nationalsozialisten sollten es übrigens mühelos in Besitz nehmen, indem sie 1935 dort Hindenburg beerdigten und es dabei als Reichsehrenmal bezeichneten. Hitler wusste übrigens immer diese nationalistischen Kriegsdarstellungen und diese Unfähigkeit, ein nationales und republikanisches Monument zu errichten, zu seinem Vorteil in Anspruch zu nehmen, indem er sich wiederholt selbst als der „unbekannte Soldat“ präsentierte364. Während es sich bei dem „unbekannten Soldaten“ anderer Nationen um einen Toten handelte, war dieser hier sehr lebendig, wie um mitzuteilen, dass der Krieg noch nicht vorbei war.

1.4. Die Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses nach dem Krieg – ein Vergleich: Das Beispiel der Kriegerdenkmäler Während die Untersuchungen zu den Kriegerdenkmälern auf nationaler wie auf regionaler Ebene heute zahlreich sind, bleiben die Vergleiche zwischen den nationalen Bereichen sehr selten oder übernehmen einen eher generalisierenden Standpunkt365. Einige Studien sind jedoch im Entstehen begriffen366. Man muss sich hier also darauf beschränken, diesen Vergleich zu umreißen, ausgehend von noch bruchstückhaften Angaben. Eine erste Feststellung drängt sich auf. In beiden Ländern werden, trotz der deutlich wahrnehmbaren Unterschiede, in großer Anzahl Kriegerdenkmäler gebaut. Die lokalen und berufsmäßigen Gemeinschaften, das sind jene, in denen für die Individuen Privatleben, öffentliches Leben und Alltäglichkeit zusammenfließen, übernehmen die Errichtung dieser Bauwerke. Die empfundene Notwendigkeit, Gedenkmonumente zu erbauen, drückt sich direkt nach dem Krieg in beiden Ländern aus und begleitet die Zeremonien zur Würdigung der Soldaten in ihren Städten, Dörfern und Häusern. In gewisser Weise geht es darum, die Toten in ihrer lokalen Gemeinschaft zu empfangen, auch sie auf symbolische Weise zu demobilisieren367. Dieser Wille, zu gedenken, indem man ein Monument für die Gefallenen errichtet, findet gleichwohl in Frankreich schneller eine konkrete Umsetzung. In Deutschland macht die Niederlage den Konsens bezüglich des Diskurses über die Kriegstoten viel schwieriger, und das politische und wirtschaftliche Chaos erschwert die Freigabe der finanziellen Mittel. 364 365 366 367

Ebd. U. a. Koselleck 1992 [344], Koselleck/Jeismann 1994 [345]. Weinland 1994 [411], Tietz 1994 [399] und Inglis 1994 [338]. Tison 2005 [400], S. 12.

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Wenn in Frankreich einmal die Entscheidung getroffen ist, sind die Debatten in den Gemeinderäten oft lebhaft bezüglich der dem Monument zu gebenden Form368, die Entscheidung, es zu bauen, ist dagegen sehr einvernehmlich, und der Zeitdruck beschleunigt schließlich die Entscheidung über die Form des Monuments. Die Monumente zeichnen sich in Frankreich – das ist nicht der Fall in Deutschland – durch eine „dreifache Universalität“369 aus: räumlich, denn man findet sie nahezu überall, zeitlich, denn sie werden pausenlos für Zeremonien genutzt, und politisch, denn das Prinzip ihrer Errichtung ist Gegenstand eines Konsens von der Spitze des Staates bis zu den Bürgern. Der Staat selbst unterstützt diese Bewegung durch das Gesetz vom 25. Oktober 1919, indem er das Prinzip einer Subvention entsprechend dem Opfer der dörflichen Gemeinschaft einführt. Aber oft sind die Entscheidungen und die Komitees, die sich gründen, um das Projekt des Kriegerdenkmals durchzuführen, älter als das Gesetz. So stimmten im Departement Sarthe 70 % der Kommunen für die Errichtung des Denkmals schon 1919 –1920370. In einem aufrüttelnden und daher Verbindungen schaffenden Vorhaben mobilisiert das Projekt der Kriegerdenkmäler also „auf enge Weise die Bürger, die Gemeinden und den Staat371“. Die Schnelligkeit der Entscheidungsfindung fördert somit eine gewisse Gleichförmigkeit der Denkmäler, die häufig per Katalog bestellt werden. Die Nähe zum Krieg erklärt zweifellos, warum nur wenige dieser Monumente pazifistisch sind. Der Pazifismus stellt noch nicht den allseits geteilten Wert und das zentrale Interpretationsinstrument dar, zu dem er Mitte der zwanziger Jahre werden wird. Auf der anderen Seite sind absichtlich und offensiv nationalistische Denkmäler ebenfalls rar. Die Symbole und die Formen der Denkmäler betonen in Frankreich de facto die konsensuelle Dimension, die sich an die Entscheidung anschließt, sie zu bauen. Die kleinen Unterschiede überwiegen die großen Differenzen, und der Eindruck, der sich zumeist offenbart, ist der einer Variation ein und desselben Themas: Das Grab betreffende, staatsbürgerliche, patriotische und republikanische Dimensionen und Symbole – direkte religiöse Symbole sind, außer an geweihten Orten (Kirchen und Friedhöfen), verboten, finden sich aber bisweilen in veränderter Form (etwa ein Kriegskreuz auf der Spitze des Denkmals, eine Pietà mit Soldaten) – kommen häufig vor, bisweilen zusammen, manchmal in wechselnden Kombinationen gemäß der politischen Orientierung des Gemeinwesens oder lokaler Faktoren372. Im Folgenden wird das Monument einer der zentralen Orte des kollektiven und sozialen Lebens des Dorfes. Es wird genutzt für die Gedenkfeiern, die einem echten Ritual folgen und die, wenn nötig, die Grabdimension des Denkmals ver368 Ebd., S. 14. Siehe z. B. den Fall der Kommune von Guérigny im Departement Nièvre in Moisan 1999 [367], S. 127. 369 Helias 1979 [331], S. 739–740. 370 Tison 2005 [400], S. 14. 371 Prost 1984 [381], S. 196. 372 Prost 1984 [381] und Becker 1988 [273].

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stärken, aber auch zu anderen Gelegenheiten. So ist es im Departement Marne nicht selten, dass bis in die dreißiger Jahre bei Hochzeiten ein Blumengebinde am Kriegerdenkmal abgelegt wird373. Diese zentrale Rolle des Kriegerdenkmals zeigt deutlich seine Dimension der Wechselwirkung und des Ausgleichs zwischen Lebenden und Toten, Soldaten und Zivilisten, die gleichzeitig darauf abzielt, über die Toten hinwegzukommen und eine größtmögliche gemeinsame Vorstellung vom Krieg zu erschaffen374. Deutschland erlebt ebenso die Errichtung sehr vieler Monumente. Das kommunale Model ist allerdings weitaus weniger systematisch als in Frankreich. Man errichtet vor allem sehr viele Monumente für Regimenter, die von der Linken häufig als direkter Ausdruck eines Gedenkens an die Armee gesehen werden, bisweilen in Konkurrenz zu dem an die Republik. De facto vermehrt die Errichtung der Kriegerdenkmäler auf lokalem Niveau oftmals die merklichen Konflikte um die Frage nach dem Unbekannten Soldaten. Die Polemik ist häufig viel lebhafter als in Frankreich und überhäuft die Institutionen, die die Denkmäler errichten wollen. Während die Konflikte in Frankreich, wenn sie stattfanden, meistens im Rahmen des Gemeinderats blieben, war es in Deutschland nicht selten, dass sie auf die Straßen überschwappten und sogar die Augenblicke der Andacht bei den Einweihungen belasteten. So war in Berlin bei Einweihungsfeiern fast immer Polizeischutz nötig375. Die monumentale Erinnerung an 1914 –1918 war absolut nicht einvernehmlich und blieb während dieser Zeit ein heißes Eisen, dessen Politisierung zunehmen sollte. Dieser „Stellungskrieg der Denkmäler“376 war ein Ausdruck eines Krieges der Erinnerungen, der viel heftiger tobte als in Frankreich, wo der dreifache republikanische, patriotische und pazifistische Konsens (fast) immer die Versuche subsumierte, die Huldigung der Toten zu politisieren. Die Errichtung der Denkmäler findet zudem später statt als in Frankreich, und ihr Standort variiert stärker. Nur selten stehen sie wie in Frankreich im Zentrum des Dorfes. Sie korrespondieren zumeist mit der kurzen Phase der inneren Beruhigung der Republik in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre377. Wie in Frankreich war dieser einträgliche Markt in den meisten Fällen, wie Thomas Mann es beschreibt, in „robustere(n) und gedankenlosere(n) Hände(n)“378, und die gewählten bildhauerischen Lösungen sind letztendlich – bis auf bemerkenswerte Ausnahmen wie das Barlach-Denkmal in Magdeburg – ziemlich konventionell und der christlichen Kunst entliehen (Pietàs, Kruzifixe)379. Wenn sie auch weniger säkularisiert sind als in Frankreich, drücken diese Denkmäler doch ebenso 373 374 375 376 377 378 379

Tison 2005 [400], S. 10. Becker 1988 [273] und Tison 2005 [400]. Saehrendt 2004 [389], S. 31–53. Ebd., u. a. S. 156. Berger 1994 [289]. Zitiert nach ebd., S. 433. Ebd.

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II. Fragen und Perspektiven

die immense Trauer aus, die die Gesellschaft empfindet. Dies ist in der Tat, wie im Nachbarland und trotz der vom Sieg und der Niederlage verursachten Unterschiede, der gemeinsame Nenner der Trauer, für den sich die Gemeinschaften (Unternehmen, Kommunen, Institutionen) entscheiden. Aber wenn man Gerd Krumeich folgt, reichen diese lokalen und verspäteten Initiativen nicht aus, um die Einsamkeit der Trauernden und Kriegsversehrten zu kompensieren: „Die deutsche Gesellschaft verfügte über keinen Resonanzboden für deren Leid und Schmerz“380. Dieser Mangel an Resonanz verstärkte sich angesichts eines gewaltigen Konflikts der Interpretationen, der sich nicht auf die Debatten über den Unbekannten Soldaten oder die Kriegerdenkmäler beschränkte, sondern sich beispielsweise in den Polemiken um das Buch und den nach ihm gedrehten Film Im Westen nichts Neues381 oder auch um den 80. Geburtstag Hindenburgs zeigte382. Die gewählte monumentale Symbolik konnte ebenso ein Diskussionsthema sein. Als sie an der Macht waren, zögerten die Nationalsozialisten nicht – ebenso wenig wie bei der pazifistischen Literatur, die sie nicht für sich ausnutzen konnten –, die Kriegerdenkmäler zu zerstören oder zu entfernen, deren Ästhetik nicht ihrer Vorstellung vom Gedenken an den Krieg entsprach, etwa die von Ernst Barlach. Meistens aber mussten sie das gar nicht, denn eine große Zahl dieser Monumente drückte, zusammen mit der Trauer, auch einen aggressiven und nationalistischen Wunsch nach Revanche aus383. Wie jüngste Studien zu den Denkmälern gezeigt haben, organisiert sich das Gedenken an die Kriegstoten um ein Gedenkdreieck: der Leichnam in der Grabstätte, auf dem Friedhof oder im Beinhaus, der Name auf einem Kriegerdenkmal inmitten engbegrenzter Gemeinschaften, hauptsächlich lokaler oder beruflicher Natur, und der symbolische Körper ohne Namen im Herzen der Nation. In Deutschland fehlt in diesem Fall eine dieser Spitzen des Dreiecks, der Unbekannte Soldat. Weiterhin ist ein anderer der Eckpunkte des Dreiecks weit entfernt in fremder Erde und schwierig zu erreichen für die Trauergemeinschaft, seien es die Familie oder die Kameraden. Ein Element, das sich noch an die Problematik, den vergangenen Krieg zu überwinden, anschließt.

380 Krumeich 2004 [352], S. 70. 381 Ebd., S. 70 –71. Zur Kriegsliteratur als Zeichen der kulturellen Demobilisierung und Remobilisierung siehe hier Abschnitt II.6.2. 382 Saehrendt 2004 [389], S. 51–53 383 Weinland 1994 [411], S. 423.

2. Wiederaufbauen und Reparieren 2.1.

Das Land und die Städte 2. Wiederaufbauen und Reparieren

Die Männer sind verletzt, das Land ist verletzt. Der Geograph Albert Demangeon beschrieb 1920 in seinem Werk mit dem vielsagenden Titel Le déclin de l’Europe (Der Niedergang Europas) die Landschaften und Departements im Norden und Osten Frankreichs: „In Nordfrankreich ist es eine Katastrophe, die alles umgestürzt hat; man beklagt nicht nur die Verwüstung der Wälder, der Fabriken, der Bergwerke, der Häuser, die gerne vom Feind vollendet wurde; man muss diese Zone in Gedanken wiedersehen, auf einer Länge von 500 Kilometern und 10 bis 25 Kilometern Breite, die der Kriegsfront folgt und deren Mangel an Anbau zusammen mit der Zerstörung der guten Erde sie in eine Wüste, eine wilde Steppe, eine Vulkanlandschaft verwandelt hat“384.

Die Zahlenangaben zu den Zerstörungen, so konsequent sie auch sein mögen – 620 ausgelöschte Dörfer, nahezu 300 000 zerstörte und 500 000 beschädigte Häuser385, „2 500 000 Hektar Ackerland verwüstet, 62 000 km Straßen, fast 2000 km Kanäle und 5000 km Bahngleise“386 –, machen nur schwer das Ausmaß der Zerstörungen und vor allem ihre psychologischen Auswirkungen klar. Die völlige oder teilweise Zerstörung der privaten Wohnstätte ist in der Tat ein heftiger psychischer Schock. Die Grenze zwischen drinnen und draußen, zwischen dem Raum des Intimen und des sozialen Lebens ist verletzt. Dazu kommen noch die materiellen Schwierigkeiten. Das „Leben in den Ruinen“, wohlbekannt aus dem Zweiten Weltkrieg, ist auch für einen Teil der französischen Bevölkerung Realität. Obwohl die Literatur ausgiebig über die materiellen Zerstörungen berichtet, bleibt die Wirklichkeit derer, die ihrer Häuser beraubt sind, bisweilen von den Landsleuten unverstanden, die diese Prüfung nicht durchleben. Mitunter beschuldigt man sie sogar, vom Geldsegen des Wiederaufbaus zu profitieren. Der Veteran Roland Dorgelès geht in seinem 1923 veröffentlichten Roman Le réveil des morts (Das Erwachen der Toten) nicht sanft mit den Bewohnern der aufzubauenden Territorien um. Er präsentiert sie als kleinlich, verzagt, versessen darauf, die Staatssubsidien einzustreichen und sich dann um sie zu streiten, ja sogar darauf, von der Not der Familien bei der Suche nach den Körpern der an der 384 Zitiert nach Becker/Berstein 1990 [236], S. 169. 385 Ebd., S. 166. 386 Deperchin 2004 [702], S. 1125. Vgl. auch Clout 1996 [699] und Clout 2003 [700].

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II. Fragen und Perspektiven

Front verstorbenen Soldaten zu profitieren. Aber er stellt die Bewohner der quasi völlig zerstörten „roten Zonen“ auch als Opfer von Betrügern, von inkompetenten Verwaltungen oder bankrotten Firmen dar. Es ist tatsächlich wahr, dass sich viele Skandale und Unterschlagungen, die auch Politiker betrafen, ereigneten387. Außerdem haben die bisweilen kleinliche Verwaltung, die Langsamkeit bei der Freigabe der Fonds oder der rückwärtsgewandte Aspekt der ästhetischen Entscheidung der Kritik an dem damals „Wiederherstellung“ genannten Prozess Nahrung gegeben, außerdem schien den Einwohnern die Priorität bei der Industrie und der Standardisierung der gelieferten Wohnungen zu liegen388. Dennoch sieht die Bilanz, trotz der Schwäche der zu diesem Zweck eingetriebenen Reparationen – man schätzt, dass diese weniger als 30 % der gesamten für den Prozess freigemachten Summe ausmachten –, bei weitem nicht so schwarz aus389. Es war nur Zeit nötig, um diesem verwüsteten Teil Frankreichs die Erscheinungsform einer menschenfreundlichen und bewohnbaren Landschaft zu geben. Ein Gesetz vom April 1919, das auch die „Charta der Geschädigten“ genannt wird, setzt die großen juristischen Prinzipien des Wiederaufbaus fest und definiert den Platz des Staates gegenüber den territorialen Körperschaften, den Unternehmen für öffentliche Arbeiten und Bauten und den Wiederaufbaukooperationen, die von den Geschädigten selbst und den lokalen Eliten geschaffen wurden. Es legt auch das Prinzip einer nationalen Solidarität und die staatliche Sorge der Wiederaufbaufinanzierung gemäß eines Versprechens von 1914 fest. Der Wiederaufbau ist wohlgemerkt eine sensible deutsch-französische Frage, denn er sollte normalerweise in großem Maße von den Reparationszahlungen des ehemaligen Feindes profitieren. Jede Verzögerung oder Unzulänglichkeit in diesem Prozess löst potentiell eine deutsch-französische Krise aus, denn die Geschädigten üben Druck auf den Staat aus, damit dieser seine Versprechen einhält und die geschuldeten Reparationen eintreibt. Die harte Politik Frankreichs gegenüber Deutschland erklärt sich auch aus diesem doppelten inneren Druck: die öffentliche Meinung in den am meisten vom Krieg betroffenen Gebieten zufriedenzustellen und auch die aufgenommenen Schulden so weit wie möglich zu reduzieren, um möglichst schnell den teuren Wiederaufbau zu finanzieren. Ungefähr 200 000 deutsche Gefangene wurden sogar in Frankreich zurückgehalten, um direkt an den Wiederaufbaubemühungen mitzuwirken, vor allem indem sie an der Seite von 25 000 chinesischen Arbeitern die Minenräumung und die Säuberung des landwirtschaftlichen Bodens übernahmen390. Für die nicht vom Krieg betroffenen französischen Bevölkerungsteile und für das Ausland ist der Wiederaufbau auch die Möglichkeit, Solidarität mit den Geschädigten zu zeigen. Die Stadt Bergen finanziert einen Teil des Wiederaufbaus 387 388 389 390

Ibid., S. 1136. Voldman 2002 [727], S. 377. Gugelot 2002 [712], S. 473. Clout 2003 [700], S. 168; Delpal 2001 [309].

2. Wiederaufbauen und Reparieren

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des Dorfes Bouchavesnes an der Somme, das von den Kämpfen völlig zerstört worden war. Als Anerkennung dafür fügte dieses den Namen der norwegischen Stadt an seinen an, um an diese Geste zu erinnern. Von 1917 bis 1924 schickte das amerikanische Komitee für die verwüsteten Regionen (le comité américain pour les régions dévastées – CARD) 350 amerikanische Bürger, um am Wiederaufbau im Departement Aisne mitzuwirken, wo sie Schulen, Bibliotheken, Ambulanzen, Lebensmittelgeschäfte eröffneten und durch Kollekten und den Einkauf von Material und Tieren am agrarischen Wiederaufbau teilhatten391. Insgesamt ermöglichten das Engagement des Staates und die karitative Unterstützung aus dem Ausland einen weniger raschen Wiederaufbau als in Belgien, er war aber in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre mehr oder weniger beendet. Die zahlreichen kürzlich durchgeführten Studien zu diesem Thema392 haben gezeigt, dass der Wiederaufbau hinter der historisierenden und regionalistischen Fassade der ästhetischen Entscheidungen in vielen Bereichen eine Modernisierung bewirkt hat393. Er ging auf dem Land häufig mit einer Flurbereinigung einher, die eine bessere landwirtschaftliche Nutzung der Böden erlaubte, sowie mit einer deutlichen Verbesserung der ländlichen Wohnstätten durch Umstellung von Ziegelstein auf Lehm in zahlreichen Regionen, einer Anpassung an die hygienischen Normen der Zeit und einer Vergrößerung der bewohnbaren Flächen394. Auch die öffentlichen Netze (Schienen, Straßen, Elektrifizierung) und die Modernisierung der Industrie haben vom Wiederaufbau profitiert, ebenso wie die neuen Konstruktionstechniken. Die Industrie profitiert von den mit diesen Bemühungen verbundenen Aufträgen, was sich in der Wirtschaft allgemein deutlich macht, deren Wachstumsrate zwischen 1921 und 1929 im Durchschnitt 9,5 % beträgt. Aber dieses Wachstum ging zum großen Teil auf Kosten eines Staates, der sich noch mehr verschulden musste, und trug auch zu einer Inflation bei, die bereits vom Krieg verschärft worden war. „Als der Wiederaufbau zu Ende geht, sind die Erwartungen, die sich in allen Bereichen damit verbunden hatten, enttäuscht worden“395, und verhindern, sich über die realen Erfolge klarzuwerden. Dies auch deshalb, weil Frankreich bei Beendigung des Prozesses um 1930 in die Krise eintaucht.

391 Historial de la Grande Guerre 2002 [336]. 392 Allein über das Departement Pas-de-Calais wurden bis 2002 über 40 Studentenarbeiten verfasst, davon eine große Anzahl am Ende der 1990er Jahre und nach 2000: Bussière/ Macilloux/Varaschin 2002 [698], S. 11–12. 393 Ebd., S. 291– 322. 394 Ebd., S. 113 – 274; Sousa 2001 [723], S. 146–184. 395 Deperchin 2004 [702], S. 1136.

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II. Fragen und Perspektiven

2.2. Die verletzten Körper und Seelen der Heimkehrer Auch wenn sie die Trauer und die Traurigkeit in den Vordergrund stellen – wie viele bestehende Pietàs in Frankreich und Deutschland – und nicht den Heroismus oder die Aufopferung verherrlichen, sind die Denkmäler Teil einer Bewegung der Rückversicherung und der Entängstigung der Überlebenden. Indem sie versuchen, die durch den Krieg verletzten Identitäten zu heilen, schaffen sie gleichzeitig Überlebende der Nachkriegszeit. Sie tun dies, indem sie die toten Körper reparieren, die bis auf sehr wenige Ausnahmen immer in ihrer körperlichen Unversehrtheit gezeigt werden. Diese intakten Körper als Symbole der toten Helden machen den Anblick der bisweilen grauenvoll verstümmelten Körper der Kriegsüberlebenden nur noch unerträglicher. Während die Kriegerdenkmäler und die Militärfriedhöfe dazu neigen, das wahre Gesicht des Krieges zu verschleiern, ohne dies immer zu schaffen, zeigen die Körper der Geschädigten und die kaputten Gesichter in gewisser Weise das wahre Gesicht des Krieges, dem man nicht ins Auge sehen will und kann. Die rebellischen Künstler der Weimarer Republik von Dix bis Grosz über Heartfield und Ernst Friedrich396 irrten sich darin übrigens nicht. Die Kriegsversehrten sind in der Tat eines der am weitesten verbreiteten Motive der politischen Malerei und der Neuen Sachlichkeit in den zwanziger Jahren und zu Beginn der dreißiger Jahre. Die lebenden, aber „beschädigten“ Körper kontrastieren heftig mit den intakten und häufig „aufrechten“ Körpern der Kriegerdenkmäler. In diesem Sinne war der Kampf der Nationalsozialisten gegen die „entartete Kunst“ auch ein Kampf um das Kriegsgedenken. Sie wollten den Kriegsmythos erhalten, den die Künstler antasteten, indem sie schonungslos die Konsequenzen des Krieges für die Körper malten. In Deutschland war der Skandal umso stärker, als diese Körper nicht nur an die Kriegsrealität, sondern auch an die Niederlage erinnerten. Der Ausschluss und die soziale Marginalisierung, unter der die von der „Kriegsneurose“ getroffenen, „vom Krieg Schockierten“ litten, verliefen ebenso. Sie widersetzten sich dem Stereotyp des unerschrockenen und Schmerzen ertragenden Mannes, ja „verrieten“397 es sogar, indem sie den „körperlichen und geistigen Gegensatz“ zur „idealen Männlichkeit“398 darstellten. Der traumatische Schock wurde demnach als „ein sozialer Gradmesser“399 konstruiert, als schmachvolles Stigma und Garantie dafür, dass derjenige, der daran litt, aufgrund seiner sozialen Abweichung dafür prädestiniert war. Auch hier reiht sich der Kampf, den die Nationalsozialisten gegen die geistig Kranken führten, in die Geschichte ein, 396 Friedrich 2004 (1924) [48], siehe II.7 und Colloti 2004 [490], Jürgens-Kirchhoff 2002 [507]. 397 Mosse 2000 [372], S. 32. 398 Ebd., S. 28. 399 Ebd., S. 31.

2. Wiederaufbauen und Reparieren

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die auch eine Geschichte des Kriegsgedenkens ist, auch wenn Paul Lerner schreibt, dass „die deutsche Herangehensweise an die Kriegsneurotiker keine ,Militarisierung der Medizin‘ pränationalsozialistischen Typs darstellt, sondern nimmt vielmehr die häufig ambivalente Rolle der Berufsmediziner im modernen Wohlfahrtsstaat vorweg“400. Die Kontinuität zwischen Vor- und Nachkriegszeit entfaltet sich weniger in den Praktiken als in den übermittelten Vorstellungen. Denn die Mediziner, vor allem die konservativsten unter ihnen, lehnen den Krieg als erste Ursache des Traumas ab und ziehen es vor, nach angeblichen Veranlagungen zu suchen. Sie bekämpfen sogar die Auszahlung von Invalidenrenten an diese Kranken und behaupten, diese bestärkten sie in ihrem Leid, dessen Ursachen außerhalb des Krieges zu suchen sei401. Der Kampf für oder gegen die Renten war auch der Ort einer „Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Berichten über den Krieg und sein traumatisierendes Potential“402, also ein Kampf über und für das Kriegsgedenken. Die konservativen Mediziner lehnten sogar jegliches Mitleid ab. Sie verdrehten den Kausalzusammenhang: Der Aufenthalt in einer „verweichlichten Heimat“ wurde als Hauptursache für die Verschlechterung des Zustandes der Kranken gehalten, die zu stark des „weiblichen Mitleids“ ausgesetzt seien403. Indem sie sich weigerten, die Kriegsopfer zu sehen, löschten die Mediziner die Realität des Krieges aus und trugen somit auch dazu bei, seinen Mythos zu pflegen, und damit „machte sich die medizinische Wissenschaft der Erinnerung zum Komplizen eines verhängnisvollen Aktes des Vergessens“404. Der Fall der „Kriegsneurotiker“ war zweifellos der extremste. Sie waren tatsächlich nicht nur marginalisiert oder ausgeschlossen wie die anderen Kategorien von Opfern, die den Krieg überlebt hatten, sondern sie wurden sogar indirekt des Verrats beschuldigt. Zudem war ihre Stimme – und damit ihr Leiden – im Gegensatz zu den Beschädigten und anderen „körperlich“ Verletzten unhörbar, denn sie wurden als „verrückt“ betrachtet. Sie konnten nicht einmal als soziale Gruppe auf die öffentliche Politik und die sozialen Maßnahmen der Anerkennung einwirken, wie es andere Opferkategorien wie beispielsweise die Kriegsgeschädigten und -verletzten taten, die der Stimme der Überlebenden Gehör zu verschaffen suchten. Den beiden Gesellschaften ist gemein, dass sie bei den Maßnahmen der Anerkennung den „im Feuer Gestorbenen“ einen zentralen Platz im Vergleich mit den anderen Opfern einräumen, vor allem den Kriegsgefangenen, den zivilen Opfern, sogar den von der Front zurückgekehrten Soldaten. Letztere erreichen dennoch, wie die Zeremonien zur Rückkehr der Regimenter von 1918 –1919 oder auch die Wahl zahlreicher Abgeordneter ins Parlament zeigen, eine Form der Anerkennung. Die Situation der Soldatenwitwen ist im Gegensatz dazu viel schwie400 401 402 403 404

Lerner 2000 [360], S. 82. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Zitiert nach ebd., S. 86–87. Ebd., S. 87.

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riger. In Frankreich mussten sie mit ansehen, wie ihre Kaufkraft seit 1920 im Vergleich zu 1914 auf die Hälfte sank. Ein Ausgleich 1925 schuf nur sehr partiell Abhilfe gegen diesen Zustand, denn „die Pensionsraten blieben 40 % unter den Lebenshaltungskosten“405. Man sah ein Nachregulieren über drei Jahre ab 1928 vor, aber die Krise setzte der kurzen Aufheiterung ein Ende. Der Staat senkte die Pensionen selbst 1934 unter der Volksfrontregierung. Wenn sich auch die Schwerinvaliden des Krieges vom Blickwinkel der Pensionen aus in einer beneidenswerteren Situation befanden, mit einer viel regelmäßigeren Steigerung als bei den Witwen, waren die Invaliden mit einem Invaliditätsgrad unter 85 % in einer ähnlichen Situation wie die Kriegswitwen406. Der Platz der Veteranen und hauptsächlich der Kriegsversehrten ist, trotz unzweifelhafter Gemeinsamkeiten, in beiden Ländern sehr unterschiedlich. In Frankreich ergänzt der Staat eine intensive Unterstützungsarbeit der Vereinigungen, die aus der Zivilgesellschaft oder bereits existierenden Institutionen – wie der Schule – hervorgegangen sind, indem er 1917 ein Gesetz erlässt, das die Einrichtung der „Mündel der Nation“407 schafft, die sich an Millionen Kriegswaisen richtet. In Deutschland dagegen scheint die staatliche Hilfe für die Kriegsopfer und ihre Familien vollständig und großzügiger zu sein als das französische System der Pensionen408. Dennoch haben Spezialisten festgestellt, dass der Prozess der Marginalisierung der Kriegsversehrten und die Misere, die sich daran anschließt, in Deutschland viel intensiver ist als in Frankreich oder Großbritannien. „Gefeiert als Helden im Krieg“, sind sie „menschliche Ruinen“ geworden, wie es ein Arzt jener Zeit beschreibt, und „vergessen als Krüppel nach 1918“409. Zusätzlich dazu, lebende Zeichen des Kriegshorrors zu sein, sind sie mehr noch Zeichen der Niederlage Deutschlands. Sie sind daher gleichzeitig lebende Opfer, die „unmittelbar eine materielle und symbolische Kompensation“410 fordern, und lebende Vorwürfe. De facto ist es die Kraft der Darstellung der Kriegsversehrten durch die Gesellschaft, aber auch durch sie selbst411, die den Prozess der Marginalisierung, sogar der Auto-Marginalisierung in Gang bringt. Denn eine latente Feindschaft stellt sie dem Rest der Gesellschaft gegenüber, die sie bisweilen verdächtigt, „falsche Invaliden“ zu sein oder in Zeiten erhöhter Arbeitslosigkeit412 von reservierten Arbeitsplätzen zu profitieren sowie auch indirekt vom Weimarer Regime, das trotz allem eine Gesetzgebung und Pensionen zu ihren Gunsten geschaffen hat. Diese besonderen Arbeitsplätze konnten ebenfalls zur Marginalisierung beitragen, denn diese 405 406 407 408 409 410 411 412

Petit 2004 [374], S. 122. Ebd. Faron 2001 [318]. Geyer 1983 [321], S. 276 ff.; Whalen 1984 [408]; Cohen 2001 [299]. Zitiert nach Kienitz 2001 [343], S. 156–157. Ebd., S. 157. Cohen 2001 [299]. Kienitz 2001 [343], S. 162 und 165.

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„Hauswart, Wachmann, Kassierer“-Stellen erlaubten zwar Kontakt mit der Öffentlichkeit, doch aus diesen Beziehungen entstanden selten echte soziale Bindungen. Nach und nach politisierten sich die Vereinigungen für die Kriegsversehrten immer mehr und drifteten zur extremen Rechten und ihrer Radikalopposition zur Republik ab, denn deren heroische Vision des Großen Krieges und ihre Weigerung, sich als Besiegte zu sehen, korrespondierte mit dem Bild, dass sie sich selbst von ihrem Krieg machen konnten. Wenn auch in Frankreich die Vereinigungen nicht zögerten, die schwierige Wiedereingliederung anzuprangern – das Land selbst begründete während des Krieges häufig Vereinigungen von Geschädigten, die bei der Bildung von großen Veteranenassoziationen sehr aktiv waren –, und wenn es auch bettelnde Kriegsversehrte gab wie in Deutschland413, blieben die Konflikte sporadisch und wurden niemals zu einer politischen Opposition gegen das Regime und die Gesellschaft verallgemeinert, selbst wenn der Antiparlamentarismus von einigen Veteranen geteilt wurde. Im Gegensatz zu Deutschland setzen sich die nach und nach von den Veteranen geprägten Vorstellungen vom Krieg um die zwei Pole eines einvernehmlichen Pazifismus und des Patriotismus in der gesamten Gesellschaft durch und bilden den Kern der kollektiven Kriegserinnerung. Wenn die Unterschiede, die mit der spezifischen Erfahrung der Verletzung und Verstümmelung verbunden sind, zur Herausbildung neuer sozialer Identitäten beitragen können, tun sie dies nicht in Frontalopposition zur politischen Identität des Regimes. Das bekannteste Beispiel ist das der gueules cassées. Die Erfahrung der Verletzung im Gesicht und ihre langfristigen Konsequenzen führte zu einer sehr starken Gruppenbildung der Verletzten untereinander, die sie manchmal dazu brachte, sich von der Welt zurückzuziehen, so unerträglich konnte ihnen der mitleidige Blick auf sie erscheinen. Außerdem konnte ihre soziale Situation katastrophal sein, denn es war sehr schwierig für sie, eine Arbeit zu finden414. Dennoch ist dieser Ausschluss niemals total, noch wird er als total empfunden. Die Anwesenheit der gueules cassées bei der Zeremonie zur Unterzeichnung des Versailler Vertrages bezeugt das. Mehr aber noch ist es ihre 1921 von Oberst Picot gegründete Vereinigung, die Union des blessés de la face oder gueules cassées, die es ihnen erlaubte, sich nicht als Ausgeschlossene zu fühlen. Sie bot ihnen einen Raum zur Resozialisierung und für das „Unter-sich-Sein“ an, unterstützte sie bei ihren Bemühungen um soziale Wiedereingliederung, kämpfte für eine Erhöhung der Invaliditätssätze und wurde nach und nach von der Obrigkeit und der gesamten Gesellschaft unterstützt, die großzügig auf ihre Appelle reagierte, wie vor allem auf den zur Bildung eines „Hauses der gueules cassées“. Es wurde 1927 vom Präsidenten der Republik eingeweiht und mit dem Status einer öffentlichen Einrichtung versehen, was ihm erlaubte, Vermächtnisse zu empfangen415. Zusammen mit anderen Geschädigten413 Prost 1977 [379], S. 56 ff. 414 Delaporte 1996 [310], S. 125 ff., 163 und 173. 415 Ebd., S. 173 –198.

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vereinigungen lancierten sie 1933 eine nationale Tombola „Die Schuld“, die zum Ausgangspunkt für die Schaffung der Nationallotterie 1933 wurde. Die gueules cassées erhielten bei dieser Gelegenheit das Recht, Banknoten zu einem Zehntel des Ursprungswertes auszugeben, was großen Erfolg hatte und die Vereinigung erheblich bereicherte, die so ein ökonomischer Akteur wurde und nicht mehr nur eine Wohltätigkeitsvereinigung. Dieses Beispiel illustriert den Unterschied der symbolischen Position, den Kriegsversehrte in Frankreich und in Deutschland hatten. Der Zeitraum von 1918 bis 1933 war nicht nur von den vielgestaltigen Verletzungen des Krieges geprägt, sondern auch von seinen zutiefst zerstörerischen Auswirkungen auf das Lebensniveau gezeichnet, noch verstärkt durch die wirtschaftlichen und sozialen Krisen. Die beiden Phänomene sind miteinander verbunden, und das nicht nur, weil sie selbst eng verbunden waren mit der Demobilisierung der Kriegswirtschaft, mit dem finanziellen Abgrund, den sie repräsentierten, und mit dem Inflationsschub, der sie begleitete. Somit werden einige Gruppen, die bereits direkt am Krieg leiden mussten, mit voller Wucht von den Wirtschaftskrisen getroffen, wie die Kriegsrentenempfänger (Versehrte, Witwen), deren Pensionen nicht den Preissteigerungen folgen, das Bürgertum und die Mittelklasse, die einen hohen Blutzoll entrichtet hatten, und die Rheinländer oder Bewohner des Ruhrgebiets, die zusätzlich zu den wirtschaftlichen Risiken bis 1924 direkt von den deutsch-französischen Beziehungen abhängen. Die Auswirkung der Krise ist in Deutschland – wie wir gesehen haben – noch viel heftiger und trifft das System der Pensionen umso mehr, als es freigebiger ist als in Frankreich. Die Kriegsopfer – Veteranen, Versehrte, aber auch Waisen und Kriegskinder – werden auch versuchen, sich selbst wieder aufzurichten, indem sie anfangen, zugleich der Erinnerung an den Krieg und der Epoche, in der sie zu leben beginnen, einen neuen, häufig politischen Sinn zu verleihen. Der beträchtliche soziale Umfang des politischen Aktivismus dieser Periode kann tatsächlich als eine Form der Reparatur durch die Erfindung eines individuellen und kollektiven Sinns erscheinen.

2.3. Leere ausfüllen und Lehre aus dem Krieg ziehen: militante Diskurse und Praktiken am Beispiel der Dolchstoßlegende Die körperlichen und seelischen Wunden wiederherzurichten und zu behandeln, reicht nicht immer aus, um die vom Krieg geschlagene Wunde wieder zu schließen. Für die Individuen und die sozialen Gruppen ging es auch darum, dem vergangenen Krieg einen Sinn zu verleihen. Allerdings wechselt der Sinn, der dem Krieg gegeben wurde, in dem Moment, wo er beendet ist. Der Sieg kann nun nicht mehr die Hauptperspektive sein. Ebenso muss man mit dem Resultat des Krieges umgehen. Ein Resultat, das sich nicht nur auf zwei Wörter reduziert: Sieg oder Niederlage. Diese zwei Wörter müssen in Zusammenhang mit dem „trocke-

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nen Verlust“416 gesehen werden, was für beide Länder, und für alle kriegführenden Länder im Allgemeinen, die menschliche Bilanz des Konflikts vor Augen führt. Diese Bilanz lastet auch auf dem Sinn, der dem Konflikt zu geben ist, und verlangt nach Interpretationen. Die Kriegerdenkmäler stellen bereits eine Form der kollektiven Antwort auf die spezifischen, vom Tod im Kampf gestellten Fragen dar. Recht oft jedoch reichen sie nicht aus, und konkurrierende Diskurse, getragen von besonders aktiven sozialen Gruppen auf diesem Gebiet, tauchen auf. Die Politik repräsentiert durch ihre Reden und Praktiken, vor allem durch militantes Engagement, auch lediglich ein Mittel, um die Wunde des Krieges zu versorgen – oder im Gegenteil, um sie offen zu lassen für diejenigen, für die der Krieg keineswegs schon beendet war. Das Ende des Krieges vertieft die politischen Spaltungen in beiden Ländern noch. Sie verschärfen sich jedoch auf viel radikalere Weise in Deutschland als in Frankreich, auch wenn Letzteres direkt nach dem Krieg quasi aufständische Streiks sowie eine starke Anhängerschaft – ungefähr 130 000 – an die neue Kommunistische Partei erlebt hat, die aus der Spaltung der Sozialisten auf dem Kongress von Tours 1920 hervorging. Die deutschen Parteien sind, im Gegensatz zu den meisten französischen Parteien, Massenparteien und Parteien von Aktivisten, die ihre Mitgliederzahlen seit dem Kriegsende anwachsen sehen. Um nur drei hervorstechende Beispiele zu nennen: Die SPD entwickelt sich im Jahr 1918 von 250 000 Mitgliedern zu einer Million und pendelt in der gesamten Zeit um diese Million, die SFIO hatte ungefähr 53 000 Mitglieder im Jahr 1921 und maximal 137 000 1932, während die Radikalsozialistische Partei in dieser Zeit ungefähr 70 000 bis 100 000 Mitglieder hatte417. Folgt man den Autoren418, oszilliert die KPD zwischen 90 000 Mitgliedern 1919 und 200 000 bis 280 000 im Jahr 1931, mit Spitzen von bisweilen mehr als 350 000 Anhängern zwischen diesen Daten. Die NSDAP, lange Zeit eine Splittergruppe, zählt 1928 100 000 Mitglieder und 130 000 im Jahr 1930. 233 000 Anhänger schließen sich 1931 und 1932 noch der Partei an. Ganz sicher ist es nicht immer die Erinnerung an den Krieg, die den Anschluss an eine Partei und den Aktionismus motiviert, der bis hin zur Gewalt reicht419, aber dafür entwickelt jeder Erinnerungen an den Krieg, die von spezifischen paramilitärischen Vereinigungen getragen und oft von Veteranen geleitet werden. Diejenigen, die nicht direkt an eine Partei angelehnt sind – wie der Stahlhelm oder der Kyffhäuserbund –, sind dennoch nicht weniger politisiert420. In

416 Trevisan 2001 [401]. 417 Die Mitgliederzahlen stammen für diesen Abschnitt aus Mayeur 1984 [247] und Wahl 1999 [550]. 418 Wahl 1999 [550], S. 236. 419 Schumann 2001 [538]. 420 Zu diesen Vereinigungen siehe I.4.1.

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II. Fragen und Perspektiven

Frankreich muss man auf das viel spätere Auftauchen der Croix de Feu warten421 – gegründet 1927, aber erst 1931 wird sie zur Massenbewegung –, um ein vergleichbares Phänomen zu finden. Die Croix de Feu zählt 1934 ungefähr 200 000 Mitglieder oder Angegliederte. Vorher hatten es die Veteranen abgelehnt, dass ihre Organisationen auf ein militärisches Modell gegründet würden422. Im Falle Deutschlands stützen sich diese Aktivisten aller Seiten auf die tiefen Spaltungen – und pflegen diese sorgfältig –, die sich durch die deutsche Gesellschaft ziehen hinsichtlich des Sinns, den man ihr selbst und der Niederlage geben soll. Chronologisch betrachtet kristallisiert sich diese Opposition sehr rasch um die Debatte über den „Dolchstoß“ heraus. Während sie lange Zeit für eine politische Legende gehalten wurde, am Leben gehalten von der militaristischen und nationalistischen Clique, die es ablehnte, ihre Verantwortung an der Niederlage zu tragen, findet diese Legende dank zahlreicher jüngerer Arbeiten ihren Platz als ein grundlegendes Phänomen zum Verständnis der deutschen Zwischenkriegszeit423. Boris Barth konnte so zeigen, inwieweit große Teile der deutschen Eliten die Niederlage massiv abgelehnt haben. Diese Gesellschaftsschichten spielten damals die Rolle von „Multiplikatoren“ dieser Ablehnung in der Gesellschaft, indem sie ihre Verbreitung in unterschiedlicher Form sicherstellten. Seiner Meinung nach kann man nicht von einer Verdrängung sprechen, so sehr wird die Niederlage in jener Zeit thematisiert. Er zögert nicht zu sagen, dass die von der Legende induzierten „mentalen Deformationen, die intellektuellen Blockaden und die autoritären Dispositionen“ direkte Auswirkungen auf die Überlebensfähigkeit des republikanischen Regimes hatten. In chronologischer Hinsicht liegen die Wurzeln dieser Geschichte in den Kriegsjahren selbst. Die Spannung zwischen der Front und dem Hinterland ergreift die politische Tonalität zwischen dem Generalstab, der nach 1916 immer mehr für den totalen Krieg mobilisiert, und einem Teil der Zivilgesellschaft, die reichlich Probleme hat, der militärischen Forderung Folge zu leisten und die gleichzeitig wegen der Blockade starkem Druck ausgesetzt ist; was bisweilen die Politisierung der Proteste gegen die Lebensbedingungen nach sich zieht. In der Stunde der Abrechnung schieben sich Zivilgesellschaft und Generalstab die Verantwortung an der Niederlage gegenseitig zu – die allerdings schlicht und einfach ein militärischer Zusammenbruch war424. Indem sie sich gegenseitig beschuldigten, richteten sie ihre Vorwürfe ebenso an den diskreditierten Monarchen, aber vor allem an die Politiker und dabei hauptsächlich die Sozialdemokraten, die Akteure des Übergangs vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Was die mittleren und höheren Klassen betrifft – das Bildungsbürgertum und das protestantische Bürgertum vor allem –, das soziale Zentrum der Neudefinition der Nation durch 421 422 423 424

Kennedy 2007 [509], Kechichian 2006 [508], Nobécourt 1996 [523]. Prost 1977 [379], S. 86–88. Barth 2003 [270], Sammet 2001 [390], Jardin 2005 [340], Krumeich 2001 [349]. Jardin 2005 [340].

2. Wiederaufbauen und Reparieren

135

den Krieg, gingen sie zutiefst verletzt aus dem Konflikt hervor, aber auch gespalten hinsichtlich des Sinns, den sie der Niederlage geben sollten. Hauptsächlich in ihren Kreisen verbreitet sich die Dolchstoßlegende; eine Legende, die von den interpretativen Bruchlinien, die aus dem Krieg, dann aus der Revolution hervorgegangen sind, begünstigt wird, eine echte Selbstzerstörung des politischen Systems. Aber diese Legende ist, wie wir gesehen haben, auch das Ergebnis der Formen, die die Demobilisierung angenommen hat425. Der Mythos war umso schwerer zu bekämpfen, als seine Befürworter eine ehemals von allen zugegebene Offensichtlichkeit auszusprechen schienen, die aus der Demobilisierung hervorgegangene Vorstellung von der „unbesiegten Armee“. Seither ging es darum, die Verantwortlichen für diese Niederlage ohne Besiegte zu finden. Einige linke Parteiführer, die sich der Realität zum Trotz öffentlich rühmten, die Revolution vor dem Kriegsende geschürt zu haben, lieferten für die Anhänger der Dolchstoßlegende selbst Argumente. Außerdem beschwor die Fortsetzung des Krieges im Inneren und an den Grenzen des Reichs durch die Freikorps mittels der Methoden und der ausgeübten Gewalt diesen Glauben an einen inneren Feind herauf, der so weit ging, das Gesicht der gesamten bürgerlichen Gesellschaft anzunehmen. Es entstand somit ein neuer Typ von Militarismus: der „nihilistische Militarismus“ der Freikorps, der eine ganze Reihe von Kriegermythen transportierte und transformierte, darunter den der erdolchten Armee und des unvollendeten Krieges. Bei den Freikorps im Baltikum oder in Polen kam noch die Überzeugung dazu, ein zweites Mal von der republikanischen Regierung erdolcht und somit des befreienden Sieges im Osten beraubt worden zu sein426. Parallel zu der Hauptlegende entwickeln sich rasch andere Versionen. Die Monarchisten suchten eine Erklärung für den Sturz des Kaiserreichs, die Generäle versuchten sich von der Niederlage reinzuwaschen, indem sie auf Verschwörungstheorien zurückgriffen (Juden, Jesuiten, Bolschewisten etc.), die Theologen, die den Krieg als erlösend dargestellt hatten, versuchten, die Strafe der Niederlage zu verstehen, und lehnten die Verantwortung für die schlechte Leitung des Volkes abseits der Front ab, die völkischen Rassisten beschuldigten die Juden etc. Wenngleich diese verschiedenen Versionen bisweilen miteinander konkurrieren konnten, boten sie häufig die Möglichkeit einer sukzessiven Anhäufung und, damit verbunden, ein breites interpretatives Spektrum. Die verschiedenen Legenden konnten somit eine radikale und kumulative Version heraufbeschwören, sich aber auch sozial ausbreiten, indem sie für eine Reihe von sozialen Gruppen, deren Visionen von der Welt a priori gegensätzlich aussahen, ein anderes Gesicht annahmen. Diese Legenden schufen die Möglichkeit, die Vorstellung von einem Volk zu entwickeln, das von seinem eigenen Staat bedroht wird; einem Pessimismus freien Lauf zu lassen, der die Gesellschaft spaltet; oder den Krieg betreffende 425 Vgl. I.2. 426 Barth 2003 [270], S. 229 ff. und 379–405.

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II. Fragen und Perspektiven

„Erinnerungen zu erfinden“, die offensichtlich a posteriori vom ungerechten Versailler Vertrag bestätigt wurden. Unter den Schöpfern und Verbreitern dieser invented memories spielte das universitäre und studentische Milieu eine entscheidende Rolle als Ort der Umwandlung der im Krieg entstandenen Feindbilder zu Verschwörungstheorien427. In dieser Perspektive ist der kompromisslose Streit zwischen Pazifisten und Nationalisten über den Sinn des Krieges ein zentraler und kein marginaler Konflikt, der nur einige Intellektuelle betrifft; diese Debatte hatte ebenso eine kulturelle Dimension wie eine politische. Wenngleich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, als eine gewisse Entspannung einsetzt, der Dolchstoß weniger Platz in der Presse einnimmt428, so verschwindet er doch niemals völlig. Was also eventuell als ein Zeichen demokratischer Gesundheit hätte erscheinen können – sich in Parteien zu engagieren –, erweist sich nach und nach durch die Radikalität des Diskurses als korrumpiert. So finden sich die demokratischen Parteien überschüttet mit dem Hass und der Gewalt ihrer Gegner, einer Gewalt, die bis zum Mord gehen konnte. Der politische Kampf wird somit von Gruppen – den Freikorps, den Sturmgruppen, den Geheimorganisationen, der Feme etc. –, die den Anderen im politischen Feld nicht als einen Gegner, sondern als einen niederzustreckenden Feind betrachten, von innen heraus pervertiert. Auch wenn die Rolle, die der Erste Weltkrieg und die Kriegserfahrung bei diesem Prozess spielen konnten, sehr kontrovers bleibt429, wirken doch die Erinnerung daran wie an die Niederlage und den Versailler Vertrag sowie die Kämpfe der Freikorps strukturierend und mobilisierend für alle Anhänger der extremen Rechten, ob sie nun am Krieg teilgenommen oder ihn als Kind miterlebt haben. Eben die Kämpfer, die von der Erinnerung an den Krieg ebenso besessen sind wie vom kommunistischen und jüdischen Feind, verwandeln deshalb auch das Feld der Politik in ein Schlachtfeld. Sicherlich bilden diese Aktivisten nicht die Mehrheit der Weimarer Bürger – die Freikorps vertreten nur 250 000 Aktivisten im April 1919430 und bestimmt bis zu 400 000 insgesamt –, aber sie sind fest entschlossen, ihre Sichtweise der Dinge der Mehrheit aufzuzwingen. Außerdem überträgt sich ihre Gewaltbereitschaft wie durch Ansteckung auf ihre Gegner, die gezwungen werden, dieselben Waffen zu benutzen oder auf eine ebenso radikale Rhetorik zurückzugreifen, während es ihnen gleichzeitig gelingt, sich als Verteidiger gegen die Gefahren darzustellen, die angeblich größer sind als sie selbst (der Kommunismus, die Juden, die Sozialisten etc.)431. So statten sich selbst die Sozialdemokraten mit bewaffneten und uniformierten Gruppen zur Verteidigung aus. Zudem antwortet die Radikalität des Diskurses eines Ernst Friedrich und einiger Anti427 428 429 430 431

Ingrao 2002 [504]. Sammet 2001 [390]. Siehe II.8. Schulze 1969 [393]; Liulevicius 2002 [362], S. 278– 300; Barth 2003 [270], S. 229 ff. Schumann 2001 [538].

2. Wiederaufbauen und Reparieren

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Kriegs-Demonstrationen auf die Gewalt seiner Gegner. Man muss sich also fragen, wie die 1918–1919 remobilisierten Gesellschaften – Gesellschaften, in denen die zahlreichen Verwundungen nicht aufhören, an den Krieg zu erinnern – überhaupt demobilisieren konnten. Dies umso mehr in einer Phase, in der die Spannungen zwischen den beiden Ländern ebenso lebhaft sind wie während der ersten Phase der Besatzung weiter deutscher Territorien durch Frankreich.

3. Die besetzten Gebiete: Ort des interkulturellen Zusammentreffens und der täglichen Erfahrung von ,Fremdherrschaft‘

3.1.

Eine besondere deutsch-französische Geschichte 3. Die besetzten Gebiete

So intensiv die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auch sind, der Kontakt weiter Teile ihrer Bevölkerung bleibt im Allgemeinen auf eng begrenzte und klare Gruppen beschränkt. Die Grenzbevölkerung in erster Linie unterhält spezifische Beziehungen mit dem „Anderen“. Das Rheinland, das Elsass, Lothringen und das Saargebiet konnten somit, obwohl zwischen beiden Nationen umstritten, die Rolle einer kulturellen Schnittstelle spielen432. Andere Gruppen werden durch ihren Beruf, ihren Status oder ihre Verpflichtungen ebenfalls veranlasst, in das Nachbarland zu reisen und mit seiner Bevölkerung in Beziehung zu treten; im Falle von Frankreich und Deutschland in der Zwischenkriegszeit handelt es sich dabei um Diplomaten, Politiker, Geschäftsleute und Industrielle, Intellektuelle und Künstler. Dazu kommen noch die Touristen, die aus den wohlhabenden Bevölkerungsschichten stammen und deren Anzahl seit dem 19. Jahrhundert ansteigt, und schließlich jene kleine Minderheit, für die die Reise in das Nachbarland ein gezielter, und oft politischer, Schritt der kulturellen Annäherung ist. Letztere bleiben wenig zahlreich, aber ihr Einfluss konnte beträchtlich sein, wenn sie moralische, intellektuelle oder ideologische Autoritäten verkörperten. Die Migranten stellten demgegenüber einen größeren Teil der Bevölkerung dar, der außerdem ständig in Kontakt mit dem Ursprungsland war; somit konnten sie zu Akteuren des kulturellen und sozialen Transfers werden. Allerdings waren Frankreich und Deutschland beide mittlerweile in erster Linie Empfängerund nicht Emigrationsländer. Die Anzahl der französischen Migranten in Deutschland und der deutschen in Frankreich – die im vorausgegangenen Jahrhundert beträchtlich, sogar sehr beträchtlich war433 – hatte sich reduziert. Die direkten Kontakte zwischen der Bevölkerung beider Länder waren viel stärker mit der Erinnerung an den Krieg verbunden. Für zahlreiche Franzosen und Deutsche gehörten diese Kontakte zu einer konfliktreichen jüngsten Vergan-

432 Beaupré 2005 [563]. 433 Siehe dazu die beiden vorausgehenden Bände dieser Reihe.

3. Die besetzten Gebiete

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genheit. Wenn auch die Kriegserfahrung seltene direkte Kontakte ermöglicht hatte, die bisweilen die Kriegsklischees vom Feind entkräften konnten – wie zum Beispiel während einer der seltenen Waffenruhen Weihnachten 1914, der Besatzungen oder Kriegsgefangenenlager oder während der Zwangsarbeit vor oder nach dem Waffenstillstand –, hatten diese Erfahrungen wie auch die Erinnerung an die napoleonischen Kriege und Besatzungen und an den Krieg von 1870 –1871 umgekehrt eher negative Bilder vom Feind geprägt. Der bisweilen empfundene Respekt für einen Feind, der an der Front dasselbe Schicksal erlitt, führte nur sehr selten zu einem Gefühl der Solidarität mit dem Nachbarvolk im Ganzen. Während der Zeit, die sich an den Krieg anschließt, ist es eher diese – notwendigerweise mittelbare – Erinnerung an die Kriege und die Kriegserfahrungen als die erneuerten direkten Kontakte, die den Erfahrungshorizont in Sachen Kontakt mit dem Anderen prägt. Zwischen 1918 und 1933 fand eine besondere Art von Kontakten zwischen den Bevölkerungen statt. Geographisch begrenzt, betrafen sie doch große Bevölkerungsteile. Aufgrund des Krieges und der Friedensverträge waren mindestens 12 bis 15 Millionen Deutsche und ohne Zweifel 200 000 bis 300 000 französische Soldaten von ihnen betroffen, die bisweilen von ihren Familien begleitet wurden434. De facto werden die deutsch-französischen Beziehungen – im weiten Sinn die Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen – in dieser Phase dominiert von einer Reihe regionaler Fragen: die der Besetzung der rheinischen Territorien (1918–1930) und des Ruhrgebiets (1923 –1924), die des Völkerbundmandats über das Saargebiet (1920 –1935), dem man noch die Präsenz eines kleinen französischen Kontingents im Memelgebiet und im Norden Ostpreußens ebenso wie in Schleswig-Holstein und in Oberschlesien von 1920 bis 1922 hinzufügen muss435. Die Rheinlandfrage war von 1918 bis 1925 die hauptsächliche Determinante der deutsch-französischen Beziehungen in politischer Hinsicht436. Wenn diese Fragen quasi permanent auf der politischen Agenda bleiben, dann auch deswegen, weil sie eine sehr konkrete Dimension besitzen. Für die Deutschen waren die besetzten Gebiete im Osten wie im Westen in der Tat zentral für die empfundene Notwendigkeit einer Revision des Versailler Vertrags – zweifellos eine der wenigen, aber potentiell zerstörerischen Übereinstimmungen der Weimarer Gesellschaft. In Frankreich waren die Notwendigkeit der Reparationen und der Schutz der Minderheiten, sogar die kulturelle Rückeroberung der links434 Eine Schätzung zieht in Betracht, dass die Anzahl der Besatzer im Rheinland in den ruhigsten Zeiten bei 100 000 lag. Die Höchstzahl an Soldaten wird im Mai 1921 anlässlich der ersten Besetzung von Ruhrort, Düsseldorf und Duisburg mit 250 000 Soldaten, darunter 210 000 Franzosen, erreicht (Jeannesson 1998 [614], S. 64). Zudem darf man auch die Personalfluktuation der Einheiten und die anderen im Text zitierten besetzten Territorien nicht vergessen. 435 Eichner 2002 [585], Tooley 1997 [671]. 436 Bariéty 1977 [430], S. 749–756; Hildebrand 1995 [452].

140

II. Fragen und Perspektiven

rheinischen Gebiete ebenfalls mobilisierende Themen, derer sich Politiker in jedem Moment, zumindest bis zur Ruhrbesetzung, bemächtigen konnten437. Zudem betrafen die Besatzungen, neben ihrem sichtbaren Symbolgehalt für die Deutschen insgesamt – sie waren wie eine permanente Erinnerung an das „Diktat von Versailles“ –, direkt große Bevölkerungsteile, denn diese Regionen gehörten zu den bevölkerungsreichsten, industrialisiertesten und reichsten des Landes. Für diese Teile der Bevölkerung bestand der Versailler Vertrag nicht nur aus dem Paragraphen 231 oder einem Objekt der Außenpolitik, sondern er war die tägliche Erfahrung der Fremdherrschaft, eine tägliche Erinnerung an die Schande der Niederlage. Selbst in Oberschlesien, wo die deutschsprachigen Bewohner sich zunächst und vor allem gegen die „Polen“ stellen, ist die antifranzösische Rhetorik sehr präsent438. Diese Vorstellung von Fremdherrschaft sollte umfassend dazu dienen, der Niederlage, der Besatzung und dem Niedergang einen Sinn zu geben, und die Existenz der Weimarer Republik in Frage zu stellen, als wäre sie in ihrer Gesamtheit dieser Fremdherrschaft unterworfen439. Wenn diese Version auch diejenige der Regimegegner von rechts ist, gründet sie sich doch auf einen breiteren Konsens über das Gewicht der ausländischen Dominanz in Deutschland. Reichspräsident Friedrich Ebert selbst benutzte den Fremdherrschaftsbegriff mehrmals anlässlich der Ruhrkrise, während die Sozialisten ihn bisher nicht für die besetzten, sondern für die „abgetrennten Gebiete“ reserviert hatten440. Das Bequeme am Fremdherrschaftsbegriff war in der Tat, dass man mit einem Begriff sehr voneinander verschiedene Situationen bezeichnen konnte, je nach dem jeweiligen Zeitabschnitt oder der betroffenen Gebiete.

3.2. Zeitlich und räumlich unterschiedliche Situationen Zunächst muss man daran erinnern, dass die Situation der Grenzgebiete in Deutschland sich nicht auf ein deutsch-französisches Problem reduzieren ließ, und dies, ohne von der politischen Ebene der Vertragsverhandlungen zu reden, die per Definition international war und die ebenfalls an dieser Besatzung beteiligten Alliierten mit einschloss. Die Situation dieser westlichen Grenzgebiete fügt sich in einen größeren Zusammenhang von Verletzungen des Staatsgebietes. In der Tat ist die deutsch-französische Dimension dieser Konstellation nicht einzigartig. Nachdem er die deutsche Abrüstung als „die erste Ungerechtigkeit“ kritisiert hatte, resümierte Thomas Mann die Situation 1930, ohne zu befürchten, hier auf kulturalistische Klischees zurückzugreifen:

437 438 439 440

Lauter 2006 [634]. Z. B. Olbrich 1928 [64]. Koller 2005 [622]. Ebd.

3. Die besetzten Gebiete

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„die absurden Grenzregelungen im Osten, das niemandem heilsame, auf das vae victis stumpfsinnig aufgebaute Reparationssystem, die völlige Verständnislosigkeit des jakobinischen Staatsgedankens für die deutsche Volksempfindlichkeit in der Minderheitsfrage, das Problem des Saargebietes, das keines sein dürfte, und so fort“441.

Zusätzlich zur deutsch-französischen Dimension ist diese Konstellation von Situationen fundamental, denn sie fügt sich direkt in die Reihe von Vorstellungen der Einkreisung, diese aus dem Ersten Weltkrieg und sogar noch früher entstandene Furcht vor einer Besetzung. Die von den Revisionisten angegriffene Fremdherrschaft beschränkt sich nicht auf den Westen, und wenn wir uns hier auf den deutsch-französischen Fall konzentrieren, muss man auch die anderen Grenzveränderungen, Gebietsannexionen und/oder Besatzungssituationen im Hinterkopf behalten (siehe Karte S. 18). Die Karte des von den Verträgen verstümmelten Deutschland scheint im Nachhinein diese Angst zu bestätigen, die die Nazis in einer Eschatologie der Vernichtung zu kultivieren und zu radikalisieren verstehen. Die Landkarten, die praktisch immer jene Werke illustrieren, die die „Revision“ des Versailler Vertrages fordern und die die verschiedenen Status der Grenzregionen dunkel gefärbt oder schraffiert darstellen, werden benutzt, um ein von seinen Feinden beschnittenes deutsches Territorium zu bezeugen. Wie die französischen Karten zwischen 1871 und 1918, die die Trauer über Elsass-Lothringen trugen, oder wie die ungarischen Karten nach dem Vertrag von Trianon, sind die Landkarten des von den Auswirkungen des Versailler Vertrags verstümmelten und eingekreisten Deutschland, das zuvor schon von seinen Feinden eingekreist war, eine besondere und sehr präsente Form dieses Selbstbildes während des ganzen Zeitraums. Man darf auch nicht vergessen, dass im Westen zusätzlich zu den Besatzungen das Elsass und das Moselgebiet vom Reich abgetrennt und an Frankreich angeschlossen wurden442. Weiter im Norden gingen auch die kleinen Gebiete Eupen und Malmedy verloren, die ebenfalls aufgrund Artikel 27 des Versailler Vertrages Belgien zugesprochen wurden, und dies trotz einer Volksbefragung, die sehr günstig für Deutschland ausfiel. Noch weiter im Norden wird ein Teil Schleswig-Holsteins einem doppelten Referendum zur Selbstbestimmung unterworfen, das zum Verlust Nordschleswigs führt. Im Osten ist die Situation zugleich die komplexeste und die schikanöseste. In einer Form symbolischer Umkehrung drückten sich die territorialen Klauseln des Vertrags durch eine Serie territorialer Verluste zugunsten eines neuen Landes aus, von dem ein großer Teil der Bevölkerung vorher deutscher Herrschaft unterworfen war: Polen443. Die neue Karte des neuen Landes beraubt das Reich um Posen und um einen Korridor, der Ostpreußen einschließt, während Danzig zur Freien Stadt erklärt wird. Andere Gebiete waren dazu bestimmt, Referenden unterworfen zu werden (Masuren, Schlesien). Von den Deutschsprachi441 Zitiert nach Haffner 2002 [24], S. 386. 442 Siehe I.1.3.2. 443 Tooley 1997 [671], vor allem S. 24–52.

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II. Fragen und Perspektiven

gen gewonnen, waren sie von Gewalt begleitet und von Aktionen der Freikorps geprägt. Ebenfalls im Osten musste Deutschland auch auf jegliche Souveränität über Memel und sein Hinterland verzichten. Hier, an den äußersten nordöstlichen Grenzen Deutschlands, findet man tatsächlich eine deutsch-französische Geschichte – wie im weiter unten angeführten Fall Oberschlesiens –, denn es ist eine französische Garnison, wenn auch auf einige hundert Mann reduziert, die das Gebiet besetzt, und es ist Frankreich, das vom Völkerbund beauftragt ist, es per Mandat zu verwalten444. Die Idee der notwendigen Befreiung von der Fremdherrschaft und jene so wesentliche der Verteidigung des Deutschtums ist jedoch nicht nur auf den Osten beschränkt; in einem Mosaik unterschiedlicher Situationen findet man sie auch im Westen wieder. Anzufügen ist, dass einige Gründungsakteure des intellektuellen und akademischen Substrats dieser Verteidigung von einer Grenze zur anderen übergehen konnten. Hermann Aubin, einer der Gründungsväter der Westforschung an der Universität Bonn, wurde anschließend einer der Gründungsväter der Ostforschung an der Universität Breslau445. Dieser Kampf war also nicht nur deutsch-französisch; vielmehr wurde diese Dimension im speziellen Fall der Besatzungen leibhaftig, der seinerseits vielfältige Gesichter hatte.

3.3. Die Gewalt des ersten Kontakts. Die militärische Besatzung 1918–1919: „Prestige des Siegers“ oder Ursprungstrauma? Die Besetzung der westlichen Gebiete Deutschlands wird spontan mit der Ruhrkrise 1923–1924 und dem Versailler Vertrag von 1919 verknüpft. Aber tatsächlich sind es die Regelungen des Waffenstillstands vom 11. November 1918, die die ersten juristischen Rahmen für eine präventive Militärbesatzung festlegten. Diese Klauseln (Artikel 5) sahen die Evakuierung aller deutschen Truppen und die Kontrolle der Alliierten bei der Verwaltung dieser Gebiete durch lokale Behörden ebenso vor wie die Besetzung durch ein Militärkontingent, das französische, belgische, amerikanische und britische Truppen enthielt; den Franzosen wurde die größte der Besatzungszonen zugewiesen. Französische Truppen dringen ab Ende November 1918 in Deutschland ein. Bis zum Inkrafttreten des Versailler Vertrags am 10. Januar 1920 bleibt dieses Regime wirksam. Diese wenigen Monate prägen die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten bereits tief. Zu Beginn begrüßt manchmal die Bevölkerung die französischen Truppen, von denen erwartet wird, dass sie Ruhe in eine chaotische Situation bringen (Ver444 Gueslin 2003 [604]. 445 Siehe Schöttler 1997 [853], S. 204–261; Rusinek 2007 [844] und II.6.

3. Die besetzten Gebiete

143

sorgungsprobleme, politische Unruhen, Wirtschaftskrise am Kriegsende), mit Zurückhaltung, aber manchmal auch mit Erleichterung446. Sie selbst sind bisweilen überzeugt – oder versuchen, sich zu überzeugen –, dass sie von einem „Prestige des Siegers“ profitieren447. Aber die Zurückhaltung wird sich im Allgemeinen nach und nach in Feindschaft verwandeln. Es sind weniger die Gewaltakte, die Aggression, die die Bevölkerung verletzt, als die kleinen Symbole, die an die ausländische Herrschaft erinnern. Die Stunde der Franzosen ist gekommen. Man muss die Trikolore grüßen, vom Bürgersteig herabsteigen, um die französischen Militärs vorbeizulassen, die Offiziere grüßen. Häufig entstehen in diesen Momenten Auseinandersetzungen448. Sie überschatten anschließend die gesamte Geschichte dieser Zeit. Bevor sie also den „Schandvertrag“ symbolisiert, symbolisiert und materialisiert die Besatzung die Niederlage. Wenngleich die Westgrenze des Landes vier Jahre lang unverletzt blieb, wird sie nunmehr vom Feind überschritten. Im Gegenzug war das Symbol für die Franzosen nicht weniger stark. Zwischen 1914 und 1918 hatten sie nur auf ihrem eigenen Boden gekämpft. Und im Zeitraum von einigen Tagen überquerten sie zwei deutsche Grenzen: die der elsässischen und lothringischen Gebiete, hinsichtlich deren sie keinen Zweifel hegten, dass sie zu Frankreich zurückkehren würden, und die Grenzen, welche diese Gebiete von Restdeutschland trennen (Saargebiet, Rheinland, die linksrheinischen Gebiete). Jüngste Recherchen zeigen die extreme Virulenz des antideutschen Gefühls der Mehrheit der 200 000 französischen Soldaten auf, die in Deutschland eindrangen449. Die geistige Remobilisierung während des Jahres 1918 und die Verluste, an die man sich im Moment des Waffenstillstands erinnert, verstärken sich gegenseitig, um den Hass auf den „Boche“ wieder zu aktivieren. Hinzu kam noch die schnelle Abfolge vielfältiger visueller Erfahrungen: Der Einzug in die völlig zerstörten Zonen an und hinter der Front, dann in die von der Besatzung „befreiten“ Regionen und in die zurückerhaltenen Departements von Elsass-Lothringen und schließlich, für einige, nach Deutschland selbst, funktioniert wie eine Abfolge von Bestärkungen des im Krieg entstandenen Bildes vom Anderen. Der Kontakt mit „dem Anderen“, sei er von den auf dem Territorium hinterlassenen Spuren und Stigmata mittelbar oder anlässlich der Besatzung Deutschlands direkt erfolgt, schloss für die große Mehrheit der Soldaten jegliche Fraternisierung und selbst Mitgefühl für die auch von den Deutschen erlittenen Leiden aus. Diese Erfahrung der Bestärkung durch häufige Grenzübertritte trägt auch zur Unterscheidung zwischen den wiedererlangten Territorien Elsass-Lothringen und Restdeutschland bei und bereitet gleichzeitig deren mentale Wiedereingliederung in das Staatsgebiet vor, wobei sie die Vorstellungen von der absoluten Andersartig446 447 448 449

Köhler 1989 [620], S. 117 Französische Note zur Propaganda von 1920. Zitiert nach Wein 1992 [676], S. 34. Cabanes 2004 [294], S. 231; Kienitz 2006 [618]. Cabanes 2004 [294] hat seine Studie auf die Postkontrolle der Besatzungssoldaten gegründet.

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II. Fragen und Perspektiven

keit der Deutschen weiterleben lässt. Der Schriftsteller und Offizier Paul Tuffrau drückt exakt dieses Gefühl aus, als er in das Saargebiet einmarschiert: „Karlingen: das letzte Dorf Lothringens. (…) Wie viele ausgestreckte Hände, bewegte Gesichter, drängende Fragen (…) Wir sind gezwungen weiterzufahren und diesen anständigen Leuten eine große Enttäuschung mitzuteilen: Die Lastwagen, die uns in einiger Entfernung folgen, werden hier nicht anhalten, erst morgen Abend werden sie wirklich französisch werden. Dahinter ist alles deutsch. In den Dörfern schauen uns die Bauern mit einer gekünstelten Frechheit an, während sie ihre Mützen auf den Kopf ziehen und ihre Hände in die Taschen stecken“450.

Nur im Nachhinein und ausschließlich, weil er den französischen Standpunkt übernimmt, dass das Saargebiet kulturell zurückgewonnen werden müsse, entwickelt sich seine Sichtweise weiter, und er fühlt sich verpflichtet, in einer Notiz am Seitenende anzufügen: „Dies war auf brutale Weise mein erster Eindruck. Aber was ich im Anschluss gesehen und verstanden habe, hat mir eine sehr komplexe Situation aufgezeigt. Ein Jahrhundert lang hat Deutschland systematisch dieses Saargebiet mit preußischen Siedlern bevölkert (besonders mit ehemaligen Unteroffizieren); es hat es geschafft, die einheimische Bevölkerung zu überfluten und sie in seinen Orbit zu ziehen (…)“451.

Diese Konfrontation mit der Andersartigkeit des Feindes kann einhergehen mit einer Willensbekundung zur Vergeltung und Rache. Bruno Cabanes zitiert zahlreiche Briefe von Soldaten, in denen diese die Absicht ausdrücken, „den Feind die Schrecken des Krieges spüren zu lassen“. Es ist ein Schrei der „Vergeltung“, der sich bisweilen in präziser und rüder Form ausdrückt und zu dem sich manchmal die Frustration darüber mischt, nicht sofort demobilisiert worden zu sein und nicht nach Hause zurückkehren zu können: „Wir sind dazu bestimmt, zu den Deutschen zu gehen. Wenn man sich daran erinnert, was wir wegen dieser Leute da durchgemacht haben, frage ich mich, ob wir uns zurückhalten können werden und nicht bei der ersten Missstimmung gleich draufhauen“452.

Der Schriftsteller Pierre Mac Orlan, der während des Ersten Weltkriegs Soldat gewesen war, wurde zu dieser Zeit als Kriegsberichterstatter in die besetzten Gebiete geschickt. Er brachte ein 1919 veröffentlichtes Erinnerungsbuch mit, in dem das Feindbild fast noch radikaler ausfiel als in seinen Kriegsschriften. Er beschreibt zum Beispiel mit seinen Worten Kinder in Trier: 450 Tuffrau 1928 [84], S. 48–49. 451 Ebd. 452 Alle Ausdrücke in Anführungszeichen stammen aus Briefen von französischen Soldaten zwischen Ende September und November 1918, zitiert von Cabanes 2004 [294], S. 191– 195.

3. Die besetzten Gebiete

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Im Allgemeinen besitzen fast alle kleinen Kinder Anmut; ich weiß nicht, durch welches Wunder die aus Trier eine derartige Umsetzung von Hässlichkeit erreichen“453.

Diese bisweilen sehr heftigen Gefühle offenbaren die Verwurzelung der radikalsten Vorstellungen vom deutschen Feind, drückten sich jedoch in den meisten Fällen nicht durch „willkürliche“ oder extreme Gewaltakte, durch wilde Vergeltungsmaßnahmen oder Racheakte aus. Aber sie können sich in Schikanen, Prügeleien und Beleidigungen niederschlagen. Die Vorfälle und Spannungen verlängern und wiederholen sich, bis sie nach dem Inkrafttreten der verschiedenen Status für die besetzten Gebiete eine Konstante der Besatzungssituation darstellen. Diese Mischung aus verbaler Gewalt, Hass auf den Feind, tätlichen Angriffen, sogar Vergewaltigungen und das Fehlen von mörderischer Gewalt ist charakteristisch für diesen Übergangsmoment des „Kriegsendes“. Sie resultiert aber auch aus der Zustimmung der Soldaten zu einem Selbstbild, das sie zu Soldaten der Zivilisation und Freiheit im Angesicht einer Horde germanischer Barbaren und Geisteskranker stilisiert. Dieses Selbstbild wird von den höheren Offizieren um die Wette eingeübt, als sie in Deutschland einziehen. Es hat demnach eine doppelte Funktion: Die erste besteht darin, sich an den Feind zu wenden, um ihn an seine eigenen Ausschreitungen zu erinnern und ihn zu warnen. Es kann gleichzeitig auch demütigen und einen Verführungsversuch vorbereiten, indem es ihm aufzeigt, dass er nur gewinnen kann, wenn er sich den zivilisatorischen Werten unterwirft, die man ihm mitbringt. Diesen Diskursen liegt also ein Bezug zur Geschichte zugrunde, sei sie unmittelbar oder älter. Auf französischer Seite bemüht man sich, den Unterschied zwischen der französischen Besatzung und den Gebieten, die zwischen 1914 und 1918 der deutschen Okkupation unterworfen wurden, darzulegen, während man auf deutscher Seite die französische Besatzung anprangert, aber über seine eigene Position als Besatzer, die man noch wenige Wochen vorher einnahm, schweigend hinweggeht454. Diese Art von Reden kam an vielen besetzten Orten vor. Pierre Mac Orlan berichtet davon aus Mainz: „Aber man musste die so mitreißende Straße verlassen, um zum Kurfürstlichen Schloss zu gelangen, wo die deutschen Zivilbehörden General Fayolle empfingen. In einem weiß-goldenem Salon, wo das Ehrengeleit aus Kolonialsoldaten des 52. Regiments bestand, hielten sich 21 Deutsche mit unbeschreiblichen Gesichtsausdrücken auf. General Fayolle richtete mit klarer Stimme eine Rede an sie. Der französische General sagt, was es zu sagen gibt, indem er an die Diebstähle, die Morde und die Plünderungen der deutschen Armee erinnert, aber er frischte auch die Erinnerung an 1792 auf“455. 453 Mac Orlan 1919 [66], S. 19. Zu Mac Orlan und dem Rheinland sieh Beaupré 2006 [742] und II.7.3. 454 Diese französische Erinnerung und das deutsche Vergessen werden auch im Fall des Ruhrgebiets dargelegt in Krumeich/Schröder 2004 [632], S. 9 – 24. 455 Mac Orlan 1919 [66], S. 34.

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II. Fragen und Perspektiven

Die zweite Funktion dieser Reden war es, sich indirekt an die Besatzungskräfte zu wenden und sie aufzufordern, sich besser zu verhalten als der Feind, um ihm, diesmal durch Taten, den Beweis seiner eigenen Barbarei an den Kopf zu werfen. In diesem Fall ermöglicht es die Gegenwart von Kolonialtruppen als „Ehrengarde“ gleichzeitig, den Feind zu demütigen und ihn die Besatzung spüren zu lassen, aber auch symbolisch eine Anerkennung gegenüber den Kolonialtruppen auszudrücken. Diese Reden erlaubten es somit auch, die im Krieg entstandenen Selbst- und Feindbilder beizubehalten wie auch die kämpfenden Truppen zu demobilisieren, indem man sie dazu auffordert, nicht mehr zu kämpfen, nicht mehr zu töten, sondern auf friedliche Weise zu besetzen. Dieser komplexe Übergang von einer Situation zur anderen wird dabei ebenso als eine Verlängerung des Krieges betrachtet wie als Bruch mit ihm. Es handelt sich hier darum, durch die friedliche Besatzung zu einer Zeit, als die Verträge noch nicht einmal unterzeichnet waren, einmal mehr die zivilisatorische Überlegenheit vor Augen zu führen. Die Rede von General Garnier-Duplessis in Gegenwart der obersten Behörden des Saarlands am 22. Januar 1919 ist mit seiner Überschrift ganz und gar charakteristisch für diese Lektionen in belehrender Geschichte: „Wie gestaltete sich die Vergangenheit? Vor vier und einhalb Jahren wurde über ganz Europa, ja über die ganze Welt ein verhängnisvoller Sturm durch die deutsche kaiserliche Regierung erregt, mit der die gesamte deutsche Nation durch ihren unverkennbaren Eroberungs- und Beherrschungsdrang Hand in Hand ging. Diese unbestreitbare Tatsache steht fest. (…) Und jetzt, meine Herren, mögen Sie diese unermessliche materielle und moralische Verschuldung erwägen, die die deutsche Nation auf sich lud, weil sie blindlings ihrer Regierung folgte. (…) Dem französischen Empfinden ist es zuwider, einen besiegten und entwaffneten Feind zu schlagen, selbst wenn seine Waffen gegen das allgemeine Recht waren (…)“456.

Es ist interessant festzustellen, dass diese Rede, die ebenso darauf abzielte, den Saarländern eine Lektion in zeitgenössischer Geschichte zu erteilen wie die Besatzungssoldaten indirekt aufzufordern, sich würdig zu verhalten, die Vorstellungen erschütterte, die man sich vom Verhalten im und der Verantwortung für den Krieg machen konnte. Sie kündigte tatsächlich die Interpretation des berühmten Artikels 231 an, bevor es diesen überhaupt gab. Die deutsche Obrigkeit, die die Rede ausführlich in ihrem Weißbuch zum Saargebiet 1921 wiedergab, täuschte sich darüber nicht. Auf lokalem Niveau ließen verschiedene mehr oder weniger ernste Begebenheiten, die die Truppen betrafen – kleine Schikanen und konkrete Probleme, denen die Besatzer begegneten, etwa bei der Versorgung –, rasch die relative 456 Weißbuch 1921 [2], S. 23–24.

3. Die besetzten Gebiete

147

Korrektheit, mit der sich die Truppen benehmen konnten, verschwinden. Die Ursprungserfahrung der Besatzung der Jahre 1918 –1919 machte die Niederlage fühlbar, begleitete sie aber mit einer Reihe von Demütigungen. Weiterhin scheint es, dass die Versorgungsprobleme, die zu den sozialen und revolutionären Unruhen in Deutschland, zur Demobilisierung der Kriegswirtschaft und zur Rückkehr der Soldaten noch dazukamen, zu den vordringlichsten Problemen gehörten, die sich den Besatzern stellten. Das notwendige Zusammenleben zwischen Besatzern und Besetzten drückt sich auch in einer Wohnungsnot aus, die in den Quellen sehr präsent erscheint. Sie war zum Teil den Beschlagnahmungen für die Wohnstätten der Offiziere und Unteroffiziere geschuldet457. Insgesamt diente die Betonung der Wohnungsnot dazu, diese Sitte indirekt zu stigmatisieren, und zeigte die symbolische Übertretung, die darin besteht, den Feind bei sich beherbergen zu müssen, ihn in die Intimsphäre, ins eigene Haus eindringen lassen zu müssen. Im Rheinland muss man noch die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen ehemaligen, nationalistisch eingestellten Soldaten, linken Kräften und den mehr oder weniger von den Franzosen ermunterten Gewaltstreichen der separatistischen Kräfte hinzufügen. Der Besatzer, der Ordnung halten und das Überleben der Bevölkerung sicherstellen sollte, wird unter diesen Umständen leicht als Verantwortlicher für ein Chaos gebrandmarkt, das er nicht immer hervorgerufen hat. Alle diese Elemente vereinigen sich zum Beispiel in Saarbrücken in gewalttätigen Unruhen, die von den Besatzern, zwischen bolschewistischen und/oder nationalistischen Faktoren zögernd, nur schwer eingeschätzt werden können. Allerdings bemühte sich der Besatzer in beiden Fällen, seine eigene Verantwortung und Unfähigkeit herunterzuspielen. Im Oktober 1919 brachen in der Gegend von Saarbrücken Unruhen aus, zum großen Teil wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, der Versorgungsprobleme und der Besatzungsschikanen; sie wurden mit 600 Verhaftungen zugleich hart und ungeschickt unterdrückt, so dass sie den Tod von mindestens acht Männern458 verursachten, einer davon im Anschluss an ein Kriegsgericht. Der Arbeiter Jakob Johannes, der von den Franzosen erschossen wurde, wurde anschließend in den Rang eines Symbols des anti-französischen Kampfes erhoben und im Nachhinein in gewisser Weise zum „Schlageter von der Saar“ stilisiert459. Auch wenn diese Krisen als räumlich und zeitlich lokalisiert erscheinen können, fügen sie sich doch in einen größeren Kontext ein, in dem der Besatzer – wenigstens bis zu den Verzichtserklärungen von März–April 1919 anlässlich der 457 Siehe z. B. Golecki 1995 [597], S. 82. Meine eigenen Recherchen im Stadtarchiv Saarbrücken bestätigen diesen Aspekt der Besatzung. 458 Herrmann 1993 [608]. 459 Ebd.

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II. Fragen und Perspektiven

Verhandlungen auf der Friedenskonferenz – seinen Blick auf das linke Rheinufer und das Saargebiet gerichtet hat460. Die bereits von der Niederlage gedemütigten deutschen Patrioten konnten auch von den autonomistischen Anwandlungen der rheinländischen und Kölner Bewegung (unter anderem um Konrad Adenauer im November 1918 bis Februar 1919)461 in der britischen Besatzungszone zur Verzweiflung getrieben werden, auch wenn keine Rede von einer Trennung im strengen Sinn war. Mehr noch, der separatistische Aufstand des Dr. Hans Adam Dorten am 1. Juni in Wiesbaden, Mainz und Speyer und die Affäre von Birkenfeld (Unabhängigkeitserklärung am 14. Juli 1919!) ermöglichten es, die Franzosen als Drahtzieher zu bezeichnen. Die Bildung der Hohen Interalliierten Rheinlandkommission war die Konsequenz des – zumindest provisorischen – Verzichts von Clemenceau, das linke Rheinufer völlig vom Reich „abzutrennen“, und die der Niederlage Fochs gegenüber Clemenceau und Lloyd George462. Es handelte sich um eine zivile – die Militärs verloren damit die Oberhoheit über die Besatzung – und interalliierte Kommission. Aber die Franzosen wussten hier ihre Vorherrschaft zu sichern, und Paul Tirard wurde im Anschluss an das „rheinische Arrangement“ an die Spitze der Interalliierten Rheinlandkommission berufen463.

3.4. Die Hasskampagne der „schwarzen Schmach“ Als die Zivilverwaltung die Staffel von den Militärs übernahm und sich die Annexionsanwandlungen wenigstens teilweise zu legen schienen – was eine aktive Kulturpolitik, die auf eine Annäherung an Frankreich und eine zunehmende Abwendung von Berlin abzielte, nicht ausschloss –, war das Negativkonto der Besatzer bereits schwer belastet. Aber es belastete sich noch deutlich mehr. Während die Besatzung in Frankreich weitgehend als notwendige Garantie zur Sicherheit und zu Reparationszahlungen gesehen wird464, drückt sich die Ankunft der französischen Truppen im Rheinland und in der Pfalz, dann schließlich die Nachricht, dass sie je nach Region voraussichtlich 5, 10 oder 15 Jahre dort bleiben, rasch in einer Kampagne des Hasses und der Gerüchte aus, die sich zunächst durch die Presse ausbreitet und dann in unterschiedlichen Sphären der Zivilgesellschaft verwurzelt. Da die Besatzung von der Niederlage und dann vom Versailler Vertrag legitimiert war, war es für die französischen Militärs und Politiker klar, dass es ihnen oblag, die einzuleitenden Maßnahmen zu wählen. Die Entsendung von Kolonial460 461 462 463 464

Köhler 1989 [620], S. 114. Köhler 1986 [619]. Bariéty 1977 [430], S. 46–61. Tirard 1930 [82], S. 8; Bariéty 1977 [430], S. 51–60. Zur Rezeption dieser Besatzung in Frankreich: Lauter 2006 [634].

3. Die besetzten Gebiete

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truppen gehörte zu diesen Maßnahmen. Dieser Rückgriff gehorchte praktischen wie symbolischen Gründen. Kolonialtruppen nach Deutschland zu entsenden erlaubte es, die Regimenter des Mutterlandes schneller zu demobilisieren. Für den internen Gebrauch erlaubte er es in gewisser Weise auch, mit den Kolonialtruppen, die ja zu ihm beigetragen hatten, „den Sieg zu teilen“. Aber es ging auch darum, den um ihre Kolonien gebrachten Deutschen zu zeigen, dass sich Frankreich nicht nur auf das Nachbarland beschränkte, sondern dass sich seine Macht über die ganze Welt erstreckte465. Es kann auch sein, dass es einen absichtlichen Willen gab, den besiegten Feind noch weiter zu demütigen466, indem man ihn durch Soldaten besetzte, die er als „minderwertig“ einschätzte. Einige der ersten Reaktionen der Bevölkerung konnten in diese Richtung gehen, wie es die Berichte der französischen Postkontrolle in Landau zeigen: „Wir werden von Schwarzen beaufsichtigt. Da siehst du, wie seltsam die Welt ist. Früher haben wir sie zivilisiert, und jetzt kommen sie, um uns zu beaufsichtigen“, erzählt ein Briefeschreiber im Juni 1919. Ein anderer fügt drei Monate später an: „Die Franzosen denken zweifellos, dass die Neger gut genug sind, um auf uns aufzupassen. Das ist für uns ein schwerer Angriff. Wir verdienen so kultivierte Leute wie wir es sind. Wie entsetzlich!“467 Der Beginn der französischen Besatzung fiel rasch mit der Kampagne zusammen, die die „Schwarze Schande“ oder „Schwarze Schmach“ genannt wurde, und die noch vor der Ruhrepisode einen ersten Höhepunkt in der Geschichte der französischen Besatzung in Deutschland darstellt. Mehr noch als die separatistische Agitation – die 1923 in der belgischen Zone im „seltsamen Putsch von Aachen“ gipfelte468 – beschwört sie die antifranzösische Opposition herauf und gibt ihr eine radikal rassistische Tönung. Diese schafft anschließend ein Repertoire von Bildern, das pausenlos von den Nationalisten, dann von den Nationalsozialisten reaktiviert wird, wenn sie die Erinnerung an die Erniedrigungen durch die Niederlage zu politischen Zwecken wecken oder eine rassistische Sichtweise der Welt triumphieren lassen wollen. Diese Kampagne ging gleichwohl weit über die extremistischen Milieus hinaus. Zudem riskierten jene, die sie anprangerten, als profranzösische Verräter beschuldigt zu werden. Diese heute gut dokumentierte Kampagne469 war von einer seltenen Gewalt in symbolischer Hinsicht geprägt und kann als Kulturkampf bezeichnet werden. Sie zielte auf den Einsatz von Kolonialtruppen durch die Franzosen – zumeist wurde der Abzug der afrikanischen und nordafrikanischen Tirailleurs angestrebt, aber auch der madagassischen oder asiatischen Truppen – unter den Besatzungstruppen in Deutschland. Diese Kampagne verlängerte eine Diskussion, die auf die ersten 465 466 467 468 469

Nelson 1970 [650], S. 611–615. Cabanes 2004 [294], S. 262. Zitiert nach Le Naour 2003 [636], S. 40. Bariéty 1977 [430], S. 250. Nelson 1970 [650], Koller 1998 [621], Le Naour 2003 [635], Charrier 2005 [577], Mass 2006 [641] und Wigger 2007 [677].

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II. Fragen und Perspektiven

Kriegstage zurückging. Die Kolonialtruppen waren nämlich der Gräueltaten und Rohheit auf dem Schlachtfeld beschuldigt worden. Diese Beschuldigung war beispielsweise sehr präsent im von 93 deutschen Intellektuellen und Professoren Oktober 1914 signierten Aufruf an die Kulturwelt. Aber hier befanden sich die Truppen im Herzen Deutschlands, im Angesicht von Zivilisten, Kindern und Frauen. Die Reaktion war dementsprechend viel heftiger. Die Anschuldigungen von Vergewaltigungen und Attentaten dominierten die Darstellungen470. Nach einer ersten Welle der Empörung im März 1919, die mit den schlimmsten Auswirkungen der fortgesetzten alliierten Blockade zusammenfällt, fängt alles richtig nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages, genauer gesagt im April 1920 an. Im Anschluss an den „Ruhrkrieg“471, der die aufständischen Arbeiter und die Reichswehr gegenüberstellt, die unter Verletzung des Versailler Vertrages in das Gebiet einmarschiert, besetzen die Franzosen Frankfurt und Darmstadt als Vergeltungsmaßnahme. Von Panik ergriffene marokkanische Truppen zielen anlässlich einer Demonstration mit dem Maschinengewehr in die Menge, wobei es mehrere Tote gibt. Seit diesem Moment nehmen die vorher sporadischen und lokalisierten Anschuldigungen eine nationale und internationale Wendung. Der Artikel, der Öl ins Feuer gießt, wurde allerdings in einer britischen Zeitung von Rang, dem Daily Herald, am 10. April 1920 veröffentlicht472. Dieser sehr heftige Artikel des Antikolonialisten Edmund Morel, der aus einer linksgerichteten Blatt eines ehemaligen Feindeslands stammt, stellt eine Art Rückendeckung – rasch umgewandelt in Beweise – für die schlimmsten Vorwürfe dar. Die Presse gibt sich nicht damit zufrieden, die Kolonialtruppen anlässlich der Ereignisse von Frankfurt anzuklagen, sondern führt noch andere Klagen an: Die Kolonialsoldaten, einzig „von ihren sexuellen Instinkten beherrscht (…), terrorisieren Frauen und Kinder in den rheinischen Gebieten“473. Indem sie mit einer latent rassistischen Vorstellung spielt – eine Vorstellung, die sich noch radikalisieren sollte –, erzielt die Kampagne sogar ein gewisses Echo in Frankreich, wie in der Zeitung Le Populaire vom 19. April 1920, die einen Artikel mit dem Titel Schwarze im Hause Goethes veröffentlicht: Wer ist der Schwachsinnige (…), der die glorreiche Idee hatte, Schwarze im Hause Goethes unterzubringen, ausgezeichnet gleichermaßen durch ihren universellen Mut, durch ihre Vortrefflichkeit, die Syphilis zu verbreiten, durch ihre Unfähigkeit, eine europäische Sprache ordentlich zu artikulieren (…)?“474

470 Es fehlt eine systematische Studie der wirklichen Vergewaltigungsfälle durch französische oder Kolonialsoldaten während der Besatzung. Zum Ruhrgebiet 1923 –1924 vgl. Jeannesson 2004 [616]. Die Zahlen werden weiter unten in diesem Kapitel zitiert. 471 Eliasberg 1974 [586], Lucas 1970–1978 [584], Gorlas/Peukert 1987 [599]. 472 Le Naour 2003 [635], S. 57–58; Koller 1998 [621], S. 207– 208. 473 Le Naour 2003 [635], S. 57. 474 Zitiert nach ebd., S. 59.

3. Die besetzten Gebiete

151

Die Presse zahlreicher Länder nimmt die Beschuldigungen der Barbarei und Vergewaltigung auf. In Deutschland überschreiten sie auch rasch die Presse stricto sensu ebenso wie das politische Milieu und die offizielle, sehr aktive Propaganda des Auswärtigen Amts und des Reichsministers des Innern475, um ein breiteres kulturelles Phänomen zu werden, das sich durch große Unterstützung verbreitet. Ein besonders übertriebener, „vollständig der sexuellen Bestialität der Kolonialtruppen gewidmeter“ Film476, Die schwarze Schmach, kommt noch im April 1921 heraus und erzielt einen gewissen Erfolg. Theater und Literatur übernehmen das Steuer mit einem vom Szenario des Films ausgehenden Theaterstück, das in München gespielt wurde, sowie mit den Romanen: Die schwarze Schmach. Der Roman des geschändeten Deutschland von Guido Kreutzer 1921 und Mbungo Mahesi, der Kulturträger vom Senegal von Paul Hain 1922. Christian Koller erwähnt auch eine Zeitschrift, die vom Ingenieur und Anhänger der extremen Rechten Heinrich Distler ins Leben gerufen wurde, dem Gründer des „Deutschen Notbundes gegen die schwarze Schmach“, die einzig dieser Frage gewidmet ist und den Titel Die Schmach am Rhein trägt. Sie war so gewalttätig, dass die offiziellen Behörden, die gleichwohl direkt in die antifranzösische Propaganda verwickelt waren, das Erscheinen stoppten477. Auch Objekte werden hinzugezogen, ein sehr aussagekräftiges Beispiel liefert die Kunst des Kleinreliefs. Ganze Kollektionen von Medaillen sind der französischen Besatzung gewidmet. Eine Medaille aus dem Atelier Wittig-Friesen, der Deutsche Not- und Schmachtaler, stellt die Vergewaltigung einer deutschen Frau durch einen Kolonialsoldaten dar. Die bekannteste Serie des Müncheners Karl Goetz enthält eine besonders drastische Medaille, auf deren Vorderseite ein Kolonialsoldat mit affenähnlichen Zügen abgebildet ist, und auf der Rückseite eine Frau, angebunden an einen riesigen erigierten Phallus wie an einen Pranger, der mit einem französischen Helm bedeckt ist478. Die französischen Behörden reagierten sehr empfindlich auf diese Kampagne, zeigten sich aber überfordert und unfähig, wirksam darauf zu reagieren: Sie debattieren über die Möglichkeit, reservierte Bordelle einzurichten, benutzen Presseorgane, die sie auf ihre Seite gezogen haben, die aber in der Bevölkerung diskreditiert sind, und ziehen schließlich die schwarzen Truppen zurück, womit sie die Gerüchte zu bestätigen scheinen. Genauso verhielt es sich mit den geplanten Militärprozessen gegen die der Vergewaltigung Angeklagten, die die Armee in eine Falle lockten: Freisprüchen oder Milde wurde mit Anschuldigungen der Laxheit gegenüber den Schuldigen begegnet, während der Wille, ein Exempel zu statuieren, die Strenge der Urteile – bis hin zur Todesstrafe – und die Verurteilungen die Behauptungen derjenigen zu bekräftigen schienen, die die schmachvollen Ge475 476 477 478

Koller 1998 [621], S. 220–225. Le Naour 2003 [635], S. 133. Beispiele von Le Naour 2003 [635], S. 119–146; Koller 1998 [621], S. 225 – 230. Ernsting 2005 [588].

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II. Fragen und Perspektiven

rüchte propagierten. Voller Ungeschicktheit gingen die französischen Behörden so weit, die deutschen Vorwürfe umzudrehen, indem sie die Lüsternheit der Deutschen anprangerten, eine echte „weiße Schmach“. Diese „französische Verlegenheit“479, wie es Jean-Yves Le Naour ausdrückt, ist ebenso der Heftigkeit der Kampagne und dem großen Echo geschuldet, das sie in der deutschen Öffentlichkeit erhält – wegen des Kontextes der Besatzung und der Erniedrigung nach der Niederlage und dem Versailler Vertrag –, wie auch rassistischer Vorurteile, die zum Teil von den französischen Behörden selbst geteilt werden480. In Deutschland erreicht die Kampagne sogar bestimmte linke Milieus – außer der USPD, den Kommunisten und einigen unabhängigen Persönlichkeiten wie Maximilian Harden – und ganz besonders die feministischen Milieus. Die mit dem Thema der schwarzen Schmach verbundene sexuelle Dimension erklärt diese Aneignung481. Gleichwohl wird den Frauen, die zumeist als unschuldige Opfer präsentiert werden, bisweilen auch unterstellt, dass sie die Gesellschaft von farbigen Männern suchen, und das nicht nur durch den Besatzer482. Die rassistische Kampagne ermöglicht so auch indirekt, eine Art moralischer Kontrolle über die Frauen auszuüben. Sie stellt auch eine Übertragung der Ängste vor Vernichtung und Ansteckung dar483, die die Niederlage verlängert und einer allgemeineren Verurteilung von jeglichem Umgang mit dem Besatzer entspricht, umso mehr, wenn es sich um Frauen handelt. Der Ausdruck dieser weiter gefassten Empörung als die „Schwarze Schmach“ stricto sensu findet sich in den Memoiren und Erinnerungen. Der Direktor des Landauer Anzeigers und künftige Bürgermeister von Landau, August Kaußler, der ein sehr genaues Tagebuch führt – eine echte Chronik der Besatzung –, empört sich häufig über das Verhalten der Frauen, das er als „Fehlverhalten“ oder als das „schamlose Gebaren liebessüchtiger Frauenzimmer auf den Straßen“484 bezeichnet. Der junge Gustav Regler, der künftige antifaschistische Schriftsteller saarländischen Ursprungs, notiert in seinem Tagebuch seine Abscheu, die ihm das Verhalten von Frauen verursacht, die mit dem Feind flirten und alle moralischen Werte umkehren, indem sie Frauen von Welt und Halbweltdamen vermischen: „Es war aber Lärm dort, feindliche Offiziere beim Sekt, eine hübsche Dirne von Weltallüren, dreier Sprachen mächtig, anscheinend Engländerin und dazu eine Bürgermeistertochter aus dem Nachbarort mit ihrem Bruder und einem Benehmen, das schon an Bordell erinnerte. Mich schmerzte erst der ganze Auftritt, dann zwang ich mich und setzte mich, die Gefühle soviel wie möglich ausschaltend, in die Ecke“485.

479 480 481 482 483 484 485

Le Naour 2003 [635], S. 169–193. Cabanes 2004 [294], S. 272–273; Wigger 2007 [677], S. 174 –178. Koller 2002 [623], Wigger 2007 [677]. Wigger 2007 [677], S. 122–131. Ebd., S. 145 –154. Zitiert nach Kienitz 2006 [618], S. 37. Gustav Regler 1919, zitiert nach Beaupré 2007 [564], S. 172.

3. Die besetzten Gebiete

153

In diesem Kontext erfüllt die Kampagne der „Schwarzen Schmach“ auch Funktionen innerhalb der deutschen Gesellschaft im Allgemeinen und der besetzten Gesellschaft im Besonderen. Sie nimmt den Separatisten den Wind aus den Segeln486. Sie verbreitet indirekt die Normen moralischen und sexuellen Verhaltens unter der Besatzung, indem sie die tief verwurzelten Ängste bei Männern wie bei Frauen beschreibt. Sie zielt auch darauf ab, jegliche Bewunderung für den Sieger und alle Faszination für die exotische Seite der Kolonialtruppen, die in gewissen Momenten entstehen könnte, auf Null zu verringern. Der schon erwähnte August Kaußler erwähnte beispielsweise die „malerisch schönen Afrikaner“487. Aber diese Faszination war bei ihm weder gleichbedeutend mit Bewunderung oder Anziehung, noch war sie die des Besiegten für den Sieger. Sie erfüllte andere Funktionen; die Anthropologin Sabine Kienitz, die sein Tagebuch ausgewertet hat, schreibt diesbezüglich: „Diese Faszination war für Kaußler zugleich auch der Ausgangspunkt, um die eigenen Fremdheitsgefühle den Besatzern gegenüber immer wieder neu zu formulieren. In der direkten Konfrontation des Besatzungsalltags stellte er eine Vielzahl von kulturellen Differenzen zu den französischen Nachbarn fest und beschrieb diese mit ethnographischer Genauigkeit“488.

Im selben Tagebuch versäumte er auch nicht zu erwähnen, dass nach der Beschreibung des Opfers eines Vergewaltigungsversuchs der Angreifer „ein Neger mit dicken schwarzen Lippen und dunkelschwarzer Gesichtsfarbe“489 war. Man findet hier Reflexe und Verhaltensweisen gleich denen, die auf die Invasion Frankreichs durch die Deutschen folgten. Eine lebhafte Debatte über die „Kinder des Feindes“ hatte die Gesellschaft in Unruhe versetzt490. Diese verdeckte Funktion erklärt zweifellos auch, warum sich das Phänomen besonders zu Beginn der Besatzung entwickelt, darüber hinaus in dem Moment, als man erfährt, dass sie andauern wird, und zudem auf eine ,Verletzung‘ der Grenze durch die Franzosen folgte, die gerade Frankfurt und Darmstadt besetzt hatten. Diese Kampagne hatte wohlgemerkt auch zum Ziel, die Barrieren zwischen Frankreich und den Rheinländern unüberwindbar zu machen, und das selbst als Tirard seine Politik der „friedlichen Durchdringung“ einleitete. Nach drei Jahren geriet die Kampagne in Atemnot, und diese Atemlosigkeit entspricht der Ruhrkrise. Wenn es nicht mehr um die „friedliche Durchdringung“, sondern um direkte Konfrontation geht, ist eine ihrer Funktionen, nämlich den Gegensatz aufrechterhalten, nutzlos. Wenngleich außerdem zu Beginn der Besatzung die Gerüchte wiederaufleben, erlöschen sie rasch wieder, denn „die 486 487 488 489 490

Koller 1998 [621], S. 228. Zitiert nach Kienitz 2006 [618], S. 39. Ebd. Ebd., S. 40. Audoin-Rouzeau 1995 [259].

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II. Fragen und Perspektiven

französische Armee (…) hat dafür gesorgt, keine Tirailleurs einzusetzen“491. Die erdachten Gräueltaten sind ebenfalls nutzlos geworden, denn die Ruhrbesetzung und die Ausweisungen aus dem Rheinland (147 000 Deutsche, darunter 46 200 Beamte492 und ihre Familien von Januar bis November 1923) liefern ohne Zweifel genügend Argumente, um die Ausschreitungen des Feindes zu „beweisen“493. Zu dieser Zeit entgehen gemäß Jacques Bariéty schätzungsweise zwölf Millionen Deutsche völlig der Kontrolle des Reiches. Zu ihnen muss man fast 900 000 Saarländer dazuzählen, die in einem vom Völkerbund verwalteten Gebiet leben.

491 Le Naour 2003 [635], S. 220. 492 Bariéty 1977 [430], S. 114. 493 Le Naour 2003 [635], S. 220; Nelson 1970 [650].

4. Die Mandatsgebiete: Besatzung und französische Einflussnahme auf deutschem Gebiet

4.1.

Das Saargebiet unter Mandat: Eine Besatzungserfahrung? 4. Die Mandatsgebiete

Der saarländische Fall ist in mehrerer Hinsicht speziell494. Zunächst handelt es sich seit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920 eigentlich nicht mehr um eine Besatzungssituation wie im Rheinland. Der Versailler Vertrag sah für das Gebiet – dessen Umgrenzung Anlass vieler Zwischenfälle war – eine Verwaltung durch eine Regierungskommission unter Völkerbundsmandat vor. Die französischen Truppen bilden das Hauptkontingent, beauftragt mit der Aufrechterhaltung der Ordnung, und die Saarminen werden französische Staatsminen. Der französische Staat ist demnach der Hauptarbeitgeber in der Region. Die Streiks und andere soziale Kämpfe der saarländischen Minenarbeiter sind demnach durch den nationalen Faktor belastet. Dies war bereits im April 1919 der Fall, als die saarländischen Bergleute das Recht auf einen Achtstundentag forderten „wie in Deutschland“. Darüber hinaus wird die Präsidentschaft der Regierungskommission von 1920 bis 1926 von einem Franzosen übernommen, Victor Rault. All diese Elemente, zu denen man noch die Einführung des französischen Francs495 1923 für das Gebiet zählen muss, führen dazu, dass das ,Mandat‘ für die Saarländer sehr oft als eine Besatzungssituation oder sogar Annexion erlebt wird, die schlichtweg die schwierige Periode der militärischen Okkupation der Jahre 1918 –1919 verlängert496. Zudem macht sich Victor Rault sehr schnell sehr unpopulär und zieht sich die Feindschaft aller politischen Parteien des Saargebiets und der Bevölkerung zu497, die ihm einen völligen Mangel an Neutralität vorwirft. Man muss sagen, dass er bei Bedarf nicht zögerte, von der Waffe der Zensur und Ausweisungen aus dem Gebiet Gebrauch zu machen, während er die Frankophilen bevorzugte498.

494 Hirsch 1952 [610]. 495 Während der Inflation war die Einführung des viel stabileren Francs als Referenzwährung eher eine gute Sache für die Saarländer, wurde in symbolischer Hinsicht jedoch schlecht aufgenommen. 496 Siehe 5.2. 497 Lempert 1985 [637], S. 48; Linsmayer 1992 [640], S. 149. 498 Lempert 1985 [637].

156

II. Fragen und Perspektiven

Angesichts des nach 15 Jahren vorgesehenen Plebiszits und des wirtschaftlichen Interesses an der Region hatten gewisse Kreise französischer Führer die Hoffnung nicht aufgegeben, das Saarland an Frankreich zurückkommen zu sehen – oder zumindest nicht an Deutschland zurückkehren. Diese Übergangslösung war übrigens das Resultat eines Kompromisses, denn Clemenceau hatte eine Zeitlang gewünscht, das Saargebiet schlicht und einfach zu annektieren, und ließ das Gerücht zirkulieren, wonach es 150 000 Franzosen im Saarland gebe, die die Angliederung an Frankreich wünschten. Dieses Gerücht wurde bekannt unter der Bezeichnung „Saarlegende“, „Clemenceaulüge“ oder „Saarlüge“499 und wurde im Saarland und in Deutschland aktiv bekämpft, vor allem durch den umtriebigen Bund der Saarvereine500, der hier eine sehr aktive Propaganda gegen die französische Präsenz und das Saarstatut führte. Zudem ging es für die Franzosen seit dem Moment, als der Kompromiss und das Statut bekannt wurden, darum, die Einwohner der Region nicht mehr wie deutsche Feinde zu behandeln, sondern wie Saarländer, die es zu verführen gilt, um sie dazu zu bringen, in der Zukunft für den Anschluss an Frankreich zu stimmen. Diese Veränderung des Bildes war überaus brutal und musste den Soldaten erklärt werden, die sich bisher auf erobertem Gebiet fühlten. Sobald die Bestimmungen bekannt waren, erließ General Andlauer (der oberste Militärverwalter in der Region) am 10. Mai 1919 einen Erlass, der vorschrieb: „Seit der Veröffentlichung der Friedensbedingungen werden die Bewohner des Saargebiets nicht mehr als Feinde betrachtet. Infolgedessen erstreckt sich 1. die Bezeichnung „Boches“ nur auf die Preußen und die Deutschen, die außerhalb des Saargebiets wohnen. 2. Das Verhalten des Militärs auf den Straßen muss korrekt bleiben und aufhören, anspruchsvoll zu sein. (…)“

Man kann sich leicht die Auswirkungen einer solchen Ungeschicklichkeit auf die Bevölkerung vorstellen. Das deutsche Außenministerium versäumte es nicht, sich dieses Textes zu bemächtigen, um ihn in seinem Weißbuch zum Saarland 1921 zu veröffentlichen501. Diese Entscheidung des französischen Generals gibt indirekt auch zu verstehen, dass das Verhalten der französischen Truppen gegenüber der Bevölkerung während des Beginns der Besatzung nicht immer „korrekt“ gewesen ist, um die Worte dieses Erlasses selbst zu benutzen. Wenn sie es gewesen wären, hätte man diese Notwendigkeit nicht schriftlich präzisieren müssen. Andere Anzeichen sprechen auch für gespannte Beziehungen. Dieser Beschwerdebrief eines französischen Veteranen, der in den staatlichen Minen beschäftigt ist und im Saarland wohnt, zeugt davon: 499 Lempert 1985 [637], S. 25–31; Hirsch 1952 [610], S. 35. 500 Becker 2007 [567]. 501 Zitiert nach Beaupré 2007 [564], S. 170–171.

4. Die Mandatsgebiete

157

„(…) seit der Unterzeichnung des Vertrages vergeht im Saargebiet, besonders in Saarbrücken, kein Tag, an dem ein Franzose misshandelt oder beleidigt wird. Indem sie sich mit dem Attribut ,Saarländer‘, das man ihnen gegeben hat, bezeichnen, lassen die Deutschen von Saarbrücken, die preußischer sind als in Berlin, keine Gelegenheit aus, uns in jeglicher Form schlecht zu behandeln (…) Welche Maßnahmen gedenkt man zu ergreifen, um die Sicherheit der Franzosen und ihrer Familien im Saarland zu gewährleisten? Müssen wir uns hier als Sieger oder als Besiegte betrachten? (…)“502

Die Situation kann demnach für die Franzosen wie für die Saarländer als eine Fortsetzung des Kriegs und nicht als reine Übergangssituation interpretiert werden. Seither geht es darum, das bereits im Krieg konstruierte Feindbild zu erhalten und zu bestätigen, also bewusst oder unbewusst die geistige Demobilisierung zu verhindern. Wie die Zwischenfälle, die täglich Besatzer und Besetzte gegenüberstellen, nimmt die regionale Literatur dieser Zeit an dieser „mentale(n) Grenzziehung“ teil503. Für die Besetzten geht es somit darum, die Anomalität der Situation und ihren gebietsfremden Charakter kundzutun. Die Heldin des Romans von Lisbeth Dill mit dem vielsagenden Titel Der Grenzpfahl kommt schließlich, nachdem sie die Grenze zwischen Deutschland und dem Saargebiet, diesen „innere(n) Grenzpfahl, der tief im Fleisch der alten Heimaterde steckte“504, überschritten hat, in Saarbrücken an. Alle ihre Befürchtungen werden bestätigt: „Das erste, was ihr entgegenwehte, als sie den Fuß auf diesen Boden setzte, war die Trikolore. Verbraucht und schmutzig flatterte sie über der Tür der Wartesäle, als sei sie es selbst müde, dort zu hängen, und der erste Mensch, der ihr entgegentrat, war ein Tonkinese, waffenstarrend, im Sturmhelm, mit dem Bajonett“505.

Die lokale Kultur hat sich zu einem „Kauderwelsch von Sprachen“506 gewandelt. Indirekt wird die ,friedliche Durchdringung‘ hier als Vergewaltigung dargestellt. Diese Angst konnte sogar wie im Fall des Rheinlands eine ethnisch-sexuelle Dimension annehmen. Die Stadtbehörden von Saarbrücken kümmerten sich darum, die unehelich geborenen Kinder von französischen Soldaten zu zählen507. Die Auseinandersetzungen zwischen Franzosen und Saarländern hatten ebenfalls diese Dimension. 1929 berichtet ein Grenzkommissariat der Polizei von einem Vorfall zwischen jungen Leuten auf der Brücke zwischen Grosbliederstroff (Lothringen) und Kleinblittersdorf (Saargebiet):

502 Beschwerdebrief von Octave Milers (höherer Angestellter bei den Saarminen) an General Maudhuy vom 1. 7. 1920 in: Archives Nationales (AN) AJ9 – 4231. 503 Beaupré 2007 [564]. 504 Zitiert nach ebd. S. 176. 505 Ebd. S. 174. 506 Ebd. 507 Stadtarchiv Saarbrücken (SASB) Großstadtbestand (G)

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II. Fragen und Perspektiven „Es hat sich erwiesen, dass die Aggression keinerlei politischen Charakter trug. Sie wurde dadurch provoziert, dass die jungen Franzosen, darunter ein Soldat, amouröse Beziehungen zu jungen saarländischen Mädchen unterhalten. Andere Schlägereien fanden bereits statt wegen desselben Motivs, an anderen Stellen derselben Grenze. (…)“508

Die Tatsache, dass sich dieser Vorfall direkt an der Grenze abspielte, illustriert die Angst vor einer „Entführung der Frauen“ in das Land des Feindes und vor einer Form von sexueller Konkurrenz mit dem Besatzer oder Nachbarn. Diese Grenzzwischenfälle nehmen mit der Zeit eine politischere Wendung. An derselben Stelle und im selben Jahr wird ein Johannisfeuer („Feuerfeier auf der Grenze“)509 für den 21. Juni organisiert. Ein Jahr später, im August 1930, sind es die deutschen Kommunisten, die an der Brückenauffahrt demonstrieren, und 1933 stellt ein Zwischenfall einen Nationalsozialisten einem französischen Arbeiter entgegen510. Die Wahlkampagne für das Plebiszit wird knapp zwei Jahre, bevor es stattfindet, lanciert. Die Krawalle, die zuvor stattgefunden hatten und die für die französische Polizei „keinerlei politischen Charakter“ trugen, hatten diesen sehr wohl. Die Gewalt war schlichtweg eine Form der politischen Sprache, die dem anderen seine kulturelle Verschiedenheit und unberechtigte Präsenz in dem Gebiet deutlich machte511. In diesem Sinne hatte die Kampagne zur Volksabstimmung nicht mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland begonnen, sondern mit der der Franzosen im Saarland 15 Jahre vorher. Die Nationalsozialisten mussten nur den Widerstand politisch verlängern – falls nötig, ihn neu interpretieren – und den Gegensatz nutzen, der sich vor 1924 –1925 zwischen „Besatzern“ und „Besetzten“ aufgebaut hatte512. Diese Wiedergewinnung/Neuinterpretation/Reaktivierung fand ebenso unverhohlen im Fall Oberschlesiens statt, wo sie allerdings kürzer dauerte und wo die Franzosen, wenn sie auch nochmals als mit Völkerbundsmandat ausgestattete Besatzer anwesend waren, doch als zweitrangiger Feind im Vergleich zu den Polen galten. Trotzdem stellte diese Krise noch vor jener im Ruhrgebiet einen Konflikt dar, dessen Intensität weitaus größer war als die Alltagsbesatzung im Saar- oder Rheinland außerhalb der angespanntesten Phasen.

508 Brief des Sonderkommissars von Saargemünd vom 16. Januar 1929 in AN F7–13471. 509 AN F7–13471. Bericht des Sonderkommissars von Saargemünd vom 21. Juni 1929 und vom 25. Juni 1929 an die Sicherheitsbehörden. Sie wird im Rahmen der Jahrtausendfeiern des Rheinlands gegründet. Siehe unten. 510 Berichte vom 4. August 1930 und vom 29. April 1933 des Kommissariats Forbach. AN F7–13472. 511 Wir gelangen zu ähnlichen Schlüssen wie Kienitz 2006 [618], Beaupré 2007 [564]. 512 Linsmayer 1992 [640].

4. Die Mandatsgebiete

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4.2. Die östlichen Randgebiete und die französische „Besatzung“: Oberschlesien Die Krise um Oberschlesien, das Plebiszit für Selbstbestimmung und die drei polnischen Aufstände sind am häufigsten in einem deutsch-polnischen Rahmen untersucht worden, der großteils berechtigt ist513. Allerdings ist die Verwaltung Oberschlesiens durch eine interalliierte Kommission, während fast zwei Jahren durch französisch-italienische, dann französisch-italienisch-britische Truppen, weniger erforscht. Diese Episode ist jedoch auch eine internationale Krise und im Besonderen eine deutsch-französische, und es fehlt ein Überblickswerk über den französischen Einsatz in dieser Region514. Die französische Entscheidung, sich aus nächster Nähe in die schlesische Affäre einzumischen, hatte vielfältige Gründe. Es ging in gewisser Weise darum, dem Versailler Vertrag Geltung zu verschaffen, der Polen gestärkt hatte. Frankreich konnte sich somit als Verteidiger der neuen Nationen und der ehemals von den Mittelmächten unterdrückten Nationalitäten positionieren, während es aus der Situation geopolitische und wirtschaftliche Vorteile zog. 1919 wollte Clemenceau auch „Polen stärken“, um „Deutschland ,eindämmen‘ und zugleich Russland in Schach halten“ zu können515. Durch diese Politik konnte Frankreich darauf hoffen, Deutschland seine zweite große Industrieregion zu entziehen – es hatte ihm bereits die Ressourcen des Saargebiets entzogen –, und es in seiner Sicht noch abhängiger vom Ruhrgebiet zu machen. Obwohl die Situation in Oberschlesien auf den ersten Blick sich sehr von der Situation im Westen zu unterscheiden scheint, fügt sie sich doch ein in die Geschichte der deutschen besetzten Gebiete in der Zwischenkriegszeit wie auch in jene größere Geschichte der Grenzmodifikationen. Für die 2 250 000 Oberschlesier endet der Erste Weltkrieg tatsächlich nicht am 11. November 1918. Umso weniger, als dieses Datum den Beginn der neuen polnischen Republik bezeichnet. Auch wenn die Krise letztlich von kurzer Dauer war (etwas weniger als vier Jahre, davon knapp 29 Monate Besatzung – von Februar 1920 bis Juni 1922), lastete sie weiterhin schwer auf der deutschen Außenpolitik in der Nachkriegszeit, die kein „Ostlocarno“516 kannte, und spielte eine nicht zu vernachlässigende Rolle in den gegenseitigen deutsch-polnisch-französischen Wahrnehmungen517. 513 Zur polnischen und deutschen Geschichtsschreibung siehe Struve 2003 [667], S. 1– 32; Lesiuk/Sroka 1996 [639], Kuropka 1996 [633]. 514 Jan Przewlocki. Zitiert nach Lesiuk/Sroka 1996 [639], S. 174. Die kürzlich erschienene Studie von Eichner 2002 [585] wurde auf der Basis von in erster Linie britischen Quellen erstellt. Paoli 1972 [653] nimmt eine apologetische Haltung zugunsten der französischen Armee ein. 515 Eichner 2002 [585], S. 37 ff. 516 Hildebrand 1999 [452], S. 535–540. 517 Zur Perzeption des Anderen: Grosch 2002 [602]; zur Bedeutung des schlesischen Problems während der Weimarer Republik: Haubold 2001 [606].

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II. Fragen und Perspektiven

Die interalliierten Truppen kamen im Februar 1920, nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags, der ein Plebiszit zur Selbstbestimmung vorsah, in dem Gebiet an. Die Situation vor Ort war bereits unübersichtlich und angespannt. Die Spartakisten waren sehr aktiv, und ein erster Aufstand der polnischstämmigen Schlesier hatte bereits im August 1919 stattgefunden. Zu diesem war es im Anschluss an einen Generalstreik in der Industrie gekommen, dessen Niederschlagung zehn Tote gekostet hatte, sowie im Anschluss an die Unterzeichnung des Versailler Vertrags, der das Plebiszit zur Selbstbestimmung vorsah. Ungefähr 15 000 Personen nahmen an dem Aufstand teil, und ungefähr 22 000 fanden nach der Niederschlagung Zuflucht in Polen518. Wie die westlichen Gebiete des Reichs war auch diese Region einer aktiven separatistischen Propaganda ausgesetzt519. Der erste oberschlesische Aufstand, der ausbrach, war selbst einem anderen Aufstand gefolgt, der im Dezember 1918 in der Region von Groß-Polen stattfand und der von Erfolg gekrönt war, denn die Mächte trugen ihm in ihren Verhandlungen, dann im Versailler Vertrag Rechnung. Wie die ältere polnische Geschichte, die reich war an Aufständen, konnte dieser erste Aufstand nach dem Krieg in Oberschlesien als Beispiel dienen520. Am 9. November 1919 fanden außerdem die von Reichskommissar Otto Hörsing gewünschten Kommunalwahlen statt. Die Wahlkampagne war auch die Gelegenheit für eine Nationalisierung der Spaltungen, die nunmehr genauso, ja sogar noch mehr entlang nationaler Kriterien als der politischer Lager verliefen. Die nationalen polnischen Listen und die oberschlesischen Listen der Autonomisten konnten gewissen Erfolg einfahren, der die Ersetzung Hörsings beschleunigte. Angesichts dieses Kontextes war das von den alliierten Mächten entsandte Kontingent recht groß und umfasste zu Beginn ungefähr 12 000 Franzosen und 3000 Italiener521. Die britischen Truppen erschienen, wie auch die französische Verstärkung, nach und nach angesichts der Verschlechterung der Lage, vor allem während und nach der Volksabstimmung. Die Verwaltung des Gebietes wurde an eine Mandatskommission übergeben, die von einem Franzosen geleitet wurde, General Le Rond, ein Spezialist in Fragen Polens: Er war als Experte auf den Friedenskonferenzen in Paris gewesen522. Er wurde unterstützt durch den italienischen General Armando de Marinis und den britischen Oberst Harold F. P. Percival. Die Franzosen hatten also ein entscheidendes Gewicht in der Region, sowohl in militärischer wie ziviler Hinsicht. In lokaler Hinsicht kontrollierten sie mehr als elf von den 21 Distrikten der Provinz523. Sie verkörperten also, neben den Polen, den Hauptfeind für die „deutschen Schlesier“. Die Beziehungen zwischen den französischen Truppen und der Bevölkerung blieben deshalb gespannt und wie 518 519 520 521 522 523

Lesiuk 1995 [638], S. 236. Dosse 1987 [583]. Lesiuk/Sroka 1996 [639], S. 174. Eichner 2002 [585], S. 51. Campbell 1970 [572], S. 364. Ebd.

4. Die Mandatsgebiete

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auch anderswo geprägt von einem vom Krieg und den Zwischenfällen zwischen Soldaten und Zivilisten ererbten „Hass“524, der charakteristisch für diese Periode war und für die anderen Regionen Deutschlands bereits beschrieben wurde. Der englische Oberst und Kommissar Percival notierte nach dem Tod eines französischen Soldaten im März 1920 lakonisch: „Franzosen und Deutsche können nicht zusammenleben, ohne dass es zu Auseinandersetzungen kommt“525. Die „Deutsch-Schlesier“ und die Behörden in Berlin beschuldigten die französischen Truppen regelmäßig, wenn schon nicht mit den Polen zu paktieren, so doch auf jeden Fall sie zu bevorzugen und eine zumindest gleichrangige Gefahr für die Verteidigung des Deutschtums zu sein526. Die Wirklichkeit ist bisweilen nuancenreicher, auch wenn General Gratier, der die Besatzungstruppen kommandierte, und eine größere Anzahl von Soldaten sich wirklich als den Deutschen feindliche Befreier fühlten527. Daher blieben die französischen Truppen während der Ereignisse, die zum zweiten polnischen Aufstand führten, manchmal passiv. Dieser stellte die zweite schwere Krise in dem Gebiet dar: Das Gerücht von der Einnahme Warschaus durch die Bolschewiken Mitte August löste Freudendemonstrationen bei den Deutschen aus, die in Plünderungen und Zerstörungen von polnischen Geschäften in Kattowitz ausarteten528. Während dieser Ereignisse taten die französischen Truppen so gut wie nichts, um diesen deutlich anti-polnischen Aufruhr zu unterdrücken. Die Reaktion war ein zweiter Aufstand, dessen Ursprung lokaler Natur war – auch wenn sich Polen von der anderen Seite der Grenze zu den Aufständischen gesellten – und nicht von Warschau ferngesteuert, das mit dem bolschewistischen Einmarsch beschäftigt war. In diesem Moment gab es durchaus, so scheint es, einige Fraternisierungen zwischen französischen Truppen und polnischen Aufständischen529. Der Aufstand kostete ungefähr 90 Menschenleben und hatte eine ernste Krise mit den Briten zur Folge530, die den Franzosen ihren Mangel an Neutralität in dieser Angelegenheit vorwarfen. Diese Krise kündigte bereits in gewisser Weise die jeweilige Position der einen und der anderen Seite in der Ruhrkrise an und verlängerte die während der Verhandlungen in Paris angetroffenen Schwierigkeiten. Englische Offiziere zogen sich aus der interalliierten Kommission zurück, Lord Curzon übte – erfolglos – Druck aus, um Le Rond auszuschalten. Der Aufstand machte die gute Organisation des Plebiszits noch dringlicher, dessen Abhaltung für März 1921 festgesetzt wurde. Die Wahlkampagne war die 524 Eichner 2002 [585], S. 56. 525 Zitiert nach ebd., S. 86. Über die Funktion dieser Vorfälle (Beleidigungen, Prügeleien etc.) siehe unten. 526 Tooley 1997 [671]. 527 Tooley 1988 [670]. 528 Eichner 2002 [585], S. 97 ff. berichtet davon etwas ziemlich Anderes. 529 Ebd., S. 99 –101. 530 Tooley 1988 [670], S. 78; Eichner 2002 [585].

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II. Fragen und Perspektiven

Gelegenheit zur Herausbildung sehr radikaler Fremdbilder531 und von Identität bildenden Treueiden, die auf dem nationalen Rahmen gründeten. Auch politische Gewalt kam vor. Der in der Region aktive Chef der Freikorps, Heinz Oskar Hauenstein, brüstete sich bei einem Prozess 1928 sogar damit, 200 Fememorde zur Zeit des Plebiszits begangen zu haben532. Anlässlich des Ruhrkampfes wurde er erneut gegen die Franzosen aktiv. Die Wahlpropaganda verbreitete ebenfalls ein Fremdbild, das überaus gewalttätig und auf einen Gegensatz Deutsche/Polen gegründet war, der vor dem Krieg nicht unbedingt für die Region zutraf. Diese Grenzregionen waren nämlich durch vielfältige Identitäten charakterisiert, die der Prozess des nation-building im 19. Jahrhundert nicht komplett aufgelöst hatte. Mit dem Plebiszit wurde die Bevölkerung Oberschlesiens, deren regionale Identität stark ausgeprägt und gleichzeitig von Deutschland und Polen geprägt war, aufgefordert, sich zu entscheiden. Das Recht der Völker auf Selbstbestimmung drückte sich in einer Verpflichtung aus, gleichzeitig eine Identität, eine Nationalität und eine Staatsbürgerschaft für sich zu wählen. Der Ablauf des Referendums war relativ ruhig, trotz zahlreicher patriotischer Demonstrationen in den Bahnhöfen zum Empfang der Züge mit Wählern aus Deutschland (ungefähr 190 000 Personen). 707 488 Wähler stimmten für Deutschland und 479 369 für Polen, was etwas weniger als 60 % für Deutschland bedeutete. Die Auszählung erfolgte auch für die Anzahl der Gemeinden, von denen 844 für Deutschland und 678 für Polen gestimmt hatten533. Der Terror und die Gewalt waren zwar präsent in dem Gebiet, spielten aber nur eine kleine Rolle für das Resultat des Referendums selbst und waren mit Sicherheit weniger bedeutend als die 190 000 Schlesier, die aus Deutschland zum Wählen gekommen waren. Die politische Gewalt erfüllte zweifellos andere Funktionen als die der Wahlbeeinflussung. Sie gehörte wie eine Art symbolische Sprache zum Prozess der ethnischen Differenzierung zwischen deutschen und polnischen Schlesiern, wie sie auch in der Wahlkampagne durchgeführt worden war. Zudem regelte das Plebiszit nicht alles und bedeutete auch keinen Rückgang der Gewalt. Im Gegenteil, diese steigerte sich noch anlässlich des dritten Aufstands, der in sehr gewalttätige paramilitärische Auseinandersetzungen mündete, die auch italienische und französische Besatzungstruppen einschlossen. Nach der Beratung und Festlegung des Grenzverlaufs durch die Treuhandbehörden des Gebiets am 30. April 1921 erhitzten sich die Gemüter. Korfanty, der Anführer der polnischsprachigen Bevölkerung in der Region, zeichnete für einen Artikel mit dem andeutungsvollen Titel Die Diplomaten haben gesprochen verantwortlich, in 531 Grosch 2002 [602]. 532 Tooley 1997 [671], S. 229–233 und Tooley 1988 [670]. Für Hunt Tooley ist diese Zahl übertrieben und Teil der Mystifizierung der Freikorps als Retter Oberschlesiens, aber er bescheinigt dennoch ein Klima der politischen Gewalt, da man anderweitig weiß, dass diese politischen Morde begangen worden sind. 533 Tooley 1997 [671], S. 218–252; Blanke 1993 [568].

4. Die Mandatsgebiete

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dem er den Grenzverlauf, noch bevor er das offizielle Protokoll der Verhandlungen besaß, in dramatischer und unrichtiger Weise schilderte. Am 2. und 3. Mai – dem polnischen Nationalfeiertag – brach der Aufstand mit mehr als 40 000 Teilnehmern aus. Sie besetzten rasch mehr als die Hälfte der Provinz bis zur „sogenannten Korfanty-Linie“, die im Westen weit über die offizielle Grenzmarke hinausging. Am 18. Mai beschlossen der neue Kanzler Joseph Wirth und Verteidigungsminister Gessler, Freikorps unter der Kontrolle von General Karl Höfer nach Oberschlesien zu entsenden. Diese hatten sich bereits vor der offiziellen Entscheidung in Marsch gesetzt534. Am 21. Mai fand die berühmte „Schlacht von Annaberg“ statt, die in einen deutschen Sieg mündete. Erst im Juli gelang es den Besatzern, die relative Kontrolle über die Lage zurückzuerlangen. Diese Schlacht von Annaberg spielte in der Folgezeit eine entscheidende Rolle in der Mythologie der Freikorps, und die Kampagne in Schlesien markierte, wie auch die anderen Kampagnen der Freikorps, den Beginn einer zweiten Dolchstoßlegende, die sich an die erste anschloss. Für die Rechte und die extreme Rechte verschleuderten die Weimarer Politiker den in diesen Gebieten errungenen Sieg und verrieten die Kämpfer ein zweites Mal, indem sie die Teilung der Provinz durch die Alliierten akzeptierten: Für sie hatten diese Politiker die Freikorps schlichtweg um ihren erlösenden Sieg im Osten gebracht535. Diese Version wird zum Beispiel sehr klar von Ernst von Salomon in seinem Buch Nahe Geschichte zum Ruhme der Freikorps übernommen, das 1936 veröffentlicht wurde. Indem sie den vom Ausland diktierten Kompromiss akzeptierten, oder akzeptieren mussten, wurden die Weimarer Politiker de facto in den Augen der Feinde der Republik selbst Gefolgsleute der Fremdherrschaft. Die aufeinanderfolgenden Regierungen befanden sich daher in einer Art Falle. Selbst wenn sie die Revision der Grenze forderten – der Reichstag hatte die Vereinbarung über Oberschlesien mit auf Halbmast gezogenen Flaggen angenommen –, konnten sie des doppelten Spiels und des Verzichts beschuldigt werden. Auf lokaler Ebene schien die Rückkehr zur Ruhe nicht die Feindseligkeiten gegenüber den Besatzern zu mildern, die dies erlaubt hatten. Ganz im Gegenteil, die nunmehr durch 2000 britische Soldaten verstärkten Franzosen waren noch immer die Zielscheibe des Hasses vor allem der deutschstämmigen Bevölkerung, und die Bereitschaft zur Gewalt schien in der Bevölkerung weit verbreitet. Am 18. Oktober 1921 – in dem Moment, als die neue Grenzziehung gerade bekannt war – wurden französische Soldaten in Hindenburg angegriffen und einer von ihnen getötet536. Die Besatzer mussten sich der Unzufriedenheit der Bevölkerung und der Problematik einer ausgebluteten Wirtschaft stellen, die Arbeitslose in großer Zahl produzierte, und auch 40 000 Flüchtlingen, die von zu Hause vertrieben worden waren. 534 Tooley 1988 [670], S. 95–96. 535 Barth 2003 [270]. 536 Eichner 2002 [585], S. 221 ff.

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II. Fragen und Perspektiven

Schließlich verlor Deutschland fast 30 % des schlesischen Territoriums, vor allem aber den größten Teil seiner Minen und Industrie. 53 von 67 Kohleminen kamen zu Polen, ebenso wie alle neun Stahlminen und zehn von 15 Zink- und Bleiminen. Von 18 Kokereien behielt es nur sieben537. 1922 war Deutschland also noch viel abhängiger von der Ruhrindustrie als vorher. Hier musste es seinem Kriegsfeind sehr viel direkter gegenübertreten.

537 Lesiuk 1995 [638], S. 245.

5. Vom offenen Kampf zum Machtkampf 5.1.

Der Höhepunkt: Kampf, Krise und Krieg an der Ruhr 5. Vom offenen Kampf zum Machtkampf

Es ist nicht notwendig, die Fakten und Ereignisse, die in die Ruhrkrise mündeten, aneinanderzureihen538. Diese Verkettung sowie die Rolle der verschiedenen Akteure beim Prozess der Entscheidungsfindung sind weitgehend von Historikern aufgearbeitet worden, auch wenn manche Punkte unklar bleiben. Allerdings waren die Historiker nicht immer unparteiisch in dieser Angelegenheit. An der Seite anderer Intellektueller wie den Schriftstellern539 hat eine bestimmte Anzahl unter ihnen durch ihre Schriften selbst in gewisser Weise am Ruhrkampf teilgenommen, und dies sogar vor der Radikalisierung durch die Nationalsozialisten. Die erste Art, dies zu tun, bestand just darin, die Ereignisse und die Besatzung von 1923 als Kampf darzustellen. Diese angriffslustige Geschichtsschreibung hat vor allem eine objektive Auszählung der Opferzahlen im Ruhrkampf verhindert540. Auch wenn sie manchmal auf latente Weise fortdauern mag, ist diese Historiographie doch zum großen Teil durch eine andere ersetzt worden, die die internationale Krise, die sich im Ruhrkampf verdichtet, in den Vordergrund stellt. Erst seit kurzem sind die Kontinuitäten mit dem Krieg von 1914– 1918, nicht nur hinsichtlich der Politik, sondern auch der Mentalitäten und Kulturen, herausgearbeitet worden, wie auch die sozialen Auswirkungen der Besatzung auf die Bevölkerung541. So gewalttätig diese oberschlesische Episode auch war, sie stellte hauptsächlich Polen und Deutsche gegenüber. Die des Ruhrkampfs kann als die gewalttätigste Episode zwischen Franzosen und Deutschen angesehen werden und stellt den Höhepunkt ihrer Beziehungen dar. Sie kann demnach den Sinn enthüllen, der den Besatzungen der Zwischenkriegszeit gegeben werden konnte als „eine Art fortführende Wiederholung, ein charakteristisch umgeformtes Echo dessen, was Frankreich und Belgien unter der deutschen Kriegsbesatzung von 1914 –1918 erlebt hatten“542. Auch wenn es sich um eine einzigartige Erfahrung handelt, bei der die Franzosen Gefallen daran gefunden haben, die Übereinstimmung mit dem Friedensvertrag zu demontieren, wird sie auf beiden Seiten als eine „Kriegsbesat538 539 540 541 542

Siehe Kapitel I.2. Cornelissen 2004 [578], Cepl-Kaufmann 2004 [574]. Diese Rechnung wurde erst vor kurzem aufgestellt: Jeannesson 2004 [616]. Siehe unten. Jeannesson 1998 [614], Fischer 2003 [589], Krumeich/Schröder 2004 [632]. Krumeich 2004 [631], S. 9.

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II. Fragen und Perspektiven

zung“ erlebt, die mit staatlicher Gewalt (Requirierungen, Ausweisungen, Niederschlagung von Streiks etc.) und/oder organisierter Gewalt (Attentat, Streik, passiver Widerstand) ebenso wie mit spontaner und/oder individueller Gewalt einhergeht, etwa in Form von Zusammenstößen zwischen Besatzern und Besetzten und Vergewaltigungen. Letztere nehmen wieder zu während der Phase der heftigsten Opposition zwischen Besatzern und Besetzten zwischen Februar–März und Juni–Juli 1923, was auch der Periode des stärksten Widerstands und der schlimmsten Repressionen entspricht. Von Januar 1923 bis Juli 1924 gab es laut deutschen Quellen im Rheinland und im Ruhrgebiet 87 Vergewaltigungen und 45 versuchte Vergewaltigungen, und laut französischen Quellen 59 Vergewaltigungen und 20 versuchte Vergewaltigungen, davon 2/3 von Februar bis Juni 1923543. Die Gewalt überschreitet somit den Rahmen zwischenstaatlicher Auseinandersetzung, um sich im sozialen Gefüge auszubreiten. Die Anzahl der Opfer schwankt zwischen 154 getöteten Zivilisten und 112 durch Kriegswaffen schwer Verletzten gemäß deutschen Quellen gegenüber 118 und 74 laut französischen Quellen544. Bestimmte Episoden erhalten einen besonderen Symbolwert und werden anschließend von der Propaganda mystifiziert. So ist es mit der bekannten Episode der Hinrichtung des Nazi-Aktivisten Albert Leo Schlageter am 26. Mai 1923 oder mit dem sogenannten „Blutige(n) Karsamstag“ von Essen, bei dem am 31. März 13 streikende Arbeiter durch französische Kugeln den Tod fanden545. Diese tragischen Episoden und ihre Instrumentalisierung ermöglichten es, die Opfer zu Märtyrern zu machen. Sie ermöglichten es auch, die Bevölkerung in einer Art Burgfrieden gegen die Fremdherrschaft noch mehr zusammenzuschweißen. Die Kommunisten hatten zunächst die Annäherung an ihre französischen Kollegen gesucht, um zusammen eine typische Aktion des „Entente-Imperialimus“546 anzuprangern, und lehnten es aufgrund ihrer Opposition zu den Regierungshandlungen und zum sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert ab, sich der „nationalen Abwehrfront“ anzuschließen. Die Niederschlagung der Revolution durch Noske 1919 und des Ruhrkriegs von 1920, die sie in Opposition zur Reichswehr gebracht hatten, waren noch lebendig, und Heinrich Brandler, der Vorsitzende der KPD, ging sogar so weit, am 16. April 1923 anlässlich der vorausgegangenen Ereignisse zu erklären: „Diese 3. Invasion war die mildeste, die er (der Ruhrarbeiter) jemals erlebt und durchgemacht hat“547. Diese Strategie bestand darin, gleichzeitig die Franzosen und den passiven Widerstand anzuprangern, der sich beispielsweise in Propagandaaktionen gegenüber den französischen Truppen ausdrücken konnte, jedoch nach dem „Essener Blutsamstag“ von der 543 Jeannesson 2004 [616], S. 212–214. 544 Ebd., S. 210 – 211. Die Zahlen beziehen sich auf die Periode von Januar 1923 bis Juli 1924 und betreffen sowohl das Ruhrgebiet wie das Rheinland. 545 Wisotzky 2004 [678]. 546 Zitiert nach Schröder 2004 [663], S. 169. 547 Ebd., S. 178.

5. Vom offenen Kampf zum Machtkampf

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Basis nicht verstanden wurde. Die KPD veränderte also ihre Taktik: Nach dem Vorbild der Arbeiter im Ruhrgebiet, die immer stärker zum passiven Widerstand übergingen, zögerten Karl Radek und die KPD nicht mehr548, eine nationalistische Rhetorik in ihren Reden einzuführen, indem sie den „idealistischen Einsatz“ von Albert Leo Schlageter, den „mutige(n) Soldat(en) der Konterrevolution“ würdigten549. Die internationalistische Annäherung an die französischen Kameraden wurde somit geopfert, um in Kontakt mit der Wählerbasis zu bleiben, die Front gegen die Franzosen machte. Der Historiker Joachim Schröder spricht sogar von einer „spontane(n) Radikalisierung der Ruhrarbeiterschaft“ und vom „Schlageter-Kurs“, um den neuen Diskurs der KPD zu beschreiben550. Langfristig ermöglicht der Widerstand gegen die französische Anwesenheit vielleicht, hier eine „Renationalisierung der Arbeiterbewegung“551 in Gang zu setzen, die, wie zur selben Zeit im Saarland, aufgrund der ausländischen Präsenz und ihrer Stigmatisierung einen gewissen Erfolg erringt552. Aber der „passive Widerstand“ hatte von Beginn an etwas sehr Aktives, zum Teil von der Bevölkerung selbst übernommen, zum Teil von den aktivistischen Organisationen, vor allem der extremen Rechten, die hier die Gelegenheit fand, zur Aktion überzugehen und sich zu legitimieren. Laut Gerd Krüger, der sich auf deutsche Quellen stützt553, beläuft sich die Anzahl der Opfer unter den Besatzungstruppen (diesmal für die gesamte Periode 1921–1925) auf 141, zu denen man noch eine gewisse Anzahl französischer Zivilopfer zählen muss. Die Besatzung hat auch eine Dimension des Bürgerkriegs. Aber während die Revolution und anschließend der Ruhrkrieg von 1920 die Lager gemäß politischen und sozialen Kriterien gegenübergestellt haben554, richtet sich dieser neue „Bürgerkrieg“ gegen die „Vaterlandsverräter“, denn die Attentate sind auch gegen Deutsche gerichtet, die der Sympathie mit den Franzosen verdächtigt werden. Die Besetzung des Ruhrgebiets lässt also, zumindest für eine gewisse Zeit, die politischen Bruchlinien hinter sich, indem sie die Gegner von gestern hinter sich vereinigt. Obwohl diese Attentate gegen die „Verräter“ sicherlich nicht direkt von den Behörden unterstützt wurden, bedrohten diese die „Verräter“ doch mit der ganzen Strenge des Gesetzes, was letztlich zu einer Verwirrung zwischen legaler und öffentlicher Gewalt einerseits und privater Gewalt andererseits führte, da sie dieselben Ziele hatten. Reichspräsident Ebert erließ am 3. März 1923 eine Verordnung, die die Verurteilung zu mindestens zehn Jahren Gefängnis bis hin zu „lebenslänglich“ vorsah für denjenigen, der „während der in der Friedenszeit 548 549 550 551

Hecker 2004 [607]. Zit. nach Schröder 2004 [663], S. 181. Ebd., S. 181. Krüger 2004 [630], S. 253. Hans Mommsen stellt diese Vorstellung nuanciert dar: Mommsen 2004 [648], S. 310. 552 Mallmann 1987 [641]. 553 Krüger 2004 [630]. 554 Eliasberg 1974 [586].

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II. Fragen und Perspektiven

erfolgten Besetzung deutschen Gebiets durch fremde Macht dieser in wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Angelegenheiten als Spion dient oder Spione dieser Macht aufnimmt, verbirgt oder ihnen Beistand leistet“555. Dies entsprach nicht mehr und nicht weniger als der Anwendung der in Kriegszeiten verhängten Strafen für Hochverratsverbrechen. Zudem war das Dekret ein klares Echo auf die Spionnitis der Anfänge des Großen Kriegs. Der Freikorpsführer Hauenstein, der sich in Oberschlesien bereits durch seine Fememorde an ,Spionen‘ und ,Verrätern‘ hervorgetan hatte, übernahm hier seine Aufgaben und exekutierte, nach den Aussagen seines Vorgesetzten, acht in französischem Dienst stehende ,Spitzel‘556. Diese Gewalt richtete sich auch gegen jene Männer oder Frauen, die verdächtigt wurden, „Franzosengaffer“, „Franzosenfreunde“ oder „Franzosenliebchen“ zu sein557. Sie erlaubte es, Rechnungen zu begleichen und die Bevölkerung zu ,disziplinieren‘ – vor allem die Frauen –, die sich nicht der gewünschten Haltung des Widerstands anschlossen. Man konnte die Einrichtung von „Scherenklubs“ beobachten, die Frauen die Haare abschnitten, die in Verdacht standen, mit dem Feind Umgang zu haben. Die Anhebung des Gewaltniveaus ermöglichte es, in diesem Bereich zur Tat zu schreiten, um die Frauen zu bestrafen, die als nonkonformistisch erachtete Verhaltensweisen an den Tag gelegt hatten, und gleichzeitig eine Warnung für die Zukunft auszusprechen. Auf dem Gebiet der Regulierung von sexuellen Beziehungen mit dem Besatzer führten diese Praktiken in gewisser Weise die Kampagne der „Schwarzen Schmach“ weiter. Es ging also auch darum, jegliche Normalisierung der Situation zu verhindern und vorauszusehen, selbst wenn das Gewaltniveau wieder anstiege. Die Berichte von diesen Szenen, wie jener, der im Februar 1923 in einer illegalen Zeitung veröffentlicht wurde, sollten als Warnung dienen: „Zwei Mädchen aus Remscheid, die sich in Lennep mit Franzosen amüsiert hatten, mussten infolge der drohenden Haltung der Lenneper Bevölkerung unter militärischem Schutz zum Zuge gebracht werden. Mitglieder des ,Scherenklubs‘ sind ihnen nach dem unbesetzten Remscheid gefolgt und haben ihnen die Haare abgeschnitten. Von der Bevölkerung wurden sie dann barhäuptig durch die Straßen getrieben“558.

Die Frauen wurden manchmal sogar der öffentlichen Geißelung ausgesetzt, an einen Pranger gebunden, und ihre Namen wurden in den illegalen Zeitungen oder außerhalb des Ruhrgebiets in Rubriken oder Tabellen unter dem Titel Dirnenpranger, Am Pranger, Franzosendirnen, Schandtafeln oder Am Schandpfahl veröffentlicht559. 555 556 557 558 559

Zitiert nach Krüger 2004 [630], S. 240. Ebd., S. 242. Ebd., S. 246 – 249. Zitiert nach ebd., S. 248. Ebd., S. 248 – 249.

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Diese demonstrative Gewalt zielte auch darauf, die Bevölkerung zu ,ermutigen‘, weiterhin Widerstand gegen den Besatzer und die Separatisten zu leisten, die von der Situation profitierten560. So etwa am Sonntag, dem 30. September 1923 in Düsseldorf (Düsseldorfer Blutsonntag). Die Franzosen gestatten nicht nur die Durchführung einer großen Demonstration der Separatisten in den Straßen der Stadt, sondern stellen kostenlos ihre Züge zur Verfügung, um die Demonstranten zu begleiten, und verbieten jegliche Behinderung durch die Lokalbehörden561. Als Antwort auf diese Demonstration rufen die Gewerkschaften dazu auf, den Demonstranten einen „Totensonntag“ zu präsentieren, indem man sich völlig in das Innere der Häuser und öffentlichen Gebäude zurückzieht. Die Demonstration artet jedoch aus. Ungefähr 10 000 Separatisten, darunter 2000 bewaffnete, treffen in der ganzen Region ein. Schüsse werden mit der örtlichen Polizei gewechselt, die französische Kavallerie greift die Polizei an. Die Bilanz ist bedrückend: Drei Polizisten und sieben Zivilisten werden getötet, 146 Personen verwundet. Aber abgesehen von der Anzahl der Opfer dieser verschiedenen Gewalttätigkeiten, stellt die symbolische Dimension dieser Besatzung durch eine erneute Spaltung der Erinnerung die Verbindung zwischen dem Krieg und den laufenden Ereignissen her. Und dieses Echo betrifft beide anwesenden Parteien: Die im Krieg entstandene Rhetorik und Symbolik dieser Besatzung werden (re)mobilisiert, um den Feind zu stigmatisieren, ob es sich für die Franzosen darum handelt, friedlich zu „durchdringen“, oder für die Deutschen darum, es zu tolerieren und sich damit abzufinden. Es ist die Stunde der direkten Konfrontation. Somit erlebt die unmittelbare Geschichte des Ersten Weltkriegs ihre massive Wiederauferstehung. Französische Flugblätter, die in der Region verteilt werden, reproduzieren schlicht und einfach die deutschen Verordnungen zwischen 1914 und 1918 im Norden Belgiens, um die größere Brutalität der Besatzung in Kriegszeiten zu demonstrieren. Als Antwort darauf veröffentlicht der Simplicissimus ein Zitat eines schwedischen Professors – man appelliert an die Meinung der ,Neutralen‘ wie während des Krieges –, der gesagt haben soll: „Deutschland ist durch den Frieden mehr verwüstet worden als Frankreich durch den Krieg“562. Aus der Sicht der erlebten Erfahrungen verweisen die Gewalttätigkeiten und die Kämpfe auf Kriegserfahrungen. Trotz der extremen Spannung und der Wiederholung der Erinnerung und des Hasses hätte es mehr Tote geben können; die körperliche Gewalt ist sehr präsent, und es wird ihr ein bemerkenswertes symbolisches Gewicht beigemessen. Die Besatzung und der Kampf gegen den passiven Widerstand – vor allem die Evakuierungen und Ausweisungen – schließen sich an die Inflation an und verschlechtern die Lebensbedingungen der Bewohner der Region merklich, bis 560 Schnorrenberger 2004 [661], Fischer 2003 [589], S. 243 – 249. Im selben Jahr fand der separatistische Staatsstreich in Aachen statt. 561 Schnorrenberger 2004 [661], S. 291–292. 562 Zitiert nach Jeannesson 2004 [616], S. 227.

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schließlich Hunger und Kindersterblichkeit563 wieder zurückkehren wie in den schlimmsten Zeiten der Blockade und des Krieges. Ähnliche Lösungen wie die während des Konfliktes 1917–1918 in Kraft gesetzten werden in noch größerem Maße reaktiviert. Man beginnt damit, die Kinder aus den städtischen Zentren zu evakuieren, um sie in Gastfamilien auf dem Land oder in Kinderheimen unterzubringen. Im Juni sind bereits mehr als 10 000 chronisch kranke Kinder von insgesamt 40 000 evakuiert564. Doch die Gesundheits- und Sozialbehörden schätzen, dass es mehr als 200 000 Kinder sind, die in Sicherheit gebracht werden müssten, und das ab März 1923565. Im Oktober waren 214 087 Kinder provisorisch aus dem besetzten Westfalen evakuiert worden – das sind mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung – und ungefähr 100 000 aus der Region um Düsseldorf, Essen und Duisburg566, und zwar im Wissen, dass diese Evakuierungen im Kontext der Verwaltungsschikanen des Besatzers durchgeführt werden mussten. Diese Aktion ermöglichte es auch, die Verbindung zwischen Städten und dem Land – die sich vorher durch die revolutionären Unruhen und die Requirierungen verschlechtert hatte – zu verstärken und das besetzte Ruhrgebiet und Rheinland mit dem Rest Deutschlands gegen den gemeinsamen Gegner zusammenzuschweißen. Der Bauernverband stellte daher 500 000 Plätze in Bauernfamilien im ganzen Land zur Verfügung567, und Städte und Dörfer boten finanzielle und humanitäre Hilfe an. Dieser Feind konnte also in den Augen der ganzen Welt als Henker und jemand dargestellt werden, der Kinder aushungert. Die deutschen Karikaturisten verzichteten übrigens nicht darauf568. Eine dieser Zeichnungen mit dem Titel Auf dem Weg zur Schule zeigte einen Jungen hingestreckt zu Füßen von vier Soldaten. Die Bildunterschrift lautete: „Der Boche lebt noch, er hat Mutter gerufen“569. Eine andere zeigte abgemagerte Kinder, während gleichzeitig französische Soldaten ihre Milch mit Hunden teilten. Die Legende lautete: „Alle Kinder im besetzten Gebiet wissen, daß wir ihnen die Milch wegtrinken. Trotzdem behaupten die Boches, wir wären blutdürstig“570. Wie dem auch sei, der Hunger gehörte zum Alltag der Ruhrbesatzung und setzte sich auch nach ihr fort. Am Ende der Besatzung, als die Kinder nach Hause zurückzukehren begannen, betrug die Arbeitslosenrate 90 %. Conan Fischer schreibt, dass die Situation „nah einer Hungersnot“ war und dass „trotz dieses Leidens und trotz der daraus resultierenden Massenevakuierungen von Kindern (…) die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit hinter der Kampagne des passiven 563 564 565 566 567 568

Fischer 2003 [589], S. 108–135 und Fischer 2004 [590]. Fischer 2004 [590], S. 159. Ebd. Fischer 2003 [589], S. 133. Fischer 2004 [590], S. 163. Die abgebildeten Karikaturen in: Krumeich/Schröder 2004 [632], S. 21, 227, 228, 231, 350. 569 Ebd., S. 228. 570 Ebd., S. 21.

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Widerstands“ stand571. Man könnte sogar noch weitergehen und sagen, dass der Widerstand vielleicht gerade wegen des Leidens der Kinder – das die Erinnerungen an die Blockade wachrief – umso größer war. Diese Erinnerung an den Krieg findet sich auch bei den Franzosen und nicht nur in der bereits erwähnten Propaganda. Als der junge, aus Lille stammende Oberleutnant Colpin am 10. März 1923 im Ruhrgebiet getötet wird, taucht die ganze Kriegsgeschichte wieder auf. Man errichtet ihm ein Denkmal auf dem Friedhof von Lille, das die Inschriften der Kriegerdenkmäler des Ersten Weltkriegs übernimmt: „Gestorben für Frankreich in Buer (Ruhr) am 10. März 1923“572. Von Seiten der Besatzer wie der Besetzten werden diese aus dem Großen Krieg stammenden Vorstellungen von den Akteuren mobilisiert, um der durchlebten Erfahrung einen Sinn zu geben. Sie schöpfen in gewisser Weise aus einem Repertoire, das, zumindest bis 1924, alles andere als obsolet geworden ist und somit quasi konserviert wurde. Wenn man weiß, dass diese Vorstellungen im Moment des Abzugs der Besatzer remobilisiert und anschließend von den Nationalsozialisten anlässlich der Remilitarisierung des Rheinlands 1936 wieder genutzt wurden, kann man sich berechtigterweise fragen, ob diese Regionen in Deutschland nach der doppelten Niederlage im Ruhrkrieg und der spektakulären Wendung der Jahre 1924–1925 überhaupt vom „Geist von Locarno“ und einer mentalen Befriedung berührt worden sind.

5.2. Die Illusion der Befriedung und die kulturelle Auseinandersetzung zwischen Besatzern und Besetzten im Rheinland Die Jahre, die dem Rückzug der französischen Truppen aus dem Ruhrgebiet folgten, der Dawes-Plan vom 16. August 1924 zu den Reparationsleistungen und dann die Locarno-Verträge (16. Oktober 1925) oder auch der Abzug der britischen Truppen aus dem nördlichen Rheinland, die eine weitgehende internationale Befriedung der Spannungen darstellten, erzielen auch Rückwirkungen auf der Ebene der Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten, aber die Spannungen bleiben bestehen. Wenn die Opposition auch weniger direkt ist, wird doch häufig auf künstlerische Propaganda, auf die Mobilisierung der Erinnerung zurückgegriffen, um den Einfluss des Anderen zu „bekämpfen“. Die Franzosen führten seit ihrer Ankunft in den rheinischen Gebieten eine aktive Kulturpolitik durch, die sie nach 1925 fortsetzten. In Fortsetzung der verschränkten Erfahrungen der aus dem Krieg entstandenen künstlerischen Propaganda hatte die prestigeträchtige Ausstellung in Wiesbaden 1921, die den Rheinländern das französische künstlerische Schaffen prä571 Fischer 2004 [590], S. 166–167. 572 Becker 2004 [566], S. 258.

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sentieren sollte573, ein paradigmatisches Beispiel dieser Form von Propaganda geliefert. Auf lokalerer Ebene und näher an der Bevölkerung stellten auch die Kurse zur französischen Sprache und Kultur eine Art dieser kulturellen Tätigkeiten des Besatzers dar. Bisweilen stießen sie, zur großen Enttäuschung mancher Patrioten, auf einen gewissen Erfolg. Um 1922 gab es laut deutschen Quellen demnach ungefähr 10 000 Sprachschüler im Rheinland (darunter 3000 Kinder und Gymnasiasten) und 4000 in der Pfalz574. Wenngleich dieser relative Erfolg nicht unbedingt eine Zustimmung zu den französischen Werten bedeutete, sondern sich in eine Strategie der Anpassung an die Besatzung einfügte, prangerten ihre größten Gegner ihn mit ganzer Macht an, wie der Bürgermeister von Landau: „Da ging es zu wie vor der Festhalle bei einer schönen Theatervorstellung. Männlein und Weiblein, meist junge Leute, strömten in ununterbrochenem Zug herbei.“

Die Gefahr war umso größer als: „Man wird sie nicht nur französische Sprache lehren, sondern ihnen auch franzosenfreundliche Empfindungen beizubringen suchen“575.

Diese Befürchtung war zum Teil unbegründet, denn der Besatzer griff in großem Maße auf lokales Personal zurück, um die Kurse abzuhalten. In Wiesbaden gab es 1920 bereits 12 Französischlehrer deutschen Ursprungs von insgesamt 17576. Die Behörden in Berlin wollten zudem beruhigend und vorsichtig sein und sprachen sich dafür aus, eine direkte Auseinandersetzung mit den Okkupationsbehörden in dieser Angelegenheit zu vermeiden. Dennoch stimmt es, dass die Kultur und die Geschichte, abgesehen von den Sprachkursen, Gestaltungsmittel waren, die sowohl von den Besatzern wie den Besetzten in Anspruch genommen wurden, um die verschiedenen Zeiten der regionalen und der deutsch-französischen Geschichte zu ihren Gunsten zu nutzen. Den Franzosen gefiel es, die günstige Aufnahme der Französischen Revolution in den rheinischen Gebieten sowie Episoden wie die der Mainzer Republik in den Vordergrund zu stellen. Sie gedachten auch der Teilnahme von Bewohnern der Pfalz oder des Rheinlandes an der Großen Armee Napoleons. Die napoleonischen Erinnerungen wurden so zum Beispiel „im Schlafzimmer des Kaisers im Mainzer Schloss“ ausgestellt577. Diese Veranstaltungen hatten ebenso zum Ziel, der deutschen Bevölkerung die historische Legitimität der französischen Anwesenheit in der Region vor Augen zu führen, wie diese Legitimität gegenüber der Bevölkerung des Besatzers zu stärken, indem man sie mit den notwendigen Argumenten und Rechtfertigungen versah, 573 Brunn 1989 [571], Kreutz 1995 [629], Kostka 2005 [627], Kostka 2004 [807], Tirard 1930 [81]. 574 Kreutz 1995 [629] S. 33. 575 Kienitz 2006 [618], S. 38. 576 Brunn 1989 [571], S. 226. 577 Tirard 1930 [82], S. 276.

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und dabei, wie Paul Tirard schrieb, „die französischen Familien des Besatzungskorps im intellektuellen Ambiente unseres Landes (behielt)“.578 Es ging um nicht mehr oder weniger als darum, sich nicht von der Kultur des Feindes in den Bann ziehen zu lassen, indem man seine eigene kultiviert und sie ihm als natürlich überlegen anbietet. Der Historiker Gerhard Brunn kann in diesem Sinne schreiben, dass „die Kulturpolitik von Hochmut und Arroganz geprägt (war), so als ob man einer Kolonialbevölkerung erst wahre Kultur vor Augen führen müsse“579. Es ist möglich, dass die Kolonialvorstellung die Besatzungspolitik der „friedlichen Durchdringung“ beeinflusst hat. Paul Tirard war selbst von 1913 bis 1917 in der marokkanischen Kolonialverwaltung tätig gewesen, bevor er seine Aufgaben in Deutschland übernahm580. Aber die gewählten historischen Referenzen konnten zweischneidig sein und vom Besetzten umgewendet werden, um im Gegenzug die frühere Existenz französischer Herrschaft und Unterdrückung darzulegen, und dies umso mehr, als sich das deutsche Nationalgefühl in dieser Zeit zum großen Teil im Gegensatz zu Frankreich verstand581. Andere Daten und andere Epochen wurden herangezogen. Die Propaganda gegen die Besatzung in der Pfalz stellt eher 1689 als 1789 in den Vordergrund. Ein Plakat zieht eine Parallele zwischen den Daten 1919 und 1689 ebenso wie zwischen General Gérard, der mit der Verwaltung der Region beauftragt ist, und dem General und „üblen Mordbrenner“ Mélac, der sich an die zweite Plünderung der Pfalz machte, 14 Jahre nach der ersten von 1675. Einige Bewohner der Pfalz zögerten übrigens nicht, ihrem bösartigen Hund den Namen Mélac zu geben582. Dieses beiderseitige Heranziehen der Geschichte war mit der Befriedung der Jahre 1924–1925 nicht beendet. In gewisser Weise kulminierte es sogar zu Beginn dieser diplomatischen Ruheperiode, und dies sowohl auf lokaler Ebene wie auf der Ebene der gesamten besetzten Territorien. Im Mai 1925 erfindet das Dorf Lustadt ein „Fest der Käsemacher“583. Anlässlich der Feier tanzen die kleinen Mädchen des Dorfes in schwarz-weiß-roter Tracht. Die Feier findet anschließend jährlich statt bis zum Jahr 1930, als die französischen Truppen abziehen. Da sie nutzlos geworden ist, wird sie nicht mehr durchgeführt, bis sie von den Nationalsozialisten 1934 reaktiviert wird. Diese „erfundene Tradition“584 dient hier dazu, dem Besatzer den deutschen Charakter der Heimat darzustellen. So wurde die regionale Identität, deren sich die Franzosen bedienen wollen, um die besetzten Gebiete von der nationalen

578 579 580 581 582 583 584

Ebd. Brunn 1989 [571], S. 238. Köhler 1989 [620], S. 122; Jardin 1989 [613]. Wein 1992 [676], S. 83–89. Der Autor dankt S. Kienitz für diesen Hinweis. Kienitz 2006 [618]; siehe auch Applegate 1987 [556], S. 221– 359. Hobsbawm/Ranger 1983 [97].

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Identität abzutrennen, von den Organisatoren und Besuchern der Feier (mehr als 3000 Personen) vielmehr als eine Untereinheit der deutschen Identität präsentiert. Im Angesicht des französischen Besatzers war die Heimatpflege mit der Verteidigung des Deutschtums vereinbar, sie wurde sogar zu einer seiner Formen und geht sogar so weit, sich selbst in der nationalen Identität aufzulösen: Die Heimat war gerettet worden, wie jubelnde Publizisten 1930 in der ganzen Pfalz verkündeten, aber „während dieses Prozesses war sie auch verloren worden“585. Tatsächlich sollte die Besatzung das vollenden, was dem Krieg nicht gelungen war: das Gefühl der Treue zur Nation untermauern und die regionale und lokale Identität ein für alle Mal der nationalen Identität unterordnen586. Die regionale Identität benutzen, um das Deutschtum zu verteidigen, das ist es auch, was die Initiatoren der Rheinischen Jahrtausendfeier im Jahr 1925 auf regionaler Ebene und indem sie mit der Geschichte verschmolzen erreichen wollten. Kurz nach dem Abzug der französischen Truppen aus dem Ruhrgebiet beschließen die Kommunal- und Provinzbehörden auf Initiative der Bürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, und Duisburg, Karl Jarres, im folgenden Jahr eine große Jahrtausendfeier im gesamten Rheinland zu organisieren. Es geht darum, des Jahres 925 zu gedenken, das die Eingliederung Lothringens in das Ostfrankenreich markiert587. Das Datum war jedoch nur ein Vorwand. Es musste sogar der Bevölkerung ausführlich erklärt werden, der es nichts sagte, und das Jubiläum implizierte auch, dass die rheinischen Gebiete vor diesem Datum nicht deutsch waren588. Das Interesse an der Organisation dieser Gedenkfeier war es jedoch, der französischen Auffassung vom Rhein als Grenze589 mit historischen Argumenten entgegenzutreten und die Vorstellung durchzusetzen, dass die rheinischen Gebiete eine kulturelle Einheit darstellten und Teil der Geschichte des Reiches sowie Deutschlands waren. Diese Entscheidung ermöglichte es auch, den aus Berlin kommenden – und vor allem Adenauer gegenüber formulierten – Vorwürfen des Separatismus den Wind aus den Segeln zu nehmen und der historischen Propaganda des Besatzers entgegenzutreten590. Im Übrigen übernimmt Adenauer, der an der Spitze des Provinzialausschusses des Provinzlandtags steht, die Leitung des Organisationskomitees. Bei dieser Gelegenheit erweist er seine politischen Fähigkeiten, indem er beispielsweise bei dem zum Pazifismus konvertierten expressionistischen Dichter und Veteranen Fritz von Unruh ein Theaterstück für die Feier-

585 586 587 588 589

Applegate 1987 [556], S. 286–287. Ebd., S. 202 – 220. Wein 1992 [676], Koops 1995 [625]. Wein 1992 [676], S. 123. U. a.: Febvre 1994 [45], Flüeler 1966 [591], Kern 1973 [617], Kreutz 1995 [629], Kreutz 1992 [628], Beaupré 2005 [563]. 590 Wein 1992 [676], Koops 1995 [625].

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lichkeiten in Auftrag gibt. Unter dem Titel Heinrich von Andernach erzählt es, wie „die Begegnung mit dem unbekannten Soldaten zur Bekehrung des Winzers Heinrich zur Völkerversöhnung und zur Aussöhnung der politisch zerstrittenen Deutschen“591 beiträgt. An diese beiden Lektüreebenen schließt sich auch die Vereinigung der beiden Flussufer an und ermöglicht es, die Rolle der Rheinländer im Land zu würdigen und damit zu unterstreichen, dass der Rhein deutsch und Deutschland rheinländisch ist – ein Diskurs, der ebenso an Berlin wie an die Franzosen gerichtet ist. Außer diesem in Köln aufgeführten Stück und anderen offiziellen Veranstaltungen, die die von Adenauer geleitete Kommission organisierten, wurde auch lokalen Initiativen und Vereinigungen ein breiter Raum gelassen. So zählte man, um das Beispiel des Saargebiets zu nehmen, nicht weniger als 200 Ortsauschüsse592. Die Sportvereine bereiten menschliche Pyramiden und Freundschaftstreffen vor, Fanfaren und Choräle wiederholen die patriotischen Gesänge und vor allem das berühmte Saarlied von Hanns Maria Lux, das die Hymne des Kampfes gegen den französischen Einfluss ist: „Deutsch ist die Saar, deutsch immerdar! Und deutsch ist unsres Flusses Strand und ewig deutsch mein Heimatland. (…) Ihr Himmel hört, ganz Saarvolk schwört, lasset uns es in den Himmel schrei’n: wir wollen niemals Knechte sein, wir wollen ewig Deutsche sein“593.

Die Handelsverbände dekorieren die Straßen und Geschäfte. Die Haustiere werden in Schwarz-Weiß-Rot dekoriert594. Die Theatertruppen machen sich daran, Szenen aus berühmten und/oder patriotischen Stücken aufzuführen. Indem es über die Grenzen sendete, spielte das Radio – die Westdeutsche Funkstunde (WEFAG) – eine ebenso praktische wie symbolische Rolle, wie der Heimatdichter Karl Wagenfeld unterstreicht, der sich gegen die Zensur und die Empfangsverbote in den besetzten Zonen aussprach: „Den Rundfunk alle Menschheit hört, Nur deutschen Brüdern noch ist es verwehrt, Sie sollen nicht länger entrechtet sein! Funk frei für die Brüder an Ruhr und Rhein“595.

Jenseits der teils mit, teils ohne Hilfe des Radios verbreiteten Reden löschten die Feierlichkeiten in gewisser Weise die Grenzen, die durch die Auswirkungen 591 592 593 594 595

Ziemann 2000 [423], S. 80 ff. Linsmayer 1992 [640], 138. Hannig 1987 [605]. Paul 1987 [654]. Zitiert nach Mohl 2005 [647], S. 246.

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des Versailler Vertrags geschaffen wurden, jene zwischen rechtem und linkem Ufer, zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet, zwischen dem Saarland unter Mandat und dem Rest des Landes, aus596. Die räumliche Dimension der Feiern in der ganzen Region und an den beiden Ufern machte die Vorstellung vom deutschen Rhein greifbar, und nicht vom Rhein als Grenzfluss. Die Verse von Ernst Moritz Arndt, geschrieben zur Zeit der Befreiungskriege, kehrten wie als Leitmotiv zurück. Man konnte sie auf beflaggten Häusern plakatiert sehen, zusammen mit den Versen von deutschen Dichtern, die während des Rheinkriegs 1840 – 41 geschrieben wurden, vor allem von Nikolaus Becker: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“597. Der Diskurs über den deutschen Rhein dominierte alles. Man spielt Rheingold von Wagner. Ausstellungen in den größten Städten feiern seine Geschichte, man widmet ihm Publikationen wie die vom Historiker Aloys Schulte geleitete: Tausend Jahre deutscher Geschichte und Kultur am Rhein, veröffentlicht in Düsseldorf 1925598. Und es ist zweifellos kein Zufall, dass ebenfalls 1925 die Idee auftaucht, den „Unbekannten Soldaten“ im Bett des Rheins selbst unter einer Brücke zu bestatten, die für diesen Zweck gebaut und damit auf symbolische Weise das besetzte und unbesetzte Deutschland verbinden würde599. Wenngleich dieses Projekt nie verwirklicht wird, war der Widerhall auf diese Feiern enorm und mobilisierte die Bevölkerung weitgehend. Es wäre zu kurz gegriffen, ihn auf die von den konservativen Eliten orchestrierte Propaganda zurückzuführen, so sehr schien die Bevölkerung sich die Feiern zu eigen zu machen. In der Tat zeichneten sich die Jahrtausendfeiern „durch ein lebendiges Wechselspiel zwischen Organisation und Spontaneität, Zentralisation und Dezentralisation, Sinngebung und Sinnlichkeit, Kultur und Politik (aus), und dieses Wechselspiel begründete letztlich auch ihren für viele unvergesslichen Erlebniswert bzw. ihre charismatische Wirksamkeit im Sinne Max Webers“600. Die Gegendemonstrationen der Kommunisten oder Sozialisten hatten de facto keinerlei Erfolg. Die SPD organisierte in Saarbrücken eine alternative „proletarische Jahrtausendfeier“, die kaum 100 Personen versammelte, während die ganze Region sich an den rheinischen Feiern berauschte, bis in die sozialistischen und kommunistischen Bastionen hinein601. Franziska Wein behauptet ein wenig zu schnell zu diesem Thema, dass „die 596 Linsmayer 1992 [640], Paul 1987 [654]. 597 Linsmayer 1992 [640], S. 143. Über den Krieg der Dichter von 1840 siehe den Band von Michael Werner in dieser Reihe. 598 Wein 1992 [676], S. 128–130. 599 Adenauer hatte im vorausgegangenen Jahr vorgeschlagen, ihn im Kölner Dom zu begraben. Vgl. Ziemann 2000 [423], S. 81. Obwohl der Autor die Verbindung mit den Jahrtausendfeiern herstellt, erwähnt er nicht die französische Besatzung im Hintergrund. 600 Linsmayer 1992 [640], S. 146. 601 Ebd., S. 147.

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Feiern (…) erfolgreich (waren) – und folgenlos zugleich“602. Obwohl die folgenden Jahre vom Geist von Locarno und gewissen Verständigungsinitiativen geprägt sind, bieten sie doch die Gelegenheit, die hochpolitischen Rituale der Feiern von 1925 zu erneuern. Anlässlich des Rückzugs der britischen Truppen aus Köln, deren Anwesenheit weitaus besser erlebt wurde als die der Franzosen, wurden gigantische Befreiungsfeiern um den Kölner Dom herum veranstaltet, die, was eine große technische Leistung war, direkt im Radio übertragen wurden; der Dom wurde zudem, als ein Werk deutscher Kunst, in diesem ganzen Zeitraum pausenlos herangezogen603. Außerdem gab der Abzug der französischen Truppen 1929 –1930 in jeder Garnisonsstadt Anlass zu patriotischen Feiern, die als „Befreiungsfeiern“ bezeichnet wurden. Der Historiker Anton Golecki beschreibt die Festivitäten in Koblenz: „Als die letzten französischen Truppen am Vormittag des 30. November 1929 die Trikolore auf dem Ehrenbreitstein einholten und danach geschlossen über die Schiffbrücke zum Bahnhof abzogen, lasen die Koblenzer in der Volkszeitung ,Heute schlägt die Befreiungsstunde!‘ Um Mitternacht gab ein schwerer Kanonenschlag vom Neuendorfer Rheinufer aus das Zeichen für das Aufleuchten bengalischer Feuer auf den benachbarten Ufern, die Kirchenglocken läuteten, ein Männerchor sang am Deutschen Eck ,Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre‘, und Oberbürgermeister Russel zitierte in seiner Ansprache vor Zehntausenden von Koblenzern aus dem Text des Liedes ,Flamme empor‘: ,Finstere Nacht lag auf Germaniens Gauen, da ließ der Herrgott sich schauen, der uns bewacht (…) ›Licht, brich herein‹ sprach er; da sprühten die Flammen, schlugen in Fluten zusammen über dem Rhein. (…) Und er ist frei!‘“604

Der Kontrast zum Abzug der amerikanischen Truppen aus der Stadt 1923 war frappierend. Die Traurigkeit auf beiden Seiten war damals zu spüren, vielleicht auch weil die Franzosen anstelle der amerikanischen Soldaten kamen. Letztere hatten sich sogar mit den Deutschen solidarisiert, als sie sich von ihren Zügen aus über die ankommenden Franzosen lustig machten, indem sie Froschgesänge imitierten605. 1929 jedoch, als die Franzosen abzogen, gab es kein Bedauern. Der Koblenzer Fall war bei weitem nicht der einzige. Nach dem definitiven Abzug aus der dritten Besatzungszone am 30. Juni 1930 fanden in allen Städten zahlreiche Feiern statt. Noch 2002 erinnerte sich August von Kageneck an die buchstäblich körperlichen Emotionen, die den konservativen und patriotischen Jugendlichen, der er war, bewegten anlässlich des doppelten Ereignisses des französischen Truppenabzugs von 1930 und der Ankunft der Wehrmachtsabordnung sechs Jahre später: 602 603 604 605

Wein 1992 [676], S. 142. Mohl 2005 [647]. Golecki 1995 [597], S. 87–88; Bauer 1978 [562], S. 71–72; Golecki 1993 [596]. Zogbaum 2004 [681].

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II. Fragen und Perspektiven „Eines Tages wurden alle Schüler der Stadt zum Stadion gebracht, um dort an der ,Befreiungsfeier‘ teilzunehmen. Inmitten der kürzlich gehissten Flaggen der Republik ergriffen der Bürgermeister, der Präfekt und andere Kapazitäten das Wort, um dieses historische Datum zu verewigen. Es ging um die Treue zum Vaterland, die ,schrecklichen Jahre der Fremdherrschaft‘, die Freiheit … Die Menge stimmte die lange geächtete Hymne an, das Deutschlandlied. Leute weinten, und ich ließ mich von dem Gefühl mitreißen. In dem goldenen Buch von Blumenscheidt, das ich noch besitze, erwähnen all unsere Durchreisegäste das Ereignis: Der eine Gast nennt seinen Besuch ,am endlich freien Rheinufer‘, ein anderer seine Rückkehr auf diesen ,ewig deutschen Boden‘. Ja, die Besatzung durch die Franzosen war für uns so etwas wie die Annexion Elsass-Lothringens für eure Landsleute zwischen 1870 und 1914, ein Leiden und eine fixe Idee. Die zweite Etappe dieses psychologischen Prozesses der Befreiung war die Ankunft der deutschen Soldaten im Rheinland (…) Ich erinnere mich noch an meine Freude bei der Vorstellung, deutsche Soldaten wiederzusehen (…). Ich sehe noch die allerersten Soldaten vor mir, denen ich am Eingang der Stadt begegnete. (…) Die Truppe zog singend an uns vorbei. Ich erschauerte vor Freiheit“606.

Noch vor 1936 mobilisiert die Wahlkampagne zum Saarplebiszit, seit 1933, die in dieser Zeit kultivierten Bilder vom französischen Feind und Besatzer. Die politische Kultur dieser Regionen erschien zutiefst geprägt von der Besatzungserfahrung, und vielleicht noch mehr von der Politisierung dieser Erfahrung durch die verschiedenen politischen Akteure. Ludwig Linsmayer schreibt hinsichtlich des Saargebiets: Die „Grundsignaturen der politischen Regionalkultur 1920 – 32 waren der kulturelle Nationalismus und politische Ritualismus“607. 1935 erklärt sich das Abstimmungsergebnis „deshalb nicht in erster Linie aus den äußeren Einwirkungen des ,Dritten Reiches‘, sondern war in der politischen Regionalkultur selbst angelegt und seit langem vorgezeichnet“608. Die Besatzungserfahrung und ihre Interpretationen und Reinterpretationen spielen zweifellos eine zentrale Rolle in all diesen regionalen politischen Kulturen. Die ganze Schwierigkeit besteht darin, die Bedeutung dieser Erfahrungen und ihrer Interpretationen für die beiden Gesellschaften zu bemessen. Macht ihr Schwellen- und Grenzcharakter sie zu einer marginalen Erfahrung, obwohl das aus dem Krieg hervorgegangene mentale Werkzeug alle Schlüssel zur Verfügung stellt, um ihnen einen Sinn zu geben? Waren sie in diesem Fall Gründer neuer und spezifischer Identitäten?

606 Kageneck/Saint-Marc 2002 [58], zitiert nach Beaupré 2005 [563], S. 33. 607 Linsmayer 1992 [640], S. 455. 608 Ebd., S. 456.

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5.3. Marginale oder identitätsstiftende Erfahrungen? In den besetzten Zonen schien die ursprüngliche Faszination für den Sieger, für die Wolfgang Schiwelbusch den Begriff der „Kultur der Niederlage“609 benutzt, nicht besonders präsent gewesen zu sein, auch wenn sie manchmal aufzublitzen schien, zum Beispiel im Erfolg der französischen Sprachkurse. Die Feindschaft des Besiegten gegenüber dem Sieger hat die Bewunderung oder Faszination, ja sogar die Toleranz gegenüber dem Besatzer tatsächlich weit übertroffen. Diese war den separatistischen Fraktionen vorbehalten, die darin in illusorischer Weise die taktische Gelegenheit sahen, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Der gesamte Zeitabschnitt zeichnet sich eher durch eine Mischung von Anpassung an den Besatzungsalltag und mehr oder weniger gewalttätigen Episoden aus, alles auf der Basis einer massiven Ablehnung der Fremdherrschaft. Die Gewalt gehört jedoch zum Erfahrungshorizont der Akteure der Besatzung, der Besatzer wie der Besetzten, und dies nicht nur zu Beginn der Besatzung oder anlässlich der Episoden Oberschlesiens und des Ruhrgebiets. Auseinandersetzungen zwischen Besatzern und Besetzten waren häufig, und man sollte nicht denken, dass sie, weil sie von einer denunziatorischen Propaganda oft unmittelbar aufgebauscht wurden, nicht existierten. Abgesehen von dieser Verstärkung, vor allem durch eine Serie von anklagenden Weißbüchern, spielen die Fälle auch nur geringster Gewalt eine fundamentale Rolle bei der kulturellen Abgrenzung, umso mehr als sie einen Willen zum Widerstand auf der einen Seite und zu systematischer Unterdrückung auf der anderen Seite verraten610. Sie dienten dazu, die kulturellen Unterschiede zu betonen. Die Gewalt wurde somit eine Form der Sprache, ein Artefakt der Kommunikation. Es ging auf beiden Seiten darum, den kulturellen Kontakt, der imstande gewesen wäre, auch anderweitig zwischen Besatzern und Besetzten zu entstehen und sich vom anderen abzugrenzen, zu verhindern oder zu erschweren. In dieser Situation war die Gewalt ein „zentraler Bestandteil der Besetzungssituation (…) und (stellte) als ,Kulturzusammenstoß‘ nur eine spezifische Form des Kulturkontakts dar (…), ein Medium, mit dem sich die Beteiligten in der und über die Situation der Besatzung verständigten“611. Diese Handlungen – Aggression in der Dämmerung, gründliche Züchtigungen, Beleidigungen – waren vor allem für die einfachen Soldaten eine Möglichkeit, sich gegenüber dem Besetzten, aber vielleicht auch gegenüber der Hierarchie auszudrücken, die sich bemühte, den Besetzten mithilfe einer Kultur- und Vergangenheitspolitik, die an die gemeinsamen, vor allem in napoleonischer Zeit gemachten Erfahrungen erinnerte, auf seine Seite zu ziehen. Obwohl der Besatzer mit einer Verstärkung der regionalen Identitäten spie609 Schiwelbusch 2001 [185]. 610 Kienitz 2006 [618]. 611 Ebd., S. 41.

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II. Fragen und Perspektiven

len konnte, um die deutsche Identität zu untergraben, wurden eben diese regionalen Identitäten im Gegenteil eingesetzt, um die nationale Identität zu verstärken, wie es Celia Applegate für den Fall der Pfalz beschreibt: „Der Krieg, die französische Besatzung und die deutsche propagandistische Verteidigung des Rheinlands hatten eine Veränderung des Pfälzer Bewusstseins bewirkt, indem sie lokale Identität auf die Ebene nationalen Schicksals erhoben und die schlichten Werte der Heimat für den patriotischen Zweck des deutschen Überlebens einspannten“612. Man hat auch untersucht, bis zu welchem Punkt dies in den Mobilisierungen des jeweils Anderen spürbar war und wie die nationalen und regionalen Vergangenheiten einander entsprachen. Die Besatzungserfahrung verstärkte also die nationalen Identitäten und Feindschaften, und zwar umso mehr als sie wissentlich in eine zeitliche Tiefe und eine Strategie der Unterscheidung verwurzelt wurde. Die beiden nährten sich gegenseitig. Die alte und die neuere Geschichte lieferten einen analytischen Rahmen, der durch die Besatzungserfahrung verstärkt wurde, die wie eine Bestätigung des Gewussten erlebt wurde. In diesem Fall erreichte die direkte Erfahrung mit dem Anderen im Allgemeinen nur, dass das Repertoire von Feindbildern verstärkt wurde, und trug nur sehr wenig zu ihrem Abbau bei, was für einige Jahre wohl eher aus politischem Willen und weniger aus den ,inneren Kräften‘ der beiden Gesellschaften resultierte. Dies könnte die schwache Verwurzelung des Verständigungsgeistes in Deutschland erklären, obwohl der Hauch des Geistes von Locarno zunächst die alten Feindschaften zu beseitigen schien.

612 Applegate 1987 [556], S. 287.

6. Langsamkeit und Zufälligkeiten bei der kulturellen Demobilisierung: Zwei Fallstudien

6.1.

Die „kulturelle Demobilisierung“: Versuch einer Definition 6. Langsamkeit und Zufälligkeiten bei der kult. Demobilisierung

Die Kontakte zwischen deutscher und französischer Bevölkerung beschränkten sich dennoch nicht auf die von der Besatzungserfahrung genährten Animositäten. Die aktuellen exzellenten Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland sowie ihr gemeinsamer Beitrag zum Aufbau eines geeinten Europa haben zweifellos Historiker und Literaturspezialisten angeregt, in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit die Vorläufer dessen zu suchen, was man nach 1945 die „deutsch-französische Versöhnung“, dann „Freundschaft“ genannt hat. Auch wenn bei diesen Ansätzen eine, häufig unbewusste, teleologische Dimension mitspielt, haben diese Untersuchungen die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen umfassend erneuert, indem sie sie aus einem strikt diplomatischen Rahmen heraustreten ließen und ihnen eine näher an den beiden „Zivilgesellschaften“613 liegende Dimension anfügten. Diese Studien haben sich besonders für die kulturellen Eliten interessiert, soweit diese die Rolle von Vermittlern oder Multiplikatoren spielen konnten, was ihnen einen Einfluss über ihr ursprüngliches Feld hinaus verlieh. Sie stellten auch eine Gelegenheit dar, neue Ansätze zu testen, vor allem die Kulturtransfers, die transnationalen und jüngst miteinander verflochtenen Ansätze. Die Frage, die sich uns weiterhin stellt, ist die der Rolle und der Bedeutung dieser Kontakte – vor allem in Verbindung mit den inneren Dynamiken der beiden Nationen und den tieferen Ursachen – bei dem, was John Horne als „kulturelle Demobilisierungen“ bezeichnet hat; ein Prozess, in den er – in paradigmatischer Weise – den berühmten „Geist von Locarno“ einbezog, der die Geister unter der Ägide von Briand und Stresemann beruhigt zu haben schien614. Das Konzept der „kulturellen Demobilisierung“ postuliert die bisweilen diskutierte, aber unserer Meinung nach unstrittige Tatsache, dass der Krieg, wie es der Schriftsteller und Soldat Léon Werth in seinem Roman Clavel Soldat notierte, „die Ideen (geschaffen hatte), die er benötigte“615. Der Direktor der prestigeträch613 Die Pionierstudie zu diesem Thema ist L’Huillier 1971 [812]. 614 Zu den Biographien der beiden Staatsmänner sei verwiesen auf: Siebert 1973 [136], Oudin 1987 [131], Unger 2005 [142], Hirsch 1964 [125], Körber 1999 [128], Baechler 1996 [110], Pohl 2002 [132]. 615 Zit. nach Beaupré 2006 [741], S. 43.

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tigen Nouvelle Revue Française,616 Jacques Rivière, der in Deutschland Kriegsgefangener war, hatte daraus ein zutiefst gegen die „Boches“ gerichtetes Buch mit dem Titel L’Allemand (Der Deutsche) gemacht. Er schrieb dort: „Und ich kam auf diese Idee zurück, dass in Kriegszeiten jeder Gedanke einer Art Schwerkraft unterworfen ist. (…) In Wirklichkeit denkt man nicht mehr: man bestätigt sich, man beglückwünscht sich, man gratuliert sich selbst, man bewundert sich pausenlos, wie sehr man doch recht hat. Man erhascht im Vorübergehen alles, was euch in eurem System ermutigen könnte, und den Rest sieht man nicht; er gleitet unter euren Nasen weg, ohne dass ein Verdacht der Unordnung, die er in eure Vorstellungen bringen könnte, euch streift. Man muss nicht sagen, dass man völlig blind wird; die Klarsicht so mancher Geister kultiviert und steigert sich; aber sie nimmt einen runden und wie verwunschenen Kurs“617.

Diese Vorstellung, nachdem sich die Kriegszeit in einer Radikalisierung der sozialen Vorstellungen, Praktiken, Erfahrungen und Repräsentationssysteme niederschlug, die zutiefst vom Kriegskontext geprägt waren, wird heutzutage von zahlreichen Historikern der „Kriegskulturen“ aufgenommen618. Es stellt sich also die Frage des Zustandekommens dieser Repräsentationssysteme und dieses „Krieges der Geister“ oder der „geistigen Mobilisierung“619 in den Gesellschaften nach 1918. Daher ist es angemessen, sich auf ihre Demobilisierungen als Umgestaltung „zum Frieden“ auf der Ebene der „Werte, der Darstellungen, der Bilder“ und der Praktiken zu konzentrieren, die es erlauben, auf die Hauptfrage zu antworten: Wie setzen die Gesellschaften dem Krieg ein Ende?620. Eine umso relevantere Frage, als „zehn Jahre nach der Kriegserklärung vom August 1914 die Werte und Referenzen der Kriegskulturen nicht verblasst waren“621. Einige Beispiele helfen uns, die Arten, in der die kulturelle Demobilisierung stattfindet – oder nicht stattfindet –, zu vergleichen. Diese Beispiele sind so gewählt, dass sie die (de)mobilisierenden Dynamiken innerhalb der deutschen und französischen Gesellschaft zeigen, gleichzeitig aber auch, wie die Interaktionen zwischen beiden Ländern diesen Prozess während des Zeitraums 1925 –1930 fördern können. Wir beginnen also mit der Untersuchung, wie Literaturen des Krieges sich als Zeichen kultureller Demobilisierung nach dem Konflikt verändern, dann befassen wir uns mit den Universitäten als zentrale Orte der Elitenausbildung und der wissen-

616 Zu Rivière und der Nouvelle Revue Française während des Krieges und nach Kriegsende siehe: Dagan 2008 [770], Richard 1973 [840]. 617 Ebd., S. 172. 618 Für eine Definition: Audoin-Rouzeau/Becker 1997 [266]. Für eine Bilanz: Prost/ Winter 2004 [104]. 619 Unter einer reichlichen Literatur siehe z. B.: Flasch 2000 [319], Fries 1994 –1995 [320], Schneider/Schumann 2000 [397], Prochasson/Rassmussen 1996 [528]. 620 Horne 2002, S. 45 [800]; Dülffer/Krumeich 2002 [312]. 621 Horne 2002 [801], S. 75.

6. Langsamkeit und Zufälligkeiten bei der kult. Demobilisierung

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schaftlichen Produktion, um schließlich in Kapitel II.7. zu dem zu kommen, was man den „Geist von Locarno“ nennt, sowie auf dessen Vermittler.

6.2. Den Krieg nach dem Krieg erinnern: Die Kriegsliteratur nach 1918 Das Phänomen der Kriegsliteratur von im Krieg kämpfenden und nicht kämpfenden Schriftstellern, das während des Konflikts so massiv und eine der bedeutsamsten Bekundungen dessen war, was man in den verschiedenen kriegführenden Ländern Kriegskulturen genannt hat, kann als guter Indikator der „kulturellen Demobilisierung“ angesehen werden. Tatsächlich waren die Reaktionen der Öffentlichkeit auf diese Produktionen enorm622. Daher kann man nach den Nachwirkungen dieses Interesses nach 1918 fragen. Diese Kriegsliteratur hatte zudem meistens, und nicht nur wegen der Zensur, eine Zustimmung und Billigung zur patriotischen Ursache des Konflikts transportiert, und das selbst wenn sie aus gelebten Erfahrungen in den Schützengräben stammte. Die Kriegsliteratur kann also als guter Indikator angesehen werden, da sie gleichzeitig das Interesse der Öffentlichkeit für die Kriegsereignisse offenbart und ganz spezifische Repräsentationen übermittelt. Es ist daher ratsam, sich mit der Nachwirkung dieses Phänomens in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu beschäftigen. Zumindest auf den ersten Blick sieht es so aus, als könnten klare Parallelen zwischen Frankreich und Deutschland gezogen werden, und dies trotz sehr unterschiedlicher nationaler Literaturtraditionen und zweier verschiedener Kriegsenden. Von Anfang an scheint es recht deutlich, dass zumindest bezüglich der Verbreitung und der Aufnahme dieser Literatur das Interesse der Öffentlichkeit in beiden Ländern nach 1918 –1919 drastisch zurückgeht. Der Einbruch bei den Veröffentlichungen von Kriegsbüchern ist in der Tat brutal und sehr deutlich in beiden Ländern623. Die Schriftsteller selbst wie auch die Archive der Herausgeber zeugen in ebenso klarer Weise von diesem Phänomen. Ernst Jünger zum Beispiel fand keinen Verleger für sein erstes Buch In Stahlgewittern, und es ist sein Vater, der die Veröffentlichung im Selbstverlag sicherstellt. Als die erste Ausgabe von 2000 Exemplaren vergriffen ist, übernimmt der auf Militärliteratur spezialisierte Verlag Mittler das Werk 1922624. Im Vorwort zu seinem Chant funèbre pour les morts de Verdun (Grabgesang für die Toten von Verdun), das schließlich 1924 erschien, gibt Henry de Montherlant die Äußerungen eines Verlegers wieder: „Immer noch der Krieg! Sie sind nicht 622 Dieses Unterkapitel gründet sich hauptsächlich auf eigene Recherchen: Beaupré 2002 [739] und Beaupré 2006 [740]. Siehe auch u. a.: Müller 1986 [823], StickelbergerEder 1983 [864], Natter 1999 [825]. 623 Beaupré 2006 [740], S. 231 ff. 624 Merlio 1996 [817].

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modern“625. Schriftsteller von so unterschiedlicher politischer Ausrichtung wie Georges Duhamel und Maurice d’Hartoy trafen dieselbe Feststellung. Die Literaturpreise demobilisierten ebenso rasch. 1919 unterlag der Favorit für den Prix Goncourt, Roland Dorgelès, mit seinem Les Croix de bois (Holzkreuze), letztlich Marcel Proust und dessen Im Schatten junger Mädchenblüte. Während des Krieges waren alle Prix Goncourt ausnahmslos an Kriegsbücher gegangen, die von Schriftstellern verfasst wurden, welche die Front erlebt hatten. In Deutschland war der Kleist-Preis einem parallelen Weg gefolgt, denn während des Krieges hatte mindestens einer der beiden jährlichen Preisträger Erfahrung an der Front. Man musste bis 1920 warten, bis das nicht mehr der Fall war. Hier ist die kulturelle Demobilisierung noch radikaler als im französischen Fall, denn in diesem Jahr geht der Preis an Hans Henny Jahnn (1894 –1959), der 1915 ins Exil nach Norwegen geflüchtet war, um der Rekrutierung zu entgehen626. Ein anderes Indiz für diese geistige Demobilisierung ist im Inhalt dieser veröffentlichten Werke selbst zu finden. Das Ende des Krieges ermöglichte das Aufkommen einer anderen Art von Sprache über den Konflikt, die die pazifistische Literatur der Jahre 1928 –1930 ankündigt. Weil die Öffentlichkeit „etwas anderes lesen“ möchte und weil die Zensur fällt, erscheinen zahlreiche während des Krieges geschriebene oder begonnene Werke in den Jahren 1918 –1920. So verhält es sich zum Beispiel mit den Büchern von Gerrit Engelke, Armin T. Wegner, Fritz von Unruh und Paul Zech in Deutschland. Letzterer musste bis Februar 1919 und zwölf erfolglose Versuche bei Verlegern abwarten, um seine Gedichtsammlung Golgatha zu veröffentlichen, obwohl der Dichter 1918 den Kleist-Preis verliehen bekommen hatte. 1919 –1920 veröffentlicht er drei Gedichtsammlungen und einen Roman, die von einem pathetischen und pazifistischen Standpunkt gegenüber dem Krieg inspiriert sind. In Frankreich werden 1919 –1920 Clarté, der zweite Roman von Henri Barbusse, Les Croix de bois von Dorgelès und drei Kriegsbücher von Léon Werth veröffentlicht. Abgesehen von diesen unleugbaren Gemeinsamkeiten, sind die Fälle Deutschlands und Frankreichs jedoch hinsichtlich einiger Aspekte verschieden. Zwei davon sind erwähnenswert: die ideologische Dimension der in der Nachkriegszeit veröffentlichten Werke einerseits und das soziale Netzwerk der Veteranen-Schriftsteller andererseits. Im Gegensatz zu dieser breiten Bewegung pazifistischer Veröffentlichungen oder Demobilisierung des Bewusstseins sind die unmittelbaren Nachkriegsjahre in Deutschland auch die, in denen bereits ein ganz anderer Diskurs über den Krieg entsteht: ein Diskurs, der im Gegenteil darauf gerichtet ist, den Geist der Front lebendig zu erhalten und den Krieg im Frieden weiterzuführen. Es ist die Zeit, in der Ernst Jünger, Franz Schauwecker und Edwin Erich Dwinger sich bekannt machen, bevor sie zum Modell für die glorifizierende Literatur der zwanzi625 Zitiert nach Beaupré 2006 [740], S. 231. 626 Ebd., S. 58 – 61.

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ger und dreißiger Jahre werden. Man kann sich mit Recht fragen, ob die zahlreichen pazifistischen Veröffentlichungen von hoher Qualität nicht das Aufkommen dieser Literatur überlagern, die sich weigert, zu demobilisieren. Zehn Jahre später täuscht das Buch von Remarque, das ein weltweiter Erfolg wird, immer noch über die enormen Auflagen der nationalistischen Literatur dieser jungen, von der Front gekommenen Autoren hinweg. Ernst Jünger, den ein englischer Journalist fragt, was er über Im Westen nichts Neues denke, antwortete mit Hellsichtigkeit, aber nicht ohne Zynismus und Spott: „Im Westen ist eine camouflage in dem Sinne, dass es die Illusion schafft, dass Deutschland vom Internationalismus und Pazifismus beherrscht wird, während im Gegenteil mein Buch geschrieben wurde, um zu zeigen, dass die Kämpfer nicht so entsetzlich unglücklich waren“627.

Die Diagnose Jüngers wird von den Statistiken weitgehend bestätigt. Nach den Berechnungen von Donald Day Richards kann man den Anteil der pazifistischen Kriegsliteratur mit 12 % der gesamten verkauften Exemplare der Kriegsliteratur zwischen 1919 und 1939 ansetzen628, wenn man nur die Bestseller erfasst, die mit mehr als 25 000 Exemplaren verkauft wurden. Zu den Bestsellerautoren der Kriegsliteratur im weiteren Sinne zählt Donald Day Richards ebenfalls nur vier Pazifisten gegenüber 37 nationalistischen Schriftstellern. Die Tatsache, dass er die Periode 1933–1939 in die Berechnungen einbezieht, verändert die Statistiken nur wenig, denn die Mehrzahl der untersuchten Werke erscheint vor 1930 und mehr als ein Drittel, das sind 24 von 66 gezählten Titeln, vor 1920. Zur selben Zeit wie Remarque hat eine von ehemaligen Soldaten geschriebene nationalistische Kriegsliteratur – die der Literaturhistoriker Karl Prümm als „soldatischen Nationalismus“ bezeichnet hat – einen großen öffentlichen Erfolg629. Für Norbert Elias ging diese tiefe ideologische Trennung weit über die literarischen Milieus hinaus und entsprach einer Trennlinie, die durch die gesamte Weimarer Gesellschaft ging. In einem Ernst Jünger und der deutschen Kriegsliteratur der Weimarer Republik gewidmeten Artikel schrieb er: „Die Kontroverse zwischen der kriegsbejahenden Literatur und der kriegsverneinenden Literatur in der frühen Weimarer Republik spiegelte damit eine weit umfassendere, eine der zentralsten Kontroversen des damaligen Deutschlands wider“630.

Die bestehenden Lager waren also unversöhnlich, und man fand dort beispielsweise den Unterschied zwischen denen, die die Verantwortung für den Krieg und die Niederlage den kaiserlichen Eliten und der Armee anlasteten, und 627 „Camouflage“ ist im Text auf Französisch. Vgl. „Why I wrote the Storm of Steel“, in The Evening Chronicle, 29. November 1929, in: Jünger 2001 [57], S. 525 – 527. 628 Richards 1968 [841], S. 18–21. 629 Holl/Wette 1981 [500], S. 166–167. 630 Elias 1992 [777], S. 281.

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denen, für die die Niederlage das Resultat eines Dolchstoßes und eines jüdischbolschewistisch-republikanischen Komplotts war. Die Demobilisierung der aus dem Krieg hervorgegangenen Darstellungen wird demnach von einem Großteil der Autoren von Kriegsliteratur abgelehnt, die wie Werner Beumelburg einen mit Erich Maria Remarque vergleichbaren Erfolg haben. In Frankreich tauchen die Spaltungen ebenfalls in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf, die im intellektuellen Milieu von einem Krieg der Manifeste geprägt ist, der das ganze Jahr 1919 dauert. Er stellt die Linksintellektuellen um Barbusse und Romain Rolland auf der einen Seite und eine aus der Rechten hervorgegangene Gruppe auf der anderen Seite gegenüber. Die erste Gruppe veröffentlicht im Februar ein Manifest mit dem Titel Les intellectuels combattants français aux intellectuels combattants du Monde (Die kämpfenden französischen Intellektuellen an die kämpfenden Intellektuellen der Welt). Diesem folgen am symbolischen Datum des 1. Mai 1919 das Manifest der pazifistischen Gruppe Clarté 631, dann am 26. Juni die berühmte Déclaration d’indépendance de l’esprit (Unabhängigkeitserklärung des Geistes) von Barbusse und Rolland. Die Erklärung erkannte dieses Mal explizit die Teilnahme der Intellektuellen an den Kriegsanstrengungen an und zielte darauf ab, sie zur Bemühung um den Frieden zu konvertieren. Dieses Manifest erhielt eine sehr lange Antwort, wiederum in der Form eines Manifestes, von Seiten der rechten Intellektuellen, ebenfalls angeführt von einem Veteranen-Schriftsteller, Henri Massis. Es erschien in Le Figaro unter dem Titel Pour un parti de l’Intelligence (Für eine Partei der Intelligenz) am 19. Juli 1919632. Für sie geht die Verteidigung des „Geistes“ wie im Krieg mit einer Verteidigung Frankreichs einher, und daher geht es darum, den „Sieg“ zu verlängern, damit, nach den Unterzeichnern des Manifestes, nicht die „Bolschewisten der Literatur“ von ihm profitieren oder Frankreich „an den Punkt des besiegten Deutschland“ bringen. Nachdem sie den Krieg gewonnen haben, wollen die einen den „Frieden“ und die anderen den „Sieg“ gewinnen. Es geht tatsächlich darum, dem Krieg einen neuen Sinn zu geben, indem man mit den Vorstellungen der Kriegszeit bricht oder sie neu erfindet. Am Kriegsende ist die geistige Demobilisierung noch keine gesicherte Sache für die kämpfenden französischen Schriftsteller, von denen einige vom Kriegspatriotismus geprägt bleiben. Im Gegensatz zum deutschen Fall findet die Spaltung, wenngleich auch politisch, weniger wegen der Frage statt, ob der Pazifismus akzeptiert oder abgelehnt wird, sondern wegen der Definition desselben. Selbst die als rechts klassifizierten Intellektuellen werden im richtigen Moment den Pazifismus für sich reklamieren. Da sich der Pazifismus in Frankreich wie ein von allen geteilter und die Nachkriegszeit begründender Wert etabliert, sind die verschiedenen politischen Kräfte von ihm geprägt 631 Barbusse 1920 [31], S. 99–103. 632 Zu diesen Manifesten siehe Sirinelli 1990 [541], S. 41– 44.

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und kämpfen eher für seinen rechtmäßigen Gebrauch zu ihren Gunsten, als dass sie ihn ablehnen633. Ein zweiter Unterschied zum deutschen Fall liegt darin, dass, obwohl der Kampf der Manifeste tobt und sich zwei Lager bilden, die „Schriftsteller-Kriegsteilnehmer“ sich in der Verteidigung ihrer Interessen und der Ehrung der Toten zusammenfinden. Die Association des Ecrivains Combattants (AEC) wird gegründet, während der Kampf der Manifeste in vollem Gange ist und sich zwei unversöhnliche Lager zu bilden scheinen. Die im Juni 1919 gegründete Association des Ecrivains Combattants hatte als erstes Ziel, die Erinnerung an die „im Krieg gefallenen Schriftsteller“ lebendig zu erhalten, aber sie setzte sich gemäß ihrer Statuten auch zur Aufgabe, die „beruflichen Interessen“ der kämpfenden Schriftsteller, die den Krieg überlebt hatten, „zu verteidigen“634. Während dieser Wille das nachlassende Interesse der Öffentlichkeit für diese Art von Literatur widerspiegelt, offenbart die Vereinigung die Anfänge einer geistigen Demobilisierung in Frankreich. Zunächst ist sie aus Schriftstellern aller politischen Richtungen zusammengesetzt – von den Kommunisten bis zur Action Française –, auch wenn einige Pazifisten nicht teilnehmen. Man kann hierin eine Form der Fortsetzung der Union sacrée sehen, aber es handelt sich tatsächlich eher um eine Verbindung zur Würdigung der Toten. Und als weiteres Zeichen dieser geistigen Demobilisierung legt die im Juni 1919 veröffentlichte Präambel der Vereinigung fest: „Der Krieg hat uns für immer der Gewalt beraubt.“ Man liest hier auch, dass der Kampf „fürchterlich“ gewesen sei, auch wenn er „die Seele erleuchtet“ habe. Diese Geisteshaltung ist bereits die, die Antoine Prost für die Vereinigungen und Vereine der französischen Veteranen anstrebte, die eines prinzipiellen Pazifismus, der Patriotismus nicht ausschließt. Wenngleich der prinzipielle Pazifismus als Herausforderung diskutiert werden und daher auch trennen konnte, konnte er auch genau das sein, was die Gegensätze zusammenbrachte. Während der folgenden Jahre sammelt die Vereinigung die Namen der im Krieg verstorbenen Schriftsteller in einer Anthologie in fünf großen Bänden. Die Namen der 560 Schriftsteller, die „gestorben sind für Frankreich“, wurden anschließend auf Bronzeplaketten eingraviert und an den Wänden des Pantheons angebracht. In Deutschland ist eine derartige Vereinigung bis 1933 unmöglich. Der Sinn, der den Kriegstoten zu geben ist, trennt noch viel mehr als in Frankreich. Man muss die nationalsozialistische Gleichschaltung und das Jahr 1935 abwarten, bis eine Vereinigung der Schriftsteller-Veteranen entsteht. Sie eliminiert die anderen Interpretationen des Krieges, vor allem die Desillusionierung des Krieges „à la Remarque“, die sie in ihren Publikationen anprangert. Die Vereinigung versteckt

633 Offenstadt/Olivera 1993 [524], Santamaria 2005 [537]. 634 Beaupré 2002 [739].

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im Übrigen nicht ihre Verbindung zur NSDAP, denn sie nennt sich Die Mannschaft, Kameradschaft der Frontdichter in der NSKOV (Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung)635. Abgesehen von der Gemeinsamkeit des sinkenden öffentlichen Interesses für die Kriegsliteratur unmittelbar nach 1918 und der Entstehung einer offen pazifistischen Kriegsliteratur – die eine gemeinsame Tendenz zu einer gewissen Demobilisierung der Kriegsmentalität darstellt –, zeigt die Entwicklung der Nachkriegsliteratur in Frankreich und Deutschland bedeutende Unterschiede, die beide Gesellschaften und ihre Beziehung zum vergangenen Konflikt ausmachen. Gleiches gilt für den universitären Bereich in Frankreich und Deutschland bei Kriegsende.

6.3.

Eine langsame und relative Demobilisierung: Das Beispiel der Wissenschaften an den Universitäten

6.3.1. Boykott und Gegen-Boykott Die Haltung der ehemaligen Alliierten, genauer gesagt der Franzosen, gegenüber der deutschen Nachkriegswissenschaft, wie umgekehrt die Haltung der deutschen Wissenschaftler gegenüber ihrer – zu rasch vergessenen – Verantwortung während des Krieges, zeigt in eklatanter Weise die Latenzzeit der Kriegsauswirkungen in bestimmten Sektoren der Gesellschaft. Ein gutes Beispiel hierfür war die Vergabe der Nobelpreise 1919, genauer die Reaktionen, die die Stockholmer Zeremonie hervorrief636. 1919 erhielt Johannes Stark den Nobelpreis für Physik und Fritz Haber den für Chemie. Sie trafen sich mit Max Planck, der den Nobelpreis für Physik 1918 erhalten hatte, sowie mit Max von Laue und Richard Willstätter, die Träger des Nobelpreises für Physik 1914 und für Chemie 1915. Die fünf deutschen Wissenschaftler unternahmen die Reise nach Stockholm. Sicherlich kann man nicht von einer Union sacrée der Wissenschaftler in ihren nationalen Rahmen sprechen: Welche Gemeinsamkeiten gab es zwischen den politischen Positionen eines Albert Einstein und seines engen Freundes Fritz Haber, der das deutsche Programm zur Entwicklung von Kampfgas geleitet hatte?637 Unter den Stockholm-Reisenden fanden sich auch klare politische – und theoretische – Gegensätze zwischen dem Liberalen und Vernunftrepublikaner Max Planck, der somit seiner Unterschrift unter das Manifest der 93 von 1914 den Rücken kehrte, während er gleichzeitig dessen Tragweite herunterzuspielen versuchte, und dem sehr nationalistischen und konservativen Johannes Stark638. 635 636 637 638

Beaupré 2006 [740], S. 248–249. Metzler 1996 [818], S. 170–200; Beaupré/Fordham/Demm 2007 [780]. Stern 1999 [863]. Metzler 1996 [818].

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Diese Gegensätze traten anlässlich der Reise der deutschen Wissenschaftler nach Stockholm zutage, um den Nobelpreis entgegenzunehmen. Diese Reise ist ein Triumphzug für die deutsche Wissenschaft direkt nach dem Krieg. Die Zeitungen täuschen sich hierin nicht, wie die Tägliche Rundschau vom 15. November 1919, die darin einen „deutschen Sieg“ sieht639. Die belgischen und französischen Zeitungen erneuern ebenfalls die Kriegsrhetorik – falls sie diese seit 1918 überhaupt aufgegeben hatten. La Nation Belge titelt am selben Tag: „Die Preise gehen an die Boches“ und Le Populaire du Centre am 21. November 1919: „Ein Nobelpreis an einen Ausrotter verliehen!“640 Diese Überlegungen waren nicht nur Sache der Presse. Fritz Haber und Walther Nernst – der 1920 den Nobelpreis für Chemie erhielt – hatten sich sogar auf einer ersten Liste von Kriegsverbrechern befunden. Die großen interalliierten Akademien hatten offiziell einen allgemeinen Boykott über die deutsche Wissenschaft verhängt. Als sie im Oktober 1918 in London zusammenkamen, dann einen Monat später in Paris, schlossen die Repräsentanten der interalliierten Akademien ihre deutschen, bulgarischen, österreichischen und ungarischen Kollegen für mindestens zwölf Jahre aus internationalen wissenschaftlichen Institutionen aus641. Das bedeutete den Ausschluss der deutschen Wissenschaftler von internationalen Kongressen. Ein völlig neuer Internationaler Forschungsrat (Conseil International de la Recherche, CIR), der bei dieser Gelegenheit gegründet wurde (im Juli 1919 in Brüssel), sollte dies überwachen642. Nur Albert Einstein sollte dem Boykott entkommen. Nicht nur wegen seiner Entdeckungen, sondern auch weil er während des Krieges pazifistische Positionen eingenommen hatte643. Er selbst scherzte laut einem Beobachter 1919 nicht ohne Ironie über die ,Relativität‘ seiner Nationalität: „In Deutschland werde ich heute als deutscher Wissenschaftler bezeichnet, und in England werde ich als Schweizer Jude vorgestellt. Wenn ich als schwarzes Schaf gesehen würde, würden die Beschreibungen umgekehrt sein, und ich werde dann ein Schweizer Jude für die Deutschen und deutscher Wissenschaftler für die Engländer sein!“644

Schließlich wurde der Boykott offiziell 1926 aufgehoben. Im folgenden Jahr war Fritz Haber in Paris zum 100. Geburtstag von Marcellin Berthelot anwesend. 1927 nahm Louis de Broglie zusammen mit der Elite der deutschen Physiker am berühmten Solvay-Kongress in Brüssel teil, der die „Quantentheorie als formalen Rahmen“ etablierte645. 639 640 641 642 643 644 645

Ebd., S. 185 Ebd., S. 187 Schröder-Gudehus 1986 [858]. Ebd. Stern 1999 [863], Grundmann 1998 [796]. Artikel in der Times vom 28. 11. 1919, zitiert in Metzler 1996 [818], S. 193. Balibar 1995 [737], S. 68.

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II. Fragen und Perspektiven

Doch selbst als der Boykott aufgehoben war, ließ das gegenseitige Misstrauen kaum nach, und der Rückstand bei der Durchsetzung der Quantenphysik in Frankreich ist eine Konsequenz des Argwohns der französischen Wissenschaftsmilieus gegenüber dem, was ihnen als „deutsche Wissenschaft“ erschien646. Man musste auch bis 1928 warten, um einen von einem Deutschen signierten Artikel in einer französischen Physikzeitschrift zu finden, und Dominique Pestre hat nur einen einzigen renommierten französischen Physiker gefunden, der zwischen 1920 und 1935 nach Deutschland gekommen ist, um hier zu studieren, als die deutsche Physik ihren Zenit erreicht hatte647. Auf deutscher Seite war das Misstrauen mindestens ebenso groß. Abgesehen vom sehr aktiven Albert Einstein war Fritz Haber der deutsche Wissenschaftler, der sich am meisten für die Verständigung einsetzte. Doch der Erfinder des Kampfgases war nicht immer willkommen in Frankreich, und seine „frankophilen Initiativen“ wurden von den deutschen Wissenschaftskreisen nicht gern gesehen648. De facto war die internationale Zusammenarbeit der deutschen Wissenschaftler nach dem Ersten Weltkrieg eher vom Geist von Rapallo als vom Geist von Locarno inspiriert. Die deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen blieben daher lange Zeit auf einem sehr niedrigen Niveau, viel geringer als die Beziehungen Deutschlands mit der UdSSR oder sogar anderen ehemaligen Alliierten wie den USA649. Selbst wenn sich die Beziehungen entspannten, sie normalisierten sich nicht auf institutioneller Ebene, denn die deutschen Akademien lehnten das Angebot des Eintritts in den CIR, das man ihnen gemacht hatte, ab. „Die deutsche wissenschaftliche Elite teilte in ihrer großen Mehrheit die politischen Ansichten der nationalistischen Rechten. Der ,Gegen-Boykott‘ wäre niemals mit soviel Schärfe durchgeführt worden, wenn er nicht auch ein Mittel des Protestes gegen Versailles und eine Waffe geliefert hätte, die aufeinanderfolgenden Regierungen zu bekämpfen“650, schreibt die Wissenschaftshistorikerin Brigitte Schröder-Gudehus. Die Leiter der deutschen Akademien achteten somit darauf, die von den Politikern durchgeführten Verständigungsbemühungen zu untergraben, und die Entspannung zwischen Wissenschaftlern blieb eher auf persönliche Kontakte beschränkt. Man muss sagen, das die Hochschullehrer, die Professorenschaft651 und die akademische Welt, trotz einiger namhafter Ausnahmen, in diesen Jahren einen Schmelztiegel des Nationalismus und Konservatismus bilden, der sie von Künstlern und unabhängigen Intellektuellen unterscheidet, die weit mehr als die Aka-

646 647 648 649

Ebd., S. 71. Ebd., S. 72 –74. Siehe auch: Pestre 1984 [830]. Schröder-Gudehus 1990 [859], S. 113. Fuchs 2002 [785], Schröder-Gudehus 1990 [859] und Schröder-Gudehus 1978 [857]. 650 Schröder-Gudehus 1986 [858], S. 192. 651 Ringer 1969 [842], Jessen/Vogel 2002 [804].

6. Langsamkeit und Zufälligkeiten bei der kult. Demobilisierung

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demiker die Bataillone der aktiven Versöhnung in den internationalen intellektuellen Organisationen bilden.

6.3.2. Studenten und Professoren angesichts der deutsch-französischen Beziehungen: Einige Beispiele Auf einer anderen Ebene bildeten die deutschen Studenten nach dem Ersten Weltkrieg eine der radikalsten soziopolitischen und am weitesten rechts stehenden Gruppen in der Republik, den Ort selbst, wo sich die Kriegserinnerung erhält und wo der Rachegedanke glüht652. Die ältesten von ihnen sind Veteranen, aber zum überwiegenden Teil wurden sie als Heranwachsende während des Krieges sozialisiert, sodass sie von diesem nur eine mittelbare Vorstellung behalten. Für einige Historiker macht die Tatsache, dass diese Generation in ihrer großen Mehrheit das Gefechtsfeuer nicht aus der Nähe gesehen hatte, die These von der Brutalisierung durch die direkte Gewalterfahrung unbrauchbar. Aber erinnern wir uns daran, dass George L. Mosse die mittelbaren Erfahrungen der Übertragungsvektoren von Gewalt im sozialen Gefüge nicht ausschließt. Die Sozialisierung der Kinder und Jugendlichen während des Krieges kann demnach eine Form von Kriegserfahrungen unter anderen sein653. Wenn sie zudem an Gewaltaktionen teilnehmen, um ihre politische Herrschaft innerhalb der Universitäten oder in den Straßen deutscher Städte zu begründen, tun sie dies häufig in der Erinnerung an einen Krieg, an dem sie nicht teilnehmen konnten. Der Erste Weltkrieg und die Erinnerung daran treffen auf eine Prädisposition zum Nationalismus in den studentischen Milieus, die zum Teil dem Elitismus der deutschen Universitäten und der speziellen Formen der studentischen Gemeinschaften (Burschenschaften etc.) sowie einem gewissen Bezug zur Männlichkeit und zur Gewalt geschuldet sind654. Aber laut Sonja Levsen stellen dennoch der Erste Weltkrieg und die Niederlage, mehr als die langfristigen Prädispositionen, den Hauptfaktor für die Radikalisierung dieser Milieus zwischen 1918 und 1933 dar. Indem sie die Selbstbilder von Studenten aus Tübingen und Cambridge vergleicht, zeigt sie, dass diese Radikalisierung in England zunächst parallel verläuft – sie ist also keine deutsche Ausnahme –, dann schwächt sie sich aufgrund des Sieges ab, jedoch nicht in Deutschland, wo die Niederlage die Tübinger Studenten zu einer Kristallisierung und einer Fixierung auf die Gemeinschaft, die Nation und die militärische Männlichkeit als Ideale veranlasst655. In Falle Frankreichs zeigen die Arbeiten von Jean-François Sirinelli über die Khâgnes (die Vorbereitungsklassen zum Eingangstest für die Ecole normale supé652 653 654 655

U. a.: Kreutzberger 1972 [514], Jarausch 1982 [505], Jarausch 1984 [506]. Ingrao 2002 [504]. Daviet-Vincent 2001 [491], Daviet-Vincent 2007 [492]. Levsen 2006 [516].

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II. Fragen und Perspektiven

rieure) und die Ecole normale supérieure (ENS) eine dazwischen liegende Situation. Die Kombination aus dem Sieg, dem schweren Tribut, der von der Schule gezahlt wurde, und einer Generation Lehrer mit pazifistischer Einstellung wie dem Philosophen Alain, einer der Anführer des integralen Pazifismus, prägt einen Teil der in der Nachkriegszeit erzogenen „intellektuellen Generationen“ zutiefst, und vor allem die Schüler der Khâgnes und der Ecole normale supérieure656. Dennoch bleibt das Pflaster des Quartier latin zum großen Teil das Territorium der royalistischen und konservativen Studenten. Als die Camelots du roi (der Kampfverband der Action française) 1925 versuchten, Georges Scelle, einen offen pazifistischen Juraprofessor, an der Abhaltung seiner Kurse zu hindern, mobilisierten sich die Studenten der Ecole Normale supérieure und zeigten ihre Solidarität, indem sie die Streikposten vor den blockierten Fakultäten entweder beiseite stießen oder sie umgingen657. Dennoch gingen der Sieg und die Straße an die rechten Studenten, die das Spiel gewonnen hatten, und das Quartier latin „neigte sich (jahrelang) unbestreitbar nach rechts“, denn „es sind abwechselnd die Studenten der Action française, dann die universitären Abordnungen der Jeunesses patriotes, die zur obersten Gesellschaftsschicht gehören, die die großen Fieberschübe, die das Viertel erschütterten, orchestrierten und darauf achteten, die Straße zu kontrollieren“658. An der Ecole normale supérieure gibt es hingegen zahlreiche pazifistische Studenten. Sie unterzeichnen Petitionen – vor allem gegen ein 1927 von Paul Boncour eingebrachtes Gesetzesprojekt bezüglich der Mobilisierung im Kriegsfall –, und weigern sich, die höhere militärische Ausbildung zu machen, die damals Pflicht ist. Hier gibt es einen unzweifelhaften Unterschied zu dem Engagement der Älteren im Ersten Weltkrieg und sogar, für viele von ihnen, zu ihren künftigen Handlungen mit der Waffe in der Hand, weniger als zwanzig Jahre später im Widerstand659. Dieses besondere Klima an der Ecole normale supérieure im allgemeineren Kontext des Geistes von Locarno erklärt zweifellos, warum die Studenten der Ecole normale supérieure im universitären Bereich und dem des Studentenaustausches zu den Pionieren der Wiederaufnahme der deutsch-französischen Beziehungen zählten. Der erste Student, der sich – 1927 – als Stipendiat der Humboldt-Stiftung, später als Französischlektor an der Universität, in Berlin niederließ, ist der junge Pierre Bertaux, Student der Ecole normale supérieure und Sohn von Félix Bertaux, auch er Germanist, Freund der Familien Mann und S. Fischer. Andere Germanistikstudenten waren ihm in Dresden oder Heidelberg vorausgegangen, aber einzig Bertaux660 in Berlin wird zu einem kulturellen Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland, so intensiv verkehrt er in den künstlerischen, akademischen 656 657 658 659 660

Sirinelli 1988 [540]. Ebd., S. 236. Ebd., S. 256 Ebd., S. 343. Bertaux 2001 [37].

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und literarischen Kreisen der deutschen Hauptstadt. 1928 sind es bereit sechs Studenten der ENS, die zum Studium nach Deutschland kommen661. Im selben Jahr findet in Davos in der Schweiz das erste deutsch-französische Universitätstreffen statt, wo sich unter anderem Einstein, Gottfried Salomon, Heidegger, Oppenheimer, Marcel Mauss, Lucien Lévy-Bruhl, Victor Basch, Célestin Bouglé und drei Studenten der Ecole normale supérieure treffen. Die Erfahrung wird im folgenden Jahr wiederholt, und der ENS-Student Jean Cavaillès kehrt fasziniert von einer Diskussion zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger davon zurück. Seit diesem Datum stellen die Studenten der Ecole normale supérieure ein starkes Kontingent unter den jährlich in Davos anwesenden Studenten662. 1930 gründet das Außenministerium die Maison académique française in Berlin663. Sie empfing Studenten der Ecole normale supérieure, vor allem Raymond Aron (in Köln von 1930 bis 1931, dann in Berlin von 1931 bis 1933) und anschließend Jean-Paul Sartre (1933 –1934). Ersterer kehrt sehr klarsichtig über die nationalsozialistische Gefahr zurück und war im Nachhinein davon überzeugt, „seine politische Erziehung“ erhalten und dort „erwachsen“664 geworden zu sein, während sich der zweite, der mehr auf seine Husserl-Recherchen und die Abfassung von La Nausée (Der Ekel) konzentriert war, sich nicht für die deutsche Politik interessierte665.

6.3.3. Der besondere Fall der Universität Straßburg Parallel dazu bietet die Neugründung der Universität Straßburg ein gutes Beispiel für die Entwicklung der nachbarschaftlichen Beziehungen im französischen Universitätsmilieu. Sie wurde während des Krieges und direkt danach als Instrument der wissenschaftlichen und kulturellen Rückeroberung gegenüber Deutschland konzipiert. Noch 1921 schrieb der erste Dekan der Universität Straßburg, der aus dem Elsass stammende Christian Pfister, der während des Krieges einer der Architekten des Projektes gewesen war: „In Straßburg muss es Frankreich besser machen als Deutschland; die nationale Ehre ist hier betroffen. Vom Wohlstand der Universität Straßburg wird zum Teil das Renommee und die Ausstrahlung Frankreichs in der Welt abhängen“666.

Die Universität, die der Spiegel und das Vorzeigeobjekt Deutschlands in seinen westlichen Randgebieten gewesen war, sollte nun also der Spiegel und das Vorzeigeobjekt Frankreichs in seinen östlichen Randgebieten werden. 661 662 663 664 665 666

Sirinelli 1988 [540], S. 541. Ebd., S. 541– 543. Bonniot 2007 [752]. Zitiert nach ebd., S. 227. Sirinelli 1995 [137], Granjon 1993 [795]. Zitiert in Becker 2003 [90], S. 177.

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Sie wurde daher mit umfassenden Mitteln ausgestattet – so viel wie die Gesamtheit aller französischen Universitäten der gesamten französischen Provinz667 –, Beihilfen für das teure Leben wurden Professoren bewilligt, die bereit waren, hierherzukommen und zu unterrichten … Man ernannte auch die brillantesten Geister der neuen Generation von Hochschullehrern, die vor dem Krieg ausgebildet worden waren: Marc Bloch, Lucien Febvre, Maurice Halbwachs, Charles Blondel, Gabriel Le Bras, Henri Baulig, Ernest Lévy u. a. Die Professorenschaft betonte jedoch sofort ihre Autonomie gegenüber jeglicher offiziellen und/oder nationalen Wissenschaft. Diese Tatsache zeigt sich an der häufig zitierten Eröffnungsvorlesung von Lucien Febvre 1919 mit dem Titel „Die Geschichte in einer Welt in Ruinen“. Er bestätigte hier, dass „die Geschichte, die dient, eine leibeigene Geschichte ist“ und dass die neuen Professoren der Universität Straßburg „keine barfüßigen Missionare eines offiziellen nationalen Evangeliums“ seien, oder mehr noch: „Die Wahrheit, die führen wir nicht gefangen in unserem Gepäck mit, die suchen wir!“668 Politisch gesehen war diese Rede außerordentlich geschickt, denn sie prangerte implizit die Fehler der deutschen Wissenschaft an, die nach dem Wort von Henri Pirenne darin bestanden „zu verlernen“669, während man sich gleichzeitig eine Autonomie gegenüber den vorgesetzten Behörden und den Älteren offenhielt, hauptsächlich gegenüber der Leitfigur der Geschichtswissenschaft, Lavisse, der nicht gezögert hatte, sich in den Dienst des Staates und der Kriegsanstrengung zu stellen, wobei er die Forschung Zielen außerhalb ihrer selbst opferte. Aber die in der Rede geforderte Autonomie musste gleichzeitig gegenüber der elsässischen Gesellschaft mit ihren Autonomisten und ihrem frankophonen Bürgertum – das vom Freundeskreis der Universität repräsentiert wurde und vereint war in den Zielen der französischen Rechten – errungen werden, das besondere und gegensätzliche Erwartungen hatte: gegenüber der Universität, gegenüber den Pariser Universitäten, um sich eine wissenschaftliche Identität zu schaffen, gegenüber den deutschen Universitäten und der Universität Straßburg vor 1918 und schließlich gegenüber einer Politik, die andere Ziele verfolgte als rein wissenschaftliche. Dieser Kampf zeigt sich besonders, als Maurice Barrès, unterstützt von Poincaré, 1920 vorschlägt, einen offenen Kurs über den Rhein zu verfolgen. Die Fakultät ist unangenehm berührt und gespalten; Lucien Febvre, Charles Blondel, Edmond Vermeil und Maurice Halbwachs zum Beispiel ergreifen das Wort, um sich im Namen der Autonomie der Wissenschaft und des akademischen Lebens dieser Initiative und deren Zielen entgegenzustellen, die anstreben, die Besatzung und die französische Rheinpolitik zu rechtfertigen. Ihre Gegner versuchen, diesen hochpolitischen Aspekt unterzubewerten. Der Druck des Freun667 Ebd., S. 178; Craig 1984 [769], S. 283. 668 Diese Passage wird zitiert von Schöttler 1994 [851], S. 74. 669 Die Formulierung von Pirenne datiert von 1920, einige Monate später: Schöttler 1993 [850].

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deskreises der Universität, des Dekans Pfister und Poincarés hilft jedoch, und die Anhänger von Barrès siegen mit 16 zu 11 Stimmen im Fakultätsrat670. Die Vorlesungen von Barrès finden einen großen Widerhall und werden anschließend 1921 unter dem Titel Le génie du Rhin, ebenfalls mit Erfolg, veröffentlicht. Aber dieser Erfolg ist mit einer harten und scharfen Kritik verbunden, und die Polemik setzte sich im öffentlichen Raum fort. Dieser sehr antideutsche Kontext und die französischen politischen Ziele sind noch zu stark, um eine völlige Autonomie der Universität zu erlauben. Dennoch hatte sich eine starke Minderheit der Professoren für diese ausgesprochen. In der Folge erleichterte der Anstieg der elsässischen autonomistischen Bewegung, die 1928 in das Straßburger Rathaus einzog, die Dinge für die Professoren nicht, die diesmal dafür kritisiert wurden, nicht eng genug mit dem Elsass in Verbindung zu stehen und schlicht und einfach Paris zu gehorchen. Die Universität befand sich somit fast ständig „in der Defensive“671, um ihre Autonomie gegenüber ihrer Umwelt zu erhalten, ohne sich von dieser abzutrennen. Die Qualität und die Offenheit ihrer Mitglieder erlaubte es ihr dennoch, weitgehend für sich einzunehmen. Sie wurde im Dienst der wissenschaftlichen Arbeit eingesetzt. In den ersten Jahren der Universität Straßburg scheint ein außergewöhnliches Arbeitsklima geherrscht zu haben, eine Atmosphäre, die von den berühmten „Samstagstreffen“ symbolisiert wurde, ein Ort des interdisziplinären Austausches zwischen den Hochschullehrern. Lucien Febvre beschreibt Henri Berr die Arbeitsatmosphäre an der Universität im Jahr 1919: „Wir werden, wir sind eine junge Universität, die Schwung hat. (…) Wir bleiben die einigste, die kollektiv aktivste, die sich finden lässt; guter Wille, ein einmütiger und junger Wille zur Zusammenarbeit – viele persönliche Kontakte, gleichzeitig familiäre und persönliche Besuche – intellektuelle Feiern. (…) Das ist alles tröstlich und schafft uns ein bemerkenswertes Milieu“672.

Für Henri Berr war diese Universität eine nahezu perfekte Illustration dieses neuen Geistes der interdisziplinären Synthese, die er sich wünschte673. Eines der Produkte – gleichzeitig direkt und indirekt – dieses intellektuellen Milieus war die Schaffung der Zeitschrift Annales, die der Ausgangspunkt einer echten historischen Schule ist. Nach einem ersten gescheiterten Versuch im Jahr 1922 erblickt die Zeitschrift 1929 das Licht der Welt. Und obwohl sie vom Pariser Verleger Armand Colin betreut wurde, war sie doch ein Straßburger Projekt674. Es ging darum, sich zu inspirieren, sich zu konfrontieren und die deutsche Geschichte wissenschaftlich hinter sich zu lassen „im Wechselspiel von lernen und 670 671 672 673 674

Craig 1984 [769], 288–289. Ebd., S. 291– 328. Zitiert nach Becker 2003 [90], S. 183–184. Ebd., S. 184. Carbonell/Livet 1983 [757].

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II. Fragen und Perspektiven

verlernen“675. Halbwachs, Febvre, Bloch und ihre Kollegen waren selbst sehr interessiert an der deutschen Produktion von Geschichtstiteln. De facto pendelte zwischen 1929 und 1934 der Prozentsatz der deutschen Bücher an den Rezensionen zwischen 15 und 25 %676. Im Verlauf der Zeit sollte es diese Autonomie und diese Lebendigkeit der wissenschaftlichen Arbeit in Straßburg den Professoren auch erlauben, einen wissenschaftlichen Dialog mit den deutschen Kollegen oder deren wissenschaftlicher Produktion zu beginnen. Wie Peter Schöttler schreibt: „Es ist eine derartige geistige Offenheit, der wir die Tatsache zu verdanken haben, dass Febvre, Bloch und andere künftige Mitarbeiter der Annales wie Maurice Halbwachs auch auf das andere Rheinufer schauen und damit weitermachen konnten, ihr ,Deutschland verlernen‘ mit einem gewissen Erlernen zu verbinden. Die aufeinanderfolgenden Bücher von Febvre, La Terre et l’évolution humaine von 1922, Luther von 1928 und schließlich Le Rhin von 1931 sind die besten Beweise dafür“677.

Das letztgenannte Werk über den Rhein, eine Illustration dieser histoire problème, einer problemorientierten geschichtlichen Untersuchung, wie sie von den Initiatoren der Annales gewünscht wurde, zeigt in einem Kontext, in dem die Spannungen zwischen den beiden Ländern wieder zunehmen, als die letzten französischen Truppen die besetzten Territorien gerade verlassen haben, deutlich die vom ehemaligen Offizier der Besatzungsarmee Febvre in seiner Eröffnungsrede in Straßburg 1919 vertretenen Prinzipien. Er verweist sowohl auf die deutschen als auch auf die französischen Konzeptionen, indem er anstrebt, aus dem Rhein während seiner ganzen Rede eine „natürliche Grenze Frankreichs“ oder einen „deutschen Fluss“ zu machen. Natürlich lehnt er den Gebrauch der Geschichte als „legitimierende Wissenschaft“678 für die eine oder andere dieser Konzeptionen ab – zu einer Zeit, in der die deutsche Westforschung „wissenschaftlich“ das Deutschtum in den rheinischen Gebieten belegt. Indem er dies im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen tut, ersetzt er nicht eine Konzeption durch eine andere. Für ihn „ist die Geschichte kein Kostümball“, und er beweist, wie die Rheingrenze auf politischem Niveau entstanden ist und sich aufgelöst hat, und wie sie ein Ort des Austauschs und der Verschmelzung auf sozialer, kultureller und religiöser Ebene geblieben ist. Diese Offenheit zeigte sich auch durch die Aufnahme zahlreicher ausländischer Studenten –10 % der Immatrikulierten 1920 und 22 % 1930 –679, durch Kontakte mit den ausländischen Universitäten und sogar, hier half der Geist von 675 676 677 678

Schöttler 1999 [855], S. 313; François 1995 [782], S. 17; Schöttler 1993 [850]. François 1995 [782], S. 17. Schöttler 1994 [851], S. 74. Schöttler 1997 [853], und zum Buch von Febvre siehe die Untersuchung dess. in: Febvre 1994 [45], S. 217–263. Auch Beaupré 2005 [563], S. 30 – 31. 679 Craig 1984 [769], S. 236–237 und 250–251. Nach Paris und Grenoble war Straßburg die offenste Universität für Ausländer.

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Locarno, durch Einladung deutscher Professoren. Der erste Eingeladene – 1928 durch den Germanisten Edmond Vermeil – war Professor Philipp Witkop von der Nachbaruniversität Freiburg, unter anderem ein Spezialist für Kriegsliteratur und Herausgeber von Briefen deutscher Studenten, die im Krieg gefallen waren. Diese aus dem Feld der Wissenschaften und der Universitäten stammenden Beispiele sind wichtig sowohl wegen ihrer symbolischen Bedeutung als auch, weil sie den zentralen Ort der Ausbildung künftiger Eliten betreffen. Sie illustrieren auch gut die Unterschiede hinsichtlich der mentalen Demobilisierung in den beiden Ländern und ihre Interdependenz. Während es am Ende der zehner und zu Beginn der zwanziger Jahre die Deutschen sind, die das größte Interesse an einer „normalen“ Wiederherstellung der Wissenschaftsbeziehungen haben, bleibt die Gegnerschaft zu Deutschland und seinen Professoren, die – zum Teil mit Recht – für den Krieg und durch ihn verursachten Missbrauch der Wissenschaft verantwortlich gemacht werden, in Frankreich stark. Mit der Zeit erreicht allerdings eine Form des einvernehmlichen Pazifismus in der französischen Gesellschaft die universitären Milieus, die nach und nach ihre Vorstellungen von Deutschland demobilisieren und häufig bereit sind, die wissenschaftlichen Kontakte mit Deutschland wiederherzustellen. In Deutschland betrifft diese Wiederaufnahme jedoch nur einen begrenzten Kreis, der offen gegenüber dem Ausland ist. Die Universitäten – ob es sich nun um Professoren oder Studenten handelt – bleiben während der Weimarer Republik ein Milieu, das ihr weitgehend feindlich gegenübersteht, das letztlich nicht demobilisiert und einen Schmelztiegel des Nationalismus und Chauvinismus bildet, ja sogar neue Wissenschaften des Kampfes und der Legitimation begründet wie die offen gegen den alten französischen Feind gerichtete Westforschung.

6.3.4. Die Mehrdeutigkeit von Projekten zum Kennenlernen des Anderen Die Westforschung dehnt sich vor allem in institutioneller Form mit der Gründung zahlreicher universitärer oder parauniversitärer Organisationen aus, die eine bessere Kenntnis des Nachbarlandes anbieten, jedoch mit einem Ziel, das weder uneigennützig noch streng wissenschaftlich, noch auf der Idee der Versöhnung gegründet ist. Auf französischer Seite können die im Zuge der Besatzung vom französischen Militär gegründeten Institutionen wie das in Mainz zur Ausbildung der französischen Offiziere und der führenden Besatzungskräfte gegründete Centre d’études germaniques in diese Kategorie fallen, selbst wenn sich das Zentrum nicht an einer Universität befand. Es rekrutierte dort – vor allem in Straßburg – allerdings einen guten Teil seines Lehrkörpers680. 680 Defrance 1997 [773], Defrance 2007 [774], Defrance 2008 [775].

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II. Fragen und Perspektiven

Das Centre d’études germaniques war 1921 von Hochkommissar Paul Tirard selbst gegründet worden. Es reihte sich nicht direkt in die Politik der „kulturellen Durchdringung“ ein, denn es richtete sich ausschließlich an eine französische Öffentlichkeit. Es handelte sich in der Tat um ein Zentrum ,angewandter‘, dem zeitgenössischen Deutschland gewidmeter Recherche und Vermittlung. Somit war es ein Projekt zur Herstellung und Verbreitung von Kenntnissen über den deutschen Nachbarn und vor allem über die besetzten rheinischen Gebiete. Die Leitung wurde einem Germanisten der Universität Straßburg anvertraut, JeanÉdouard Spenlé. Seine Zuhörerschaft bestand im Wesentlichen aus Besatzungsmilitär oder Soldaten, die sich auf Deutschland spezialisierten (vor allem Nachrichtenoffiziere), und Germanistikstudenten, die sich in Deutschland aufhalten wollten. Seine Ziele und seine Studienobjekte machten aus ihm ein interdisziplinäres Zentrum, in mancher Hinsicht vergleichbar mit seinen deutschen Partnerorganisationen, die auf die Westforschung spezialisiert waren (siehe weiter unten), deren Gegenstück es trotz verschiedener Ziele in gewisser Weise war. Es handelt sich jedoch eher um eine Institution zwischen dem universitären und dem politischen Feld. Vor allem in Deutschland hatte dieser Typus von Institution Erfolg. Und hier ist es die Recherche, mehr als der Unterricht für Führungskräfte oder künftige Führungskräfte, die gleichzeitig fundamentale Herausforderung, Ziel und Mittel – oder der Hebel – dieser Institutionen ist. Die bessere Kenntnis des Nachbarn hatte nicht ein besseres gegenseitiges Verständnis zum Ziel, sondern sollte politische Ziele wie die Revision der Grenzen oder die Anprangerung der durch den Nachbarn dargestellten Gefahr legitimieren, was die Vorstellung begründete, dass es wichtig sei, sich gut zu kennen, diesmal um zu bekämpfen. Für die „,national gesinnten‘ Historiker – und das waren fast alle –“ ging es darum, „das Deutschtum der westlichen Grenzregionen und der an Frankreich und Belgien verlorenen Gebiete so überzeugend wie möglich aus den Quellen heraus“681 zu belegen und darzustellen. Die berühmteste Institution, die sich in den Dienst dieser Sache stellte, war das 1920 gegründete Institut für die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn. Die Co-Direktion des Instituts durch einen Historiker (Hermann Aubin) und einen Germanisten (Theodor Frings) war bereits ein Zeichen der methodologischen Ausrichtung seiner Arbeiten. Es ging darum, die Interdisziplinarität in den Dienst der gemeinsamen Sache zu stellen. Diesem Institut folgten viele andere, die sich mehr oder weniger dasselbe Ziel setzten und die eine Art Kranz entlang der Westgrenze des Landes bildeten, in den besetzten Gebieten oder an deren Grenzen. Peter Schöttler nennt unter anderem das Alemannische Institut und das Oberrheinische Institut für Geschichtliche Landeskunde in Freiburg, das Saarpfälzische Institut in Kaiserslautern, das 681 Schöttler 1997 [854], 204–261, hier 205. Siehe auch Rusinek 2007 [844].

6. Langsamkeit und Zufälligkeiten bei der kult. Demobilisierung

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Institut für fränkisch-pfälzische Geschichte und Landeskunde in Heidelberg, das Provinzialinstitut für Westfälische Landes- und Volkskunde in Münster etc. In Frankfurt beschäftigte sich das Wissenschaftliche Institut der Elsaß-Lothringer speziell mit dem Fall des Elsass und des Moselgebietes. Diese Institute schlossen sich ab 1923 in einem institutionalisierten Netzwerk unter der Patronage einer in Leipzig ansässigen Stiftung, der Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung, dann ab 1931 der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaft zusammen, was ihnen eine noch größere wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit verschaffte. In der deutsch-französischen Perspektive, die unsere ist, ist die aussagekräftigste Institution zweifellos das „Wissenschaftliche Institut der Elsaß-Lothringer im Reich“, das von geflüchteten Elsässern und von Lehrern begründet wurde, die aus der ehemaligen deutschen Universität Straßburg vertriebenen worden waren682. Frankfurt war in gewisser Weise „die Hauptstadt dieser Vertriebenen“683 aus Elsass-Lothringen geworden. Die Stadt beherbergte vor allem den „Hilfsbund für die vertriebenen Elsaß-Lothringer im Reich“, die wesentliche Hilfsvereinigung der Vertriebenen, aus der sich das wissenschaftliche Institut entwickelte. Wenn Letzteres sich auch vom rein politischen Aktivismus freimachen wollte, indem es den Vorrang der wissenschaftlichen Arbeit und für einige seiner Mitglieder seine politische Neutralität betonte, war diese doch relativ. So erklärte Robert Ernst, einer der hauptsächlichen Förderer, 1921 ohne Doppelsinn: „Für das deutsche Volkstum zwischen Rhein, Mosel und Wasgau wollen wir kämpfen. Vom Wissenschaftlichen Institut der Elsaß-Lothringer im Reich werden die Waffen geschmiedet für diesen Kampf“684. Der Reichsminister des Inneren war mit dem Auswärtigen Amt die Hauptsubventionsquelle für das Institut. Dessen Arbeiten betonten zumeist gerade den deutschen Charakter der Grenzregionen der Mosel und des Rheins und konnten somit in einen ideologischen Kampf zur Verteidigung des Deutschtums einbezogen werden. Diese institutionalisierten Projekte zum Kennenlernen des Anderen – der zumeist implizit und explizit als Gegner angesehen wurde und als jemand, der auf die zugleich ideologische und wissenschaftliche Konstruktion eines Selbstbildes abzielt – wurden von anderen, weitaus pazifistischeren, Projekten abgelöst oder machten diesen Konkurrenz. Diese wurden von Persönlichkeiten geleitet, die von der Notwendigkeit einer deutsch-französischen Verständigung überzeugt waren. Aber die Rezeption der Arbeiten und Werke des Nachbarn blieb weitgehend die Angelegenheit dieser ersten Welle „spezialisierter“ Institutionen, die dem Blick ausweichen685. 682 Grünewald 1984 [603], vor allem S. 112–128; Dreyfus 2004 [776], Freund 2006 [783], Freund 2007 [784]. 683 Dreyfus 2004 [776], S. 386. 684 Zitiert nach Freund 2007 [784], S. 53. 685 Werner 2007 [874].

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II. Fragen und Perspektiven

Die zweite Welle der institutionellen Gründung, die sich in ihren Zielen radikal der ersten entgegenstellt, fand später statt und weitete sich nach der Konferenz von Locarno richtig aus. Sie löschte diese erste Welle aber weder aus, noch ersetzte sie sie, denn diese arbeitete weiter und schuf – zumindest in Deutschland – ein besser entwickeltes Netzwerk als ihre aufkommende Konkurrenz.

7. Unter der Ägide von Locarno 7. Unter der Ägide von Locarno

Die Befriedung der deutsch-französischen Beziehungen auf diplomatischer Ebene nach der Wende von Locarno hatte Auswirkungen auf die Zivilgesellschaften. Gruppen und Individuen haben, aus Überzeugung oder Pragmatismus, Verbindungen mit dem Nachbarn geknüpft und die Idee einer Verständigung der Zivilgesellschaften getragen. Mengenmäßig bleiben diese Gruppen – Pazifisten, überzeugte Europäer, Experten, Spezialisten für das Nachbarland – dennoch begrenzt, und es ist schwierig, ihren Einfluss in beiden Gesellschaften zu messen, zumal sie kein homogenes politisches Profil darstellen. Auch wenn sie sicherlich „Multiplikatoren“ sind, machen sie vor allem ihre – wenn auch ultra-minoritären – Reden und Handlungen interessant. Sie stellen eine der möglichen Modalitäten der „geistigen Demobilisierung“ dar, die den strikt nationalen Rahmen hinter sich lässt, sowie in gewisser Weise die Prämissen eines gemeinsamen Interpretationsversuches der vom Ersten Weltkrieg repräsentierten Katastrophe. Wir werden uns im Besonderen mit den Gruppen an der Spitze dieser Bewegung befassen, den Pazifisten und Akteuren der deutsch-französischen Annäherung, bevor wir den Erfolg dieses Phänomens hinterfragen.

7.1. Die Initiativen der Pazifisten: Friede durch die Idee Französische und deutsche Pazifisten hatten bereits vor dem Krieg Kontakte unterhalten, vor allem in den Jahren 1905 –1914686. De facto existierten transnationale Rahmen für pazifistisches Handeln. Es handelte sich vor allem um Kongresse, die die pazifistischen Vereinigungen der verschiedenen Länder, internationalen Komitees und Publikationen versammelten. Im deutsch-französischen Rahmen traten diese in den Jahren 1912 –1913 auf. So erlebte man 1912 das Erscheinen einer Nummer der ganzen neuen Cahiers franco-allemands (Deutschfranzösische Hefte), das Organ einer Vereinigung zum Kulturaustausch mit dem Namen Pour mieux se connaître (Um sich besser zu kennen)687. Zwei von der Carnegie-Stiftung für den internationalen Frieden unterstützte Konferenzen in Bern im Mai 1913 und in Basel ein Jahr später waren der deutsch-französischen Annäherung gewidmet688. 686 Lorrain 1999 [814]. 687 Ebd., S. 97. 688 Ebd., S. 98 –100.

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II. Fragen und Perspektiven

Nach dem Krieg ordneten sich die Kontakte zwischen französischen und deutschen Pazifisten in einen allgemeineren Kontext der Errichtung regelmäßiger Kontakte zwischen politischen Bewegungen und Gruppen verschiedener Länder ein, die in ideologischer Nähe zueinander standen. Es lässt sich hier das Beispiel der französischen und deutschen politischen Parteien anführen, die in den zwanziger Jahren regelmäßige Verbindungen errichteten. Dieses Untersuchungsfeld liegt noch weitgehend brach, und das bekannteste Beispiel ist das von Joachim Schröder analysierte der französischen und deutschen Kommunisten689. Wenn wir uns hier dafür entschieden haben, das Beispiel der französischen und deutschen Pazifisten zu behandeln, die keine Partei sind, sondern eine nebulöse Gruppe, dann weil zwei jüngst erschienene Werke690 ihre Kontakte präzise behandeln. Während des Krieges hatten nur einige sporadische Verständigungsversuche, vor allem in der Schweiz um Romain Rolland, fortbestehen können. Ebenso sehr lasteten der Krieg, die Frage der Verantwortung Deutschlands und des Friedens von Versailles in einer ersten Phase über der Aufnahme der Beziehungen zwischen den Pazifisten der beiden Länder. 1919 –1920 stellten die französischen Pazifisten als Vorbedingung für die Wiederaufnahme der deutschen Delegierten in die internationalen Kongresse, dass sie die Verantwortung ihres Landes für den Kriegsausbruch anerkannten. Solange sie diese Anerkennung nicht erreicht hatten, praktizierten sie entweder eine Politik des leeren Stuhls, indem sie selbst ablehnten, am Kongress teilzunehmen, sodass kein Franzose am Internationalen Kongress für den Völkerbund in Bern 1919 teilnahm, oder ließen die anwesenden Delegierten unzweideutige Texte unterzeichnen wie anlässlich des Universellen Friedenskongresses in Paris im August 1919: „Hinsichtlich des Themas der Ursprungsverantwortung unterscheidet der Rat sorgfältig zwischen den allgemeinen und den besonderen Ursachen (…) An diesen allgemeinen Ursachen tragen alle Nationen, vor allem die größten, ihren schweren Teil der Verantwortung. Aber Deutschland, Österreich-Ungarn, die Türkei und Russland dadurch, dass sie Minderheiten unterdrückten; Deutschland, Österreich und Russland dadurch, dass sie der militärischen Kaste eine praktisch unbegrenzte politische Macht einräumten, haben bei den allgemeinen Kriegsursachen einen ausschlaggebenden Teil übernommen. (…) Indem es vorbehaltlos die Politik des Kabinetts in Wien unterstützte und Russland und Frankreich den Krieg erklärte, hat Deutschland die Verantwortung für den Krieg übernommen“691.

Die deutschen Pazifisten sind zu dieser Zeit nicht alle bereit, eine derartige 689 Schröder 2006 [856]. 690 Lorrain 1999 [814], Gorguet 1999 [790]. Wenn nicht anders angemerkt, stammen die Fakten aus diesen beiden Werken. Zu den Kontakten zwischen proeuropäischen Gruppen u. a. Burgard 2000 [756]. 691 Zitiert nach Lorrain 1999 [814], S. 190.

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Erklärung zu unterzeichnen, selbst wenn die deutsche Verantwortung für andere klar und deutlich ausschlaggebend ist692. Im Februar des Folgejahres befindet sich sogar die Carnegie-Stiftung auf dieser Linie, und erst 1922 wird Helmuth von Gerlach zum deutschen Korrespondenten der Stiftung ernannt693. Die beiden Ligen für Menschenrechte hatten ihren Kontakt 1921 wieder aufgenommen, und 1922 erschien ein Werk aus der Feder von Otto Lehmann-Rußbüldt in den Buchläden, die Zusammenfassung der Reisen der Deutschen Liga für Menschenrechte nach Frankreich und der französischen Ligue des droits de l’homme nach Deutschland unter dem vielsagenden Titel Die Brücke über den Abgrund 694. Die Ruhrbesetzung markiert eine spürbare Entwicklung der französischen Pazifisten, die die Handlungen ihrer Regierung relativ einmütig verurteilen und sich nicht mehr auf die von ihnen debattierte Frage der deutschen Verantwortung und Versailles konzentrierten. Die Ungerechtigkeit erschien ihnen als französisch. Wenn auf deutscher Seite die pazifistischen Bewegungen auch vereinbarten, den französischen Militarismus anzuprangern, sind sie doch uneinig hinsichtlich der Politik des passiven Widerstands, die einigen als zu aktiv und dazu geeignet erschien, die Repression zu verstärken. Von beiden Seiten aus versuchte man jedoch, den Kontakt zu halten. Paul Langevin wird zu der Demonstration Nie wieder Krieg 1923 in Berlin eingeladen – lehnt es aber ab, das Wort zu ergreifen –, Marc Sangnier organisiert ein Treffen im August 1923 in Freiburg, bei dem er 132 Franzosen und 200 Deutsche versammelt695, die deutsche Sektion der Ligue internationale des femmes pour la paix et la liberté (LIFPL) ruft 1923 zur Errichtung eines „Hauses der (deutsch-französischen) Versöhnung“ und zur finanziellen und aktiven Mitwirkung am Wiederaufbau in Frankreich auf. Ihre französischen Kolleginnen rufen ihrerseits dazu auf, ein Kind aus dem Ruhrgebiet finanziell zu „adoptieren“696. Mit dem Rückzug aus dem Ruhrgebiet und den Vorzeichen einer Entspannung markiert das folgende Jahr laut Sophie Lorrain „den Höhepunkt der Beziehungen zwischen französischen und deutschen Pazifisten“697. Kongresse, Reisen und Treffen, die einen guten Teil der Delegierten beider Länder versammelten, vervielfachten sich unter dem expliziten und impliziten Zeichen der deutschfranzösischen Verständigung. Die Unterzeichnung des Locarno-Vertrages bestätigt in gewisser Weise diese Bewegung, ebenso wie der Friedensnobelpreis, der 1926 an Briand und Stresemann und 1927 an die französischen und deutschen Pazifisten Ferdinand Buisson und Ludwig Quidde verliehen wird698. 692 Über die Spaltungen des deutschen pazifistischen Milieus: Lütgemeier-Davin 1982 [518]. Zur Frage des Artikels 231, S. 127–130. 693 Lorrain 1999 [814], S. 191. 694 Ebd., S. 193 u. 233; Beilecke/Bock 1998 [744]. 695 Lorrain 1999 [814], S. 203. 696 Gorguet 1999 [790], S. 65–69. 697 Lorrain 1999 [814], S. 205. 698 Lorrain 1999 [814], S. 211; Holl 2002 [499].

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II. Fragen und Perspektiven

Wie dem auch sei, während Locarno eine Entspannung zwischen den beiden Ländern darstellt, spalten sich paradoxerweise die pazifistischen oder dem Pazifismus nahestehenden Bewegungen gerade, bisweilen nationalen Trennlinien folgend. 1925 lehnt die Ligue des droits de l’homme den Gewissensgrund ab, während ihre deutsche Partnerorganisation ihn befürwortete. Aber der Bruch vollzieht sich auch entlang der ideologischeren Linien zwischen mehr und mehr uneingeschränkten Pazifisten und moderateren oder realistischen Pazifisten699. Nach dem Höhepunkt von 1924 leidet die internationale pazifistische Bewegung, die an ihren ideologischen Trennungen leidet, auch an mangelnder Koordinierung zwischen den Bewegungen und den Ländern, wie 1926 der Pastor Jézequel, einer der Apostel der protestantischen Pazifismusbewegung, bestätigt: „Die Verwirrung und die Unordnung der pazifistischen Armee schwächen sie, lähmen sie, zerstören ihre Bemühungen. Im Kampf für den Frieden ist die Einheit der Front ebenso notwendig wie im anderen (…) Für den weltweiten Frieden muss die große Armee der Pazifisten ohne mögliche Anfechtung erscheinen, wie die Gesamtheit eines glühenden und unbesiegbaren Geistes der Brüderlichkeit“700. Ilde Gorguet, die die Beziehungen zwischen deutschen und französischen Pazifisten gemäß ihrer soziopolitischen Ursprünge untersucht hat (Ligue des droits de l’homme, Demokraten, Katholiken, Protestanten, Feministinnen etc.), schloss jedes ihrer Kapitel, die der Periode 1926 –1931 gewidmet sind, mit der Feststellung eines Misserfolgs ab, auch wenn dieser Misserfolg ihrer Meinung nach kurzfristig war, da die Netzwerke den Krieg überdauerten. Wenn auch die internationale Konjunktur mit der Krise, dem Anstieg der Spannungen und der Anziehung durch die Extremisten wie auch den unterschiedlichen Sichtweisen innerhalb der Friedensbewegung eng verbunden ist und schwer auf der transnationalen Dynamik der pazifistischen Netzwerke lastet, spielt die unterschiedliche Bedeutung des pazifistischen Bezugs in den beiden Gesellschaften und seine interne Entwicklung eine mindestens ebenso wichtige Rolle. In der Tat entsteht seit 1925 eine gewisse Asymmetrie. Die deutsche Friedensbewegung hat früher als in Frankreich die Tendenz zur Radikalisierung, da sie konfrontiert ist mit einer öffentlichen Meinung und einer politischen Klasse, die ihr eher feindlich gegenübersteht und die im Frieden keinen Selbstzweck, sondern ein Mittel sieht – zum Beispiel zur Revision des Versailler Vertrags, zur Evakuierung des Rheinlands, zur Wiederherstellung der deutschen Macht. Trotz des symbolischen Erfolgs eines Buches wie Im Westen nichts Neues und der parallel zu Frankreich verlaufenden Veränderung des Bildes vom Soldaten des Ersten Weltkriegs vom Helden zum Opfer ist die Phase der Schwärmerei für den Pazifismus in den zwanziger Jahren in Deutschland701 viel kürzer und oberflächlicher als in Frankreich. Vor allem verfügt der radikalere Pazifismus über eine begrenz699 Gorguet 1999 [790], S. 287. 700 Zitiert nach ebd., S. 288–289. 701 Wette 1981 [552].

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tere soziale Basis als in Frankreich, wo er nach und nach die politische Kultur dieser Zeit integriert. Das paradigmatische Beispiel für diesen kämpferischen Pazifismus ist das 1925 in Berlin eröffnete Anti-Kriegs-Museum des Theaterschauspielers Ernst Friedrich. Er hatte bereits im vorausgegangenen Jahr schockierende Montagen aus seiner Sammlung von Kriegsfotografien in Buchform veröffentlicht. Es war das Jahr, in dem die Veröffentlichung der Serie von Radierungen Der Krieg von Otto Dix erfolgte und das von pazifistischen Kreisen als „Antikriegsjahr 1924“ bezeichnet wurde702. Die literarische und vor allem malerische Bewegung der Neuen Sachlichkeit, deren berühmteste Mitglieder zum Teil Veteranen sind und die auch die Anprangerung des Krieges und seiner Gräuel nicht ohne eine gewisse gleichzeitige Faszination und Abneigung thematisiert, hat in ihrer Wucht keine französische Entsprechung. Der Surrealismus, der die französische Wandlungsform des Dadaismus ist, während die Neue Sachlichkeit dessen deutsche Wandlungsform darstellt, ist sicherlich politisch und in vielerlei Hinsicht den Pazifisten nahestehend, jedoch viel „intellektueller“, viel komplexer in seiner nicht faszinationslosen Beziehung zur Gewalt. Allgemeiner betrachtet findet die Radikalisierung der pazifistischen Milieus in Frankreich viel später statt und verläuft nach einer anderen Dynamik, die eher auf die interne Entwicklung des Pazifismus als auf seine Notwendigkeit der Selbstdefinition gegenüber feindlichen und radikalen Kräften zurückzuführen ist. In Frankreich entspricht die Mitte der zwanziger Jahre der Durchsetzung eines konsensuellen Pazifismus in der öffentlichen Meinung, der, wie von Antoine Prost gezeigt, von den Kreisen der Veteranen getragen wurde, auch wenn diese konservativ oder patriotisch waren. Der Pazifismus wird zu einem positiven Bezug, tragend und zentral im politischen Leben, dessen Parteien ihn praktisch alle aus taktischen Gründen reklamieren können703. Dieser Mehrheitspazifismus mit unscharfen ideologischen Konturen geht einher mit der Entwicklung von „uneingeschränkt“ pazifistischen Gruppen und Splittergruppen, die alles dem Frieden unterordnen, indem sie aus der politischen Handlung einen kategorischen Imperativ machen und versuchen, sich vom konsensuellen Pazifismus zu unterscheiden, um sich in gewisser Weise als politische „Dissidenten“704 zu gerieren. Wenn es auch diese Bewegungen – trotz des diesbezüglichen Versuchs der Ligue Internationale des combattants pour la paix (LICP)705 – nicht schaffen, sich zusammenzuschließen und eine Massenbewegung zu bilden und sich angesichts der faschistischen und nationalsozialistischen Bedrohung gespalten finden, bleibt doch unbestritten, dass sie von der Beliebtheit profitieren können, deren sich der 702 703 704 705

Friedrich 2004 [48], Collotti 2004 [490], Jürgens-Kirchhoff 2002 [507]. Offenstadt/Olivera 1993 [524]. Ingram 1991 [502]. Offenstadt 1993 [525].

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II. Fragen und Perspektiven

Pazifismus in der öffentlichen Meinung erfreut. Gleichzeitig verunglimpften die radikalsten Pazifisten diejenigen, die Anhänger von gemäßigteren oder realistischeren Lösungen waren. Es scheint also, dass trotz der genannten Versuche die Asymmetrie zwischen den jeweiligen Positionen des Pazifismus in den Gesellschaften die Kontakte zwischen deutschen und französischen Gruppen strukturell nicht erleichtert. Wie Sophie Lorrain es allgemeiner beschreibt, beruht Locarno auf einem „gigantischen Missverständnis (…). Die Franzosen setzen Frieden und Macht gleich, die Deutschen möchten die Macht durch den Frieden“706. Dieses Missverständnis lässt die Tür offen für jegliche politische Instrumentalisierung des Pazifismus und vor allem des Pazifismus des Nachbarlandes und kann von der Politik als Hebel für Interessen genutzt werden, die recht weit von einem ideologisch-pazifistischen Ziel entfernt sind.

7.2. Kulturelle Vermittler, deutsch-französische Komitees und Zusammenarbeit von Experten: Frieden durch Handlungen Die Initiativen zur kulturellen Vermittlung sind ungefähr derselben Kurve gefolgt wie die Initiativen zur pazifistischen Annäherung der Jahre 1912 –1913, beispielsweise mit der Gründung eines Comité de rapprochement intellectuel franco-allemand (Komitee der intellektuellen französisch-deutschen Annäherung) oder dem Institut franco-allemand de la réconciliation (Französisch-deutsches Institut für Aussöhnung)707. Der Krieg beendet diese Initiativen von Annäherung und Versöhnung auf brutale Weise, aber die Muster, die anschließend die verschiedenen Handlungen leiteten, haben sich trotzdem herauskristallisiert. Dennoch muss man die Jahre nach Locarno abwarten, damit sie sich in greifbaren Institutionen verkörpern. Diese sind in erster Linie: das Deutsch-französische Studienkomitee, das 1926 auf Initiative des Luxemburger Industriellen Emile Mayrisch und Pierre Viénots gegründet wurde, der auch die treibende Kraft dahinter war, die Deutsch-Französische Gesellschaft von Otto Grautoff (1876 –1937), die Ende 1927 in Deutschland gegründet wurde, und ihre Schwesterorganisation mit ihren Antennen in den großen Städten der französischen Provinz, die Ligue d’Études Germaniques (von 1928 bis 1936)708. Diese Institutionen gehen auf die Initiative von einigen Pionieren zurück, die die Fenster der Möglichkeiten entdeckten, die durch die Veränderung der Einstellungen und den „Bruch mit der Mentalität des Krieges“709 Mitte der zwanziger 706 707 708 709

Ebd., S. 225. Lorrain 1999 [814]. Zu diesen Organisationen siehe: Bock 1989 [746], Bock 1990 [747], Bock 2004 [748]. L’Huillier 1971 [812], S. 11; Müller 2004 [821].

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Jahre eröffnet wurden. Dank jüngster Recherchen zu diesen kulturellen, teilweise transnationalen Milieus sind die Biographien einiger ihrer Akteure nunmehr gut bekannt, ob es sich um Ernst Robert Curtius oder Otto Grautoff oder Pierre Viénot handelt. Auf deutscher Seite repräsentiert die Figur des Romanisten Ernst Robert Curtius die Vorstellung einer deutsch-französischen Annäherung, die gegründet ist auf das bessere Verständnis des Anderen. Er trat übrigens gleich zu Beginn dem Komitee von Viénot und Mayrisch bei, war aber vorher zweifellos der erste deutsche Intellektuelle, der sich dermaßen für die deutsch-französische Sache einsetzte. Als treuer Teilnehmer der Treffen der Mayrischs in Colpach in Luxemburg war er der erste Deutsche, der nach Pontigny kam, noch bevor der Geist von Locarno durch Europa flatterte: 1922, anlässlich der zweiten Dekade nach dem Krieg. Diese literarischen und intellektuellen Treffen, die 1910 von Paul Desjardins initiiert und stark mit der Nouvelle Revue française (NRF), dann anschließend mit den Treffen der Mayrischs in Colpach verbunden waren, waren als international gedacht, dienten aber in den zwanziger Jahren als Rahmen für direkte Kontakte zwischen deutschen und französischen Schriftstellern, und es war Curtius, der häufig deutsche Namen vorschlug und die Kontakte mit André Gide und Desjardins herstellte. Dieser Wille zur Verständigung war dennoch nicht vorbehaltlos, denn Curtius lehnte es 1923 wegen der Ruhrbesetzung ab, nach Pontigny zu kommen710. Man muss sagen, dass der Weg in Richtung des „Anderen“ auch für ihn nicht eher ersichtlich war als für Viénot oder Rivière. Mit der Niederlage hatte dieser Romanist deutschen und schweizerischen Ursprungs seine wirkliche Heimat verloren: das Elsass. Am 21. November, als man die deutschen Fahnen in Straßburg abnahm, um den Einzug der französischen Truppen vorzubereiten, der für den nächsten Tag vorgesehen war, schrieb er an seinen Sohn aus Bonn: „an diesem großen Trauertage, da die deutsche Flagge von den Mauern Straßburgs verschwindet. Ich fühle noch, wie heute, den Jubel, der die Seele erfüllte, als es hieß: Straßburg und das Elsaß deutsch! Und mein ganzes Leben war auf diesen großen nationalen Gedanken eingestellt, so daß ich mir heute wie ein bankrotter Kaufmann vorkomme, der stumpfen Blicks zusieht, wie ihm sein Warenlager versteigert wird“711.

Noch 1921 war es weitaus zu schmerzhaft, sich ins Elsass zu begeben, und er lehnte eine Einladung nach Straßburg ab. Er erklärte die Absage im Nachhinein Carl Schmitt in Worten, die nicht klarer sein könnten: „Ich schicke Ihnen gleichzeitig eine Nummer des Alsace française mit der Bitte um Rücksendung. Sie charakterisiert besser als alles andere den Geist, der jetzt dort 710 Ebd., S. 79. 711 Zitiert nach Jacquemard-de Gemeaux 1998 [126], S. 26.

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II. Fragen und Perspektiven herrscht, und macht mir den Gedanken, das Elsaß wieder zu betreten noch unmöglicher als es immer schon war. Der Geisteszustand der heute in Frankreich tonangebenden Schicht ist widerlich“712.

Erst 1930 – als er schon häufig nach Frankreich gekommen war – konnte er erneut den Fuß auf elsässischen Boden setzen. Während Curtius die Figur des intellektuellen Fährmanns verkörpert, fügen die beiden Rivalen Pierre Viénot und Otto Grautoff der Netzwerkbildung der Intellektuellen noch eine weitere, zugleich politische und organisatorische Dimension an. Pierre Viénot, der der génération du feu angehörte und die Vorstellung des Verteidigungskrieges teilte, ohne – im Gegensatz zu Gaston Riou oder Jacques Rivière zum Beispiel – eine besondere Feindschaft gegenüber dem Erbfeind entwickelt zu haben, verkörpert in gewisser Weise den französischen Idealtyp des Engagements für eine deutsch-französische Aussöhnung. Nachdem er ein Beobachter Deutschlands und der deutsch-französischen Beziehungen in den unruhigen Jahren der ersten Hälfte der zwanziger Jahre gewesen war, wo er sich in einem Milieu bewegte, das für die europäischen Ideen und der deutsch-französischen Verständigung gewonnen war, vor allem das Milieu von Pontigny, entwickelt er die Idee, dass die Sicherheit – die eines der zentralen Ziele der französischen Außenpolitik gegenüber Deutschland ist – durch ein „gegenseitiges Verständnis“ erreicht werden kann. Für ihn reicht die Kenntnis des Anderen nicht aus, man muss ihn auch verstehen. Deshalb lanciert er 1925 mit Emile Mayrisch und Jean Schlumberger, einem der Redaktionsmitglieder der NRF, ein Projekt eines „deutsch-französischen Informierungsausschusses“. Die Präambel dieses Projekts stellte fest: „Bis jetzt scheiterten alle Versuche, die seit sechs Jahren unternommen wurden, um zwischen Frankreich und Deutschland, um zwischen Frankreich und Deutschland einen dauernden Friedenzustand herzustellen, d. i. einen Friedenzustand, der beiderseitig als solcher anerkannt würde und unabhängig von jedem Wechsel der politischen Konjunktur oder jeder Verschiebung im Verhältnis der militärischen Streitkräften zueinander. Die französisch-deutschen Beziehungen weisen immer noch den Charakter eines Konfliktes auf (…)“713.

Für die Gründer geht es darum, die politischen, intellektuellen und industriellen Eliten sich treffen zu lassen, damit sie sich der Komplementarität der beiden Nationen in der Logik einer Win-win-Situation bewusst werden. Deshalb ist es ihrer Meinung nach notwendig, sich zunächst und vor allem gegenseitig zu informieren. Man beschließt eine paritätische Organisation, sowohl hinsichtlich der Mitglieder, wie auch der Finanzen und Subventionen, um die man die beiden Staaten bittet. 712 Zitiert nach ebd., S. 28. 713 Zitiert nach L’Huillier 1971 [812], S. 137.

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Schließlich wird das Komitee in Luxemburg am 30. Mai 1926 gegründet. Es beschließt unmittelbar, ein Büro in Paris und eines in Berlin zu eröffnen. Seitdem hat Viénot die Leitung des Berliner Büros inne und wird eine Art „privater“714 Botschafter in Deutschland. Zur selben Zeit wie das Komitee wird eine andere, ebenfalls deutsch-französische Organisation durch den Kunsthistoriker Otto Grautoff gegründet715. Er hatte 1925 eine Reise durch Frankreich, und besonders die Universitäten, unternommen, um im Auftrag des Auswärtigen Amts die Möglichkeit einer Aufhebung des universitären Boykotts zu sondieren, in dem sich Deutschland befand. Zurück in Deutschland strebt er die Gründung einer Frankreich gewidmeten Zeitschrift an und nimmt unter diesem Blickwinkel die ersten Kontakte mit interessierten Kreisen auf, hauptsächlich mit den deutschen Romanisten, den Kunsthistorikern und den Intellektuellen, aber auch mit Industriellen, hauptsächlich der AEG. Nach Konsultationen mit der Französischen Botschaft und in Paris, vor allem mit Jean Giraudoux, damals „Pressechef“ des Quai d’Orsay, plant er, sein Projekt auf die Gründung einer wirklich deutsch-französischen Zeitschrift auszuweiten. Er stößt dabei mit dem Deutsch-französischen Studienkomitee und vor allem Viénot zusammen, der das Auftauchen einer konkurrierenden Organisation nicht gerne sieht. Die beiden Projekte sind in der Tat aus demselben chronologischen Kontext und demselben intellektuellen und elitären Nährboden hervorgegangen, präsentieren sich beide als „apolitisch“ und haben zum Ziel, die Kenntnisse über jedes der beiden Länder für eine bessere Verständigung zu verbreiten. Von da an macht sich Viénot daran, das Projekt von Grautoff, das er als Konkurrenz betrachtet, zu „sabotieren“716, und macht es gegenüber potentiellen finanziellen Unterstützern offen schlecht. Die Entstehung dieser Konkurrenz in Form einer Zeitschrift bringt ihn dazu, das Komitee der Wiener Europäischen Revue Karl Anton Prinz Rohans anzunähern, während das Komitee explizit als deutsch-französisches Projekt gegründet wurde717. Dennoch hatten die Versuche Viénots nicht alle erwünschten Effekte, und Ende Dezember 1927 wurde die Deutsch-französische Gesellschaft gegründet mit dem Ziel, endlich die Zeitschrift zu lancieren: die Deutsch-französische Rundschau. Auch wenn sie einen elitären Charakter hatte, war sie, da es Abonnenten zu gewinnen galt, offener als das Komitee von Viénot, das durch Kooptation erweitert wurde und niemals mehr als insgesamt 80 Mitglieder zählte718. Die Deutsch-französische Gesellschaft zählte bis zu 2700 Mitglieder und war gemäß Hans-Manfred Bock ein „besonders eindrucksvolles“ Beispiel für die Entstehung einer zwischenstaatlichen Gesellschaft auf der Ebene der Zivilgesellschaft719. Ihre soziologische Zusammensetzung – auch wenn sie weitgehend vom 714 715 716 717 718 719

Sonnabend 2005 [139], S. 149. Bock 1990 [747]. Zu diesem Thema siehe Sonnabend 2005 [139], S. 138–143. L’Huillier 1971 [812], S. 140; Sonnabend 2005 [139], S. 139. Sonnabend 2005 [139], S. 143. Bock 1990 [747], S. 56–57.

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II. Fragen und Perspektiven

Bürgertum im weitern Sinne dominiert wurde – war letztlich recht gemischt720. Allerdings scheiterte Grautoff daran, eine Société franco-allemande zu gründen, die die völlig symmetrische Schwesterorganisation in Frankreich sein sollte. Es war die Ligue d’Etudes Germaniques (LEG), die 1928 in Sens von einem Gymnasiallehrer und Freund von Grautoff gegründet wurde, die als französischer Stützpunkt der DFG diente. Die LEG war jedenfalls weniger verschieden in ihrer Zusammensetzung und ihrer Orientierung: Sie war im Wesentlichen auf die Provinzen – sie hatte kein Büro in Paris – und die Sektoren bezogen, denn sie richtete sich hauptsächlich an Gymnasiallehrer, indem sie vor allem pädagogisches Material für die Deutschklassen veröffentlichte721. Zudem stellte Grautoff, wie Curtius und Viénot, dabei unterstützt von einer Kohorte französischer und deutscher Schriftsteller, Journalisten und Intellektuellen, seine Kenntnisse über das andere Land in den Dienst ihrer Sache, indem er zahlreiche Werke veröffentlichte. In den Jahren 1925 –1932 gab es tatsächlich eine Welle von dem Nachbarn gewidmeten Essays in einem viel weniger feindlichen Ton als der Essay L’Allemand (Der Deutsche) von Rivière, der 1919 veröffentlicht worden war und der in gewisser Weise den Weg geebnet hatte. Das berühmteste dieser Bücher ist zweifellos Gott in Frankreich? von Friedrich Sieburg von 1929722. Eine systematische komparative und verflochtene Untersuchung dieser Bücherwelle steht noch aus, selbst wenn diese Werke und ihre Autoren bereits das Interesse von Historikern gefunden haben. Franzosen schreiben also über Deutschland und Deutsche über Frankreich und werden übersetzt, so dass man erfahren kann, welchen Blick sie auf den Anderen werfen. Frankreich ist erneut in Mode in Deutschland und Deutschland in Frankreich. Diese Welle, bei der manche ihrer Werke Bestseller werden, ist Teil einer Welle von Publikationen über Europa, wie zum Beispiel das berühmte Werk von Hermann von Keyserling 1928, Das Spektrum Europas, oder auch über die Eintracht der Nationen unter der Ägide des Völkerbundes. Mehr noch als diese Essays als Indizien sind es die errichteten Organisationen, die heute Themen von Pionierstudien zur deutsch-französischen Versöhnung sind. Über die Kenntnis und das gegenseitige Verstehen hinaus versuchten diese Organisationen – vor allem die DFG von Grautoff oder die LEG, die mit Erfolg versuchten, bis in die mittelgroßen Städte präsent zu sein –, soziale Gruppen in Frankreich und Deutschland zusammenzubringen, etwa die Jungen, die sie unterrichteten, oder die Veteranen. Treffen, kulturelle Veranstaltungen und Korrespondenzen – es gab 15 000 Briefwechsel zwischen deutschen und französischen Schülern723 – waren die hauptsächlich verwendeten Mittel. Die Organisationen litten allerdings an Fehlern, die ihre Wirksamkeit mit720 Ebd., S. 81. 721 Ebd., S. 74. 722 Schonauer 1980 [849], S. 107–119; Taureck 1987 [867], Taureck 1993 [868], Gangl 1988 [786], Krause 1993 [808]. 723 Bock 1990 [747], S. 88.

7. Unter der Ägide von Locarno

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tel- und langfristig behinderte. Sie richteten sich nämlich an eine begrenzte Öffentlichkeit und vor allem an die Eliten, selbst wenn das Grautoff-Projekt offener war. Dieser Elitismus setzte auf die Tatsache, dass die – politischen, kulturellen und wirtschaftlichen – Eliten die Rolle eines sozialen Beschleunigers für die Ideen von Annäherung und Verständigung spielten. Aber diese Rolle und ihr Einfluss waren weitgehend abhängig vom nationalen und politischen Kontext. Im Fall Deutschlands war die von diesen Unternehmungen anvisierte Öffentlichkeit – die Mittelklasse und das Bildungsbürgertum – genau diejenige, auf die auch die Verführung der radikaleren Reden, vor allem der Nationalsozialisten, abzielte, die der deutsch-französischen Beziehung und Versailles gleichzeitig radikal abweichende und besonders vereinfachende sowie seit 1918 –1919 stärker sozial verwurzelte Interpretationen gaben. De facto war die transportierte Ideologie der deutsch-französischen Komitees auch ihr schwacher Punkt. Sie hatte nicht genügend Gewicht im Vergleich zur Interpretation der Extremen, vor allem in Deutschland. Diese Ideologie könnte man so resümieren: Mehr gegenseitige Kenntnis bringt mehr Verständnis, mehr Verständnis mehr Verständigung (gemeinsame Interessen zuerst, und die Annäherung müsste in eine Form der Versöhnung übergehen). Wenn in dem Kontext nach Locarno ein derartiger Gedankengang funktionieren und sein Pragmatismus das Mittel sein konnte, viele anzusprechen, riefen die Krise und die sie begleitenden Unsicherheiten eine Form des Rückzugs auf sich selbst hervor und verwiesen diese Art von Gedankengang in den Hintergrund, selbst wenn gemeinsame Projekte zur Lösung von Problemen von Expertenkomitees vorgeschlagen werden konnten. Die einvernehmliche ideologische Geschmeidigkeit, die sich als Quelle erwies, um die eher zentristischen und konservativen Milieus für die Idee der deutsch-französischen Verständigung während der Phase der Befriedung zu gewinnen, verwandelte sich in Schlaffheit angesichts konkurrierender Interpretationen, sie sich im Augenblick der Krise auf das Nationale zurückzogen. Sie richtete sich sogar gegen sich selbst, denn sobald die Nationalsozialisten an der Macht waren, zögerten sie nicht, den Namen der Deutsch-französischen Gesellschaft für eine ihrer Propagandaschöpfungen unter der Ägide von Goebbels zu benutzen. Aber wenngleich die Nationalsozialisten Grautoffs Gesellschaft liquidierten, der ihnen wegen seiner Projekte suspekt war, war diese de facto seit 1932 bankrott, seit 1930 war es mit ihr abwärtsgegangen. Sobald sie die ehemaligen Leiter und aktiven Mitglieder beseitigt oder ins Exil gezwungen hatten, konnten sie den Namen „usurpieren“724 und die Gesellschaft wiederbegründen, indem sie ihre Vertrauensleute dort platzierten725. Und wenn auch die neue DFG insgesamt nicht mehr viel mit dem Ursprungsprojekt zu tun hatte, erlaubte sie doch einigen, Karriere zu machen, wie Otto Abetz, der seit 1930 als Mitbegründer des Sohlbergkreises zusammen mit 724 Ebd., S. 100. 725 Ebd., S. 91–100.

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II. Fragen und Perspektiven

Jean Luchaire ein Pionier der Verständigung der französischen und deutschen Jugend und Studenten gewesen war726. Die langsame Auflösung des Deutsch-französischen Studienkomitees nach dem Weggang Viénots, der sich langsam in Richtung der Linken entwickelte, schuf ebenfalls Raum für eine Neugründung nach dem Muster der DFG. Es ist wieder Abetz, der dabei 1935 einer der Schöpfer war727. Es diente auch als – vor allem mondäne728 – Verbindungsstation zwischen Frankreich und Hitler-Deutschland, und es ermöglichte auch einigen, ihre Karriere im Schatten Pierre Lavals voranzutreiben, wie Fernand de Brinon, der die Vizepräsidentschaft 1935 übernahm. Diese Beispiele sind, wenngleich die bekanntesten, nicht die einzigen. Sie fügen sich in einen größeren Kontext der Entwicklung des Europagedankens, in dem nach 1924 Deutsche und Franzosen häufig eine zentrale Rolle spielen729. Auf sozialer, regionaler und Sektorenebene werden sie von anderen institutionellen Initiativen ergänzt, die in ihren Misserfolgen – zum Beispiel das Projekt von Gottfried Salomon Delatour, in Frankfurt ein Frankreich gewidmetes Institut für Sozialwissenschaften zu errichten – und ihren kurzfristigen Erfolgen – die Gründung des Deutsch-Französischen Instituts der Stadt Köln unter der Leitung von Konrad Adenauer und dem Hochschullehrer Leo Spitzer730 – aufschlussreich sind: einerseits hinsichtlich der Dynamik bestimmter individueller Initiativen oder kleiner Gruppen von „Aktivisten“, aber auch und vielleicht vor allem mit Blick auf die Bedeutung des Kontextes, der ihre ganze Entfaltung begünstigt, begrenzt oder verhindert. Schließlich ist das Scheitern der von großzügigen intellektuellen Projekten initiierten Verständigungsbemühungen ebenso der Konjunktur und der chronologischen Enge (1925 –1929) des Fensters für politische Möglichkeiten geschuldet, das ihre Gründung erlaubte, aber nicht ihre völlige Entfaltung, wie auch den internen Schwächen, die ihnen weder erlaubten, klar zu begreifen – obwohl diese Organisationen zum Ziel hatten, den Nachbarn besser kennenzulernen – noch dem Aufstieg des Nationalsozialismus die Stirn zu bieten, der eine ansonsten viel anziehendere Interpretation der deutsch-französischen Beziehungen bot. Auf französischer Seite litten diese Komitees an denselben Krankheiten wie die französische Außenpolitik jener Zeit, die gespalten war zwischen einem Traum von Größe, einer defensiven Vorstellung und einem unausgesprochenen Pazifismus,

726 727 728 729 730

Lambauer 2001 [809], Thalmann 1993 [866], Unteutsch 1990 [873], Ray 2000 [838]. Thalmann 1993 [866], S. 81–82. d’Almeida 2006 [701]. Burgard 2000 [756]. Marmetschke 2007 [816]. Das Institut wurde bis 1940 beibehalten, doch seit 1933, mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die nicht zögerten, Spitzer von der Universität zu vertreiben, verlor es de facto Mittel, Aura und Unabhängigkeit. Hier war der junge Raymond Aron 1930–1931 Lektor.

7. Unter der Ägide von Locarno

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der vom Ersten Weltkrieg ererbt worden war, sowie dessen Neuinterpretationen in den zwanziger Jahren als Katastrophe, die auf keinen Fall wiederholt werden darf, kurz: an den Aporien der kulturellen Demobilisierung.

7.3. Die Aporien des Geistes von Locarno Zweifellos mehr noch als sonst ist in einer außerordentlich politischen Epoche der entscheidende Anstoß, der den „Geist von Locarno“ begünstigt hat, ein politischer. Von John Horne stammt die sicherlich innovativste Untersuchung, die in den letzten Jahren erschienen ist. Er zeigt, dass die von den politischen und kulturellen Eliten eingesetzte Rhetorik, die Rituale, die Symbolik, die dieser Bewegung förderlich waren – in erster Linie die von Briand und Stresemann –, explizit darauf zielen, die aus dem Krieg und den sechs Jahren deutsch-französischer Krisen hervorgegangenen Vorstellungen zu löschen731. In den Reden verweisen sie ganz klar auf die vergangenen Schrecken des Krieges, aus denen man die Lektionen lernen müsse. Aber die „Schrecken des Krieges“ werden in verallgemeinernder Weise genannt, ohne in die besonderen Details wie die Besatzungserfahrungen, die Blockade oder das Schicksal der Gefangenen nach 1918 zu gehen, die die Verletzungen und Ressentiments wieder aufleben lassen könnten. Man muss die Idee eines sicherlich furchtbaren, aber symmetrischen Krieges aufrechterhalten, bei dem Opfer und Helden die Soldaten beider Lager sind. Der Begriff der „Zivilisation“ erscheint periodisch immer wieder in ebendiesen Reden und stellt sich der „Barbarei“ und den Schrecken während des Krieges entgegen. Die Inszenierung ihrer „Freundschaft“ muss als Synekdoche für das verstanden werden, was sie wünschten: eine deutsch-französische und europäische Verständigung. Die Inszenierung des Abendessens von Thoiry am 17. September zwischen den beiden Staatsmännern spielte in diesem Sinne eine wichtige Rolle: „Den Gegner zu schlagen hieß, ihn persönlich zu treffen und sich dem Ritual des gemeinsamen Essens hinzugeben“732. Dieser „Geist von Locarno“ verleitete manchmal zu Veränderungen in der Vorstellung vom Anderen – Veränderungen, die bisweilen regelrechten „Konversionen“ gleichkommen oder auch einem Vergessen darüber, wie die Vorstellungen vom Anderen während des Krieges oder in den Jahren 1918 –1920 waren, Vorstellungen, die nunmehr als beschämend empfunden wurden. Ein gutes Beispiel dieser Konversion ist auf französischer Seite das des Schriftstellers Paul Mac Orlan733. Während des Ersten Weltkrieges war er mobilisiert worden und hatte in Lothringen, Verdun und an der Somme gedient. Hier in Cléry-sur-Somme, vor den Türen seiner Heimatstadt Péronne, wurde er verwundet. Er brachte aus dem 731 Wir stützen uns hier auf Horne 2002 [801] und 2005 [802]. 732 Ebd., S. 77. 733 Beaupré 2006 [742].

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II. Fragen und Perspektiven

Krieg ein Buch mit Erinnerungen mit, die 1917 veröffentlicht wurden, und einen 1920 publizierten Roman, den er in der Folgezeit mehrmals überarbeitete. Der Krieg tauchte anschließend in einigen seiner späteren Werke wieder auf. Nach dem Waffenstillstand wurde Mac Orlan als Kriegskorrespondent ins Rheinland geschickt. Er veröffentlichte 1919 seine Artikel unmittelbar in einem Band unter dem Titel La Fin. Souvenirs d’un correspondant aux armées en Allemagne (Das Ende. Erinnerungen eines Armeekorrespondenten in Deutschland), ein Werk, das seine Geisteshaltung im Kontakt mit dem Gegner 1918 –1919 widerspiegelt und das eines der für Frankreich seltenen Zeugnisse darstellt, die in dieser Zeit veröffentlicht wurden. Zehn Jahre später, 1928, kam er mit einem Werk mit dem nüchternen Titel Rhénanie (Rheinland) auf diese Erfahrungen und auf die Region zurück, die er damals besucht hatte. In dem Werk von 1919 ließ Mac Orlan den gleichzeitig stereotypen wie hasserfüllten Darstellungen des Gegners freien Lauf. Zum Beispiel bezeichnet er die Stadt Mainz als die „Stadt der Ratten“ und sagt von deren Einwohnern, dass sie „Ratten ähneln, haarlosen Ratten“734. Ihm zufolge gab es zu diesem Zeitpunkt zwischen Deutschen und Franzosen ein „Niemandsland, das noch mysteriöser war als jenes, das wir vor der Brüstung des Schützengrabens erlebt haben“. Und wenn das Werk von 1919 einige Variationen über das Thema des Feindes enthält, die dazu führen, die Rheinländer nach und nach vom Rest der Deutschen und vor allem von den Preußen zu unterscheiden, dann deshalb, weil der Autor die These der französischen Propaganda übernimmt, die darauf zielt, aus den Rheinländern künftige Franzosen zu machen oder sie von Deutschland abzutrennen. Dies veranlasst ihn dazu, die angebliche Schnelligkeit der Mainzer, sich zu unterwerfen, zu begrüßen: „Man stelle sich eine französische Stadt in derselben Situation vor (das Beispiel ist einfach), und die Reaktionen wären absolut gegenteilig. So zu sein gereicht unserer Rasse zur Ehre, aber man kann es den Rheinländern nicht verübeln, dass sie uns anlächeln statt uns heimlich Steine nachzuwerfen.“

1928 zeichnete sich sein zweites Werk durch ein regelrechtes Vergessen des Gegners aus. Während er in seinem Buch aus dem Jahr 1919 die deutschen Gräueltaten erwähnt hatte, schreibt er in jenem von 1928, das deutsche Volk „besitzt instinktiv den Respekt vor dem Wert des Menschen“ oder auch, dass es „sanftmütig, schnell unglücklich“ sei. Wenngleich er sein vorausgegangenes Buch nicht erwähnt und sich daher nicht die Mühe macht, seine Meinungsänderung direkt zu erklären, tut er es doch auf indirekte Weise, indem er energisch betont: „Der Krieg mit seinen definitiven Prinzipien und den großen Gefühlen, die daraus hervorgehen, existiert so nur in den Geschichtsbüchern. In der Wirklichkeit ist es nicht so: Der Hass hält der direkten Beobachtung nicht stand.“ 734 Alle Passagen aus La Fin und Rhénanie sind zitiert nach Beaupré 2006 [742].

7. Unter der Ägide von Locarno

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Aber auf genau diese direkte Beobachtung hatte er sein ganzes vorangegangenes Werk gestützt; die direkte Beobachtung, die seinerzeit im Gegenteil die schlimmsten Klischees über den Feind bestätigt hatte. Mac Orlan möchte sich nicht daran erinnern, und der Krieg, der eine Abstraktion geworden ist, wird allein für das hasserfüllte Verhalten der Menschen verantwortlich gemacht. Gleichzeitig wird die Brutalität der Besatzer in den ersten Tagen der Okkupation ebenso vergessen wie der Widerstand der Deutschen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Kolonialtruppen sind „von perfekter Korrektheit“, kaufen „Bier und Limonade“ und „Blumen für die Frauen“. Mac Orlan erwähnt die Kampagne der „Schwarzen Schmach“ in keiner Weise, die 1920 ausbrach und in indirekter Weise auf die Besatzung antwortete. Indem er die schmerzhaften Erinnerungen wegwischt, schont er Franzosen und Deutsche. Das Beispiel der beiden Werke von Pierre Mac Orlan hinsichtlich des Rheinlands ist charakteristisch für die kulturelle Demobilisierung des Siegers und ihre Aporien. Wenn sich die Feindschaft auflöst, gründet sich diese Entwicklung auf das Vergessen, und hier vor allem das Vergessen darüber, dass man die aus den Kriegskulturen entstandenen, radikalen Vorstellungen vom Anderen geteilt hatte. Es ist jetzt der Krieg, der in abstrakter Weise die Verantwortung an dem trägt, woran der Feind vorher schuldig war. Und indem Mac Orlan die „deutschen Gräueltaten“, die er im ersten Buch mehrmals erwähnt, vergisst, vergisst er auch die Gegensätze der Gegenwart, da es nur die „Besatzung – in Vergangenheit und Gegenwart – (war, die) die kulturelle Demobilisierung erschwerte“735. In derselben Kategorie und zweifellos noch spektakulärer lässt sich der Fall von Jacques Rivière736 anführen, dem Direktor der NRF, der 1919 in seinem Buch L’Allemand, seinen Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft in Deutschland, keine Möglichkeit einer Einigung zwischen Franzosen und Deutschen sah und in den darauffolgenden Jahren einer der Propagandisten dieser Einigung wurde, oder der von Gaston Riou, einem überzeugten Anhänger der europäischen Idee, der aus deutscher Kriegsgefangenschaft ebenfalls ein Werk mitbrachte, das von heftigem Anti-Germanismus zeugt. Unter diesen Konversionen lässt sich auch die von Pierre Viénot anführen, dessen Fall dank der Biographie von Gaby Sonnabend gut bekannt ist. Bei Viénot kommt zu einer Veränderung der Einstellung noch die Anwendung neuer Praktiken und Instrumente hinzu, um in gewisser Weise den Geist von Locarno zu „verkörpern“. De facto drückte sich der Geist von Locarno nicht nur in einer Veränderung der Mentalitäten und bei den Darstellungen des Anderen aus, sondern beinhaltete auch aktivistische Praktiken, Engagement für die Erneuerung echter Beziehungen mit der anderen Rheinseite. Dies geschah auch mittels einer selektiven Erinnerung an den Ersten Welt-

735 Horne 2002 [801], S. 78. 736 Dagan 2008 [770].

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II. Fragen und Perspektiven

krieg. Wenn die Schrecken des Krieges angesprochen wurden, dann entweder in abstrakter Form oder um deren Symmetrie zu unterstreichen. Der Krieg wurde sicherlich als absolut fürchterlich eingeschätzt, aber er wurde zugleich zu einer Auseinandersetzung von Soldaten, die ihre Pflicht tun, reduziert. Man musste daher vermeiden, die Gräueltaten und die Gewalt der Besatzungen zu erwähnen, die von Natur aus asymmetrisch waren, weil sie in erster Linie Zivilisten trafen. Diese Form der „Amnesie“737, die die Unterschiede zwischen den Kriegserinnerungen der besetzten Gebiete und den nationalen Erinnerungen akzentuierte, schien für den Demobilisierungsdiskurs notwendig zu sein, machte aber Letzteren recht schwierig.

737 Horne 2002 [801], S. 78 und Schaepdrijver 2002 [846].

8. 1918–1932/33 als Epoche 8. 1918–1932/33 als Epoche

Im letzten Kapitel dieses Buches wollen wir noch einmal auf das zurückkommen, was die „deutsch-französische“ Kohärenz in dieser Epoche ausmacht – oder auch nicht. Es geht hier darum, die auf sie gerichteten Blicke zu hinterfragen, indem man die gewählte Perspektive dieser Reihe, aber auch den historiographischen Moment, in dem die Reihe lanciert wurde, berücksichtigt. Wir schlagen daher vor, zwei große Erklärungsmodelle zu untersuchen, die es ermöglichen, die Periode 1918–1932/33 als „Epoche“ entsprechend dieser zwei Kriterien zu verstehen. Es handelt sich darum, in reflexiver Weise die Relevanz nicht nur im Spiegel der Geschichte einer einzigen Nation, sondern von zweien zu prüfen, gleichzeitig in komparativer und verflochtener Weise. Andere analytische Rahmen, die zentral dafür waren, die Entwicklung der einen oder anderen der beiden Nationen zu verstehen, werden beiseite gelassen, wie zum Beispiel die Vorstellung einer „Krise der Moderne“738, die Detlev Peukert mit Bravour entwickelt hat, oder die Debatten um die politischen und wirtschaftlichen Ursachen für das Ende von Weimar739. Andere Richtungen hätten eingeschlagen werden können740, aber es mussten Entscheidungen getroffen werden, zum Teil bedingt durch die chronologische Vorgabe, die deutsch-französische Perspektive und den gewählten Ansatz. Die Entscheidung, eine deutsch-französische Geschichte in mehreren Bänden zu veröffentlichen, brachte einen chronologischen Einschnitt mit sich, der zusammen mit der deutsch-französischen Perspektive einen Rahmen und Verpflichtungen für den Autor vorgab. Im Fall einer nationalen Geschichte hat die chronologische Einteilung in von Übergangsdaten skandierten Epochen häufig den kanonischen Charakter angenommen, der, wenngleich er (sehr) häufig anfechtbar ist, dennoch (zu) selten angezweifelt wird. Zumeist resultiert diese Einteilung aus einer politischen Vorstellung der Geschichte (Aufeinanderfolge von Regierungen, große politische Brüche, Revolutionen, Kriege etc.), die vom positivistischen oder historistischen Geschichtsdenken des 19. Jahrhundert ererbt worden ist und in ihren Vorhaben eng mit der Bildung von Staatsnationen verbunden ist. Das Implizite und das Offensichtliche der chronologischen Einteilung resultieren häufig aus dem Erfolg einer Erinnerungs- und politischen Konstruk738 Peukert 1987 [217]. 739 Besonders um die Diskussion der Thesen von Knut Borchardt. Siehe v. a. das zusammengetragene Dossier von Winkler 1985 [733]. 740 Die vergleichende politische Geschichte erlebt eine gewisse Erneuerung. Z. B. Kittel/ Möller 2002 [511].

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II. Fragen und Perspektiven

tion der nationalen Vergangenheit. Dem schließt sich noch der Fehler an, der praktisch jeder Unterteilung inhärent ist: ihre teleologische Dimension. Der Historiker wird zu einer Urteilsinstanz, die im Nachhinein entscheidet, nicht nur wann eine Epoche beginnt, sondern auch, wann sie endet. Das Risiko dabei ist, eine Notwendigkeit zwischen dem gewählten Anfang und dem Ende anzunehmen, um implizit oder explizit, in Form eines Syllogismus, die gewählte Unterteilung zu rechtfertigen. Sei es aus Bequemlichkeit oder Konvention, es ist dennoch so, dass diese Einteilungen in historische Zeitstreifen trotz all ihrer Fehler Teil der Kunstgriffe und der Handschrift der Geschichte sind. Gleichwohl ist es notwendig, sie zu hinterfragen, wann immer man sie als Werkzeuge benutzt; desgleichen die Entstehung ihrer Konstruktion als Idee und die Debatten, die sie auslösen können. Im Rahmen einer Geschichte, die mehrere Länder umfasst, ist es häufig schwieriger, die Einheit der Epoche offenzulegen. Die im Allgemeinen angewandte Lösung ist die der Kriege, in denen sie sich gegenüberstehen, eine umso bequemere Lösung, wenn die Länder Nachbarn sind. Dennoch war es für diesen Band, im Gegensatz zu Band VII, nicht die Entscheidung des Verlegers oder der Herausgeber der Reihe. Auch wenn 1918 auf das Ende des Großen Krieges, der gleichzeitig ein Weltkrieg und ein deutsch-französischer Krieg war, verweist, erinnert die gesamte Periode 1918 –1932/33 unmittelbar an die Weimarer Republik, von ihren Anfängen bis zu ihrem Sturz von Papen zu Hitler. Diese Entscheidung zieht mehrere Faktoren nach sich, die es zu enthüllen gilt. Die erste Frage, die sich stellt, ist die der Relevanz dieser Auswahl für einen französischen Rahmen. Man darf nicht glauben, dass die Geschichte Frankreichs zwischen 1918 und 1932/33 einzig durch die Geschichte Deutschlands determiniert ist. Da allerdings der Krieg und der Versailler Vertrag mit seinem ganzen Gewicht auf der Geschichte der beiden Länder lastet, sind ihre Wechselbeziehungen in dieser Periode grundlegend, für sie selbst und für Europa. Wie Sylvain Schirmann schreibt, ist die europäische Ordnung, die aus dem Krieg hervorgeht, eine „prekäre (Ordnung), die vom deutsch-französischen Kräfteverhältnis abhängt“741. Diese „europäische Ordnung“ nach 1918, die weitgehend von der deutsch-französischen Frage bestimmt war, gibt letztlich auch eine gewisse Berechtigung, eine deutsch-französische Geschichte von 1918 bis 1933 zu schreiben. Und dies, auch wenn man anerkennen muss, was Jacques Bariéty schon 1977 über die Politik Stresemanns schrieb: „Es wäre in dieser Hinsicht gut, sich in Frankreich bestimmter Gewohnheiten von frankozentristischem Denken zu entledigen. Frankreich ist nicht der einzige Nachbar Deutschlands, und die bilateralen deutsch-französischen Probleme, die sicherlich existieren, sind jedoch nicht die einzigen, die Deutschland zu lösen hatte in dieser Nachkriegszeit. Die Überzeugung, aufgrund derer Stresemann eine Verhandlung mit Frankreich aufnimmt, lässt sich weniger mit der Sorge, alle Probleme strikt bilateral 741 Schirmann 2006 [471], S. 21.

8. 1918–1932/33 als Epoche

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zu lösen, erklären, als mit der, sich mit voller Energie an das Hauptproblem der Durchführung des Versailler Vertrags zu machen“742.

Wenn die Perspektive ihre Kohärenz für die internationalen Beziehungen besitzt, kann die gemeinsame Zielrichtung der Kräfte ebenfalls freigelegt werden. Die Remobilisierung der Gesellschaften während des Winters und des Frühjahrs 1918, der ohne Frage sehr unterschiedliche Kriegsausgang, die Auswirkungen der vom Krieg geerbten „trockenen Verluste“743, die Krisen, wirtschaftlich, sozial, politisch – vor allem jene des parlamentarischen Systems –, der Anstieg der extremistischen politischen Bewegungen, aber auch eine Friedenserwartung, das gemeinsame und verflochtene Aufkommen einer „europäischen Idee“ konnten ebenso Faktoren sein, die ab 1928 und auf Dauer die Erfahrungen der französischen und deutschen Bevölkerung in dieser Periode sich zusammenfügen ließen. Zudem veranlasst uns das Epochenbewusstsein der klarsichtigsten Zeitgenossen implizit, diese deutsch-französische Perspektive zu übernehmen, die nicht weniger stichhaltig ist als eine andere. Hatte Daniel Halévy, einer der scharfsinnigsten Geister seiner Zeit, nicht zu Beginn der dreißiger Jahre bemerkt: „1920: der Beginn der Nachkriegszeit; 1930: was werden wir darüber sagen? Es ist selten, dass ein Jahr uns sein Geheimnis ganz aus der Nähe verrät. Hier jedoch kein Zweifel: die Wende ist markiert. Juli 1930: wir räumen das Rheinland; September 1930: revolutionäre und nationalistische Wahlen in Deutschland: da ist ein Ende und ein Anfang. 1920 –1930: das ist eine Pause zwischen zwei Zeitaltern, um nicht zu sagen zwischen zwei Akten“744.

Der Beginn der 1930er Jahre markiert, wie Daniel Halévy richtig erkennt, eine neue Krisenperiode, die eine deutsch-französische Dimension besitzt, auch wenn diese nicht die einzige ist. Die Wirtschaftskrise ist eher weltumfassend, und ihre Auswirkungen machen sich im Inneren der beiden Gesellschaften bemerkbar, wo sie politische, soziale und kulturelle Formen annimmt. Auf diese Weise muss man auch die Wahl der Grenzmarkierung 1932/33 verstehen. Wenn sie auch nicht direkt den Ersten mit dem Zweiten Weltkrieg verbindet, beinhaltet diese Wahl implizit das Ende des Ersten Weltkriegs, die Auswirkungen der Krise von 1929 sowie den Anstieg der Extremisten und des Faschismus und des Nationalsozialismus im Besonderen. Sie regt daher im Gegenteil zum Vergleich an745. Der deutsch-französische Ansatz und die vergleichenden und transnationalen Ansätze im Allgemeinen – im Übrigen häufig erprobt im Rahmen der deutsch-französischen Nachbarschaft – ermöglichen es gerade, auch die Problematiken, die offensichtlich jedem nationalen Begriff des Vergleichs innewohnen, zu überdenken. Aber die Auswahl dieser Chro742 743 744 745

Bariéty 1977 [430], S. 216. Trevisan 2001 [401]. Daniel Halévy, zit. von Santamaria 2005 [537], S. 115. Zum Vergleich und den Debatten um die „faschistische Verführung“ in beiden Ländern s. der nächste Band der Reihe von Stefan Martens.

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II. Fragen und Perspektiven

nologie regt vor allem zu anderen, allgemeineren Fragestellungen an. Sie lädt vor allem dazu ein, sich zunächst zu fragen, in welcher Hinsicht und wie sich diese Periode in die historischen Erzählungen des 20. Jahrhunderts und vor allem des europäischen 20. Jahrhunderts einfügen. Wenn das 20. Jahrhundert, wie es einige Interpretationen darlegen, das Jahrhundert des langsamen Triumphs der Demokratie ist, stellen dann diese Jahre die ersten Vorzeichen dieses Triumphs dar, zumindest die ersten gescheiterten Versuche, die von den Krisen verhindert wurden? Wenn man im Gegenteil dieses Jahrhundert für das der Kriege und der Genozide, oder auch der „Extreme“746 hält, muss man dann diese 15 Jahre als andere Vorzeichen verstehen, diesmal der Zerstörung Europas, als ein Teil des Abdriftens des Kontinents in „die Finsternis“?747 Sollte man es vorziehen, ein erstes von einem zweiten 20. Jahrhundert zu unterscheiden, muss dann die Periode als ein fünfzehnjähriger Frieden im „dreißigjährigen Krieg“ angesehen werden, der für einige Autoren die Akzente eines „europäischen Bürgerkriegs“748 aufweist oder als ein Kontinuum, das den Übergang und dadurch die Kohärenz eines „Zeitalters des Krieges“749 von 1914 bis 1945 sicherstellt? Um dies zu tun, gehen wir von Periodisierungen und Fragen aus, die in den letzten Jahren diskutiert wurden, um zunächst deren Entstehung, dann ihre heuristische Relevanz zu hinterfragen. Und wenn es eine Frage gibt, die die Spezialisten für diesen Zeitabschnitt in den letzten Jahren bewegt hat, dann ist es die der Periode 1914–1945 als „dreißigjähriger Krieg“ und der Zwischenkriegszeit als Brücke zwischen den beiden Konflikten, die gemäß dieser Sichtweise als ein einziger „sehr großer Krieg“750 von 1914 –1945 wahrgenommen wurde. Anschließend prüfen wir eine Variante dieser Interpretation des 20. Jahrhunderts durch das Modell der „Brutalisierung“, das von George L. Mosse vorgeschlagen wurde und das in Frankreich wie in Deutschland Debatten ausgelöst hat. Dies ist auch die Gelegenheit, die historiographischen Debatten über dieselbe Periode in beiden Ländern zu verschränken und zu vergleichen.

8.1. Deutsch-französisches Verständnis der Zeit: Chronologie und Zeiterfahrung, zeitgenössische und aktuelle Einschätzungen der Epoche Im Februar 2004 startete der deutsche Spiegel eine Serie über den „Ersten Weltkrieg“ als „Urkatastrophe“ des Jahrhunderts – und übernahm damit einen 746 Hobsbawm 1999 [155]. 747 Mazower 2002 [159] und 2005 [160]. 748 Diese Idee wird häufig mit Ernst Nolte verknüpf (s. u.). Zum Ursprung und dem Umlauf der Idee: Traverso 2007 [163], S. 35–43. Siehe auch, zit. vom Vorstehenden, Diner 1999 [152], S. 21–25; Mazower 2005 [160], S. 21 ff. 749 Beaupré/Duménil/Ingrao 2004 [271]. 750 Becker/Winter/Krumeich/Becker/Audoin-Rouzeau 1994 [283].

8. 1918–1932/33 als Epoche

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Begriff des amerikanischen Historikers und Diplomaten George F. Kennan. Diese Serie hatte einen solchen Erfolg, dass sie zunächst in Form einer Spezialausgabe, dann als Buch erschien751. Niemals hatte der Erste Weltkrieg, seit den Polemiken um die Thesen von Fritz Fischer Anfang der sechziger Jahre, eine solche Resonanz in der deutschen Öffentlichkeit erlebt. Im Jahr des 90. Jahrestags des Kriegsbeginns erschienen im Übrigen zahlreiche Publikationen zu diesem Thema. Eine Enzyklopädie und eine erfolgreiche Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin752 vervollständigten das Bild. Die Spezialausgabe des Spiegels zeigte auf der Titelseite die beiden Porträts von Wilhelm II. und Hitler und übernahm somit implizit die Vorstellung vom „Sonderweg“, der von einem Reich zum anderen führte. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler beharrte nicht nur auf dem „Sonderweg“, sondern allgemeiner auch auf dem Übergang, diesmal auf europäischer Ebene, von einem Krieg zum anderen. Als wenn der getrennte Weg, mehr implizit als explizit, nicht spezifisch deutsch, sondern europäisch gewesen wäre. Um dies zu zeigen, wandte Wehler ausdrücklich das Konzept des „dreißigjährigen Krieges“ an753. Zehn Jahr zuvor, am 80. Jahrestag des Kriegsausbruchs, widmete, diesmal auf der anderen Rheinseite, wo das Interesse für diesen Konflikt trotz Höhen und Tiefen sehr viel konstanter als in Deutschland geblieben war, die Zeitung Le Monde ihre Sommerserie dem Krieg von 1914 –1918 unter dem Titel „Der sehr große Krieg“754. Die Eindringlichkeit durch das Adverb „sehr“ spielte dieselbe Rolle wie die Anführungszeichen, in denen der „Große Krieg“ des Spiegels stand. Sie enthielt die begründende, originale und ursprüngliche Matrix für das 20. Jahrhundert. Wenn die Herausgeber, wie Aribert Reimann schreibt755, zweifellos eine Rolle bei der Wahl von derlei Namensgebung gespielt haben, wird diese starke Idee doch von einer Vielzahl von Historikern und Analysten vorgebracht oder fortgeführt, sei es, um verteidigt zu werden, sei es, um kritisiert zu werden. Diese doppelte Idee: der Erste Weltkrieg als „Urkatastrophe“ und der Zeitabschnitt 1914–1945 als „dreißigjähriger Krieg“ hat ebenso ihre Geschichte, eine intellektuelle Geschichte, die einer Zirkulation der Idee in Zeit und Raum, in erster Linie zwischen Frankreich, Deutschland, den Vereinigten Staaten und Großbritannien756. Diese doppelte Idee hat demnach mehrere Geschichten, deren Fäden von der Gegenwart aus gezogen werden müssen. Hans-Ulrich Wehler zitierte in dem genannten Artikel und im ersten Kapitel seines Buches Prognosen von August Bebel, Helmuth von Moltke oder auch 751 752 753 754 755 756

Burgdorf/Wiegrefe 2004 [292]. Hirschfeld/Krumeich/Renz 2003 [335] und Rother 2004 [388]. Wehler 2004 [410]. Becker/Winter/Krumeich/Becker/Audoin-Rouzeau 1994 [283]. Reimann 2004 [385]. Man erinnert sich zum Beispiel an die internationale Debatte, die vom britischen Historiker Alan John Percival Taylor ausgelöst wurde, für den der Zweite Weltkrieg aufgrund des Ersten Weltkriegs unvermeidlich war. Vgl. Martel 1986 [211].

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II. Fragen und Perspektiven

Friedrich Engels, die an der Wende zu den 1890er Jahren alle voraussagten, dass der nächste Krieg entweder ebenso mörderisch oder ebenso lang wie der Dreißigjährige Krieg sein würde. Aber er zitierte zur Unterstützung dieser Idee auch General de Gaulle und Raymond Aron. Es war General de Gaulle, der 1941, mitten im Krieg, der Idee des dreißigjährigen Krieges eine spezifisch deutsch-französische Tönung gab: „Der Krieg gegen Deutschland hat 1914 begonnen. Tatsächlich hat der Vertrag von Versailles nichts beendet. Zwischen 1918 und 1936 gab es nur eine Einstellung der Waffenhandlungen, während derer der Feind seine Angriffskräfte erneuert hat. (…) Tatsächlich führt die Welt einen 30jährigen Krieg; für oder gegen die weltweite Herrschaft des Germanismus“757.

Man versteht, aufgrund welcher politischen Gründe de Gaulle diese Idee beförderte. Auf einer franko-französischen Ebene erlaubte sie es ihm, die schmerzhafte Besonderheit für die nationale Einheit, nämlich die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges mit der Besatzung, Vichy und der Kollaboration, durch die Fiktion der Verlängerung des Ersten Weltkriegs und seiner Union sacrée gegen den deutschen Feind zu beseitigen. Auf der Ebene der „Außenpolitik“ des Freien Frankreichs (France Libre) ermöglichte dies de Gaulle, aus dem laufenden Krieg einen vorrangig deutsch-französischen Krieg zu machen – was er tatsächlich nicht mehr war –, um seine Legitimität zu sichern, Frankreich gegenüber den Alliierten zu repräsentieren. Die Idee des dreißigjährigen Krieges hatte demnach eine doppelte politische Funktion für de Gaulle, deshalb hatte er sich ihrer bemächtigt und sich eher zu einem ihrer Urheber gemacht, als dass er sie tatsächlich erfunden hätte. Ein Aspekt dieser Vorstellung, nämlich die Konzeption eines Versailler Vertrages, der nichts geregelt hatte und Deutschland als Nährboden für einen Krieg zum Zweck seiner „Revision“ diente, war in der Zwischenkriegszeit weit verbreitet, und de Gaulle selbst hatte vor dem „Revisionismus“ und der deutschen Aufrüstung gewarnt. Andere hatten bereits in den Jahren von 1914 –1917/1918, nicht in denen von 1918 –1919, die Fermente einer neuen Epoche erkannt, die zum Krieg führen könnte, wie vor allem Elie Halévy, der 1937 ein klarsichtiges und stark pessimistisches Werk L’ère des tyrannies (Die Ära der Tyranneien) veröffentlichte, eine Ära, die er 1914 beginnen ließ758. Der Krieg war für ihn die Mutter des Kommunismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus als Ergebnis einer totalen Verstaatlichung und daher Vorbote künftiger Konflikte. Selbst der Ausdruck „dreißigjähriger Krieg“ war in Frankreich nicht neu. Wie Matthias Waechter unterstreicht, hatte der national rechts eingestellte Schriftsteller Henri Massis – ein Milieu, aus dem auch de Gaulle kam – 1940 ein Werk mit dem Titel La guerre de trente ans. Destin d’un âge 1909 –1939 (Der drei757 Zitiert nach Waechter 2002 [406], S. 52. 758 Halévy 1937 [52].

8. 1918–1932/33 als Epoche

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ßigjährige Krieg. Schicksal eines Zeitalters 1909 –1939) veröffentlicht. Henri Massis, ein Veteran, der sich seit 1919 gegen jegliche intellektuelle Annäherung mit Deutschland ausgesprochen hatte, verband hierin das Schicksal einer Jugend, die er 1913 im Zuge einer berühmten, unter dem Pseudonym Agathon erschienenen Studie untersucht hatte, mit der Erfahrung der beiden Kriege, als ob „die Zeit auf einmal einenge, zusammenziehe, als wenn 1939 auf einen Schlag 1918 eingeholt habe und alles, was dazwischen liegt, gestrichen sei“759. Er stellte sich damit jeglichem Pazifismus von links und allen Verständigungsbemühungen entgegen. Der Begriff „dreißigjähriger Krieg“ hatte demnach bei Massis auch einen hochideologischen Auftrag, indem er die Vorstellung einer dauerhaften Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland über die rein militärische Konfrontation hinaus glaubhaft erscheinen ließ. Diesen ideologischen Auftrag findet man auch auf der anderen Rheinseite, auch wenn die Richtung dieser Auseinandersetzung nicht mehr rein deutschfranzösisch ist, sondern die Bedeutung eines Kampfes Deutschlands gegen den Rest der Welt in der Kontinuität eines zwanghaften, aus dem Krieg entstandenen Gefühls angenommen hat, das der „Große(n) Zeit“760 Deutschlands, die 1914 begonnen hatte, aber weit davon entfernt war, mit der Niederlage von 1918 zu Ende gegangen zu sein. Diese Vorstellung von der Fortsetzung des Krieges nach dem Krieg, die vor allem bei den Nationalisten sehr präsent war, konnte sich also nach dem Beginn des zweiten Krieges zur Idee eines dreißigjährigen Krieges herauskristallisieren. In einer Vorlesung aus dem Jahr 1942 präsentierte der SS-Historiker Engel die Periode, die sich 1914 eröffnet hatte, als einen dritten dreißigjährigen Krieg nach dem von 1618 –1648 und dem durch die Revolutionskriege eröffneten Zyklus761. In seinem Sinne bezeichnete der Ausdruck nicht nur eine säkulare deutsch-französische Auseinandersetzung, auch wenn diese Dimension angesichts der von Engel angeführten historischen Beispiele enthalten war. Er diente besonders der Behauptung, 1918 habe kein Ende markiert, sowie dazu, den laufenden Krieg als einen „Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg“ zu rechtfertigen. Er stellte damit nicht nur eine Kontinuität zwischen den beiden Kriegen her, sondern reaktivierte sogar eine Einbildung, die sicherlich nazifiziert war, aber aus dem vorausgegangenen Krieg stammte – die der Einkreisung, der Furcht vor Vernichtung durch die zahlreichen und gegen Deutschland versammelten Feinde und die eschatologischen Erwartungen eines kommenden totalen Sieges. Die Kontinuität zwischen beiden Kriegen war hier nicht nur eine bewusste Konstruktion, sondern zweifellos auch das Ergebnis der ausgebliebenen Demobilisierung von Vorstellungen aus dem großen Krieg, der nahezu unerschöpfliche Ressourcen für die radikalen Ideologien zur Verfügung stellte. In intellektueller Hinsicht lief sie auf eine Umkehrung der Maxime von Clausewitz hinaus. Für die 759 Zitiert nach Waechter 2002 [406], S. 52. 760 Natter 1999 [825]. 761 Ingrao 2002 [504], S. 240–241.

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II. Fragen und Perspektiven

Nationalsozialisten war die Politik niemals etwas anderes gewesen und war nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Auf einer ersten Ebene sollte uns das Beispiel des SS-Offiziers Friedrich Engel, das de Gaulles oder Massis’ oder auch das Beispiel des Dichters Paul Claudel, der 1945 seine Gedichte und Texte aus den beiden Kriegen unter dem Titel Poèmes et paroles pendant le guerre de trente ans (Gedichte und Worte während des dreißigjährigen Krieges) zusammenstellte, gegenüber dem Begriff des „dreißigjährigen Krieges“ misstrauisch machen angesichts der Persönlichkeiten der Benutzer der Idee und des politischen und ideologischen Gebrauchs, der von diesem Ausdruck in sehr präzisen Kontexten gemacht wurde. Dennoch zeigt dieser Gebrauch auch, dass die Vorstellungen von einem Krieg nach dem Krieg, von der Fortsetzung einer deutsch-französischen Feindschaft über 1918 hinaus in bestimmten Milieus oder unter bestimmten Bedingungen nach 1918 existieren konnten, und dass die Idee des dreißigjährigen Krieges potentieller Teil der Erfahrung und der Perzeption der Zeit durch die Zeitgenossen sowie Teil der Vorstellung war, die sie sich von der Epoche machen konnten, die sie gerade erlebten. Auf einer dritten Ebene zeigen diese Beispiele, so verschieden sie sein mögen, dass die vielfältigen Kriegskulturen der Jahre 1914 –1918 und ihre Inflation von Vorstellungen auch nach 1918 weiterhin Ressourcen, Querverweise und Interpretationsrepertoires zur Verfügung stellen konnten. Vielleicht wäre die Idee des dreißigjährigen Krieges weniger in politischer und sozialer Hinsicht als in kultureller Hinsicht zu suchen, eben mit der Beibehaltung dieses Reservoirs an mobilisierbaren Referenzen, die aus dem Krieg hervorgegangen waren. Hier besteht zweifellos auch einer der großen Unterschiede zwischen den beiden Kriegsenden von 1918 und 1945. Aber man müsste hier systematisch diachronische und komparative Untersuchungen durchführen über die Art, wie sich diese Kriegsvorstellungen nach den Kriegen demobilisieren, um die Unterschiede beurteilen zu können. In jedem Fall zeigen diese Beispiele, dass „die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg mindestens ebenso prägnant in den Jahren 1920 –1930 gewesen ist wie die an den Zweiten es, aus sehr verschiedenen Gründen, nach 1945 gewesen ist“762. Die so stark diskutierte Verbindung zwischen den beiden Kriegen könnte damit in erster Linie kulturell und auf die Erinnerung bezogen sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg lösen sich zwei große Interpretationsschemata zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen und der Periode 1918 – 1933 im Besonderen ab, die selbst Thema zahlreicher Variationen gemäß kontextgebundener, politischer, aber auch historiographischer Kriterien sind. Das erste dieser Schemata neigt dazu, die Zeiträume 1914 –1918, 1918 –1933 und 1933 (oder 1939) bis 1945 abzutrennen. Die Eindringlichkeit ist eher auf die Außergewöhnlichkeit, ja die Absonderlichkeit des Krieges von 1939 bis 1945 gerichtet, der mit einem Genozid ohne Präzedenzfall einherging. In diesem Untersuchungs-

762 Becker/Rousso 2002 [279], S. 19.

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rahmen löscht der Zweite Weltkrieg in gewisser Weise die Erinnerung an den Ersten aus und verkörpert das „Matrizen-“ oder „Gründungsereignis“. Aber, wie Annette Becker und Henry Rousso schreiben, „die zeitgenössische Debatte über die Einzigartigkeit der Shoa ließ zum Beispiel häufig aus den Augen verlieren, bis zu welchem Punkt der Erste Weltkrieg häufig auch als ein Ereignis ohne in der Vergangenheit bekannten Vorläufer wahrgenommen wurde und, glaubte man, ohne mögliches Äquivalent in der Zukunft …“763. Der zweite Analyserahmen, der uns in höchstem Maße interessiert und der wie der erste zahlreiche Variationen enthält, verbindet im Gegenteil, aus sehr verschiedenen und manchmal entgegengesetzten Gründen, die beiden Kriege miteinander. Die kulturelle und auf die Erinnerung bezogene Dimension dieser Verbindung, aufgezeigt anhand einiger Beispiele, die aus zeitgenössischen Wahrnehmungen der Epoche stammen, ist schließlich nur die letzte Version dieses Analyseschemas. Gemäß Hans-Ulrich Wehler ist es Raymond Aron anzurechnen, dass er nach dem Krieg die erste „wissenschaftliche“ Version der Vorstellung von 1914 – 1918 als Urkatastrophe und der Periode 1914 –1945 als dreißigjähriger Krieg geschaffen hat764. Letzterer betitelte vor allem den ersten Teil seines Essays Les guerres en chaîne (Der permanente Krieg) von 1951 mit „Von Sarajevo nach Hiroshima“765. In der direkten Abstammung von Halévy, dessen Schriften er zur selben Zeit neu auflegte, als er sein Buch veröffentlichte, sah Aron, der während des Krieges ein Vertrauter de Gaulles gewesen war, im Großen Krieg ein Ereignis mit Gründungscharakter. Man muss sagen, dass seine Untersuchung nicht frei von Ideologie war. Der „dreißigjährige Krieg“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diente ihm auch auf bequeme Weise in einer klassisch liberalen Vision dazu, ein erstes 20. Jahrhundert, das jenes der nationalen Auseinandersetzungen gewesen war, einem zweiten gegenüberzustellen, jenes der ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges. Hinsichtlich der historischen Untersuchung erscheint seine Vision des dreißigjährigen Krieges jedenfalls als sehr nuanciert, denn er sagt nur, dass sie „nicht völlig falsch war“: „Wenn man sich die beiden Kriege als Elemente ein und desselben Ganzen vorstellen möchte, als Episoden ein und desselben Kampfes, bezieht man sich nicht auf das einzige ,ewige Deutschland‘, sondern auf diese tragische Verkettung von Ursachen und Folgen, auf diese Dynamik der Gewalt, die wir versucht haben zu analysieren. Alle ,monistischen‘ Theorien, die den Kapitalismus beschuldigen, sind kindisch. Sie sind, aus historischer Sicht, vergleichbar mit den Mythologien, die der Physik als Ersatz dienten, in der Zeit, als die Menschen unfähig waren, die Mechanik der Naturkräfte zu verstehen. Wenn man den Auswirkungen des ersten Krieges auf den inneren Zu763 Ebd., S. 17. 764 Die nachfolgenden Beispiele sind nicht erschöpfend. Traverso 2007 [163], S. 43 – 56 schlägt einige andere vor. 765 Aron 1951 [89] S. 11.

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II. Fragen und Perspektiven stand der Staaten, die Völkerpsychologie, den Zerfalls der Weltwirtschaft, auf Ereignisse wie die Machtübernahme durch die Bolschewiken oder die persönliche Gleichung der Tyrannen, auf zugleich festgelegte und zufällige Phänomene wie die außergewöhnliche Schärfe der Weltwirtschaftskrise 1929 folgt, dann schafft man es, der dreißigjährigen Geschichte zu folgen, der des permanenten Krieges“766.

Arons Verständnis des Zeitraums lässt also großen Raum für das Zufällige und weist die Idee eines „fatalen (…) Gleitens“767 von einem Krieg zum anderen zurück. Ihm zufolge braucht es dafür zudem eine fehlende Beherrschung dessen, was er die „Dynamik der Gewalt“768 oder „den hyperbolischen Krieg“ nennt, der von „entfesselten Leidenschaften“769 genährt wird, aber auch ein „nahezu unglaubliches Zusammentreffen von Dummheit und Pech“770. Arons Kontinuität schließt also die Kontingenz nicht aus. Noch interessanter ist, dass sie von vornherein auch jegliche Idee des Sonderwegs Deutschlands zurückweist, dem Land, wo diese Kontinuität am klarsten gewesen sei. Die These Arons gründet sich eher auf die Idee, dass auf kontinentaler Ebene die entfesselte Gewalt während des Krieges auch nach diesem nicht beherrscht werden konnte, und dass die zufälligen politischen oder wirtschaftlichen Ursachen die Situation noch zusätzlich verschlimmerten. Es ist interessant, hier festzustellen, dass Hans-Ulrich Wehler, der sich in der Einleitung und der Zusammenfassung seines Buches auf Aron bezieht, einer der Initiatoren der Idee des Sonderwegs war, die eben impliziert, das deutsche Terrain als dasjenige zu betrachten, wo die Kontinuität zwischen den beiden Kriegen die deutlichste ist, auch wenn das natürlich nicht der Kern der Idee des Sonderwegs ist, sondern eher eine Form von Ergebnis. Diese Kontinuität war vorher auch in den Interpretationen von Fritz Fischer entwickelt worden, die mindestens zehn Jahre nach der vorausschauenden Form der Zurückweisung der Sonderwegsthese durch Aron, im Gegensatz dazu auf deutscher politischer Ebene, imperialistische Kontinuitäten unterstreichen sollte. Wenn Fischer über den Ersten Weltkrieg und seine Ursachen arbeitete – den deutschen Imperialismus, um es kurz zu sagen –, dann tat er das mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus im Visier. Bethmann Hollweg stellte in gewisser Weise das fehlende Verbindungsglied zwischen Bismarck und Hitler dar. Fischer repräsentierte gewissermaßen die politische Seite einer Sonderwegsthese, die viel stärker auf den sozialen Faktoren insistierte, wie eine „Feudalisierung“ und eine betonte „Aristokratisierung“ des Bürgertums und seiner Werte nach dem Scheitern der Revolution von 1848 und dann die Erfolge Bismarcks in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts771.

766 767 768 769 770 771

Ebd., S. 108 –109. Ebd., S. 110. Ebd., S. 107. Ebd., S. 110. Ebd. Wehler 1973 [229].

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Doch die direkte Aron’sche Abstammung ist zunächst bei dem Historiker zu suchen, der gegen Ende der siebziger Jahre die Idee des Ersten Weltkriegs als „die große Urkatastrophe“772 des Jahrhunderts popularisierte, nämlich George F. Kennan. Noch vor seinem Decline of the Bismarck Order (Bismarcks europäisches System in der Auflösung) von 1979 hatte sich dieser mit der Frage in einer Vortragsreihe über die amerikanische Diplomatie beschäftigt, die von Raymond Aron 1952 auf Französisch veröffentlicht wurde, aber in der Originalsprache im selben Jahr wie Les guerres en chaîne (Der permanente Krieg, 1951)773. George F. Kennan entwickelt hier folgenden Gedanken: „Überlagert von den neueren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, ist der Erste Weltkrieg in vielerlei Hinsicht der vergessene Faktor. Dennoch führt jede Untersuchung über den Zustand der Welt dorthin. Jene über 1939 scheint zum großen Teil vorgegeben“774.

Er geht noch weiter als Aron, denn ihm zufolge beschränkt der Erste Weltkrieg die Möglichkeiten der Protagonisten und spielt eine die Gesellschaften zerstörende Rolle, indem er wegen der Intensität und Dauer des Konfliktes einen Bruch zwischen den Generationen hervorruft. Wenngleich er der Zufälligkeit weniger Raum lässt als sein französischer Freund und Kollege, nimmt er die Untersuchungen über die Mentalitäten und die Kriegskulturen vorweg und fügt in sehr moderner Weise an: „Je nach Feindseligkeiten verfestigte sich der Hass, man glaubte seiner eigenen Propaganda, die gemäßigten Menschen wurden ausgebuht und in Misskredit gebracht, und die Kriegsziele verhärteten und erweiterten sich auf beiden Seiten“775.

Historiographisch und politisch hat das Erklärungsmuster des Übergangs von einem Krieg zum nächsten bis in die jüngste Vergangenheit zahlreiche Abwandlungen erfahren. Obgleich sie sich politisch radikal gegenüberstehen, suchen die Interpretationen von Fritz Fischer und Ernst Nolte dennoch eine einheitliche Erklärung für die Zeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den Übergang von einem Krieg zum anderen. Der Erste gibt dem deutschen Sonderweg eine klare politische Dimension, indem er unterstreicht, wie die nationalistischen und imperialistischen Dynamiken, die dem Ersten Weltkrieg vorausgingen und dann von der Niederlage enttäuscht wurden, in gewisser Weise von den Nationalsozialisten verstärkt wurden776. Ernst Nolte wünschte ebenfalls, „die Epoche der Weltkriege in den Fokus zu rücken“. Für ihn begann diese Epoche jedoch nicht 1914, sondern 1917777. Was sie 772 773 774 775 776 777

Kennan 1979 [99], S. 3, im Original: „the great seminal catastrophe of this century“. Kennan 1952 [456]. Ebd., S. 83. Ebd., S. 91. U. a. eine Zusammenfassung der Diskussion: Jarausch 2003 [98]. Nolte 1987 [161].

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II. Fragen und Perspektiven

als „europäischen Bürgerkrieg“ auszeichnet, ist weniger ein deutsch-französischer Krieg als ein deutsch-sowjetischer, ja ein europäisch-sowjetischer. Indem er dem Jahr 1917 eine absolute Priorität einräumt, übersieht er, dass das, was er den Bolschewiken als ursprüngliche Radikalisierung der Gewalt zuschreibt (flächendeckende Deportationen und Massaker an Zivilisten, Misshandlungen von Gefangenen, Negierung des Individuums etc.), de facto bereits seit 1914 –1915 an den verschiedensten Fronten weitgehend präsent ist. François Furet hat sich ebenfalls mit dem Gewicht des Kommunismus in dem Jahrhundert befasst, doch er ging in dieser Frage nicht so weit wie Nolte. Für ihn blieb der Erste Weltkrieg in der direkten Linie von Aron und Kennan klassisch ein Ereignis „mit schwerwiegenden Folgen“, das praktisch unmöglich „von seinen Ursachen her“ gedacht werden kann778. Spiegelgleich zu diesen Interpretationen hat Eric Hobsbawm ein Erklärungsmodell des „Zeitalters der Extreme“ entwickelt, das ebenfalls in zwei Jahrhunderthälften unterteilt ist, die „Ära der Katastrophen“, die vom „Goldenen Zeitalter“ gefolgt wird779. Im ersten Kapitel untersucht er das Phänomen der Totalisierung, das von den beiden Kriegen hervorgebracht wurde. Allerdings gibt er diesem Rückgriff auf die klassischen Spaltungen einen anderen Sinn. Für ihn ist der Erste Weltkrieg ursprünglich in dem Sinn, dass er einen praktisch völligen Zusammenbruch der westlichen Zivilisation bedeutet, sowohl auf der Ebene der Werte wie auf wirtschaftlicher, politischer und kultureller Ebene. Er ist auch darin ursprünglich, dass er 1917 eine neue Großmacht hervorbringt, die Hobsbawm zufolge paradoxerweise die Demokratien rettet, bevor sie sich ihnen gegenüberstellt und die wesentliche Alternative anbietet. Somit steht hinter 1914 –1918 schließlich auch, wie bei Nolte, aber aus einem ganz anderen Grund, 1917. Mark Mazower hat in seinem Dark Continent (Der dunkle Kontinent) diese Sichtweise in Frage gestellt. Nach seiner Auffassung hat die Folgezeit des Ersten Weltkrieges drei große Wertsysteme einander gegenübergestellt, die Demokratie, den Kommunismus und den Faschismus. Er fügt an, dass sich „der Angriff des Kommunismus auf die Demokratie – so gewaltig er war – als indirekter und weniger bedrohlich erwiesen hat als die Herausforderung durch Hitler“780. Die deutsch-französische Perspektive, die uns hier betrifft, muss sich auf der Linie der Feststellungen von Mazower bewegen und die Gelegenheit nutzen, parallel die Konfrontation zweier Demokratien mit ihrem Hauptgegner zu untersuchen, nämlich – so verschieden und diskutiert die Frage auch sei781– dem Faschismus und/oder dem Nationalsozialismus, die zunächst als eine endogene Bedrohung für das aktuelle Regime wahrgenommen wurde, bevor sie es für die ganze Welt wurde. 778 779 780 781

Furet 1995 [153], S. 49. Hobsbawm 1999 [155]. Mazower 2002 [159], S. 12. Vgl. unten.

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Kommen wir auf Hans-Ulrich Wehler zurück, der uns anregt, die Fäden der verschiedenen Interpretationen zusammenzuführen, nämlich die der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „dreißigjährigen Krieg“ und jene, die den Krieg von 1914–1918 als Urkatastrophe sieht; letztere charakterisiert einzig für Deutschland den Krieg von 1914–1918 als „großen Transformator“ und Ursprung einer neuen „Konstellation“782. Das Werk Wehlers bewegt sich recht idealtypisch in einem deutschen historiographischen Kontext nach dem Historikerstreit. Die Diskussionen und Debatten um die – sehr politischen, kontroversen und schließlich unhaltbaren – Thesen von Nolte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre haben die Historiker dazu veranlasst, sich auf das zu konzentrieren, was die Originalität, ja die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Phänomens und des vom Genozid überschatteten Zweiten Weltkriegs ausmachte. Dies hatte im Gegenzug bisweilen den Effekt, die Geschichtsschreibung und die Untersuchungen zum Nationalsozialismus zu isolieren, die eine sehr hohe fachliche Qualität erreichten, aber gleichzeitig die Zeiträume vor der „Machtergreifung“ und der Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft abtrennten. Dies kommt zur Tendenz zur Abtrennung hinzu, die nicht nur national ist, sondern auch hinsichtlich untersuchter Zeiträume durch Spezialisten und verschiedenen Schulen, die immer noch nur wenig Kontakt untereinander haben: die von 1914 –1918, dann die von 1918 –1933, dann die von 1933 – 1945. Somit, um ein Beispiel zu nennen, stehen der Dialog zwischen den Geschichtsschreibungen über die beiden Kriege und die systematischen Vergleiche in Deutschland wie in Frankreich erst an ihren Anfängen783. Das Interessante an Wehlers Buch lag darin, durch die gewählte Periodisierung die Geschichte des Nationalsozialismus in ein Kontinuum einzufügen, in eine Jahrhunderterzählung, in ein gleichzeitig genetisches und erklärendes Vorhaben. Die Haltung des Sozialhistorikers, der zumeist auf Distanz zu seinem Untersuchungsobjekt geht, ermöglicht es ihm, zu beschreiben, inwiefern der Erste Weltkrieg Veränderungen mit sich gebracht hat784. Er verwandelt die Beziehung Europas zur Welt und der Welt zu Europa und verändert das Gleichgewicht der Kolonialreiche. Er drückt sich durch eine neue Beziehung zur Technik aus aufgrund der Technisierung der Kriegführung. Er drückt sich ebenso durch ein neues Verhältnis zum Krieg und zur Armee aus durch die Mobilisierung von Millionen Männern (13,5 Millionen Deutsche). Eine Mobilisierung, die auch die sozialen Beziehungen durch die Entstehung einer zweiten Front, der Heimatfront, verändert, die selbst eine neue Beziehung der Zivilisten zum Krieg mit sich brachte. Der Krieg verändert auch das Verhältnis der Gesellschaften zum Nationalismus und zum aggressiven Expansionismus durch die Zustimmung sehr gro782 Wehler 2003 [230], S. 3. 783 Siehe z. B.: Audoin-Rouzeau/Becker/Ingrao/Rousso 2002 [265], Beaupré/Duménil/ Ingrao 2004 [271], Thoss/Volkmann 2002 [164]. 784 Wehler 2004 [410].

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II. Fragen und Perspektiven

ßer Teile der Gesellschaft zu den Kriegszielen – Annexion, ethnische Vereinheitlichung ganzer Territorien etc. Der Erste Weltkrieg trägt im Fortschreiten auch zur Zerstörung des Glaubens bei, zur freien Wirtschaft und zur Entwicklung verschiedener Versionen von Vorstellungen einer gelenkten oder geplanten Wirtschaft. Der fünfte Vektor der Veränderung ist sozial: Indem er die Bevölkerungen mit der Gewalt, der Verarmung, der Hilflosigkeit, dem Hunger und einer – vor allem männlichen und Kinder betreffenden – erhöhten Sterblichkeit konfrontiert, begünstigt der Krieg die Spaltungen, die Spannungen, die sozialen und politischen Konflikte. Dadurch dass er Millionen von Individuen geistig mobilisiert, weckt er zumindest bei einigen von ihnen eine Leidenschaft für den Krieg oder zumindest eine Fähigkeit zur Gewalt oder eine größere Toleranz gegenüber der Brutalität. Dem fügt sich noch eine direkte Erfahrung mit der Gewalt und dem Gebrauch von Waffen an. Der letzte, aber nicht geringste Punkt ist schließlich das Auftauchen Hitlers als „erfolgreichster deutscher Berufspolitiker“ ab 1930785. Und es ist daran zu erinnern, dass sogar der ungeheure Antisemitismus Hitlers aus einer Verbindung zum Krieg herrührte, denn die Juden wurden, unter anderem, für die Niederlage von 1918 verantwortlich gemacht. Man kann beobachten, dass die Faktoren der Veränderung, die Wehler anführt, sich nicht immer nur auf Deutschland beziehen, auch wenn dieses sein bevorzugtes Untersuchungsobjekt darstellt. Ohne mit dem Modell des Sonderwegs zu brechen, regt das Gewicht, das er dem Krieg selbst als Transformator zuspricht, zum Vergleich an, und einige der Auswirkungen, die er beschreibt, können sich – in dem Rahmen, der uns hier betrifft – tatsächlich auf Frankreich anwenden lassen, wenn auch bisweilen in geringerem Ausmaß. Schließlich und vielleicht auch paradoxerweise trifft Hans-Ulrich Wehler hier mit den Historikern des Ersten Weltkriegs zusammen, die aus ihm eine „Matrix“ des Jahrhunderts oder ein „Laboratorium“ machen. Ohne es ausdrücklich zu sagen, verweist Wehler hier auf denjenigen, der zweifellos der Vorstellung vom Ersten Weltkrieg als Urkatastrophe am meisten Inhalt und Gestalt verliehen hat: George L. Mosse.

8.2.

Die „Brutalisierung“ der Gesellschaften in Frankreich und Deutschland und ihre Rezeption in der Geschichtsschreibung

George L. Mosse hat sich nicht damit begnügt, die durch den Krieg von 1914–1918 veränderten Elemente zu suchen, sondern versuchte, die Mechanismen des Übergangs vom Ersten Weltkrieg zur Nachkriegszeit zu enthüllen. Indem er „die genaue Gegenrichtung“786 zur These von der Verfeinerung der Sitten von Norbert Elias einschlägt, postuliert George L. Mosse im Gegenteil, dass die Gesell785 Ebd. 786 Audoin-Rouzeau, Einleitung zu Mosse 1999 [371], S. I–XVII.

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schaften im Anschluss an den Ersten Weltkrieg brutaler gemacht werden konnten. Er verschiebt somit die Perspektive von der Analyse der Auswirkungen des Krieges auf die Ebene der Mentalitäten und Kulturen. Vor ihm und den anderen Historikern der „Kriegskulturen“, die ihm auf die ein oder andere Weise nacheifern – um seine Thesen aufzunehmen oder sie zu kritisieren –, wurden die Kontinuitäten zwischen den beiden Konflikten eher auf politischer Ebene untersucht, wie bei Fritz Fischer, auf wirtschaftlicher Ebene wie bei Gerald D. Feldman oder auch auf sozialer Ebene wie bei Hans-Ulrich Wehler. Indem er ein transnationales Modell vorschlug, regte Mosse zudem implizit und explizit zum Vergleich an, über die so grundlegenden Unterschiede wie Sieg und Niederlage hinaus. Ob aufgegriffen oder angefochten, Mosse hat eine essentielle Rolle bei der kulturellen Wende hinsichtlich der Untersuchung des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit gespielt, wie er es bereits für die Untersuchung des Faschismus getan hat. Seit dem Erscheinen des Buches Fallen Soldiers (Gefallene Soldaten) bedeutet die Entwicklung von Vorstellungen zur Nachkriegszeit häufig, sich für oder gegen Mosse zu entscheiden. Deshalb ist es wichtig, im Rahmen einer deutsch-französischen Geschichte auf sein interpretatives Schema zurückzukommen, ebenso wie es aussagekräftig war, sich mit dem des „dreißigjährigen Krieges“ zu befassen, in den die „Brutalisierung“ in gewisser Weise eine zusätzliche Dimension einbringt. Diese „Brutalisierung“ zeigt sich seiner Meinung nach auf zwei Ebenen. Auf individueller Ebene hätten die ertragenen und ausgeübten Gewalttätigkeiten an der Front und die Erfahrungen direkte Auswirkungen auf die Individuen gezeitigt, indem sie die Toleranzschwelle für Gewalt abgesenkt und sie „verwildert“ hätten. In dieselbe Richtung gehend, haben jüngste Studien über den Fußball beispielsweise gezeigt, dass der Erste Weltkrieg eine grundlegende Rolle für die Entwicklung dieses Sports auf dem Kontinent gespielt hat. Der Stellungskrieg ließ in der Tat viel Zeit für die Ausübung von Sport, Freizeit, die in hohem Maße besonders dem Fußball zugute kam. Da sie mit der sportlichen Aktivität sozialisiert worden waren, setzten die Soldaten des Ersten Weltkriegs diese Aktivität in der Nachkriegszeit in Massen fort. Diese Zunahme ging in der Folge einher mit einem besonderen Phänomen, das der ersten Facette der Brutalisierung gemäß Mosse entsprechen konnte: „Die im Krieg erfolgte Vermischung sportlicher und soldatischer Verhaltensweisen wurde daher nur unvollständig rückgängig gemacht, und in den Fußballstadien war ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an Fouls und Ruppigkeiten zu beobachten. In der Öffentlichkeit wurde das als Folge einer Proletarisierung mißverstanden, die indes auch jetzt nur sehr zögerlich erfolgte“787.

George L. Mosse schrieb sogar die große Brutalität des deutschen politischen Lebens in der Weimarer Republik mit seinen politischen Morden, seinen 787 Eisenberg 2004 [705], S. 11; Eisenberg 1997 [704].

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II. Fragen und Perspektiven

Putschen und seinen Schlägereien um die Beherrschung der Straße dem direkten Einfluss der Kriegsgewalt zu. Es gibt laufende Forschungen, die die Auswirkungen des Krieges auf das Familienleben und vor allem die Beziehungen Männer – Frauen oder Vater – Kinder im Haushalt untersuchen, um zu ermessen, ob die eheliche oder häusliche Gewalt bei den von der Front zurückgekehrten Soldaten angestiegen ist788. In diesem Fall reichen die statistischen Angaben nicht aus, auch wenn diese wertvolle Richtzahlen liefern, die jedoch riskant zu interpretieren sind. Für Richard Bessel, der den deutschen Fall untersucht, liegt eines der Indizien für den Willen zur Rückkehr zu einem „normalen“ Leben in der bemerkenswerten Anzahl der Hochzeiten und Geburten nach dem Ersten Weltkrieg. Die Anzahl stieg von 352 543 Hochzeiten und 956 251 Geburten im Jahr 1918 auf 894 978 Hochzeiten und 1 611 420 Geburten 1920. In Frankreich ist die Entwicklung vergleichbar. Auch hier gibt es einen Aufholeffekt von durch den Krieg zurückgestellten Hochzeiten. Von etwas weniger als 180 000 Hochzeiten im Jahr 1918 gelangte man zu 500 000 1919 und 660 000 1920789. Doch in derselben Zeit wird dieses Phänomen auch von einem beachtlichen Anstieg der Scheidungsrate begleitet. In Deutschland war diese während des Krieges gesunken von 26,6 Scheidungen auf 100 000 Hochzeiten im Jahr 1913 auf ungefähr 16 : 100 000 während der ersten drei Kriegsjahre und war um 1917 und 1918 wieder leicht angestiegen, wobei sie niedriger als die Vorkriegsrate blieb. Ab dem Kriegsende wächst die Rate sehr stark. Von 35 : 100 000 1919 steigt sie auf fast 63 : 100 000 im Jahr 1921. Anschließend bleiben diese Raten bis 1925 oberhalb von 55 : 100 000. In absoluten Zahlen pro Jahr steigen die Scheidungen zwischen der Vor- und Nachkriegszeit auf mehr als das Doppelte an und entwickeln sich von einem Durchschnitt von 15 000 Scheidungen pro Jahr vor 1913 auf fast 40 000 im Jahr 1921. Die Zahlen bleiben anschließend auf mehr als dem doppelten Niveau der Vorkriegszeit stehen. 1924 ist die jährliche Anzahl der Hochzeiten unter das Vorkriegsniveau gefallen790. In Frankreich ist die Entwicklung auch hier vergleichbar. Die Scheidungsrate bleibt höher als vor dem Krieg (24 600 Scheidungen auf 381 000 Hochzeiten im Jahresdurchschnitt von 1921 bis 1925 und 22 300 Scheidungen auf 339 000 Hochzeiten im Jahresdurchschnitt von 1926 bis 1930)791. Aus diesen Zahlen kann man vielleicht herauslesen, das die „moralischen“ Konsequenzen des Krieges recht schwer auf dem Willen zur Rückkehr in ein normales Leben lasten. Es ist daher mehr denn je nötig, diese Zahlen mit qualitativen Studien zu konfrontieren, bevor man George L. Mosses Thesen zur Brutalisierung die Glaubwürdigkeit abspricht. Diese wenigen Beispiele lassen erkennen, 788 Dominique Fouchard schreibt gerade eine Doktorarbeit über Frankreich zu diesem Thema. Siehe auch die kritischen Bemerkungen von Ziemann 2000 [422], S. 82. 789 Halbwachs 1935 [51], Monier 1999 [248], S. 17. 790 Bessel 1993 [191], S. 228–232. 791 Monier 1999 [248], S. 17.

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dass das Männerbild und die Selbstwertschätzung als Mann nicht unversehrt vom Krieg geblieben sind792. Zudem hat George L. Mosse der Idee der Brutalisierung eine zweite Facette angefügt: die einer Verbreitung von gewalttätigen Darstellungen und Praktiken während und nach dem Krieg innerhalb des sozialen Gefüges der vom Krieg betroffenen europäischen Gesellschaften. Dieser zweite Teil der Definition der Brutalisierung ist mindestens ebenso wichtig wie der erste, wird aber häufig von den Kritikern an Mosses Modell vergessen, die ihre Kritiken auf den ersten Teil richten, der zweifellos der anfechtbarste ist trotz der Ungewissheiten, die es noch zu beseitigen gilt. Diese zweite Bedeutung der Brutalisierung als Verbreitung der Gewalt im sozialen Gefüge nach dem Ersten Weltkrieg ist weniger direkt und beinhaltet nicht, dass die Akteure notwendigerweise selbst direkt mit der Gewalt an der Front konfrontiert gewesen sein müssen. Sie gründet sich auch auf zwei von Mosse erkannten Phänomenen des Ersten Weltkriegs, die in transversaler Weise die verschiedenen Kriegserfahrungen begleiten und zunächst kurz-, dann mittelfristig das Absinken der Toleranzschwelle für die Gewalt und den Tod erklären können. Diese Phänomene sind die „Mythisierung“ und die „Trivialisierung“ oder „Banalisierung“. Die Erste verwandelte den Krieg in einen Mythos, der nicht viel mit der Wirklichkeit an der Front zu tun hatte. Seine Wurzeln reichten zurück an Erfahrungen und deren Erinnerungen, die dem Krieg vorausgegangen waren, und setzten sich ihm zufolge vor allem in Deutschland über den Krieg hinaus in bestimmten Kundgebungen zur Verehrung der toten Soldaten fort. Wie George L. Mosse schreibt, „erlaubte (die Verwandlung des Kriegs in einen Mythos,) die Schrecken des Konfliktes zu transzendieren und gleichzeitig die nationalistische Utopie zu hegen, die als Alternative zur Nachkriegsrealität vorgeschlagen wurde“793. Die Banalisierung ist „eine andere Art, den Mythos zu pflegen“. Sie erlaubt, „sich mit dem Krieg abzufinden, ohne sich zu begeistern oder ihn zu glorifizieren, indem man ihn in eine vertraute Welt integriert“. Ihr Ziel ist es, „das Niveau des Grauens auf ein gewöhnliches und akzeptables Maß zu senken“794. Die Kriegszeiten haben in der Tat eine Menge Alltagsobjekte hervorgebracht, die mit Kriegskitsch versehen sind und deren Zweck es eben genau ist, diese Rolle zu erfüllen. Wie man sieht, ist also bei Mosse die Fortsetzung des Kriegs nicht notwendigerweise das Ergebnis einer unmittelbaren Gewalterfahrung. Die Erzählungen, die Objekte, die Postkarten, der Sport, der Alpinismus etc., kurz alle direkten oder indirekten Darstellungsmittel des Krieges fungieren als „Ersatz“795 für die Fortsetzung des Krieges in Friedenszeiten, die eine größere Gewalttoleranz fördern. 792 793 794 795

Theweleit 1979 [548], Mosse 1999 [371] und Mosse 1999 [521]. Mosse 1999 [371], S. 123. Ebd., S. 145, 146. Ebd., S. 178.

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II. Fragen und Perspektiven

Daher ist das Modell von Mosse vielleicht nicht so „pauschal“796, wie es zunächst scheint, vor allem, wenn man nicht all seine Dimensionen aus den Augen verliert. Es hat dennoch eine Reihe von Kritikern gefunden, in Frankreich wie in Deutschland. Noch vor der französischen Veröffentlichung von Mosses Buch hatte Antoine Prost gezeigt, dass im französischen Fall die Veteranen in ihrer großen Mehrheit nicht „brutaler“ aus dem Krieg zurückgekommen sind, obwohl dies beispielsweise die Demonstrationen des 6. Februar 1934, die von der politisierten Veteranen-Vereinigung Croix de feux durchgeführt wurden, glauben lassen konnten. Der Pazifismus der Veteranen war weit verbreitet und wurde von großen Teilen, wenn nicht gar von der „Gesamtheit“ der französischen Gesellschaft geteilt797. In seiner Zusammenfassung zeigte Antoine Prost auch, dass die sozialistischen, republikanischen und katholischen politischen Milieus über – verschiedene – mentale und moralische Mittel verfügten, um die Wiedereinführung der Kriegsgewalt in Form von politischer Gewalt abzulehnen. Wie dem auch sei, für ihn mündete der Erste Weltkrieg in „den Pazifismus und die staatsbürgerliche Versöhnung“ und war auch nicht „der Hauptgrund für den Nationalsozialismus“. Er war „schrecklich genug, um ihn nicht mit unnötigen Konsequenzen zu beladen“798. Die Schlussfolgerung dieses Textes enthüllt die noch wichtigere Herausforderung, die Mosses These in Deutschland bedeuten konnte, wo die Frage nach den Ursprüngen des Nationalsozialismus für die Geschichtsschreibung zentral, ja richtiggehend existentiell ist. Wie wir bereits geschrieben haben, ist der deutsche Sonderweg vielleicht nicht so sehr der Weg, der zum Nationalsozialismus führt, sondern „derjenige, der ihm entstammt“ und der mit seinem ganzen Gewicht auf den Fragen liegt, die an die Geschichte gestellt werden799. Aus diesem Blickwinkel, oder zumindest mit dieser Frage im Hinterkopf, ist das Buch in Deutschland diskutiert worden. Auch wenn die Vorstellung einer „Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt“ und der „Herrschaft der Gewaltmenschen“800 von einigen in der Fortsetzung von Mosse vorangetrieben wurden, stellt sich eine gewisse Anzahl von deutschen Historikern auch gegen die Ergebnisse des Buches von Mosse im speziellen Fall von Deutschland und nicht nur in dem der anderen Länder. Die Kritiken konzentrieren sich jedoch eher auf den ersten Teil von Mosses Theorie, nämlich dass die Kriegserfahrung und im Besonderen die der zugefügten Gewalt die Soldaten bei ihrer Rückkehr brutaler gemacht habe. Für manche Historiker sind die politischen Herkunftsmilieus der Veteranen mindestens genauso prägend, wenn nicht prägender, um die Brutalisierung der Veteranen zu erklären. Patrick Krassnitzer zeigt, dass die ehemaligen nationalsozialistischen Soldaten einen Diskurs über die Ursprünge entwickelten, in dem der Erste Weltkrieg eine Gründungsrolle spielte. Aber seiner Meinung nach trifft für den national796 797 798 799 800

Krassnitzer 2002 [346] und bei Ziemann 2003 [425], S. 166. Prost 1994 [529], S. 210. Ebd., S. 217. Beaupré/Majerus 2004 [272], S. 450. Berghahn 2002 [148], hier S. 13.

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sozialistischen Veteranen Folgendes zu: „Nicht sein eigenes Fronterlebnis, sondern die Tradierung der Frontkameradschaft innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung erscheint in seiner autobiographischen Erinnerung als entscheidend prägendes Gemeinschaftserlebnis (…)“801. Benjamin Ziemann, der sich zuvor mit den Veteranen des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold beschäftigt hatte, das den Sozialdemokraten nahestand, hat gezeigt, dass die Kriegserfahrung im Gegenteil die Verständigung und die Aussöhnung zwischen ehemaligen Feinden motivieren und unterstützen konnte. Er erkannte jedoch an, dass es dieser Vereinigung niemals gelang, ihren Diskurs über den Krieg durchzusetzen802. Für andere war die „Brutalisierung“ vor allem im Osten des Kontinents wirksam, und nicht in den westlichen Ländern803. Die Kriegserfahrungen hätten ein zerstörerisches Gewaltpotential entfesselt, das zutiefst in den politischen, aber vor allem in den älteren interethnischen Konflikten verwurzelt gewesen sei. Mosses Modell hänge demnach in hohem Maße von nationalen oder regionalen Faktoren ab. Hier treffen die aus Deutschland stammenden Kritiken mit den von Antoine Prost formulierten zusammen804. Somit habe die wachsende politische Gewalt in Deutschland in der Zwischenkriegszeit andere Gründe als die Kriegserfahrung selbst. Dies hat Dirk Schumann in den Vordergrund gestellt, für den diese Konflikte in der Gegenwart verankerte politische Konflikte zur Eroberung des politischen Raums und vor allem der Straße sind805. Für ihn finden die Gründungsereignisse – vor allem die Revolution und der Kapp-Putsch – ebenso wie die politischen Bruchlinien, die zur Gewalt führen, ihre Quellen in den Konflikten der Nachkriegszeit, und nicht in einer Lehre während des Krieges, die hinterher angewendet wird. Dennoch ist der Stahlhelm – ein zentraler Akteur in diesem „Kampf um die Straße“ – eine Vereinigung von Veteranen, die auch für eine Erinnerung an den Krieg kämpft gegen andere politisch strukturierte Erinnerungen wie die der Kommunisten oder der Sozialisten. Sicherlich sind dies Diskurse, die die direkte Kriegserfahrung vermitteln und dann in gewisser Weise ersetzen und an sich zu Herausforderungen der Kämpfe werden, aber sie sind jedenfalls ohne den Krieg, die Niederlage und den Versailler Vertrag undenkbar. Somit gelten alle diese sehr zulässigen Argumente nicht ausschließlich für das Modell von Mosse. Gewiss kritisieren sie, was am schwersten zu beweisen ist: den direkten Einfluss eines gewalttätigen Verhaltens im Krieg auf die Verhaltensweisen nach dem Krieg. Es geht hier nicht darum, von Mosse aus in die „modischen Verallgemeinerungen“ zu fallen806, sondern ihm dennoch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen hinsichtlich der Fragen, die er stellt und die er vorschlägt. 801 802 803 804 805 806

Krassnitzer 2002 [346], S. 148. Siehe auch Ziemann in: Schneider 1999 [396]. Ziemann 1998 [553], S. 357–398. JMEH 2003 [342]. Ziemann 2000 [425]. Schumann 2001 [538]. Ziemann 2000 [425], S. 82

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II. Fragen und Perspektiven

Bei Mosse lässt sich die „Brutalisierung“ in der Tat in einem viel weiteren Sinn verstehen und beschränkt sich nicht auf die Einführung einer an der Front erlernten Gewalt der Soldaten in die Nachkriegsgesellschaften. Die Kriegserfahrungen müssen sich im Plural verstehen und dürfen sich nicht auf die an der Front beschränken. Die deutschen Frauen und Kinder, die die Lebensmittelblockade erleiden müssen und gleichzeitig für den Krieg sozialisiert und mobilisiert werden, erleben auch Kriegserfahrungen. Wie man es sich für die Soldaten fragt, müsste man sich auch hier die Frage stellen, inwiefern diese Erfahrungen und Sozialisierungen Auswirkungen auf die Nachkriegszeit besitzen. Zudem wurde während des Ersten Weltkriegs eine Steigerung der Jugendkriminalität beobachtet, und mancher fragt sich, ob die Zerstörung des Familienlebens und die – provisorische oder definitive – Abwesenheit der Väter nicht indirekt eine Prädisposition für das Absinken der Toleranzschwelle für Gewalt begünstigt hat807. Außerdem gehört die extreme Militarisierung der Jugend in den Nachkriegsjahren, auch wenn sie ein komplexes Phänomen darstellt, zur Erinnerung an den Krieg und die Niederlage808. So wie man die Auswirkungen des Krieges nach Nationen differenziert, müsste man dies auch gemäß den Regionen tun. Die Bevölkerungsteile der französischen Departements im Norden und im Osten haben ebenfalls singuläre Kriegserfahrungen erlebt, was aus ihnen in der Zwischenkriegszeit die „Vergessenen des Ersten Weltkriegs“ machte. Ebenso verhält es sich mit der Bevölkerung der besetzten Gebiete in Deutschland. Wie immer man schließlich über die Thesen von George L. Mosse denken mag, im Augenblick haben sie die Forschungen befruchtet, und das Dossier, das sie geöffnet haben, verdient es nicht, bereits geschlossen zu werden. Wenngleich empirische Studien bisweilen die Idee eines direkten Übergangs von der Gewalt der Front zur Nachkriegsgewalt und/oder zum Nationalsozialismus gefährden, so genügen sie nicht, um die Vorstellung einer im weitesten Sinne verstandenen „Brutalisierung“ zu entkräften. Die Bedeutung des Krieges für die Mentalitäten, die mentalen Werkzeuge der Nachkriegszeit im Allgemeinen und das „Stigma der Gewalt“809 im Besonderen, in Zusammenhang mit sozialen und regionalen Kriterien, mit Gattungen und Generationen, haben nicht aufgehört, uns Fragen zu stellen. Es ist ebenfalls nötig, die Erfahrungen hinter der Front zu berücksichtigen, deren Bedeutung für die Nachkriegszeit Belinda Davis unterstrich: „Die Gräuel des Regimes, das Weimar folgte (…), müssen in Relation zur Gewalterfahrung an der Heimatfront gesehen werden ebenso wie zu der, gleichwohl sehr unterschiedlichen, an der Kriegsfront“810. Unter diesem Blickwinkel kann die Tatsache, dass nicht Veteranen das Gros der nationalistischen und nationalsozialistischen Aktivisten bilden, sondern jun807 Liepmann 1930 [63]. Siehe die Meinung zu dieser Studie von: Chickering 2002 [298], S. 148 –154 und Majerus 2004 [364]. 808 Rusinek 2002 [534]. 809 Geyer 1995 [322]. 810 Davis 2000 [304], S. 243.

8. 1918–1932/33 als Epoche

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ge Leute, die den Krieg an der Heimatfront erlebt haben, nicht gegen die Thesen von Mosse angeführt werden, wie dies bisweilen der Fall ist811. Diese haben ebenfalls Formen von Kriegserfahrung erlebt und wurden eben durch die „Mystifizierung“ und die „Banalisierung“ sozialisiert. In seiner Untersuchung einer Gruppe von Intellektuellen der SS konnte Christian Ingrao zeigen, inwiefern die Ausarbeitung einer Kriegserinnerung um ihre individuellen Erfahrungen herum eine zentrale Rolle für die Konstruktion ihrer Anhängerschaft an den Nationalsozialismus spielen konnte812. Wenn Historiker heute auf die These von Mosse zurückgreifen, tun sie dies nicht ohne Kritik hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit und der Fragen, die sie den aus dem Krieg hervorgegangenen europäischen Gesellschaften stellt. Diese Fragen sind bei weitem nicht alle beantwortet worden, ebenso wenig wie die große Frage, die sich schließlich allen Historikern der Zwischenkriegszeit stellt, und die auch George L. Mosse umtrieb: „Was sind die Auswirkungen des massiven Sterbens während des Ersten Weltkriegs?“813

811 Eine Meinung, die man häufig findet, z. B. bei Reichardt 2002 [530], S. 374 ff. oder bei Krassnitzer 2002 [346], S. 148. 812 Ingrao 2002 [504]. 813 Mosse 1999 [371], S. XII.

Zusammenfassung

Zusammenfassung

Am Ende dieses Buches angelangt, bietet es sich viel eher an, bei der angewendeten Vorgehensweise und ihren Ergebnisse zu verweilen, als in allgemeiner Weise zu resümieren. Wie Michael Werner und Bénédicte Zimmermann814 ausgeführt haben, ist eine der Dimensionen der verflochtenen Geschichte (Histoire croisée), und sogar jeglicher vergleichender Geschichte, die diesen Namen verdient, die reflexive Dimension. Während ihr nachgegangen wird, muss die vergleichende oder verflochtene Vorgehensweise hinterfragt werden. Hierin brechen die Untersuchungsperspektiven mit den nationalen Geschichten, die häufig wie Selbstverständlichkeiten abgewickelt werden. Wir haben jedoch gesehen, dass eine eindeutige Chronologie wie im deutschen Fall 1918–1932/33 dies nicht mehr notwendigerweise ist oder andere Fragen stellt, wenn sie als Rahmen für eine deutschfranzösische Erzählung dient. Denn eine deutsch-französische Geschichte kann sich nicht darauf beschränken, die Kontaktstellen, die Transfers, die Verflechtungen zwischen beiden Ländern zu einer bestimmten Zeit zu untersuchen, selbst wenn diese wohlgemerkt essentiell bleiben. Die gewählte deutsch-französische Perspektive verändert auch den Blick auf jede der beiden Nationalgeschichten. Dies ist es, was wir durch dieses Werk zeigen wollten, das versucht hat, zugleich die verglichenen oder vergleichenden Geschichten darzulegen, die Untersuchung der kulturellen oder anderer Transfers, die Analyse der Interaktionen, die transnationale Geschichte, die „geteilte“ oder „verbundene“ Geschichte und schließlich die Histoire croisée als Projekt, das die Gesamtheit dieser Vorgehensweisen einschließt. Während der erste Teil einen Versuch der Geschichtsschreibung der beiden Länder und ihrer Beziehungen auf verschiedenen Ebenen darstellt – ein Versuch, die verschiedenen Vorgehensweisen aufzuzeigen –, haben die folgenden Kapitel uns die Möglichkeit gegeben, zunächst jede der Vorgehensweisen in ihrer Einzigartigkeit auszuprobieren, hoffentlich jedoch ohne in Systematismus zu verfallen. Das Kapitel, das den Kriegsausgang in beiden Ländern durch die den Individuen und der Gesellschaft zugefügten Verletzungen untersucht, war eher komparativ angelegt. Jenes über die Besatzungen versuchte, mithilfe einer eher verflochtenen Vorgehensweise die Sichtweisen der Besatzer und der Besetzten in Bezug zu setzen. Das Kapitel, das dem Geist von Locarno gewidmet ist, reiht sich in die Untersuchungen der kulturellen und intellektuellen Transfers ein.

814 Werner/Zimmermann 2004 [186].

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Die gewählte Perspektive hat also, trotz einer „deutschen“ Chronologie, die auch implizit die Fragestellungen hätte beeinflussen können, den Blick verlagert und uns dazu veranlasst, andere Fragen für diesen Zeitraum zu stellen. Es ist diese Perspektive, die schließlich das Vermächtnis des Ersten Weltkrieges in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt hat, den Leitfaden dieses Werkes. Die deutschfranzösische Geschichte in diesem Zeitraum erschien in der Tat als eine zutiefst und je nach Fall mehr oder weniger dauerhaft von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, nicht nur von der Fronterfahrung, geprägte Geschichte. Diese Erfahrungen werden durch die individuellen und kollektiven Erinnerungen vermittelt und verwandelt. Aber die Energie, die freiwillig oder unfreiwillig von den Individuen oder den Gesellschaften in die Aufbereitung dieser Erfahrungen gesteckt wurde, zeigt ihre Bedeutung. Dieser Aspekt erscheint weniger deutlich in einer nationalen Perspektive, wo der Historiker Position beziehen muss gegenüber den Fragestellungen seiner Kollegen und Vorgänger. Um das Beispiel Deutschlands aufzugreifen – man könnte auch das Beispiel Frankreichs nehmen –, führen die Debatten um den Sonderweg, die „Moderne“ und ihre „Krise“, die Konsequenzen der Krise von 1929, das Ende der Republik, der Anstieg des Antisemitismus und des Nationalsozialismus und die Einzigartigkeit des Letzteren schließlich dazu, andere Fragen in den Hintergrund zu drängen, die im Gegensatz dann auftauchen, wenn man den Blick vom Zentrum wegbewegt. Der Krieg, die Niederlage und Versailles hören damit auf, nur rhetorische Hebel zu sein, die von geschickten Politikern genutzt werden, um an ihre Ziele zu gelangen; sie sind nunmehr auf die erlebten Erfahrungen gerichtet, die anschließend, und nur anschließend instrumentalisiert und wie Verletzungen behandelt werden. Die deutsch-französische Analyse konnte durch den Vergleich zeigen, dass die Niederlage und Versailles und ihre Instrumentalisierungen jeglicher Art insgesamt dazu beigetragen haben, die Kriegswunden offen und infiziert zu lassen, die sich in Frankreich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre mehr schlecht als recht vernarbten. Vor dieser Wende, wir haben es gesehen, waren die Wunden in Frankreich ebenfalls offen, und die aus dem Krieg resultierende Feindschaft gegenüber Deutschland war noch stark und übermächtig, zumindest bis zur Ruhrepisode. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern von 1918 bis 1933, sei es in den Krisenzeiten oder in ihrer Phase der Verständigung, die sich Locarno anschloss, können nur im Rahmen einer Erbschaft des Ersten Weltkriegs verstanden werden. Auch wenn sie nur eine ganz kleine Anzahl von Individuen betreffen, zeigen die deutsch-französischen Annäherungen, die in dieser Epoche initiiert wurden, indirekt auch, dass das Erbe des Ersten Weltkriegs, so schwer es auch wiegen mochte, nicht notwendigerweise ein Schicksal war. Es neu zu bewerten, wie wir es für die beiden Länder in diesem Werk getan haben, führt uns jedoch nicht dazu, in ihm eine einzige Ursache zu sehen, einen symbolischen Anfang, den Beginn einer notwendigen Entwicklung hin zum Abgrund des Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg. Aber nur indem man sich direkt mit diesem Erbe kon-

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frontiert, kann sein rechter Platz bemessen werden, und zwar gleichzeitig als Erfahrung und als vom Krieg oder von politischer Rhetorik endlos neu erfundene oder gefilterte Erzählung. Diese Perspektive hat uns veranlasst, den Analysemaßstab zu verändern und zu variieren, und sie zeigt uns, dass ein Land sich auch durch seine Randgebiete und Grenzen definiert, und nicht nur durch sein politisches oder geographisches Zentrum. Während der untersuchten Periode spielen die deutsch-französischen Grenzregionen trotz ihrer Randlage eine zentrale Rolle. Gleichzeitig öffnet die gewählte Perspektive im Nachhinein den Blick der Regionalhistoriker, der zu stark auf ihre Region und ihren Analysemaßstab ausgerichtet ist, im besten Falle sogar für die Interaktion zwischen dem Zentrum und der Peripherie. In der Zeit, die uns beschäftigt, werden die Randgebiete (Elsass, Lothringen, ehemalige überfallene Departements, die wieder aufgebaut werden müssen, das besetzte Rheinland und das besetzte Ruhrgebiet, das Saargebiet unter Mandat und selbst Oberschlesien während der französischen „Besatzung“) nicht nur in einer Dialektik Zentrum/Peripherie mit Berlin und Paris gesehen; sie spielen vielmehr eine zentrale Rolle, zugleich auf symbolischer Ebene in den Selbst- und Fremdrepräsentationen und in der öffentlichen Politik der beiden Länder. Zumal diese Regionen, die von Millionen Männern und Frauen bewohnt werden, häufig die direkte Erfahrung der Konfrontation mit dem „Anderen“ gesammelt haben. Diese Begegnung und deren Interpretation ordnet sich auch in einen Zeitabschnitt ein, der stricto sensu die Periode 1918 –1933 hinter sich lässt und dessen Wurzeln in der Erinnerung an den letzten Krieg und sogar in den älteren Erinnerungen an vorausgegangene Konflikte liegen. Die deutsch-französische Perspektive hat somit den Blickwinkel grundlegend verlagert. Dies ist zweifellos sowohl ihr hauptsächlicher Fehler als auch ihre hauptsächliche Qualität. Sie stellt mehr Fragen, als sie Antworten anbietet. Aber wir glauben, dass die Fragen, die sie stellt, in den richtigen Begriffen gestellt werden. Um nur ein Beispiel anzuführen: Sogar die in Frankreich wie in Deutschland – aus unterschiedlichen Gründen und ohne echten historiographischen Dialog – verschriene These der „Brutalisierung“ findet sich, wie wir gesehen haben, eher auf andere Weise erholt als für ungültig erklärt. Dieses Buch ist daher eher eine Einladung als eine Bilanz. Eine Einladung, die Geschichten in einen Dialog eintreten zu lassen, zu vergleichen, zu verflechten, miteinander zu verbinden und auch, im Grunde genommen, andere Fragen in die deutsche und französische Geschichtsschreibung einzubringen. Bleibt noch anzumerken, dass es auch deshalb möglich war, dieses Werk zu schreiben, weil die Historiker Deutschlands und Frankreichs, die deutschen Romanisten und die französischen Germanisten und viele andere Forscher in den Human- und Sozialwissenschaften der beiden Länder es verstanden haben, methodische Tüftler zu sein, Handwerker, auf die Marc Bloch seine Hoffnungen gesetzt hatte. Sie haben sich an die „Werkbank“ der Geschichte gesetzt und waren die Pioniere der Öffnung der Nationalgeschichten. Ihnen allen ist dieses Werk gewidmet.

Deutsch-französische Chronologie 1918–1933

Deutsch-französische Chronologie 1918–1933

1918 Januar

„14 Punkte“ Wilsons. Deutsche Bombardierung von Paris. Umfangreiche Streikbewegungen in Deutschland. 1918 März Vertrag von Brest-Litowsk und Michael-Offensive an der Westfront. 1918 April Dada-Manifest in Berlin. 1918 8. August „Schwarzer Tag des deutschen Heeres“. Definitives Scheitern der großen Frühjahrsoffensive. 1918 9.–11. November Abdankung des Kaisers, zweifache Ausrufung der Republik in Berlin, Waffenstillstand. 1918 13. November Gründung des „Stahlhelms“ in Magdeburg. 1918 November Einmarsch französischer Truppen im Elsass und Mosel-Gebiet, im Saarland und Rheinland. Erste Vertreibungen aus dem Elsass. 1918 10.–11. Dezember Empfangszeremonie für die deutschen Truppen in Berlin. Rede F. Eberts. 1918 31. Dezember Gründung der KPD. 1919 Januar Eröffnung der Friedensverhandlungen in Paris, Spartakusaufstand in Berlin (Ermordung K. Liebknechts und R. Luxemburgs). Wahl zur Nationalversammlung (SPD 38 %). 1919 11. Februar F. Ebert zum Reichspräsidenten gewählt. 1919 März Weigerung K. Adenauers, die rheinischen Separatisten zu unterstützen. Unruhen im ganzen Land bis Mai. A. Millerand übernimmt sein Amt als „Generalkommissar von Elsass-Lothringen“. Aufhebung der Blockade gegen Deutschland. 1919 April Gesetz über den Wiederaufbau in Frankreich, genannt „Charta der Geschädigten“. 1919 1. Juni Separatistische Erhebung im Rheinland. 1919 28. Juni Unterzeichnung des Versailler Vertrages. 1919 14. Juli Siegesfeier in Paris und Frankreich. 1919 August Erster polnischer Aufstand in Oberschlesien. 1919 8.–10. Oktober Antifranzösische Revolte (Minenarbeiter und Eisenbahner) im Saarland niedergeschlagen (8 Tote); Belagerungszustand. 1919 November Parlamentswahlen in Frankreich. Sieg des Nationalen Blocks: Kammer Bleue Horizon 1920 Januar Inkrafttreten des Versailler Vertrags. Eröffnung des Dada-Buchladens Au Sans Pareil in Paris. 1920 Februar Veröffentlichung des Gründungsprogramms der NSDAP. Ankunft der interalliierten Truppen in Oberschlesien. 1920 März Kapp-Putsch und Beginn des „Ruhrkampfes“. 1920 April Besetzung Frankfurts, Dieburgs, Hanaus, Homburgs und Darmstadts als Sanktionsmaßnahme. Verschärfung der rassistischen Kampagne der „Schwarzen Schmach“ gegen die Gegenwart der französischen Kolonialtruppen in Deutschland.

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Deutsch-französische Chronologie 1918 –1933

1920 Juni 1920 August 1920 Dezember 1921 Januar 1921 März

1921 Februar – Mai 1921 Mai 1921 20. Oktober 1921 2. November 1922 Januar 1922 16. April 1922 Mai – Juni 1922 24. Juni 1922 12. Juli 1922 Dezember 1923 1923 Januar 1923 26. Mai 1923 August 1923 September

1923 Oktober

1923 8.–9. November 1924 1924 Januar 1924 April

1924 Mai 1924 Juli – August 1924 Oktober 1924 November

Reichstagswahlen in Deutschland. Die „republikanischen“ Parteien erreichen weniger als 50 %. Zweiter polnischer Aufstand in Oberschlesien. Kongress von Tours: Spaltung des französischen Sozialismus. Beginn des Kommunismus in Frankreich. Pariser Konferenz über die Reparationsleistungen, die auf 269 Milliarden Goldmark festgelegt werden. Besetzung von Düsseldorf, Ruhrort und Duisburg durch die Franzosen, um Druck auf die laufenden Verhandlungen in London auszuüben. Volksabstimmung in Oberschlesien. Sieg für die Deutschsprachigen. Londoner Konferenz über die Reparationsleistungen, die nun auf 132 Milliarden Goldmark festgesetzt werden. Beginn der „Erfüllungspolitik“. Dritter polnischer Aufstand in Oberschlesien. Sieg der Freikorps am Annaberg. Teilung Oberschlesiens. Einweihung des Centre d’Etudes Germaniques in Mainz. Zweites Kabinett Poincaré. Deutsch-sowjetischer Vertrag von Rapallo. Verschärfung der Inflation in Deutschland. Ermordung Rathenaus. Deutsche Bitte um ein Reparationsmoratorium. Londoner Konferenz: Ablehnung eines Reparationsmoratoriums. Einführung des Francs im Saarland. Einmarsch der Litauer im Memelland und der französisch-belgischen Truppen im Ruhrgebiet. Beginn des passiven Widerstands. Hinrichtung Schlageters. Stresemann Reichskanzler, nach seinem Sturz im November Außenminister (bis 1929). Höhepunkt der Hyperinflation. Stresemann fordert den Abbruch des passiven Widerstands. Düsseldorfer Blutsonntag (30. September): Konfrontation zwischen Anhängern und Gegnern des Separatismus. Niederlage der von Frankreich unterstützten separatistischen Rheinischen Republik. „Deutscher Oktober“: starke Spannungen zwischen Bayern und dem Reich. Hitler-Ludendorff-Putsch in München. Militärische Intervention Frankreichs in Marokko (Rifkrieg). Schwere Währungskrise in Frankreich. Französisch-tschechoslowakischer Freundschaftsvertrag. Der Dawes-Plan zur Reparationsregelung wird veröffentlicht und von der deutschen Regierung akzeptiert. Hitler wird zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt (er wird im Dezember desselben Jahres freigelassen). Sieg der konservativen und rechten Parteien bei den Reichstagswahlen. Sieg des Linkskartells bei den Parlamentswahlen in Frankreich. Memelstatut. Einführung des Dawes-Plans und Londoner Konferenz über die Reparationen und die Erfüllung der Verträge. Genfer Protokoll zur Sicherheit in Europa. Wird nach dem Sieg der Konservativen Partei in Großbritannien am 19.10. nicht angewendet. Ausgabe der Reichsmark.

Deutsch-französische Chronologie 1918 –1933 1924 Dezember 1925 1925 Januar

1925 2. Februar 1925 27. April 1925 14. Juli 1925 20. September 1925 16. Oktober 1926 31. Januar 1926 April 1926 Mai 1926 Juni 1926 23. Juli 1926 8. September 1926 30. September 1926 Dezember 1927 Januar 1927 März 1927 April 1927 Mai 1927 8. August 1927 November 1927 Dezember 1927 24. Dezember 1928 1928 April 1928 Mai 1928 Juni 1928 27. August 1929 Januar 1929 Juni 1929 Juli 1929 August

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Neuwahlen nach der Auflösung des Reichstages. Rückgang der radikalsten Parteien. Chamberlain und Dawes erhalten den Friedensnobelpreis. Rheinische Jahrtausendfeiern im Rheinland und im Saarland. Zollunion zwischen Frankreich und dem Saarland. Die Räumung der Kölner Besatzungszone wird wegen Säumnissen bei der Abrüstung verschoben. Bildung des Kabinetts Luther (Bürgerblock). Tod des Reichspräsidenten Ebert. Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt. Beginn der Evakuierung der Besatzungstruppen im Ruhrgebiet. Kongress der elsässischen Kommunisten, die sich für ein Referendum zur Autonomie aussprechen. Vertrag von Locarno Räumung der Kölner Besatzungszone, begleitet von Festveranstaltungen. Neue Währungskrise in Frankreich. Washingtoner Abkommen über die Kriegsschulden. Gründung des Deutsch-Französischen Studienkomitees durch Pierre Viénot und Emile Mayrisch. Gründung des Heimatbundes, der den Zusammenschluss der verschiedenen elsässischen Autonomiebestrebungen zum Ziel hat. Scheitern des Linkskartells. Rückkehr Poincarés an die Spitze des Ministerrats. Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Bildung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft. Briand und Stresemann erhalten den Friedensnobelpreis. Rückzug der Interalliierten Militärmission aus Deutschland. Rückzug der französischen Truppen aus dem Saarland. Intensivierung der antikommunistischen Politik der französischen Regierung. Weltwirtschaftskonferenz in Genf. Deutsch-französischer Handelsvertrag. Gründung der Organisation Croix de feu. Die Pazifisten Ferdinand Buisson (Frankreich) und Ludwig Quidde (Deutschland) erhalten den Friedensnobelpreis. Verhaftungswelle im autonomistischen Milieu des Elsass. Gründung der Deutsch-Französischen Gesellschaft und der Ligue d’Etudes Germaniques durch Otto Grautoff. Sieg der „Union nationale“ (Poincaristische Rechte) bei den Parlamentswahlen. Prozess von Colmar gegen die elsässischen Autonomisten. Reichstagswahl. Gewinne der linken Parteien. Große Koalition, geführt von Hermann Müller (SPD). Stabilisierung des französischen Francs. Briand-Kellogg-Pakt. Übernahme der Klassenkampf-Taktik durch die kommunistischen Parteien auf Verlangen der Komintern. Der Young-Plan wird unterzeichnet und veröffentlicht. Nationalistische Kampagne in Deutschland für ein Referendum gegen den Young-Plan. Hitler betritt wieder die politische Bühne. Rücktritt Poincarés aus gesundheitlichen Gründen. Konferenz von Den Haag über den Young-Plan. Entscheidung, alle fremden Truppen im Rheinland abzuziehen.

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Deutsch-französische Chronologie 1918 –1933

1929 5. September 1929 3. Oktober 1929 24. Oktober 1929 Dezember 1930 Januar 1930 März 1930 30. Juni 1930 Juli 1930 September 1930 6. Oktober 1930 Dezember 1931 1931 März

1931 Juni 1931 Juli 1931 September 1932 Februar 1932 7. März 1932 10. April 1932 8. Mai 1932 30. Mai 1932 Juni – Juli

1932 31. Juli 1932 9. September 1932 6. November 1932 29. November 1932 2. Dezember 1932 13. Dezember 1933 30. Januar

Genfer Rede Briands mit dem Vorschlag einer europäischen Föderation. Tod Stresemanns Schwarzer Freitag an der Wall Street. Parlamentsabstimmung über Kredite zum Bau der Maginotlinie. Scheitern des Referendums über den Young-Plan. Schaffung der Maison académique française in Berlin. Ratifizierung des Young-Plans. Ende des Kabinetts Müller. Brüning Reichskanzler. Beginn der „Präsidentialisierung“ des Regimes. Vorgezogene Räumung des gesamten Rheinlandes durch ausländische Truppen: Feiern und Freudenszenen. Angriffe auf profranzösische Einwohner. Auflösung des Reichstags durch den Präsidenten Hindenburg. Reichstagswahl; starker Stimmenanstieg der NSDAP (18 %). Treffen zwischen Brüning und Hitler zu außenpolitischen Zielen. Intensivierung der Deflationspolitik in Deutschland. Mehr als vier Millionen Arbeitslose in Deutschland. Sturz des Kabinetts Tardieu in Frankreich. Enormer Erfolg der Kolonialausstellung in Paris. Politische Straßenkämpfe in Deutschland fordern in diesem Jahr mehr als 300 Tote. Vorstellung des deutsch-österreichischen Zollunionsprojekts, das im September durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag abgelehnt wurde. Erstes Fußballspiel Frankreich – Deutschland (1: 0). Deutschland kündigt an, dass es die vom Young-Plan vorgesehenen Reparationen nicht mehr zahlen kann. US-Präsident Hoover schlägt ein Moratorium vor. Malthusianische Wirtschaftsmaßnahmen in Frankreich. Zweites Kabinett Brüning. Abwertung des Pfunds Sterling. Verschärfung der Krise in Frankreich. Mehr als sechs Millionen Arbeitslose in Deutschland. Erster Misserfolg der Abrüstungskonferenz. Tod Aristide Briands. Hindenburg im zweiten Wahlgang gegen Hitler als Reichspräsident wiedergewählt. Niederlage Tardieus bei den Parlamentswahlen. Sieg der Radikalsozialisten und der Linken. Bildung des Kabinetts von Papen/von Schleicher, gefolgt von der Auflösung des Reichstags am 6. Juni. Konferenz von Lausanne über die Kriegsschulden und die Reparationen. Endgültige Ablösung der Reparationen gegen einen letzten Pauschalbetrag, der von Deutschland niemals gezahlt wurde. Deutschland verlässt die Abrüstungskonferenz. Reichstagswahlen: die NSDAP ist stärkste Partei mit 37 % der Stimmen. Misstrauensvotum im Reichstag gegen das Kabinett von Papen: Auflösung des Reichstags. Reichstagswahlen, Rückgang der NSDAP auf 33 %, aber sie bleibt die stärkste Partei. Französisch-sowjetischer Nichtangriffspakt. Bildung des Kabinetts von Schleicher. Sturz des Kabinetts Herriot. Hitler Reichskanzler.

III. Bibliographie 1918–1933 Bibliographie

Mit dem Eintritt ins 20. Jahrhundert übersteigen die Masse der Dokumente und die daraus resultierenden historiographischen Studien die vorausgegangenen Zeitabschnitte bei weitem. Die Menge der zu konsultierenden, vom Wesen her immer vielfältigeren Dokumente und der Publikationen von historischen Persönlichkeiten, von Zeugen und Historikern ist fast grenzenlos. Keine Bibliographie, so lang sie auch sein mag, könnte diesem Umfang gerecht werden. Die folgende Bibliographie ist daher natürlich willkürlich. Ihren Kern bilden jene Werke, die direkt vom Verfasser dieses Buches genutzt wurden. Sie reflektiert darüber hinaus aber auch seinen Ansatz. 1. Quellen, Dokumentensammlungen und Memoiren

1.

Quellen, Dokumentensammlungen und Memoiren

1.1. Dokumenten- und Quellensammlungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

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Auswärtiges Amt (Hg.): Der Friedensvertrag von Versailles. Unter Hervorhebung der abgeänderten Teile mit Inhaltsaufbau, Karten und Sachregister, Berlin 1919. Auswärtiges Amt (Hg.): Das Saargebiet unter der Herrschaft des Waffenstillstandsabkommens und des Vertrags von Versailles, (Weißbuch), Berlin 1921. Bariéty, Jacques, u. a. (Hg.): Akten zur deutschen auswärtigen Politik. Serie A, 1918 – 1925: aus dem Archiv des Auswärtigen Amts, 13 Bde., Göttingen 1. 1982 –13. 1995. Baumann, Ansbert: Schlüsselereignisse der deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1870 und 1930. Unterrichtsbegleitendes Textdossier für den bilingualen Unterricht im Fach Geschichte, Ludwigsburg 2005. Baechler, Christian, u. a. (Hg.): Documents diplomatiques français, 2. Reihe, Vol. 1 bis 7, 10. 1. 1920 – 30. 6. 1922, Bern, Brüssel 1997/2007. Bruneteau, Bernard (Hg.): Histoire de l’idée européenne au premier vingtième siècle à travers les textes, Paris 2006. Dumoulin, Michel, Stelandre, Yves (Hg.): L’idée européenne dans l’entre-deux-guerres, Louvain-la-Neuve 1992. Elisha, Achille (Hg.): Aristide Briand: discours et écrits de politique étrangère: la paix, l’union européenne, la Société des Nations, Paris 1965. Erbar, Ralph (Hg.): Quellen zu den deutsch-französischen Beziehungen 1919 –1963, Darmstadt 2003. Fröhlich, Elke (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, 3 Teile, 30 Bde., München 1993 – 2007. Girault, René, Allaire, Martine, Bossuat, Gérard, Frank, Marie-Thérèse, Frank, Robert: Les Européens 1900–1940, Paris 1992. Golecki, Anton, Schulze, Hagen, Vogt, Martin, Wulf, Peter, Schulze-Bidlingmaier, Ingrid, Harbeck, Karl-Heinz, Erdmann, Karl Dietrich, Abramowski, Günter, Minuth, Karl-Heinz, Koops, Tilmann (Hg.), Akten der Reichskanzlei (1919 –1933), 23 Bde., München 1980/1990. Heilfron, Eduard (Bearb.): Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 und ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, Bde 1– 5, Berlin 1921. Kraus, Herbert, Rödiger, Gustav: Urkunden zum Friedensvertrage von Versailles vom 28. Juni 1919, 2 Bde., Berlin 1920 f.

246 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

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1.2. Zwischen 1918 und 1933 veröffentlichte Werke, Memoiren, Autobiographien und Selbstzeugnisse, Berichte 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Bainville, Jacques: Histoire de deux peuples (continuée jusqu’à Hitler), Paris 1933. Baldensperger, F., Pange, Jean de, u. a.: La Rhénanie (mit einem Vorwort von Paul Tirard), Paris 1922. Barbusse, Henri: Paroles d’un combattant, Paris 1920. Barrès, Maurice: Les grands problèmes du Rhin, Paris 1930. Ders.: La France dans les pays Rhénans (une tôche nouvelle), Paris 1919. Béhé, Martin: Heures inoubliables, Paris 1920. Bernhard, Henry (Hg.): Gustav Stresemann. Vermächtnis. Der Nachlass in drei Bänden, Berlin 1932–1933. Bertaux, Pierre: Mémoires interrompus, Asnières 2000. Bertaux, Pierre: Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927–1933, Asnières 2001. Blondel, Georges: La Rhénanie. Son passé, son avenir, Paris 1921. Brockhausen, Carl: Deutschland im Spiegel Frankreichs. Eine Antwort auf das Buch von Prof. Henri Lichtenberger (Paris) „Das heutige Deutschland in seinen Beziehungen zu Frankreich“, Berlin 1926. Coudenhove-Kalergi, Richard: Paneuropa, Wien 1923. Cru, Jean Norton: Témoins, Nancy 1993 (Paris 1929). Curtius, Ernst Robert: Die französische Kultur. Eine Einführung, Stuttgart 1930. Distelbarth, Paul H.: Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kultur und Politik Frankreichs und zu den deutsch-französischen Beziehungen 1932 –1953. Mit einer Einleitung herausgegeben und kommentiert von Hans Manfred Bock, Bern 1997. Febvre, Lucien: Le Rhin. Histoire, mythes, réalité, Paris 1997 (1931). Ders.: Der Rhein und seine Geschichte, hg. v. Peter Schöttler, Frankfurt/New York 1994.

1. Quellen, Dokumentensammlungen und Memoiren 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

247

Freud, Sigmund: Considérations actuelles sur la guerre et sur la mort (1915), in: Ders.: Essais de psychanalyse, Paris 1982, 7–40. Ders.: Malaise dans la civilisation, Paris 1971 (EA 1929). Friedrich, Ernst: Krieg dem Kriege, mit einem Vorwort von Gerd Krumeich, Berlin 2004 (1924). Grautoff, Otto: Die Maske und das Gesicht Frankreichs in Denken, Kunst und Dichtung, Stuttgart 1923. Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 –1933, Berlin 2002. Halbwachs, Maurice: La nuptialité en France depuis la guerre, in: Annales sociologiques, E/1 (1935), 1–45. Halévy, Elie: L’ère des tyrannies, Paris 1937. Haller, Johannes: Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen, Stuttgart 1930. Hanotaux, Gabriel: Carnets (1907–1925), publiés par Georges Dethan avec la collaboration de Georges-Henri Soutou et Marie-Renée Mouton, Paris 1982. Husson, Edouard, Todd, David (Hg.): Keynes, John Maynard, Les conséquences politiques de la paix, Bainville, Jacques, Les conséquences économiques de la paix, Paris 2002. Ibanez de Ibero, Carlos: L’Allemagne de la défaite, Paris 1919. Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919–1933, Stuttgart 2001. Kageneck, August von, Saint-Marc, Hélie de: Notre histoire, 1922 –1945, conversations recueillies par Etienne de Montety, Paris 2002. Keyserling, Hermann von: Das Spektrum Europas, Heidelberg 1928. Kollwitz, Käthe: Die Tagebücher 1908–1943, München 1999. Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt am Main 2004 (1930). Lichtenberger, Henri: L’Allemagne d’aujourd’hui dans ses relations avec la France, Paris 1922. Liepmann, Moritz: Krieg und Kriminalität in Deutschland, Stuttgart u. a. 1930. Olbrich, Heinrich Otto: Der Leidensweg des oberschlesischen Volkes, Breslau, Oppeln 1928. Ophüls, Max: Spiel im Dasein. Eine Rückblende, Dillingen, Queisser, 1980 (1959). Mac Orlan, Pierre: La Fin, souvenirs d’un correspondant aux armées en Allemagne, Paris 1919. Ders.: Rhénanie, Paris 1928. Madelin, Louis: Les heures merveilleuses d’Alsace et de Lorraine, Paris 1919. Millerand, Alexandre: Le retour de l’Alsace à la France, Paris 1923. Ossietzky, Carl von: Rechenschaft. Publizistik aus den Jahren 1913 –1933, Frankfurt am Main 1984. Palmer, Torsten, Neubauer, Hendrik (Hg.): Die Weimarer Republik in Pressefotos und Fotoreportagen, Köln 2000. Pange, Jean de: Les Libertés rhénanes (Pays rhénans, Sarre, Alsace), Paris 1922. Ders.: Ce qu’il faut savoir de la Sarre, Paris 1934. Pinon, René: La bataille de la Ruhr, Paris 1924. Rathenau, Walther: Walther-Rathenau-Gesamtausgabe, 4 Bde., München 1977–1983. Romains, Jules: Le couple France-Allemagne, Paris 1935. Rivière, Jacques: L’Allemand, Paris 1919. Scherer, André, Grünewald, Jacques (Hg.): L’Allemagne et les problèmes de la paix pendant la première guerre mondiale. Documents extraits des archives de l’Office allemand des Affaires étrangères (4 Bde.), Paris 1962–1978. Schickele, René: Überwindung der Grenze. Essays zur deutsch-französischen Verständigung [1919 –1937], hg. von Adrien Finck, Kehl 1987. Sieburg, Friedrich: Gott in Frankreich?, Heidelberg 1929. Tirard, Paul: L’art Français pendant l’occupation de la Rhénanie (1918 –1930), Strasbourg 1930.

248 82 83 84 85 86 87 88

Bibliographie Ders.: La France sur le Rhin. Douze années d’occupation rhénane, Paris 1930. Tucholsky, Kurt: Bonsoir révolution allemande!, Grenoble 1981. Tuffrau, Paul: Nos jours de gloire. De la Moselle à la Sarre en novembre 1918, Paris 1928. Viénot, Pierre: Ungewisses Deutschland. Zur Krise seiner bürgerlichen Kultur, Bonn 1999 (1931). Werth, Léon: Clavel chez les Majors, Paris 1919. Weiss, Louise: Mémoires d’une Européenne, tome II: Combats pour l’Europe, Paris 1979. Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern, Erinnerungen eines Europäers, Berlin 1998 (1944).

2. Sekundärliteratur nach Themen geordnet

2.

Sekundärliteratur nach Themen geordnet

2.1. Allgemeine Werke und Artikel mit interdisziplinärem und methodologischem Bezug 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98

99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109

Aron, Raymond: Les guerres en chaîne, Paris 1951. Becker, Annette: Maurice Halbwachs. Un intellectuel en guerres mondiales 1914 –1945, Paris 2003. Berthomé, Jean-Marc: Recherche psychanalytique sur la survivance aux traumatismes concentrationnaire et génocidaire de la Seconde Guerre mondiale, Paris 1997. Ders.: Clinique du traumatisme et survivance: d’un après-guerre à l’autre, in: AudoinRouzeau/Becker/Ingrao/Rousso 2002 [265], 263–276. Bloch, Marc: Apologie pour l’Histoire ou métier d’historien, Paris 1974. Bourdieu, Pierre: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992. Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2002. Hagemann, Karen, Davy, Jennifer, Kätzel, Ute (Hg.): Frieden – Gewalt – Geschlecht. Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung, Essen 2005. Hobsbawm, Eric J., Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Jarausch, Konrad: Der Nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Fischer-Kontroverse, in: Sabrow, Martin, Jessen, Ralph, Grosse Kracht, Klaus (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, 20 – 40. Kennan, George F.: The Decline of Bismarck’s European Order: Franco-Russian Relations, 1875 –1890, Princeton 1979. Koselleck, Reinhart: Le futur passé. Contribution à la sémantique des temps historiques, Paris 1990. Ders.: L’expérience de l’Histoire, Paris 1997. Kühne, Thomas, Ziemann, Benjamin (Hg.): Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000. Lepenies, Wolf: Les trois cultures. Entre science et culture, l’avènement de la sociologie, Paris 1990 (1985). Prost, Antoine, Winter, Jay M.: Penser la Grande Guerre. Un essai d’historiograpie, Paris 2004. Revel, Jacques: Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996. Ricœur, Paul: La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000. Rioux, Jean-Pierre, Sirinelli, Jean-François (Hg.): Pour une histoire culturelle, Paris 1997. Gumbrecht, Hans Ulrich: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt am Main 2001. Ziemann, Benjamin (Hg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002.

2. Sekundärliteratur nach Themen geordnet

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2.2. Biographische Wörterbücher, Prosopographien und Biographien 110 Baechler, Christian: Gustave Stresemann (1978–1929): de l’impérialisme à la sécurité collective, Paris 1996. 111 Bariéty, Jacques: Sidérurgie, littérature, politique et journaux, une famille luxembourgeoise, les Mayrisch entre l’Allemagne et la France, Bulletin de la société d’histoire moderne 10 (1969), 7–13. 112 Ders.: Le rôle d’Emile Mayrisch entre les sidérurgies allemande et française après la première guerre mondiale, Relations Internationales 1 (1974), 123 –143. 113 Ders.: Le sidérurgiste luxembourgeois Emile Mayrisch, promoteur de «l’entente internationale de l’acier» après la première guerre mondiale, in: Poidevin, Raymond, Trausch, Gilbert (Hg.): Les relations franco-luxembourgeoises de Louis XIV à Robert Schuman, Metz 1978, 245–257. 114 Ders. (Hg.): Aristide Briand, la Société des Nations et l’Europe 1919 –1932, Strasbourg 2007. 115 Bély, Lucien, Soutou, Georges-Henri, Theis, Laurent, Vaïsse, Maurice (Hg.): Dictionnaire des ministres des Affaires étrangères (1589–2004), Paris 2005. 116 Benz, Wolfgang, Graml, Hermann (Hg.): Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988. 117 Brun, Christelle: Paul Claudel, diplomate en Allemagne, in: Francia 29/3 (2002), 13 – 36. 118 Carls, Stephen D.: Louis Loucheur, ingénieur, homme d’État, modernisateur de la France, 1872 –1931, Villeneuve d’Ascq 2000. 119 Dickès, Christophe: Jacques Bainville: L’europe d’entre deux guerres 1919 –1936, Paris 1996. 120 Ders.: Jacques Bainville, Les lois de la politique étrangère, Paris 2008. 121 Elisha, Achille: Aristide Briand, la paix mondiale et l’Union européenne, Groslay 2003. 122 Franz, Corinna: Fernand de Brinon und die deutsch-französischen Beziehungen 1918 – 1945, Bonn 2000. 123 Freymond, Jacques: Gustav Stresemann et l’idée d’une Europe économique, 1925 –1927, Relations Internationales 8 (1976), 343–360. 124 Guillaume, Sylvie, Konrad Adenauer, Paris 2007. 125 Hirsch, Felix, Gustav Stresemann: Patriot und Europäer, Göttingen 1964. 126 Jacquemard-de-Gémeaux, Christine: Ernst-Robert Curtius (1886 –1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, Bern 1998. 127 Julliard, Jacques, Winock, Michel (Hg.): Dictionnaire des intellectuels français, Paris 1996. 128 Körber, Andreas: Gustav Stresemann als Europäer, Wegbereiter und potentieller Verhinderer Hitlers: historisch-politische Sinnbildung in der öffentlichen Erinnerung, Hamburg 1999. 129 Letourneau, Paul: Walther Rathenau (1867–1922). Strasbourg, Presses universitaires de Strasbourg, Strasbourg 1999. 130 Müller, Guido: Emile Mayrisch und westdeutsche Industrielle in der europäischen Wirtschaftsverständigung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique 4 (1992), 545–559. 131 Oudin, Bernard: Aristide Briand: la paix, une idée neuve en Europe, Paris 1987. 132 Pohl, Heinrich (Hg.): Politiker und Bürger: Stresemann und seine Zeit, Göttingen 2002. 133 Pradier, Véronique: L’Europe de Louis Loucheur: le projet d’un homme d’affaires en politique, in: Etudes et documents Bd. V (1993), 293–306. 134 Prat, Olivier: Marc Sangnier et la paix: Bierville et les Congrès démocratiques (1921– 1932), thèse de doctorat d’histoire, Université de Paris IV, 2003. 135 Schwarz, Hans-Peter: Erbfreundschaft, Adenauer und Frankreich. Amitié héréditaire, Adenauer et la France, Bonn 1992.

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Bibliographie

136 Siebert, Ferdinand: Aristide Briand: 1862–1932, ein Staatsmann zwischen Frankreich und Europa, Zürich 1973. 137 Sirinelli, Jean-François: Sartre et Aron, Deux intellectuels dans le siècle, Paris 1995. 138 Ders. (Hg.): Dictionnaire historique de la vie politique française au XXe siècle, Paris 2003. 139 Sonnabend, Gaby: Pierre Viénot (1897–1944). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005. 140 Thull, Jean-François: Jean de Pange, un Lorrain en quête d’Europe 1881–1957, Metz 2008. 141 Trausch, Gilbert: Le Maître de forges Emile Mayrisch et son épouse Aline. Puissance et influence au service d’une vision, Luxembourg 1999. 142 Unger, Gérard: Aristide Briand, le ferme conciliateur, Paris 2005. 143 Weis, Cédric: Jeanne Alexandre. Une pacifiste intégrale, Angers 2005. 144 Wette, Wolfram: Gustav Noske. Eine politische Biographie. Düsseldorf 1987. 145 Wittmer, Pierre: Paul Landowski à Paris, une promenade de sculpture, Paris 2001. 146 Woronoff, Denis: François de Wendel, Paris 2001.

2.3. Internationaler Kontext, allgemeine Werke 147 Beaupré, Nicolas, Moine, Caroline (Hg.): L’Europe de Versailles à Maastricht, Visions, moments et acteurs des projets européens, Paris 2007. 148 Berghahn, Volker: Europa im Zeitalter der Weltkriege. Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt, Frankfurt am Main 2002. 149 Chapoutot, Johann: L’âge des dictatures (1919–1945), Paris 2008. 150 Chaunu, Pierre (Hg.): Les enjeux de la paix. Nous et les autres XVIIIe–XXIe siècle, Paris 1995. 151 Conseil de l’Europe (Hg.): Carrefours d’histoires européennes – Perspectives multiples sur cinq moments de l’histoire de l’Europe, Strasbourg 2007. 152 Diner, Dan: Des Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999. 153 Furet, François: Le passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle, Paris 1995. 154 Graml, Hermann: Europa zwischen den Kriegen, München 1969. 155 Hobsbawm, Eric J.: L’Âge des extrêmes, Bruxelles 1999. 156 Kaelble, Hartmut: Wege zur Demokratie. Von der Französischen Revolution zur Europäischen Union, Stuttgart 2001. 157 Kitchen, Martin: Europe between the Wars. A political History, London, New York 1988. 158 Mai, Gunther: Europa 1918–1939, Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001. 159 Mazower, Mark: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002. 160 Ders.: Le continent des ténèbres. Une histoire de l’Europe au XXe siècle, Bruxelles 2005. 161 Nolte, Ernst: Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Berlin 1987. 162 Renouvin, Pierre (Hg.): Histoire des relations internationales, Bd. 3: De 1871 à 1945, Paris 1994. 163 Traverso, Enzo: À Feu et à sang: De la guerre civile européenne, 1914 –1945, Paris 2007. 164 Thoss, Bruno, Volkmann, Hans-Erich (Hg.): Erster Weltkrieg/Zweiter Weltkrieg – Ein Vergleich, Paderborn 2002.

2. Sekundärliteratur nach Themen geordnet

251

2.4. Vergleiche, Transfers, Verflechtungen: Methoden und Debatten, Fragen der Geschichtsschreibung und thematische Recherchen 165 Bock, Hans-Manfred: Tradition und Topik des Populären Frankreich-Klischees in Deutschland von 1925 bis 1955, in: Francia 14 (1986), 474– 508. 166 Charle, Christophe: La crise des sociétés impériales. Allemagne, France, Grande-Bretagne. Essai d’histoire sociale comparée, Paris 2001. 167 Détienne, Marcel, Comparer l’incomparable, Paris 2000. 168 Dumont, Louis, Homo Aequilis II, l’idéologie allemande. France, Allemagne et retour, Paris 1991. 169 Espagne, Michel: Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999. 170 Ders.: Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle, in: Genèses 17 (1994), 112 –121. 171 Haupt, Heinz-Gerhard, Kocka, Jürgen: Geschichte und Vergleich, Ansätze und Erlebnisse international vergleichender Geschichtschreibung, Frankfurt/Main 1996. 172 Hudemann, Rainer, Soutou, Georges-Henri (Hg.): Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert/Elites en France et en Allemagne aux XIXème et XXème siècles, München 1994. 173 Jeismann, Michael: Das Vaterland der Feinde: Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992. 174 Ders.: La patrie de l’ennemi. La notion d’ennemi national et la représentation de la nation en Allemagne et en France de 1792 à 1918, Paris 1997. 175 Ilic, Franco: Frankreich und Deutschland. Das Deutschlandbild im französischen Parlament (1919 –1933), Münster 2004. 176 Kaelble, Hartmut: Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991. 177 Ders.: Der historische Vergleich, eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999. 178 Knipping, Franz, Weisenfeld, Ernst (Hg.): Eine ungewöhnliche Geschichte Deutschland-Frankreich seit 1870, Bonn 1988. 179 Kott, Sandrine, Nadau, Thierry: Pour une pratique de l’histoire sociale comparative. La France et l’Allemagne contemporaines, in: Genèses 17 (1994), 103 –111. 180 Leenhardt, Jacques, Picht, Robert (Hg.): Au jardin des malentendus, le commerce franco-allemand des idées, Arles 1990. 181 Mieck, Ilja, Guillen, Pierre (Hg.): Nachkriegsgesellschaften in Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, München 1998. 182 Möller, Horst, Morizet, Jacques (Hg.): Allemagne, France, Lieux et mémoires d’une histoire commune, Paris, Albin Michel, 1995. 183 Dies. (Hg.): Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte, München 1996. 184 Revel, Jean-François (Hg.): Penser par cas, Paris 2005. 185 Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001. 186 Werner, Michael, Zimmermann, Bénédicte (Hg.): De la comparaison à l’histoire croisée, Paris 2004. 187 Wirsching, Andreas: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg. Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39, München 1999.

2.5. Deutschland: Allgemeine Geschichte und/oder Weimarer Republik 188 Abraham, David: The Collapse of the Weimar Republic. Political Economy and Crisis, Princeton 1981.

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2.10. Besatzung und regionale und die Grenzen betreffende Fragen (Rheinland, Saarland, Ruhrgebiet, Schlesien, Elsass-Lothringen …) 555 Als der Krieg zu uns gekommen war …“ Die Saarregion und der Erste Weltkrieg, Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums im Saarbrücker Schloss, Merzig 1993. 556 Applegate, Celia: A nation of provincials. The German Idea of Homeland in the Rhenish Pfalz, 1870–1955, Ann Arbor 1987. 557 Ayçoberry, Pierre, Ferro, Marc (Hg.): Une histoire du Rhin, Paris 1981. 558 Baechler, Christian: L’Alsace entre la guerre et la paix: recherches sur l’opinion publique (1917–1918), Strasbourg 1969. 559 Ders.: Le Parti catholique alsacien 1890–1939 – Du Reichsland à la République, Strasbourg 1982. 560 Ders.: L’Alsace-Lorraine dans les relations franco-allemandes de 1918 à 1933, in: Bariéty/Guth/Valentin 1987 [436], 69–110.

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Register

Register

Abetz, Otto 211 Adenauer, Konrad 67, 148, 174, 175, 212, 241 Aguhlon, Maurice 58, 107 Alain (Chartier, ÉmileAuguste) 85, 192 Andlauer, Joseph Louis 156 Apollinaire, Guillaume 116 Arndt, Ernst Moritz 176 Aron, Raymond 193, 222, 225, 226, 227, 228 Aubin, Hermann 142, 198 Audoin-Rouzeau, Stéphane 53, 113 Auriol, Vincent 64 Baden, Max von 25 Bainville, Jacques 52 Barbusse, Henri 21, 22, 59, 85, 184, 186 Bariéty, Jacques 50, 154, 218 Barlach, Ernst 123, 124 Barrès, Maurice 194, 195 Barth, Boris 134 Barthou, Louis 112 Basch, Victor 193 Bauer, Gustav 54 Baulig, Henri 194 Bayern, Prinz Ruprecht von 25 Bebel, August 221 Becker, Annette 116, 225 Becker, Jean-Jacques 79, 80 Becker, Nikolaus 176 Benda, Julien 85 Bene, Edvard 62 Benjamin, Walter 86 Berr, Henri 195 Berstein, Serge 79, 80 Bertaux, Félix 192 Bertaux, Pierre 192 Berthelot, Marcellin 189 Berthomé, Jean-Marc 11 Bessel, Richard 10, 40, 232 Bethmann Hollweg, Theobald von 226

Beumelburg, Werner 186 Bismarck, Otto von 15, 226, 227 Bloch, Marc 13, 194, 196, 240 Blondel, Charles 194, 195 Bock, Hans-Manfred 209 Boncour, Paul 192 Bouglé, Célestin 193 Brandler, Heinrich 166 Brecht, Bertolt 87 Briand, Aristide, 56, 58, 63 – 66, 72 –76, 79, 93, 94, 102, 181, 203, 213, 243, 244, 245 Brinon, Fernand de 212 Brockdorff-Rantzau, Ulrich von 53 Broglie, Louis de 189 Brüning, Heinrich 99 –102, 244 Brunn, Gerhard 173 Buisson, Ferdinand 203, 243 Cabanes, Bruno 27, 43, 144 Carpentier, Georges 85 Cassirer, Ernst 193 Castelnau, Édouard de 111 Catulle-Mendès, Jane 113 Cavaillès, Jean 193 Cendrars, Blaise 115 Chamberlain, Arthur Neville 72, 243 Chautemps, Camille 94 Clair, René 85 Claudel, Paul 224 Clausewitz, Carl von 223 Clemenceau, Georges 43, 52, 53, 58, 94, 148, 156, 159 Clermont, Émile 113 Clermont, Louise 113 Colpin, Pierre 171 Curtius, Ernst Robert 207, 208, 210 Curtius, Julius 101, 102 Curzon, George Nathaniel 160

Daudet, Léon 80 Davis, Belinda 32, 236 Dawes, Charles 61, 67, 70, 71, 75, 98, 171, 242, 243 Degoutte, Jean-Marie 62, 65, 66 Delluc, Louis 85 Demangeon, Albert 125 Dempsey, Jack 85 Deschanel, Paul 58 Desjardins, Paul 207 Dill, Lisbeth 157 Distler, Heinrich 151 Dix, Otto 128, 205 Dorgelès, Roland 42, 125, 184 Doriot, Jacques 80 Dorten, Hans Adam 148 Doumer, Paul 111 Doumergue, Gaston 70, 94 Dreyfus, Alfred 85 Duhamel, Georges 184 Duvivier, Julien 85 Dwinger, Edwin Erich 184 Ebert, Friedrich 40, 89, 97, 111, 117, 119, 140, 166, 167, 241, 243 Einstein, Albert 188, 189, 190, 193 Elias, Norbert 185, 230 Engel, Friedrich 223, 224 Engelke, Gerrit 184 Engels, Friedrich 222 Ernst, Robert 199 Fayolle, Émile 145 Febvre, Lucien 194, 195, 196 Fehrenbach, Konstantin 64 Feldman, Gerald 98, 231 Fischer, Conan 170 Fischer, Fritz 51, 221, 226, 227, 231 Fischer, Samuel 192 Foch, Ferdinand 53, 65, 116, 148

Register Freud, Sigmund 10 Friedrich, Ernst 128, 136, 205 Frings, Theodor 198 Furet, François 228 Gambetta, Léon 81 Gance, Abel 42, 85 Garnier-Duplessis, NoëlMarie 146 Gaulle, Charles de 48, 54, 222, 224, 225 Gay, Peter 10 Gérard, Augustin 42, 173 Gerlach, Helmuth von 203 Gessler, Otto 163 Geyer, Michael 10, 11, 25 Gide, André 207 Giono, Jean 85 Giraudoux, Jean 209 Goebbels, Joseph 211 Goetz, Karl 151 Golecki, Anton 177 Gorguet, Ilde 204 Gouraud, Henri 34 Gratier, Jules 161 Grautoff, Otto 206 – 211, 243 Grimm, Hans 31 Grosz, George 128 Haber, Fritz 188, 189, 190 Habsburg, Franz Ferdinand von 52 Haffner, Sebastian 26, 71, 76 Hain, Paul 151 Halbwachs, Maurice 194, 196 Halévy, Daniel 219 Halévy, Élie 222, 225 Hansi (Waltz, Jean-Jacques) 17, 33 Hartoy, Maurice d’ 184 Hauenstein, Heinz Oskar 162, 168 Heartfield, John 128 Heidegger, Martin 193 Herriot, Édouard 70, 71, 72, 78, 96, 102, 244 Hindenburg, Paul von 28, 90, 100, 121, 124, 243, 244 Hirschauer, Auguste Édouard 47 Hitler, Adolf 15, 60, 67, 90, 91, 92, 100, 101, 103, 121, 212, 218, 221, 226, 228, 230, 242, 243, 244 Ho Chi Minh 80 Hobsbawm, Eric 228

Höfer, Karl 163 Hoover, Herbert C. 102, 244 Horion, Johannes 120 Horne, John 14, 181, 213 Hörsing, Otto 160 Husserl, Edmund 193 Ingrao, Christian 237 Jahnn, Hans Henny 184 Jarres, Karl 174 Jaurès, Jean 80, 117 Jézequel, Jules 204 Johannes, Jakob 147 Jünger, Ernst 86, 183, 184, 185 Kaelble, Hartmut 13 Kageneck, August von 177 Kapp, Wolfgang 60, 235, 241 Kaußler, August 152, 153 172 Kellogg, Frank Billings 56, 75, 243 Kennan, George F. 221, 227, 228 Keynes, John Maynard 52 Keyserling, Hermann von 210 Kienitz, Sabine 153 Koller, Christian 151 Kollwitz, Käthe 111 Korfanty, Wojciech 162, 163 Koselleck, Reinhart 118, 119, 120 Krassnitzer, Patrick 234 Kretzer, Guido 151 Krüger, Gerd 167 Krumeich, Gerd 28, 52, 124 Lang, Fritz 85 Langevin, Paul 203 Laqueur, Walter 86 Laval, Pierre 47, 82, 94, 95, 102, 212 Le Bras, Gabriel 194 Le Naour, Jean-Yves 152 Le Rond, Henri 65, 160, 161 Lefebvre, Raymond 85 Lehman-Rußbüldt, Otto 203 Lerner, Paul 129 Levsen, Sonja 191 Lévy, Ernest 194 Lévy-Bruhl, Lucien 193 Leygues, Georges 58 Liebknecht, Karl 241

279 Linsmayer, Ludwig 178 Lloyd George, David 63, 148 Lorrain, Sophie 203, 206 Loucheur, Louis 64 Lubitsch, Ernst 85 Luchaire, Jean 212 Ludendorff, Erich 24, 28, 242 Luther, Hans 243 Luther, Martin 15, 196 Lüttwitz, Walter von 60 Lux, Hanns Maria 175 Luxemburg, Rosa 241 Mac Orlan, Pierre 144, 145, 213, 214, 215 MacDonald, Ramsay 72 Maginot, André 95, 117, 244 Mann, Thomas 123, 140 Marinis, Armando de 160 Massis, Henri 186, 222, 223, 224 Mauss, Marcel 193 Mayrisch, Émile 74, 206, 207, 208, 243 Mazower, Mark 228 Mélac, Ézéchiel de 173 Mendès, Catulle 113 Millerand, Alexandre 35, 58, 63, 66, 70, 241 Moltke, Helmuth von 221 Montherlant, Henry de 184 Morel, Edmund 150 Mosse, George L. 11, 14, 32, 191, 220, 230 – 237 Müller, Hermann 97, 99, 243, 244 Murnau, Friedrich Wilhelm 85 Mussolini, Benito 72 Nernst, Walther 189 Niekisch, Ernst 86 Nivelle, Robert Georges 26 Nollet, Charles 42 Nolte, Ernst 227, 228, 229 Noske, Gustav 166 Oppenheimer, Robert 193 Ossietzky, Carl von 86 Pabst, Georg Wilhelm 85 Painlevé, Paul 70 Papen, Franz von 102, 218, 244 Percival, Harold F. P. 160, 161

280 Pestre, Dominique 190 Petit, Stéphanie 110 Peukert, Detlev 26, 88, 98, 217 Pfister, Christian 193, 195 Picot, Yves 131 Pirenne, Henri 194 Planck, Max 188 Plateau, Marius 79 Poidevin, Raymond 50 Poincaré, Raymond 32, 58, 61, 62, 66, 67, 69, 70, 73, 74, 78, 79, 81, 94, 95, 96, 194, 195, 242, 243 Poulaille, Henri 42 Proust, Marcel 184 Prümm, Karl 185 Quidde, Ludwig 203, 243 Radek, Karl 167 Rathenau, Walther 25, 28, 60, 64, 242 Rault, Victor, 65, 155 Regler, Gustav 152 Reimann, Aribert 221 Remarque, Erich Maria 185, 186, 187 Renoir, Jean 85 Richards, Daniel Day 185 Richez, Jean-Claude 34, 35, 36 Riou, Gaston 208, 215 Ritter, Gerhard 52 Rivière, Jacques 182, 207, 208, 210, 215 Rohan, Karl Anton Prinz 209 Rolland, Romain 186, 202 Roque, François de la 80 Rossé, Joseph 82 Roussellier, Nicolas 69 Rousso, Henry 225 Salengro, Roger 48 Salomon, Ernst von 60, 163 Salomon (Delatour), Gottfried 193, 212

Register Sangnier, Marc 203 Sarraut, Albert 81 Sartre, Jean-Paul 193 Scelle, Georges 192 Schauwecker, Franz 184 Schirmann, Sylvain 218 Schiwelbusch, Wolfgang 179 Schlageter, Albert Leo 147, 166, 167, 242 Schleicher, Kurt von 244 Schlumberger, Jean 208 Schmeling, Max 85 Schmitt, Carl 86, 99, 207 Schöttler, Peter 196, 198 Schröder, Joachim 197, 202 Schröder-Gudehus, Brigitte 190 Schulte, Aloys 176 Schulze, Hagen 54 Schumann, Dirk 235 Seeckt, Hans von 76 Seydoux, Jacques 66 Sherman, Daniel J. 117, 118 Sieburg, Friedrich 210 Simons, Walter 63, 64 Sirinelli, Jean-François 191 Solchany, Jean 10 Sonnabend, Gaby 215 Soutou, Georges-Henri 67 Spenlé, Jean-Édouard 198 Spitzer, Leo 212 Stark, Johannes 188 Steeg, Théodore 94 Stein, Gertrude 87 Stinnes, Hugo 67 Stresemann, Gustav 67, 72 – 77, 83, 88, 90, 92, 93, 97, 98, 101, 181, 203, 213, 218, 242, 243, 244 Tardieu, André 53, 94, 95, 96, 101, 244 Thin, Auguste 117 Tirard, Paul 62, 65, 66, 71, 148, 153, 173, 198

Toklas, Alice B. 87 Troeltsch, Ernst 38 Tucholsky, Kurt 9, 69, 290 Tuffrau, Paul 144 Uberfill, François 33, 35, 36 Unruh, Fritz von 174, 184 Vaillant-Couturier, Paul 85 Vandervelde, Émile 72 Vermeil, Edmond 194, 197 Viénot, Pierre 206 – 210, 212, 215, 243 Vincent, C. Paul 31, 32 Wagner, Richard 176 Wahl, Alfred 34, 35, 36 Weber, Max 176 Wegner, Armin T. 184 Wehler, Hans-Ulrich 59, 77, 221, 225, 226, 229, 230, 231 Wein, Franziska 176 Wels, Otto 51 Werner, Michael 238 Werth, Léon 9, 181, 184 Weygand, Maxime 53 Wiene, Robert 85 Wilhelm I. 34 Wilhelm II. 221 Wilson, Thomas Woodrow 55, 56 Winter, Jay M. 38, 46, 108 Wirth, Joseph 64, 65, 163 Witkop, Philipp 197 Wittich, Werner 36 Wolff, Theodor 90 Young, Owen D. 75, 90, 91, 92, 97, 98, 101, 102, 243, 244 Zech, Paul 184 Ziemann, Benjamin 119, 120, 235 Zimmermann, Bénédicte 238