Wahrsein als Identifizierung: Einführung in die kritische Rezeption Husserls durch Heidegger [1 ed.] 9783428532506, 9783428132508

Was ist Wahrheit? An jeweils zentraler Stelle gehen beide Denker auf diese Frage ein: Edmund Husserl in der letzten sein

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Wahrsein als Identifizierung: Einführung in die kritische Rezeption Husserls durch Heidegger [1 ed.]
 9783428532506, 9783428132508

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Philosophische Schriften Band 76

Wahrsein als Identifizierung Einführung in die kritische Rezeption Husserls durch Heidegger

Von

Klaus Neugebauer

a Duncker & Humblot · Berlin

KLAUS NEUGEBAUER

Wahrsein als Identifizierung

Philosophische Schriften Band 76

Wahrsein als Identifizierung Einführung in die kritische Rezeption Husserls durch Heidegger

Von

Klaus Neugebauer

a Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-13250-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Lutz Ellrich

Vorwort „Wir kommen nie zu Gedanken. Sie kommen zu uns. Das ist die schickliche Stunde des Gesprächs. Es erheitert zur geselligen Besinnung. Diese kehrt weder das gegenstrebige Meinen hervor, noch duldet sie das nachgiebige Zustimmen. Das Denken bleibt hart am Wind der Sache. Aus solcher Geselligkeit erstünden einige vielleicht zu Gesellen im Handwerk des Denkens. Damit unvermutet einer aus ihnen Meister werde.“1

Man kann sich kaum vorstellen, dass Martin Heidegger, als er dies vor 1947 schrieb, in erster Linie an seine Vorlesungen als hoch entwickelte Formen der Kommunikation gedacht hat. Schon eher meinte er für das gemeinsame Empfangen und Weitertragen von Gedanken den kleinen Kreis von Lehrern und Schülern, vielleicht die Gespräche des Sokrates oder ein auf eine kleine Teilnehmerzahl begrenztes Seminar. Nun sind Vorlesungen auch weniger als gesellige Veranstaltungen anzusehen, zumal nicht, wenn sie morgens um 7 Uhr stattfinden, wie etwa in Marburg, einer der damaligen Hochburgen des Neukantianismus und der Erkenntnistheorie.2 Vielmehr sind sie Zeugnisse einer fachlichen Auseinandersetzung und deren Mitteilung. So auch Heideggers Marburger Vorlesungen vom Wintersemester 1923/1924 bis zum Sommersemester 1928, von denen wir fünf berücksichtigen. Dennoch vermitteln sie vieles vom hohen Sinn dessen, was wir uns von einer Vorlesung, die ein ‚verständlich machendes‘ Gespräch mit der Sache sein soll, erwarten. Wenn überhaupt Vorlesungen, dann bitte sollten es solche sein. Also eine Sonderform des indirekten Dialogs mit dem gleichzeitig in Freiburg im Breisgau lesenden Husserl. In ihnen kommt das zur Sprache, was in Heideggers Gespräch mit der Tradition, auch der jüngeren der Logischen Untersuchungen, eine Rolle spielt. Wir glauben, einige klassische Beispiele von Heideggers höchsteigener Vortrags- und Gesprächskultur vor 1

Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, GA Bd. 13, S. 78 (11). Hans-Georg Gadamer: Einzug in Marburg, in ders.: Erinnerung an Martin Heidegger, S. 110. 2

8

Vorwort

uns zu haben. So brachte er die Rede auf die Phänomenologie, ihren Ursprung, ihre geschichtlichen Wandlungen, schließlich ihre radikale Neubegründung durch ihn selbst. Die schickliche Stunde des Gesprächs meint die passende Gelegenheit, den geeigneten gedanklichen Freiraum, den richtigen Zeitpunkt, aber auch die zugeschickte Stunde (Kairüò), die, von den Teilnehmern kaum beeinflussbar, als willkommenes Geschenk akzeptiert wird. Ähnliches sagt Husserl: „Phänomenologie ist eine gesellige Sache und ein Band, das sub sp aeterni verknüpft.“3 Da ist zunächst einmal er selber, der in der Marburger Zeit aus dem Kreis der Husserl-Schüler heraus tritt und zum Meister im Handwerk des Denkens wurde. Dann aber sei auch an die vielen „Gesellen“, die in seinen Vorlesungen saßen, gedacht, die aufbrachen, um ihrerseits auf eigenen Wegen eine Fortentwicklung der phänomenologischen Fragen zu suchen. Dabei bleibt das Gespräch ‚hart am Wind der Sache‘. Damit ist Husserls Maxime „Wir wollen auf die ‚Sachen selbst‘ zurückgehen“4 zwar nicht direkt gemeint. Vielmehr müssen wir hier den Aufruf zur Sache des Seins sehen, in diesen Jahren schon gedacht aus der seinsgeschichtlichen Blickbahn. Wir Heutigen sind in einer anderen Situation: Wir haben den zeitlichen Abstand von ca. 90 Jahren zu dem damals Vorgetragenen und Geschriebenen. Zu Husserls Schrift sind es 110 Jahre. Es scheint so, als würde uns diese zeitliche Kluft helfen, denn wir brauchen uns vermutlich nicht mit längst überwundenen Positionen des 19. Jahrhunderts herumzuschlagen. Das ist nur scheinbar so. Denn der Psychologismus in der neuen Form der psychologischen Erklärung von allem und jedem spielt auch heute noch eine große Rolle in der Wissenschaft, im Alltag, die Philosophie dagegen gar keine, sieht man einmal von ihrer Missgestalt der Firmenphilosophie ab, einem letzten Melder ihrer Abwesenheit. Dafür spüren wir die Präsenz des Vulgär-Psychologischen umso mehr, etwa wenn wir geneigt sind, Probleme mit raschen Erklärungen vom Tisch zu bekommen. Die Freudsche Fehlleistung oder Übersprungshandlung ist eine der populärsten Figuren unserer psychologisierenden Alltagssprache, die mit dem Anspruch auftritt, etwas Tiefsinniges erkannt zu haben, in Wahrheit aber nichts bedeutet. Vieles erinnert uns auch heute noch an alte weltanschauliche oder erkenntnistheoretische Einlassungen. Wer psychologisch argumentiert, gilt als tiefgründig. Heidegger sagte seinen Hörern 3 Edmund Husserl: Brief an Farber vom 19. VIII. 1936, Husserliana Dokumente, Band III, Teil 4, S. 75. 4 Ders., Logische Untersuchungen, Einleitung zu Bd. II, S. 10 (6).

Vorwort

9

1925, dass sie beide, die Hörer und er, eigentlich nicht wüssten, was Psychologie sei.5 Wissen wir es heute? Wie steht es mit der Frage nach der Wahrheit? Es wird bisher kaum sichtbar, dass und wie diese systematische ‚Schnittstelle‘ zwischen Husserls und Heideggers Wahrheitsbegriff zwei wesentliche Denkansätze des 20. Jahrhunderts sichtbar macht, die jenseits von ideologischem Kritizismus oder Apologetik, direkt in die Zentralfrage unseres Selbst- und Weltverständnisses führen kann. Vor dem Erscheinen der Gesamtausgabe Heideggers und auch einiger Bände der Husserliana (Logische Untersuchungen), also zum Zeitpunkt der Niederschrift der Kapitel 1–3 dieser Arbeit,6 gab es wenig Anhaltspunkte dafür, dass hier der Schlüssel für eins der Grundprobleme der Philosophie des vergangenen Jahrhunderts zu finden sei. Zwei, drei dürftige Hinweise auf Husserl in Sein und Zeit, wenige Briefe zwischen den beiden Denkern, Heideggers Mein Weg in die Phänomenologie, die verhaltene Auseinandersetzung bei der Publikationsvorbereitung des Encyclopaedia-Britannica-Artikels, bei der Heidegger durch seine Anmerkungen zu Husserls Text seine ganz andere Auffassung von Phänomenologie deutlich machte.7 Darin ist allerdings von Wahrheit gar nicht die Rede. Viel mehr gab es nicht – in den siebziger Jahren nicht und heute zu meiner Überraschung auch nicht. In der Literatur sehen wir eine Schnittmenge unseres Themas mit „Marburger Vorlesungen“, „Husserl/Heidegger“, „Wahrheitsbegriff“, „Intentionalität“, „Phänomenologie“. All diese Abhandlungen decken Teilbereiche unserer Arbeit ab. Aber eine Monografie wie diese fehlte damals, sie fehlte bis heute. Der unmittelbare Zugang als Hörer der Marburger Kollegstunden ist uns verwehrt. Aber als mittelbare, lesende Zeugen dürfen wir an dem äußerst spannenden Prozess teilnehmen, wie Husserls Intentionalität Heidegger während der Ausarbeitungen der Vorlesungstexte, immer wieder auch in freier Rede während der Vorlesungen, die Augen für die Freilegung der Struktur der Sorge als der Seinsverfassung des Daseins öffnete8. Manche Passagen der Vorlesungen, ja ganze Paragrafen sind an die Studenten gerichtete Reden, die auch, manchmal vor allem als Dialoge mit Husserl gemeint waren. Ein ernsthaftes, philosophisches Ringen mit dessen Phänomenologie kommt uns hier entgegen, dessen textlicher Verdichtungsgrad glücklicherweise etwas niedriger ist als derjenige in Sein und Zeit, so dass 5

GA Bd. 21, S. 36. s. unser Nachwort. 7 Vgl. Walter Biemels Aufsatz von 1950: Husserls Encyclopaedia-Britannica Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 173 ff. 8 „und die Augen hat mir Husserl eingesetzt.“ Zu dieser Metapher Martin Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), GA Bd. 63, Vorwort S. 5. 6

10

Vorwort

wir die Hoffnung haben, ein wenig mehr Licht in die Sache der Wahrheit zu bringen. Wir werden uns auf eine Auswahl der Texte beschränken, in denen Heideggers indirekter Dialog mit Husserl besonders gut sichtbar wird. Sie sind in folgenden Bänden der Gesamtausgabe publiziert: • WS 1923/24, Bd. 17: „Einführung in die phänomenologische Forschung“, von uns Einführungs-Vorlesung genannt, publiziert 1994 • SS 1925, Bd. 20: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“, von uns Zeitbegriff-Vorlesung genannt, publiziert 1979 • WS 1925/26, Bd. 21: „Logik. Die Frage nach der Wahrheit“, von uns Logik-Vorlesung genannt, publiziert 1976 • SS 1927, Bd. 24: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“, von uns Grundprobleme-Vorlesung genannt, publiziert 1975 • SS 1928, Bd. 26: „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“, von uns Leibniz-Vorlesung genannt, publiziert 1978 Die Basis aber ist Sein und Zeit in den Ausgaben von 1927 und 1977 (Tübinger Einzelausgabe und Gesamtausgabe Band 2)9, die uns Heideggers bereits vollzogene Anverwandlung der Intentionalität Husserls bieten. Den Weg dorthin und auch ein wenig vom Nachhall dieser Denkbewegung zeigen uns die Marburger Vorlesungen. In der Zeitbegriff-Vorlesung haben wir versucht, das Organische, ja geradezu Gewächshafte und Gelenkhafte dieser Gedankenbewegungen ein Stück weit nachzuzeichnen. Dadurch dass zwischen unserer Interpretation der angeführten Marburger Vorlesungen (Kap. 4) und dem Sein und Zeit-Teil (Kap. 1–3) mehr als 33 Jahre liegen, gibt es neben dem Vorwort noch eine Einleitung in die Sein und Zeit-Thematik des Wahrseins. Wir haben diese Schrift mit besonderer Absicht im Untertitel eine „Einführung“ genannt, weil wir glauben, dass sie Studierende und natürlich auch jeden interessierten Laien ins Thema hineinbringen kann. Zur schicklichen Stunde des Gesprächs muss aber nicht notwendigerweise die schickliche Stunde des Bücherschreibens gehören. Ob dies hier so war, werden die Leser erfahren. 9

Angesichts von anderthalbtausend Seiten Marburger Vorlesungen, damit sind allerdings alle zehn Vorlesungen gemeint, nicht nur die hier ausgewählten fünf, ist Sein und Zeit „fast nur die Spitze eines Eisbergs“, so Rüdiger Safranski in seinem halb philosophisch, halb journalistischen Werk „Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit“, S. 178.

Vorwort

11

Die Publikation einer Schrift scheint heute mehr denn je ein Problem der technischen Vorbereitung und Umsetzung zu sein. Für seine stets engagierte Unterstützung danke ich Michael Mess. Abkürzungen und Seitenzahlen in Fußnoten: GA bedeutet Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Die Zahlen in den runden Klammern bei den Fußnoten sind die Seitenzahlen der jeweiligen Einzelausgaben. Hu bedeutet Edmund Husserl: Husserliana. Die Logischen Untersuchungen werden zitiert nach der Ausgabe im Felix Meiner Verlag von 2009, die seitengleich mit den Husserliana ist und auch die Paginierung der Ausgaben im Max Niemeyer Verlag enthält. Die Seitenangaben der Niemeyer-Ausgabe (B) erscheinen bei uns in runden Klammern. Zu beachten ist, dass die Seitenzählung mit Beginn des Zweiten Teils, der I. Logischen Untersuchung, wieder bei 1 beginnt. Diese Zäsur hält sich allerdings in allen verfügbaren Ausgaben durch.

Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Erstes Kapitel Die fundamentalontologische Problematisierung der Frage nach der Wahrheit

20

§1

Die Wahrheit in ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen. . . . . . . . . . . . I. Die Eigenart der philosophischen Wesensfrage nach der Wahrheit . . . II. Die außerphilosophischen Erscheinungen der Wahrheit . . . . . . . . . . . . .

20 20 22

§2

Die Notwendigkeit der Seinsfrage nach der Wahrheit aus der Unzulänglichkeit der überlieferten Wahrheitsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Die positive Fundamentalanalyse der Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Wahrsein als Entdeckend-sein des Seienden an ihm selbst . . . . . . II. Heideggers Hinweis auf die VI. Logische Untersuchung. . . . . . . . . . . . .

27 27 29

§3

Zweites Kapitel

§4

Die Bestimmung der Wahrheit im Problemkreis der Logischen Untersuchungen

30

Die Intentionalität des Ausdrucks in seinen Wesensmerkmalen der Kundgabe, der Bedeutung und der Gegenständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der ideale Inhalt als Identität der Spezies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 33

§5

Die subjektiven Erlebnisakte und die reine Gattungsidee der Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§6

Husserls Abwehr nahe liegender Missdeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die intentionale Beziehung auf den Gegenstand und auf die Intention selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die irreführende Rede von der ‚immanenten Gegenständlichkeit‘ . . . . III. Die Beziehung von Ich und Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§7

Der phänomenologische Abweis der Bildertheorie und das bildliche Vorstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die irrtümliche Rede von den ‚Abbildern‘ der äußeren Dinge . . . . . . . II. Die gegenwärtigenden und vergegenwärtigenden Akte im Problemhorizont des bildlichen Vorstellens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 35 35 36 38 38 40 42

14

Inhaltsverzeichnis III. Das bildliche Vorstellen als medialer Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Bildphänomen in der Verschmolzenheit von Bildwelt und Bildweltträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

Die Erfüllungssynthesis als das Wesen der Erkenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die objektivierenden Akte der Identifizierungen und ihre entsprechenden Erfüllungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Erfüllungsweise der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Erfüllungssynthesis in ihrer Veranschaulichung der Gegenständlichkeit und dem Erkenntnisziel der idealen Selbstgegebenheit . . . . . . . IV. Die Erfüllungsstufen der intuitiven Akte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

Die vollkommene Anpassung als die höchste Erfüllungsstufe . . . . . . . . . . . . I. Die in sich gedoppelte vollkommene Anpassung an die Anschauung . . II. Die vollkommene Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 61 63

§ 10 Die Evidenz als das Erlebnis vollkommener Deckungseinheit von Vermeintem und Selbstgegebenem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

§8

§9

§ 11 Das Phänomen Wahrheit in der Vierfaltigkeit seiner Erscheinung . . . . . . . . I. Hinführung zur Wahrheitsanalyse des § 39 der VI. Logischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Gegenständlichkeit und die Idealität der Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . III. Die Fülle der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Richtigkeit der Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12 Nachbesinnung auf Husserls Phänomenologie der Wahrheit in den Logischen Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die besondere Stellung der Wahrheitsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der ‚Standpunkt‘ als phänomenologische Sehweise auf das Phänomen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Einheit der vier Wesensmomente der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13 Das Sein im Sinne der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Wahrsein als korrelatives Verhältnis des wahren Aktes und des seinsmäßigen Gegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Sein des Wahrseins und das Sein der Kopula . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

51 54 55 57

68 68 69 73 75 78 78 80 82 85 85 87

Drittes Kapitel Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung auf dem Boden der ontologischen Daseinsanalytik

90

§ 14 Die erneute Problematisierung des Phänomens der Wahrheit bei Husserl und Heidegger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

§ 15 Die Bedeutung von Bewusstsein und Dasein bei der Auslegung des Wahrseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

Inhaltsverzeichnis

15

§ 16 Das Begründungsverhältnis von vollkommener Adäquation und dem Entdeckend-sein des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

§ 17 Das doppelte Übersehen des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

§ 18 Das selbsthafte Wahrnehmungsbewusstsein und das Man-selbst in der Verfassung des In-der-Welt-seins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

§ 19 Das Wahrsein in der Erschlossenheit des Daseins und das Entdeckendsein des Sein-bei im Strukturganzen der Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 § 20 Heideggers kritische Rezeption verstanden als kritische Annahme und als Abstoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Exkurs: Tugendhats Schrift „Der Wahrheitsbegriff bei Heidegger und Husserl“ 117

Viertes Kapitel Die Marburger Vorlesungen § 21 Vorlesung: „Einführung in die phänomenologische Forschung“ . . . . . . . . . . I. Die neue Grundtendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das brüchige Siegel in der Tautologie der erkannten Erkenntnis . . . . . III. Das mathematische Konzept von Intentionalität und Evidenz . . . . . . . .

120 120 120 121 124

§ 22 Vorlesung: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“ . . . . . . . . . . . . . . 125 I. Der sorgsame Umgang mit der Intentionalität als Stärkung des Gegners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 II. Drei Stücke und zwei Gelenke der Gedanken auf dem Weg zur Gewinnung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 § 23 Vorlesung: „Logik. Die Frage nach der Wahrheit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Psychologismuskritik als Vorstufe einer Frage nach der Wahrheit II. Die Urteilswahrheit in Lotzes Geltungslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der phänomenologische Vorrang der Anschauungswahrheit. . . . . . . . . .

133 134 136 139

§ 24 Vorlesung: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die vierte These: Von der Logik zum Grundproblem Wahrheit . . . . . . II. Die Erschlossenheit als letzter Sinn und Grund der Wahrheit . . . . . . . . III. Die Fundierung des Intentionalen im Entdeckend-sein einer Entdecktheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Heideggers Verwendung des Begriffs Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die schrittweise Anverwandlung der Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . .

141 142 144 145 146 150

§ 25 Vorlesung: „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 I. Abweis von sophistischen Ansprüchen der Logik und radikaler Ansatz beim Sein-bei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 II. Fundierung von Intentionalität und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

16

Inhaltsverzeichnis Exkurs

Der Kommentar zu Sein und Zeit, § 44 Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit 159 I. Dasein als Inaugenscheinnahme eines ontologischen Reliefs . . . . . . . . . . . . 159 II. Der lebendige Hintergrund der Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Bemerkung zu Sloterdijks Die Lunte der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Anhang: Blick in die Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Sach- und Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Einleitung Heideggers kritische Rezeption der Logischen Untersuchungen im Problemaufriss Die Zusammenstellung der Wahrheitsanalysen im Horizont von Bewusstsein und Dasein hat die Aufgabe, ein bestimmtes Problem vor Augen zu führen. Probleme sind dem fragenden Denken aber nicht vorgesetzt. Sie sind nicht von sich her vorgegeben und bieten sich nicht so an, dass der Fragende nur ‚zuzugreifen‘ brauchte. Vielmehr entstehen sie allererst im Vollzug des fragenden Denkens. Dieser Überlegung Rechnung tragend soll die Einleitung der Arbeit nichts anderes leisten als das Problem des Wahrseins in der Auslegung der Logischen Untersuchungen, in Sein und Zeit und inhaltlich angegliederten Marburger Vorlesungen formal anzuzeigen. Die Leitung der Fragestellung entnehmen wir einer Anmerkung, die Heidegger im Zuge der phänomenologischen Bestimmung der „Ausweisung“ innerhalb der Wahrheitsanalyse in Sein und Zeit gibt: „Zur Idee der Ausweisung als ‚Identifizierung‘ vgl. Husserl, Log. Unters.2 Bd. II, 2. Teil, VI. Untersuchung. Über „Evidenz und Wahrheit“ ebd. §§ 36–39, S. 115 ff.“1 Diese Arbeit soll der Versuch sein, den ‚Wink‘, den Heidegger hier gibt, zu sehen und ihm womöglich ein Stück Weges nachzugehen. Wir sehen in diesem Wink den Hinweis auf Heideggers kritische Rezeption der Husserlschen Wahrheitsauslegung in den Logischen Untersuchungen. Im Zusammenhang damit erwächst die Frage nach dem Wahrsein im Problemhorizont von Bewusstsein und Dasein. Die kritische Rezeption Heideggers, die von der Frage nach dem Wahrsein des Daseins geleitet ist und darüber hinaus dem Anspruch der Zentralfrage nach dem Sein untersteht, bedarf einer Vorverständigung. ‚Kritische Rezeption‘ – meint dieser allgemeine Ausdruck nicht die, wenn auch kritische Übernahme eines Vorgegebenen, etwa eines vorgegebenen Textes? Die kritische Rezeption eines Textes wäre dann etwa zu sehen in einer Neuanordnung seiner Teile, einer Verbesserung von inhalt1

GA Bd. 2, S. 289 (218).

18

Einleitung

lichen Fehlern, einer Sichtung und Umarbeitung des vorgegebenen Textmaterials im weiten Sinne. Als ‚kritische Rezeption‘ kann aber auch ein epigonales Nachschaffen bezeichnet werden, das sich die Werke eines großen Denkers vorhält und ihm im Geist dieser Werke nacheifert. Alle Erwartungen, die Heideggers Aufnahme der Logischen Untersuchungen in diesem Sinne verstehen wollen, gehen fehl. Die kritische Rezeption Heideggers ist ein Denkvorgang, der sich durch zwei Vollzugsweisen zugleich bestimmt: Sie ist einmal ein Aufnehmen dessen, was Husserl in den Logischen Untersuchungen erarbeitet hatte. Zugleich ist sie aber die kritisch ontologische Verwandlung oder Anverwandlung des Aufgenommenen. Das kann nun nicht bedeuten, dass die in Sein und Zeit gedachte Frage nach dem Sinn von Sein, die zugleich die Frage nach dem Wahrsein ist, auf eine kritische Rezeption der Logischen Untersuchungen zurückzuführen sei, dass Husserls Logische Untersuchungen die Seinsfrage sozusagen ‚geweckt‘ hätten. Offenbar stellt Husserl die Seinsfrage überhaupt nicht.2 ‚Kritische Rezeption‘ heißt aber auch nicht, dass Heidegger bei einer von Husserl unterschiedenen Problemstellung im Kreise der Husserlschen Bewusstseinsanalysen verbleibt. Die von Husserl in den ersten fünf Logischen Untersuchungen thematisierten „Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis“, zusammen mit der VI. Logischen Untersuchung „Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis“, können nicht als Quelle für die in Sein und Zeit gedachte Fundamentalanalyse des Daseins im Horizont der Zeitlichkeit gelten. Spezieller gefasst: Die ontologisch existenziale Analyse des Wahrseins ist keine kritische Umwandlung, keine Konkretisierung der Husserlschen Wahrheitsanalyse auf dem Boden der Phänomenologie der Bewusstseinsakte. Wenn nun die ontologisch existenziale Analyse des Wahrseins weder hinsichtlich ihres thematischen Ausgangs noch hinsichtlich ihres positiven Wahrheitsaufweises in der bewusstseinsphänomenologischen Bestimmung des Wahrseins wurzelt und dort, wenn auch ‚kritisch‘ verwandelt, aufgefunden werden kann, und wenn die Seinsfrage Heideggers sich von Husserls erkenntnistheoretischer Frage nach der phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis grundlegend unterscheidet, mit welcher Berechtigung kann man dann überhaupt von Heideggers ‚kritischer Rezeption‘ sprechen? Im Vorausblick auf die nachfolgende Untersuchung sei gesagt, dass wir seine kritische Rezeption gerade im denkenden Abstoß, im Schritt „vorwärts“3, weg von Husserl sehen, uns dabei jedoch vorbehalten, auf wichtige 2 In welcher Weise er sie nicht stellt, dazu vgl. Seminar in Zähringen 1973, GA Bd. 15, S. 373 (110). 3 GA Bd. 2, S. 52 (38).

Einleitung

19

formale Entsprechungen und auf ontologisch verwandelte Rezeptionen der Logischen Untersuchungen hinzuweisen. Im Hinblick auf dieses Ziel bestimmt sich die Gliederung der Kapitel 1–3. Erstes Kapitel. Die fundamentalontologische Problematisierung der Frage nach der Wahrheit Zweites Kapitel. Die Bestimmung der Wahrheit im Problemkreis der Logischen Untersuchungen Drittes Kapitel. Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung auf dem Boden der ontologischen Daseinsanalytik

Erstes Kapitel

Die fundamentalontologische Problematisierung der Frage nach der Wahrheit § 1 Die Wahrheit in ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen Das Phänomen Wahrheit hat von altersher ein philosophisches Fragen in Bewegung gehalten. Immer schon gehörte es zu den Hauptbemühungen philosophischer Forschung, dem Wesen der Wahrheit nachzudenken. Jede philosophische Lehre beansprucht für ihr Denksystem die Absicherung durch Wahrheit. Diese Tatsache kann zu der Vermutung verleiten, dass die Philosophie ein Besitzrecht auf die Wahrheit ‚gepachtet‘ hätte, und man die Wahrheit, wenn überhaupt irgendwo, dann im Forschungsgebiet der Philosophie zu suchen hätte. Dies ist nicht so. Vielmehr zeigt sich das Phänomen Wahrheit in verschiedenen, auch außerphilosophischen Erscheinungsweisen. Zunächst und zuerst begegnet uns die Wahrheit als eine vorphilosophische und außerwissenschaftliche im Umgang mit den Dingen unseres alltäglichen Lebens. Wir begegnen ihr in Gestalt der Urteile und Entscheidungen, im Zustimmen, Ablehnen usw. Dabei zeigt sich uns die Wahrheit entweder ‚direkt‘ (sie springt gleichsam ins Auge) oder bloß vermeint. Der bloß vermeinten Wahrheit gehen wir nach, um ihren Anspruch zu überprüfen. In einer anderen Weise begegnet uns die wissenschaftliche Wahrheit. Die Wahrheit der wissenschaftlichen Forschung, in den vielfachen Gestalten der Einzelwissenschaften, besteht in der Beschreibung und Erklärung der vorkommenden Naturdinge im weitesten Sinne. Die Frage aber nach dem, was die Wahrheit denn selbst sei, gehört in die eigene Dimension der philosophischen Fragestellung. I. Die Eigenart der philosophischen Wesensfrage nach der Wahrheit Die philosophische Frage nach der Wahrheit ist nicht an Seiendes von der Art vorfindlicher Naturdinge oder wahrer Sachverhalte verwiesen, sondern ist direkt an die Wahrheit selbst gehalten, insofern sie nach dem eigensten Wesen der Wahrheit fragt. Dies kann nicht bedeuten, dass sie im-

§ 1 Die Wahrheit in ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen

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mer schon, da sie ja im eigenen Feld der Wahrheit stehen soll, das Wesen der Wahrheit auch erkannt hätte. Vielmehr ist damit nur gesagt, dass die spezifisch philosophische Fragestellung die Wahrheit in dem Bereich suchen soll, in dem sie sie finden kann: bei der Wahrheit selbst und nicht im Feld der wahren Sachverhalte, die die Naturdinge betreffen. Wenn die philosophische Fragestellung an die Wahrheit selbst verwiesen ist, so ist damit zunächst nur ihre Aufgabe gekennzeichnet und nicht schon zugestanden, dass das ihr Nächste auch ihr Vertrautestes und Bekanntestes wäre. Denn welche Bewegung sollte die Philosophie dann noch in Gang halten, wenn sie das ihr Eigenste, das Wesen der Wahrheit, bereits gefasst und ‚im Griff‘ hätte? Kann denn mit Sicherheit gesagt werden, dass die Philosophie die Frage nach der Wahrheit schon gedacht hat, ja dass sie auch nur in ihre Nähe vorgedrungen ist? Es wird klar, dass die Philosophie, sofern sie nach dem Wesen der Wahrheit fragt, einen Denkweg einschlagen muss, der sich bereits im Ausgang und in der Richtung von anderen Wegen, welche die Wahrheit des Seienden erforschen, in grundsätzlicher Weise unterscheidet. Ist aber die Philosophie, so könnte man fragen, mit diesem, ihr eigentümlichen Denkweg nicht ein zweifelhaftes Unterfangen? Was soll uns eine Wissenschaft, deren Denkweg ein unablässiges Fragen ist? Ist sie nicht ein äußerst unsicheres ‚Geschäft ohne Gewinn‘? Jemand, dessen Denken ein Fragen ist, scheint uns kein ‚interessanter‘ Gesprächspartner zu sein. Uns interessieren vielmehr die Ergebnisse des Fragens, von denen wir hoffen, dass sie in exakten, verwertbaren Antworten bestehen, in greifbaren Resultaten, die man ‚herzeigen‘ kann, mit denen sich rechnen lässt. Viel interessanter als die immer erneut gestellte Frage nach dem Wesen der Wahrheit, von der wir gar nicht wissen, wohin sie sich letztlich ‚verläuft‘, ist uns doch gewöhnlich eine ganz andere Frage: Was können wir mit diesem Denkgeschehen, das sich als Fragen nach dem Wesen der Wahrheit zeigt, praktisch anfangen? In welcher Weise können wir es bei unseren täglichen Besorgungen und Geschäften einsetzen? Welcher faktische Gewinn lässt sich aus dieser angeblich wichtigen Frage ziehen, wie können wir mit ihr kalkulieren? Welcher Planung kann sie nützlich sein? All diese Erwartungen wird die Philosophie durchwegs enttäuschen. Sie hat es, insbesondere als Frage nach der Wahrheit, niemals auf praktischen Gewinn abgesehen. Ihr Anspruch ist ein vergleichsweise größerer. Dies zeigt sich exemplarisch im Denkweg Martin Heideggers. Das denkende Fragen verlässt die eingefahrenen Bahnen des Allbekannten und genau Gewussten, die Bahnen des Kalkulierens, Planens, Untersuchens. Das nachsinnende Denken wendet sich gerade ab vom Denken, das Heidegger in seinem Meßkircher Vortrag über die „Gelassenheit“ „das rechnende

22 1. Kap.: Fundamentalontologische Problematisierung der Frage nach Wahrheit

Denken“1 genannt hat. Vielmehr vertraut es sich einem Weg an, der alle Gewohnheiten des tagtäglichen Denkens gleichsam durch einen Sprung hinter sich zurücklässt. Für die radikalisierte, philosophische Fragestellung nach dem Wesen der Wahrheit ist unser berechnendes Denken, das auf den Gewinn einer solchen Fragestellung abzielt, ohne jede Bedeutung. Dies kann nun nicht heißen, dass wir den Wahrheiten des rechnenden Denkens abschwören sollen und in ihnen eine niedrige Vorstufe zur philosophischen Frage nach der Wahrheit sehen müssten. So als kämen wir um die technischen Wirklichkeiten und Notwendigkeiten, deren wir uns laufend bedienen, herum. Im Folgenden, bei der näheren Kennzeichnung der vor- und außerphilosophischen Wahrheiten, wird sich unter anderem auch deren unbezweifelbare Berechtigung zeigen. II. Die außerphilosophischen Erscheinungen der Wahrheit Unser Verstehen der Wahrheit ist gewöhnlich ein alltägliches in der allgemein gebräuchlichen Rede. Dort zeigt sie sich als dasjenige alltägliche Phänomen, zu dem wir uns urteilend, verstehend, suchend verhalten. In unserem Alltag befinden wir uns im ständigen Verhältnis zur Wahrheit und Unwahrheit von etwas. Laufend sind wir dabei, irgendwelche Dinge oder Sachverhalte für wahr oder falsch zu halten; wir bemühen uns, um keiner Täuschung zu erliegen, die Dinge ‚so zu sehen, wie sie sind‘. Dabei glauben wir, eine philosophische Frage nach der Wahrheit brauche nicht erst in Gang gebracht zu werden. Die Wahrheit als dasjenige, was etwas wirklich ist, gilt uns als Selbstverständlichkeit. Diese unsere alltägliche Wahrheit, die sich von selbst versteht, stellt kein Problem dar, denn Selbstverständliches, so meinen wir, ist unproblematisch, der Frage nicht würdig. Dieses gemeinhinnige Verständnis der Wahrheit, das unser Leben hauptsächlich bestimmt, lässt sich als das vor- und außerwissenschaftliche Wahrheitsverständnis charakterisieren, als ein solches Verständnis der Wahrheit also, das der wissenschaftlichen und philosophisch reflexiven Untersuchung der Wahrheit zuvorläuft. Die Erforschung der Wahrheit im Sinne der Wissenschaften bedarf eigener Methoden und Erkenntnisregeln. Ihre Forschungsarbeit richtet sich auf die Erkenntnis wahrer, bzw. falscher Sachverhalte. Ein Sachverhalt zum Beispiel, der einen Anspruch auf Wahrheit erhebt, wird mit den der jeweiligen Wissenschaft eigenen Erkenntnismethoden überprüft. Der methodische Gegenstand ist das in der Natur vorkommende Seiende im weiten Sinne. So untersucht die Allgemeine Biologie mit den ihr eigenen naturwissenschaftlichen Methoden alles lebendig Seiende und beschreibt die Gesetzmäßigkei1

GA Bd. 16, S. 519 (14 f.).

§ 2 Die Notwendigkeit der Seinsfrage nach der Wahrheit

23

ten der vorkommenden organischen Dinge, so etwa die Wachstumsbedingungen bei Pflanzen, die Vererbungsgesetze des Menschen, den Stoffwechsel der Tiere usw. Ganz anderer Methoden der Wahrheitserforschung bedient sich das Verhandeln in der Rechtsprechung. Auf der Suche nach dem wahren Tatbestand werden Recherchen und Befragungen angestellt. Man will wissen, wie sich eine bestimmte Sache in Wahrheit verhält. Wahrscheinliches und nur Geglaubtes wird dabei von Wahrem und streng Erwiesenem getrennt. Angeklagte werden aufgefordert, die Wahrheit zu sagen. Die wahre Aussage nehmen sie auf ihren Eid. Das gefällte Urteil soll dem wahren Tatbestand entsprechen. Das Wesen der Wahrheit, also dasjenige, was die Wahrheit erst zur Wahrheit macht, bleibt dabei ausgeklammert. Dagegen ist es der Anspruch der Philosophie, das wesenhafte Wahre zu ihrem eigenen Anliegen und Thema zu machen.

§ 2 Die Notwendigkeit der Seinsfrage nach der Wahrheit aus der Unzulänglichkeit der überlieferten Wahrheitsbestimmung Heidegger hat in seiner Schrift Sein und Zeit den traditionellen Wahrheitsbegriff, den die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte immer wieder thematisiert hat, einer radikalen Prüfung unterzogen und gefragt, ob er zu Recht diesen Anspruch erhebt, das Wesen der Wahrheit erfasst zu haben. Die Auseinandersetzung mit diesem Begriff hat ihren systematischen Ort innerhalb des § 44, der zugleich mit dem Abweis des traditionellen Wahrheitsbegriffs dessen ontologische Fundamente zeigt und innerhalb einer positiven Fundamentalanalyse der Wahrheit steht. Die überlieferte Bestimmung des Wesens der Wahrheit gibt Heidegger zu Beginn seiner Analyse in § 44 a in Form von drei Thesen wieder: „1. Der ‚Ort‘ der Wahrheit ist die Aussage (das Urteil). 2. Das Wesen der Wahrheit liegt in der ‚Übereinstimmung‘ des Urteils mit seinem Gegenstand. 3. Aristoteles, der Vater der Logik, hat sowohl die Wahrheit dem Urteil als ihrem ursprünglichen Ort zugewiesen, er hat auch die Definition der Wahrheit als ‚Übereinstimmung‘ in Gang gebracht.“2 Dies sind die charakteristischen Bestimmungen, die seit der Aristotelischen Definition in „de interpretatione“ (1, 16 a 6) allem Denken über das Wesen der Wahrheit untergelegt werden. Die Aristotelesstelle übersetzt Heidegger mit: „die ‚Erlebnisse‘ der Seele, die noh·mata (‚Vorstellungen‘), sind Angleichungen an die Dinge.“3 2

GA Bd. 2, S. 284 (214).

24 1. Kap.: Fundamentalontologische Problematisierung der Frage nach Wahrheit

Mit Vorstellungen, Noh·mata, ist hier ein Doppeltes gemeint: Einmal nennt es den aktiven Vollzug des Vorstellens, eine Handlung, die sich auf die Dinge richtet, und dann meint das Vorstellen zugleich das in der Vorstellung Vorgestellte. Es lässt sich im Sinne der traditionellen Definition der Wahrheit dreierlei voneinander abheben: 1. eine bewusstseinsimmanente Erkenntniseinheit, das Vorgestellte. 2. das subjektive Vorstellen oder Urteilen als ein psychischer Vorgang. 3. der bewusstseinstranszendente Gegenstand, auf den sich die Vorstellung letztlich richtet und dessen Bild das Vorgestellte sein soll. Die Wahrheit besteht nun in der Angleichung des in der Psyche vorgestellten Gegenstandes an den Gegenstand, der außerhalb des Bewusstseins liegt. Diese Definition der Wahrheit hält sich in der Geschichte der Philosophie von Aristoteles über Thomas von Aquin bis hin zu Kant durch und bleibt die selbstverständliche Voraussetzung aller Fragen nach der Wahrheit. So vertritt die Schule der Neukantianer in ihrer Marburger Richtung unter Berufung auf Kant nur scheinbar einen entgegengesetzten Standpunkt, wenn sie die Theorie der Adaequatio dem „Naiven Realismus“ zuweist. Scheinbar entgegengesetzt ist diese Denkposition deshalb, weil Kant selbst schon die Theorie der Wahrheit als Übereinstimmung voraussetzt, denn nicht die Frage nach der Wahrheit als Frage nach der Übereinstimmungsbeziehung sei diejenige Frage, die „man vernünftigerweise fragen solle.“4 Dass die Wahrheit in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand bestehe, sei „hier geschenkt, und vorausgesetzt“.5 Die Frage stehe vielmehr nach dem Kriterium einer wahren Erkenntnis. Für die Erkenntnis der Materie nach „lässt sich kein allgemeines Kennzeichen verlangen“;6 wohl aber für die wahre Erkenntnis ihrer Form nach, „nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft“7 als einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung. Der Auffassung des Naiven Realismus nach richtet sich in der Übereinstimmung die Erkenntnis nach dem Gegenstand. Kant dagegen, aus der Position der „Kopernikanischen Wende“, hat diese Auffassung umgekehrt und gezeigt, dass die Gegenstände hinsichtlich ihrer reinen Gegenständlichkeit durch die reinen Vorstellungen ermöglicht werden und nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: Die Gegenstände gleichen sich den Vorstellungen an und nicht, wie man bisher glaubte, die Vorstellungen den Gegenständen. Der wesentliche transzendentalphilosophische Wandel ist also 3 4 5 6 7

Ebd. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 82, S. 100. Ebd. A. a. O., B 83, S. 101. A. a. O., B 84, S. 101.

§ 2 Die Notwendigkeit der Seinsfrage nach der Wahrheit

25

ein Wandel (was die Frage nach der Wahrheit betrifft), der sich innerhalb der als geschenkt vorausgesetzten Übereinstimmungsbeziehung zwischen Gegenstand und Erkenntnis vollzieht.8 Ähnlich reserviert ist die Position der Marburger Schule den Logischen Untersuchungen gegenüber. Paul Natorp bespricht nur den ersten Band, fühlte sich aber geistig wenig bereichert.9 Das mag ein wenig an Husserls zweideutiger Verwendung von Begriffen gelegen haben. Zum einen ist seine Beurteilung des Psychologismus eine durchaus kritische, zum anderen aber wundert man sich über seine Rede, die zuweilen dem alten Denkschema anheim fällt. Ähnliches werden wir bei seiner Betrachtung der Bildertheorie beobachten. Diese mangelhafte Eindeutigkeit in der Nomenklatur, vielleicht war es auch ein zeitweiliges Schwanken in der Sache, trug mit dazu bei, dass die Neukantianer in ihrer Marburger Provenienz stets auch mit der Intentionalität haderten, die ihnen „den Zugang zur Phänomenologie verbaute“.10 Heidegger fragt in § 44 in Absetzung gegen die geschenkte Übereinstimmungsbeziehung nach ihrem seinsmäßigen Fundament, nach dem, was in ihr „unausdrücklich mitgesetzt“11 ist. Die Frage nach dem Sinn dieser Übereinstimmungsbeziehung ist von der traditionellen Philosophie nur unklar beantwortet worden. So lässt sich ‚Übereinstimmung‘ nicht durch ‚Beziehung‘ ersetzen. Beide Ausdrücke meinen Unterschiedliches. Was in einer Beziehung zueinander steht, muss nicht schon miteinander übereinstimmen. Offenbar hilft auch die Erklärung der Übereinstimmung als gleichbedeutend mit ‚convenientia‘, ‚Übereinkunft‘ nicht weiter. Denn Übereinstimmung und Übereinkunft sind nicht einerlei. Die Übereinkunft ist eine Übereinstimmung mit Hinsicht auf etwas. So kommen etwa zwei Vertragspartner überein in Hinsicht auf ihren gemeinsamen Vertrag. Aber wer wollte behaupten, dass sie übereinstimmten? In der gleichen Weise unbefriedigend, was die seinsmäßige Bestimmung der Wahrheit als Übereinstimmung betrifft, bleiben die Richtungen der Erkenntnistheorie und Logik des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Vertreter der Logik in der 2. Hälfte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts teilen 8 Wir sind uns darüber im Klaren, dass diese Darstellung den komplexen Sachverhalt des Kantischen Wahrheitsbegriffs nicht in Ansätzen gibt. Uns geht es aber im ersten Kapitel der Arbeit nur darum, die Frage nach der Wahrheit allererst zu problematisieren und dabei, wenn auch in groben Zügen, dem Gedankengang Heideggers nachzukommen. Die ausdrückliche und auch genauere Auseinandersetzung mit der Wahrheitsanalyse soll erst im zweiten und im dritten Kapitel der Arbeit geleistet werden. 9 Martin Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA Bd. 20, § 4, S. 31. 10 A. a. O., § 4, S. 36. 11 GA Bd. 2, S. 285 (215).

26 1. Kap.: Fundamentalontologische Problematisierung der Frage nach Wahrheit

sich, ihrer unterschiedlichen Denkposition gemäß, in zwei Lager. Beiden Richtungen geht es um die sichere und klare Begründung der Logik. Die Vertreter des Psychologismus, unter ihnen John Stewart Mill, glaubten, die Fundamente der Logik in der psychologischen Wissenschaft sehen zu müssen, während die andere Richtung mit ihrem bedeutendsten Vertreter Edmund Husserl umgekehrt die Psychologie erst in einer reinen Logik als einer Wissenschaftslehre12 begründet sahen. Den Vertretern der Logik in ihrer psychologistischen Bestimmung gilt der reale psychische Urteilsvorgang als wahr. Dem entgegen unterscheiden die Vertreter der reinen Logik das reale Sein des Urteilsvollzugs vom idealen Sein. Husserl sagt, der Bewusstseinsinhalt „ist nichts weniger als das, was die Psychologie unter Inhalt meint, nämlich irgendein realer Teil oder eine Seite eines Erlebnisses“13, also kein realer psychischer Inhalt, sondern ein Inhalt in idealem Sinn. „. . . verstehen wir eine Aussage . . ., so ist das, was der eine oder andere Ausdruck besagt . . . nichts, was im realen Sinn als Teil des betreffenden Verständnisaktes gelten könnte.“14 Vielmehr ist das, was der Ausdruck besagt, sein vom psychisch realen Akt unabhängiger, idealer Inhalt. Der Begriff ‚idealer Gehalt‘ ist Husserls Bezeichnung für den Gehalt am Urteil etwa, der unabhängig von der psychischen Erfahrung und der Mannigfaltigkeit der zeitlich unterschiedenen Erkenntniserlebnisse gilt. Dem Urteilsinhalt wird ideales Sein zugesprochen, dem Urteilsvollzug reales Sein. Doch von welcher Seinsart ist die Übereinstimmungsbeziehung?15 Ja, es muss sogar bezweifelt werden, dass die Trennung von idealem Urteilsgehalt und realem Urteilen eine Berechtigung hat. Vielmehr scheint die Position des Psychologismus gerechtfertigt, der diese Trennung ablehnt. Dies bedeutet jedoch keine Annäherung Heideggers an die Denkrichtung des Psychologismus. Denn er hat „die Seinsart des Denkens des Gedachten ontologisch weder aufgeklärt noch auch nur [kennt] er sie als Problem“.16 Es zeigt sich also, dass die Seinsart der Übereinstimmung und damit die Seinsart der Wahrheit ungedacht bleiben. Dass aber eine fundamentalontologische Analyse das Wesen der Wahrheit in angemessenerer Weise fassen kann, war bisher nichts als eine Behauptung. Die Unzulänglichkeit der traditionellen Wahrheitsdefinition haben wir kennen gelernt; aber warum eine ontologische Analyse das Wesen der Wahrheit aufklären kann, blieb noch dunkel. Die Loslösung der ontologischen Fragestellung von der Erkenntnistheorie und Logik, ja von der gesamten philosophischen Tradition kann als Befrei12 Logische Untersuchungen, Prolegomena zur reinen Logik, § 5, S. 27 ff. (12 ff.). 13 I. Logische Untersuchung, § 30, S. 102 (97). 14 A. a. O., S. 102 f. (97). 15 GA Bd. 2, S. 286 ff. (216 f.). 16 A. a. O., S. 287 (217).

§ 3 Die positive Fundamentalanalyse der Wahrheit

27

ung erfahren werden. Die Grenzen der überlieferten abendländischen Metaphysik erlauben in der notwendigen Eingeschränktheit ihrer Frage nach dem Seiendsein des Seienden keine hinreichende und ursprüngliche Erfassung der Seinsart der Wahrheit. Während die Erkenntnistheorie nach dem Vermögen der menschlichen Erkenntnis, dem Vorgang des Erkennens und nach dem im Erkennen erkannten Gegenstand fragt, bewegt sich die ontologische Fragestellung von vornherein im weiteren und ursprünglicheren Horizont der Frage nach dem Sein. Hier wird also nicht der Versuch unternommen, die traditionellen Wahrheitsbestimmungen durch andere und neue einfach zu ersetzen. Heidegger fragt vielmehr ontologisch nach der Berechtigung der überlieferten Wahrheitstheorie. Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit fällt mit der Frage nach ihrer Seinsart zusammen.

§ 3 Die positive Fundamentalanalyse der Wahrheit I. Das Wahrsein als Entdeckend-sein des Seienden an ihm selbst Im weiteren Verlauf der Wahrheitsanalyse17 zeigt Heidegger die positiven Fundamente des traditionellen Wahrheitsbegriffs und der Wahrheit überhaupt. Die positive Fundamentalanalyse der Wahrheit beginnt mit einer Aufklärung der Aussagewahrheit. Die Aussage: „Das Bild an der Wand hängt schief“18 ist zunächst, wenn sie mit dem Rücken zum Bild gemacht wird, keine wahre Aussage, sondern eine solche, die nur ‚vorgibt‘, wahr zu sein. Zu ihrer Bewährung oder Bewahrheitung bedarf es einer Erkenntnis, die nicht wie die erste das Wahrsein nur behauptet, sondern diese Behauptung ausweist, indem sie das Bild als tatsächlich schief hängend sinnlich ‚ansieht‘.19 Es handelt sich bei der Ausweisung der Aussagewahrheit also nicht um die Übereinstimmung eines immanenten Urteilsvollzugs und eines idealen Inhalts. Das Erkannte ist auch nicht ein bewusstseinsimmanenter Gegenstand, der einen bewusstseinstranszendenten Gegenstand in der Weise eines Abbildes ‚widerspiegelt‘. Das Erkannte ist vielmehr das Seiende selbst. Erkannt ist nicht das schief hängende Bild als ein im Bewusstsein abgebildetes, sondern das Bild an der Wand selbst. Jede Abbildtheorie, der zufolge der äußere Gegenstand im Bewusstsein noch einmal abgebildet ist, wird dem phänomenalen Tatbestand des Erkenntnisvollzugs nicht gerecht. Das Verhältnis der Aussage zum seienden Ding ist ein direktes Seinsverhältnis des Daseins ohne eine ihm fremde Einschiebung. Dies gilt für die bloß ver17 18 19

A. a. O., S. 287 ff. (217 ff.). A. a. O., S. 288 (217). s. auch § 20 dieser Arbeit.

28 1. Kap.: Fundamentalontologische Problematisierung der Frage nach Wahrheit

meinte wahre Aussage und in der gleichen Weise für die ausgewiesene, wahre Aussage, denn beide meinen ein und dasselbe Bild an der Wand. Dieses das Bild meinende Verhalten hat den Seinscharakter des Entdeckens. Das Dasein verhält sich zum Seienden in der Weise des Entdeckens. Das Seiende wird im Vorgang des Entdeckens sichtbar gemacht, zum Vorschein gebracht, so aufgezeigt, wie es an ihm selbst ist. Wird die als wahr prätendierte Aussage am seienden Ding selbst ausgewiesen, so heißt das nichts anderes als: Das Bild an der Wand wird so entdeckt, wie es an ihm selbst ist. Das Seiende wird so wie es selbst ist entdeckt, es zeigt sich in seiner Selbigkeit. Im entdeckenden Verhalten zum Seienden bewährt sich die wahre Aussage. Bewährung bedeutet „sich zeigen des Seienden in Selbigkeit.“20 Gegenstand der Bewährung ist keine immanente Gegenständlichkeit, sondern das Seiende selbst in seiner Entdecktheit. „Zur Ausweisung steht einzig das Entdeckt-sein des Seienden selbst, es im Wie seiner Entdecktheit.“21 Im Begriff Entdecktheit fasst Heidegger die ursprüngliche Gegebenheitsweise dessen, was für das Dasein zur Bewahrheitung je schon aufgedeckt ist. Das Entdeckend-sein einer Entdecktheit ist keine Seinsverhaltung des Daseins, die wesensmäßig Verhülltes oder Verdecktes entdeckt; im ‚aktuellen‘ Vollzug des Entdeckens wird vielmehr solches Seiendes22 zum Vorschein gebracht, das dem Dasein in der Weise der Vorentdecktheit gegeben ist. Zur Bewährung steht dem Dasein die Entdecktheit einer Verweisungsganzheit, die ihrerseits wiederum in der Erschlossenheit des Daseins gründet. Der ursprüngliche Charakter dieser Vollzugsweise des entdeckenden Daseins als das Aufdecken dessen, was wesensmäßig nicht verdeckt, sondern aufgedeckt ist, verweist uns auf eine der Haupt- und Grundphänomene der Heideggerschen Philosophie, auf die Erschlossenheit. Erst im grundsätzlichen Zusammenhang mit dem Phänomen Erschlossenheit kann das Entdeckend-sein einer Entdecktheit angemessen verstanden werden. Das heißt zugleich, dass das Entdeckend-sein und die Erschlossenheit im Gesamtzusammenhang der ontologisch-existenzialen Analyse gesehen werden müssen. Obwohl Heidegger zunächst in scheinbarer Unabhängigkeit von der Gesamtthematik in Sein und Zeit das Phänomen ‚Wahrsein‘ analysiert, darf dies nicht zur Annahme verleiten, das Wahrsein müsse gleichsam herausgelöst aus dem Gesamtrahmen der fundamentalontologischen Problematik verstanden werden. Die ‚Isolierung‘ der Wahrheitsfrage im Gefüge der ontologischen Analytik gilt allein ihrem methodischen Neuansatz. 20

A. a. O., S. 289 (218). Ebd. 22 Genauer hieße es wohl: Seiendes wird in seinem Sein entdeckt. Wenn wir hier vorwiegend den Ausdruck ‚Seiendes‘ gebrauchen, so geschieht das in formaler Parallele zum Ausdruck ‚reales Ding an der Wand‘. Zur ontologischen Differenz vgl. § 17 dieser Arbeit. 21

§ 3 Die positive Fundamentalanalyse der Wahrheit

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Die Erschlossenheit ist die Grundverfassung des Daseins, die die Entdecktheit des innerweltlichen Seienden begründet. Das zu entdeckende Seiende hat von sich her nicht den Charakter der Entdecktheit. Die Entdecktheit gründet nicht im Seienden selbst, sondern in der Erschlossenheit des Daseins. Die Erschlossenheit und gleichursprünglich die Entdecktheit, in denen das Dasein existiert, sind für es in seiner Existenz aufgeschlossen. Mit der Erschlossenheit, die ihrerseits die Entdecktheit begründet, ist „das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit erreicht.“23

II. Heideggers Hinweis auf die VI. Logische Untersuchung Gegen Ende der ontologisch-existenzialen Analyse des Entdeckend-seins der Entdecktheit24 gibt Heidegger den für unsere Erörterung wichtigen Hinweis auf die VI. Logische Untersuchung Husserls. Hier wird der Leser sozusagen aufgefordert, zum Vergleich dessen, was Heidegger innerhalb der Wahrheitsanalyse als Ausweisung des Seienden in Selbigkeit gekennzeichnet hatte, eine entsprechende Passage in Husserls Logischen Untersuchungen heranzuziehen. Bedeutet dies, dass das im Phänomen der Ausweisung Gedachte bereits in der Philosophie Husserls vorweggenommen ist, dass es ihm gleicht? Dass wir also im Verfolge dessen die zur Ausweisung stehende Entdecktheit des Entdeckend-seins mit ihrem Grundcharakter der daseinsmäßigen Erschlossenheit mit dem bewusstseinsphänomenologischen Ansatz Husserls zusammenwerfen können? Wir bleiben vorsichtig mit der Antwort und wollen Heideggers Wörtchen „vgl.“25 zunächst als einen bloßen Hinweis verstehen. Die Beziehung (zunächst im weitesten Sinne verstanden) zwischen der Idee des Wahrseins bei Husserl und Heidegger ist in der betreffenden Anmerkung nicht eigens thematisiert, sondern nur angedeutet. Unsere Aufgabe ist es, dem Hinweis nachzugehen, um dieser ‚Beziehung‘ auf die Spur zu kommen. Dabei soll im zweiten Kapitel die Idee der Identifizierung in der Sehweise Husserls dem bereits in groben Zügen dargestellten Wahrheitsbegriff Heideggers gegenübergestellt werden. Es geht uns aber in erster Linie nicht um die philosophiegeschichtliche Sichtung zweier Wahrheitsbegriffe, nicht um die Zuweisung historischer Gegebenheiten an einen gesicherten Ort im Ganzen der Philosophiegeschichte. Die Gegenüberstellung verfolgt vielmehr eine systematische Absicht. 23

A. a. O., S. 292 (220 f.). Zur näheren Kennzeichnung der Erschlossenheit siehe § 19 dieser Arbeit. 24 A. a. O., S. 289, Fußnote 15 (218, Fußnote 1). 25 Ebd.

Zweites Kapitel

Die Bestimmung der Wahrheit im Problemkreis der Logischen Untersuchungen Bei der Bestimmung des Wahrheitsbegriffs in den Logischen Untersuchungen Husserls stoßen wir auf eine Eigentümlichkeit, die uns bereits bei der Untersuchung der Wahrheit in Sein und Zeit begegnet ist. Das Phänomen Wahrheit wird zwar in beiden Werken eigens thematisiert1 und hat dort einen bestimmten Ort. Die Analysen der Wahrheit stehen in beiden Schriften jeweils am Ende eines größeren Abschnitts; in Sein und Zeit am Ende der vorbereitenden Fundamentalanalyse, in den Logischen Untersuchungen an deren Ende. Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass die Analyse der Wahrheit jeweils als eine Art Anhang gedacht wäre und nur noch in einem lockeren Verbund mit dem Werk selbst stünde. Vielmehr hat sie nicht nur formal äußerlich einen bestimmten Ort, sondern auch systematisch steht sie in beiden Schriften gesichert im Gefüge eines sie umgreifenden Ganzen. Dieses fest gefügte Ganze ist in dem einen Fall der 1. Abschnitt von Sein und Zeit, der die existenzial-ontologische Daseinsanalyse mit dem phänomenologischen Aufweis der das Dasein konstituierenden Existenzialien enthält, die wiederum Weisen der selbsthaften Erschlossenheit sind und das Phänomen der Wahrheit als Entdecktheit des Entdeckend-seins begründen. Die phänomenologische Sichtung und Hebung der Existenzialien erhalten ihre ursprüngliche Einheit im Strukturganzen der Sorge. Die Analyse der Wahrheit nimmt in Sein und Zeit nach dem Aufweis der Strukturmomente des Daseins nun, in § 44, gleichsam einen neuen Anlauf und kann auch ohne die Einbeziehung der existenzialen Gesamtstruktur zu einem vorläufigen Verständnis führen. In Husserls Logischen Untersuchungen dagegen entwickelt sich die Analyse der Wahrheit (in der VI. Logischen Untersuchung) erst schrittweise aus den vorangehenden Untersuchungen, insbesondere aus der I. und der V. Logischen Untersuchung. Deshalb wollen wir zur Klärung der Wahrheitsanalyse bei Husserl einen dem ersten Kapitel der Arbeit entgegengesetzten Weg einschlagen. Wir werden von Husserls Grundansatz bei der Intentionalität ausgehen, die Bedeutungsintentionen und ihre Erfüllungen einbeziehen, um das Wesen der Wahrheit schrittweise sichtbar zu machen. Damit aber unsere 1

VI. Logische Untersuchung §§ 36–39; Sein und Zeit, § 44.

§ 4 Die Intentionalität des Ausdrucks in seinen Wesensmerkmalen

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Ausführungen nicht ins Uferlose laufen, werden sie sich bei der Auslegung der I. und V. Logischen Untersuchung unter die Maxime des hier thematisierten Problems des Wahrseins als Identifizierung in der Gegenüberstellung zu Heideggers Ausweisung des Seienden an ihm selbst stellen.

§ 4 Die Intentionalität des Ausdrucks in seinen Wesensmerkmalen der Kundgabe, der Bedeutung und der Gegenständlichkeit Der VI. Logischen Untersuchung „Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis“ hat Husserl eine kurze Einleitung vorangestellt2, die in formal anzeigender Weise das in den vorangegangenen fünf Untersuchungen Erarbeitete knapp resümiert und einen Aufriss der noch in Frage stehenden Problematik gibt. Dabei werden die Ergebnisse der noch ausstehenden Untersuchung bereits vorweggenommen. Die Einleitung bietet also in kürzester Form die Ergebnisse der gesamten Untersuchungen und öffnet uns zugleich die Möglichkeit eines Einstiegs. Das Denken und Erkennen überhaupt, das heißt in seiner philosophischen sowie vorphilosophischen, also wissenschaftlichen oder außerwissenschaftlichen Prägung, vollzieht sich in Bewegungen, die Husserl in der Klasse der „Akte“3 zusammenschließt. Diese Akte drücken etwas aus und treten „im Zusammenhang der ausdrückenden Rede“4 auf. Die Denk- und Erkenntnisbewegungen sind Akte, die mit den Ausdrücken erscheinen. Zum Ausdruck gehört die Funktion der Kundgabe. So sind uns in kommunikativer Rede die Ausdrücke Anzeichen für die psychischen Erlebnisse des Anderen.5 Teilt uns der Andere zum Beispiel eine Neuigkeit mit, so gilt uns seine Rede als Zeichen dafür, wie er selbst diese Neuigkeit erlebt. Am Ausdruck unterscheidet Husserl neben der Funktion der Kundgabe das physische Phänomen, ein konstituiertes Lautgebilde, das an mein Ohr dringt oder das ich etwa beim Lesen eines Buches wahrnehme. Die Akte verleihen dem Ausdruck seine Bedeutung und geben ihm (möglicherweise) anschauliche Fülle. Diese dem Ausdruck zugehörigen Erlebnisakte gestalten seine Beziehung auf eine Gegenständlichkeit. In den bedeutungsverleihenden und bedeutungserfüllenden Bewusstseinsakten konstituiert sich Gegenständliches. Das Gegenständliche erscheint im Bedeutungsakt etwa einer gegenwärtigenden Wahrnehmung als leibhaft präsentiert, so im Ausdruck: ‚Vor 2 3 4 5

VI. Logische Untersuchung, S. 537–543 (1–7). A. a. O., S. 537 (1). Ebd. I. Logische Untersuchung, § 7, S. 40 (33).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

mir steht ein Glas‘. Oder das Gegenständliche erscheint ohne die anschauliche Fülle der gegenwärtigenden Wahrnehmung. Dann ist es bloß vergegenwärtigt. So etwa in den Aussagen: ‚Vorhin stand ein Glas auf dem Tisch‘ oder ‚Das Glas steht hinter mir‘ oder ‚Sogleich wird uns ein Glas serviert‘. Sowohl in der gegenwärtigenden Wahrnehmung als auch im vergegenwärtigenden Vorstellen hat der Ausdruck eine gegenständliche Bedeutung. Hat er keine realisierte Beziehung auf den Gegenstand, das heißt, ist der Gegenstand nicht originär wahrgenommen, so meint der Ausdruck dennoch Gegenständliches, er hat eine gegenständliche Bedeutung, auch ohne die anschauliche Fülle der Wahrnehmung. Die Beziehung des Ausdrucks auf den Gegenstand ist, je nach der anschaulichen Fülle, mehr oder weniger ‚leer‘, das heißt, ohne die vollkommene ‚Anfüllung‘ durch bedeutungserfüllende Akte. Hat der Ausdruck gar keine anschauliche Fülle, so ist er dennoch durch einen bedeutungsverleihenden Akt auf den Gegenstand bezogen. Sein Gegenständliches ist bloß vermeinend intendiert. Dieser Grundunterscheidung der Erlebnisakte in anschauungsleere und anschauungserfüllte gemäß teilt Husserl die Bewusstseinsakte überhaupt in die bedeutungsverleihenden (Bedeutungsintentionen) und die bedeutungserfüllenden (Bedeutungserfüllungen) Akte ein.6 Die Bedeutungsintention oder auch signitive Intention gehört zum Wesen des Ausdrucks selbst, ist sein phänomenologisches Charakteristikum7. Dem Ausdruck eignet der intentionale Bezug auf Gegenständliches, gleich, ob dieser Gegenstand als tatsächlich existierender oder nur fiktiv gemeint ist, ob er originär wahrgenommen oder vergegenwärtigt erscheint. Die bedeutungserfüllenden Erlebnisakte, also diejenigen Akte, die eine leere Intention anschaulich füllen und so den Bezug des Ausdrucks auf Gegenständliches realisieren, gehören nicht wesenhaft zu den Akten, die das intentionale Wesen des Ausdrucks ausmachen. Der Ausdruck ‚die Sonne scheint‘ meint den Gegenstand Sonne, ob dieser selbst beim Vollzug des Bedeutungserlebnisses erfüllt wahrgenommen wird oder nicht. Die Bedeutungserfüllungen sind also dem Ausdruck außerwesentlich. Bei der Rede von bedeutungsverleihenden und -erfüllenden Akten gilt es festzuhalten, dass die Gegenständlichkeit dem Ausdruck erst auf Grund seiner intentionalen Eigentümlichkeit gegeben ist. Die Bedeutung des Ausdrucks betrifft den Gegenstand als einen idealen Inhalt. Als der ideale Inhalt gilt dabei nicht das in jeder Vorstellung des Ausdrucks verschiedene und wechselnde psychische Erlebnis, sondern die Bedeutung in idealer inhaltlicher Einheit. So ist mit der Bedeutung des Pythagoreischen Lehrsatzes nicht die zufällige und wechselnde Vorstellung dieses Satzes in einem sub6 7

A. a. O., § 9, S. 44 f. (37 f.). A. a. O., § 10, S. 47 (41).

§ 4 Die Intentionalität des Ausdrucks in seinen Wesensmerkmalen

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jektiv verschiedenen Vorstellen gemeint, sondern der Lehrsatz selbst, und zwar in der idealen Bedeutung seines Ausdrucks. Die ideale Bedeutung des Satzes bleibt dieselbe, und gerade sie ist gemeint, wenn wir nach der Bedeutung des Satzes fragen.8 ‚Neben‘ der idealen Bedeutung hat der Ausdruck einen Gegenstand, auf den er sich bezieht. Dieser muss von der Bedeutung des Ausdrucks unterschieden werden. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung wird klar, wenn man sich vor Augen hält, dass zwei verschiedene Ausdrücke, etwa ‚Goethe, der Dichter‘ und ‚Goethe, der Naturwissenschaftler‘ ein und denselben Gegenstand ‚Goethe‘ meinen können. Die Bedeutungen der beiden Ausdrücke sind offensichtlich verschiedene, während sie sich auf einen Gegenstand beziehen.9 I. Der ideale Inhalt als Identität der Spezies Der bedeutungsmäßige Inhalt der Vorstellungsakte ist das ideale Korrelat zum realen Gegenstand, der ein tatsächlich existierender sein kann wie in den Ausdrücken ‚Haus‘, ‚Schwärze‘ usw. oder ein bloß fiktiv vorgestellter wie in ‚Zeus‘, ‚Engel‘.10 Dieser Bedeutungsinhalt steht im Gegensatz zu dem, was die Logik in ihrer psychologistischen Prägung darunter versteht. Der Erlebnisinhalt im psychologischen Sinne wechselt in verschiedenen Subjekten und auch innerhalb des gleichen Subjekts, wenn es denselben Gegenstand früher und später oder unter sich ändernden Umständen vorstellt. Von diesen ständig psychologisch wechselnden Vorstellungsinhalten ist im Sinne der reinen Logik der idealeinheitliche Bedeutungsinhalt streng abzusondern. Die Bedeutung als idealer Inhalt bleibt identisch und ist völlig unabhängig von den empirischen Erfahrungen des subjektiven Erlebens. Diese ideale Identität der Bedeutungen nennt Husserl „die I d e n t i t ä t d e r S p e z i e s“.11 Die vielfältigen Erlebnisinhalte, die denselben Gegenstand betreffen, fallen im spezifisch identischen Inhalt in Eins zusammen. Ob ich mir etwa das Freiburger Münster mit oder ohne Baugerüst, im Winter oder im Sommer, gestern oder morgen vorstelle, oder ob jemand anders sich das Gebäude vorstellt, gemeint ist in allen Fällen dasselbe Münster in seiner identischen Bedeutung. Die ideal-eine Bedeutung ist keine Idealität im gewöhnlichen, normativen Sinne, kein „Urbild“12, das in der Gestalt eines Gegenstandes real vorkommen kann. Vielmehr ist sie aller Realität ‚entgegengesetzt‘, ist die „ ‚Einheit in der Mannigfaltigkeit‘ “13. Zusammen8

A. a. O., § 11, S. 48–51 (42–45). A. a. O., § 12, S. 51–54 (46–48). 10 A. a. O., § 14, S. 57 (52). 11 A. a. O., § 31, S. 105 (100). 12 A. a. O., § 32, S. 107 (102). 9

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

fassend unterscheiden sich die Inhalte im subjektiven Sinn der Bewusstseinserlebnisse von anderen rein idealen Inhalten im Sinn. Diese objektiven, identischen Inhalte, die Husserl in diesen phänomenologisch analysiert14, werden nach drei verschiedenen betrachtet:15

jeweiligen objektiven Paragrafen Hinsichten

• Der Inhalt als die Bedeutung des intendierenden Aktes • Der anschauliche, bedeutungserfüllende Inhalt des Aktes • Der intentionale Inhalt des Gegenstands Diese Unterscheidung ergab sich für Husserl aus der vorangegangenen Analyse.

§ 5 Die subjektiven Erlebnisakte und die reine Gattungsidee der Intentionalität Die dem Ausdruck wesenhaften Erlebnisakte und Inhalte stehen in einem bestimmten Verhältnis zum Gegenstand; die Aufklärung des intentionalen Verhältnisses der Akte ist ein wesentliches Ergebnis der phänomenologischen Zeichenanalyse, genauer, der Analyse des Zeichens im Sinne des Ausdrucks. Intentionalen Charakter haben sowohl die bedeutungsverleihenden als auch die bedeutungserfüllenden Akte. Sie sind wichtige Bestandteile des ausdrückenden Bewusstseinserlebnisses. In der V. Logischen Untersuchung wird die Intentionalität des Bewusstseins näher in den Blick genommen und eigens thematisiert.16 Im Verlaufe dieser Analyse macht Husserl auf die „Verschiedenheiten der intentionalen Beziehung“17 aufmerksam. Im fürwahrhaltenden Urteil ‚ein Glas steht auf dem Tisch‘ etwa vermeine (intendiere) ich den Sachverhalt in einer anderen Weise als im Urteil ‚es könnte ein Glas auf dem Tisch stehen‘. Ein Glasbläser etwa bezieht sich auf das Glas in anderer Weise – er meint es zum Beispiel als ein herzustellendes Werkstück – als jemand, der es täglich im Gebrauch hat. Wieder anders ist der Gegenstand gemeint, wenn man ihn zum Objekt einer mathematischen, physikalischen oder juristischen Untersuchung macht. In einer mathematischen Untersuchung kann der Gegenstand wieder vielfach gemeint sein. Eine Intention intendiert den Gegenstand als das Objekt einer Volumenberechnung, eine andere Intention meint ihn in seinem Umfang usw. Jeder einzelne Erlebnisakt, der im vielfältigen 13 14 15 16 17

Ebd. A. a. O., besonders § 14, §§ 30–32. A. a. O., § 14, S. 57 (52). V. Logische Untersuchung § 10, S. 379 ff. (366 ff.). A. a. O., § 10, S. 381 (367).

§ 6 Husserls Abwehr nahe liegender Missdeutungen

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Verbund mit anderen Akten steht, hat für sich eine intentionale Beziehung auf den Gegenstand. Die „rein phänomenologische Gattungsidee intentionales Erlebnis oder Akt“18 erhält Husserl allerdings durch eine Abstraktion von allen Daten und Gegebenheiten des subjektiven Erlebnisstroms. Die erfahrungsmäßigen Erscheinungen, also die subjektiven Inhalte der Ausdrücke als die ständig wechselnden Fälle des subjektiven Erlebens und die tatsächliche Vorhandenheit ihrer intentionalen Gegenstände bleiben bei der phänomenologischen Analyse der Intentionalität außer Betracht.19 Das heißt nicht, dass die psychische Erlebnisrealität für das Wesen der reinen Intentionen von keinerlei Bedeutung wäre. Zwar ‚enthält‘ die phänomenologische Gattungsidee der reinen Intentionalität keine psychischen Erlebnisrealitäten in sich; das widerspräche ihrem eigenen Wesen. Aber sie ermöglicht und begründet jegliche Art der realen Beziehung auf konkrete Gegenstände. Das heißt, die reine Gattungsidee des intentionalen Erlebnisses „modifiziert“20 sich in die psychologische Gattungsidee.

§ 6 Husserls Abwehr nahe liegender Missdeutungen I. Die intentionale Beziehung auf den Gegenstand und auf die Intention selbst Um Missverständnisse abzuwehren, präzisiert Husserl den Begriff „ ‚psychische[s] Phänomen‘ “21, da die Rede von ‚psychischen Phänomenen‘ im Gebrauch für das, was Husserl darin sieht, leicht in allzu nahem Zusammenhang mit der psychologischen Philosophie Franz Brentanos verstanden werden kann. Die reine, phänomenologische Gattungsidee der Intentionalität als die Ideation der psychischen Akte steht weitab von dem, was Gegenstand einer psychologischen Erforschung ist. Brentanos Rede von Phänomenen, derzufolge jedes intentionale Erlebnis ein Phänomen ist und den Vorgang des Erlebens meint22, sagt zugleich mit, dass sich das intentionale Erlebnis nicht nur auf den intendierten Gegenstand bezieht, sondern selbst Gegenstand der Intention ist.23 Dem kann 18

A. a. O., § 10, S. 382 (369). Die phänomenologische Analyse ist hier als Analyse der reinen Gattungsidee verstanden. 20 V. Logische Untersuchung § 10, S. 382, Fußnote 3 (369, Fußnote 3). 21 A. a. O., § 10, S. 384 (371). 22 Franz Brentano: Psychologie I, S. 111 f. 23 A. a. O., S. 127 und S. 218. 19

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

Husserl nicht zustimmen.24 Die Erlebnisvorgänge sind nicht schon selbst Gegenstände des Bewusstseins, so als wären sie von sich her auf sich selbst gerichtet. Dass psychische Erlebnisse überhaupt zum Gegenstand intentionaler Betrachtung werden können, ist damit nicht bestritten. Dies geschieht in der Reflexion, etwa bei Traumdeutungen, deren Auslegung sich auf die psychischen Traumerlebnisse richten. Die Erlebnisakte der Traumwelt, etwa die Wünsche, Ängste, Hoffnungen usw., sind Gegenstand der Traumanalyse. Was jedoch die nicht reflektierten Erlebnisakte des Bewusstseins angeht, so ist im Sinne Husserls die Brentanosche Meinung abzulehnen. II. Die irreführende Rede von der ‚immanenten Gegenständlichkeit‘ Auf zwei weitere, nahe liegende Missdeutungen macht Husserl aufmerksam.25 Auf die eine, nach der es sich bei der intentionalen Beziehung „um einen realen Vorgang oder ein reales sich Beziehen handle“26 und auf die andere, nach der diese Beziehung „ein Verhältnis zwischen zwei gleicherweise im Bewusstsein reell zu findenden Sachen, Akt und intentionales Objekt“27 sei. Zu solchen Auslegungen kommt es durch die irreführende Rede vom Gegenstand, der ins Bewusstsein ‚trete‘ oder durch die Rede von den Erlebnissen, die ins Bewusstsein ‚aufgenommen‘ werden. Der an zweiter Stelle genannten Missdeutung stellt Husserl in kurzen Sätzen28 den bereits von ihm gewonnenen Aufweis29 der Intentionalität entgegen, derzufolge sich die intentionalen Erlebnisse des Subjekts direkt auf Gegenstände richten und nicht auf eine im Bewusstsein enthaltene immanente Gegenständlichkeit.30 Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Feststellung, dass im intentionalen Erlebnis nicht etwa zwei verschiedene Dinge, der Gegenstand und das Erlebnis selbst gemeint und erlebt sind. Verfolge ich etwa den Flug eines Vogels, so ist in diesem Erlebnisakt nicht etwa zunächst als immanenter Gegenstand ‚der fliegende Vogel‘ im Bewusstsein präsent und außerdem das Bewusstseinserlebnis, das sich auf diesen Gegenstand selbst richtet. Die phänomenologisch aufweisbaren immanenten Inhalte haben selbst nicht intentionalen Charakter.31 Das ‚Sehen des Vogelflugs‘ als der immanente Inhalt des Vorstellungsaktes ist nicht selbst 24 25 26 27 28 29 30 31

V. Logische Untersuchung, § 11 a, S. 384 (371). A. a. O., §§ 11 a, 12 b, S. 384 ff. (371 ff.). A. a. O., § 11 a, S. 385 (371). Ebd. A. a. O., S. 385 f. (372). A. a. O., besonders in § 10. Vgl. Franz Brentano: Psychologie I, zum Beispiel S. 221. V. Logische Untersuchung, § 11 a, S. 387 (374).

§ 6 Husserls Abwehr nahe liegender Missdeutungen

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intentional gemeint. Der immanente Inhalt konstituiert den intentionalen Akt, baut ihn auf. Gemeint ist der Vogelflug selbst. Ist ein Gegenstand etwa in einer gegenwärtigenden Wahrnehmung präsent – ist der Vogelflug leibhaft gegeben –, so bedarf es zu seiner Erkenntnis nicht auch noch einer intentionalen Beziehung auf ein im Bewusstsein immanent Vorhandenes, als ob zunächst der Gegenstand als immanenter Inhalt präsent wäre, um gleichsam intentional ‚gemeint zu werden‘. Gemeint ist vielmehr die Gegenständlichkeit selbst und nicht ein reell vorhandener, immanenter Inhalt. Es lassen sich im Bewusstsein nicht zwei voneinander verschiedene intentionale Erlebnisse des Vogelflugs aufweisen, den fliegenden Vogel als immanent erlebten Inhalt und außerdem das Erlebnis des Objekts selbst. Dies gilt nicht nur für die Erlebnisakte der gegenwärtigenden Wahrnehmung, in denen ich den ‚Flug der Vögel‘ in leibhafter Selbstgegebenheit wahrnehme, sondern für intentionale Bewusstseinsakte überhaupt, also auch für diejenigen Vorstellungen, in denen die vorgestellten Gegenstände keine unmittelbare, anschauliche Fülle haben. Es spielt auch keine Rolle, was den intentionalen Erkenntnisvorgang überhaupt angeht, ob der gemeinte Gegenstand tatsächlich vorhanden ist, das heißt, ob er sinnlich angeschaut werden kann oder ob er nur in der Phantasie vorgestellt ist.32 Dies scheint auf den ersten Blick nicht ohne weiteres einsichtig.33 Es scheint uns zwar möglich, dass eine Bedeutungsintention keine anschauliche Fülle durch eine entsprechende realisierende Wahrnehmung hat. Wir erleben dies, wenn wir uns etwa den ‚Mann im Mond‘ vorstellen oder ein ‚Einhorn‘ und wissen, dass wir diese Gegenstände nicht leibhaft wahrnehmen können. Aber wo sollen diese Phantasiegegenstände, wenn sie in der Wirklichkeit nicht anzutreffen sind, anders sein als in unserem (Phantasie)Bewusstsein? Was sollen sie anders sein als bewusstseinsimmanente Inhalte? Oder gibt es außer dem Bewusstsein und der sinnlich anschaubaren Wirklichkeit noch einen anderen ‚Ort‘, an dem uns Gegenstände begegnen? Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass diese Überlegung wiederum unterstellt, das Bewusstsein sei überhaupt ein Aufenthaltsort für Gegenstände, seien sie nun anschaulich vorgestellt oder nicht. Gerade dies muss aber nach dem phänomenologischen Aufweis der Intentionalität als einer unmittelbaren Beziehung auf Gegenständliches ohne die Vermittlung eines intentional gemeinten, immanenten Gegenstandes abgewiesen werden. „Sondern nur eines ist präsent, das intentionale Erlebnis, dessen wesentlicher, deskriptiver Charakter eben die bezügliche Intention ist.“34 Der Phan32

A. a. O., S. 387 (373). Die folgende Überlegung entnehmen wir nicht direkt dem Text der Logischen Untersuchungen. Sie soll der weiteren Verdeutlichung dienen. 34 V. Logische Untersuchung, § 11 a, S. 386 (372). 33

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

tasiegegenstand ist kein Seiendes, das reell irgendwo im Bewusstsein anzutreffen wäre, und ebenso wenig außerhalb des Bewusstseins. Er ist überhaupt nicht ‚vorhanden‘, sondern gemeint in der Weise des intentionalen Abzielens. Bedeutet dies nun, dass dieser bloß intendierte Gegenstand nichts ist, dass ihm keinerlei anschauliche Fülle zuteil wird, da er gar nicht wahrnehmbar ist? Wohl nicht, denn das in der Intention gemeinte Einhorn ist eine wirkliche Vorstellung meines Bewusstseins, das ich mir als ein Fabelwesen mit diesen und jenen konkreten Eigenschaften sehr anschaulich intentional vorstellen kann. Die Rede von einer dem Bewusstsein innewohnenden Gegenständlichkeit widerspricht einer phänomenologischen Ausweisung der Erkenntnis- und Urteilswirklichkeit. III. Die Beziehung von Ich und Gegenstand Eine weitere Missdeutung, derzufolge den Intentionen eine reale Beziehung des Bewusstseins zum bewussten oder erkannten Gegenstand eigentümlich ist, steht in nahem Zusammenhang mit der zuletzt genannten. Dieser Auslegung der intentionalen Beziehung gemäß steht das Bewusstsein oder gleichbedeutend damit das ‚Ich‘ in einem realen Verhältnis zum Gegenstand, wobei das Ich als das Beziehungszentrum gilt, von dem aus alle Intentionen sozusagen strahlenförmig auslaufen. Im intentionalen Erkennen bleibt dieser Bezugspunkt jedoch unbemerkt. Stelle ich mir einen Gegenstand vor, so erlebe ich nicht ausdrücklich zugleich, dass ich es bin, der diese Vorstellung hat, es sei denn, diese Hervorhebung des Ich ist in einem zweiten intentionalen Akt gewollt. Ansonsten gilt Husserl die Tatsache, dass das Ich sich intentional auf Gegenstände bezieht und dabei gleichsam im Hintergrund bleibt, „in Bereitschaft“35 für eine ausdrückliche Hervorhebung, als „pure Selbstverständlichkeit“36, denn wer oder was soll sonst intentionale Erlebnisse haben als das Ich?

§ 7 Der phänomenologische Abweis der Bildertheorie und das bildliche Vorstellen Husserls Auseinandersetzung mit den nahe liegenden Missdeutungen der Intentionalität des Bewusstseins führt ihn in der Beilage des § 21 der V. Logischen Untersuchung zur „Kritik der ‚Bildertheorie‘“ und zur Erörterung „der Lehre von den ‚immanenten‘ Gegenständen der Akte“.37 Dabei geht es um den phänomenologischen Abweis eines dem Erkenntnisakt innewohnen35 36 37

A. a. O., § 12, S. 390 (376). Ebd. A. a. O., § 21, S. 436 (421).

§ 7 Der phänomenologische Abweis der Bildertheorie

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den, immanenten Abbildes des Gegenstands. Im intentionalen Bewusstseinsakt ‚darinnen‘ ist nicht ein Bild des Gegenstands, der draußen, außerhalb des Bewusstseins ist, präsent, auf den sich das erkennende Subjekt bezieht. Es lässt sich bei der Deskription der intentionalen Erlebnisse des Bewusstseins nicht ein bewusstseinsimmanentes Abbild von einem transzendenten Gegenstand als abgebildetem unterscheiden. Husserl selbst, dies sei erwähnt, hält sich in seiner Begrifflichkeit nicht immer streng an diesen von ihm gesehenen Sachverhalt. So ist im Zusammenhang mit den vergegenwärtigenden Akten ständig die Rede von „Bildern“ und „Bilderscheinungen“ des Subjekts.38 Also von Bildern, so könnte man meinen, die einen in der Wirklichkeit vorkommenden Gegenstand im Bewusstsein abbilden. Schon Husserls Begriff „Imagination“, den man geneigt ist mit ‚bildlicher Vergegenwärtigung‘ zu übersetzen,39 ist missverständlich. An einer anderen Stelle40 heißt es von der Wahrnehmung, in ihr erscheine der Gegenstand selbst, im Unterschied zur Imagination, die ihn bloß „ ‚im Bilde‘ “ gebe. Das Abbild scheint der vergegenwärtigenden Vorstellung zu eignen, ja der Vorstellung überhaupt zuzukommen: „Die Vorstellung stellt ja den Gegenstand vor und ist sein geistiges Abbild.“41 Der phänomenologische Abweis der Bildertheorie in § 21 der V. Logischen Untersuchung scheint in Zweifel gezogen. Diese Inkonsequenz oder Widersprüchlichkeit ist allerdings nur eine äußerliche und verliert sich beim genaueren Lesen des Textes. Insbesondere die genannte Beilage verbürgt die Eindeutigkeit der Rede von den Abbildern. Aber schon in der IV. Logischen Untersuchung heißt es: „Indessen zeigt die kürzeste Besinnung, dass dies Gleichnis vom Abbilde hier wie in manchen anderen Fällen trügt.“42 Die Theorie der Abbilder enthält einige Ungereimtheiten, auf die wir hinweisen wollen. Dies soll geschehen, weil Husserl sich mit dieser Theorie in verschiedenen Schriften auseinandergesetzt hat und weil ihr phänomenologischer Abweis das rechte Verständnis der Intentionalität der Bewusstseinsakte fördern kann. Dieser Abweis der Bildertheorie ist nämlich zugleich der positive Aufweis eines ‚echten‘, besser gesagt, eines mit Recht so genannten ‚bildlichen Vorstellens‘. Abgesehen davon geht auch Heidegger in fast 38 Zum Beispiel VI. Logische Untersuchung, § 37, S. 646 (116); § 23, S. 612 (82); § 24, S. 614 f. (84). 39 s. dazu V. Logische Untersuchung, § 21, S. 438 (424). 40 VI. Logische Untersuchung, § 14 a, S. 588 (56). 41 IV. Logische Untersuchung, § 2, S. 304 (296). 42 Ebd.; vgl. zum eindeutigen Gebrauch auch II. Logische Untersuchung, § 26, S. 175 f. (171); § 27, S. 178 (174); IV. Logische Untersuchung, § 8, S. 322 (314); VI. Logische Untersuchung, § 14, S. 586 f. (54 f.).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

jeder der hier zu behandelnden Marburger Vorlesungen auf die Abbildtheorie Husserls ein, freilich aus ganz eigener Perspektive.

I. Die irrtümliche Rede von den ‚Abbildern‘ der äußeren Dinge Die traditionelle Theorie, derzufolge ein Gegenstand im Bewusstsein als Abbild wiederkehrt und dort den Gegenstand vertritt, ist gekennzeichnet durch das Übersehen einer wichtigen phänomenologischen Tatsache. Diese Tatsache betrifft solche intentionalen Erlebnisse, die mit Recht ‚bildliches Vorstellen‘ genannt werden, da sie sich auf Bilder beziehen, zum Beispiel auf Gemälde. Wie ist dies zu verstehen? Der intentionale Bewusstseinsakt meint, wenn er ein Bild, etwa in der Gestalt einer Landschaftsdarstellung, vorstellt, durch die Erscheinung des Bildobjekts hindurch das abgebildete Objekt, die im Gemälde dargestellte Landschaft, das zur Abbildung gelangte Bildsujet. Der abzubildende Gegenstand, etwa die Landschaft, die der Maler vor Augen hat, ist nicht ‚von sich her‘ bildlich vorgestellt als ein bewusstseinsimmanentes Abbild. Vielmehr wird die Landschaft als das Bildsujet des Malers im Gemälde erst zum Bild. Die Landschaft selbst in ihrer Bestimmtheit durch Berge, Täler usw. ist nicht schon bildlich, geschweige denn im Bewusstsein abgebildet; ebenso wenig wie das abbildende Gemälde im Bewusstsein wiederum als ein zweites Abbild dieses erscheinenden Abbildes vorzufinden ist. Wenn die Beziehung von Gemälde und Landschaft möglich ist durch die ein Abbild schaffende Tätigkeit des Malers und wenn das intentionale Vorstellungserlebnis das erscheinende Bildobjekt wahrnimmt und das in ihm abgebildete Bildsujet meint, wie ist dann aber die Beziehung von einem angeblich bewusstseinsimmanenten Bild und seinem transzendenten Gegenstand möglich? Etwa durch ein Abbilden? Wobei sich das Abbild durch Ähnlichkeit mit dem abgebildeten Gegenstand auszeichnet? Gelangen wir auf dem Wege einer Abbildung zur Erkenntnis des Gegenstandes? Das scheint nicht recht möglich, denn wir haben ja im Bewusstsein, wie die Bildtheoretiker voraussetzen, nicht etwa den Gegenstand selbst, sondern nur sein ähnliches Abbild. Das bildliche Vorstellen im phänomenologischen Sinne ist also keine Tätigkeit des Bewusstseins, die von Gegenständen Abbilder herstellt, sondern ein intentionales sich Richten auf das im existierenden Bild abgebildete Bildobjekt in der Darstellungsweise der Vergegenwärtigung. Das abbildmäßige Vorstellen eines Gegenstands im Sinne der Bildertheorie ist phänomenologisch gar nicht möglich, denn was soll diese angebliche Tätigkeit des Bewusstseins anderes abbilden als das, was sie im Bewusstsein selbst schon hat, nämlich Abbilder? Infolge der Bildertheorie gelangen wir im Bewusstsein zu Bildern, die dem Gegenstand ähnlich sind.

§ 7 Der phänomenologische Abweis der Bildertheorie

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Diese Ähnlichkeit kann aber nur zwischen dem abzubildenden Gegenstand und seinem Abbild bestehen. Den Gegenstand haben wir aber wiederum nur in der Weise eines Abbildes. Mit anderen Worten: Die Tatsache der Ähnlichkeit zwischen Bild und Sache ist für das Bewusstsein „schlechterdings nichts“43, da es die Sache nicht als sie selbst vorstellt, sondern nur abbildhaft. Phänomenologisch gesehen können nur solche Gegenstände bildlich vorgestellt werden, die dem Bewusstsein als Bildobjekte erscheinen. Erst durch die Fähigkeit des Bewusstseins, das Abbild in der Gestalt eines Gemäldes, einer Wasserspiegelung, eines Fernseh- oder Computerbildes und dergleichen, in seiner Ähnlichkeit mit dem Gegenstand in Beziehung zu setzen und in dieser Weise das abgebildete Objekt zu vermeinen, hat die Rede vom Bildbewusstsein ihre phänomenologisch aufweisbare Berechtigung. Die Gegenüberstellung von erscheinendem Bildobjekt und dem in ihm abgebildeten Objekt als dem gemeinten Gegenstand ist eine in der theoretischen Reflexion künstlich erzeugte. Bildobjekt und abgebildetes Objekt sind im bildlichen Vorstellen nicht getrennt erlebt und erscheinen nicht voneinander losgelöst. Vielmehr bilden beide Objekte dadurch eine Erkenntniseinheit, dass sich das bildliche Vorstellen auf Grund des erscheinenden Bildobjekts auf das abgebildete Objekt vergegenwärtigend bezieht. Zum Bildbewusstsein gehören also auch wesentlich Bewusstseinsakte der Vergegenwärtigung, die durch die anschauliche Fülle der erscheinenden Bildobjekte hindurch das abgebildete Objekt vermeinen. In der leibhaft gegenwärtigenden Wahrnehmung des Gemäldes etwa ist nicht das abgebildete Objekt, die Landschaft, selbst wahrgenommen, sondern vielmehr vergegenwärtigt. Im Fall der originären Wahrnehmung einer Landschaftsdarstellung vollzieht sich das bildliche Vorstellen in einer eigentümlich iterativen Schachtelung von gegenwärtigenden und vergegenwärtigenden Vorstellungsakten. Indem wir das Gemälde betrachten, es also in leibhafter Selbstgegebenheit wahrnehmen, vergegenwärtigen wir uns zugleich die abgebildete Landschaft, die wir bei der Bildbetrachtung nicht selbst wahrnehmen, sondern nur als abgebildetes Objekt vorstellen, und, wenn es sich nicht um eine einfache Fotografie handelt, ein zusätzliches „X“, das wir Kunst nennen.

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V. Logische Untersuchung, § 21, S. 436 (422).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

II. Die gegenwärtigenden und vergegenwärtigenden Akte im Problemhorizont des bildlichen Vorstellens Mit diesen groben Bemerkungen über die Rede von den Abbildern ist das Wesen des bildlichen Vorstellens im phänomenologischen Sinne nicht ausgeschöpft, und die Erörterung verlangt nach einem erneuten Anlauf. Das Wesen der gegenwärtigenden und vergegenwärtigenden Akte selbst und zudem der einzigartige Sinn des Bildbewusstseins blieben bisher im Dunkeln. Im Felde der phänomenologischen Grundunterscheidung der Bewusstseinsakte in gegenwärtigende und vergegenwärtigende soll die Rede vom bildlichen Vorstellen eine genauere Klärung erfahren.44 Die gegenwärtigenden Akte sind solche, in denen Gegenständliches unmittelbar selbst erscheint und gegeben ist. In ihnen ist der Gegenstand leibhaft gegenwärtig. Beobachte ich etwa den Flug von Vögeln, indem ich sie sozusagen ‚direkt anblicke‘, so sind sie mir in leibhafter Gegenwärtigung selbst präsent und selbst gegeben. Ebenso verhält es sich bei der gegenwärtigenden Wahrnehmung eines Abbildes, das ich in anschaulicher Fülle erblicke – etwa im Vogelflug, der sich im Wasser widerspiegelt, im Glas, das die Sonne reflektiert usw. Das Abbild ist in gegenwärtigender Wahrnehmung selbst gegeben. Damit ist nicht gemeint, dass die gegenwärtigende Wahrnehmung gleichbedeutend mit dem bildlichen Vorstellen ist. Ist das Abbild nicht selbst gegeben, dann ist die intentionale Gegenständlichkeit nicht originär wahrgenommen, kann aber (allgemein) Gegenstand einer Vergegenwärtigung werden. Vergangene, vermeintlich gegenwärtige und zukünftige Erlebnisse werden sozusagen ‚geweckt‘45, vergegenwärtigt. Genauer gefasst: Das vergegenwärtigende Subjekt dringt, ‚ausgehend‘ vom festen Standpunkt seines gegenwärtigen Erlebens, in eine nicht gegenwärtig wahrnehmbare Erlebniswelt ein. Die Akte der Vergegenwärtigungen gliedern sich, den drei Zeithorizonten der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gemäß, in die intentionalen Akte der Gegenwarts-, Vergangenheitsund Zukunftsvergegenwärtigung. Bei der Vergegenwärtigung der Vergangenheit wird in der Erinnerung ein einstmals Vorgestelltes und Erlebtes vergegenwärtigt. Der Vorstellungsakt dringt in der gegenwärtigen Jetztzeit – in welcher das vorstellende Subjekt sich jeweils befindet und in der es auch verbleibt – in den Vergangenheitshorizont ein und vergegenwärtigt früher gehabte Erlebnisse, indem es sie noch einmal nachvollzieht. Dabei sind zwei unterschiedliche Erlebniswelten zu beachten. Einmal die als vergangen vergegenwärtigte, bereits erlebte frü44 45

Eugen Fink: Vergegenwärtigung und Bild, S. 20 ff. A. a. O., S. 24.

§ 7 Der phänomenologische Abweis der Bildertheorie

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here Welt und die Erlebniswelt des vergegenwärtigenden Ich selbst. Das Ich der erinnerten Welt ist ein anderes, nämlich zeitlich früheres als das Ich, das den Erinnerungsakt selbst vollzieht. Beide Ichs gehören zu ein und demselben Subjekt. Diese Bestimmungen der Vergangenheitsvergegenwärtigung als das SichHineinversetzen des Subjekts in einen Zeithorizont kommen auch den Vergegenwärtigungen der Gegenwart und Zukunft zu. In ihnen werden Bewusstseinserlebnisse und ihre Gegenstände, die dem Subjekt nicht in der Fülle der gegenwärtigenden Wahrnehmung gegeben sind, vergegenwärtigt. So in den erwartenden oder vorerinnernden Vorstellungsakten, in denen sich das Subjekt vergegenwärtigend in den Zeithorizont der Zukunft versetzt, etwa eine bevorstehende Reise vergegenwärtigt, oder in den Horizont der Gegenwart hineingeht. Die vergangenheitsvergegenwärtigenden Akte sind durch den besonderen ‚Umstand‘ gekennzeichnet, dass sie sich auf Gegenständlichkeiten beziehen, die als vergangen erlebte unveränderbar festliegen. Den roten Ball, mit dem ich gestern gespielt habe, vergegenwärtige ich mir nur als roten und nicht als blauen oder grünen. Die Tatsache, dass der Ball tatsächlich als roter erlebt wurde, bestimmt das Erinnerungserlebnis. Das als unveränderbar vergangen konstituierte Erlebnis des roten Balles wird in der Vergangenheitsvergegenwärtigung nicht umgewandelt, nicht neu konstituiert, sondern als konstituiertes neu erlebt, rekonstituiert. Der rote Ball lag auf einer bestimmten Wiese, die wiederum von bestimmten Bäumen umstanden war. Die Konstitution der erinnerten Vergangenheitswelt ist eine vielfache, und unser Beispiel deutet dies nur an. Sie ist ohne die Rekonstitution des Subjekts im Bewusstsein versunken, entgegenwärtigt.46 Durch die Akte der Wiedererinnerung wird die Konstitution der Vergangenheit erneuert. Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit kann die vergangene Welt nicht in neue Zusammenhänge bringen und die vergangenen Gegebenheiten in irgendeiner Weise umordnen, etwa den wieder erinnerten roten Ball nicht von der Wiese auf ein Spielfeld versetzen. Es sei denn, diese Vergegenwärtigung versteht sich nicht im strengen Sinne als Vergangenheitsvergegenwärtigung. Eine Umkonstituierung der Vergangenheit kann in den Vorstellungen des Phantasiebewusstseins statthaben. Das konstituierte Vergangene kann phantasiemäßig modifiziert werden. Ich stelle mir den roten Ball der vergangenen Wahrnehmung frei in beliebigen anderen Farben vor. Diese Konstituierung der Phantasiewelt als freie Umgestaltung der Vergangenheitskonstitution geht jedoch zurück auf ein grundsätzlich unverändertes Festliegen der Vergangenheit. Ihre feste Konstitution wird in den Vorstellungsakten des 46

A. a. O., S. 22 ff., S. 29.

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

Phantasiebewusstseins nicht gelöscht, sondern bleibt gleichsam im Hintergrund des phantasiemäßigen Vorstellens der Vergangenheit. Rekonstituieren die Akte der Vergangenheitsvergegenwärtigung das in der Vergangenheitswelt Festliegende, so prokonstituieren die Akte der Zukunftsvergegenwärtigung, Vorerinnerung, eine Weltlichkeit, die im Horizont der Zukunft liegt. Vorerinnernd versetzt sich das Subjekt in den Zeithorizont einer zukünftigen Welt, die erst zukünftig eine feste Konstitution erfährt. Die Zukunftsvergegenwärtigung läuft der Konstitution durch die Gegenwart voraus und nimmt die endgültigen Bestimmungen des gegenwärtigen Jetzt gleichsam vorweg. Machen wir für die bevorstehende Reise Pläne, versetzen wir uns dabei in den beabsichtigten Gang durch eine Stadt, so bestimmen wir die in Wirklichkeit noch unbestimmte Zukunft im Voraus und holen die Möglichkeiten der Zukunft scheinbar in die Gegenwart. Die Vorerinnerungswelt, die wir in der Zukunftsvergegenwärtigung intendieren, wird als eine in der Gegenwart noch ausstehende erwartet. Die Erfüllung der Vorerinnerung durch die Gegenwart ist eine mögliche, noch nicht wirkliche; es fehlt ihr die Erfüllung durch eine selbstgebende, gegenwärtigende Wahrnehmung. Die intentionale Gegenständlichkeit der Vorerinnerung ist nicht diejenige der wirklichen Gegenwart. Eine Übereinstimmung von vorerinnernd Vermeintem und gegenwärtig Gegebenem findet künftig möglicherweise statt. Die vorerinnernde Aussage „Beim Gang durch die Stadt Rom wird es gewiss regnen“ impliziert, dass vielleicht auch die Sonne scheint. Der zukunftsvergegenwärtigende Akt erfüllt oder enttäuscht sich durch die konstituierende Gegenwart. Beide Möglichkeiten, Erfüllung sowie Enttäuschung, liegen im Wesen der Zukunftsvergegenwärtigung. Die Vergegenwärtigung der Gegenwart, die Gegenwartserinnerung stellt Gegenständliches vor, das in der Gegenwart als jetzt seiend gesetzt ist, ohne doch in leibhafter Präsentation wahrnehmbar zu sein. Dieses gegenwärtig Seiende kann vergegenwärtigend auf Grund einer früheren Wahrnehmung oder einer früheren Vergegenwärtigung vorgestellt werden. Das Gegenwartserinnerte gilt bis in die Gegenwart des vorstellenden Subjekts hinein als seiend. So vergegenwärtigen wir etwa den Straßenzug einer Stadt, den wir in einer bestimmten Vergangenheit gegenwärtigend selbst wahrgenommen haben oder von Reisebeschreibungen und Fotografien her kennen, und zwar als im Jetzt der Gegenwartserinnerung seiend. Der Straßenzug ist uns bereits bekannt, und wir behaupten in der Gegenwartserinnerung, dass er sich jetzt noch an dieser bestimmten Stelle befindet. Die Erinnerungswelt wird nicht primär als eine Vergangene rekonstituiert, sondern als gegenwärtig seiend prätendiert. Darin liegt nicht, dass wir uns von der erinnerten Welt ein Bild machen, welches wir als noch gegenwärtig seiend ansetzen. Die intendierte Gegenständlichkeit der Gegenwartserinne-

§ 7 Der phänomenologische Abweis der Bildertheorie

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rung vergegenwärtigen wir uns nicht etwa durch die Vorstellung einer Reihe von Abbildern, die das Erinnerte vergegenwärtigt widerspiegelt; vielmehr erscheint uns das intendierte Gegenständliche selbst in einer einfachen Setzung. Gemeint ist in der Gegenwartsvergegenwärtigung nicht die Bilderscheinung eines Vergangenen, deren Gegenstand wir als noch gegenwärtig seiend vorstellen, sondern die frühere gegenständliche Vorgestelltheit als sie selbst, und zwar in der Gegenwart des vorstellenden Subjekts als gegenwärtig seiend. Die gesetzte Welt der Gegenwartserinnerung als gegenwärtig seiende unterscheidet sich in ihrer Zeitlichkeit nicht von der Welt der gegenwärtigenden Wahrnehmung, so wie dies bei der Vergegenwärtigung einer vergangenen oder zukünftigen Welt der Fall ist. Das die Gegenwartserinnerung vollziehende Subjekt ist zeitlich in derselben Welt der Gegenwart wie das vergegenwärtigte Seiende. Die Gegenständlichkeit der gegenwärtigenden Wahrnehmung fällt in denselben Zeithorizont der Gegenwart wie die Gegenständlichkeit der Gegenwartsvergegenwärtigung. Unterschieden sind beide Gegenständlichkeiten und ihre dazugehörigen Erlebniswelten durch die originäre Fülle der Anschauung, bzw. durch das Fehlen dieser Fülle. Ob es sich mit dem vergegenwärtigten Gegenstand tatsächlich auch so verhält wie die Gegenwartsvergegenwärtigung vorgibt, ob etwa ‚das Fenster im Nebenraum‘, von dem es heißt, es sei geöffnet, tatsächlich geöffnet ist, lässt sich sogleich in einer leibhaften Wahrnehmung nachprüfen. Ich betrete diesen Nebenraum, in dem ich mich zuvor bei der gegenwartserinnernden Aussage nicht aufhielt, und nehme das Fenster als geöffnetes oder möglicherweise geschlossenes gegenwärtigend wahr. Der Anspruch der Gegenwartsvergegenwärtigung erfüllt bzw. enttäuscht sich durch die gegenwärtigende Wahrnehmung, die das zuvor in seinem Gegenwärtigsein bloß Vermeinte selbst gibt. Mit dieser groben Erörterung der gegenwärtigenden und vergegenwärtigenden Vorstellungsakte ist nun ihre phänomenologische Eigenart keineswegs erschöpfend dargestellt, noch sind überhaupt die Klassen der Vergegenwärtigungen vollzählig vorgestellt. Die nichtsetzenden Akte der Phantasievergegenwärtigung zum Beispiel wurden nur erwähnt. Dies sollte und konnte hier auch nicht geleistet werden. Vielmehr kam es uns bei der Kennzeichnung der gegenwärtigenden und vergegenwärtigenden Bewusstseinsakte allein darauf an, das Material für eine nähere Erörterung des phänomenologisch zu sehenden Bildbewusstseins bereit zu stellen. Erst dadurch, dass wir das phänomenologische Wesen der Bewusstseinsakte, wenn auch in groben Zügen, reproduzierend vor Augen geführt haben, sind wir nun in der Lage, die Theorie der dem Bewusstsein immanenten Abbilder angemessener in ihrer Unstimmigkeit aufzuklären und zudem das positive Phänomen des Bildbewusstseins in der rechten Weise zu fassen.

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

III. Das bildliche Vorstellen als medialer Akt Die positive phänomenologische Aufklärung des bildlichen Vorstellens geht einher mit der Frage nach dem phänomenologischen Sinn der Unwirklichkeit. Gelingt die Analyse der Akte, die Unwirklichkeit konstituieren, so muss zugleich auf das Wesen des bildlichen Vorstellens ein Licht fallen. Der Ausdruck ‚Unwirklichkeit‘ steht hier nicht für eine negierte Wirklichkeit. Die Unwirklichkeit konstituiert sich nicht durch eine ‚Beraubung‘ der Wirklichkeit. Es geht vielmehr um den Aufweis eines Nicht-seins, das im Wesen der intentionalen Gegenstände selbst liegt. In dieser noch aufzuklärenden Bedeutung können alle diejenigen Bewusstseinserlebnisse als ‚Unwirklichkeit konstituierend‘ bezeichnet werden, die ihren intentionalen Gegenstand gleichsam so vorstellen, als wäre er selbst gegeben.47 Dass diese Bestimmung mit dem bildlichen Vorstellen ‚irgendwie‘ zusammenhängt, ist anzunehmen, aber noch unklar. Das bildliche Vorstellen, dies muss zudem vorausgeschickt werden, wird nur verständlich im Blick auf die Analyse der Neutralitätsmodifikation. Husserl unterscheidet in den Ideen48 im Zusammenhang der Strukturanalyse der intentionalen Erlebnisse am intentionalen Akt zweierlei: a) das intentional Bewusste, also das, was erlebnismäßig vorstellig wird, den noematischen Sinneskern und b) seine thetischen Charaktere, also wie der intentionale Gegenstand bewusst wird. Die thetischen Charaktere sind die Bewusstseinsweisen, in denen der Gegenstand vorgestellt wird. Sie sind die doxischen Modalitäten des Gewissseins, Möglichseins usw., also Modalitäten der Akte, die ihr Vorgestelltes als seiend setzen. Diese doxischen Modalitäten, die die Qualität des Aktes bestimmen, können neutralisiert werden. Der Erfahrungsglaube, in dem das Subjekt normalerweise Gegenständliches vorstellt, wird modifiziert in den „Glauben im Modus des Als-ob“.49 Eugen Fink, dessen Schrift Vergegenwärtigung und Bild uns hier als Leitfaden dient, unterscheidet im Husserlschen Sinne die Neutralitäten des Vollzugs von den Neutralitäten des Gehalts.50 In den Logischen Untersuchungen werden vornehmlich die Vollzugsneutralitäten thematisiert. Zu jedem möglichen Objekt gehört eine Vorstellung, die sich auf dieses Objekt bezieht, sei dieses nun seinssetzend oder nicht setzend, das heißt, bloß vorstellend.51 Jedem Objekt entspricht seine setzende oder nicht set47

Eugen Fink: Vergegenwärtigung und Bild, S. 67. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Husserliana Band III, 1, § 109, S. 247 ff., § 112, S. 252 ff. 49 Eugen Fink: Vergegenwärtigung und Bild, S. 69. 50 A. a. O., S. 70. 51 V. Logische Untersuchung, § 39, S. 505 (485). 48

§ 7 Der phänomenologische Abweis der Bildertheorie

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zende Vorstellung. Im bloßen Vorstellen des Objekts wird seine Seinssetzung, die sich in den genannten doxischen Modalitäten qualitativ vollzieht, neutralisierend modifiziert. Die qualitative Modifizierung eines Aktes ist aber eine ganz andere Handlung des Bewusstseins als die iterativ beliebig wiederholbare Vorstellung dieses Aktes. Die Vorstellung der Vorstellung des Aktes als bewusstseinsmäßige Handlung ist nicht zu verwechseln mit der qualitativen Modifizierung dieses Aktes. Die Modifizierung der Qualität ist nicht wiederholbar, sondern vielmehr der einmalige neutralisierende Vollzug des Bewusstseins.52 Die bloße Vorstellung des Aktes als das Gegenstück seiner objektivierenden Setzung lässt die vorgestellte Gegenständlichkeit „d a h i n g e s t e l l t sein“,53 sie enthält sich einer Seinssetzung, genauer, sie modifiziert diese neutralisierend. So etwa bei der Bildbetrachtung, bei der wir das Sein oder Nichtsein der dargestellten, abgebildeten Gegenständlichkeit dahingestellt sein lassen und ‚nur‘ die ästhetischen Werte des Bildes wirken lassen. In der Erlebnisweise der Vollzugsneutralität konstituiert das Subjekt sein intentional Vermeintes nur als scheinbar wirklich. Diese Bestimmung gilt nicht nur für den Erfahrungsglauben, sondern allgemein für alle aktmäßigen Erlebnisse des Bewusstseins. Jedes bewusstseinsmäßige Vorstellen kann sich qualitativ neutral vollziehen. Im Neutralitätserlebnis des Gehalts konstituiert das Subjekt den Schein.54 Das Neutrale der Konstitution liegt, anders als bei der Neutralität des Vollzugs, nicht in einer Modifizierung der thetischen Charaktere, also der seinssetzenden Bewusstseinsweisen des Subjekts, sondern im noematischen Sinneskern selbst. Die gehaltsneutralisierenden Akte bergen in ihrem Was, also im intentional Bewussten, eine Unwirklichkeit.55 Damit ist eine bestimmte Klasse von Akten gekennzeichnet, die im Gehalt ihrer intentionalen Aktkorrelate „ein abstraktes Moment“56 der Unwirklichkeit tragen. Dies aber nicht so, dass ein positionaler, seinssetzender Akt einen neutralen Akt begründet. Vielmehr bedeutet das Verhältnis von positionalem und neutralem Akt „eine innere Komplikation“57 in der intentionalen Struktur eines Aktes, der dennoch einheitlich ist; das heißt, es sind in ein und demselben Akt das unwirkliche Moment und das wirkliche Sein des Noema vereint. Mit anderen Worten: Die im Sinneskern liegende Unwirklichkeit bricht die Einheit des Aktes nicht auf, sondern konstituiert sie 52 53 54 55 56 57

A. a. O., S. 506 (486). A. a. O., S. 507 (487). Eugen Fink: Vergegenwärtigung und Bild, S. 71. Ebd. Ebd. Ebd.

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

mit. Solche Akte mit der inneren Komplikation eines neutralen Momentes präsentieren eine Unwirklichkeit in anschaulicher Fülle, wie dies zum Beispiel im Bildbewusstsein geschieht. Das Bildbewusstsein konstituiert sich in der Erlebnisneutralität des Gehalts. Zu ihm als zu einem einheitlichen Akt gehört das neutrale Moment der scheinbaren Wirklichkeit. Diese Konstitution eines Scheins ist nur möglich auf dem Grund der vorgängigen Einheit des Aktes. In ihrer Gesamtheit heißen diese einheitlichen Akte, die auch die Akte des bildlichen Vorstellens noch umgreifen und sich dadurch auszeichnen, dass sie in innerer Komplikation ein neutrales Moment tragen, mediale Akte.58 Da ihre intentionalen Korrelate in gewisser Weise wirklich sind, das heißt in anschaulicher Fülle erscheinen, sind sie auch iteriert vorstellbar. So kann das Vermeinte im bildlichen Vorstellen als ein medial vorgestelltes Wirkliches wiederum Gegenstand einer neuen medialen Vorstellung werden. Bildbewusstsein konstituiert sich in medialen Akten im phänomenologischen Sinn der erlebnismäßigen Gehaltsneutralität. Im einheitlichen, wirklichen Wesen der medialen Akte zeigt sich Unwirkliches, wird Unwirkliches zugänglich. Die medial konstituierte scheinbare Wirklichkeit ist das, was Husserl in der V. Logischen Untersuchung als das vermeinte „a b g e b i l d e t e Objekt“59 bezeichnet hat. IV. Das Bildphänomen in der Verschmolzenheit von Bildwelt und Bildweltträger Wie ist nun auf Grund der angestellten Überlegung das Bildphänomen selbst als der intendierte Gegenstand des bildlichen Vorstellens zu fassen? Der Hauptirrtum der traditionellen Bildertheorie, derzufolge den gegenständlichen Vorstellungen überhaupt ein Bildbewusstsein unterschoben ist, liegt im Übersehen eines wichtigen Punktes. Wir können nun genauer sagen: Übersehen wurde, dass das Subjekt ein erscheinendes Bildobjekt medial vorstellt. Anders gesagt: Die Bildtheoretiker übersahen das bildliche Vorstellen in seiner phänomenologischen Berechtigung als den einheitlichen Akt einer Vorstellung des Bildweltträgers, der sich etwa in Farbe, Pinselstrich konstituiert, und der Bildwelt.60

58

A. a. O., S. 72. V. Logische Untersuchung, Beilage zu den Paragraphen 11 und 20, S. 436 (422). 60 Eugen Fink: Vergegenwärtigung und Bild, S. 76. 59

§ 7 Der phänomenologische Abweis der Bildertheorie

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Die Bildweltlichkeit eines Landschaftsgemäldes wird vorgestellt durch die impressionale Gegenwärtigung des erscheinenden Bildphänomens. Die Idee vom ‚Unwirklichen‘ steht hier offenbar nicht im Zusammenhang der in der Zeitlichkeit gründenden Akte der Vergegenwärtigungen. Unwirklich ist die Bildwelt nur insofern, als sie zusammen erscheint und zusammen vorgestellt wird mit ihrer korrelativen Wirklichkeit. Wirklich ist in der gegenwärtigenden Wahrnehmung des Gemäldes sein intentionaler Bildweltträger. Unwirklich ist die intentionale Bildweltlichkeit, die nur durch die anschauliche Fülle des Bildweltträgers hindurch präsentiert wird. Das kann nicht bedeuten, dass die Bildwelt ohne anschauliche Fülle wäre. Gesagt ist damit vielmehr, dass sie anschaulich erfüllt ist – im Modus der Unwirklichkeit, also auf Grund des Bildweltträgers vorgestellt wird, auf den jedoch das bildliche Vorstellen nicht primär abzielt. Die enge Verschmolzenheit von Bildweltträger und der abgebildeten bildweltlichen Gegenständlichkeit ist die Eigentümlichkeit jedes Bildphänomens. Sobald das abgebildete Objekt von seinem Träger getrennt wird, wir uns etwa ein Porträt ohne die es tragende Leinwand und ohne seine Farben vorstellen, verliert das Vorgestellte den Charakter der Bildlichkeit und zerfällt in zwei getrennte Teile, von denen jeder für sich nicht schon das Bildphänomen ausmacht. Das Bild ist die Einheit der Korrelate Bildwelt und Bildweltträger.61 Randbemerkung: Inwiefern in der „Gegenstandslosen Malerei“, deren abgebildete Gegenständlichkeit geradezu als Ungegenständlichkeit bezeichnet werden kann, noch von einer „Bildwelt“ als einer konstituierten Gegenstandswelt die Rede sein kann, bleibe hier dahin gestellt. Müsste man nicht, phänomenologisch gesehen, eine Abstrakte Kunst in ihrem schöpferischen Gegenzug zur gegenständlich darstellenden Kunst den Charakter der Bildlichkeit absprechen? Es sei denn, und dies scheint sinnvoll, man versteht unter der Bildweltlichkeit im weiteren Sinne dasjenige Korrelat des Bildphänomens, welches alle möglichen Arten der gegenständlichen Darstellung in sich fasst; also auch die so genannten gegenstandslosen Darstellungen als die Arten, die einer gegenständlichen Darstellung ihrer Bildweltlichkeit im weiten Sinne entspringen. Die Bildwelt ist dann zu verstehen als eine Welt nicht von konkreten, abgebildeten Gegenständen im engen Sinne, sondern im weiten Sinne von Gegenständlichkeit überhaupt. Und dies ist in der phänomenologischen Bildanalyse wohl auch gemeint. Die Bildwelt hat nun die Eigenschaft, ihren Träger zu verdecken. Dieser Grundzug der Verdecktheit führte auch in der traditionellen Bildtheorie dazu, dass sie als Verdecktheit nicht erkannt wurde. ‚Seiendes‘ von der Art der Verdecktheit ist aber gleichwohl vorhanden und aufweisbar. 61

A. a. O., S. 75.

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

Verdeckt ist der Bildweltträger insofern, als unser Interesse beim Betrachten von Bildern sich für gewöhnlich nicht auf den Träger richtet, sondern auf das abgebildete Korrelat selbst. Das heißt aber, dass wir den Träger eines Bildes interessemäßig zwar außer Acht lassen, im Erkenntnisvorgang des Bildes aber gleichwohl nicht ‚übergehen‘ können. Über den Bildweltträger hinweg können wir nicht zum Abgebildeten gelangen. Vielmehr ist es notwendig, wollen wir überhaupt zu der Vorstellung eines Bildphänomens gelangen, ‚durch‘ den Bildweltträger vorstellungsmäßig sozusagen ‚hindurchzugehen‘. Durch den Bildweltträger hindurch ist die Bildwelt selbst gemeint. Nirgends im Bewusstsein und seinen Erlebnissen des Urteilens und Erkennens jedoch kann dieser Bildweltträger positiv als ein reeller Bestandteil aufgewiesen werden. Diese Tatsache, dass der Aufweis eines intentional wahrnehmbaren Bildträgers im Bewusstsein aus einsehbaren Gründen ganz unmöglich ist, entzieht der irrtümlichen Rede der Bildertheorie jeden berechtigten Boden.62

§ 8 Die Erfüllungssynthesis als das Wesen der Erkenntnis Wir haben in der bisherigen Erörterung des zweiten Kapitels versucht, das Wesen der Intentionalität des Bewusstseins zu zeigen, nahe liegende Fehldeutungen in Hinsicht auf den Erkenntnisvorgang überhaupt und insbesondere das Wesen des bildlichen Vorstellens betreffend aufzudecken und zugleich ihre positiven, phänomenologisch aufweisbaren Wesenszüge vor Augen zu führen. Im Folgenden werden wir auf die Gesamtklasse der objektivierenden Akte, die bereits in der genannten Hinsicht thematisch war, unser besonderes Augenmerk richten, da sich in ihr die Erkenntniseinheit von bedeutungsverleihenden und -erfüllenden Akten konstituiert. Das Wahrsein, dies sei vorweg gesagt, wird uns gelten als die größt- und letztmögliche Steigerung der intentionalen Erfüllungssynthesen zum Vollkommenheitsideal der adaequatio.63 Die phänomenologische Aufklärung der Erkenntnis überhaupt, die zugleich das phänomenologische Wesen der Wahrheit ans Licht bringen muss, ist zugleich die Aufklärung der Erfüllungssynthesen. „Der Umstand, dass sich die Bedeutungsintention in der Weise der Erfüllung mit der Anschauung einigt, gibt dem in der letzteren erscheinenden O b j e k t e, wo wir ihm primär zugewendet sind, den Charakter des Erkannten.“64 62 63

A. a. O., S. 77. Vgl. VI. Logische Untersuchung, Einleitung, S. 540 f. (5).

§ 8 Die Erfüllungssynthesis als das Wesen der Erkenntnis

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Von den Bedeutungsintentionen war bereits im Zusammenhang mit der Bestimmung des Ausdrucks die Rede.65 Die Bedeutungsintentionen sind die dem Ausdruck wesentlichen Akte des Vermeinens. Die bedeutungserfüllenden Akte gelten uns als die dem Ausdruck außerwesentlichen Intentionen, die ihn anschaulich erfüllen können. In der Erfüllungssynthese gelangen die Bedeutungsintentionen und -erfüllungen zu einer Einheit. Diese hat den Charakter einer Identifizierungseinheit.66 Die anschauliche Fülle der Bedeutungserfüllung verschmilzt mit der Bedeutungsintention zur Einheit der wahren Erkenntnis. Als wahr erkannt wird solches, was in der Bedeutungsrichtung nicht bloß leer vermeint ist, sondern in anschaulicher Erfüllung, etwa in einer gegenwärtigenden Wahrnehmung, seine Bestätigung findet. Im Erfüllungserlebnis zeigt sich, dass der zunächst bloß signitiv gemeinte Gegenstand derselbe ist wie der, den die Anschauung gibt. Erkenntnis des Gegenständlichen, so wie es sich zeigt, und Erfüllung der bedeutungsverleihenden Akte meinen denselben Sachverhalt.67 Im Akt der Identifizierung wird der intentionale Gegenstand als bloß signitiv vermeinter und in der Anschauung gegebener in Eins gesetzt.68 Beides zusammen gilt dem erkennenden Subjekt als identisch. Die bisher gemachte Voraussetzung, dass der Bedeutungsintention eine vollkommene Erfüllung entspricht, muss eingeschränkt werden. Nicht jede anschauliche Fülle kann die völlige Übereinstimmung mit dem Vermeinten gewähren. Ebenso wohl ist es möglich, dass eine anschauliche Gegenwärtigung das Vermeinte nicht nur nicht erfüllt, sondern in Widerspruch mit ihm gerät oder ihm nur teilweise angepasst ist.69 Die Weisen der Bedeutungserfüllung und auch -enttäuschung sind vielfältig. Die Akte des Identifizierens gehören hinsichtlich der zu identifizierenden Gegenständlichkeit zur Erkenntniseinheit mit dazu, ob es sich nun um eine partielle oder vollkommene Erfüllung (bzw. Enttäuschung) handelt. I. Die objektivierenden Akte der Identifizierungen und ihre entsprechenden Erfüllungsweisen Im Übergang von der bloß signitiven Vorstellung des Gegenstands zu seiner anschaulichen Vorstellung vollziehen sich Identifizierungen in signitiven und intuitiven Akten. In ihnen geht es grundsätzlich um die Annäherung 64 65 66 67 68 69

A. a. O., § 8, S. 568 f. (35). s. diese Arbeit § 4. VI. Logische Untersuchung, § 13, S. 584 (51). A. a. O., § 8, S. 567 (33). A. a. O., § 8, S. 568 f. (35). A. a. O., § 12, S. 576 f. (43 f.).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

und Erreichung der Erfüllungseinheit, des Erkenntnisziels, und nicht um deren Enttäuschung.70 Die Einheit der Identifizierung selbst als die Zusammengehörigkeit der verleihenden und erfüllenden Intentionen entspringt der Gesamtklasse der objektivierenden Akte. Zu ihnen gehören alle Akte der Identifikation und Unterscheidung, der Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung, also solche Akte, die sich auf einen objektiven Gegenstand richten; im Gegensatz zu den nicht objektivierenden Akten, die im Gegenständlichen zwar fundiert sind, ihrem eigenen intentionalen Sinn nach aber nicht gegenständlich sind.71 Dass es objektivierende Akte sind, die zur Erfüllung oder Enttäuschung gelangen, gilt als Grundvoraussetzung. Diese Grundklasse der objektivierenden Akte unterscheiden sich ihrem intentionalen Charakter nach in signitive (signifikative) und intuitive Akte.72 Wie sich zeigen lässt, haben die Objektivationen ihnen zugehörige Unterschiede der Erfüllungsweisen, die eng mit dem Charakter der Intentionalität verbunden sind, so dass die objektivierenden, intentionalen Akte durch die unterschiedlichen Erfüllungsweisen gekennzeichnet sind. Durch die signitiven und intuitiven Aktunterschiede innerhalb der Klasse der objektivierenden Akte sind die untereinander wesentlich verschiedenen Weisen der Identifizierungen phänomenologisch bestimmbar. Der Versuch dieser näheren Charakteristik soll uns zugleich als Erläuterung der bisher bloß aufgestellten These von der Verschiedenheit der Erfüllungen dienen. Die signitiven Intentionen galten uns in der I. Logischen Untersuchung als die Eigentümlichkeiten der Zeichen im Sinne der Ausdrücke.73 Sie waren dort als diejenigen intentionalen Akte gekennzeichnet, die dem Ausdruck Bedeutung verleihen und ihren gegenständlichen Bezug ausmachen. Die bedeutungsverleihenden Intentionen haben zwar „einen intuitiven A n h a l t“74, das heißt, sie haben möglicherweise eine intuitive Entsprechung, Erfüllung; diese anschauliche Erfüllung ist ihnen jedoch außerwesentlich. Die eigentümliche Unterschiedenheit der dem Ausdruck eigenen signitiven Akte von den rein intuitiven Akten, die zugleich in ihrer unterschiedlichen Erfüllungsweise begründet sind, zeigt sich im Vergleich von Zeichen und Bild.75 Das Zeichen, hier76 von Husserl im Sinne des Anzeichens verstanden, kann als seinen erfüllenden Sinn solches bezeichnen, was ihm selbst unähn70

A. a. O., § 13, S. 584. (51). Vgl. Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 53; aber auch VI. Logische Untersuchung, § 13, S. 584 f. (51 f.); § 70, S. 749 f. (221). 72 VI. Logische Untersuchung, § 14 a, S. 586 (53). 73 I. Logische Untersuchung, § 9. 74 VI. Logische Untersuchung, § 14 a, S. 586 (53). 75 A. a. O., § 14 a, S. 586 f. (54). 71

§ 8 Die Erfüllungssynthesis als das Wesen der Erkenntnis

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lich ist. Es kann Gegenständliches von der verschiedensten Art bezeichnen, etwa Richtungen, Gefahrenstellen, Verbote oder Gebote und dergleichen und dient der Anzeige existierender Sachverhalte; ob diese Sachverhalte dem Zeichen inhaltlich ähnlich oder unähnlich sind, spielt dabei keine Rolle, das heißt, die Ähnlichkeit bzw. die Unähnlichkeit mit dem Bezeichneten ist dem Zeichen nicht wesentlich. Anders beim Bild, das wir hier präzise als die medial vorgestellte Deckungseinheit von Bildwelt und Bildweltträger auffassen. Das Bild und die es abbildende Sache stehen im Verhältnis der Ähnlichkeit. Erst der dem Bild wesentliche Charakter der Ähnlichkeit macht es zum Abbild einer abgebildeten Sache. Beide, sowohl Zeichen als auch Bild konstituieren sich in rein intuitiven Akten, in denen das Bild sich ‚zunächst‘ rein anschaulich als Träger einer Bildlichkeit zeigt, das Zeichen analog als bezeichnendes Objekt. In diesen rein intuitiven Akten sind aber Bild und Zeichen noch nicht erkannt.77 Zum abbildenden bzw. bezeichnenden Objekt kommen beim Erkenntnisvorgang neue intentionale Akte hinzu, die gleichsam durch das rein intuitiv gegebene Objekt ‚hindurchgehen‘ und seinen inhaltlichen Sinn meinen. Das heißt auch, dass der sich zeigende Gegenstand, die sich zeigenden Objekte ‚Bild‘ und ‚Zeichen‘, schon die erste anschauliche Erfüllung eines bloß signitiv Vorgestellten sind. Mit dem intuitiven Wahrnehmungsakt des erscheinenden Bild-, Zeichenobjekts ist das sich zeigende Phänomen aber noch nicht als Bild bzw. als Zeichen erkannt. Aber im Erkenntnisakt ist nicht die anschauliche Erscheinung ‚Bildobjekt‘ oder ‚Zeichenobjekt‘ als Träger gemeint, sondern dasjenige, was in diesen Objekten abgebildet bzw. bezeichnet ist. Das Gemeinte fassen wir in einer neuen Intention auf, die freilich mit der ersten, rein intuitiven den einheitlichen Akt des bildlichen Vorstellens konstituieren. Diese neuen Intentionen gehören zur Erkenntnis des Bildes und des Zeichens und sind nicht von außen an sie herangetragen. So als wäre das intentionale Meinen der abgebildeten bzw. bezeichneten Sache ein Vorstellungsakt, den das Bewusstsein vollziehen und nach Belieben auch unterlassen könnte.78 Der Erscheinungsgehalt, der sich im Erkennen konstituiert, bestimmt den Charakter der Intentionen in wesentlicher Weise. Nicht „die objektive Tatsache der Ähnlichkeit“79 zwischen der Erscheinung des Bildes bzw. des Zeichens und der in ihnen gemeinten Sache, die bei Bild und Zeichen in gleicher Weise gegeben sein kann, entscheidet über den Erfüllungssinn beider Phänomene, sondern die Verschiedenartigkeit der intentionalen Erfüllungsweise, die vom erscheinenden Objekt bestimmt wird. Während zur Erscheinung des Bildes 76 77 78 79

Ebd. A. a. O., § 14 a, S. 586 (54). Ebd. Ebd.

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

die Ähnlichkeit der abgebildeten Sache gehört, also durch diese Erscheinung einen neuen intuitiven Akt erfordert, ist der Erscheinung des Zeichens diese Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten nur zufällig. Der Erscheinungsgehalt von Bild und Zeichen bestimmt also verschiedene Weisen anschaulicher Erfüllung. Die Erfüllungssynthesis im bildlichen Vorstellen vollzieht sich imaginativ80, das heißt, das intentionale Meinen des abgebildeten Gegenstands geschieht in den Bewusstseinsakten der Imagination und kann auf diese Weise, ohne dass der ähnliche Gegenstand leibhaft gegenwärtig wäre, zur anschaulichen Erfüllung gelangen. Die besondere Art der neuen, imaginativen Erfüllung gründet in der bereits intuitiv gegebenen Erscheinung des Bildobjekts. Der Erscheinungsgehalt des Zeichenobjekts, in seiner wesentlichen Unähnlichkeit mit dem Bezeichneten, bestimmt auch den Charakter der intuitiven Erfüllung in anderer Weise. Zur Erfüllung gelangt hier nicht ausdrücklich die Ähnlichkeit von Erscheinendem und Gemeintem, sondern, ob ähnlich oder unähnlich, die Erscheinung des Zeichenobjekts und das es Bezeichnende durch einen neuen intuitiven Akt der Bedeutungserfüllung. Die unterschiedliche Erfüllungsweise von Bild und Zeichen, die durch Ähnlichkeit (beim Bild) und durch zufällige Ähnlichkeit (beim Zeichen) wesentlich im Erscheinungsgehalt fundiert ist, wirft auch auf den unterschiedlichen intentionalen Charakter dieser Synthesen ein Licht. Mit anderen Worten: Die verschiedenen Erfüllungsweisen haben ihren Grund in der Verschiedenheit des Erscheinungsgehalts. Während zur Erfüllungssynthesis des Bildes, die sich imaginativ vollzieht, die Ähnlichkeit gehört, erfüllt sich die Vorstellung des Zeichens, der signifikativen Intention, in der wesenhaften Unähnlichkeit zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. II. Die Erfüllungsweise der Wahrnehmung Zur Charakterisierung der unterschiedlichen Erfüllungsweisen der Intentionen führt Husserl die selbstgebende Erfüllung der Wahrnehmung an.81 In der Wahrnehmung erscheint der Gegenstand selbst und nicht bloß vergegenwärtigt, imaginativ oder signitiv, also in Akten, die den Gegenstand nicht in leibhafter Gegenwärtigung geben. Während die Akte der Imaginationen in der Synthesis der Ähnlichkeit Erfüllung finden, vollzieht sich im Wahrnehmungsakt eine Identifizierung von bloß signitiv Vermeintem und dem Selbstgebendem der Wahrnehmung. „Die Sache bestätigt sich durch sich ‚selbst‘ “82, nämlich dadurch, dass wir sie als eine und dieselbe aus 80 81 82

A. a. O., § 14 a, S. 587 (55). A. a. O., S. 588 (56). Ebd.

§ 8 Die Erfüllungssynthesis als das Wesen der Erkenntnis

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verschiedenen Blickwinkeln wahrnehmen. Die Wahrnehmung erfüllt sich „durch die S y n t h e s i s der s a c h l i c h e n Identität“.83 Dies leuchtet nicht sogleich ein. Denn besteht diese Bestimmung zu Recht, der Gegenstand sei in der Wahrnehmung selbst gegeben, wenn wir sogleich hinzufügen müssen, dass wir den Gegenstand nur jeweils in wechselnden Blickwinkeln von einer Seite anschauen und ihn nie ‚ganz‘ wahrnehmen können? Die Bestimmung der Selbstgegebenheit der Sache durch die Akte der Wahrnehmung besteht immerhin als eine Behauptung84 und als solche muss sie präzisiert werden. In den Wechselfällen der sinnlichen „ ‚äußeren‘ “85 Wahrnehmung ist die Selbstgegebenheit tatsächlich nur behauptet, denn die Sache ist in der Wahrnehmung nicht als Ganze so gegeben wie sie gemeint ist. Der Gegenstand erscheint nur „perspektivisch verkürzt und abgeschattet“.86 Einen Berg nehmen wir gegenwärtigend nur von der Seite wahr, die uns zugekehrt ist, die wir vor uns haben. Wir sehen Bäume, Felsen, Schnee und dergleichen. Indem wir im Ausdruck ‚Berg‘ den ‚ganzen‘ Berg selbst meinen, ist uns seine Rückseite, wenn wir in der Wahrnehmung seine Vorderseite betrachten, verborgen. Ist uns also in der gegenwärtigenden Wahrnehmung der Berg in größtmöglicher Anschaulichkeit gegeben, die keiner weiteren Erfüllung mehr bedarf? Offenbar nicht. Denn gehen wir nicht eigens um den Berg herum, um seiner Rückseite ansichtig zu werden, so bleibt diese Rückseite des Berges, die wir im Ausdruck ‚Berg‘ mitmeinen, ungesehen. Mit anderen Worten: Die Selbstgegebenheit des Gegenstands in der Wahrnehmung ist nicht im strengen Sinne zu verstehen, sondern meint eine selbsthafte Gegebenheit des wahrgenommenen Gegenstands in der Weise seiner Abschattung und perspektivischen Verkürzung.87 Offenbar ist im Ausdruck ‚Berg‘ nicht der äußere Gegenstand nur von der Seite her gemeint, die mir zufällig zugekehrt ist, sondern der ganze Berg mit allen seinen Seiten. III. Die Erfüllungssynthesis in ihrer Veranschaulichung der Gegenständlichkeit und dem Erkenntnisziel der idealen Selbstgegebenheit Der Gegenstand selbst in seiner leibhaften Gegenwärtigung wird nur unvollkommen vorgestellt und kann immer noch vollkommener, anschaulicher wahrgenommen werden. Erst „im idealen Grenzfalle der adäquaten Wahr83 84 85 86 87

Ebd. A. a. O., § 14 b, S. 589 (56). Ebd. Ebd. A. a. O., § 16, S. 597 f. (65).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

nehmung“88 des Gegenstands erfüllt sich die Behauptung, dass die Wahrnehmung den Gegenstand selbst gebe. In der adäquaten Wahrnehmung sind der rein empfundene Inhalt der Intention und der wahrgenommene Gegenstand eins.89 Der Gegenstand ist in idealer Weise genau so gegeben wie er gemeint ist. Die vielfachen gegenwärtigenden Wahrnehmungen, die den Gegenstand als ihn selbst, und zwar abgeschattet geben, sind aber nicht losgelöst vom Ideal der Adäquation, sondern stehen in der Beziehung einer engen Zusammengehörigkeit zu ihm. Ob der Gegenstand von oben, unten, von nah oder fern usw. betrachtet wird, gegenwärtig ist in allen Fällen der subjektiven Wahrnehmung der Gegenstand selbst in ideal einer Bedeutung. Die Erfüllungssynthesen, in der Vielfalt ihrer Vollzugsweisen, die den Gegenstand ‚Berg‘ in allen möglichen Abschattungen und Perspektiven geben können, intendieren ihn letztlich als ihn selbst in der idealen Fülle der Adäquation. Das kann nicht bedeuten, dass die Vorstellungsakte des Bewusstseins, nachdem sie den Gegenstand gegenwärtigend oder vergegenwärtigend vorgestellt haben, nun auch noch die ideale Einheit seiner Gegebenheit intendieren. Vielmehr ist der Gegenstand in den abschattenden Vorstellungen zugleich als ‚ideal einer‘ gemeint. In den vielfach unterschiedenen Erfüllungssynthesen wird der Gegenstand, so wie er sich selbst zeigt, mit sich selbst identifiziert, und zwar im Sinne der vollkommenen Fülle der Adäquation.90 Wenn wir betonen, dass in einer jeden Erfüllungssynthese, die den Gegenstand in einer perspektivischen Abschattung und Verkürzung selbst gibt, seine ideale Selbstgegebenheit zugleich und in einem intendiert sei, heißt das dann auch, dass der intendierte Gegenstand damit schon vollkommen erkannt ist? Wohl nicht. Vielmehr bringen uns die Formen der Identifizierungen in ihrer mehr oder minder großen anschaulichen Fülle „dem E r k e n n t n i s z i e l näher“.91 Zwar ist die vollkommene Fülle der idealen Adäquation in den einzelnen Identifizierungen intendiert, aber so, dass sie den Erfüllungssynthesen gleichsam die einzuschlagende Richtung des Erkenntnisvorgangs angeben. Die mannigfachen Intentionen der Identifizierungen bewegen sich mit immer zunehmender anschaulicher Fülle auf die vollkommene Erkenntnis des reinen Gegenstands zu, die selbst keiner weiteren Veranschaulichung mehr bedarf, also selbst keinen intentionalen Charakter mehr hat. Die Erfüllungssynthesen, die sich in ständig zunehmender anschaulicher Fülle dem Er88 89 90 91

A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O.,

§ 14 b, S. 590 (57). S. 589 f. (57 f.). S. 590 (58). § 16, S. 597 (65).

§ 8 Die Erfüllungssynthesis als das Wesen der Erkenntnis

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kenntnisziel nähern, stehen in einer gewissen ‚Relation‘, das heißt, in der Beziehung der wesentlichen Zusammengehörigkeit zum adäquat wahrnehmbaren Gegenstand in seiner idealen Erkenntnisfülle. Relativ zum Gegenstand selbst und ausgerichtet auf ihn geben sie den Gegenstand, je mehr sie an anschaulicher Fülle gewinnen, desto „ d i r e k t e r“.92 Zwar vermögen die veranschaulichenden Erfüllungen nie den Gegenstand selbst zu geben (im strengen Sinne), dies bleibt der idealen Fülle der Adäquation vorbehalten, aber sie können in ihrer veranschaulichenden Funktion den angeschauten Gegenstand ‚in die Nähe‘ der Sache selbst ‚bringen‘. Diese Veranschaulichungen geraten so in die direkte Nähe der vorgestellten Gegenständlichkeit selbst, ohne doch die vollkommene absolute Fülle der adäquaten Wahrnehmung aufweisen zu können. So können wir den Ausdruck ‚Berg‘ veranschaulichen, indem wir den im Ausdruck vermeinten Gegenstand von allen Seiten betrachten, ihn aus möglichst vielen Perspektiven wahrnehmen, unter den günstigsten Lichtverhältnissen, von denen wir die anschaulichsten Vorstellungen erwarten, und es wird uns gelingen, in die direkte Nähe der Sache selbst vorzudringen, ohne den gemeinten Gegenstand doch in ideal vollkommener Anschaulichkeit zu ‚erreichen‘. Der „V o r z u g“93 der anschaulichen Fülle steigert sich in der Stufenfolge der immer vollkommeneren Erkenntnis. Das Ziel solcher stufenweisen, den Vorzug der anschaulichen Fülle gewährenden Veranschaulichungen ist „d a s Z i e l d e r a b s o l u t e n E r k e n n t n i s , d e r a d ä q u a t e n S e l b s t d a r s t e l l u n g d e s E r k e n n t n i s o b j e k t s“,94 das heißt, einer solchen Erkenntnis, in der die reine Gegenständlichkeit selbst in vollkommener, anschaulicher Fülle nicht (etwa bloß) ‚direkt‘, sondern unmittelbar selbst adäquat gegeben ist. IV. Die Erfüllungsstufen der intuitiven Akte Die Vollkommenheitsunterschiede der anschaulichen Fülle geben an, in welchem Maße eine direkte Annäherung an den Gegenstand selbst erreicht ist. Betrachtet man diese Stufen der Erfüllungssynthesen näher, so ergeben sie konkret aufweisbare Vollkommenheitsunterschiede. Die signitiven Akte als die dem Ausdruck bedeutungsverleihenden Intentionen als die erste Stufe der Erfüllung zu kennzeichnen, wäre ungenau. Denn die signitiven Intentionen sind nicht schon eine erste Steigerungsstufe der Anschaulichkeit, denn sie sind ganz und gar anschauungsleer. Vielmehr können sie als der eigentliche Gegensatz zu den erfüllenden Bewusstseinsakten gelten.95 92 93 94

Ebd. Ebd. A. a. O., S. 598 (66).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

Sie sind sozusagen die Grundstufe für alle möglichen Stufen der Veranschaulichung. Wenn Husserl sagt, die signitiven Akte bilden die unterste Stufe in der Vollkommenheitsreihe der Veranschaulichungen96, so ist dies so zu verstehen, dass sie als zunächst leere Bedeutungsintentionen ohne Anschaulichkeit für die Anschauungen der Bedeutungserfüllungen empfänglich sind. Diese grundsätzliche Empfänglichkeit der signitiven Intentionen bestimmt wesentlich die unterste Erfüllungsstufe, da es eine Stufe, die in ‚noch erhöhterem Maße‘ empfänglich wäre, nicht geben kann, wenn anders die Rede vom Wesen der signitiven Akte nicht ihren Sinn verlieren soll. Diese unterste Stufe der Erfüllung ist darum noch nicht die erste, wenn wir sinnvollerweise als die erste Stufe der schrittweisen Veranschaulichung eine solche ansetzen, die tatsächlich positiv bereits anschauliche Fülle enthält, wenn auch nur in geringem Maße. Wir werden auch nicht sagen können, dass die intuitiven veranschaulichenden Intentionen mehr Anschaulichkeit gäben als die Intentionen der zugrunde liegenden untersten Stufe, wenn wir in dieser untersten Stufe der signitiven Akte gar keine Spur der Anschaulichkeit erblicken können. Man sieht leicht, dass die Bezeichnung Stufe für diese Akte nicht ganz unproblematisch ist, dass die signitiven Akte keineswegs schon eine Stufe anschaulicher Erfüllung darstellen. So weist Husserl, die Sonderstellung der signitiven Akte innerhalb der Erfüllungsreihen sehr wohl sehend, auch auf den „gemeinsamen Gegensatz“97 der Wahrnehmungen und Imaginationen zu den signitiven Akten hin als auf den Gegensatz zwischen dem leer vermeinten Gegenstand und seinem anschaulichen Inhalt. Dennoch scheint für die ‚Einreihung‘ der Bedeutungsintentionen (unter dem genannten Vorbehalt) in die Stufenfolge der veranschaulichenden Akte ein gewisses Recht zu bestehen. Denn dass diese signitiven Akte im Erkenntnisvorgang in Verbindung mit den erfüllenden, intuitiven Akten stehen, ist unbezweifelbar. Sind es doch die signitiven Intentionen, die mit Anschauung erfüllt werden. So setzt die Stufenfolge der Erfüllungen genau genommen nicht schon mit den signitiven, sondern erst mit den intuitiven Akten ein. Die intuitiven Akte veranschaulichen den gemeinten Gegenstand, auch wenn er nicht in leibhafter Gegenwärtigung vorgestellt ist, sondern nur anschaulich vergegenwärtigt ist – im Vollzug der Bewusstseinsakte der Vergegenwärtigungen zu größerer oder geringerer anschaulicher Fülle. Die imaginativen Akte sind hinsichtlich ihrer Funktion der Veranschaulichung in sich gestuft. 95 96 97

A. a. O., § 14 b, S. 591 (59). A. a. O., § 37, S. 646 (116). A. a. O., § 14 b, S. 591 (59).

§ 8 Die Erfüllungssynthesis als das Wesen der Erkenntnis

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Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Ein im Zeithorizont der Vergangenheit liegendes Vorstellungsereignis kann in mehr oder minder großer Anschaulichkeit wiedererinnert werden. In der Vergegenwärtigung einer in der Vergangenheit liegenden, von mir unternommenen Reise ist die Bahnfahrt zum Reiseziel möglicherweise in nur geringer anschaulicher Fülle gegenwärtig, das heißt, ich erinnere mich etwa nur an wenige Mitreisende. Die Fahrt zum Reiseziel bleibt in der Vergangenheitsvergegenwärtigung im Dunkeln, genauer, sie entbehrt einer größeren anschaulichen Fülle. Das heißt nicht, dass sie ganz und gar ohne diese wäre, also anschauungsleer vorgestellt. Die Bewusstseinsakte der Vergegenwärtigung sind nie ohne Anschauung und nicht mit den bloß signitiven Vorstellungen zu verwechseln. Denn immerhin erinnere ich mich, mit dem Zug gefahren zu sein und dergleichen. Eine Veranschaulichung dieses im Dunkeln liegenden Erlebnisses ‚Bahnfahrt‘ kann ich erfahren, wenn etwa ein Mitreisender das Erlebnis ins Gedächtnis zurückruft, auf Erlebnisse aufmerksam macht, die entgegenwärtigt waren. Das gewählte Beispiel mag eines verdeutlichen: Während mir die Bahnfahrt zum Reiseziel nur in geringer Veranschaulichung gegenwärtig ist, hat die Vergegenwärtigung meines Aufenthalts am Reiseziel größere anschauliche Fülle. So vergegenwärtige ich mir etwa den Gang durch die Stadt, die Besichtigung historischer Gebäude usw. Vergangene Erlebnisse können in mehr oder weniger großer Anschaulichkeit vergegenwärtigt sein. Dies gilt aber nicht nur für die Vergegenwärtigungen, in denen sich das Subjekt in den Zeithorizont der Vergangenheit versetzt, sondern ebenso für solche Vorstellungen, in denen es in die Horizonte der Gegenwart und der Zukunft wandert. Gemeint ist in allen Fällen der Vergegenwärtigungen das erlebte Gegenständliche selbst in den Gradunterschieden seiner Veranschaulichung; gemeint im Sinne einer direkten intentionalen Beziehung auf es. Das kann aber nicht bedeuten, dass die Vergegenwärtigung den vergegenwärtigten Gegenstand selbst gibt. Gegeben ist sein „Bild“98, genauer, der Gegenstand in der Wiedererinnerung, nicht er selbst als gegenwärtig wahrgenommener.99 Den Gegenstand selbst in selbstgebender Veranschaulichung bringt erst die Wahrnehmung zur Gegebenheit. Wieder gilt dies nur mit einer Einschränkung. Wenn Husserl sagt,100 die Wahrnehmung gebe den Gegenstand 98

A. a. O., § 37, S. 646 (116). Den missverständlichen Begriff „Bild“ verstehen wir hier im Sinne Husserls nur als Bezeichnung für solche vorgestellten Gegenstände, die nicht in vollkommener Anschaulichkeit und auch nicht in perzeptiver Abschattung selbst gegeben sind, sondern in imaginativer Veranschaulichung vorgestellt werden. So auch VI. Logische Untersuchung, § 37, S. 646 (116). 100 Ebd. 99

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

selbst, so heißt das wiederum nicht, dass der Gegenstand in der gegenwärtigenden Wahrnehmung endgültig und im absoluten Sinne der vollkommenen anschaulichen Fülle präsent sei. Selbst ist der Gegenstand nur gegeben im Rahmen der perspektivischen Verkürzung und Abschattung. Aber: In der Wahrnehmung wird der Gegenstand dennoch auf einer vollkommeneren Stufe der anschaulichen Fülle vorgestellt als in der Vergegenwärtigung. Die Wahrnehmung, in der etwa die Stadt Paris leibhaft gegenwärtig ist, hat einen größeren Vollkommenheitsgrad der anschaulichen Fülle als die Vorstellung desselben Gegenstandes in der Wiedererinnerung. In der gegenwärtigenden Wahrnehmung ist der Gegenstand selbst anwesend, er erscheint gegenwärtig.

§ 9 Die vollkommene Anpassung als die höchste Erfüllungsstufe Die Vollkommenheitsstufen der intuitiven Veranschaulichungen, also der gegenwärtigenden und vergegenwärtigenden Akte, weisen auf ein Erkenntnisziel hin, das keine weitere Erfüllungssteigerung mehr zulässt. Dieses absolute Ziel der abschließenden Anschaulichkeit wird in den Erfüllungen der intuitiven Akte weder erreicht noch übertroffen. ‚Abschließend‘ ist diese endgültige Anschaulichkeit, weil sie keinerlei ‚Raum‘ für weitere Erfüllungen birgt, indem sie alle mögliche anschauliche Fülle hinsichtlich einer Gegenständlichkeit bereits hat. Im Vergleich zu dieser abschließenden, totalen Anschaulichkeit sind die Akte der Erfüllungssteigerung selbst sozusagen geöffnet, sie sind offen für vollkommenere Veranschaulichungen durch weitere erfüllungssteigernde Akte. In der endgültigen Anschaulichkeit gelangen alle Erfüllungen ins abschließende Ziel.101 Der rein ideale, intuitive Gehalt dieser letzten Fülle ist eine abschließende, „absolute Summe möglicher Fülle“.102 Der „intuitive Repräsentant“,103 der den Gegenstand in der abschattenden Veranschaulichung repräsentiert, verliert in der letzten Erfüllung seine vertretende Funktion, ja überhaupt jede Funktion, denn der repräsentierende Inhalt der Vorstellung, also sein intentionales Meinen des Gegenstands und der Gegenstand, wie er an sich selbst ist in ideal einer Bedeutung, fallen in eins zusammen.104 101

A. a. O., § 37, S. 647 (117). Ebd. (118). 103 Ebd. 104 Die äquivoke Rede von der ‚bildhaften‘ oder ‚repräsentierenden‘ Vorstellung, die ihren Gegenstand durch Ähnlichkeit vorstellt, kann uns hier nicht mehr irreleiten. Wenn diese Rede auch vermuten lässt, Husserl verfalle hier wieder der alten Bildertheorie, derzufolge im Bewusstsein ein immanenter Repräsentant den transzendenten Gegenstand abbilde, so scheint es dem rechten Verständnis des Textes an102

§ 9 Die vollkommene Anpassung als die höchste Erfüllungsstufe

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Hier, in der vollkommenen, reinen Wahrnehmung, ist die Gegenständlichkeit in eben der Weise, in der sie gemeint ist, gegenwärtig. Diese letzte Erfüllung bedarf keiner weiteren Veranschaulichung mehr, sondern nimmt den Gegenstand in echter Adäquation wahr, „die echte adaequatio rei et intellectus“105 hat sich vollzogen. Die Echtheit der Adäquation ist verbürgt durch das Ideal der letzten und endgültigen Erfüllung. Sozusagen unecht wäre die Adäquation demnach, wenn sie noch irgendeine Spur von unerfüllter Intentionalität enthielte. Die letzte Erfüllung in ihrer Echtheit weist nicht, so wie die Akte der Veranschaulichungen, noch Stufenunterschiede der Vollkommenheit auf, sondern ruht im letzten und höchsten Grad ihres Gegenwärtigseins. Der Begriff „intellectus“ in der von Husserl aus der traditionellen Philosophie übernommenen Adäquatioformel gilt als Ausdruck für die „gedankliche Intention, die der Bedeutung“.106 Der Intellectus, phänomenologisch gekennzeichnet als Bedeutungsintentionalität des Bewusstseins in der Vielfalt der bedeutungsverleihenden und -erfüllenden Akte, und die Sache, Res, gekennzeichnet als die intentionale Gegenständlichkeit, geraten in das Deckungsverhältnis der echten, vollkommenen Adaequatio, wenn die gemeinte Gegenständlichkeit im Ideal der letzten und endgültig abschließenden Erfüllung gegenwärtig ist. I. Die in sich gedoppelte vollkommene Anpassung an die Anschauung Diese Adäquation (Anpassung) ist in doppelter Weise vollkommen: a) Die Anpassung ist vollkommen, und ebenso vollkommen ist das, woran sie sich anpasst, nämlich die Anschauung.107 b) Die vollkommene Anpassung ist wiederum in sich gedoppelt und wird von Husserl „o b j e k t i v e V o l l s t ä n d i g k e i t“108 genannt. Hinsichtlich ihres intentionalen Objekts ist die Anpassung einmal in Bezug gemessen, sich an seinen phänomenologischen Abweis der Bildertheorie in der V. Logischen Untersuchung, § 21, S. 436 ff. (421 ff.), zu erinnern. Denn der intuitive Repräsentant ist nicht nur im Ideal der letzten Erfüllung der Gegenstand selbst, womit die Rede vom Repräsentanten jeden Sinn verliert, sondern in einer jeden Vorstellung ist der intentionale Gegenstand als gemeinter der Gegenstand selbst und dies ohne vermittelndes Zwischenglied. Er ist je nach der Vollkommenheit der Veranschaulichung, in größerer oder geringerer Anschaulichkeit selbst gemeint. 105 VI. Logische Untersuchung, § 37, S. 647 (118). 106 A. a. O., S. 648 (ebd.). 107 Von uns unter § 9 II. „Die vollkommene Anschauung“ behandelt. 108 VI. Logische Untersuchung, § 29, S. 630 (100).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

auf „k o r r e s p o n d i e r e n d e A n s c h a u u n g e n“109 vollständig und sodann auch in Bezug auf „d e n G e g e n s t a n d s e l b s t“.110 Von der Vollkommenheit der Anpassung in einem ersten Sinne spricht Husserl, wenn er die vollkommene Veranschaulichung einer Vorstellung („ein grünes Haus“111) durch Akte der Vergegenwärtigungen im Blick hat. Das grüne Haus wird uns in vergegenwärtigenden Akten veranschaulicht. Wir haben den Gegenstand ‚grünes Haus‘ in vollkommener Anschaulichkeit, wenn auch nicht in leibhafter Gegenwärtigung, vor Augen. In Bezug auf den Gegenstand selbst kann die Anpassung in einem zweiten Sinne dadurch vollkommen sein, dass das grüne Haus in einer leibhaften Wahrnehmung gegeben ist. In einer ersten Vollkommenheit ist der Ausdruck ‚grünes Haus‘ durch die mit ihm korrespondierenden anschaulichen Akte der Vergegenwärtigungen erfüllt. Der Ausdruck ist in der Weise veranschaulicht wie er gemeint ist. Zumeist stellen wir Gegenstände in dieser vollkommenen Anpassung durch Vergegenwärtigungen vor. Eine vollkommene Adäquation im „w e i t e r e n Sinn“112 findet statt, wenn wir das grüne Haus adäquat vorstellen, wenn die Vorstellung also eine Veranschaulichung durch die gegenwärtigende Wahrnehmung des grünen Hauses erfährt, die sich in vollkommener Fülle an den Gegenstand der Vorstellung selbst anpasst. Es handelt sich bei der objektiven Vollständigkeit der Anpassung nicht um eine additive Vollkommenheit in dem Sinne, dass erst durch die Summe der beiden Vollkommenheiten, der „im natürlichen und w e i t e r e n Sinn“,113 der Gegenstand vollkommen angepasst wäre. Vielmehr gewährt jede der beiden Vollkommenheiten die angemessen vollkommene Erkenntnis des Gegenstands. Sowohl die erste, indem sich in ihr die signitiven Akte durch Akte der Vergegenwärtigungen erfüllen und sich dadurch vollkommen an den Gegenstand als angeschauten anpassen; als auch die zweite, indem sich in ihr eine vollkommene Anpassung „mittels v o l l s t ä n d i g e r Anschauungen“,114 das heißt, mittels originärer Wahrnehmungen an den Gegenstand selbst vollzieht. In beiden vollkommenen Vollzugsweisen der Adäquation sind die signitiven Akte jeweils vollständig angepasst. Der Terminus „o b j e k t i v e V o l l s t ä n d i g k e i t“,115 der beide Veranschaulichungen in einem Ausdruck nennt, zeigt damit an, dass beide 109 110 111 112 113 114 115

Ebd. Ebd. Ebd. A. a. O., § 37, S. 648 (118 f.). Ebd. A. a. O., § 29, S. 630 (100). Ebd.

§ 10 Die Evidenz als das Erlebnis vollkommener Deckungseinheit

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die Vollzugsweisen der vollständigen Anpassung hinsichtlich ihres intentionalen Objekts sind.116 II. Die vollkommene Anschauung Mit der Bestimmung dieser Doppelheit der objektiven Vollständigkeit der Erfüllung ist das Wesen der vollkommenen Adäquation noch nicht erschöpft. Unser Blick richtete sich bisher nur auf eine Seite der Adäquation, nämlich auf ihre vollkommene, zweifache Vollzugsweise selbst. Das Angepasste (die reine Anschaulichkeit) als dasjenige, was sich in der Anpassung erfüllt, ist selbst in bestimmter Weise vollkommen, insofern, als sie keiner weiteren Veranschaulichung durch intuitive Erlebnisakte mehr bedarf, sondern ihrerseits das vorausgesetzte Ideal der letzten Erfüllung aller veranschaulichenden Akte ist. Die letzte und vollkommene Anschaulichkeit, die wesentlich keine Intentionen mehr enthält, vollzieht sich daher auch nicht in intentional ‚unvollkommenen‘ Bewusstseinsakten, sondern in „einer r e i n e n Wahrnehmung“,117 das heißt, in einer Wahrnehmung von objektiver Vollständigkeit. Diese ist nicht zusammengesetzt aus einer Vielzahl von veranschaulichenden Akten, die alle jeweils noch auf größere Anschaulichkeit abzielten. Vollständig ist sie nicht im Sinne einer vollständigen Aneinanderreihung von Veranschaulichungen. Vollständig ist die reine Wahrnehmung insofern, als sie sich gerade nicht „in der Weise einer kontinuierlichen Synthesis unreiner Wahrnehmungen vollzieht“,118 sondern ihren Gegenstand in der vollständigen Selbstgegebenheit seiner Erscheinung vorstellt.

§ 10 Die Evidenz als das Erlebnis vollkommener Deckungseinheit von Vermeintem und Selbstgegebenem Im Fall der vollkommenen Adäquation der Intentionen an die Sache durch die reine Wahrnehmung spricht Husserl von Evidenz im erkenntniskritisch prägnanten Sinn. Die Evidenz in diesem Sinne ist der letzte Erkenntnisakt der vollkommensten Erfüllungssynthesis, welcher jeglicher Intentionalität die größtmögliche und endgültige Erfüllung gibt.119 Im evidenten Erfüllungsakt ist der Gegenstand in eben der Weise gegeben wie er intentional gemeint war. Das bloße Vermeinen, das für sich den Anspruch der Evidenz im strengen Sinne nicht erheben kann und in dieser Weise 116 117 118 119

Ebd. A. a. O., § 37, S. 649 (119). Ebd. A. a. O., § 38, S. 651 (120 f.).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

noch unvollkommen und unrein ist, verwandelt sich durch den Identifizierungsakt der Evidenz in „die lichtvolle Gewissheit“.120 Der intentionale Sachverhalt verliert den Charakter der unausgewiesenen Behauptung und der mehr oder minder großen intuitiven Veranschaulichung; er wird nun in seiner absoluten Selbstgegebenheit evident ‚erblickt‘, und zwar wird er in einem reinen Sehen so angeschaut wie er an ihm selbst ist. Die Evidenz im strengen Sinne ‚überwindet‘ sozusagen jede abschattende Perzeption des Gegenstandes, jede bloß signitive, erfüllungsleere Intention, jede erfüllte Anschaulichkeit und gibt die totale Erfassung der Sache selbst. Zugleich stellt die Evidenz, indem sie bloß Vermeintes und Selbstgegebenes zur letzten Deckungsgleichheit bringt, auch das letzte Ziel der bewusstseinsmäßigen Erkenntnis dar. Eine Erkenntnis, die über diese letzte Evidenz der Erkenntnis hinausgeht, die also eine noch größere Gewissheit für sich beansprucht als die letzte Evidenz geben kann, ist schlechterdings vom Subjekt nicht vollziehbar und unmöglich. Denn diese Möglichkeit der Erkenntnis, in der die Sache in noch größerem Maße selbstgegeben wäre als in der evidenten Deckungseinheit, widerspräche dem eigenen Wesen der ideal letzten Fülle, die keineswegs noch Gradunterschiede der Vollkommenheit zulässt, ohne selbst den Charakter der absoluten Vollkommenheit zu verlieren. Dennoch spricht Husserl von Gradunterschieden der Evidenz und meint damit die Stufen der anschaulichen Erfüllung in der größeren oder geringeren Evidenz der Deckungsgleichheit mit dem Sachverhalt selbst. Durch diesen Gebrauch der Evidenz „im laxeren Sinne“121 bleibt jedoch die strengere und prägnante Bedeutung und der mit dieser Bedeutung angezeigte Sachverhalt unangetastet. Die Kennzeichnung der Evidenz als einer idealen Deckungseinheit der bloß gemeinten und rein wahrgenommenen Sache verweist uns auf Husserls Prolegomena zur reinen Logik, in denen der Begriff Evidenz bereits im Blickfeld der phänomenologischen Untersuchung stand. Zur genaueren Fassung des Evidenzgedankens, der zugleich das Phänomen des Wahrseins mit erhellen wird, lassen sich hier kurze Hinweise auf diese Schrift einfügen. In Husserls kritischer Auseinandersetzung mit der Theorie des Psychologismus gewinnt der Begriff der Evidenz bereits eine eindringliche phänomenologische Erhellung und positive Bestimmung. Den psychologistischen Logikern galt die Evidenz als ein aus der inneren Wahrnehmung bekannter psychischer Charakter der Vorstellungen, der in der Erfahrung als „ein eigenartiges Gefühl“122 wahrgenommen wird und solcherweise die Wahrheit im Urteil ausmacht. Dieser Theorie zufolge ist 120 121 122

Prolegomena zur reinen Logik, § 6, S. 28 (13). VI. Logische Untersuchung, § 38, S. 651 (121). Prolegomena zur reinen Logik, § 49, S. 183 (180).

§ 10 Die Evidenz als das Erlebnis vollkommener Deckungseinheit

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die Evidenz in den psychisch wechselnden Vorstellungen des Subjekts ein Merkmal, das zum Urteil zufällig hinzutritt und als eine reale Bedingung der ständig unterschiedlichen Vorstellungen im Bewusstsein vorkommt. Doch wie soll die Evidenz (so Husserls Einwand), wenn sie empirisch als Gefühl erkannt wird und nur von psychologischer Notwendigkeit ist, die objektive und ideale Notwendigkeit der Wahrheit verbürgen?123 Es wäre doch jederzeit möglich, die Evidenz eines Sachverhalts durch die widerstreitende Vorstellung eines anderen Subjekts in Frage zu stellen. Das Wesen der Evidenz darf also nicht in den zufällig wechselnden Vorstellungen des Subjekts gesucht werden. „Es ist überhaupt nicht ein psychischer Charakter, der sich an jedes beliebige Urteil einer gewissen Klasse (sc. der sog. ‚wahren‘ Urteile) einfach anheften ließe;“124 wenn die Evidenz also wesentlich keine Bestimmung der subjektiv wechselnden Urteilsakte ist, was ist sie dann? Antwort: „das ‚Erlebnis‘ der Wahrheit.“125 Der Begriff ‚Erlebnis‘ meint nicht wiederum das psychische Vorstellen einer in wechselnden Vorstellungsakten erlebten Wahrheit, sondern das Erleben der Idee Wahrheit, die als ideale Einheit zwar nicht an die Bewusstseinsakte gebunden ist, jedoch im Akt der Evidenz erlebt werden kann. Die Deckungseinheit oder wie es analog in den Prolegomena heißt, „das Zusammenstimmen“126 zwischen der Meinung und ihrer Erfüllung durch die Gegenwärtigkeit der Sache selbst, macht das Wesen der Evidenz aus. Die Idee dieser Zusammenstimmung ist die Wahrheit.127 Damit ist aber das besondere Verhältnis von Evidenz und Wahrheit noch nicht hinreichend aufgeklärt. Zunächst ist immerhin klar geworden, dass die Wahrheit in einem engen Zusammenhang mit der Evidenz steht, und wo immer die Rede von der Evidenz im prägnanten Sinne ist, auch die Wahrheit zur Erörterung steht. Dass ein Sachverhalt evident erlebt ist, heißt, er ist wahr. Die Evidenz setzt die Idealität der Wahrheit voraus. ‚Wo‘ es keine Wahrheit ‚gibt‘, kann sie auch nicht evident erfasst, nicht gesehen werden, das heißt, es gibt auch keine Evidenz. Das Umgekehrte gilt jedoch nicht. Die Wahrheit als ideal objektive Einheit bedarf nicht wesentlich auch des evidenten Erlebnisses, um wahr zu sein. Sein Fehlen erlaubt nicht den Schluss, dass es auch keine entsprechende Wahrheit gibt. Dass jemand den Pythagoreischen Lehrsatz nicht evident erlebt, ist kein Zeichen für die Unwahrheit dieses Satzes. Sieht man den Pythagoreischen Satz andererseits evident ein, 123 124 125 126 127

A. a. O., A. a. O., A. a. O., Ebd. A. a. O.,

§ 51, S. 194 (191) und Tugendhat, S. 101. § 51, S. 192 (189 f.). § 51, S. 193 (190). § 51, S. 194 (191).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

so bedeutet das nicht, dass er zufolge dieser Einsicht gilt, sondern die Einsicht in den Lehrsatz ist erst möglich durch seine der Einsicht vorausliegende ideale Wahrheit. Die reine Logik in ihrem phänomenologischen Abstoß vom Psychologismus beschreibt die rein idealen Verhältnisse und Notwendigkeiten der Evidenz.128 Eine ihrer Aufgaben ist die phänomenologische Deskription des Verhältnisses von Evidenz und Wahrheit. Die Evidenz ist nicht an die Gesetze des psychischen Erlebens gekettet, sondern gründet in „einer reinen Wesensgesetzlichkeit“.129 Das Gefühl der Evidenz im psychischen Urteilsakt ist erst möglich auf Grund der Wahrheit des entsprechenden Urteilsinhalts, hat diesen als „w e s e n t l i c h e Vorbedingung“.130 Das psychische Gefühl der Evidenz gründet phänomenologisch gesehen letztlich in der reinen Wesensgesetzlichkeit der Wahrheit und Evidenz. Auf diesem Boden gilt die Evidenz sodann nicht mehr als ein Gefühl, sondern als ein rein logischer Bewusstseinsakt der Identifizierung. Als solcher ist sie ein objektivierender Akt, ein Akt mit einem objektiven Korrelat, „ihr objektives Korrelat heißt S e i n i m S i n n e d e r W a h r h e i t oder auch W a h r h e i t“.131 Wir fragen erneut: Wie ist diese Wechselbeziehung von Evidenz und Wahrheit zu verstehen? Offenbar nicht im Sinne einer strengen Korrelation, wenn wir als die Eigentümlichkeit der korrelativen Beziehung die wesensmäßige Zusammengehörigkeit der Korrelate begreifen. Danach stünden beide Wechselbegriffe im Verhältnis der gegenseitigen Bedingung, ergäben jeder für sich keinen Sinn und forderten als Begriffe ein und derselben Relation jeweils den anderen zu ihrer Ergänzung.132 Wir wissen jedoch aus der bisherigen Erörterung des Verhältnisses von Evidenz und Wahrheit schon, dass die Wahrheit für ihr apriorisches Vorhandensein133 keineswegs des evidenten Wahrheitserlebnisses bedarf. Gleichwohl wird dadurch der von Husserl gebrauchte Begriff Korrelation nicht widersprüchlich. Wenn auch, durch die Tatsache verleitet, dass er den Begriff hier überhaupt einführt, Zweifel an der Eindeutigkeit des gemeinten Sachverhalts sich erheben können, gibt doch der Text bei genauerem Zusehen Aufschluss darüber, wie diese Rede von der Korrelation nur verstanden werden kann. Dass die Wahrheit objektives Korrelat der Evidenz genannt wird, heißt nicht zugleich, dass auch die Evidenz als Korrelat der Wahrheit 128

Vgl. Tugendhat, a. a. O., S. 102. III. Logische Untersuchung, § 7, Fußnote S. 243 (239). 130 Prolegomena zur reinen Logik, § 51, S. 195 (191). 131 VI. Logische Untersuchung, § 38, S. 651 (122). 132 Eislers Handwörterbuch der Philosophie, Berlin 19222, Hrsg. Richard MüllerFreienfels, S. 345. 133 VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 652 (123). 129

§ 10 Die Evidenz als das Erlebnis vollkommener Deckungseinheit

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bezeichnet werden kann. Der Begriff der Korrelation ist hier einseitig gebraucht und macht dies auch durch den Zusatz ‚objektiv‘ deutlich. Denn die Evidenz gilt als derjenige identifizierende Akt, dessen notwendiges ‚objektives‘ Gegenstück die Wahrheit ist und nicht umgekehrt. Die Evidenz ist ein ‚einseitiges Hinblicken‘ auf die Wahrheit. Die Wahrheit gilt als das im Hinblicken erblickte objektive Korrelat. Sie selbst bedarf zur Sicherung ihres idealen Seins nicht eines objektivierenden evidenten Erkenntnisaktes. Sie ist auch selbst gar kein Akt, sondern das Korrelat des evidenten Identifizierungsaktes und in diesem Sinne „ein S a c h v e r h a l t“134 und „eine I d e n t i t ä t“.135 Diese nähere zweifache Bestimmung der Wahrheit, nach der sie je nach ihrem Identifizierungsmodus ein Sachverhalt bzw. eine Identität ist, verweist auf die zweifache Bestimmung der Evidenz und auf die Unterscheidung der identifizierenden Akte hinsichtlich ihrer Erfüllungsweise. E i n m a l ist die Wahrheit der dem identifizierenden Akt korrelative Sachverhalt, der in den verschiedenen Gradunterschieden der Identifizierungen mehr oder minder evident erkannt wird. Die Wahrheit gilt dann als das objektive Korrelat der Evidenz im laxen Sinne. Durch eine Kette von Einzelwahrnehmungen etwa, mit der das Subjekt je nach der Unterschiedenheit ihrer Anschauungsfülle zu immer größerer Anschaulichkeit des vorgestellten Gegenstands gelangt, nähert sich die Evidenz ihrem korrelativen Sachverhalt, der Sache selbst an. Der wahre Sachverhalt ist zunächst als wahrer behauptet und erfüllt (bzw. enttäuscht) sich in den Akten der Identifizierungen, wobei der wahre Sachverhalt den Charakter der bloß behaupteten Wahrheit verliert. Die Stufen der anschaulichen Erfüllung sind dabei zugleich die Stufen und Grade der Evidenz im laxen Sinne. S o d a n n gilt die Wahrheit „als Korrelat einer deckenden Identifizierung“136 als Identität. Im abschließenden Vollkommenheitsideal, das keine weitere anschauliche Erfüllung mehr zulässt, gewinnt dann der wahre Sachverhalt den Charakter der Identität, der endgültigen und letzten Übereinstimmung zwischen dem Gemeinten und dem tatsächlich gegenwärtig Gegebenen. Hier ist jene vollkommenste Deckungssynthesis der Evidenz im strengen Sinne realisiert. Die Wahrheit ist die Identität von Gemeintem und Gegebenem, erlebt im Identifizierungsakt der Evidenz. Der als wahr vermeinte Sachverhalt und der in Evidenz gegebene und erlebte wahre Sachverhalt sind deckungsgleich, identisch.

134 135 136

A. a. O., § 39, S. 651 (122). Ebd. Ebd.

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

§ 11 Das Phänomen Wahrheit in der Vierfaltigkeit seiner Erscheinung I. Hinführung zur Wahrheitsanalyse des § 39 der VI. Logischen Untersuchung Vielleicht sind einige Bemerkungen angebracht, die dem Verständnis der Wahrheitsproblematik bei Husserl dienen und bisher nur unterblieben sind, weil sie den strengen, in sich geschlossenen Gedankengang des Fünften Kapitels der VI. Logischen Untersuchung unnötig unterbrochen hätten. Husserl hat die positive phänomenologische Analyse der Wahrheit in § 39 mit dem Titel „Evidenz und Wahrheit“137 versehen und weist damit schon äußerlich auf das Zusammengehen beider Phänomene in der von uns schon erörterten Weise hin. Der § 39 enthält die phänomenologische Deskription beider Phänomene und zeigt ihre Zusammengehörigkeit. Das in den zuvorlaufenden §§ 36–38 Erarbeitete wird hier unter dem ausdrücklichen Leitfaden der Wahrheitsfrage aufgenommen und zu einer letzten, vollen Klarheit gebracht. Wie sich bereits aus den Überschriften der einzelnen Paragrafen des Fünften Kapitels ablesen lässt, führen sie thematisch in direkter Weise auf die Wahrheitsanalyse des § 39 hin. Der § 36 leitet die phänomenologische Aufklärung der Wahrheit im engeren Sinne ein und grenzt die erfüllenden Identifikationen auf ‚mögliche‘ Sätze ein. Möglich sind solche Sätze, die zum Gegenstand identifizierender Akte werden können.138 Dabei ist es von keinerlei Bedeutung, ob wir diese Sätze in setzenden oder bloß vorstellenden Akten realisieren, ob ihre Erfüllungen Wahrnehmungen oder Phantasievorstellungen sind. Der „§ 37 Die Erfüllungsfunktion der Wahrnehmung. Das Ideal der letzten Erfüllung“139 beschreibt die Gradunterschiede der anschaulichen Fülle der möglichen Sätze, ihre unterschiedlichen Erfüllungsverhältnisse, das heißt, in welchen anschaulichen Stufen sie sich der Wahrheit nähern, und das abschließende Ziel der Erfüllungssteigerung als das Ideal der letzten Erfüllung. In dieser endgültigen Erfüllung kommt die Gegenständlichkeit zur absoluten Selbstgegebenheit. Der „§ 38 Setzende Akte in Erfüllungsfunktion. Evidenz im laxen und strengen Sinne“140 in seiner thematischen Ausgerichtetheit auf die Deskription der Wahrheit des § 39, schränkt die möglichen Akte, unter denen bis137 138 139 140

Ebd. A. a. O., § 36, S. 645 (115). A. a. O., § 37, S. 646 (116). A. a. O., § 38, S. 650 (120).

§ 11 Das Phänomen Wahrheit in der Vierfaltigkeit seiner Erscheinung

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her alle setzenden und nichtsetzenden, also auch die Phantasievorstellungen begriffen waren, auf die setzenden, objektivierenden Akte ein. Die Bedeutungsintention ist in diesem Sinne ein setzender Akt,141 wenn sie ihr Gemeintes als seiend setzt. Die unmittelbare thematische Nähe zur ausdrücklichen Wahrheitsabhandlung durch die ‚Einkreisung‘ der möglichen Sätze und der sie realisierenden Akte auf seinssetzende, die die Wahrheit geben können, ist unübersehbar. Doch bevor diese Hauptaufgabe der Wahrheitsanalyse selbst in Angriff genommen wird, gilt es zuvor noch, den bereits in den Prolegomena gewonnenen Begriff der Evidenz wieder in die Untersuchung einzubringen. Das erkennende Subjekt erlebt im identifizierenden Akt der Evidenz die Wahrheit als deren objektiv gegenständliches Korrelat. Die Wiedereinbringung der Evidenz als Akt der vollkommenen Erfüllungssynthesis hebt am Ende des § 38 zugleich das Phänomen der Wahrheit ins Blickfeld der phänomenologischen Deskription, die sich nun nahtlos an den § 38 anschließt. Im ersten Satz des § 39 ist das in den vorangegangenen §§ 36–38 Gewonnene inhaltlich wieder aufgenommen und angesprochen. Einerseits verweist die Bestimmung der Wahrheit als intentionaler Sachverhalt der identifizierenden Akte auf die zurückliegende Untersuchung über die Vollkommenheitsunterschiede der Erfüllung im evidenten, identifizierenden Bewusstseinsakt,142 insofern als die Erfüllungen dort als anschauliche Steigerung in Bezug auf die Vollkommenheit des adäquat wahrgenommenen Sachverhaltes galten; andererseits verweist die Bestimmung der Wahrheit als Identität auf die vollkommene Adäquation durch die objektiv vollständige, reine Wahrnehmung.143 Diese gedrängten Hinweise sollen uns zur Vorverständigung über die besondere Position des § 39, der zugleich Höhepunkt und Abschluss der Wahrheitsanalyse ist, genügen. II. Die Gegenständlichkeit und die Idealität der Wahrheit Husserl hat in einem ersten Teil des § 39 die Bestimmungen der Wahrheit in vier Abschnitte gegliedert.144 Der 1. Abschnitt, der nach Tugendhat den ersten Wahrheitsbegriff enthält – ob zu Recht, wird sich noch zeigen145 – beschreibt das Phänomen Wahrheit in seiner Bestimmung als Korrelat des evidenten Identifizierungsaktes und die besondere Position der Evidenz als das Hinblicken auf die a priori vorhandene Wahrheit. 141 142 143 144 145

Vgl. Tugendhat, S. 89. VI. Logische Untersuchung, § 37, S. 646 (116 f.); § 38, S. 651 (121). A. a. O., § 37, S. 647 f. (118). A. a. O., § 39, S. 651 ff. (122 ff.). Tugendhat, S. 91 und § 12 III. dieser Arbeit.

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

Der 2. Abschnitt von § 39 macht eigens auf „das ideale Verhältnis“146 aufmerksam, das der identischen, vollen Übereinstimmung der identifizierenden, sich deckenden Akte zukommt. Die ausdrückliche Benennung der Wahrheit als idealer Einheit der Identifizierungsakte, zudem die Bestimmung der Idealität der Korrelate dieser Akte, kommen hier nicht überraschend. Das Wesen der Wahrheit galt in der gesamten bisherigen Betrachtung als ideale Einheit. So etwa in den Prolegomena, in denen Husserl die Wahrheit im Abstoß vom Psychologismus ausdrücklich als Idee fasst,147 bzw. als ideale Möglichkeit,148 und deren Objektivität feststellt; dies in der Abwehr gegen die psychologistische Auffassung, die den ersten Begriff der Wahrheit in den subjektiv wechselnden Urteilen sieht.149 In der I. Logischen Untersuchung unterscheidet Husserl einen gewöhnlichen Sinn der Idealität von der Idealität des Spezifischen. Das Ideal im gewöhnlichen, normativen Sinn „ist ein konkretes Urbild“,150 das in der Realität vorkommen kann. Dieses Ideal im Sinne des konkreten Urbildes kann die Handlungen und Strebungen des Menschen bestimmen. So können die Werke der Kunst als reale Ausformungen der idealen Urbilder gesehen werden. Das Ideal, das im Kunstwerk verwirklicht erscheint, kann der Richtpunkt einer nachstrebenden Handlung sein. In derselben Weise können auch ethische Ideale in der Handlungsweise eines Individuums (zum Beispiel Christus) realisiert sein und als Handlungsmaxime für andere gelten. Die Idealität in diesem gewöhnlichen realisierbaren Sinne steht im Gegensatz zur „Idealität des Spezifischen“.151 Diese Idealität existiert weder in der realen Ausformung als ein Objekt der Wahrnehmung, noch kann sie überhaupt in dem genannten Sinne realisiert werden. Sie ist vielmehr „der ausschließende Gegensatz zur Realität oder Individualität“.152 Die Idealität der Spezies klärt Husserl am Wesen der Bedeutungen auf, die im Sinne von „spezifischen Einheiten“153 verstanden werden. Im spezialisierenden Auffassen einer Erscheinung meinen wir den spezifischen Inhalt der Erscheinung und nicht das einzelne, gegenständliche Merkmal. In der Aussage ‚der Baum ist grün‘ meinen wir eben nicht dieses Merkmal ‚grün‘ am Baum, das wir ‚in diesem Augenblick‘ wahrnehmen, sondern die spezifische Idee ‚Grün‘. Erst auf Grund dieses spezifischen Meinens ist die Auffassung eines Einzelfalls ‚dieser grüne Baum‘ möglich. In diesem Sinne der 146 147 148 149 150 151 152 153

VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 652 (123). Prolegomena zur reinen Logik, § 39, S. 135 (129). A. a. O., § 50, S. 187 f. (185). A. a. O., § 35, S. 123 (115); § 51, S. 194 f. (191); § 49, S. 183 (180). I. Logische Untersuchung, § 32, S. 107 (102). Ebd. Ebd. II. Logische Untersuchung, Einleitung, S. 112 (107).

§ 11 Das Phänomen Wahrheit in der Vierfaltigkeit seiner Erscheinung

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spezifischen Idealität der Bedeutungen gilt „das Ideale als Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis überhaupt“.154 Die spezifische Idealität als Grundlage jeder objektiven Erkenntnis ist zugleich auch die Grundlage jeder wahren Erkenntnis, also die Bedingung der Möglichkeit der wahren Erkenntnis überhaupt. Die spezifische Idealität ist die Einheit der Wahrheit, die die Mannigfaltigkeit der unter sie fallenden Einzelbedeutungen begründet. Ihr Diskrimen ist die Unzeitlichkeit, genauer, sie ist nicht an die Zeitlichkeit gebunden, während man „Realität geradezu durch Zeitlichkeit“155 definieren kann. Diese so aufgewiesene Idealität der Wahrheit zeigt sich im Verhältnis der sich deckenden Akte in der Deckungssynthesis der Evidenz. Während im 1. Abschnitt von § 39 der VI. Logischen Untersuchung das Gegenständliche der Wahrheit im Blickfeld der Untersuchung stand als das objektive Korrelat der Evidenz, geht es in diesem 2. Abschnitt um die Idealität der Wahrheit, um die Idee ihrer Evidenz. Die Wahrheit in der Ausfaltung des 2. Abschnitts ist das ideale Korrelat jedes evident vollzogenen Bewusstseinsaktes oder, anders gesagt, die Idealität der vollkommenen Anpassung, „die I d e e d e r a b s o l u t e n A d ä q u a t i o n a l s s o l c h e r“156. Diese Idealität der Wahrheit ist, so können wir nun hinzufügen, wesentlich eine spezifische Idealität und außerhalb der Zeitlichkeit. In welcher Beziehung steht nun die Wahrheit als die zur Evidenz gehörige Idee zur Gegenständlichkeit der Wahrheit? Mit anderen Worten: In welcher Verbindung stehen die Abschnitte 1 und 2? Oder gibt es diese Verbindung gar nicht? Stehen die beiden Abschnitte wie ‚Blöcke‘ „beziehungslos“157 nebeneinander? Husserl beginnt den 2. Abschnitt mit den Worten: „Ein a n d e r e r Begriff von Wahrheit betrifft . . .“158 Wir wollen fragen, wie dieser andere Begriff von Wahrheit sich von dem im 1. Abschnitt genannten ‚unterscheidet‘, inwiefern er ‚anders‘ ist, und ob sich überhaupt zwei verschiedene Wahrheitsbegriffe, die etwa durch die ‚Kluft‘ der Beziehungslosigkeit getrennt sind, erkennen lassen. Zunächst steht fest, dass der Wahrheitsbegriff im Sinne des Gegenständlichen und der Wahrheitsbegriff im Sinne der Idealität nicht ganz und gar von verschiedener Art sein können, da beide ‚Begriffe‘, wie Husserl ausdrücklich sagt, in ein und derselben „phänomenologischen Sachlage wurzeln.“159 Anders ausgedrückt: Husserl sieht nicht etwa eine Wahrheit vom Charakter der Gegenständlichkeit ohne Beziehung zu einer anderen, die nichts Gegen154 155 156 157 158 159

Ebd. (a. a. O., S. 108). A. a. O., § 8, S. 129 (124). VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 652 (123). Tugendhat, a. a. O., S. 96. VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 652 (123). Hervorhebung KN. A. a. O., § 38, S. 651 (122).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

ständliches enthielte und nur ideal wäre. Gegenständlichkeit und Idealität kommen der Wahrheit in gleicher Weise zu. Die Wahrheit als Wahrheit der Gegenständlichkeit ist zugleich ideal, ebenso wie die Wahrheit als Idealität gegenständlichen Charakter hat. Die Feststellung, dass wir im spezialisierenden Auffassen des Gegenstandes nicht ein besonderes Merkmal dieses Gegenstandes meinen, sondern seinen spezifisch idealen Inhalt, kann nicht bedeuten, dass diese Inhaltsidee ohne jede Gegenständlichkeit gemeint ist. Vielmehr meinen wir den idealen Inhalt als einen Inhalt im Sinne der idealen Gegenständlichkeit. Der ideal wahre Akt lässt den Gegenstand nicht gleichsam ‚fallen‘, sondern zielt gerade auf ihn ab als auf seine intentionale, ideale Gegenständlichkeit. Gemeint ist zwar ein idealer Inhalt, dieser Inhalt ist jedoch ideal gegenständlich.160 Die wesensmäßige Zusammengehörigkeit von idealer und gegenständlicher Wahrheit lässt uns die Zusammengehörigkeit der Abschnitte 1 und 2 des § 39 erkennen; die Frage nach ihrer Unterschiedenheit, ihrem Anderssein ist allerdings noch ungeklärt. Dass wir es in beiden Abschnitten allerdings nicht mit zwei ganz verschieden- oder andersartigen Wahrheitsbegriffen zu tun haben, leuchtet ein. Die phänomenologischen Bestimmungen der beiden Abschnitte betreffen vielmehr ein und denselben Begriff von Wahrheit.161 Ihr Andersartiges gründet im unterschiedlichen Standpunkt der Untersuchung, der im Laufe der Betrachtung vier Mal gewechselt wird. Der thematische Gegenstand der Untersuchung, das Phänomen Wahrheit, wechselt nicht etwa zugleich mit dem Standort Husserls. Seine Rede vom ‚Standpunkt‘ verlöre dann jeden Sinn. Der Standpunkt gilt uns als ein gewählter Punkt, der dem Untersuchenden einen festen Stand gewährt, von dem aus er die Seiten des zu untersuchenden Gegenstands in den Blick nimmt. Husserl scheint hier gleichsam um die Wahrheit ‚herumzugehen‘, um sie von allen ihren Seiten zu erblicken. Das Andersartige des Wahrheitsbegriffs im 2. Abschnitt gründet also nicht in einer andersartigen Wahrheit, sondern im anderen Standpunkt der Untersuchung. Das Andersartige der Standorte ist aber auch nicht so zu verstehen, dass das Phänomen der Wahrheit nun ganz neue Bestimmungen erfahre, die das bisher Erarbeitete sozusagen beiseite räumt, um neuen und vorher nicht gesehenen Ergebnissen Platz zu machen. Wahrheit in der Verschiedenheit seiner bisherigen Bestimmungen wird vielmehr in einem anderen Sinne neu untersucht, nämlich so, dass das bisher Erarbeitete erneut gesichtet und in seiner Vielfalt auseinandergefaltet wird. Diese Methode der Ausfaltung führt dazu, dass das zunächst noch Zusammengefaltete in der Ausfaltung 160

II. Logische Untersuchung, § 1, S. 114 (109); § 8, S. 129 f. (124). Es wird sich noch zeigen, dass dies für alle vier Abschnitte des § 39 gilt; siehe dazu § 12 III. dieser Arbeit. 161

§ 11 Das Phänomen Wahrheit in der Vierfaltigkeit seiner Erscheinung

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genauer und noch klarer sichtbar wird. Diesen Sinn der Ausfaltung der Wahrheit haben die vier Abschnitte des § 39 und dienen nicht etwa dem Aufweis von vier neuen, in sich abgeschlossenen Wahrheitsbegriffen. III. Die Fülle der Wahrheit Der Abschnitt 3 des § 39 bringt nichts grundsätzlich Neues, ja, gar keinen neuen oder anderen Begriff von Wahrheit, sondern vielmehr eine andere ‚Faltung‘, oder wie Husserl sagt: „Seite“162 ein und desselben Phänomens der Wahrheit. In diesem Abschnitt, ebenso im vorangehenden Abschnitt 2, hat sich jeweils der Standpunkt der Untersuchung bei thematisch gleich bleibendem Gegenstand geändert. Hier, in Abschnitt 3, wird das anvisiert, was sich „auf Seite des Fülle gebenden Aktes“163 zeigt. Auf dieser Seite erleben wir „d e n g e g e b e n e n G e g e n s t a n d i n d e r W e i s e d e s g e m e i n t e n: er ist die Fülle selbst.“164 Wir erleben in der intentionalen Bedeutungserfüllung evident den in vollkommener Anschaulichkeit gegebenen Gegenstand. Das bedeutet nicht, dass die Wahrheit eine dem Bewusstsein transzendente Sache wäre, die im evidenten Erleben von außerhalb ins Bewusstsein hereingeholt würde und als bewusstseinsimmanente, ideale Gegenständlichkeit in anschaulicher Fülle erlebt würde. Vielmehr ist nur Eines präsent und als selbstgegeben erlebt: Im Akt der vollkommenen Erfüllungssynthesis die ganze und vollkommene, anschauliche Fülle der Gegenständlichkeit. Die Wahrheit ist dabei das notwendige und bedingende, objektive Korrelat des Evidenzaktes. Erlebnisakt und erlebter anschaulicher Gegenstand sind wesensmäßig miteinander verbunden oder, was dasselbe meint: Der Akt der Evidenz und sein objektives Korrelat der Wahrheit gehören zusammen. Sie bedingen zwar nicht einander, wie wir zu zeigen versuchten,165 stehen aber doch in naher Verbindung, insofern sich das Erleben der Wahrheit im Akt der Evidenz vollzieht. In diesem hier skizzierten Verständnis gewinnt auch der Titel des § 39 einen konkreten Sinn. „Evidenz und Wahrheit“, das meint eine phänomenologische Thematisierung der Wahrheit, insofern sie im Erlebnis der Evidenz fassbar wird. Das Gesamtphänomen der Wahrheit, soweit es nicht in den aktuellen Vollzug adäquater Identifizierung fällt, bleibt im erkenntnis- und erlebnismäßigen Dunkel. Das heißt nicht, dass wir gar nichts von ihr wissen. Husserls phänomenologische Aufklärung bezieht sich freilich auf das volle Phänomen der Wahrheit, nicht nur auf sei162 163 164 165

VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 652 (123). Ebd. Ebd. s. § 10 dieser Arbeit.

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

nen aktuell erlebten Teil; es bedeutet nur, dass das Gesamtphänomen der Wahrheit nicht Gegenstand streng evidenten Erlebens ist, sondern im aktuellen reinen Vollzug des eigenen Hinblickens erlebt werden kann. Diese Möglichkeit des evidenten Sehens ist im 1. Abschnitt des § 39166 ausgesprochen. Auch im 3. Abschnitt steht die Wahrheit, die in der Evidenz erlebt ist, im Blickpunkt der Untersuchung167 (ebenso in den drei anderen Abschnitten). Der 3. Abschnitt thematisiert die evident erlebte Wahrheit hinsichtlich der Fülle gebenden Anschaulichkeit. Der intentionale Gegenstand des Fülle gebenden Aktes, der nicht als psychischer Einzelakt, sondern als ideal einheitlicher Erfüllungsakt gesehen wird, „ist die Fülle selbst“.168 Galt die Betrachtung in Abschnitt 1 dem Phänomen der Wahrheit hinsichtlich seiner Gegenständlichkeit, in Abschnitt 2 hinsichtlich seiner Idealität, so nimmt Husserl hier, in Abschnitt 3, das Wesensmoment der Fülle in den Blick. Dieser Gegenstand, der im letzten Ideal der Anschaulichkeit gemeint und gegeben ist und den Husserl hier mit dem Terminus „Fülle“ kennzeichnet, ist kein anderer als der in Abschnitt 1 und 2 gemeinte, nämlich der Gegenstand als evident wahr erlebter. Gegenständlichkeit, Idealität, Fülle sind Wesensmerkmale eines und desselben Phänomens der Wahrheit. Hinsichtlich der Fülle, die der Wahrheit eignet, lässt sich sagen: Die Fülle ist nicht intentionaler Gegenstand eines noch der Anschaulichkeit bedürftigen, also intentionalen, Fülle gebenden Aktes. Die Fülle des Gegenstands, die im wahrmachenden, evidenten Akt erlebt ist, gewährt ihm seine vollkommene Anschaulichkeit. Die Vollkommenheit der Fülle hat selbst nicht mehr intentionalen Charakter und zielt nicht auf weitere, veranschaulichende Erfüllungen ab, sondern ist die endgültige und vollständige Erfüllung aller möglichen anschaulichen Fülle. Hier wird die phänomenologische Bestimmung der Wahrheit, die Husserl im 2. Abschnitt gibt, im 3. Abschnitt erneut aufgenommen, das heißt, in die Betrachtung der Wahrheit als Fülle mit hinein genommen. Einmal (in Abschnitt 2) ist das Wesen der Wahrheit die Idee der absoluten Adäquation als solcher, das ideale Wesen der evidenten Erfüllungseinheit; zugleich (in Abschnitt 3) betrachtet man die ideal intuitive Seite der Erfüllungseinheit, zeigt sich die Fülle des Gegenstands als eine die Intention in specie wahrmachende. Die Intentionalität meint hier keine intentionale, erfüllungssteigernde Veranschaulichung, sondern ihre erkenntnismäßige Seite. Beide Aspekte, Idealität und Fülle, betreffen ein und dasselbe Phänomen der Wahrheit. Die Funktion der Wahrmachung gibt dem in vollkommener Fülle 166 167 168

VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 651 f. (122 f.). A. a. O., § 39, S. 652 (123). Ebd.

§ 11 Das Phänomen Wahrheit in der Vierfaltigkeit seiner Erscheinung

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selbst gegebenen Gegenstand das Recht, „das Sein, die Wahrheit, das Wahre“169 genannt zu werden. IV. Die Richtigkeit der Wahrheit Die Betrachtung der Wahrheit „vom Standpunkt der Intention“170 ergibt sich beinahe zwangsläufig aus Abschnitt 3. War die Wahrheit hinsichtlich ihrer Fülle Gegenstand der Betrachtung von Abschnitt 3, so liegt nichts näher, als die zu erfüllende, intentionale Seite der Wahrheit ebenfalls zu sichten (in Abschnitt 4). Zudem gibt es noch einen weiteren sachlichen Grund: Die spezifische Intentionalität der Wahrheit hat bei der Ausfaltung des Wahrheitsphänomens zwar immer schon mit zur Erörterung gestanden. Unausdrücklich in Abschnitt 1 als das intentionale Meinen im Zusammenhang der Übereinstimmung zwischen intentional Gemeintem und Selbstgegebenem, in Abschnitt 2 als notwendiger Bestandteil der idealen Deckungseinheit, das heißt, als derjenige intentionale Akt, der im idealen Verhältnis der sich deckenden Akte mit den erfüllenden Akten zur Deckung gebracht wird, in Abschnitt 3 angesprochen als spezifisches, erkenntnismäßiges Wesen der Intention, als die wahrzumachende Intentionalität des Gegenstands. Aber eigens thematisiert wurde diese Seite der Wahrheit innerhalb des § 39 noch nicht. Dies geschieht in Abschnitt 4. Hinsichtlich des spezifisch erkenntnismäßigen Wesens der Intentionen gilt die Wahrheit als Richtigkeit. Wahrheit und Richtigkeit stehen im Verhältnis der Korrelation.171 Alles intentional Richtige ist wahr, ebenso wie das Wahre von intentionaler Richtigkeit ist. Genauer: Richtig ist eine solche Intention in specie, die auf den wahren Gegenstand abzielt. Ihr Angepasstsein an den wahren Gegenstand macht ihre Wahrheit als Richtigkeit aus. Umgekehrt ist der wahre Gegenstand von wahrer Richtigkeit als dem Ziel- und Endpunkt der intentionalen Gerichtetheit. Die wahre Gegenständlichkeit als Zielpunkt der Intentionen steht jedoch nicht ausdrücklich in der Blickrichtung des Abschnitt 4. Darin geht es eigens um die im Evidenzakt erlebte „Wahrheit als R i c h t i g k e i t d e r I n t e n t i o n“.172 Unausdrücklich geht es gewiss auch um die wahre Gegenständlichkeit dieser Gerichtetheit selbst, insofern als sie die intentionale Gegenständlichkeit des intentional richtigen Aktes ist. Inwiefern ist nun die Richtigkeit der Intention ein Aspekt, eine Seite der Wahrheit? Was meint hier ‚Richtigkeit der Intention‘? 169 170 171 172

Ebd. A. a. O., S. 653 (ebd.). Prolegomena zur reinen Logik, § 47, Fußnote zu S. 179 f. (176). VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 653 (123).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

Bei der Auseinandersetzung Husserls mit den intentionalen Erlebnissen und ihrer Gegenständlichkeit, ihrem Inhalt, trifft er in der V. Logischen Untersuchung die Unterscheidung zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff der Intention.173 Die Intention im engeren Sinne ist die Bewusstseinstätigkeit des bedeutungsverleihenden Abzielens, des signitiven, anschauungsleeren Sichrichtens auf die intentionale Gegenständlichkeit. Von dieser Tätigkeit unterscheidet Husserl die Bewusstseinshandlung des Erzielens. Diese Akte des Erzielens und Treffens sind ebenfalls intentionale Bewusstseinshandlungen, nämlich solche, die die vermeinenden Intentionen mit Anschauungen erfüllen. Die intuitiven Bedeutungserfüllungen werden als Intentionen im weiteren Sinne verstanden. Ihnen gehört eine Vielzahl von Bedeutungserfüllungen an, die nicht, wie die signitiven Intentionen den Gegenstand bloß vermeinen, sondern ihn in der Weise der intuitiven Erfüllungssteigerung treffen, das heißt, ihn selber geben. Im Zusammenhang mit der phänomenologischen Wahrheitsanalyse des 4. Abschnitts von § 39 stellt sich nun die Frage, welchen Begriff von Intention Husserl hier im Blick hat. Zugleich und in diesem Sinne führt uns das Problem der Richtigkeit der Intentionen als ein der Wahrheit wesentlicher Aspekt durch den Text. Der Aspekt der Richtigkeit der Wahrheit betrifft das erkenntnismäßige Wesen der Intention in specie. Erkenntnismäßig ist die Intention, da sie die Erkenntnis von Gegenständen betrifft, im weiten objektiven Sinne ermöglicht. Zur Erkenntnis der Wahrheit gehört wesensmäßig die Richtigkeit der Intention als generelle Möglichkeit. In diesem Sinne kann mit dem erkenntnismäßigen Wesen der Intention nicht nur die signitive Intention gemeint sein. Denn die signitive, anschauungsleere Intention gibt noch nicht den Gegenstand selbst in der letzten Erfüllung seiner Selbstgegebenheit. Die signitive Intention ist ihrem Gegenstand nicht adäquat. Das heißt aber nicht, dass die bloß vermeinende, anschauungsleere Intention gar nicht zum erkenntnismäßigen Wesen der Intention gehört. Sie ist gleichsam der ‚Punkt‘, an dem die wahre Erkenntnis ‚anhebt‘, von dem sie ihren Ausgang nimmt. Die Rede von der signitiven Intention als einem Punkt ist gewiss ungenau und wird dem Wesen der signitiven Akte nicht ganz gerecht. Intentionen sind niemals Punkte, sondern höchstens Bewegungen. Meine Bezeichnung der signitiven Intentionen als Ausgangspunkt für die wahre Erkenntnis soll aber auf den Sachverhalt der Erfüllung im Zusammenhang mit der wahren Erkenntnis hinweisen, die eine Veranschaulichung der bloß vermeinenden Intentionen ist und von der signitiven Intention als der ‚Grundstufe‘ der Veranschaulichungen ausgeht. In diesem Sinne der ausgehenden Er173

V. Logische Untersuchung, § 13, S. 393 (379).

§ 11 Das Phänomen Wahrheit in der Vierfaltigkeit seiner Erscheinung

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kenntnis kann die signitive Intention unter dem genannten Vorbehalt ein Punkt genannt werden. Zum erkenntnismäßigen Wesen der Intention gehören darüber hinaus auch die intentionalen Akte der Bedeutungserfüllungen in ihrer Funktion der sich immer mehr steigernden Veranschaulichung bis hin zum letzten, endgültigen, abschließenden Ideal der absoluten Anschaulichkeit, das seinerseits ohne jede intuitive Unerfülltheit ist und den Gegenstand in seiner vollkommenen Selbstgegebenheit präsentiert. Das erkenntnismäßige Wesen der Intention ist die spezifisch ideale Einheit der Intentionalität, sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne. Husserl nimmt im Abschnitt 4 nun die Richtigkeit des erkenntnismäßigen Wesens der Intention im Sinne der Möglichkeit in den Blick. Dadurch, dass den signitiven und intuitiven Intentionen wahre Richtigkeit zukommt und ein Satz seine intentionale Sache adäquat gibt, „ist aber die ideale, also generelle Möglichkeit ausgesprochen, dass sich überhaupt ein Satz solcher Materie im Sinne strengster Adäquation erfüllen lässt.“174 Die Richtigkeit der Intention ist demnach in diesem idealen Sinne der Möglichkeit zu verstehen. Doch in welcher Weise ist diese Einheit der intentionalen Richtigkeit mit dem Wesen der Wahrheit zusammen zu denken? Die Richtigkeit ist ein Aspekt der Wahrheit, „vom Standpunkt der Intention“ betrachtet. Um den phänomenalen Sachverhalt zu verdeutlichen, fügt Husserl seinen Ausführungen den Hinweis auf eine spezielle Weise der intentionalen Richtigkeit hinzu, die „U r t e i l s r i c h t i g k e i t“.175 Der geurteilte Satz „ ‚richtet‘ sich nach der Sache selbst; er sagt, so ist es, und es ist wirklich so.“176 Das Urteil ist insofern richtig, als es in der spezifisch intentionalen Richtigkeit auf die Sache selbst, das heißt, auf die Sache in der vollen Selbstgegebenheit seiner Erscheinung ausgerichtet ist. Doch die Richtigkeit der Intention in specie und die Urteilsrichtigkeit sind nicht ein und dasselbe. Denn das bedeutete, dass die Richtigkeit der Intentionen nur im Urteil gegeben ist, und dass demzufolge die Wahrheit als Richtigkeit ihren Ort nur im Urteil hat. Dies aber ist ein Vorurteil des Psychologismus177 und bedeutet eine unangemessene Einschränkung des Phänomens Wahrheit auf die Urteilswahrheit. Husserl ist davon weit entfernt, die Unbedenklichkeit des gegenwärtig als Gemeinplatz umlaufenden, „aber sehr klärungsbedürftigen Satzes zuzugestehen . . ., nämlich dass alle Wahrheit im Urteil liege.“178 Die Wahrheit wird zwar „i m e v i d e n t e n U r t e i l a k t u e l 174 175 176 177 178

VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 653 (123). Ebd. Ebd. Vgl. Prolegomena zur reinen Logik, § 49, S. 183 (180). A. a. O., § 50, S. 185 (182).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

l e s E r l e b n i s.“179 In diesem evidenten Erlebnis der Urteilswahrheit haben wir jedoch nichts anderes als einen „E i n z e l f a l l“180 des umfassenden Phänomens der Wahrheit. Die Richtigkeit des Urteils ist nur eine „Hinsicht“181 der umfassenderen Richtigkeit des erkenntnismäßigen Wesens der Intention. Sehen wir von dieser „Vereinzelung“182 ab, so gewinnen wir statt der Urteilswahrheit die Wahrheit selbst als Richtigkeit. Was ist aber mit dem Einzelfall der Urteilsrichtigkeit für die Analyse der Wahrheit als Richtigkeit der Intention gewonnen? Die Urteilsrichtigkeit steht, einmal davon abgesehen, dass sie Einzelfall der Wahrheit als Richtigkeit ist, in einer gewissen formalen Analogie zur Richtigkeit der Intention in specie. Denn ebenso wie sich das Urteil nach der Sache richtet, so ist auch die Richtigkeit der Intention auf die Sache ausgerichtet. Das Wesen der Wahrheit als intentionale Richtigkeit verdeutlicht Husserl am Modell der Urteilsrichtigkeit. Sagt das richtige Urteil, ein Sachverhalt, eine Sache ist so, dann ist er (sie) auf Grund der Urteilsrichtigkeit nicht bloß vermeint, sondern „ist wirklich so“.183 Analoges gilt von der Richtigkeit der Intention in specie. Richtet sich die Intention auf einen wahren Gegenstand, dann ist er auf Grund der Wahrheit seiner Richtigkeit nicht bloß als wahr vermeint, sondern wirklich als wahr gegeben. Die Intention passt sich in der Wahrheit ihrer Richtigkeit an den Gegenstand an. Gemeint sind damit aber nicht zwei grundsätzlich verschiedene Wahrheiten, sondern die Wahrheit vom Standpunkt der Intention als das „Adäquatsein an den wahren Gegenstand“.184

§ 12 Nachbesinnung auf Husserls Phänomenologie der Wahrheit in den Logischen Untersuchungen I. Die besondere Stellung der Wahrheitsanalyse Die vier wesenhaften Aspekte der Wahrheit, nämlich Gegenständlichkeit, Idealität, Fülle und Richtigkeit in § 39, stehen zusammen mit der Analyse der Wahrheit als vollkommener Erfüllungssynthesis von Vermeintem und Selbstgegebenem der vorangegangenen §§ 36–38 fest im strukturellen Gefüge der Erkenntnis-, bzw. Wahrheitsproblematik der Logischen Untersuchungen. Nach der kritischen Auseinandersetzung mit den psychologisti179 180 181 182 183 184

A. a. O., § 51, S. 193 (190). Ebd. VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 653 (123). Prolegomena zur reinen Logik, § 62, S. 232 (292). VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 653 (123). Ebd.

§ 12 Nachbesinnung auf Husserls Phänomenologie der Wahrheit

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schen Theorien seiner Zeit gibt Husserl am Ende der Prolegomena einen programmatischen Aufriss für eine neue, sich auf die reine Logik gründende phänomenologische Theorie der Erkenntnis.185 Die reine Logik soll dabei als die Lehre von „den idealen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, bzw. Theorie überhaupt“186 gelten. Eine Ausarbeitung der von Husserl entworfenen reinen Logik, die den Bänden II, 1 und II, 2 der Logischen Untersuchungen vorbehalten ist, „schließt . . . die [Beantwortung] der allgemeineren [Frage]187 ein, nämlich die der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von W a h r h e i t ü b e r h a u p t.“188 Die reine Logik soll also eine phänomenologische Aufklärung der Wahrheit ermöglichen und leisten. Insbesondere gehören zur Konzeption einer reinen Logik drei Aufgaben, von denen zwei in den Bereich philosophischer Forschung gehören, die letzte aber Thema der mathematischen Logik ist: 1. Die wissenschaftliche Klärung der Begriffe „Begriff, Satz, Wahrheit usw.“,189 welche „den Zusammenhang der Erkenntnis in objektiver Beziehung und insbesondere den theoretischen Zusammenhang ‚möglich machen‘.“190 2. Die phänomenologische Aufsuchung der Gesetze, die „die o b j e k t i v e Geltung der erwachsenden Bildungsformen“ betreffen; „also einerseits die Wahrheit oder Falschheit von B e d e u t u n g e n“, „andererseits (hinsichtlich ihrer gegenständlichen Korrelate) Sein und Nichtsein von Gegenständen überhaupt“191 betreffen. 3. Sind diese Aufgaben gelöst, dann gilt es als „reine Mannigfaltigkeitslehre“192 die Idee einer Theorie von Wissenschaft zu differenzieren und „die m ö g l i c h e n T h e o r i e n a priori zu erforschen.“193 Die ersten beiden Aufgaben werden in fünf Logischen Untersuchungen in Angriff genommen, das heißt, die rein logischen, idealen Bedeutungen werden in Verbindung mit ihrer möglichen, objektiven Wahrheit geklärt.194 Die VI. Logische Untersuchung (besonders §§ 36–39) thematisiert eigens das 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194

Prolegomena zur reinen Logik, §§ 65–69. A. a. O., § 65, S. 238 (236) Überschrift; Tugendhat, S. 14. Zusätze KN. Prolegomena zur reinen Logik, § 65, S. 239 (237). A. a. O., § 65, S. 244 (243). Ebd. A. a. O., § 68, S. 247 (245). A. a. O., § 69, S. 248 (247). Ebd. Vgl. Tugendhat, S. 15.

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

Wesen der Wahrheit und bringt es zur phänomenologischen Aufklärung. Dies aber nicht in der Ablösung von den Untersuchungen, sondern auf ihrer Grundlage. Die Analyse der Wahrheit schließt an die phänomenologische Deskription der Intentionalität des Bewusstseins (V. LU) an. In welchem Verhältnis Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung stehen und wie sie mit der Wahrheit zusammenhängen, klärt die VI. Logische Untersuchung. Sie untersucht „a l l e a u f d i e E r k e n n t n i s e i n h e i t b e z ü g l i c h e n V e r h ä l t n i s s e“195 innerhalb der objektivierenden Akte. Die Wahrheitsproblematik in den Logischen Untersuchungen ist also nicht eine unter mehreren oder eine beiläufige, sondern gehört zu den Hauptfragen einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis überhaupt – im Sinne einer reinen Logik. So kann man die thematisierte Wahrheitsanalyse des Fünften Kapitels der VI. Logischen Untersuchung als einen Höhepunkt der gesamten Abhandlung bezeichnen. II. Der ‚Standpunkt‘ als phänomenologische Sehweise auf das Phänomen Wahrheit Die viermalige Ausfaltung des Phänomens Wahrheit von den Standpunkten der Gegenständlichkeit, Idealität, Fülle und Richtigkeit gibt Anlass zu einigen Überlegungen, die unsere Erörterung ergänzen und die Wahrheitsthematik in der Auslegung Husserls im Zusammenhang vor Augen führen sollen. Husserls durchlaufende Nummerierung der ersten vier Abschnitte des § 39 „Evidenz und Wahrheit“ kann zu einer Deutung Anlass geben, die wir abzuwehren versuchen. Dieser Nummerierung folgend liegt es nahe, vier sich voneinander unterscheidende Wahrheitsbegriffe zu trennen.196 Husserl selbst spricht an verschiedenen Stellen von mehreren Wahrheitsbegriffen. So in seiner Schrift „Formale und Transzendentale Logik“. Dort sieht er „neben dem kritischen Wahrheitsbegriff der Urteilsrichtigkeit“ den „Begriff W i r k l i c h k e i t als den z w e i t e n W a h r h e i t s b e g r i f f“.197 Oder in den Logischen Untersuchungen, wo er in der Pluralform den Ausdruck „Reihe der Begriffe“198, bzw. „die Begriffe von W a h r h e i t“199 gebraucht. Damit sagt er aber nicht schon, dass sich diese Wahrheitsbegriffe ihrem Inhalt nach auch grundsätzlich unterscheiden. Wir glauben, dem von Husserl im Phänomen der Wahrheit Gedachten angemessener nach195 196 197 198 199

VI. Logische Untersuchung, Einleitung, S. 539 (3). s. Tugendhat, S. 93; auch bei De Almeida, S. 152. Formale und Transzendentale Logik, Hu Band XVII, § 46, S. 133. VI. Logische Untersuchung, § 38, S. 651 (122). A. a. O., § 39, S. 655 (125).

§ 12 Nachbesinnung auf Husserls Phänomenologie der Wahrheit

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zukommen, wenn wir sagen, dass sich die so genannten ‚Wahrheitsbegriffe‘ einheitlich auf ein und dasselbe Wesen der Wahrheit beziehen und in ihm wurzeln. Der Versuch, in den uns vornehmlich interessierenden vier Abschnitten des § 39 vier strikt gesonderte, eigenständige Wahrheitsbegriffe zu sehen, kann zu missverständlichen Formalisierungen führen. Gewiss enthalten die gekennzeichneten Abschnitte jeweils Klärungen des einen Phänomens der Wahrheit. Doch in welchem Sinne sind diese Bestimmungen zu sehen? Sind es tatsächlich vier Wahrheitsbegriffe, die Husserl nur blockweise nebeneinander gesetzt hat, und die nur im lockeren Verbund mit dem Wesen der Wahrheit bzw. untereinander stehen und zum Teil sogar jeder Beziehung zueinander entbehren?200 Die Antwort auf diese Fragen ergibt sich aus unserer voran stehenden Erörterung, die die inhaltlichen Zusammenhänge der einzelnen Abschnitte den § 39 mit aufzudecken versuchte. Die vier verschiedenen Faltungen der vier gesonderten Abschnitte sind Seiten201 der Wahrheit, die alle den gleichen Ursprung haben, nämlich „alle in der besagten phänomenologischen Sachlage wurzeln.“202 Solcherweise bestimmt erläutern sie nicht etwa dieselbe Sache einer größeren Anschaulichkeit der Darstellung zuliebe, die Husserl im Interesse einer rein sachlichen Deskription ebenso gut hätte weglassen können. Die Abschnitte sind in diesem Sinne keine anschaulichen Beispiele, die das Verständnis des Lesers erleichtern sollen, sondern die in der Sache gründende, notwendige Auseinanderfaltung des einheitlichen Phänomens Wahrheit. Auch ist in diesen Abschnitten nicht jedes Mal dasselbe gesagt, nur mit jeweils wechselnder Begrifflichkeit, so dass man also nur eine äußerliche Verschiedenheit, bedingt durch die Wahl unterschiedlicher Begriffe, feststellen könnte. Freilich geht es in der phänomenologischen Analyse dieses Paragrafen um ein und dieselbe Sache der Wahrheit. Die Unterschiedlichkeit der jeweils eingenommenen Standpunkte lässt sich aber nicht auf die äußere Veränderung der Begriffe reduzieren. Husserls Ausdruck „Standpunkt“ kennzeichnet die Einstellung der phänomenologischen Untersuchung grundsätzlich in allen vier Abschnitten, obwohl er diesen Ausdruck nur im 4. Abschnitt gebraucht. Dabei ist der gewählte Standpunkt nicht gleichbedeutend mit einer angenommenen Meinung, so wie wir in der täglichen Rede einen ‚Standpunkt behaupten‘, wenn wir zum Ausdruck bringen wollen, dass wir eine bestimmte Meinung vertreten. Die wechselnden Standpunkte der phänomenologischen Wahrheitsanalyse sind keine durchlaufend sich ändernden Meinungen von mehr oder minder großer Zufälligkeit, die einmal dies als 200 201 202

Vgl. Tugendhat, S. 96. Vgl. VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 652 (123). A. a. O., § 38, S. 651 (122).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

das Wesen der Wahrheit vermeinen und an einer anderen Stelle wieder ein anderes. Der jeweils eingenommene Standpunkt ist also nicht Ausdruck einer bloß vermeinenden Behauptung, sondern ein wechselnd eingenommener ‚Stand‘, von dem aus Husserl die Wahrheit phänomenologisch in den Blick nimmt. III. Die Einheit der vier Wesensmomente der Wahrheit Dass Husserl die vier Strukturmomente Gegenständlichkeit, Idealität, Fülle und Richtigkeit als das einheitliche Wesen der Wahrheit denkt, muss noch erläutert werden. Denn man könnte doch meinen, dass die Wahrheit unter bestimmten, noch ungeklärten Voraussetzungen einmal etwa den Charakter der Fülle annähme, unter einer anderen Voraussetzung etwa den der Idealität oder Richtigkeit. So als wäre etwa das Urteil allein durch seine Richtigkeit wahr. Die Wahrheit des Urteils, dieses Einzelfalls der Wahrheit als Richtigkeit, ist nicht schon dadurch verbürgt, dass sich ein intentionaler Vorstellungsakt auf den vermeinten Gegenstand richtet. Von der Richtigkeit des Urteils und überhaupt von der Richtigkeit der Wahrheit sprechen, heißt nichts anderes, als das Adäquatsein an den wahren Gegenstand in Einheit mit den Merkmalen der Gegenständlichkeit, Idealität und Fülle zu denken. Wenn Husserl in Abschnitt 4 die Wahrheit als Richtigkeit in den Blick nimmt, dann ist das volle Phänomen der Wahrheit mit besonderer Hinsicht auf die Richtigkeit gemeint. Die Wahrheit des Urteils richtet sich auf Gegenständliches. Das intentionale Korrelat des Urteils ist die Gegenständlichkeit. Die das Urteil erfüllenden Akte der Anschaulichkeit machen die bloße Urteilsmeinung wahr und geben ihr Fülle. Das wahre Urteil passt sich an den wahren Gegenstand an, es richtet sich nach der Sache selbst. Die genannten Aspekte eines wahren Urteils fügen sich nicht in beliebiger Weise zu einer Wahrheit zusammen, sondern sind in Einheit zugleich Seiten der Urteilswahrheit. Genauer: Der Urteilswahrheit liegt die Wahrheit als Richtigkeit zugrunde, die ein Wesensmerkmal des vollen Phänomens der Wahrheit ist. Die Wahrheit als Richtigkeit ist die Einheit von Gegenständlichkeit, Idealität, Fülle und Richtigkeit. Die Wahrheit ohne die Merkmale der korrelativen Gegenständlichkeit oder ohne die Idealität der Deckungseinheit oder ohne wahrmachende Fülle oder ohne intentionale Richtigkeit wäre der Husserlschen Wahrheitsanalyse zufolge nicht denkbar, ‚Nimmt man‘ eines dieser grundlegenden, ineinander verschlungenen Merkmale ‚weg‘, etwa in einer theoretischen Abstraktion, so verliert man das Wesen der Wahrheit aus dem Blick. In der wahren Aussage ‚die Vögel fliegen

§ 12 Nachbesinnung auf Husserls Phänomenologie der Wahrheit

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über das Haus‘ ist die Wahrheit dieser Aussage nur möglich durch die zugrunde liegende Einheit der Wahrheit. Die Aussage kann nur wahr sein, weil sie eine korrelative Gegenständlichkeit (den Vogelflug) hat, mit der der vermeinte Gegenstand voll übereinstimmt. Sodann liegt ihr die Idealität der in der Evidenz erlebten Deckungseinheit zugrunde, das ideale Verhältnis der sich vollkommen deckenden Akte. Die wahre Aussage über den ‚Vogelflug‘ als die Deckungssynthesis zwischen dem zunächst bloß im vermeinenden Urteilen Geurteilten und dem Gegenstand etwa der gegenwärtigenden Wahrnehmung ist nur möglich auf Grund der vollkommensten Deckungssynthesis im idealen Wesen der sich deckenden Akte. Die anschauliche Fülle des selbstgebenden Wahrnehmungsaktes gehört zur Wahrheit der Aussage notwendig dazu. So können wir zwar in der Aussage ‚die Vögel fliegen über das Haus‘ unserer Vermutung über das Verhalten der Vögel Ausdruck geben und den Vogelflug als wahr vermeinen; die volle Wahrheit erreicht aber diese Aussage erst, wenn wir ‚den Flug der Vögel‘ in einem selbstgebenden Wahrnehmungsakt leibhaft wahrnehmen (wobei die leibhafte Wahrnehmung wiederum in der reinen Wahrnehmung gründet, die eine letzte Erfüllung gewährt). Aber auch die Bedeutungsintention, die sich an den wahren Gegenstand anpasst, ist ein notwendiges Merkmal der Wahrheit des Urteils. Denn wo in einer wahren Aussage kein Gegenstand intentional vermeint ist, wo sich also kein Vorstellungsakt auf ihn richtet, kann er sich auch nicht als wahr erfüllen. Denn was anders soll wahr gemacht werden, anschaulich erfüllt werden als die Bedeutungsintentionen, die wiederum in der Richtigkeit der Intention in specie gründen. Wir sind uns bei dem angeführten Beispiel eines gewissen Mangels bewusst, den wir noch benennen wollen. Wir sagten, von der Richtigkeit einer Wahrheit zu sprechen, heiße zugleich, ihre Gegenständlichkeit, Idealität und Fülle mitzumeinen. Dass diese Wesenseinheit der Wahrheit kaum in verdeutlichende Beispiele zu bringen ist, liegt auf der Hand. Denn es ist schwer möglich, etwa die Idealität der Wahrheit an einem konkreten Einzelbeispiel zu zeigen, denn wir wissen, dass die Idealität der sich deckenden Akte gerade die Einzelfälle der intentionalen Akte übersteigt. Aber es soll auch nicht die Idealität exemplifiziert werden, sondern vielmehr der einheitliche Zusammenhang der vier Wesensmerkmale der Wahrheit. Zudem scheint uns ganz unmöglich, zumal in theoretischer Reflexion, eine Faltung der Wahrheit ganz und gar von einer anderen Faltung abzusondern. Husserl selbst redet dort, wo er etwa die Richtigkeit der Wahrheit anvisiert, gar nicht von dieser Richtigkeit in ihrer totalen Loslösung von den anderen Aspekten der Wahrheit. Er meint diese anderen wesentlichen Seiten der Wahrheit immer mit und nennt sie sogar ausdrücklich. In Ansehung der Richtigkeit der Wahrheit sind zugleich ausdrücklich ihr wahrer

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

„Gegenstand“,203 sodann ihre „ideale, also generelle Möglichkeit ausgesprochen“204, und die Fülle der Wahrheit als Richtigkeit ist mitgemeint. Obwohl Husserl also in den vier Abschnitten des § 39 nur jeweils eine Seite der Wahrheit betrachtet, bleiben die anderen Seiten nicht ganz und gar ‚im Dunkeln‘. Ja, es zeigt sich, dass die Ausfaltung des Phänomens der Wahrheit vom Standpunkt der Richtigkeit nur dadurch möglich ist, dass die anderen Seiten zugleich mit eingebracht werden. Der Blick auf eine ihrer wesentlichen Seiten ist nur möglich, wenn das volle Phänomen ausdrücklich oder unausdrücklich mit im Blick steht. Vor dem ‚Horizont‘ der Gegenständlichkeit, Idealität, Fülle und Richtigkeit als einer Einheit gelingt es erst, eine Seite der Wahrheit phänomenologisch eigens in den Blick zu nehmen. Das gilt für die Betrachtung all ihrer Seiten im gleichen Sinne. Es ist also etwas problematisch, in unserem Beispiel vom Vogelflug das volle Phänomen in seinen Einzelausfaltungen zu zeigen. Denn wo von der Wahrheit einer Aussage die Rede ist und diese Wahrheit in der phänomenologischen Einheit ihrer Erscheinung gemeint ist, muss es möglich sein, die Vierfaltigkeit der Wahrheit auch in Beispielen zu zeigen. Die wahre Aussage ‚die Vögel fliegen über das Haus‘ verdankt ihre Wahrheit dem zugrunde liegenden vollen Phänomen der Wahrheit. Die Wahrheit in der Einheit ihrer Vierseitigkeit muss immer vor Augen stehen, wenn es darum geht, dieses Phänomen in einer Einzelhinsicht zu betrachten, sei es nun in der theoretischen Reflexion Husserls oder in unserem Beispiel. Eine Nebenbemerkung sei noch gestattet. Wenn Husserl in den Logischen Untersuchungen oder in seinem späteren Werk, etwa in der Schrift Formale und Transzendentale Logik, „e n g e r e Begriffe von W a h r h e i t und S e i n“205 abgrenzt, bzw. den „B e g r i f f j e n e r R i c h t i g k e i t , die den einen, den kritischen Begriff von Wahrheit ausm a c h t“,206 thematisch hervorhebt, so bedeutet diese Bevorzugung keine Auseinanderbrechung des einheitlichen Wesens der Wahrheit, sondern ist nur möglich, „nachdem die Begriffe in dieser Weite gefaßt und phänomenologisch gesichert sind.“207 Diese Thematisierung des kritischen Begriffs der Wahrheit als Richtigkeit ist die Bevorzugung eines der möglichen Standpunkte und stellt keine Umwälzung des bereits phänomenologisch Gesichteten dar. Diesen Standpunkt in der Wahrheitsfrage wird Husserl, der an all seinen Positionen immer wieder gefeilt hat, im Grundsatz festhalten. Auch im 203 204 205 206 207

VI. Logische Untersuchung, § 39, S. Ebd. VI. Logische Untersuchung, § 39, S. Formale und Transzendentale Logik, VI. Logische Untersuchung, § 39, S.

653 (123), 4. Abschnitt. 655 (126). § 46, Hu Bd. XVII, S. 132. 655 (126).

§ 13 Das Sein im Sinne der Wahrheit

85

Sommer 1913 führt er in seinem neuen Entwurf für das fünfte Kapitel der VI. Logischen Untersuchung die bekannten vier Begriffe der Wahrheit auf und stellt sie ohne große Änderungen in ihrer von ihm gewollten Einheitlichkeit dar. Den Schwerpunkt der Auseinandersetzung stellt wiederum die Urteilswahrheit dar. Die Identifizierung geht vom bloßen Bedeutungskorrelat hin zum „S ä t t i g u n g s k o r r e l a t“.208

§ 13 Das Sein im Sinne der Wahrheit I. Das Wahrsein als korrelatives Verhältnis des wahren Aktes und des seinsmäßigen Gegenstands An den phänomenologischen Aufweis der Wahrheit in der Einheit seiner Vierfaltigkeit knüpft Husserl Bemerkungen, die zur thematischen Ausfaltung zwar nicht unmittelbar gehören, aber doch innerhalb der Wahrheitsproblematik angesiedelt sind. Am Ende209 des § 38 wurde die Wahrheit als objektives Korrelat der Evidenz auch das „ S e i n i m S i n n e d e r W a h r h e i t “210 genannt. Den Seinscharakter der Wahrheit hat Husserl im darauf folgenden ersten Teil des § 39 (Abschnitte 1–4) noch nicht ausdrücklich betont und holt dies im Anschluss an die Ausfaltung der Wahrheit nach.211 Auf das korrelative Verhältnis von Wahrheit und Sein hatte er bereits in den Prolegomena hingewiesen. Im Abweis des Psychologismus, der die Wahrheit „psychologistisch umdeutet“212 und sie in Abhängigkeit einer sie denkenden Intelligenz bringt, betont Husserl „die echte Objektivität der Wahrheit“ und „die des subjektiven Seins“.213 Wahrheit und Sein sind „offenbar korrelativ“.214 Dieses Verhältnis der Korrelation von Wahrheit und Sein wird in der VI. Logischen Untersuchung näher bestimmt, wobei die Korrelate in ihrer Unterschiedenheit mit zur Aufklärung gelangen. Husserl bezieht „die Begriffe von W a h r h e i t . . . auf die S e i t e d e r A k t e selbst und ihrer ideal zu fassenden Momente . . ., die Begriffe von S e i n (Wahrhaft-sein) auf die zugehörigen g e g e n s t ä n d l i c h e n K o r r e l a t e.“215 Die Rede von Wahrheits- und Daseinsbegriffen meint die phänomenologisch aufgeklärte Bestimmung des Wesens der Wahrheit (oder das 208 209 210 211 212 213 214 215

Logische Untersuchungen. Ergänzungsband Erster Teil, Hu XX/1, S. 259. VI. Logische Untersuchung, § 38, S. 651 (122). Ebd. VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 653 (123 f.). Prolegomena zur reinen Logik, § 39, S. 134 (127). A. a. O., § 39, S. 137 (131). Ebd. (132). VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 655 (125).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

Sein im Sinne der Wahrheit) in seiner vierfachen Ausfaltung. Doch inwiefern liegt in der Unterscheidung von Wahrheit und Sein eine Weiterführung des voranstehenden Gedankengangs? Vom vollen Phänomen der Wahrheit war bisher die Rede; es zeigte sich im Durchgang durch die ersten vier Abschnitte des § 39 als die Einheit von wesenhaften Bestimmungen, die wir stichwortartig Gegenständlichkeit, Fülle und Richtigkeit nennen. Ergänzend lässt sich nun hinzufügen, dass mit der Gegenständlichkeit und mit der Fülle der Wahrheit (Abschnitte 1 und 3) ihr Seinscharakter ausdrücklich angesprochen ist.216 Während die Idealität und Richtigkeit der Wahrheit (Abschnitte 2 und 4) sich auf die Seite der intentionalen Akte beziehen.217 Dies scheint unserer Textauslegung auf den ersten Blick zu widersprechen. Hatten wir nicht in der Absicht, das volle Phänomen der Wahrheit in seiner Einheit darzustellen, unter § 12 III. betont, dass in allen Momenten der Wahrheit sich die Einheit der vier Merkmale zeigt? Wir halten diese Deutung aufrecht und meinen, dass der Seinscharakter der Wahrheit in jeder der vier Ausfaltungen gezeigt werden kann, also auch in der Idealität und der Richtigkeit der Wahrheit. Der Seinscharakter der Gegenständlichkeit steht, wenn auch nicht ausdrücklich, etwa in der Bestimmung der Idealität der Wahrheit als der evidenten Deckungseinheit der sich deckenden Akte gleichsam im Hintergrund von Husserls Untersuchung. Ist die Idealität der Wahrheit „die zur Aktform gehörige Idee“,218 so bleibt die intentional vermeinte Gegenständlichkeit nicht ausgeschaltet, sondern ist das notwendige Korrelat dieser Idealität. Ebenso ist die Richtigkeit der Wahrheit nicht ohne das denkbar, worauf sie sich richtet, nämlich auf Gegenständliches. Das Gegenständliche im Evidenzakt hat den Charakter des Seins. Dieser Seinscharakter ist bei der Betrachtung der Wahrheit als Richtigkeit der Intention in specie unausdrücklich mitgemeint. Es können Missverständnisse entstehen, will man den Seinscharakter der Wahrheit ausschließlich auf Gegenständlichkeit und Fülle beziehen, da sie ohne ihren Aktvollzug nicht denkbar sind. Genauer gefasst: Da das Sein, bezogen auf die gegenständliche Seite der intentionalen Akte, und die Wahrheit, bezogen auf die Aktform selbst, im Verhältnis der Korrelation stehen, so müssen Wahrheit und Sein oder Wahrsein in dieser Weise auch zusammengedacht werden, wenn vom vollen Phänomen der Wahrheit die Rede ist. Dieser Korrelation des Wahrseins Rechnung tragend, wird die Rede von den Begriffen der Wahrheit und des Seins eindeutig. Sie betreffen ein und dasselbe Phänomen Wahrheit und beleuchten es einmal von der 216 217 218

Ebd. (vgl. a. a. O., S. 126). A. a. O., § 39, S. 654 f. (125). VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 652 (123).

§ 13 Das Sein im Sinne der Wahrheit

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Seite der Akte und zum anderen von der Seite der gegenständlichen Korrelate. Die Seite der Akte betreffend, ist Wahrheit die „I d e e d e r a b s o l u t e n A d ä q u a t i o n a l s s o l c h e r“219 (§ 39, Abschnitt 2) oder die Richtigkeit der Bedeutungsintentionen (Abschnitt 4).220 Die Seite der im Akt vermeinten Gegenständlichkeit betreffend, ist Wahrheit die Identität des „zugleich gemeinten und gegebenen Gegenstandes“221 (Abschnitt 1) oder die ideale Fülle der wahrmachenden Intention (Abschnitt 3). Die Bezeichnung Wahrsein für die einheitliche Korrelation von Wahrheit und Sein, für das Sein im Sinne der Wahrheit, gewinnt hier einen guten Sinn. Denn diese Bezeichnung kann als Ausdruck gelten sowohl für die von Husserl gesehene Vierfalt der Wahrheit, die wir immer mitmeinen, wenn wir von dem Wesen der Wahrheit sprechen, als auch für die korrelative Zusammengehörigkeit von Wahrheit als Akt und dem Sein der Wahrheit als Gegenstand. Das Sein im Sinne der Wahrheit meint danach nicht allein den adäquat wahrnehmbaren Gegenstand überhaupt, sondern auch den Akt der adäquaten Wahrnehmung selbst. II. Das Sein des Wahrseins und das Sein der Kopula Dieses Sein der Wahrheit oder Wahrsein darf nicht verwechselt werden „mit dem S e i n d e r K o p u l a der ‚affirmativen‘ kategorischen Aussage.“222 Wir können hier noch hinzufügen: Das Wahrsein darf auch nicht verwechselt werden mit dem Seinscharakter des gegenständlichen Aktkorrelats, dem „(Wahrhaft-sein)“,223 das im Ausdruck ‚Wahrsein‘ noch umfasst wird. Das Sein oder besser das ‚Ist‘ im kategorischen Urteil ‚das Haus ist aus Stein gebaut‘ unterscheidet sich wesentlich vom Sein des Wahrseins im aktuellen Erlebnis der Evidenz. Im evidenten Erlebnis der Wahrheit „handelt es sich um t o t a l e D e c k u n g“,224 um die vollkommenste Deckungssynthesis von Vermeintem und Selbstgegebenem, dessen objektives Korrelat das Wahre ist. Indem ich im Urteil dem Subjekt ‚Haus‘ die Beschaffenheit ‚aus Stein zu sein‘ zuspreche, meine ich jedoch im prädizierenden ‚Ist‘ nicht jene vollkommenste Erfüllungseinheit, durch die erst die Wahrheit der Aussage verbürgt ist, sondern ich meine den steinernen Gegenstand ‚Haus‘ in der Gegebenheitsweise mehr oder weniger großer Anschaulichkeit. So 219 220 221 222 223 224

Ebd. A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O.,

§ § § § §

39, 39, 39, 39, 39,

S. S. S. S. S.

653 655 653 655 653

(123). (126). (124). (125). (124).

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2. Kap.: Die Bestimmung der Wahrheit

etwa, wenn ich den Gegenstand der Aussage gar nicht vor mir habe, das heißt, wenn ich ihn nicht in einer selbstgebenden Wahrnehmung leibhaft präsentiere, sondern in einem vergegenwärtigenden Vorstellungsakt als vermeinten vorstelle. Dabei werden wohl verschiedene anschauliche Momente mit dem Gegenstand selbst identifiziert, und dies kann veranschaulichend geschehen. Zur totalen Anschaulichkeit kann die Vergegenwärtigung jedoch nicht vordringen. Ja, selbst in einer leibhaften Gegenwärtigung des Hauses, die zur Aussage ‚das Haus ist aus Stein gebaut‘ veranlasst und eine totale Identifizierung ausdrückt, ist das Sein dieser prädizierenden Aussage noch wesentlich vom Sein des Wahrseins verschieden. Denn das Wahrsein ist in meinem wahren Urteil zwar erlebt, das heißt, als objektives Korrelat einer evidenten Aussage erlebt, aber nicht im ‚Ist‘ „ausgedrückt“.225 In der Weise, wie sich das Sein der prädikativen Aussage im Urteil gleichsam ‚auffinden‘ lässt als die Kopula, die Subjekt und Prädikat zur Aussage verbindet, ist das Wahrsein jedoch nicht vorhanden, sondern als die ideale Einheit erlebt. Das prädikative Sein ist nicht die Ausformung oder der Ausdruck des Wahrseins, es ist vielmehr die Verbindungsform, „das synthetische Moment“ der seienden wahren Aussage. Wir müssen hier offenbar eine zweifache Weise von Übereinstimmung unterscheiden: Die Übereinstimmung zwischen dem Subjekt der Aussage, dem Haus, und dem Prädikat der Aussage, der ‚steinernen‘ Beschaffenheit des Hauses. Diese Übereinstimmung kann sich, wie gesagt, in mehreren Schritten wachsender Veranschaulichung vollziehen, von der bloß vermeinenden Behauptung bis hin zur adäquaten Wahrnehmung. Die Übereinstimmung in diesem Sinne als Übereinstimmung von Subjekt und Objekt der prädikativen Aussage kann also, bedingt durch die Vollzugsschritte der veranschaulichenden Vorstellungsakte, in sich wieder vielfach gestuft sein. Die Verbindungsform dieser Übereinstimmung ist das prädikative „Ist“. Die zweite Weise der Übereinstimmung ist die Erfüllungssynthesis der Evidenz. Die totale Deckung im Akt der Evidenz ist aber keine Deckung zwischen Subjekt und Objekt einer Aussage, sondern die Deckungseinheit der bedeutungsverleihenden Akte mit ihren Bedeutungserfüllungen von bloß Vermeintem und „der Wahrnehmung des Sachverhaltes selbst“226 in absoluter Adäquation. Diese Übereinstimmung vollzieht sich, genauso wie die erste, in Schritten wachsender Veranschaulichung; was sie aber von der erstgenannten unterscheidet, ist, dass sie als totale Deckungssynthesis nicht in die Form eines Urteils zu gelangen braucht. Die Übereinstimmung als Erfüllungssynthesis der Evidenz im Sinne des Wahrseins ist ihrem Wesen 225 226

Ebd. A. a. O., S. 653 f. (ebd.).

§ 13 Das Sein im Sinne der Wahrheit

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nach nicht in der Weise „gegenständlich“227 wie das Urteil. Das kann aber nicht heißen, dass sie keine intentionale Gegenständlichkeit hätte. „Gegenständlich“ meint hier offenbar ‚ausgedrückt‘, in der Urteilsform ausgedrückt. Die Übereinstimmung in der Weise der evidenten Deckungseinheit muss nicht notwendig in der Urteilsform auftreten und dort ausgedrückt sein. Ihrem Wesen nach ist sie nicht ans Urteil gebunden. Gleichwohl kann sie die Form der prädikativen Aussage annehmen, wie dies zum Beispiel in unserem Text ständig geschieht. Hier reflektieren wir über die Erfüllungssynthesis des Wahrseins, und dies geschieht in Aussagesätzen. Ähnlich im Urteil ‚das Haus ist aus Stein gebaut‘. Unausdrücklich enthält dieses Urteil die Übereinstimmung des Wahrseins mit, und es ist möglich, diese Evidenz des Wahrseins wieder in die Form eines Urteils zu bringen, etwa im Urteil: ‚Ich urteilte wahr, als ich dem Haus die Beschaffenheit aus Stein zusprach.‘ Wiederum kann in einem neuen, evidenten Urteil über den vorigen Satz wahr ausgesagt werden usw.

227

A. a. O., S. 654 (ebd.).

Drittes Kapitel

Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung auf dem Boden der ontologischen Daseinsanalytik § 14 Die erneute Problematisierung des Phänomens der Wahrheit bei Husserl und Heidegger Mit dem zuletzt Gesagten scheint unsere Untersuchung des Wesens der Wahrheit innerhalb des Problemkreises der Logischen Untersuchungen ans Ende gelangt zu sein. Sie hatte ihren Ausgang genommen bei einer Erörterung der Intentionalität als dem Vollzugscharakter alles Denkens und Erkennens und war im Abweis verschiedener Missdeutungen zur positiven Aufklärung des Phänomens Wahrheit vorgedrungen, das Husserl als das letzte Ideal der Erfüllung in der echten Adäquation von Vermeintem und Selbstgegebenem ansah. Im identifizierenden Akt der vollkommensten Erfüllungssynthesis, also im Akt der Evidenz, wird die Wahrheit als das objektive Korrelat der Evidenz zum Erlebnis des Bewusstseins. Der Wahrheit, in dieser Weise erlebt, eignen die vier Wesensmerkmale der Gegenständlichkeit, Idealität, Fülle und Richtigkeit. In der näheren Bestimmung galt uns dann die Wahrheit als Wahrsein, um damit das korrelative Verhältnis vom Wahrhaft-sein der Gegenständlichkeit und wahrem Bewusstseinsakt zu bezeichnen. Das Wahrsein als objektiv erster Sinn von Wahrheit wurde dabei unterschieden vom Sein der synthetischen Verbindungsform in der prädikativen Aussage. Wenn wir uns die phänomenologische Aufklärung der Wahrheit in diesen wesenhaften Zusammenhängen knapp vor Augen führen, kann Heideggers Hinweis, den er in Sein und Zeit1 gibt, auf den ersten Blick befremden. Denn zeigt sich in Husserls Aufweis der Wahrheit als dem Ideal der vollkommensten Identifizierung in der Vierfaltigkeit seiner Erscheinung nicht gerade die größtmögliche Kluft zu dem, was Heidegger das Entdeckendsein der Entdecktheit nennt? Was gibt es da zu ‚vergleichen‘? Denn zu einem Vergleich, der ein wie auch immer geartetes ‚Gleiches‘ vermuten lässt, scheint uns Heideggers Anmerkung herauszufordern. Anders gefragt: Sperrt sich nicht die Verschiedenheit der Analysen, von denen die eine Wahrheit 1

GA Bd. 2, S. 289 Fußnote (S. 218 Fußnote).

§ 14 Die erneute Problematisierung des Phänomens der Wahrheit

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als endgültige Adäquation bestimmt, die andere hingegen diese traditionelle Formel der Übereinstimmung gar nicht positiv akzeptiert, geradezu gegen jede Art der Vergleichung? Oder sind diese Fragen bereits falsch gestellt? Können wir nicht auch das Gegenteil annehmen und fragen, ob sich beide Analysen der Wahrheit überhaupt so grundsätzlich voneinander unterscheiden? Könnten wir uns durch Heideggers Hinweis auf die VI. Logische Untersuchung nicht dazu verleiten lassen, Husserls Untersuchungen und insbesondere die VI. als Quelle für die Wahrheitsanalyse bei Heidegger anzunehmen? Denn, ist das Entdecken und das bewusstseinsmäßige Identifizieren letztlich nicht ein und dasselbe? Wenn wir nicht geneigt sind, diesen schnellen Schluss zu ziehen, so liegt doch immerhin die Vermutung nahe, dass Heidegger diese VI. Logische Untersuchung für die ontologisch existenziale Analyse aufgenommen hat, dass er dabei zum Beispiel die Begrifflichkeit der von ihm gegebenen Sache angeglichen hat, ansonsten aber die bewusstseinsphänomenologischen Grundzüge unverändert in seine Wahrheitserörterung übernommen hat. Damit hätte er gewiss auch dem Wunsch Husserls entsprochen. Denn meinen nicht Husserls Rede von der totalen Selbstgegebenheit des vorher bloß gemeinten Gegenstands und Heideggers Rede vom gemeinten Seienden, das sich in Selbigkeit zeigt, nicht ein und denselben phänomenologischen Sachverhalt? Erweitert gefragt: Ist nicht an dieser Stelle schon eine grundsätzliche Verwandtschaft zwischen der bewusstseinsphänomenologischen und der existenzial ontologischen Aufklärung der Wahrheit festzustellen? Geht es doch in beiden Analysen um die „Fundamente“2 der Wahrheit. Und muss nicht jeder zugeben, dass es der ‚Mensch‘ ist, der sich wie auch immer zur Wahrheit verhält; nur mit dem Unterschied, dass er einmal (bei Husserl) als Bewusstsein habendes Subjekt die Wahrheit im Evidenzakt ‚erlebt‘ und zum anderen (bei Heidegger) als Dasein ‚entdeckt‘? Dann bilden also Bewusstsein und Dasein in beiden Analysen sozusagen ein und denselben Horizont für die phänomenologische Untersuchung der Wahrheit? Wir bleiben vorsichtig mit der Antwort auf diese Fragen, denn wir wissen zwar, inwiefern Husserls Analysen bewusstseinsphänomenologisch genannt werden können, ebenso wissen wir, dass die Identifizierungsakte der Evidenz Bewusstseinsakte sind. Was aber Heidegger im Terminus ‚Dasein‘ denkt, wissen wir noch nicht. Erst wenn es uns gelingt, die wesentlichen Unterschiede zwischen Bewusstsein und Dasein, zwischen einer bewusstseinsphänomenologischen Analyse und einer Daseinsanalyse der Wahrheit grundsätzlich aufzudecken (vorausgesetzt, es gibt diese Unterschiede), gewinnen wir auch die Antworten auf die gestellten Fragen und zugleich einen Einblick in Hei2 VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 656 (126) und GA Bd. 2, § 44 a, S. 284 (214).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

deggers kritische Rezeption der VI. Logischen Untersuchung. Wir erwarten also von der Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von Bewusstsein und Dasein eine Aufklärung dieses Verhältnisses und darüber hinaus von Bewusstseinsphänomenologie und Daseinsontologie; ebenfalls ein angemessenes Verständnis des Wahrseins in beiden Analysen.

§ 15 Die Bedeutung von Bewusstsein und Dasein bei der Auslegung des Wahrseins Bei der Frage nach dem Dasein scheint es uns nicht geboten, die gesamte Problematik der Daseinsanalyse in Sein und Zeit aufzurollen; uns kommt es vielmehr auf eine Darstellung dessen an, was Heidegger im Terminus ‚Dasein‘ denkend sieht, wenn diese Darstellung auch nur in groben Zügen gehalten sein kann. Der Titel ‚Dasein‘ ist ein Grundbegriff der fundamentalontologischen Daseinsanalyse. Er ist Heideggers Bezeichnung für das Seiende Mensch.3 Anderes Seiendes, etwa von der Art Pflanze, Tier oder Stein, ist nicht Seiendes von der Seinsart des Daseins, sondern Seiendes von der Seinsart des nicht daseinsmäßigen Seienden. Daraus erhellt schon, dass ‚Dasein‘ kein bloßes räumliches Hier- und Dortsein meinen kann.4 Dasein meint vielmehr etwas von jedem räumlichen Vorhandensein grundsätzlich Verschiedenes. Es ist ein „reiner Seinsausdruck“5 für das Seiende Mensch. Nach dieser ersten groben Bestimmung könnte man meinen, dass eine Gleichsetzung von Bewusstsein und Dasein wohl mit einigem Recht möglich ist. Denn ist nicht auch der Terminus ‚Bewusstsein‘ nach der Auffassung der neuzeitlichen Metaphysik die vernehmliche und wesentliche Bezeichnung für das Seiende Mensch, das ihn von der Pflanze und dem Tier und von allem anderen Seienden grundlegend unterscheidet? Wenn auch das Dasein die Bezeichnung für den Menschen ist, so scheint er sich doch durch diese Eigenschaft in der gleichen Weise wie das Bewusstsein von allem anderen Seienden zu unterscheiden. Allein, das Dasein ist gar nicht die Kennzeichnung des Menschen im Sinne einer ihm zukommenden Eigenschaft, die es vor anderem Seienden auszeichnete. Der Titel Dasein meint vielmehr die grundlegende Seinsverfassung des Seienden Mensch. Der Mensch wird von Heidegger also gerade nicht als ein Seiendes von der Art des bewusstseinsmäßig Seienden gefasst, sondern als Seiendes von einer bestimmten ontologisch existenzialen Seinsverfassung. Hier ließe sich wiederum einwenden, dass auch Husserl den Menschen nicht als bloß vorkommendes und vorhandenes Seiendes betrachtet, sondern von der ‚Seinsver3 4 5

GA Bd. 2, S. 16 (11). A. a. O., S. 176 (132). A. a. O., S. 17 (12).

§ 15 Die Bedeutung von Bewusstsein und Dasein

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fassung‘ der Subjektivität in der Auszeichnung des Bewusstseins, mit bestimmten, phänomenologisch aufweisbaren Bewusstseinsstrukturen. Doch ist hier ein und dieselbe Seinsverfassung gemeint? Ist das Sein des Menschen in gleicher Weise anvisiert, wenn es einmal ‚Subjekt‘ und dann wieder ‚Dasein‘ genannt wird? Ist im Bewusstsein habenden Subjekt überhaupt schon das Sein des Menschen in den Blick genommen? Eine Klärung dürfen wir hier nur von einer genaueren Auslegung dessen erwarten, was Heidegger unter Dasein versteht. Denn entziehen wir uns dieser Hinsicht auf das seinsmäßige Wesen des Daseins, dann bleiben sowohl die seinsphänomenologische Komplexität des Titels Dasein als auch der grundlegende Unterschied zum Bewusstsein im Dunkeln. Die Silbe Da im Ausdruck Dasein bezeichnet die „wesenhafte Erschlossenheit“6 des Daseins. Erschlossen im Dasein ist aber nicht nur der Mensch in seinem Sein, sondern darüber hinaus das Sein des Seienden überhaupt. Das Da in ‚Dasein‘ hat die ontologisch existenziale Bedeutung der Erschlossenheit und meint nicht etwa das Dasein als Vorhandensein, etwa im Sinne des kategorialen Momentes ‚Dasein‘ im Gegensatz zum ‚Nichtsein‘ bei Kant. Dasein ist überhaupt nicht die Bestimmung eines Subjekts als eine unter mehreren, sondern Dasein ist die existenzial ontologisch gesichtete Seinsverfassung des Seienden Mensch in seiner wesenhaften Erschlossenheit des Seins. Das erschlossene Sein beschränkt sich aber nicht auf das Sein des menschlichen Seienden, nicht allein das Sein des Seienden Mensch ist dem Dasein in der Erschlossenheit aufgeschlossen. Vielmehr ist die von Heidegger im Da des Daseins gesehene Erschlossenheit die Aufgeschlossenheit von Sein überhaupt. ‚Sein überhaupt‘ gilt hier nicht als Gegenbegriff zum menschlichen Sein. So als wäre in der daseinsmäßigen Erschlossenheit auf der einen Seite das selbsthafte menschliche Sein erschlossen und auf der anderen Seite alles übrige Sein überhaupt. So dass man also im ‚Sein überhaupt‘ keine Abgrenzung gegen das menschliche Sein sehen und darunter nicht das Sein verstehen darf, welches überhaupt außerhalb der Sphäre des Subjekts anzutreffen ist. Der Ausdruck ‚Sein überhaupt‘ ist die allgemeine Bezeichnung für das Sein von der Seinsart des daseinsmäßigen Seienden als auch zugleich für das Sein von der Seinsart des nicht daseinsmäßigen Seienden, für das Sein von der Art des Zuhandenen oder Vorhandenen. ‚Allgemein‘ ist diese Bezeichnung also nicht, weil sie leer oder unbestimmt wäre, sondern weil sie das Sein überhaupt im Gegensatz zu einem besonderen, etwa eigens thematisierten Sein meint. Die Erschlossenheit als die ontologische Grundbedeutung des Daseins kennzeichnet die Aufgeschlossenheit des Seins des Seienden überhaupt, in ihm und für es selbst. Das Sein des menschlichen Seienden nennt die zweite 6

A. a. O., S. 176 f. (132).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

Silbe im Wort Dasein. Das Sein des Menschen ist die Existenz – also doch letztlich eine Beschränkung des Daseins auf seine eigene Existenz? Jedoch ist im fundamentalontologischen Sinn die Existenz nie als isolierte gedacht. Sie wird nicht etwa als ein Gegenpol oder als ein Gegenbereich im weiteren Sinne dem Sein als solchem des Seienden gegenübergestellt und solcherweise vom Sein des Seienden abgetrennt. Dies wäre widersinnig. Denn wie soll es möglich sein, das Sein des Menschen, das Heidegger als Existenz sieht, vom Sein überhaupt zu trennen? Mit anderen Worten: Es ist im ontologisch existenzialen Sinne unmöglich, das Sein des Menschen als Existenz zu fassen und dabei gerade vom Sein abzusehen. Dies setzt aber voraus, dass das Sein der Existenz und das Sein des Seienden überhaupt im Verhältnis der wesenhaften Zusammengehörigkeit stehen. Und gerade das ist im Begriff Existenz gesehen. „Das ‚Wesen‘ des Daseins liegt in seiner Existenz“.7 Dieses seinsmäßige Wesen des Daseins kennzeichnet aber keine Abgeschlossenheit eines selbsthaften Bewusstseins, sondern meint die Erschlossenheit des Daseins als Existenz für es selbst und für das Sein des Seienden im Ganzen. Die Zusammengehörigkeit von daseinsmäßiger Existenz und Sein des Seienden im Ganzen ist so zu verstehen, dass das Dasein als Existenz gerade nicht in seinem Selbst ‚zurückbleibt‘ und in dieser Weise in sich selbst bleibt, sondern dass es in seinem Seinsverhältnis die Grenzen des Selbst in der Erschlossenheit des Seins des Seienden überhaupt ‚sprengt‘. Dies geschieht aber nicht durch einen willentlichen Akt, in dem es etwa aus seiner eigenen Sphäre hinausgreift in den ‚weiten‘ Bereich des Seins überhaupt. Vielmehr ist dem Dasein, seinem seinsmäßigen Wesen nach, das Sein als solches des Seienden im Ganzen aufgeschlossen.8 Die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, die Heidegger am Leitfaden einer existenzial ontologischen Auslegung des Daseins entwickelt,9 ist die Haupt- und Grundfrage, die das Denken der Existenzialontologie in Bewegung hält. Es geht also in den fundamentalontologischen Interpretationen in erster Linie nicht um eine konkrete und am Dasein orientierte Aufklärung und Auslegung des erkennenden Subjekts in der Fassung des Selbstbewusstseins. Die Hauptaufgabe einer Ontologie des Daseins ist vielmehr die fundamentale Freilegung des Sinnes von Sein überhaupt. Auf dem Boden dieser Problemstellung können das Wesen des Daseins und das uns besonders interessierende Wesen des Wahrseins überhaupt erst zu einem angemessenen Verständnis gelangen. Für die Bestimmung des Daseins ergibt sich ein Mehrfaches: 7 8 9

A. a. O., S. 56 (42). F.-W. von Herrmann: Subjekt und Dasein, S. 20 f. GA Bd. 2, S. 307 (231).

§ 16 Das Begründungsverhältnis von vollkommener Adäquation

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• Das Sein des Daseins ist die menschliche Existenz. • Das Da des Daseins ist die Erschlossenheit für das Sein des Seienden überhaupt. • Der Terminus Dasein meint nur Seiendes von der Seinsart des Menschen und nicht auch Seiendes von der Art des Zuhandenen und Vorhandenen, also nicht auch außermenschliches Sein. • Im Begriff Dasein ist der Mensch nicht als ein Seiendes und nicht unter anderem, auch noch vorkommendem Seienden in den Blick genommen, also nicht in seinem Seiendsein bestimmt, sondern eigens in seiner Seinsverfassung phänomenologisch gesichtet. • In der Erschlossenheit der menschlichen Existenz (und darüber hinaus des Seins überhaupt) ist eine wesenhafte Zusammengehörigkeit angesprochen, die ihren Grund im Dasein hat.10

§ 16 Das Begründungsverhältnis von vollkommener Adäquation und dem Entdeckend-sein des Daseins Von diesen grundlegenden Bestimmungen her lässt sich über das Verhältnis von Bewusstsein und Dasein folgendes sagen: Der philosophische Ansatz beim Selbstbewusstsein von den Anfängen der neuzeitlichen Philosophie bis hin zur Bewusstseinsphänomenologie Edmund Husserls enthält die notwendige thematische Einschränkung auf den Menschen als subjektives Selbstbewusstsein. In der existenzial ontologischen Auslegung des Menschen jedoch geht es nicht allein um die Aufklärung des seinsmäßigen Wesens des Menschen, sondern umfassender um die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. In diesem fundamentalen und weit gefassten Sinne hat die Ontologie des Daseins universellen Charakter.11 Bewusstsein und Dasein stehen offenbar im Verhältnis eines Begründungszusammenhangs, insofern als der universelle, ontologische Ansatz beim Sein des Daseins die Subjektivität des Bewusstseins, diese begründend, noch unterläuft. „Das Bewusstsein ist nur möglich auf dem Grunde des Da als ein von ihm abgeleiteter Modus.“12 In welcher Weise ist diese Begründung zu verstehen? Husserl hatte die Wahrheit als das objektive Korrelat der vollkommensten Erfüllungssynthesis bewusstseinsphänomenologisch bestimmt. Im Bewusstseinsakt der Evidenz, in dem wir die Wahrheit aktuell erleben, ist der Gegen10 11 12

Vgl. Subjekt und Dasein, S. 20, S. 23. A. a. O., S. 33. Martin Heidegger/Eugen Fink: Heraklit, GA Bd. 15, S. 205 (203).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

stand in der Weise der Bedeutungsintention nicht bloß signitiv vermeint und auch nicht in mehr oder minder grauer Veranschaulichung vorgestellt, sondern ist in absoluter anschaulicher Erfülltheit selbst gegeben und selbst gegenwärtig. Das Wahrsein ist im selbstbewussten Gegenstandsbewusstsein die Einheit der wahren Erlebnisakte und der in ihnen selbstgegebenen wahren Gegenständlichkeit. Mit anderen Worten: Das Wahrsein ist bei Husserl ausdrücklich ein bewusstseinsmäßiges Erlebnis und solcherweise als Erlebnis im Bewusstsein fundiert. Der seiende Gegenstand, der als wahrer erlebt wird, muss jedoch in einer dem aktuellen Erlebnisakt vorausgehenden Entdecktheit stehen, um überhaupt wahr zu sein. In der Vorentdecktheit des Seienden muss der Gegenstand bereits offenbar sein und sich vorgängig zeigen, damit ein intentionales bewusstseinsmäßiges Erleben möglich sein soll. Genauer gesagt: Das bewusstseinsmäßige Erleben der Wahrheit hat die fundamentale, ontologische Voraussetzung der Entdecktheit der Gegenständlichkeit. Erst auf dem Boden des sich Zeigens von Seiendem ist so etwas wie Gegenstandsbewusstsein möglich. Denn wo Seiendes sich nicht zeigt, wo es nicht vorgängig entdeckt ist, kann es auch nicht Gegenstand eines identifizierenden Bewusstseinsaktes sein. Das Gegenstandsbewusstsein ist ohne die Entdecktheit des Seienden gleichsam blind und ontologisch unmöglich. Das Seiende ist also nicht nur im Bewusstseinsakt des Vermeinens und darüber hinaus in den Akten der evidenten Erfüllungssynthesis entdeckt als ein selbstgegebenes und gegenwärtiges Seiendes, sondern ist entdeckt bereits in einer vorgängigen Entdecktheit, die den Identifizierungsakten des Bewusstseins zugrunde liegt und das Wahrsein des Gegenstandsbewusstseins begründend erst ermöglicht. Diese Entdecktheit des Seienden gründet ihrerseits wiederum in der Erschlossenheit als dem existenzialen Grundcharakter des Daseins. Dass die vorgängige Entdecktheit des Seienden in ihrer Gründung in der Erschlossenheit des Daseins den Rahmen einer phänomenologischen Aufklärung der subjektiv bestimmten Erkenntnis sprengt, wird hier deutlich. Wir wollen also nicht behaupten, dass Husserl die Entdecktheit des Seienden wohlmöglich unausdrücklich mitgemeint oder auch unthematisch mitgedacht hat. Es soll vielmehr festgestellt werden, dass die Erschlossenheit des Daseins und die in ihr gründende Entdecktheit des Seienden gar nicht das Thema der traditionellen Erkenntnistheorie und der Phänomenologie des Bewusstseins werden konnten, sondern der Sache nach in das Feld der Ontologie im Sinne einer ontologisch existenzialen Analyse gehören. Es handelt sich also bei der Analyse des Daseins und der Wahrheit nicht etwa um erkenntniskritische Ergänzungen, die als Beigabe zur phänomenologischen Aufklärung der wahren subjektiven Gegenstandserkenntnis gelesen werden können. Ebenso ist die fundamentale Analyse des Wahrseins als

§ 17 Das doppelte Übersehen des Seins

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Entdeckend-seins der Entdecktheit keine nur fundiertere Bestimmung des Wahrseins der absoluten Erfüllungssynthesis, also keine Analyse, die im Problemkreis der Erkenntnistheorie anzusiedeln wäre. Vielmehr nimmt die ontologisch existenziale Analyse der Wahrheit einen gänzlich anderen und vom thematisierten Gegenstandsbewusstsein grundsätzlich verschiedenen Ausgang. Sie stößt sich, indem sie nach den seinsphänomenologischen Fundamenten des Gegenstandsbewusstseins und der Wahrheit fragt, geradezu von der bewusstseinsphänomenologischen Analyse ab und löst sich von den einschränkenden Grenzen einer Aufklärung der sich selbst bewussten Gegenstandserkenntnis. Die ontologisch existenziale Analyse der Wahrheit fragt im Sinne einer universellen Ontologie, die das Sein des Seienden in seiner Totalität thematisiert, nach dem Sein der Wahrheit. Aber nicht nach dem wahren Sein als dem gegenständlichen Korrelat der objektiv bewussten Identifizierungsakte, sondern nach den ontologischen Fundamenten dieses Wahrseins der bewussten Gegenstände. Der Husserlsche Wahrheitsbegriff, der in die Reihe der von Heidegger so genannten „traditionellen“13 Wahrheitsbegriffe gehört, ist von der ontologischen Sehweise her durch das Übersehen dieser seinsmäßigen Grundstruktur gekennzeichnet. Das Sein des Wahrseins im Husserlschen Sinne ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Sein des Wahrseins, das Heidegger in Sein und Zeit thematisiert. Die Frage nach dem Sein in seiner ontologischen Differenz zum Seienden ist in erster Linie gerade nicht die Frage nach dem vorhandenen, seienden Gegenstand im Wie seiner Gegebenheitsweise.

§ 17 Das doppelte Übersehen des Seins Der phänomenologische Aufweis der subjektiven Erkenntnis von Gegenständen erfasst diese immer nur als Seiende in ihrer Seiendheit. Die ontologische Differenz von Sein und Seiendem, in welcher erst der fundamentale, ursprüngliche Unterschied erhellt, geht ihr notwendig verloren. Dies aber kann nicht bedeuten, dass die seinsmäßigen Fundamente des Gegenstandsbewusstseins als ‚verlorene‘ jederzeit bei Husserl wieder auffindbar wären. Sie sind vielmehr in zweifacher Hinsicht notwendig übersehen. Erstens hinsichtlich der Entdecktheit des Seienden. Die Weise, wie das Dasein sich zu Seiendem verhält, genauer, wie es sich im bewährenden Erkennen zum Seienden verhält, nennt Heidegger das Entdecken des Seienden in seinem Sein.14 Das Seiende als der Gegenstand des daseinsmäßigen Ent13

GA Bd. 2, S. 284 (214). A. a. O., S. 289 (218). Nicht alles Entdecken ist ausdrücklich und stets bewährendes Entdecken von Wahrheit oder Falschheit. Nicht immer geht es dem Dasein um bewährendes, ausweisendes Entdecken. Das schlichte, aus der Erschlossenheit 14

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

deckend-seins ist das Entdecktsein, die Entdecktheit.15 Die entdeckende Ausweisung von Seiendem ist nur dadurch möglich, dass sich das zu entdeckende Seiende bereits zeigt. So bedeutet Entdecken nicht etwa die Adäquation von vorgemeintem und selbst gegebenem Gegenstand des Bewusstseins, sondern die Ausweisung der Entdecktheit des sich zeigenden Seienden im Entdeckend-sein des Daseins. In der Bewährung zeigt sich das Seiende gerade so, wie es an ihm selbst ist.16 Die Aussage ‚das Bild an der Wand hängt schief‘, die wir als eine gegenwartserinnernde kennzeichnen, weist sich dadurch aus, dass wir uns sozusagen ‚vor das Bild stellen‘, das heißt, seiner ansichtig werden. Die leibhafte Wahrnehmung des Bildes an der Wand weist die Wahrheit der zuvor nur behaupteten Feststellung aus. Das Bild zeigt sich für das Entdeckend-sein des Daseins als ein entdecktes Seiendes in seiner Selbigkeit. Aber verwischen wir mit der Hinzuziehung der Husserlschen Begriffe ‚Gegenwartserinnerung‘, ‚leibhafte Wahrnehmung‘ nicht geradezu den aufzuweisenden Sachverhalt der Entdecktheit des Entdeckend-seins wieder? Dass sich die bloß vermeinte Aussage im Vorstellungsvollzug der gegenwärtigenden Wahrnehmung erfüllt, war bereits die Einsicht Husserls. Es gilt also das zu sehende Phänomen des Entdeckend-seins der Entdecktheit genauer zu fassen. Das Dasein als Entdeckend-sein ist ein Sein zum realen Seienden selbst. Das heißt, dass das Entdecken primär kein Wahrnehmungsvollzug ist, der sich in den Weisen der intentionalen Vorstellungsakte abspielt. Das Entdecken ist nicht zu verwechseln mit dem intentionalen Bewusstseinsakt der gegenwärtigenden Wahrnehmung, sondern muss als eine Seinsweise des Daseins verstanden werden. Erst ein ontologisch angemessenes Verständnis des Daseins als Entdeckend-seins gewährt den Absprung in diejenige Verständigungsebene, von der aus das evidente Wahrnehmen des Bewusstseins verstanden werden muss. Die Entdecktheit des Seienden ist nicht ein in sich abgeschlossener Bereich des Seienden, der vom Dasein ‚irgendwann einmal‘ entdeckt worden ist und deshalb als Entdecktsein gelten kann. Vielmehr gründet die Entdecktheit des Seienden ihrerseits im wesenhaften Grundcharakter des Daseins, der Erschlossenheit.17 Entdecktheit und abgeleitete Entdecken kann im besorgenden Umgang ‚einfach‘ beim Seienden sein, also etwa beim zuhandenen Notebook, ohne dass die thematische, nach Verifizierung oder Falsifizierung strebende Frage im Raum steht, ob dieses Notebook etwa schwarz ist oder dunkelblau. Damit ist nicht gesagt, das Entdecken hänge quasi in der Luft. Vielmehr ist es fundiert in der Erschlossenheit. Diese Differenzierung verdanke ich Dr. Jochen Schlüter anlässlich eines Gesprächs von 1975 in Freiburg über die bereits abgegebene Arbeit. Ich füge sie heute (2009) ein. 15 A. a. O., S. 292 (220). 16 A. a. O., S. 288 f. (218). 17 A. a. O., S. 292 (220).

§ 18 Das selbsthafte Wahrnehmungsbewusstsein

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Erschlossenheit sind nicht zwei verschiedene Termini für ein und denselben Sachverhalt. Vielmehr ist die Entdecktheit des innerweltlichen Seienden, das den Charakter des nicht daseinsmäßigen Seienden hat, erst möglich auf Grund der Erschlossenheit als der fundamentalen Seinsverfassung des Daseins. Zweitens sind die Fundamente des Gegenstandsbewusstseins hinsichtlich der Erschlossenheit übersehen, in der das Sein des Daseins für es selbst aufgeschlossen ist und darüber hinaus das Sein des Seienden im Ganzen. Dasjenige, worin Bewusstsein und Gegenstand „spielen“, nämlich die Lichtung oder (in der Begrifflichkeit von Sein und Zeit) die Erschlossenheit, in der Anwesendes begegnet, wird „unterschlagen“.18 Das Übersehen der Erschlossenheit des Daseins weist nicht auf eine Unvollständigkeit des bewusstseinsphänomenologischen Ansatzes hin, die ein rechtes Verständnis der Husserlschen Wahrheitsanalyse erschwerte. Mit anderen Worten: Dieses Übersehen kennzeichnet nicht eine phänomenologische ‚Lücke‘ in der Deskription der Wahrheit. Das Übersehen der Erschlossenheit des Daseins ist grundsätzlich anderer Natur und zu suchen in Husserls phänomenologischem Ansatz beim Selbstbewusstsein als Wahrnehmungsbewusstsein. Die ontologischen Fundamente des Wahrseins als evidenter Erfüllungssynthesis von gemeintem und selbst gegebenem Gegenstand können gar nicht innerhalb der Husserlschen Analysen thematisch werden, da sie deren Grenzen überschreiten. Das seinsmäßige Phänomen des Wahrseins, das das Wahrsein des Wahrnehmungsbewusstseins fundamental begründet, kann nur Thema im Sinne einer fundamentalontologischen Untersuchung sein. Damit ist nicht gesagt, dass die phänomenologische Analyse der Wahrheit, ausgehend vom selbstbewussten Wahrnehmungsbewusstsein, nicht in gewisser Weise einen Ort innerhalb der Fundamentalontologie haben kann. Dieser systematische Ort muss dort gesucht werden, wo Heidegger das selbsthafte Subjekt in seiner Auszeichnung als Bewusstsein ontologisch, wenn auch unthematisch, sieht.

§ 18 Das selbsthafte Wahrnehmungsbewusstsein und das Man-selbst in der Verfassung des In-der-Welt-seins Grundsätzlich behält das Subjekt ontologisch gesehen den Charakter des primär selbstbewussten Gegenstandsbewusstseins nicht. Das Sein des Subjekts wird vielmehr primär vom Dasein her verstanden. Nur von der ontologischen Analyse des Daseins kann das Apriori der „ ‚wirklichen‘ Subjektivität“19 erwartet werden. Die Seinsverfassung des Daseins sieht Heidegger im 18

Martin Heidegger/Eugen Fink: Heraklit, S. 204 (202 f.).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

In-der-Welt-sein.20 Die ontologische Frage nach dem Sein am Leitfaden der Analyse des Daseins muss so bei der Auslegung des In-der-Welt-seins ansetzen. Eine wenn auch grobe Erörterung der phänomenalen Verfassung des Inder-Welt-seins kann nicht in unserer Absicht liegen. Sie würde den kleinen Rahmen der Arbeit bei weitem überschreiten. Uns kommt es hier nur darauf an, Heideggers ontologische Anverwandlung der Subjektivität, wenn auch in groben Zügen, zu zeigen. Hier nur so viel: In einem dreifachen Hinblick, der den drei Strukturmomenten des zu sehenden Phänomens entspricht, vollzieht sich im 1. Abschnitt von Sein und Zeit die ontologische Analyse des In-der-Welt-seins. 1. das In-der-Welt-sein hinsichtlich seiner Weltlichkeit (im 3. Kapitel des 1. Abschnitts) 2. das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein (im 4. Kapitel) 3. das In-der-Welt-sein im Hinblick auf sein In-Sein (im 5. Kapitel) (Das 6. Kapitel enthält die ontologische Analyse der Sorge als der Strukturganzheit des Daseins.) Im phänomenalen Befund des In-der-Welt-seins liegt das Verfassungsmoment der Welt. Welt im Sinne der Weltlichkeit der Welt meint nicht den Inbegriff des innerweltlich Vorhandenen, wird primär gar nicht ontologisch kategorial gefasst, sondern ontologisch existenzial. Solcherweise hat Welt den Charakter der seinsmäßigen Erschlossenheit. In der vorgängigen Entdecktheit einer Verweisungsganzheit, die in der Erschlossenheit des Daseins gründet, lässt Welt Zuhandenes vom Seinscharakter der Zuhandenheit begegnen.21 Das innerweltliche Zuhandene ist für den primären Zugang des Daseins zu Seiendem im umsichtigen Besorgen freigegeben. Das innerweltliche Seiende vom Seinscharakter der Zuhandenheit begegnet aus einer vorerschlossenen Verweisungsganzheit, die den Charakter der Weltlichkeit ausmacht.22 Welt, so dürfen wir sagen, ist die vorgängige Erschlossenheit des Bezugsganzen von Verweisungsstrukturen und in dieser Bestimmung ein ontologisches Verfassungsmoment des In-der-Welt-seins. Die vorgängige Erschlossenheit der weltlichen Verweisungsganzheit wird aber nicht etwa primär durch die Bewusstseinsakte eines Wahrnehmungsbewusstseins intentional erlebt. Die Erschlossenheit der Welt hat keinen subjektiven Charakter, ist nicht die Aufgeschlossenheit einer Verweisungsganzheit für den sub19 20 21 22

A. a. O., S. 303 (229). A. a. O., § 12, S. 71 (53). Vgl. a. a. O., § 18, S. 111 ff. (83 ff.). A. a. O., S. 116 f. (87).

§ 18 Das selbsthafte Wahrnehmungsbewusstsein

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jektiven Wahrnehmungsbezug. Die Bewandtnisstrukturen von Zuhandenem sind ontologisch verstanden nicht Gegenstände der subjektiven Intentionalität. Unser primärer Zugang zu innerweltlich Seiendem hat nicht den Charakter des betrachtenden Wahrnehmens. Die welthafte Verweisungsganzheit ist vielmehr im Dasein und für es als In-der-Welt-sein erschlossen und hält sich in der Erschlossenheit des Seins des Seienden überhaupt. Ebenso ist das In-Sein, ein weiteres Verfassungsmoment des In-der-Weltseins keine Eigenschaft eines vorhandenen Subjekts. Vielmehr ist das Subjekt, ontologisch gefasst, umgekehrt von der wesenhaften Seinsart des InSeins.23 Mit dem Ausdruck In-Sein ist kein räumliches Darinnen-sein gemeint, sondern das Je-schon-vertraut-sein des Daseins mit Welt, ein Je-schon-sein in der Welt. Die kritische Aufnahme und ontologische Neufassung des Subjektbegriffs wird noch sichtbarer in der Analyse des Selbstseins als Seinsverfassung des In-der-Welt-seins. Die Selbstheit des Daseins gilt nicht als Bestimmung eines vorhandenen Seienden24 mit dem Charakter des Wahrnehmungsbewusstseins. Die Selbstheit, bzw. der Subjektcharakter des Daseins, bestimmt sich existenzial „aus gewissen Weisen zu sein“,25 ist eine unter mehreren Weisen zu existieren. Zumeist und zunächst existiert das Dasein in der Weise des Man-selbst. Das Man gehört als ein die Existenz konstituierendes Existenzial zur Seinsverfassung des Daseins.26 Das Dasein ist ein Seiendes, „das je ich selbst bin“.27 Das Selbst ist die Antwort auf die ontologische Frage nach dem ‚Wer‘ des Daseins.28 Das Wer des Daseins ist das Man.29 Im Seinsmodus des Man-selbst entwirft das Dasein seine Seinsmöglichkeiten nicht seinem eigensten Seinkönnen gemäß, sondern bleibt dabei an der öffentlichen Ausgelegtheit des neutralen Man orientiert. Im besorgenden Ergreifen von Möglichkeiten zu sein, geht es ihm um die selbsthafte Unterscheidung vom Anderen, um die existenziale Abständigkeit vom Anderen.30 Die Abständigkeit, um die das Dasein sich ständig sorgt, ist eine Seinsweise des Man und gründet in der Durchschnittlichkeit.31 Das Durchschnittliche verdeckt „alles Ursprüngliche“32, das heißt, auch die eigensten Möglichkeiten des Daseins, die in seiner Existenzverfassung liegen. Sie werden nicht ergriffen, sondern im Zuge einer wesenhaften 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

A. a. O., S. 175 A. a. O., S. 355 A. a. O., S. 168 A. a. O., S. 172 A. a. O., S. 153 A. a. O., S. 355 A. a. O., S. 169 Ebd. Vgl. a. a. O., S. Ebd.

f. (132). (267). (126). (129). (114). (267). (126). 169 (127).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

Tendenz des Daseins, das sich am Man orientiert, eingeebnet.33 Das Man ist aber nicht das Zusammenvorhandensein „mehrerer Subjekte“34, aber auch nicht das „ ‚allgemeine Subjekt‘ “, das, wenn es nicht real vorhanden ist, „über mehreren schwebt“.35 Dennoch ist das Man in einem gewissen, allerdings ontologisch verstandenen Sinn, von der Art des Subjekts. Subjektiven Charakter hat das Man, wenn es in einer angemessenen, phänomenologisch ontologischen Weise gesehen wird. So ist das subjektive Man von der Seinsverfassung des Daseins her verstanden. Es ist das Man-selbst und ist ein Verfassungsmoment des Daseins als In-der-Welt-seins. Der selbsthafte Charakter des Man-selbst, das das Dasein je schon ist, bestimmt sich also nicht etwa aus einer Analyse des Menschen qua Bewusstsein, sondern aus der phänomenologischen Hebung der drei wesenhaften Momente des In-der-Welt-seins: Weltlichkeit, Selbst und In-Sein. Vom Man-selbst des alltäglichen Daseins unterscheidet Heidegger das eigentliche Selbstsein. Das Selbst im Modus der Eigentlichkeit „ist eine existenzielle Modifikation des Man.“36 Die eigentliche Selbstheit meint nicht die selbsthafte Identität eines Ich, das mit sich selbst in der Mannigfaltigkeit der intentionalen Bewusstseinserlebnisse selbig ist.37 Das Selbst des eigentlichen Selbstseins ist von ganz anderer Natur als das Selbst des intentionalen Bewusstseins. Es ist das eigentliche Selbstsein des Daseins. Dasein ist erst dann eigentlich es selbst, „wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht“.38 Das heißt nicht, Dasein sei möglicherweise auch in der Unmöglichkeit seines eigentlichen Selbstseins, es fehle ihm zuweilen etwa die Möglichkeit des eigentlichen Selbstseins und müsse sich selbst erst in sein eigentliches Seinkönnen bringen. Die Ermöglichung des eigentlichen Selbstseins (im Sinne eines ‚Vermögens‘ verstanden) meint die dem Dasein wesenseigene Grundmöglichkeit des Existierens. Das Dasein existiert im Modus seines eigentlichen Selbstseins, wenn es sich als besorgendes Sein bei innerweltlichem Zuhandenen und als das fürsorgende Sein mit dem Mitmenschen primär auf sein eigenes Seinkönnen entwirft.39 In der Seinsmöglichkeit des eigentlichen Selbstseins verwirft das Dasein die Möglichkeit des Man-selbst. Es modifiziert die Möglichkeit des Man-selbst auf das eigentliche Selbstsein hin. Diese Modifikation ist ein Erschließen des eigent33 34 35 36 37 38 39

Ebd. A. a. O., S. 171 (128). Ebd. A. a. O., S. 173 (130). Ebd. A. a. O., S. 350 (263). Ebd.

§ 18 Das selbsthafte Wahrnehmungsbewusstsein

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lichen Selbstseins. In ihr räumt es die Verdeckungen und Verdunklungen, die sich vor sein eigentliches Selbstsein geschoben haben, beiseite.40 Es soll nun nicht gesagt werden, dass die Subjektivität im Sinne Husserls sich im Heideggerschen Man-selbst und seiner Modifikation im eigentlichen Selbstsein gleichsam wieder auffinden ließe. Allerdings handelt es sich um eine formale Entsprechung. Das, was Husserl in bewusstseinsphänomenologischer Sehweise unter intentionalem Bewusstsein in der Eigenart des Ich versteht, ist rein äußerlich nichts anderes als das, was Heidegger in seine seinsphänomenologische Sehweise aufgenommen hat, um es nun jedoch einer totalen, ontologisch bestimmten Verwandlung zu unterziehen. Husserls subjektives Bewusstsein wird (wenn auch unthematisch) der radikalisierten, fundamentalontologischen Fragestellung unterworfen und auf seine ontologischen Fundamente hin befragt. Das heißt, das Subjekt wird nicht mehr als ein vorkommendes Seiendes genommen, sondern als ein Seiendes, das in seiner Seinsart zu fassen ist. Das Subjekt, dessen Seinsart freigelegt ist, erscheint so als ein von Grund auf gewandeltes. In dieser neuen, ursprünglicheren Fassung ist es aus der ontologisch-existenzialen Bestimmung des Daseins zu verstehen. Genauer: Das Sein des seienden Subjekts, seine ihm wesenhafte Seinsart,41 ist das In-Sein, seine Seinsverfassung wird durch die Welt mitbestimmt.42 Welt, bzw. die Weltlichkeit der Welt, In-Sein und Selbst sind die ontologischen Verfassungsmomente des In-der-Welt-seins. Das In-der-Welt-sein ist wiederum die Grundverfassung des Daseins. Nur vom Dasein her als In-der-Welt-sein und seinen Momenten der Welt, des Selbst und des In-Seins, kann das Subjekt, kann die ‚wirkliche‘, ontologisch fassbare Subjektivität verstanden werden. Diese Einordnung ist also nicht im Sinne eines bloßen Hineinstellens der Subjektivität in das Strukturgerüst des In-der-Welt-seins zu verstehen. Die ontologische Verwandlung, Radikalisierung der Subjektivität muss immer mitgedacht werden, wenn wir vom Versuch reden, das subjektive Bewusstsein ‚in‘ der Grundstruktur des Inder-Welt-seins ‚aufzusuchen‘. So wird auch deutlich, dass die bewusstseinsphänomenologischen Bestimmungen des Wahrseins gar nicht im inhaltlichen Zusammenhang mit Sein und Zeit gelesen werden dürfen. Das Wahrsein, das Husserl als die bewusstseinsmäßig erlebte Deckungseinheit einer vermeinten und selbst gegebenen Sache definiert hatte,43 ist keineswegs ein Erlebnis des Man-selbst oder des eigentlichen Selbstseins. Der Versuch, solche inhaltlichen Parallelen zu ziehen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, da er an einem 40 41 42 43

A. a. O., S. 172 f. (129). A. a. O., S. 175 (132). A. a. O., S. 425 (321). VI. Logische Untersuchung, § 38, S. 651 (122).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

phänomenal angemessenen Verständnis sowohl des Husserlschen als auch des Heideggerschen Wahrheitsaufweises vorbeigeht. Dennoch können, wie sich zeigte,44 beide Aufweise des Wahrseins in ihrer grundsätzlichen Unterschiedenheit in gewisser Weise, nämlich im Sinne eines Fundierungsverhältnisses, zusammengebracht werden. Die ontologischen Voraussetzungen des Wahrseins als dem identifizierenden, Wahrheit erlebenden Bewusstseinsakt sind die folgenden. • Die intentionalen Identifizierungsakte des Bewusstseins sind erst möglich auf dem Grund der Erschlossenheit des Daseins und erst von diesem Grunde her ontologisch verstehbar. Erst die Vorentdecktheit des Seienden, die ihrerseits im erschlossenen Sein des Daseins gründet, lässt Seiendes, das Husserl (ohne diese Vorentdecktheit eigens zu sehen) Gegenständlichkeit nennt, begegnen. Dieses aus einer entdeckten Verweisungsganzheit begegnende Seiende kann dann zum Gegenstand evidenter Bewusstseinsakte werden. Womit nicht gesagt ist, dass ontologisch gesehen Seiendes primär als Gegenstand begegnet. Vielmehr begegnet es dem entdeckenden Dasein primär als Zuhandenes von der Seinsart der Zuhandenheit. Das Entdecken der Gegenstände oder, um es mit Husserl zu sagen, das bewusste, intentionale Vermeinen von Gegenständen, ist eine vom primären Begegnenlassen des Seienden abkünftige Zugangsweise zu Seiendem und hat seinen wesenhaften Ursprung in der Entdecktheit des Seienden, die letztlich in der Erschlossenheit des Daseins gründet. • Das Sein im objektiv ersten Sinne von Wahrheit ist nicht mit dem Sein des Entdeckend-seins selbig. Das Sein der Wahrheit ist das erkenntniskritisch gefasste Fundament der Gegenstandserkenntnis und nicht zu verwechseln mit den Sein des Wahrseins in der ontologisch existenzialen Fassung. Das „Wahrhaft-sein“45 der Wahrheit, also die gegenständliche Seite der Wahrheit, die wir früher46 mit Husserl vom Sein der Wahrheit im umfassenderen ersten Sinn unterschieden haben, ebenso wie das Sein der Wahrheit in diesem ersten Sinne, können ontologisch verstanden nicht als letzte Fundamente, als ursprünglichste Gründungen angesehen werden. Sie sind vielmehr Bestimmungen des Seiendseins des Seienden und bedürfen ihrerseits noch der ermöglichenden Begründung im Sein des Seienden. Die ontologischen Fundamente des Seins im Sinne der bewusstseinsmäßigen Wahrheit sind übersprungen, weil nicht gesehen worden. • Das selbsthafte Wahrnehmungsbewusstsein, das die Gegenständlichkeit im letzten Erfüllungsideal der Adäquation selbst gibt, bedarf in seiner phä44 45 46

s. § 16 dieser Arbeit. VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 655 (125). s. § 13 I. und II. dieser Arbeit.

§ 19 Das Wahrsein in der Erschlossenheit des Daseins

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nomenologisch deskriptiven Bestimmung noch der Begründung durch die seinsmäßige Erschlossenheit des Daseins als In-der-Welt-seins. Der selbsthafte, subjektive Charakter dieses Bewusstseins hat eine formal äußere Entsprechung im ontologisch verstandenen Selbstsein des Daseins als einem unter mehreren Existenzialien des Daseins, das dieses in einem zumal mit den Verfassungsmomenten des In-Seins und der Welt konstituiert. Das ontologisch gesehene Selbstsein des Daseins kann als die Verwandlung der Subjektivität des Bewusstseins gesehen werden. Wenn nun aber mit Wahrsein ontologisch nicht die ideale Übereinstimmung von Vermeintem und Selbstgegebenem in der Deckungssynthesis der Evidenz gemeint ist, sondern vielmehr das Sein dieser Übereinstimmung, die Entdecktheit des Entdeckend-seins, die in der Erschlossenheit des Daseins geschieht, dann ist auch das intentionale Wahrnehmungsbewusstsein in seiner Ausgerichtetheit auf Seiendes vom Charakter des Gegenständlichen ohne die Wahrheit, sozusagen ‚wahrheitslos‘, da es den Seinscharakter des Wahrseins, in dem es sich freilich vorontologisch immer schon hält, nicht eigens ans Licht bringt. Dass Heidegger im Zuge der fundamentalontologischen Auslegung des Daseins das Wahrsein im Sinne des bewusstseinsmäßigen Wahrseins nicht ausdrücklich thematisiert hat, bedeutet nach dem von uns Erörterten weder, dass er es übersehen hat, noch, dass das Wahrsein als ideale Erfüllungssynthesis unhaltbar ist. Davon legen die Marburger Vorlesungen ein beredtes Zeugnis ab. Aber auch der auslegende Durchgang durch Sein und Zeit ergibt, dass das subjektive, intentional erlebte Wahrsein im 4. Kapitel „Das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein. Das Man“ und im 6. Kapitel des 1. Abschnittes „Die Sorge als Sein des Daseins“ (insbesondere § 44 a und c) ständig, wenn nicht ausdrücklich, so doch unausdrücklich mitthematisiert ist. ‚Haltbar‘ ist das subjektive Wahrsein insofern, als es durch die Auslegung des Daseins als Entdeckend-seins einen es begründenden Boden gewinnt. Auf diesem gesicherten Boden kann es sich in ontologischer Berechtigung halten.

§ 19 Das Wahrsein in der Erschlossenheit des Daseins und das Entdeckend-sein des Sein-bei im Strukturganzen der Sorge Das Dasein als Entdeckend-sein einer Entdecktheit, das wurde bereits mehrfach deutlich, ist im Grundcharakter des Daseins, der Erschlossenheit fundiert. Die Entdecktheit, dies meint denselben Sachverhalt, ist ein in der Erschlossenheit fundiertes, existenziales Phänomen.47 Erst wenn es gelingt, den komplexen phänomenologischen Sachverhalt, den Heidegger im Termi47

A. a. O., S. 297 (225).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

nus Erschlossenheit denkt, noch genauer zu fassen – dabei folgen wir seiner ursprünglichsten Bestimmung der Wahrheit48 – fällt auf das Phänomen des Wahrseins als Erschlossenheit des Daseins und zugleich als Entdeckendsein der Entdecktheit ein helleres Licht. Der Aufweis des Wahrseins als entdeckendes Sichverhalten des Daseins zu einer Entdecktheit entsprang einer Analyse derjenigen ontologischen „Verhaltungen des Daseins“,49 die uns im alltäglichen Lebensverständnis zunächst als wahre gelten, nämlich den Verhaltungen, in denen wir wahr urteilen. Die nun folgende knappe Kennzeichnung der Erschlossenheit kann und soll über die Komplexität des zu sehenden Sachverhalts nicht hinwegtäuschen. Hier soll nur eine umrisshafte Andeutung des umfassenden Rahmens versucht werden, in dem sich das Wahrsein als erschlossenes hält. Das Wahrsein als Entdeckend-sein einer Entdecktheit ist eine unter mehreren Weisen, wie sich das Dasein zu Seiendem in seinem Sein verhält.50 Andere Seinsweisen des Daseins sind das Geworfen-sein und das Sich-entwerfen. Daraus erhellt, dass das aussagende Entdeckend-sein nicht das ursprünglichste, das primäre Wahrsein des Daseins ist. Das Dasein in der Seinsweise des Entdeckend-seins wird ontologisch von einem noch ursprünglicheren Wahrsein begründet. Primär wahr kann das genannt werden, was sich in den Weisen des Geworfenseins, des Entwerfens, des Entdeckens zum Seienden in seinem Sein verhält, nämlich das Dasein. Primär wahr ist nicht das aussagende Entdeckend-sein, sondern das Dasein in seiner Möglichkeit, entdeckend zu sein. Das Entdeckend-sein ist in der Erschlossenheit des Daseins begründet. Die Entdecktheit gründet in der Erschlossenheit der Welt. Die Erschlossenheit der Welt ist im und für das Dasein erschlossen. Entdecktheit und Entdeckend-sein gründen demnach in der Erschlossenheit des Daseins. Diese, der gemäß Dasein in der Welt ist, konstituiert sich in den drei Momenten der Befindlichkeit, des Verstehens und der Rede.51 Die Befindlichkeit ist ein fundamentales Existenzial des Daseins und kennzeichnet das Dasein in seiner Geworfenheit.52 Die Geworfenheit ist der Grundcharakter des Daseins, in dem es sich in der Welt befindet. Eine andere Weise des Daseins, in der Welt zu sein, sich zur Welt verstehend zu verhalten, ist das Verstehen. Dasein verhält sich zur Welt verstehend. Das Verstehen betrifft es als Seinkönnen im Sinne des vermögenden Sichentwerfens auf Welt. Die Welt wird in den Verhaltungen des Daseins 48 49 50 51 52

A. a. O., S. 291–294 (220–222). A. a. O., S. 291 (220). Ebd. Ebd. Vgl. a. a. O., S. 178 f. (134).

§ 19 Das Wahrsein in der Erschlossenheit des Daseins

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als gegliedertes verstanden. Verstehend geworfenes Sichentwerfen auf Welt ist ein Gliedern der Welt. Die Rede ist gleichursprünglich mit Befindlichkeit und Verstehen ein Existenzial der Erschlossenheit.53 Aus dieser dreifachen Struktur der Erschlossenheit wird zugleich die ganzheitliche Struktur des Daseins als Sorge sichtbar. Die Strukturmomente der Sorge, das Sichvorweg schon Sein im Sein-in als Sein-bei, sind im Dasein erschlossen. Die Sorge „birgt in sich“54 die Erschlossenheit des Daseins. Mit der Erschlossenheit ist Seiendes entdeckt. Das Erschließen des Daseins und das Entdecken von innerweltlichem Seienden stehen im Verhältnis der Zusammengehörigkeit. Mit der Erschlossenheit gibt es Entdecktheit in einem zumal, wobei jedoch die Entdecktheit (das Wahrsein im zweiten Sinne) in der Erschlossenheit gründet. Die Erschlossenheit des Daseins begründet die Seinsmöglichkeit des entdeckenden Zugangs zu innerweltlichem Seienden. Das Entdeckend-sein des Daseins gründet im Strukturganzen der Sorge und betrifft deren drittes Moment, das Sein-bei. Das entdeckende Sein bei innerweltlichem Seienden ist die Weise des Daseins, in der es Seiendes vom Charakter des Zuhandenen aus einer vorgängig entdeckten Verweisungsganzheit in seinen Bewandtnissen herauslegt. Das Dasein ist beim Seienden, das heißt, es entdeckt Seiendes so, wie es sich an ihm selbst zeigt. Das Entdeckend-sein als Verhaltung zum Seienden in seinem Sein, als Sein des Daseins beim Seienden in seinem Sein kann nicht primär wahr genannt werden. Es hat seinen ontologischen Ort in der ganzheitlichen Struktur der Sorge. Dort betrifft es eine unter mehreren Seinsverhaltungen, nämlich das Sein-bei innerweltlichem Seienden. Das, worin das entdeckende Sein-bei als eine ermöglichte Verhaltung gründet, also dasjenige, was das Entdeckendsein einer Entdecktheit ermöglicht, muss als das primäre Wahrsein angesprochen werden. Erst mit der Erschlossenheit des Daseins, die dem entdeckenden Sein-bei und der im Entdecken besorgten Entdecktheit zuvorläuft, ist „das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit erreicht“.55 Sofern das Dasein den seinsmäßigen Charakter der Erschlossenheit hat, ist es primär wahr. Als erschlossenes ist Dasein „ ‚in der Wahrheit‘ “.56 Diese Aussage hat nicht ontischen Sinn, so als besitze das Dasein die Wahrheit im Sinne eines in sich geschlossenen, wissenschaftlichen Systems etwa, das ihm seiende Wahrheiten als ontische Sachverhalte vermittelt hätte. Die Aussage „Dasein ist in der Wahrheit“ hat vielmehr ontologischen Sinn. Das Dasein existiert in der Erschlossenheit der Wahrheit. Da die Erschlossenheit seine Existenzverfassung wesenhaft ausmacht und Erschlos53 54 55 56

Ebd. und S. 213 f. (161). A. a. O., S. 292 (220). A. a. O., S. 292 (220 f.). Ebd. (220).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

senheit das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit ist, existiert Dasein in der Wahrheit. ‚In‘ der Wahrheit bedeutet kein „Darinnen-sein“ in dem Sinne, dass das Dasein in die Wahrheit „eingeführt“57 sei und sich nun darin befinde. Die Bestimmung, das Dasein ist ‚in‘ der Wahrheit, ist vielmehr mit dem ‚In‘-der-Welt-sein ontologisch zusammen zu denken. Dieses ‚In‘ in den Ausdrücken ‚In-der-Welt-sein‘ und ‚In der Wahrheit sein‘ bedeutet das Existieren des Daseins in der Welt, bzw. in der Wahrheit. Der volle existenziale Gehalt des Satzes „Dasein ist in der Wahrheit“ ist jedoch in diesen Bestimmungen nicht ausgeschöpft. Was in dieser Aussage liegt, das heißt, welchen komplexen Sachverhalt Heidegger in ihr phänomenologisch sieht, muss erst noch entfaltet werden. Die Deutung des Satzes, die Heidegger selbst gibt,58 ist die viermalige Bestimmung dessen, was zur Seinsverfassung des Daseins, das in der Wahrheit ist, gehört.59 Das erste Wesensmoment ist die Erschlossenheit überhaupt. An erster Stelle wird es genannt, weil es die grundlegende Verfassung des Daseins ist und alle anderen Momente, die Geworfenheit, den Entwurf und das Verfallen, begründet. Die Erschlossenheit ist keine Bestimmung des Daseins, die etwa anzeigt, dass im Menschen und nirgendwo sonst Seiendes erschlossen ist. Sie meint auch nicht nur die Erschlossenheit eines jeweils um uns seienden Verweisungszusammenhangs, mit dem wir, unsere Aufgaben besorgend, zu tun haben. Sie meint aber auch nicht die Erschlossenheit des Ganzen des Seienden als ein Seiendes. Die Erschlossenheit überhaupt ist im Sinne der universellen Ontologie umfassender gedacht und „umgreift das Ganze der Seinsstruktur“60, das Heidegger Sorge nennt.61 Die Sorge mit ihren Strukturmomenten des Sichvorweg und des schon Sein-in kennzeichnet das Dasein als In-der-Welt-sein. Ihr drittes Moment, das Sein-bei, trifft das Dasein als das Sein bei innerweltlichem Seienden in der Seinsweise des Entdeckend-seins einer Entdecktheit. Das Sein-bei ist bei einer vorentdeckten Verweisungsganzheit, bzw. ein Sein bei jeweils heraus gelegten Bewandtnissen, die den Charakter von innerweltlich Seiendem haben. Das zweite Verfassungsmoment der daseinsmäßigen Erschlossenheit als ein sie konstituierendes Moment ist die Geworfenheit. Als geworfenes ist das Dasein je schon in eine bestimmte, das heißt faktisch bestimmte Bewandtnisganzheit geworfen, deren existenzialer Charakter die Weltlichkeit 57

Ebd. A. a. O., S. 292 ff. (221 ff.). 59 Die auffällige Parallele zur viermaligen Ausfaltung des Phänomens der Wahrheit bei Husserl, VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 651 ff. (122 ff.), ist nur ein äußeres Merkmal. 60 GA Bd. 2, § 44 b, S. 293 (221). 61 A. a. O., siehe Sechstes Kapitel des 1. Abschnitts. 58

§ 19 Das Wahrsein in der Erschlossenheit des Daseins

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der Welt ist. Es ist in seiner Geworfenheit im besorgenden Umgang bei faktisch bestimmtem, innerumweltlich entdecktem Seienden. Die Geworfenheit als die faktische Bestimmtheit von Welt und innerweltlichem Seienden fällt dem Dasein nicht gleichsam von außen zu, sondern bestimmt es wesenhaft, das heißt, seinem ursprünglichen existenzial-ontologischen Wesen nach als erschlossenes. Wenn Heidegger vom Verfassungsmoment des Daseins spricht, das ihm „gehört“62, meint er diese wesenhafte, existenziale Zugehörigkeit. In dieser Weise verstanden, gehört zur Erschlossenheit des Daseins auch der Entwurf. Das Dasein als ein in die Welt geworfenes ist sich als ein Seinkönnen erschlossen. Es vermag als freies die Welt und zugleich mit ihr das innerweltliche Seiende entwerfend zu erschließen. Dieses Sichentwerfen auf Seinsmöglichkeiten hält sich in den beiden Modi des eigentlichen und des uneigentlichen Seinkönnens. In Modus der Uneigentlichkeit versteht sich das Dasein nicht von seinem eigensten Seinkönnen her, das heißt, es orientiert sich an der allgemeinen Ausgelegtheit des Man. Nicht es selbst verfügt über seine Existenzmöglichkeiten gemäß seinem eigenen Seinkönnen, sondern es steht in der Verfügbarkeit des Man.63 Im Modus der Eigentlichkeit entwirft sich das Dasein auf die Existenzmöglichkeiten, die ihm gemäß seinem eigenen Seinkönnen vorgezeichnet sind. Im eigenen Seinkönnen hält sich das Dasein in der eigentlichen Erschlossenheit. Kann die Erschlossenheit, in der es sich am Man orientiert, als uneigentliche gelten, und zeigt sich das Phänomen der Wahrheit in dieser uneigentlichen Erschlossenheit nicht im ursprünglichsten Sinne, so gilt die Erschlossenheit des eigensten Seinkönnens als eigentliche und „zeigt das Phänomen der ursprünglichsten Wahrheit“.64 Diese eigentliche Erschlossenheit, in der das Dasein sich gemäß seinem eigensten Seinkönnen einen Welthorizont entwirft, „ist die Wahrheit der Existenz“.65 Das vierte Verfassungsmoment des Daseins als erschlossenes, das Verfallen, wurde bereits im Seinsverständnis der Uneigentlichkeit sichtbar. Im vierten Abschnitt wird es nun eigens in seiner Zugehörigkeit zur Seinsverfassung des Daseins thematisiert. Im Blickfeld der Analyse steht aber nicht nur eine nochmalige Erfassung des Daseins als wesenhaft verfallenes. Die Analyse des Man war bereits Thema des § 24 in Sein und Zeit. Hier wird das Dasein als verfallenes ausdrücklich in Hinsicht auf sein Wahrsein in den Blick genommen. Dabei zeigt sich, dass dem verfallenen Dasein das von ihm Entdeckte und Erschlossene gerade nicht an ihm selbst erscheint, 62 63 64 65

A. a. O., § 44 b, S. 292 (221). A. a. O., § 27, S. 168 (126). A. a. O., § 44 b, S. 293 (221). Ebd.

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

das heißt, sich nicht so zeigt, wie es an ihm selbst ist, sondern vielmehr verstellt durch die öffentliche Ausgelegtheit des Man. Das innerweltliche Seiende zeigt sich zwar noch, es ist nicht gänzlich verborgen, aber es zeigt sich als ein Zugedecktes „im Modus des Scheins“.66 Der Schein hat sich vor das entdeckte Seiende geschoben und verstellt den Blick auf es selbst. Im Begriff ‚Verfallen‘ drückt sich jener Grundmodus der Uneigentlichkeit aus, in dem das Dasein sein Seinkönnen in den Bereich der „Welt“ des innerweltlichen Seienden verlegt. Damit ist nicht gesagt, dass das Dasein, indem es sich an die „Welt“ verloren hat, auch zugleich seiner Erschlossenheit verlustig geht. Die Seinsstruktur des Verfallens ist vielmehr die Modifikation seines grundsätzlich erschlossenen Existierens bei Innerweltlichem. Das Dasein ist, ob es im Modus der Eigentlichkeit existiert oder im Modus der Uneigentlichkeit, seinem Wesen nach erschlossenes. lm Verfallen, der wesenhaften Seinsverfassung des Daseins, existiert es in der Weise des uneigentlichen Seins bei innerweltlichem Seienden. Solcherweise verfallen, in der Modifikation seines eigensten Seinkönnens, ist das Dasein „seiner Seinsverfassung nach in der ‚Unwahrheit‘“.67 Da zur Grundverfassung des Daseins das Verfallen gehört, und da sich im Modus der Uneigentlichkeit die Wahrheit nicht im ursprünglichsten Sinne zeigt, ist das Dasein wesenhaft in der Unwahrheit. Dem Dasein in der Unwahrheit ist seine Erschlossenheit relativ verschlossen. Verschlossen insofern, als in der Seinsart des Verfallens die grundlegende Erschlossenheit des Daseins vom Schein des öffentlichen Man, dem das Dasein verfallen ist, verdeckt, verschlossen wird. Relativ ist die Verschlossenheit im Verhältnis zur eigentlichen Erschlossenheit, da sie keine Loslösung von der Erschlossenheit ist und als ihre uneigentliche Modifikation gilt. Relativ verschlossen ist diese Verschlossenheit auch in Bezug auf die absolute Verschlossenheit des Todes. In Hinsicht auf den wesenhaften Uneigentlichkeitsmodus des Verfallens ist das Dasein in der Unwahrheit. Dies aber nur auf Grund der eigentlichen Erschlossenheit, der gemäß das Dasein in der Wahrheit ist. ‚Das Dasein ist in der Wahrheit‘ bedeutet also zugleich, dass es in der Unwahrheit ist. Nur sofern Dasein erschlossen ist, kann es verschlossen sein. Nur weil es als erschlossenes in der Entdecktheit von innerweltlichem Seienden steht, kann ihm die Entdecktheit verdeckt sein.

66 67

A. a. O., S. 293 f. (222). A. a. O., S. 294 (ebd.).

§ 20 Heideggers kritische Rezeption

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§ 20 Heideggers kritische Rezeption verstanden als kritische Annahme und als Abstoß Wir haben in der bisherigen Erörterung des dritten Kapitels unserer Arbeit versucht, das grundlegende Phänomen des Wahrseins im Sinne der fundamentalontologischen Fragestellung nach dem Sinn von Sein überhaupt und insbesondere im Horizont der Frage nach dem Dasein vor Augen zu führen. Im Groben gesagt galt uns das Wahrsein als entdeckendes Sichverhalten des Daseins zu einer Entdecktheit. Das Entdeckend-sein ist eine unter mehreren Seinsverhaltungen des Daseins und eine Weise des Seins bei Innerweltlichem im ganzheitlichen Strukturgefüge der Sorge. Dasein als Entdeckend-sein einer Entdecktheit gründet aber in der wesenhaften Erschlossenheit des Daseins. Darin, in der es zugleich in der Wahrheit und in der Unwahrheit ist, sieht Heidegger das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit. Der bewusstseinsphänomenologische Ansatz beim intentionalen Gegenstandsbewusstsein, das die Wahrheit in der idealen Erfüllungseinheit von Vermeintem und Selbstgegebenem evident bewusstseinsmäßig erlebt, galt uns nicht als ein letztbegründeter. Wir wiesen auf das doppelte Übersehen der Entdecktheit des Seienden in seinem Sein und der sie begründenden Erschlossenheit des Daseins und des Seins überhaupt hin. Doch all diese Bestimmungen scheinen geradezu gegen die Möglichkeit einer kritischen Rezeption Heideggers zu stimmen. Haben wir bisher nicht immer betont, dass der ontologisch existenziale Ansatz bei Heidegger grundlegenderen Charakter hat und den phänomenologischen Aufweis der bewusstseinsmäßigen Erkenntnis grundsätzlich unterläuft? Muss diese Einsicht nicht zur Feststellung führen, dass eine wenn auch kritische Aufnahme des Husserlschen Begriffs des Wahrseins dem ontologisch verstandenen Wahrsein geradezu widerspricht? Oder meint ‚Rezeption‘ etwas anderes als ‚Aufnahme‘? Und wie in der ontologischen Analyse des Wahrseins ist Husserls Begriff der Wahrheit ‚aufgenommen‘? Dennoch bleibt Heideggers Aufforderung „vgl.“68 bestehen. Sie weist doch auf so etwas wie eine kritische Rezeption hin. Oder ist damit schon zuviel gesagt? Immerhin sagt Heidegger selbst, dass seine Untersuchungen „nur möglich geworden [sind] auf dem Boden, den E. Husserl gelegt“69 hat. Haben wir bisher nicht das Gegenteil festgestellt und umgekehrt in der ontologisch verstandenen Erschlossenheit des Daseins und des Seins überhaupt den ermöglichenden Grund für die Erkenntnis des Bewusstseins gesehen? Wie ist dieser ‚ermöglichende Boden‘ von Husserls Logi68 69

A. a. O., § 44, S. 289, Fußnote (218, Fußnote). A. a. O., § 7, S. 51 (38).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

schen Untersuchungen zu verstehen? Die zitierte Aussage meint offenbar, dass die Schrift Sein und Zeit nur aus einer zuvorlaufenden intensiven Beschftigung mit Husserls Logische Untersuchungen entstehen konnte. Erst deren grundlegende Einsichten gaben den fruchtbaren Boden fr den fundamentalontologischen Ansatz in Sein und Zeit. Aber heißt dies zugleich, dass Sein und Zeit sozusagen ein Aufbau auf dem begrndenden Boden der Logische Untersuchungen im Sinne ihrer Weiterfhrung oder Fortsetzung ist? Im Blick auf die ontologische Auslegung des Daseins und des Seins berhaupt und im Rckblick auf das von uns Erarbeitete lsst sich diese Frage nur verneinen. Wenn Heidegger in Sein und Zeit „einige Schritte vorwrts geht“70, so sind diese Schritte keine Weiterfhrungen innerhalb der Grenzen und im Problemhorizont der Phnomenologie des Bewusstseins. Das Modaladverbium „vorwrts“ bezeichnet vielmehr eine Bewegung des Denkens, die sich kritisch den Grenzen der Bewusstseinsphnomenologie entwindet. Die Schritte, die Heidegger vorwrts geht, sind Denkschritte, die sich von diesen Grenzen wegbewegen und sie hinter sich zurcklassen. Die Zentralfrage, die Heideggers Denken ziemlich frh schon in Bewegung hlt, ist nicht die Frage nach einer Phnomenologie der Erkenntnis, wie sie Husserl in den ersten fnf Logischen Untersuchungen thematisiert; und nicht die Frage nach den Elementen einer phnomenologischen Aufklrung der Erkenntnis, die Husserl in der VI. Logischen Untersuchung ausgearbeitet hat, sondern die grundstzlich andere Frage nach dem Sinn von Sein. „Wenn das Seiende in mannigfacher Bedeutung gesagt wird, welches ist dann die leitende Grundbedeutung? Was heißt Sein?“71 Heideggers Auseinandersetzung mit Husserls Logischen Untersuchungen stand bereits unter der fhrenden Leitung der Frage nach dem Sein. Von Husserls Schrift erwartete er „eine entscheidende Frderung“72 dieser Frage. Die Phnomenologie Husserls, die eine Beschreibung der Bewusstseinsakte als ihren thematischen Bereich beibehielt, konnte jedoch Heideggers grundlegendere Frage nach dem Sein auf die Dauer nicht weitertreiben. Dennoch erfhrt sein Denken eine immer fortwhrende Beunruhigung durch Husserls phnomenologische Arbeiten. Immer wieder beschftigen Heidegger die Logischen Untersuchungen; zuerst 1909, 1910, dann nach 1913, dem Erscheinungsdatum von Husserls Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Philosophie, und dann 1919. So bezeugt es Heidegger in seiner Schrift Mein Weg in die Phnomenologie.73 Der den70

A. a. O., § 7, S. 52, Fußnote 2 (38, Fußnote 1). Martin Heidegger: Mein Weg in die Phnomenologie, GA Bd. 14, S. 93 (81). 72 Ebd. (82). 73 A. a. O., S. 96 ff. (85 f.); das ist der Kenntnisstand vom Sommer 1974, der Entstehungszeit dieser Arbeit. Durch die Verffentlichung von Heideggers Marburger 71

§ 20 Heideggers kritische Rezeption

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kende Abstoß von der Phnomenologie der Bewusstseinsakte wird in Heideggers Feststellung deutlich, dass „das sich-selbst-Bekunden der Phnomene . . . ursprnglicher noch von Aristoteles und im ganzen griechischen Denken und Dasein als ’Alh·ffieia gedacht [wird], als die Unverborgenheit des Anwesenden, dessen Entbergung, sein sich-Zeigen.“74 Uns kann es im Problemhorizont dieser Arbeit nicht darauf ankommen, Heideggers Auseinandersetzung mit dem, was die Griechen als Unverborgenheit dachten, nachzuvollziehen. Es ging uns vielmehr darum, zu zeigen, in welchem Verhltnis Heideggers Frage nach dem Sein, die zugleich Frage nach der Wahrheit ist, zur Phnomenologie des Bewusstseins steht. Das in gewisser Weise „Unbefriedigende“, das Heideggers Bemhungen um die Logischen Untersuchungen hinsichtlich der Frage nach dem Sein als „vergeblich“ erscheinen lassen, rhrte daher, dass er „nicht in der rechten Weise suchte“.75 Dieses Suchen war aber ein denkendes Suchen nach der Bedeutung des Seins. Die Phnomenologie der Bewusstseinsakte konnte die Frage nach dem Sein nicht weiterbringen, weil sie diese Frage so gut wie gar nicht thematisiert. Hier wird deutlich, inwiefern Heideggers Rezeption der Husserlschen Phnomenologie kritisch zu nennen ist. Die Logischen Untersuchungen sind in einem gewissen Sinne der suchenden Frage nach dem Sein nicht zugnglich. Sie verschließen sich dem denkenden Fragen nach dem Sein und knnen notwendig zu dieser Frage nicht anleiten, geschweige denn, sie beantworten. Heideggers Zentralfrage nach dem Sinn von Sein erfhrt von den Logischen Untersuchungen keine ‚Frderung‘, sie kommt keinen Schritt vorwrts, da die Seinsfrage aus dem Rahmen einer phnomenologischen Aufklrung der Erkenntnis herausfllt. Die Frage nach dem Sein kann also nur im denkenden Abstoß von der Husserlschen Phnomenologie weitergetrieben werden. In dieser Weise, das heißt, unter dem Anspruch der Seinsfrage ist Heideggers kritischer Abstoß zu verstehen. In seiner Anmerkung auf S. 289 (218) in Sein und Zeit drfen wir also keine Aufforderung zum vergleichenden Gegenberstellen sehen, die Gleiches und Ungleiches, Entsprechendes und Nichtentsprechendes herausstellen soll. Diese Art Vergleich wrde sich im Rahmen einer formalen Untersuchung bewegen und dem Wesentlichen in beiden Aufweisen der Wahrheit nicht gerecht werden. Wir sehen vielmehr in diesem „vgl.“ im weiteren Sinne den Hinweis auf die kritische Aufnahme und den Abstoß des bewusstseinsphnomenologischen Wahrseins. Das „vgl.“ gibt dem Leser den Wink, diese kritische Rezeption denkend nachzuvollziehen. Vorlesungen ist darber inzwischen viel mehr bekannt. Wir verweisen auf unser viertes Kapitel. 74 A. a. O., S. 99 (87). 75 A. a. O., S. 93 (82).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

Doch es bleibt die Frage nach der Rezeption. Wie ist die Rezeption der Phnomenologie der Bewusstseinsakte und insbesondere des Wahrseins zu verstehen? Heideggers Seinsfrage und insbesondere seine Bestimmung des Wahrseins kennzeichnen ja nicht nur einen kritischen Abstoß von der Phnomenologie des Bewusstseins, sondern zugleich auch ihre kritische ‚Aufnahme‘. Dass Aufnahme hier nicht gleichbedeutend mit bloßer bernahme ist, braucht nicht mehr betont zu werden. Wir verstehen die Rezeption Heideggers vielmehr im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung und kritischen Annahme der Husserlschen Philosophie. Die kritische Rezeption Heideggers ist als Annahme und zugleich als grundstzliche Verwandlung des Angenommenen zu verstehen. Diese grundstzliche Verwandlung ist derart, dass sie das Angenommene aus seinen scheinbar gesicherten Fundamenten hebt und einer radikalen, seinsphnomenologischen Untersuchung unterwirft. Die Frage nach den ontologischen Fundamenten des traditionellen Wahrheitsbegriffs trifft den Husserlschen Aufweis der Wahrheit unausdrcklich mit. Das so Angenommene und auf seine ontologischen Fundamente hin Befragte gewinnt in der ontologischen Verwandlung einen ursprnglicheren, abgesicherten neuen Boden. Das kritisch Angenommene erweist sich in einem gewissen Sinne aber auch als mglicher Boden fr die seinsphnomenologische Auslegung des Daseins als Wahrsein. Und dies nicht als ein mglicher unter mehreren anderen mglichen, sondern als der einzig ermglichende Boden fr Heideggers phnomenologische Untersuchungen. Diese Ermglichung ist zu verstehen im Sinne einer der Heideggerschen Fundamentalontologie zuvorlaufenden Vorarbeit Husserls. Erst gewisse grundlegende phnomenologische Einsichten der Logischen Untersuchungen wie die Intentionalitt und die Neubestimmung der Evidenz ermglichten die Entstehung der Ontologie im Sinne einer universellen Fragestellung nach dem Sein. Wir knnen in einer Einfhrung nicht die umfassende Errterung dessen geben, was Heidegger aus den Logischen Untersuchungen kritisch, das heißt, in einer ontologischen Verwandlung aufgenommen hat und beschrnken uns auf wenige Aspekte, die uns im Zusammenhang mit der Wahrheitsproblematik als wichtig erscheinen. Die Analyse der Ausweisung eines Seienden als es selbst76 hat eine gewisse formale Entsprechung in Husserls Idee von der Identifizierung des bloß Vermeinten mit dem selbstgegebenen Gegenstand. Heidegger analysiert die Ausweisung des Seienden in der Selbigkeit seiner Erscheinung sozusagen ‚am Modell‘ der Husserlschen Identifikation. Die wahre Aussage ‚das Bild an der Wand hngt schief‘, die jemand mit dem Rcken zu diesem Bild macht, entspricht der Form nach dem, was Husserl ‚Gegenwartsvergegenwrtigung‘ nennt. Der Gegenstand 76

Vgl. GA Bd. 2, S. 288 f. (217 f.).

§ 20 Heideggers kritische Rezeption

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der Aussage wird nicht in einer leibhaften Wahrnehmung vorgestellt, sondern seine Wahrheit wird vielmehr in den Akten der Vergegenwrtigung zunchst bloß vermeint. In der Vergegenwrtigung ist der Gegenstand nicht selbst vorgegeben, sondern in mehr oder minder großer Anschaulichkeit vorgestellt. Die ‚wahre Aussage‘ ist im strengen Sinne eine zunchst bloß vermeinte wahre Aussage. Dies entspricht der Form nach dem, was Heidegger hier meint. Die bloß als wahr vermeinte Aussage verifiziert sich dadurch, dass der Aussagende „das schiefhngende Bild an der Wand wahrnimmt“.77 Die vermeinende, wahre Aussage erfllt sich dadurch, dass der Gegenstand originr wahrgenommen wird. Die leibhafte Wahrnehmung gibt den Gegenstand in einem Hchstmaß an anschaulicher Flle. Er ist nicht mehr bloß intentional als wahrer vermeint, sondern zeigt sich im Ansichtigwerden seiner als er selbst. Im evidenten Identifizierungsakt decken sich bloß vermeinter und selbstgegebener Gegenstand in einer aktuell erlebten Erfllungseinheit. Was Heidegger die Ausweisung des Seienden im Entdeckend-sein des Daseins nennt, ist in formaler Entsprechung nichts anderes als das, was bei Husserl die bewusstseinsmßige Identifizierung von Gemeintem und Selbstgegebenem ist. In gewisser Weise nimmt Heidegger also formal Husserls Modell der Identifizierung auf. Allerdings spricht er nicht mehr im Sinne einer Phnomenologie der Bewusstseinserlebnisse vom aktuell erlebten Wahrsein in der Erfllungssynthesis des wahrgenommenen Gegenstands. Das Wahrsein ist primr gar nicht die bewusst erlebte bereinstimmung von Vermeintem und Selbstgegebenem. Als Wahrsein gilt vielmehr, und darin liegt der kritische Abstoß von Husserl, ursprnglicher das Entdeckend-sein des Daseins und letztlich die Erschlossenheit des Daseins selbst. Husserls Idee der Identifizierung kann also nicht als eine inhaltliche Parallele verstanden werden, sondern als kritische Annahme im Sinne eines Modells. Diese Aufnahme Heideggers wird noch deutlicher, wenn man sich seinen Abweis der Bildertheorie vor Augen fhrt. Hier greift er auf die grundlegende Vorarbeit Husserls zurck, der in der V. Logischen Untersuchung bereits „vor dem Irrtum der Bildertheorie“78 gewarnt und die traditionelle Ansicht abgewiesen hatte, dass sich im Bewusstsein reelle Abbilder von transzendenten Gegenstnden befnden. In der wahren Aussage vom schiefhngenden Bild bezieht sich der Aussagende keineswegs auf „ein ‚Bild‘ von dem realen Ding an der Wand“79. Das entdeckende Dasein, bzw. das erkennende Subjekt, bezieht sich nicht auf immanente Abbilder, sondern unmittelbar, das heißt, ohne die phnomenologisch (weder bewusstseinsph77 78 79

A. a. O., S. 288 (217). V. Logische Untersuchung, § 21, S. 436 (421). GA Bd. 2, § 44 a, S. 288 (217).

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

nomenologisch noch seinsphnomenologisch) gar nicht aufweisbare Vermittlung eines Abbildes, direkt auf das Seiende selbst, das es in seinem Sein entdeckt, bzw. direkt auf den intendierten Gegenstand selbst. Das Seiende „ist gemeint und nichts anderes“.80 Der phnomenologische Abweis der Bildertheorie wird von Heidegger aufgenommen, als richtig bernommen. Wir mssen uns jedoch auch bei dieser bernahme davor hten, sie als bloße bernahme zu verstehen. Denn sein Abweis der Bildertheorie steht im Kontext der ontologischen Analyse des Daseins als Entdeckend-seins. Seine Rede vom sich Beziehen des Aussagenden auf das reale Bild an der Wand meint gewiss nicht den Bezug des Subjekts auf seinen intentionalen Gegenstand im Sinne Husserls. Vielmehr ist damit das Entdeckend-sein des Daseins in unmittelbarem, ontologisch verstandenen Bezug auf eine Entdecktheit angesprochen. Heidegger macht sich zwar dieses positive Ergebnis aus den Logischen Untersuchungen zu eigen, und darin sehen wir einen Aspekt seiner Rezeption Husserls. Er nimmt es jedoch nicht als den Abweis eines Irrtums im Zusammenhang der Interpretation „des Verhltnisses zwischen Akt und Subjekt“81 wie Husserl, sondern im ursprnglicheren Zusammenhang einer Auslegung des Daseins als Entdeckend-seins. Die von uns gestellte Frage nach der Mglichkeit einer kritischen Rezeption Heideggers beantwortet sich durch die Bestimmung der Aufnahme als einer kritischen, ontologischen Annahme und einer Verwandlung der Husserlschen Analysen der Bewusstseinsakte im weiten Sinne und des Aufweises der Wahrheit im Besonderen. Heideggers kritische Rezeption steht von vornherein unter der leitenden Fhrung der Zentralfrage nach dem Sein und ist einerseits zu sehen im grundstzlichen Abstoß der einengenden Grenzen einer phnomenologischen Theorie der Erkenntnis, die sich auf die Deskription der Bewusstseinsakte und ihrer Erlebnisse beschrnkt und die Seinsfrage bersieht; andererseits ist sie zu sehen als eine ontologisch kritische Annahme und Verwandlung der Vorarbeit, die Husserl in den Logischen Untersuchungen als dem ermglichenden Boden geleistet hatte. Wenn wir die Arbeit hier zu Ende fhren, so geschieht das nicht in der Einsicht, dass wir Heideggers Wink, den er mit der leicht zu bersehenden Abkrzung „vgl.“ gibt, in seiner ganzen Bedeutung auch nur gesehen haben. Erst recht nicht sind wir ihm in der entsprechenden Weise denkend und beschreibend vollkommen nachgekommen. Den Weg des nachdenkenden Sehens haben wir noch vor uns.

80 81

Ebd. V. Logische Untersuchung, § 21, S. 436 (421).

§ 20 Heideggers kritische Rezeption

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Exkurs: Tugendhats Schrift „Der Wahrheitsbegriff bei Heidegger und Husserl“ Wir sind uns darber im Klaren, dass unser Auslegungsversuch in einigem Gegensatz zu den Errterungen Ernst Tugendhats ber unser Thema steht. Einige Bemerkungen sind daher am Platze. Nebenbei kann wohl zunchst gesagt werden, dass es Heidegger bei der ontologischen Analyse des Wahrseins primr nicht auf eine Diskussion mit mglichen Gegnern ankam. Die ontologische Wahrheitsanalyse ist nicht als Streitschrift angelegt, die sich vor mglichst „starken Gegnern“82 zur Diskussion stellen wollte. Da fehlt jede Drohgebrde oder Imponierpose. In Heideggers Bestimmung des Daseins als Entdeckend-seins einer Entdecktheit, der gemß das Seiende „in Selbigkeit so ist als wie seiend es in der Aussage aufgezeigt, entdeckt wird“,83 sieht Tugendhat zunchst die bernahme der Husserlschen Bestimmung der Selbigkeit.84 Wir haben darauf hingewiesen, dass diese bernahme im Sinne einer formalen Entsprechung zu verstehen ist. Im Sichzeigen des Seienden in Selbigkeit ist ein fundamental anderer Sachverhalt angesprochen als in Husserls Bestimmung der Selbigkeit. Bei Husserl ist der Gegenstand in der letzten und endgltigen Erfllung bewusstseinsmßig als er selbst erlebt. Die ideale, endgltige Prsentation gibt ihn in seiner Selbigkeit.85 Die Entdecktheit des Seienden dagegen, in der das Seiende sich in Selbigkeit zeigt, wurzelt in der Erschlossenheit des Daseins. Diesen phnomenalen Tatbestand hat Husserl bersehen. Heideggers Ausdruck Selbigkeit meint das Sichzeigen des Seienden an ihm selbst in einer vorentdeckten Verweisungsganzheit und darf mit der Husserlschen Definition der Selbigkeit nicht zusammengeworfen werden. Tugendhats Meinung, Heideggers „Argumentation“86 reiche nur bis zur Position Husserls, indem sie dessen Selbigkeitsbegriff bernehme, ist danach von der Sache her nicht haltbar. Dass Heidegger den Schritt, der ihn angeblich ber Husserl hinausfhrt, nicht eigens nennt, dass er „nicht einmal als eigener Schritt kenntlich gemacht“87 wird, kann nur heißen, dass es diesen Schritt, mit dem Heidegger sich pltzlich von Husserl lsen soll, in der von Tugendhat unterstellten Weise gar nicht gibt. Die Loslsung von Husserl geschieht, wie wir zu zeigen versuchten, nicht erst innerhalb der ausdrcklichen Wahrheitsanalyse des § 44 a. Im gleichen Sinne ist die Fuß82 83 84 85 86 87

Tugendhat, S. 331. GA Bd. 2, § 44 a, S. 289 (218). Tugendhat, S. 331. VI. Logische Untersuchung, § 37, S. 647 (117 f.). Tugendhat, S. 332. Ebd.

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3. Kap.: Heideggers kritische Rezeption der Idee der Identifizierung

note auf S. 289 (218) nicht als Quellenangabe fr Heideggers Begriff der Selbigkeit anzusehen, wie dies Tugendhats Deutung nahe legt.88 Der Schritt ber Husserl hinaus ist nach Tugendhat eine schrittweise Einschrnkung des Satzes „Das gemeinte Seiende selbst zeigt sich so, wie es an ihm selbst ist, das heißt, dass es in Selbigkeit so ist, als wie seiend es in der Aussage aufgezeigt, entdeckt wird“89 ber den zweiten Satz „Die Aussage ist wahr, bedeutet: sie entdeckt das Seiende an ihm selbst“90 bis hin zur knappen dritten Formulierung „Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muss verstanden werden als entdeckend-sein“91. Tugendhat sieht in diesen Aussagen sich entwickelnde, sachlich inhaltliche Einschrnkungen. In der dritten Formulierung habe Heidegger sich „deutlich von Husserl abgesetzt und seinen eigenen Wahrheitsbegriff gewonnen.“92 Dadurch, dass Heidegger in diesen Stzen den Ausdruck „an ihm selbst“ weglasse, vollziehe er eine Entfernung vom Husserlschen Wahrheitsbegriff. Die Aussage gelte nun als wahr, wenn sie das Seiende entdecke, gleichgltig, ob an ihm selbst oder nicht an ihm selbst.93 Daraus ergebe sich eine „Zweideutigkeit“94 im Gebrauch des Wortes ‚entdecken‘. Einmal sei es als das Entdecken des Seienden in Selbigkeit und zum anderen sei es als „das Aufzeigen berhaupt“95 gebraucht. Wir knnen dieser Textauslegung nicht zustimmen. Ja, wir sehen in den drei bei Tugendhat aus Sein und Zeit zitierten Stzen gar keine sachlichen Einschrnkungen. Die Stze meinen, jedes Mal in einer anderen Wendung, ein und denselben Sachverhalt: Das Entdeckend-sein ist eine Seinsverhaltung des Daseins, das Seiendes in seinem Sein an ihm selbst entdeckt. In der Wahrheit der Aussage entdeckt das Dasein in der Seinsweise des Entdeckend-seins Seiendes, wie es an ihm selbst ist, wie es sich von ihm selbst her in seiner Entdecktheit zeigt. Dies sagen die von Tugendhat angefhrten drei Stze eindeutig. Dass Heidegger in der dritten Formulierung das „An ihm selbst“ weggelassen hat, ist nur als ußerliche, formelhafte Verknappung, sozusagen als das Resmee des bereits ausfhrlich analysierten Daseins als Entdeckend-seins einer Entdecktheit zu verstehen. Die dritte Formulierung steht zudem am Anfang eines neuen Textabschnittes innerhalb des § 44 a und fhrt das in den vorangegangenen Abschnitten Erarbeitete 88 89 90 91 92 93 94 95

A. a. O., S. 331 f. GA Bd. 2, § 44 a, S. 288 f. (218). A. a. O., S. 289 (218). Ebd. Tugendhat, S. 332. A. a. O., S. 333. Ebd. Ebd.

§ 20 Heideggers kritische Rezeption

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noch einmal kurz vor Augen. Gewiss meint der äußerlich knappe Ausdruck Entdeckend-sein das Entdecken des Seienden wie es an ihm selbst ist. In diesem Sinne lautet auch der zentrale Satz in diesem Abschnitt: „Bewährung bedeutet: sich zeigen des Seienden in Selbigkeit.“96 Die Selbigkeit wird also keineswegs „entbehrlich“,97 sondern gehört wesenhaft zur Grundbedeutung der Aussagewahrheit mit dazu. Dass das Dasein in der Seinsverfassung des Verfallens das Seiende auch gerade nicht an ihm selbst entdeckt, sondern in seiner Verdecktheit, kennzeichnet nicht eine Zweideutigkeit des Entdeckens, sondern liegt vielmehr in der seinsmäßigen Grundverfassung des Daseins beschlossen. Dies zeigte die Verfallensanalyse in § 38 von Sein und Zeit und die Auslegung des Satzes ‚Dasein ist in der Wahrheit‘.98 Das entdeckende Zeigen des ’Apoðaûnesffiai ist das Aufscheinenlassen des Seienden, wie es an ihm selbst ist. Die zweite Bedeutung von Phänomen, der „Schein“99, stellt die erste Bedeutung, die als Grundbedeutung gelten kann und das Sichzeigen des Seienden an ihm selbst meint, nicht etwa in ein Licht der Zweideutigkeit. Vielmehr gründet die zweite Bedeutung von ‚Phänomen‘ in der ersten. Im Modus der Uneigentlichkeit entdeckt das Dasein als Verfallenes das Seiende zwar auch, aber als ein von Schein zugestelltes. Das Entdecken von Verdecktem aufgrund einer vorgängigen Entdecktheit, die wiederum in der Erschlossenheit des Daseins wurzelt, unterscheidet Heidegger sehr wohl vom eigentlichen Entdecken des Seienden an ihm selbst. Die grundlegende, in die Seinsverfassung des Daseins gehörige Unterscheidung des eigentlichen Entdeckend-seins des Daseins von dessen uneigentlicher Modifikation, bei der es sich in der relativen Verschlossenheit hält und Seiendes nur scheinbar an ihm selbst entdeckt, verbürgt in Sein und Zeit die Eindeutigkeit der Rede vom ‚Entdecken‘.100

96

GA Bd. 2, § 44 a, S. 289 (218). Tugendhat, S. 332. 98 GA Bd. 2, § 44 b, S. 293 f. (221 f.), vierter Abschnitt. 99 A. a. O., § 7A., S. 39 (29). 100 Vgl. auch Erich Schönleben: Wahrheit und Existenz, S. 234 ff., der ganz ähnlich wie unsere hier wiedergegebene Beurteilung von 1974 Tugendhats Nicht-eingehen-Können auf Heideggers Wahrheitsbegriff sieht und darin „Tugendhats Missverständnis“ ausmacht. So auch die Beurteilung von Ewald Richter: Heideggers These vom „Überspringen der Welt“: „Tugendhats Sicht rührt daher, dass er unter Voraussetzung des Subjekt-Objekt-Denkens frühzeitig abgesprungen ist von Heideggers Problementfaltung.“, S. 69. 97

Viertes Kapitel

Die Marburger Vorlesungen § 21 Vorlesung: „Einführung in die phänomenologische Forschung“ In Sein und Zeit beschränkt Heidegger sich in Sachen Husserl auf wenige Hinweise, die er zumeist in die Anmerkungen und Fußnoten schiebt, wenn man von der prominenten Stelle der Zueignung vorn, in der Titelei des Werks einmal absieht. In seiner ersten Marburger Vorlesung (GA Bd. 17) aus dem Wintersemester 1923/24 ist das anders. Hier ist ganz offensichtlich, welch große Bedeutung gerade die Logischen Untersuchungen in diesen Jahren für ihn haben. Mit diesem Werk trat zum ersten Mal das phänomenologische Forschen ans Licht der Öffentlichkeit und verhalf ihm zum Durchbruch. Herkommend von mathematischen Fragestellungen, von Ganzen und Teilen, gipfeln die Untersuchungen in neuen, phänomenologischen Analysen, die sich nichts Geringeres zur Aufgabe machen als eine reine Logik zu begründen und die Elemente der Erkenntnis aufzuklären. Die „Grundtendenz“1 dieses 1900 und 1901 erscheinenden Werks beschreibt Heidegger so, dass die Objekte, mit denen sich die Logik beschäftige, dort zur „Vergegenwärtigung“ gebracht werden und zwar mit einer neuen, nämlich phänomenologischen Methode. Vergegenwärtigt, das meint bewusst gemacht, ans Tageslicht gezogen, wird aber die derzeitige, durchaus fragwürdige Lage der philosophischen Logik. Ihre Sachgebiete werden mit Hilfe dieser neuartigen Methode präsent gemacht und Prüfungen unterzogen. I. Die neue Grundtendenz Die von Husserl „‚Angeregten‘“2 seien sich der neuen Einflüsse kaum bewusst gewesen. Heidegger gehörte zu den Angeregten und war sich dessen sehr klar bewusst. Die Richtung dieser Erforschung zielte auf die Sachen selbst und wollte nicht länger über das Bewusstsein als psychischen Inhalt philosophieren, auch nicht länger beim zeitgenössischen Naturalismus 1 2

GA Bd. 17, S. 50. Ebd.

§ 21 Vorlesung: „Einführung in die phänomenologische Forschung“

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oder beim Historizismus stehen bleiben. Husserl hatte eine neue Selbstauslegung der Phänomenologie gegeben. Die Art und Weise, wie er aus neuer Blickrichtung mit der ihn umgebenden Tradition ringt, wie er in entscheidenden Fragen die Tradition überwindet und ihr gleichzeitig treu bleibt, entfaltet Heidegger im Gang der Vorlesung in aller Anschaulichkeit. Dennoch steht die Frage nach dem Wesen der Wahrheit nicht im Zentrum der Auseinandersetzung, aber zentrale Begriffe, die Heidegger aufgreift, um sie kurze Zeit später einer radikalen Revision zu unterziehen, wie Intentionalität und Evidenz, werden schon genannt und im Rahmen dessen, was er die Sorge der Gewissheit nennt, einer Prüfung unterzogen. Diese Grundtendenz der Logischen Untersuchungen, nämlich der phänomenologischen Methodensicherung und der Vergegenwärtigung der Grundprobleme der traditionellen Logik, stellt Heidegger von Beginn der Vorlesung an in den Rahmen einer Geschichte von Phänomen und Logos, die bei Aristoteles beginnt, über Thomas von Aquin geht, über Descartes und eben bis zu Husserl reicht. Dabei sind die Logischen Untersuchungen der Angelpunkt, in dem sich diese Geschichte besonders deutlich zeigt, aber auch in eine neue Richtung dreht, die weit über Husserl hinausgeht. Denn in dieser Auseinandersetzung mit der Tradition, die zunächst Husserls Auseinandersetzung mit der Tradition ist, macht sich ein Zweites bemerkbar: Heideggers eigene, neue Sichtweise dieser Husserlschen Logischen Untersuchungen, die er als Sorge um erkannte Erkenntnis3 fasst. II. Das brüchige Siegel in der Tautologie der erkannten Erkenntnis Was wir im alltäglichen Sprachgebrauch befremdlich finden, in tautologischen Ausdrücken wie ‚der weiße Schimmel‘, ‚Geschäft ist Geschäft‘ usw., wird von Heidegger ganz anders gesehen. In Zähringer Seminar von 1973 sagt er, dass das tautologische Denken „der ursprüngliche Sinn der Phänomenologie“4 ist. Also geht es nicht darum, solche Tautologien zu vermeiden, sondern umgekehrt sollen wir ihren eigentümlichen Sinn im Sinne des Sehenlassens des Seienden erkennen, sei dieses auch noch so unscheinbar. Das sechste Fragment des Parmenides, das ñsti gJr ełnai, ‚ist nämlich Sein‘5, ist ein Beispiel für tautologisches Denken. Was hat es mit dem tautologischen Begriff der erkannten Erkenntnis auf sich? Warum gibt Heidegger einer Erkenntnis, von der man glaubt, dass sie 3

Bei Gander als „geglückte Formel“ bezeichnet; siehe Hans-Helmuth Gander: Selbstverständnis und Lebenswelt, S. 189. 4 GA Bd. 15, S. 399 (137). 5 A. a. O., S. 397 (135).

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

schon stattgefunden hat, mit dem Partizip Perfekt Passiv „erkannt“, noch ein zusätzliches Attribut und stellt beides in die Obhut der Sorge? ‚Beinhaltet‘ nicht jede Erkenntnis ihr Erkanntes? Ist nicht die Farbe Schwarz meines Notebooks das in der Erkenntnis gemeinte und erkannte selbst? Hier ist offenbar etwas anderes gemeint als der Vollzug einer einfachen intentionalen Wahrnehmung. Der Begriff Sorge gibt uns den Hinweis: Besorgt und das heißt hier gesichert, methodisch festgestellt werden soll das in der Erkenntnis Erkannte. Die erkannte Erkenntnis meint weniger, ohne ihn auszuschließen, den Vollzug eines suchenden Denkens und Erkennens, als vielmehr dessen angeblich schon bekanntes und abgesichertes Resultat. Die Sorge um erkannte Erkenntnis als Aufgabe des phänomenologischen Forschens dagegen ist als Vorgang des besorgenden Erkennens zu sehen, also „die Sorge um Sicherung der Erkenntnis auf dem Wege des Erkennens der Erkenntnis, die Sicherung und Begründung einer absoluten Wissenschaftlichkeit“.6 Damit ist nicht nur ein besorgender Umgang mit wissenschaftlicher Erkenntnis und dem darin Erkannten gemeint, sondern auch ein Sichkümmern um Kritik. Die Fundamente der psychologischen Logik als behaupteter Wissenschaft scheinen brüchig zu sein. Man muss sich um die Stabilität ihrer Basis Sorgen machen, muss, was bisher zum Fundus einer erkannten Erkenntnis gehörte, in Frage stellen. Die erkannte Erkenntnis ist ein komprimierter Ausdruck, ein brüchiges Siegel für das, was es neu zu erkennen gilt. Wie hinter einem alten Siegel verbergen sich darin die scheinbar unbezweifelbaren, unverbrüchlichen Gegebenheiten wie etwa das Sein der Natur in der Experimentalpsychologie und das, was den Psychologismus überhaupt ausmacht. Kaum zugänglich, schwierig zu erfassen, auf scheinbar solidem Boden der Tradition gegründet. So stellt sich die erkannte Erkenntnis dar. Brüchig nennen wir sie und das in ihr Versiegelte, weil es der Sorge der erkannten Erkenntnis bei ihrer Durchforschung des Psychischen als letztem Fundament für eine reine Logik nicht standhält. Die Sorge übernimmt im Modus des wissenschaftlichen Suchens diese Aufgabe. Damit ist auch gesagt, dass der Terminus Sorge hier viel mehr bedeutet als die uns aus dem vulgären Sprachgebrauch bekannten, sorgenvollen Gedanken, die der Ausdruck Sorge gleichwohl nicht ausschließt. Im Vordergrund aber steht Heideggers existenzial-ontologisch geschöpfter Begriff der Sorge, in der sich das Dasein enthüllt, und zwar im Sich-vorwegsein im schon-Sein-in als Sein-bei. Im Besorgen der erkannten Erkenntnis nun nimmt das Dasein, sich modifizierend, eine besondere Haltung ein: Es hält sich die von Husserl vorgelegte Struktur des Bewusstseins vor Augen, 6

GA Bd. 17, § 9, S. 72; nur diese Erkenntnis allein wird von Husserl als wissenschaftliche Erkenntnis zugelassen. So auch F.-W. von Herrmann: Hermeneutik und Reflexion, S. 108.

§ 21 Vorlesung: „Einführung in die phänomenologische Forschung“

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auch dessen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie. So wird deutlich, wie es möglich ist, dass die Vorlesung im engen Kontext die Sprache von Sein und Zeit (Sorge) mit der Begrifflichkeit der Logischen Untersuchungen (Erkenntnis) nicht etwa vermischt, sondern verbindet. Diese von Heidegger herausgestellte Grundtendenz ist für uns in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Einmal als die Vergegenwärtigung von Husserls Weg in den Logischen Untersuchungen. Die hätte auch in einem einfachen Referat der zentralen Gedankengänge bestehen können. Sodann aber vor allem durch einen deutlichen Schwenk in eine phänomenologische Analyse des Daseins. Das geschieht unter Verwendung einer neuen Nomenklatur. Die Tradition der phänomenologischen Forschung im Kontext einer „Sorge der erkannten Erkenntnis“ genannt zu bekommen, war gewiss für manchen Hörer in Marburg eine neue Erfahrung. So ist die Husserlsche Grundtendenz, die er positiv ins Licht stellt, von Anfang an geführt durch den eigenen Ansatz. So ist auch der Genetivus in ‚Sorge der erkannten Erkenntnis‘ zweifach zu verstehen, und zwar als subiectivus und auch als obiectivus. Einmal besorgt das Dasein, wie oben beschrieben, den vorhandenen Bestand der „heutigen Phänomenologie“.7 Dann aber, im Genetivus subiectivus, besorgt die Sorge quasi ihr eigenes Feld, sorgt sich in der Erforschung ihrer Tradition zugleich um die Entfaltung ihrer eigenen Seinsverfassung, lässt dabei ihre eigene Verfasstheit in Existenzialität, Faktizität und Verfallensein sehen. Für unser Thema spielen die Leitworte Intentionalität und Evidenz eine Rolle, weil sie uns direkt den Weg in die Wahrheitsthematik zeigen und erklären, wie Heidegger dieses quasi öffentliche Vorlesungs-Gespräch mit Husserl nutzt, um nicht zuletzt auch seine eigene Position herauszukristallisieren. Allerdings behandelten wir das Versäumnis der Seinsfrage, das auch im dritten Kapitel der Vorlesung zur Sprache kommt, schon ausführlicher bei der Darstellung von § 44 Sein und Zeit. Wichtiger ist, dass für Heidegger Husserls Tendenz, wie er die Phänomenologie als Methode sichert und wie er für ihn wesentliche Fragen bei Descartes behandelt, eine Verunstaltung der phänomenologischen Befunde mit sich bringt. Die Haltung des Daseins, in der es zur Umdeutung dieser Befunde kommt, nennt Heidegger die Sorge der Gewissheit.8

7 8

GA Bd. 17, §§ 3 ff. A. a. O., § 48, S. 270.

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

III. Das mathematische Konzept von Intentionalität und Evidenz In der Sorge der Gewissheit ist das Dasein umgeschlagen in die Möglichkeit des Sichausgebens-als. Dieses gründet in einem Sichzeigen-als. Darin ist also kein Fehler oder ein Makel zu sehen, der etwa durch eine gewaltsame Zurücknahme verändert werden könnte. Seiendes begegnet in diesem Seinsmodus nicht in den alltäglichen Besorgungen, sondern in einem Sondermodus, in dem das Dasein Täuschung und Lüge gewählt hat. So wird das ursprüngliche Thema der Betrachtung abgedrängt und in ein Blickfeld verlagert, in welchem es nicht mehr um die ursprüngliche Aneignung der Sachen geht, sondern um eine bestimmte, mathematische Idee von Wissenschaft. Die damit verbundene Verfälschung der phänomenalen Befunde besorgt das Dasein in einer Grundverhaltung der „Sorge der Gewissheit“. In dieser blickverlagerten Position befindet sich Husserl bei seiner Selbstauslegung der Phänomenologie. Gewissheit meint somit eine scheinbare Gewissheit, bei der der Besorgende zum Opfer eines nur vorgeblich gesicherten Sachstands wird, vielleicht ohne es zu wissen oder eigens zu wollen. Einer der Gründe dafür liegt in der fraglosen Übernahme des Bewusstseinsbegriffs aus der Tradition von Descartes und Kant.9 Nach Husserl bestimmt die Idee einer Erkenntnis das Thema einer Wissenschaft. In der traditionellen Vorstellung der Einführung einer Wissenschaft, für die hier Descartes steht, werden Objekt, also ein Sachgebiet, und eine Methode bestimmt. Die Fixierung einer Vorstellung darüber, was Wissenschaft denn sei, ging dem immer schon voraus, was eine ursprüngliche Aneignung der Sachen hätte bringen können. Husserls Begriffe der Intentionalität und der Evidenz begegnen in ihrer jeweiligen Ausgestaltung im Zusammenhang der Wahrheitsfrage als Sorge um Gewissheit. Nun ist aber nicht von vornherein ausgemacht, dass das Dasein im Sich-selber-zeigen auf die Idee verfällt, Wissenschaften zu gründen und die reine Logik als solche neu zu sichern. Husserls Ansatz beim theoretischen Erkennen macht uns glauben, es sei die natürlichste Sache der Welt, dass das Bewusstsein wissenschaftlich orientiert ist, dass es in der Tradition wie auch bei ihm selber stets so war und ist. Er ‚landet‘ unmittelbar, nachdem er die Charakteristika der Intentionalität dargelegt hat, in einer konventionellen Idee von Wissenschaftsbegründung. Heidegger macht durch die Kennzeichnung des Umschlags vom sichzeigenden Besorgen zum sichverdeckenden Besorgen der Gewissheit auf diese ‚Schnittstelle‘ aufmerksam. Das sagt zugleich, dass sein eigener, daseinsanalytischer Weg an dieser Schnittstelle oder Weggabelung eine andere Richtung einschlägt. 9

A. a. O., § 48, S. 271.

§ 22 Vorlesung: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“

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In diesem Sinne gibt es für ihn eine Verunstaltung der Intentionalität selbst. Denn sie wird unspürbar „immer als spezifisches theoretisches Sichverhalten gefasst“.10 Dabei kann Intendieren auch etwas anderes sein als ein theoretisches Meinen, zum Beispiel ein Fühlen, Wollen, Lieben usw. Das von Husserl nicht gesehene Problem besteht nun darin, dass alles Intendieren aus einer vorher schon festgelegten, theoretischen Blickrichtung erfolgt. Erlebnisse des Gefühls werden unbefragt analog dem theoretischen, letztlich mathematischen Erkennen definiert. So begegnet das Seiende auch nicht mehr unmittelbar selbst, sondern von Beginn an in einer „spezifischen theoretischen Auffassung“.11 Das Gleiche geschieht mit dem Evidenzgedanken. Einerseits gesteht Heidegger zu, dass Husserls Bestimmung allem anderen, was darüber je gesagt wurde, weit überlegen ist. Dennoch bleibt Evidenz als Identität von Gemeintem und Selbstgegebenem – wie auch Intentionalität zum Bestimmen des Seienden – eine Funktion „des theoretischen Erfassens“.12 Die Sorge um Gewissheit bestimmt Husserls Wahrheitsbegriff in den Logischen Untersuchungen und damit auch die Deutung von Evidenz.

§ 22 Vorlesung: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“ Diese Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1925 (GA Bd. 20) kann man als eine Art Vorfassung von Sein und Zeit ansehen. Aus Zeitmangel kam es nicht mehr zur Ausarbeitung der Thematik der Zeitlichkeit. Aber wesentliche Teile, die wir dann später, in der Druckausgabe von Sein und Zeit von 1927 finden, sind hier schon vorweggenommen. Das gilt vor allem für die versäumte Frage nach dem Sein der Intentionalität und dem Sein selbst, an deren notwendiges Aufbrechen er immer wieder erinnert. In unserem Zusammenhang der Wahrheitsfrage kommt es auf die Paragrafen 5 und 6 des Zweiten Kapitels an, wo Heidegger die Situation von Philosophie und Wissenschaft in der Zeit vor dem Erscheinen Husserls in den Blick nimmt, die dann die Problematik seiner eigenen Zeit seit der (allerdings schwankenden) Präsenz und öffentlichen Rezeption der Logischen Untersuchungen überdeutlich werden lässt. Neben einer eingehenden Interpretation einiger wesentlicher Entdeckungen der Phänomenologie wird immer wieder deutlich, mit welchem Nachdruck er seiner Hörerschaft die Lektüre dieses Werks ans Herz legt. 10 11 12

Ebd. A. a. O., § 48, S. 272. A. a. O., Ergänzung 29, S. 317.

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

Husserls wissenschaftlicher Werdegang führt uns zurück zu seiner Beschäftigung mit dem Wesen der Logik, der Mathematik und der Zahl. Die Richtung seiner Arbeit stand unter dem Einfluss von Franz Brentano, der ihn noch im Gesichtskreis der Mathematik und deskriptiven Psychologie hielt. Husserls eigenes Fragen zielte aber immer mehr auf prinzipielle Probleme. Die Vermischung von psychologischer und logischer Fragestellung störte ihn. Gleichzeitig radikalisierte er die Methode seines Denkens, seine neu angesetzten „Untersuchungen drangen zu den Fundamentalbegriffen des Denkens überhaupt und der Gegenstände überhaupt vor“.13 Die Ergebnisse dieser Arbeiten liegen in den Logischen Untersuchungen vor, die für Heidegger zum „Grundbuch der Phänomenologie“14 wurden. Als neu und ungewohnt hebt er die Art hervor, wie Husserl seine Themen angeht, die insistierende, nachfragende, kritische Art, zu den Sachen selbst vorzudringen. Jeder Schritt des Denkens will nachvollzogen werden, jedes Phänomen in anschaulicher Sichtbarkeit vor Augen geführt und in Aufweisungen überprüft werden. I. Der sorgsame Umgang mit der Intentionalität als Stärkung des Gegners Die Beschreibung dieses phänomenologischen Insistierens dient Heidegger dazu, der Hörerschaft eine erste Orientierung über die fundamentale Leistung der Logischen Untersuchungen zu geben und gleichzeitig trägt sie zur Schärfung der eigenen methodischen Waffen bei.15 Was ist damit gemeint? Bei Brentano sah Husserl, wie jener die psychischen von den physischen Phänomenen unterschied und dazu die Intentionalität in Gebrauch nahm. Die Natur des Psychischen ist intentional. Aber damit war es nicht getan. Ein weiter Weg sei das gewesen von der Einordnung seelischer Erlebnisse über ein eindringliches Verständnis dessen, welche Erkenntnisse man mit Hilfe des neuen Instruments dem Psychischen abringen konnte, bis hin zur Ausarbeitung einer neuen Wissenschaft der Logik. Ganz ähnlich muss es Heidegger ergangen sein, als er bei der Nutzbarmachung der Intentionalität an die Grenzen dieser logischen Wissenschaft stieß. Es ist keineswegs so, dass er hier nur fachlich über den Werdegang seines früheren Lehrers referiert. So wie Husserl die Grenzen bei Brentanos Klassifizierung der psychischen Phänomene sah, so stehen Heidegger zu diesem Zeitpunkt schon 13

Martin Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA Bd. 20, § 4, S. 29. 14 A. a. O., S. 30. 15 A. a. O., S. 32 f.

§ 22 Vorlesung: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“

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die von Seiten der Sorge der Gewissheit misslich unterbliebenen Fragen an die Seinsstruktur des Intentionalen vor Augen. Es gibt also gute Gründe, dafür zu sorgen, dass ‚seine‘ Intentionalität, die er schon im Strukturganzen der Sorge beheimatet hat, nicht untergeht, wenngleich man auch sehen muss, dass die Intentionalität in Sein und Zeit fast gar keine Rolle spielt. Dennoch kann es in den Vorlesungen, zumal in der Zeitbegriff-Vorlesung, nicht angehen, dass die wirksame Polemik der Neukantianer, die Husserl eine bloße Übernahme der Intentionalität von Brentano unterstellten, was sie letztlich zu einer Art Mogelpackung gemacht hätte, nicht in ihre Schranken gewiesen würde. Und das tut Heidegger in dieser Vorlesung. Er geht ausführlich auf Natorp und Rickert ein und beklagt die nur mäßig erfolgreiche Rezeptionsgeschichte der Logischen Untersuchungen, die, soweit wir sehen, bis heute anhält. „Misst man die Wirkung des Werkes an dem, was es fordert, dann muss gesagt werden, dass sie, trotz der großen Umwälzungen, die von ihm seit zwei Jahrzehnten ausgegangen sind, eine geringe und uneigentliche ist.“16 Man spürt, wie unzufrieden er bei dieser Aussage ist. Er will, dass die Logischen Untersuchungen wirkungsmächtig und einflussreich sind und das auch zu dem Preis, dass er selber mit seiner eigenen Arbeit für deren Erfolg sorgt. Getreu seiner Einsicht aus der (späteren) Logik-Vorlesung, wonach „das Philosophieren sich allemal seine großen und produktiven Gegner erwecken und erwerben muss, um in der Auseinandersetzung mit ihnen erst zu wachsen und die einfache Linie der elementaren Sachen festzuhalten.“17 Man gewinnt den Eindruck, Heideggers äußerer Aufwand, die Logischen Untersuchungen phänomenologisch analysierend zu protegieren, näherte sich demjenigen Husserls, sie nach einem Jahrzehnt an Vorarbeiten niedergeschrieben zu haben. Wichtige Teile aus fünf Marburger Vorlesungen stehen dafür, sicherlich zudem auch viele Hinweise, Gespräche und detailbesessene Überzeugungsarbeit in den Seminaren. Wie kommt Heidegger nun in einer kritischen Rezeption der Intentionalität vom einfachen Sichrichten-auf bei Brentano zu Husserls Begriff der Intentionalität, von dort zu Husserls Begriff der Wahrheit und von dort zu lebendigen, inhaltsreichen Analysen des Wahrseins im Sinne der Fundamentalontologie? Diese drei Stücke und zwei Gelenke im Gedankengang der Vorlesung gilt es herauszuarbeiten und dabei nicht zu vergessen, dass sie keineswegs auf eine Analyse der Wahrheit als auf ihren Höhepunkt zuläuft, sondern auf die Gewinnung des Zeitbegriffs. 16 A. a. O., S. 32; auch Walter Biemel sieht es so. In Heideggers Stellung zur Phänomenologie in der Marburger Zeit, in ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 272 sagt er über die Wirkung dieses Werks, dass sie bis heute (1978) nicht seiner Bedeutung entspricht. 17 GA Bd. 21, § 10, S. 125.

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

II. Drei Stücke und zwei Gelenke der Gedanken auf dem Weg zur Gewinnung der Zeit In der hier auszugsweise referierten Vorlesung führt der Weg Heidegger in diesem zweiten Kapitel des vorbereitenden Teils zu den fundamentalen Entdeckungen der Phänomenologie, neben der Intentionalität zur kategorialen Anschauung und zum ursprünglichen Sinn des Apriori. Die Intentionalität ist „eine Struktur der Erlebnisse als solcher“.18 Am immer wieder zu destruierenden Beispiel Rickerts gewinnt er gegen die Vorstellung von den Vorstellungen der Vorstellungen und gegen eine illusionäre Bildtheorie den reichhaltigen und präzisen Sachverhalt der Intentionalität Husserls, welcher diesen Begriff schon aus einer gewissen Indifferenz herausgeführt hatte. Brentano sah an der Intentionalität die Noesis, die Intentio, übersah aber das Noema, das Intentum, als Strukturmoment der Intention, und damit auch die gegenseitige Zugehörigkeit von Noesis und Noema. Das ist die erste der fundamentalen Entdeckungen Husserls. In diesem Gedankengelenk bewegen sich zwei Sachverhalte: einmal (Stück 1) die Überwindung des noch nicht in ganzer Fülle offenbaren Brentanoschen Begriffs der Intentionalität und zum anderen die neue Konstitution der Intentionalität im Sinne von Noema und Noesis (Stück 2). Ein zweites Gelenk der Gedanken liegt, wie wir sehen werden, in der Stelle, wo sich das Denken verzweigt und den im Raum stehenden Wahrheitsbegriff begrifflich fasst, aber dann auch bald beiseite lässt (Stück 3 a), um in Richtung auf die Gewinnung des Zeitbegriffs weiter zu gehen (Stück 3).

18

GA Bd. 20, S. 36.

§ 22 Vorlesung: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“

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Mit dem Begriff Gelenk wollen wir den Bewegungszug eines Gedankengangs anzeigen, der von einer früheren Station ausgehend das Gelenk als eine entscheidende Zwischenstation nutzt und passiert, um von dort in neuer Richtung fortzufahren. In der Anatomie ist das Gelenk die bewegliche Verbindung von Körperteilen, die ihrerseits mehr oder weniger starr sind. In der Botanik sind Gelenke bei Pflanzen krümmungsfähige Gewebebezirke, an denen Bewegungen im Sinne von Veränderungen der angrenzenden Pflanzenteile möglich sind. In Analogie dazu können wir uns dieses ‚Vorlesungsgespräch‘ mit Husserl vorstellen. Der bereits phänomenologisch aus der Frage nach dem Dasein kommende Weg Heideggers macht in diesen Gelenken die Stationen seines Denkwegs kenntlich. Der Weg von einem zum anderen Gelenk des Gedankenwegs ist auch bestimmt durch die phänomenologische Destruktion (Neukantianer, Natorp, Rickert). Die Zusammengehörigkeit von Noesis und Noema ist nun aber nicht der Weisheit letzter Schluss, denn „die Mitgehörigkeit des Intentum zur Intentio . . . ist dunkel“.19 Dieser phänomenale Makel schmälert gleichwohl nicht die Ausarbeitungen Husserls, sondern ist vielmehr ein „erster Ansatz zur Überwindung der unkritischen Ansetzung von traditionell bestimmten Wirklichkeiten wie Psychisches, Bewusstsein, Erlebniszusammenhang, Vernunft.“20 Die Aufklärung der Intentionalität schon und gerade in den Logischen Untersuchungen, die gleichwohl noch einige Dunkelheiten zurückbehalten mochte, war nötig und eine der Voraussetzungen für Heideggers nicht zufällige Frage nach dem ontologischen Sinn dieses Noesis-Noema-Gefüges. So steht die Diskussion der zweiten Entdeckung, der kategorialen Anschauung, unter der Voraussetzung einer auch weiterhin konkreten Verfolgung der Intentionalität. Das Thema wird in der Tat nicht gewechselt, sondern konkretisiert. Die Frage ist, wie kommt Heidegger im Kolleg, das an keiner Stelle bloßes Referat ist, sondern notwendiges, phänomenologisches Hörsaal-Gespräch mit dem Autor der Logischen Untersuchungen, zu dessen Wahrheitsbegriff? Welche Bedeutung hat dabei die kategoriale Anschauung? Zunächst einmal ist sie Intentionalität und findet sich in jeder konkreten Wahrnehmung. Nun braucht er aber die Stabilität der drei Entdeckungen Husserls. Erst wenn die Festigkeit und Klarheit des Systems am Tage liegt, kann er es, mit Verlaub gesagt, umwerfen. Die Mangelhaftigkeit eines Systems der Intentionalität hätte ansonsten sein eigenes System beerbt. Sie wäre auf sein eigenes System zurückgeschlagen. Deshalb ist es ihm so wichtig, dass das System der Intentionalität zunächst einmal feste steht. So wie man zunächst 19 20

A. a. O., S. 63. Ebd.

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

aufweist, wie fest und fortschrittlich eine Burg in einem gut organisierten Land steht, um sie dann im Vorblick auf ein neues, noch besseres und festeres Gebäude einzureißen. Die Fehler, die beim Aufweis der scheinbar wohl gegründeten Burg zu Tage treten, motivieren und beschleunigen den Weg zum eigenen Neubau, der dadurch umso überzeugender sein wird. Die kategoriale Anschauung ist eine fundamentale Entdeckung Husserls, weil sie eine neue Ausarbeitung der Kategorien ermöglicht und damit eine Kategorienforschung, die diesen Namen verdient. Das wiederum führt uns zu einer fundierten Erklärung der Allgemeinbegriffe, Universalien mit Konsequenzen auf eine neue, gesicherte Auffassung des Apriori. Auch unser Begriff der Realität in seinen Gegenstandsbezügen gehört auf die Gewinnseite einer klar gesehenen, kategorialen Anschauung. Der Wahrheitsbegriff Husserls nun begegnet uns in der Struktur der kategorialen Anschauung. Der Ausweis der Evidenz der Wahrheit ist auch in dieser Vorlesung nicht Zielpunkt aller Bemühungen Heideggers, aber einer der wesentlichen Fixpunkte des Intentionalen. Dazu gehören zwei Einsichten, dass es ein schlichtes Erfassen des Kategorialen gibt und dass dieses „in der alltäglichsten Wahrnehmung und jeder Erfahrung investiert ist“.21 Diese Investition führt uns also nicht in abstrakteste Spekulationen, sondern gehört zum Bestand unserer alltäglichen Erfahrung wie auch die Wahrnehmung der Wahrheit. In Akten der Identifizierung bringt das kategorial anschauende Bewusstsein das Vermeinte mit dem Angeschauten zusammen. Wir haben darüber bereits einiges in den Logischen Untersuchungen gelesen.22 Auch die Rede über Evidenz wird erst im Horizont der Intentionalität zum gesicherten Bestand unserer phänomenologischen Erkenntnisse. Dies rechnet er Husserl als einen wesentlichen Fortschritt an.23 Der Gewinn des von Husserl neu gegründeten Evidenzbegriffs ist dreifach: Er bezeichnet die Einsicht in den reinen und absoluten Wesensverhalt, dann in individuelle Sachverhalte und die Idee, dass die beiden anderen Merkmale zusammengehören.24 An die große Bedeutung dieser Entdeckungen von Intentionalität und kategorialer Anschauung erinnert Heidegger sich noch bis in sein hohes Alter. Im Zähringer Seminar von 1973 weiß er, dass Husserl damals von der sinnlichen zur kategorialen Anschauung über eine Analogie kam. So wie die sinnliche Anschauung ist auch die kategoriale in der Lage, dem Bewusstsein den Gegenstand selbst zu geben. Dieses sinnlich Vorhandene ist der Maßstab der Analogie, das Kategoriale entspricht den sinnlichen Daten in 21 22 23 24

A. a. O., S. 64. § 8 dieser Arbeit. GA Bd. 20, S. 67. A. a. O., S. 68.

§ 22 Vorlesung: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“

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der sinnlichen Anschauung. Dadurch wird plötzlich ein kategorial sichtbares „Ist“ ohne weitere Deduktion auffindbar.25 Und erst aus der fundamentalen, phänomenologischen Gewinnung der Intentionalität und darin gründend der kategorialen Anschauung und ihren Evidenzerlebnissen gewinnen wir einen fundierten Begriff von Wahrheit. Ohne diese vorlaufenden Entdeckungen wäre auch der Terminus Wahrheit in seinem Status der Verdecktheit stecken geblieben. Es ist also eine zwingende Notwendigkeit, die Husserlsche Wahrheit im Horizont der Intentionalität zu sehen. In ihm und dem Fundus seiner Entdeckungen (kategoriale Anschauung, Apriori) verliert Wahrheit das Ungenaue und Gewagte ihrer traditionellen Bestimmungen. Stattdessen zeigt sie sich im „vollen Strukturzusammenhang der Erkenntnis“,26 und zwar in drei Begriffen: Der erste Begriff der Wahrheit meint den „Bestand der Identität“27 aus Vermeintem und Selbstgegebenem, den das Bewusstsein im Akt der Evidenz erlebt. Hierbei denkt Heidegger wohl an den 1. Abschnitt des § 39, wo Husserl auf die Übereinstimmung und den gegenständlichen Sinn der Wahrheit abhebt, sein Intentum. Der zweite Begriff der Wahrheit betont eher die Aktseite, das Adaequare, das Noetische der Wahrheit in Intentionalität, die bei Husserl ebenfalls in diesem 1. Abschnitt behandelt wird. Aber auch im 3. Abschnitt behandelt er die Akte von ihrer Vollzugsseite her, wenn er sie zum Ort der Evidenz macht. Jeder der beiden Wahrheitsbegriffe für sich genommen, so Heidegger, ist „unvollkommen“.28 Der dritte Begriff der Wahrheit findet sich noch einmal im Noema des Wahrnehmungsvorgangs und bedeutet so viel wie ein wahrmachendes „Sein, Wirklich-Sein“.29 Ähnlich drückt Husserl es im 3. Abschnitt aus, wenn er von der idealen Fülle der Intention als „w a h r m a c h e n d e r“30 spricht. In diesen drei Begriffen der Wahrheit erkennen wir zumindest teilweise Husserls Wahrheitsdefinition aus § 39 der VI. Logischen Untersuchung wieder, allerdings in einer besonderen, einer neuen Zuspitzung. Eine Besprechung der Urteilsrichtigkeit als Ort der Wahrheit, von der Husserl in Absatz 4 handelt, fehlt in dieser Trias, weil beide (und auch alle drei) Wahrheitsbegriffe letztlich Begriffe der Urteilswahrheit und der objektivierenden Akte sind. An dieser Stelle wird Heidegger, wie er ausdrücklich ankün25 26 27 28 29 30

GA Bd. 15, S. 376 (114). GA Bd. 20, S. 69. Ebd. A. a. O., S. 71. Ebd. VI. Logische Untersuchung, § 39, S. 652 (123).

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

digt,31 den Hebel ansetzen, um diese Begriffe von Wahrheit, deren relative Fortschrittlichkeit er durchaus gelten lässt, zu Fall zu bringen. „Die Phänomenologie [Husserls] bricht sonach mit der Beschränkung des Wahrheitsbegriffes auf beziehende Akte, Urteile“.32 Das aber reicht nicht aus für ihre Rekrutierung im System der ontologisch existenzialen Analyse. In Sein und Zeit suchen wir die drei Wahrheitsbegriffe unter der Deskription der traditionellen Wahrheitsbegriffe, also in § 44 a, vergeblich. Hier geht es aber auch nicht um Husserls Begriffe der Wahrheit, sondern um den traditionellen Wahrheitsbegriff überhaupt (die freilich mittelbar zusammenhängen). Beide Begriffe von Wahrheit, er weist zwar drei Wahrheitsbegriffe aus, nennt dann aber zwei, weil der dritte das Verhältnis zwischen den beiden anderen betrifft, halten sich seit dem Erscheinen der Logischen Untersuchungen (1900/07 bis 1925) durch. Auch in diesem 2. Stück des ersten Gedankengelenks bewegen sich zwei Sachverhalte: zum einen der aufgrund der vorangegangenen Analysen zu einer vorläufigen Klarheit gebrachte Begriff der Intentionalität und zum anderen die neue Konstitution des Wahrseins bei Husserl. In der Passage dieses Gelenks zeigt sich nun die analytische Fruchtbarkeit für den Wahrheitsbegriff. Wenn auch das Hauptwachstum, um im organischen Bild zu bleiben, sich in Richtung auf eine Analyse der Zeit bewegt, so findet doch hier, wie in der Vorlesung aus dem WS 1923/24, quasi in einem Seitenarm des phänomenologischen Geschehens, auf einem ‚Nebenschauplatz‘, die Klärung des Husserlschen Wahrheitsbegriffs statt, so wie Heidegger ihn uns vor Augen führt. Auch hier bleibt es bei einem gewissen Unbehagen auf seiner Seite, denn die Husserlsche Interpretation von Wahrheit und Sein sei nicht ganz ausreichend, aber notwendig und geeignet als Vorbereitung des Verständnisses der kategorialen Anschauung.33 Ebenso wie die kategoriale Wahrnehmung in der Intentionalität wurzelt, so kann Wahrheit ein Akt der kategorialen Anschauung sein und gehört damit in den Rahmen dieser fundamentalen Entdeckungen. Eine Bemerkung zur Begrifflichkeit Heideggers in den beiden bisher besprochenen Vorlesungen: Während in der Vorlesung aus dem genannten Wintersemester Heidegger seine neuen Analysen der Sorge der Gewissheit vor dem Horizont der Daseinsverfassung der Sorge vorführt, ist in den §§ 5 und 6 des Zweiten Kapitels des vorbereitenden Teils, die uns hier beschäftigen, zumindest die Wahl der Begrifflichkeit eine ganz andere: Die Sorgethematik ist weitgehend weggeblendet. Das könnte zu der Vermutung verleiten, er teile, ohne die Distanz eines Sorgehorizontes, auch inhaltlich das 31 32 33

GA Bd. 20, S. 73. Ebd. A. a. O., S. 74.

§ 23 Vorlesung: „Logik. Die Frage nach der Wahrheit“

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Ergebnis der Husserlschen Analysen und referiere diese nur in der vollen Zustimmung seinen Hörern gegenüber. Vor diesem Irrtum müssen wir uns allerdings hüten. Vielmehr ist die Perspektive, trotz Abblendung einer Sorgehaltung gegenüber der erkannten Erkenntnis und Zweifel an der Gewissheit des Erkannten, im Sinne einer phänomenologischen Reduktion und Destruktion, eine mit der ersten vergleichbare. Die Frage nach der Wahrheit nährt sich methodisch aus der Sorge um die Erkenntnis. Ein zweites Gedankengelenk mit einem 3. Stück könnte nun durch die Infragestellung dieses intentionalen Begriffes der Wahrheit gegeben sein oder erreicht werden, so wie wir es aus Sein und Zeit, § 44 b kennen. Der ursprüngliche Sinn der Wahrheit als in der Erschlossenheit des Daseins wurzelnd oder, ganz anders, wiederum aus der Sicht der Sorge der Gewissheit. Beide Erwartungen gehen fehl. Stattdessen verfolgt Heidegger die Ausbildung der phänomenologischen Forschung und die Gewinnung des Zeitbegriffs.

§ 23 Vorlesung: „Logik. Die Frage nach der Wahrheit“ In dieser fünften Marburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1925/26 (GA Bd. 21) von insgesamt zehn geht es Heidegger zunächst um die Herausarbeitung der traditionellen Logik, der er die Logik der Philosophie entgegenstellt. Diese sieht er mit der Frage nach der Wahrheit verbunden. Im Mittelpunkt des ersten Hauptstücks steht die Wahrheitsdeutung des Aristoteles aus dessen Metaphysik, Kapitel Q 10. Im zweiten Hauptstück geht es um die Frage der Wahrheit im Horizont von Heideggers eigener, stets im Hintergrund präsenten Daseinsanalytik mit dem Schwerpunkt auf der Temporalität. Eine Auslegung der Zeitthematik in Kants Kritik der reinen Vernunft ist eingearbeitet. Wir wenden unsere Aufmerksamkeit besonders der so genannten „Vorbetrachtung“ zu, weil Heidegger hier wiederum eine der für ihn (und uns) wichtigen Positionen zeitgenössischer Logik entfaltet, im Psychologismus-Buch aus Husserls Logischen Untersuchungen. Während in der ersten Marburger Vorlesung die verunstaltete Intentionalität und Evidenz in der Betrachtung der Sorge der Gewissheit stehen, geht es im vierten Kolleg aus dem Sommersemester 1925 zwar wieder um die Intentionalität, diesmal aber um ihre Verwandlung und phänomenologische Ausarbeitung auf dem Weg von Brentano zu Husserl in bestimmten Gedankengelenken. In der ersten Marburger Vorlesung war es die Sorge der Gewissheit, in welcher Gestalt Heidegger die Intentionalität als verunstaltete vorführte, die dann in dieser 4. Marburger Vorlesung in Bezug auf ihren Sorgecharakter abgeblendet wurde, so dass man den Eindruck gewann, er sehe gleichsam aus den Augen Husserls.

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

In dieser fünften Marburger Vorlesung ist es ganz ähnlich wie in der vierten: Heidegger spricht in der Sprache Husserls. Warum? Wir vermuten, aus Gründen der besseren Verständlichkeit. Wenn die Hörerschaft neben der Darstellung einer ihnen vermutlich noch fremden Philosophie des Bewusstseins auch noch die Zumutung der fremden Sprache der Daseinsontologie erlebt hätten (wie in der ersten, der Einführungs-Vorlesung), dann war die Überforderung für manch einen vielleicht gleich eine doppelte. Auf der anderen Seite: Die Sprechweise aus den Begriffen Husserls barg die andere Gefahr in sich, dass man glauben konnte, Heidegger verkünde Husserls phänomenologische Entdeckungen als seine eigenen. Das gilt für uns Heutige ganz genauso. Daher ist es wichtig, auf die Stellen der Vorlesung zu achten, an denen er mitten im Husserl-Diskurs bewusst auf diese Differenz aufmerksam macht, damit ein Gelenk seines Gedankens sichtbar macht. So etwa am Ende von Punkt 2 in § 10, wo er die positiven Beiträge des Psychologismus für das Wahrheitsphänomen zusammenfasst und hinzufügt: „Ob das freilich die letzte Antwort ist, bleibt dahingestellt.“34 Nun, in dieser fünften Marburger Vorlesung, steht wiederum Heideggers gegenwärtige Lage der philosophischen Logik auf dem Programm, aber diesmal mit klarem Fokus auf Husserls Psychologismuskritik. Die Frage nach der Wahrheit gerät danach ins Zentrum der Betrachtung. Soweit dies im Zusammenhang mit Husserl steht, werden wir darauf eingehen. I. Die Psychologismuskritik als Vorstufe einer Frage nach der Wahrheit Biemel, der Herausgeber dieser Marburger Vorlesung, ist in seinem Aufsatz von 1978 auf der Suche „nach dem gemeinsamen Grund“35 in der Phänomenologie beider Denker, um dann auch die sich voneinander entfernenden Denkwege sichtbar zu machen. Als friedvolle Arbeitsgemeinschaft bezeichnet er das Löwener Husserl-Archiv und seine jeweiligen Teams. Gegenstrebige, auch populärere Tendenzen waren ja schon genug beschrieben worden, und die nun kontinuierlich erschienenen Vorlesungen konnten dazu beitragen, den ‚Streit‘ zwischen Husserl und Heidegger realistischer einzuschätzen – in diesem Zusammenhang auch die Logik-Vorlesung. Biemel fragt, warum Heidegger seine Vorlesung nicht unmittelbar mit der Entwicklung seiner Wahrheitsthematik begonnen hätte, sondern mit der Kritik am Psychologismus.36 Dies geschah, um, auch im Sinne Husserls, nachzuwei34

GA Bd. 21, S. 109. Walter Biemel: Heideggers Stellung zur Phänomenologie in der Marburger Zeit, S. 226. 36 A. a. O., S. 300. 35

§ 23 Vorlesung: „Logik. Die Frage nach der Wahrheit“

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sen, dass die Psychologie als Grundwissenschaft ausscheide. Von ihr also ist das gesuchte Fundament für die Gründung einer neuen Logik und damit eines neu gegründeten Wahrheitsbegriffs nicht zu erwarten. Nur, so fragt Heidegger, wie kam Husserl dazu, die Psychologie und ihre in der Philosophie vorherrschenden Tendenzen zu befragen? Biemel fasst die Psychologismuskritik in Entwicklungsergebnissen zusammen: „Wie die Wahrheit zur Geltung wurde“37 und „wie die Wahrheit zum Wert wurde.“38 Mit diesen beiden Tendenzen sieht er Heidegger auf gemeinsamem Boden mit Husserl. Sie fassen die zeitgenössischen und ins 19. Jahrhundert zurückweisenden Interpretationen der Geltungs- und Wertelogik zusammen und decken auf, wie es unmöglich war, darauf ein System der Wahrheit zu bauen. In demselben Aufsatz sucht Biemel die von Heidegger stammende, etwas rätselhafte Paragrafen-Überschrift „Antikritische Fragen“ zu deuten. Was ist damit gemeint? Sind es Fragen, die eine kritische Tendenz der Fragerichtung verhindern sollen? Wohl kaum. Sollen in diesem Paragrafen die Ausmaße des kritischen Fragens begrenzt werden, etwa, um deren Bezirke zu definieren? Damit würde die Kritik einer Kritik unterzogen, und so ist es auch. Es zeigt sich nämlich in diesem § 10, wie Heidegger „in seiner Kritik des Psychologismus doch zugleich den wahren Kern aus der Position des Psychologismus bewahrt.“39 Diese der Sache (Husserls) dienende Einschränkung der Kritik konnte man vor der Publikation der Vorlesung freilich nicht verfolgen. Sie war also 1976 ganz neu und ist es auch noch in unserer Zeit. Gleichwohl zielt der nächste Frageschritt auf die Voraussetzungen, die Husserls Begriff der Wahrheit mit sich bringt, und da wird es keine antikritische Eingrenzung mehr geben. Gleich auf den ersten Seiten der Vorlesung stellt Heidegger die begrenzten Erfolgschancen, die Logik philosophisch weiterzubringen, heraus. Was Aristoteles begründete und Hegel vollendete, werden auch die konstruktiv Denkenden der 1925 gegenwärtigen Weltzeit kaum nach vorne bringen. Das sei keine Frage der sich immer weiter vererbenden Probleme, sondern des fehlenden „neuen Geschlechtes“. Was die wenigen Zeitgenossen leisten könnten, die verstanden hätten, was die Aufgabe der Gründung einer neuen Logik sei, „liegt in der Übergangsarbeit“,40 die als solche nicht gering zu 37

A. a. O., S. 305. A. a. O., S. 307. 39 A. a. O., S. 311. 40 GA Bd. 21, S. 14; vgl. Klaus Neugebauer: Selbstentwurf und Verhängnis. Ein Beitrag zu Adalbert Stifters Verständnis von Schicksal und Geschichte, in der der Verfasser Stifters Geschichtsauffassung als Position einer Übergangszeit zwischen Goethe und noch vor der vollen Vereinnahmung durch das heraufziehende, technische Zeitalter deutet. Der Mensch des Übergangs ist der bewahrende, sammelnde, zurückhaltende und vorbereitende. Der Anstoß zu dieser Arbeit kam letztlich aus 38

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achten sei, denn die Produktivität der Vergangenheit gelte es neu zu wecken. Das ist kein Topos der Bescheidenheit, der den Redner, der sich in Gesten der eigenen Zurücknahme übte, umso höher aufsteigen ließ. Sondern es entspricht der tatsächlichen Überzeugung Heideggers, der sich in vielen Fragen in einer geschichtlichen Zwischenposition sah. So auch hier in der Hebung und damit Stärkung der überlieferten Begriffe von Logik und Wahrheit. Eine der zu befördernden Positionen stellen Husserls Logische Untersuchungen dar, durch die „die Logik der Gegenwart einen Stoß [erhielt], durch den sie – relativ gesprochen – wieder mehr in die Dimension philosophischen Fragens gedrängt wurde.“41 Aus der Wirkungsgeschichte dieses Werks lässt sich Heidegger selber zu einer näheren Besprechung des ersten Bandes anregen, weil dieser mit seiner Kritik an der Logik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heftiger gewirkt hätte als die positiven Analysen aus dem zweiten Band.42 Die zentrale Frage, die in § 9 behandelt wird, lautet: „Wie wird im Psychologismus sowohl wie in seiner Kritik Wahrheit gefaßt?“43 Das setzt voraus, dass (Husserls) Kritik des Psychologismus einen Wahrheitsbegriff protegiert, der nicht ganz verschieden sein kann von demjenigen der VI. Logischen Untersuchung. Zudem hat dieser Begriff dieselbe Fassung wie die kritisierten logischen Theorien von Lotze und anderen. Dies sagt Heidegger im Vorausblick auf die eigene Entwicklung des Wahrheitsbegriffs aus der Wesensverfassung der Erschlossenheit des Daseins. Von daher gesehen sind die Wahrheitsbegriffe des Psychologismus und der ihn kritisierenden Phänomenologie Husserls auf dieselbe Weise traditionell. II. Die Urteilswahrheit in Lotzes Geltungslogik Der Argumentationsgang ist der folgende: Der Ort der Wahrheit ist das Urteil. Wahrheit, das ist die Wahrheit des Satzes und dessen Geltung. Dies zeigt sich besonders deutlich an den Positionen von Rudolf Hermann Lotze und in deren Weiterführung bei Windelband und Rickert. Lotze bemühte sich, die Tradition des deutschen Idealismus mit der Naturwissenschaft in Einklang zu bringen. Den Begriff Sein gebraucht er im Sinne des realen Seins, der Realität, der Vorhandenheit. Für ihn ist die Wirklichkeitsform der Ideen das Gelten. Wahrheit ist so etwas wie der Zusammenhang von Vorstellungen, die man zwar nicht mit Seiendem außerhalb von Vorstellungen dem Studium der Grundpositionen der Philosophie und der daraus resultierenden, spezifischen Aufgaben eines Zwischen-den-Zeiten-seins. 41 A. a. O., S. 33. 42 A. a. O., S. 33 f. 43 A. a. O., S. 62.

§ 23 Vorlesung: „Logik. Die Frage nach der Wahrheit“

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und damit außerhalb des Bewusstseins vergleichen kann, aber innerhalb des Bewusstseins kann man sie schon vergleichen und nach einem gesetzmäßigen Zusammenhang von Vorstellungen untereinander beurteilen. Wahrheit ist demnach das in den wechselnden Vorstellungen Bleibende, was sich als das stets Selbe durchhält. Diese ‚inneren‘ Wahrheiten wie Schwärze, Süße usw. bestehen ganz unabhängig von der Gegebenheit in der Realität, müssen also nicht verifiziert werden. Heidegger sieht darin eine Aufnahme der ideae Descartes‘. Also sind die Ideen das Wahre. Lotze kommt zu vier für ihn nicht weiter ableitbaren Formen der Wirklichkeit: Sein, Geschehen, Bestehen und Gelten. Geltung liest er von der Wirklichkeitsart des Satzes ab. Sie ist laut Lotze die Form der Wirklichkeit des wahren Satzes.44 Über Wahrheit selbst haben wir nichts von ihm, seine Aussagen darüber erschöpfen sich in Beschreibungen der Aussagewahrheit. Geltende Sätze sind wahr. Ihr Wert wird anerkannt. So kommt die Philosophie dazu, Wertphilosophie zu werden, damit auch eignet sie sich vor allem kulturelle Aufgaben an. Die Frage nach dem Wesen von Wahrheit, so wie Husserl sie stellt und wie Heidegger sie gerade dabei ist, neu in Gang zu bringen, wird so nicht gestellt und nicht beantwortet. Die Ursprünge dieser Geltungslogik liegen in der griechischen, aber nicht der vorsokratischen Philosophie. Geistige Adaptationen vollzog Lotze bei Descartes und Kant. Hier macht er letztlich auch den Unterschied zwischen idealem und realem Sein fest. Der wahre Satz ist der, der gilt. Heidegger macht am Schluss seiner Ausführung in § 9 darauf aufmerksam, dass er keine an Husserls Text entlanglaufende Besprechung von Lotzes Gedankengängen gegeben hat, sondern eine kritische, aber aus dem Positiven heraus kommende Darstellung der Geltungslogik. Während Husserls Darstellung auf die Notwendigkeit seines phänomenologischen Ansatzes hinauslief, will Heidegger das Versäumnis der Fragen nach Wahrheit und Sein beachtet sehen. Auch an der Gleichsetzung von Sein und Vorhandenheit und der Geltungshoheit des Satzes als einzigem Ort der Wahrheit seien Zweifel angebracht. Weder Lotze noch seine Geltungslogik, noch die Psychologie oder der Psychologismus seien in der Lage, die drängenden Fragen nach Wahrheit und Sein zu lösen. Husserls Kritik des Psychologismus wirkte zwar, blieb aber letztlich bis 1925 unverstanden. Man warf ihm vor, und das sogar, wegen seiner oft missverständlichen Verwendung des Begriffs Psychologie, mit einigem Recht, dass er mit der Publikation von Band II der Logischen Untersuchungen in die alte Denkweise der Psychologen, also auch Lotzes zurückgefallen sei. Wir haben hier, im § 10, wieder eins dieser Gedankengelenke vor uns. Heidegger macht die Stelle sichtbar, wie sich nun ihrer beider Wege aus44

A. a. O., S. 73.

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einander wenden und verschiedenen Zielen zustreben: Während Husserl nach dem Mittel suchte, den Unterschied zwischen Realem und Idealem verständlich zu machen, und es im Intentionalen fand, geht es Heidegger, der bisher, wenn auch mit anderem ‚Fernziel‘, diesen Weg mitgelaufen ist, um etwas anderes. Für ihn ist es zweifelhaft, ob es sich überhaupt lohnt, dem Unterschied dieser Dualitäten von Sinnlichem – Unsinnlichem, Seiendem – Geltendem usw. nachzufragen. Es besteht für ihn gar nicht die Not, über die Kluft zwischen Realem und Idealem eine Brücke zu bauen. Das sind für ihn erfundene, also überflüssige Probleme. Während Husserl sich diese Fragerichtung seines Lehrers Brentano quasi angeeignet hat und sich in den Logischen Untersuchungen daran machte, das Wesen des Intentionalen zu klären, will Heidegger nun die Seinsart solcher Dualitäten aufklären und zeigen, dass man sich dadurch der alten Problematik einer seit der griechischen Antike her bestehenden, missverstandenen Unterscheidung von Innen und Außen überheben kann. Sein eigener Weg führt also nicht zur Geltungslogik Lotzes, sondern wiederum über Husserls Intentionalität und den Begriff der Ausweisung zu Aristoteles, wo er die Wurzeln des traditionellen Wahrheitsbegriffs findet. Noch im Zähringer Seminar von 1973 erinnert er sich und die Teilnehmer an Husserls und seinen gemeinsamen Ausgang bei Brentanos Schriften. Bei Husserl war es dessen „Psychologie vom empirischen Standpunkt“, bei ihm „Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles“.45 Ähnlich wie in der Marburger Zeitbegriff-Vorlesung kommt Heidegger zum Begriff der Wahrheit bei Husserl über die Ausweisung. Unsere Kenntnis der Sachen und Rede darüber ist abhängig von der Ausweisung. Möglichst soll die Sache selbst in voller Anschaulichkeit gegeben sein. Der Leere des bloßen Vorstellens steht die Fülle der Anschauung gegenüber. Darüber hinaus kann die Anschauung ein bloßes Vermeinen erfüllen, und zwar im Sinne von einlösen. Die Grade der Erfüllung können abgestuft sein. Ein Wissensgehalt neigt dazu, ausgewiesen zu werden. Diese Ausweisung vollzieht sich intentional. Vor dem Hintergrund der Lotze-Diskussion ist es Heidegger wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass dieses ausweisende Sichrichten-auf keine zur Deckung zu bringenden Vorstellungen und Anschauungen sind. Die leere Vorstellung weist sich aus und braucht dazu keinen zusätzlichen Akt der Identifizierung, sondern ist dieser intentionale Akt selbst, der durch Erfüllung Evidenz sein kann. Wenn dasselbe ist Gemeintes und tatsächlich Angeschautes, dann ist die Sache wahr.46 Wahrsein bedeutet, dass die beiden Relationsglieder Vermeintes und Angeschautes identisch sind. 45 46

GA Bd. 15, S. 385 f. (123 f.). A. a. O., S. 109.

§ 23 Vorlesung: „Logik. Die Frage nach der Wahrheit“

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Sogleich bestimmt Heidegger den phänomenalen Ort, an dem die Wahrheitsanalyse gerade angekommen ist und ihre Sicherheit gefunden hat, mit einem Fragezeichen. Damit gibt er am Ende des 2. Abschnitts von § 10 den formalen Hinweis, dass im Rahmen seiner Untersuchung des Psychologismus, bei der er ja die starken, positiven Elemente hervorkehren wollte, in der zu findenden Definition des Wahrheitsphänomens noch nicht der letzte Grund entdeckt ist. Dem geht er im Abschnitt 3 nach. In beiden Definitionen (Urteilswahrheit aus Abschnitt 1 und Erkenntniswahrheit aus Abschnitt 2) leuchten Grundbegriffe aus der griechischen Tradition auf. In der Satzwahrheit schimmert der zentrale Begriff des Lügoò durch, in der Wahrheit der identifizierenden Erkenntnis der ebenso zentrale Begriff des Nou~ò. Nun leitet ihn die Frage, in welchem Zusammenhang die Urteilswahrheit mit der gerade aufgewiesenen Wahrheit der Anschauung steht, der mit Lügoò und Nou~ò ‚irgendwie‘ zu tun haben mag. III. Der phänomenologische Vorrang der Anschauungswahrheit Nun zeigt sich, dass die Anschauungswahrheit vor der Satzwahrheit einen phänomenologischen Vorrang hat. Mit der „charakteristisch weiten und grundsätzlichen Fassung der Anschauung“,47 dadurch dass er ihr intentionales Fundament fand, ist Husserl nicht nur eine grundlegende Entdeckung der Phänomenologie gelungen48, sondern er hat „die große Tradition der abendländischen Philosophie zu Ende gedacht“.49 Das ist so eine Textstelle in der Vorlesung, die methodisch den Zweck hat, den philosophischen Gegner möglichst in seinen positiven, eigentlichen Argumenten zur Geltung zu bringen, ihn also gerade nicht, wie der vulgäre Verstand vermuten könnte, in seinen Schwächen zu zeigen oder ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Gerade umgekehrt leuchten die besten Manieren des handwerklich geübten Denkens besonders deutlich, wenn die Hörerschaft zu der Überzeugung gelangt, durch die Darstellung an einer großen Tradition teilhaben zu können und mit dem Vortragenden am Endpunkt der abendländischen Philosophie zu stehen. Oder ist das nur eine geschickt eingesetzte rhetorische Figur? Zunächst mal muss uns deutlich sein, dass Heidegger unsere Aufmerksamkeit auf die vielleicht wesentlichste, philosophische Aussage seiner Zeit lenken will, auf den Begriff der Anschauung in „dieser erstmalig radikalen Fassung“.50 Damit zeigt er den Begriff der Wahrheit im Rahmen eines neuen, radikalen Systems der Phänomenologie 47 48 49 50

A. a. O., S. 113. Vgl. GA Bd. 20, § 6. GA Bd. 21, § 10, S. 114. Ebd.

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des Bewusstseins, das durch Intentionalität, Anschauung und Evidenz gebildet ist, und zitiert aus Husserls Ideen einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie das „P r i n z i p a l l e r P r i n z i p i e n : dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle d e r E r k e n n t n i s s e i, dass a l l e s, was sich uns i n d e r ‚I n t u i t i o n‘ o r i g i n ä r (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) d a r b i e tet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da g i b t, [daran] kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.“51 Die Intuition ist das „Prinzip aller Prinzipien“.52 Um die Prominenz seines Gewährsmanns noch zu untermauern, macht Heidegger den Stellenwert Husserls in der abendländischen Philosophie deutlich, indem er ihn in eine Reihe mit Kant, Leibniz, Descartes, Thomas und Hegel stellt.53 Am Ende des § 10 tritt Heidegger gleichsam einen Schritt vom engen Verhaftetsein mit seinem Sachthema „Psychologismus und Wahrheitsfrage“ zurück und macht deutlich, dass seine eigenen Fragen, die er aus der schon erfolgten Auseinandersetzung geschöpft hat, ihn notwendig vom Psychologismus und Husserls Lesart der Wahrheitsfrage wegführen, da er dort keine Antworten findet. Die Fragen „Warum ist Wahrheit als Identität interpretiert?“ und „Warum ist das Sein des Wahren Gelten?“ machen einen Rückgang auf Aristoteles notwendig. Vergleichbare Gelenke der Gedanken halten sich in den von uns besprochenen Vorlesungsabschnitten durch. Die Struktur des Bewusstseins ist Intentionalität. Das Sichrichten-auf hat die Tendenz der Ausweisung, die wiederum den Charakter der Evidenz hat. Damit sind stichwortartig wesentliche Grundzüge von Husserls Auffassung der Wahrheit genannt. Etwa in diesem Zusammenhang werden sie in den Marburger Vorlesungen abgehandelt. Die Unterschiede der Vorlesungen liegen also nicht so sehr in ihrem thematischen Gegenstand. Sie liegen vielmehr in einer jeweiligen Änderung der Blickrichtung auf die Sache der Wahrheit bei Husserl. Diese ist auch vom Kontext des jeweiligen Vorlesungsthemas abhängig. So geht es bei einer Einführung in die phänomenologische Forschung um Husserls Versäumnis der Seinsfrage (drittes Kapitel) und da wiederum um das Wesen der Intentionalität als eines spezifisch theoretischen Sichverhaltens und die Bedeutung der Evidenz. Die Seinsfrage wird unter anderem dadurch verstellt, dass Husserls Frage nach dem Intentionalen gleich auf das theoretische Erfassen geht. Wahrheit kommt beim Evidenzgedanken in den Blick (Bd. 17). 51 52 53

Ebd., Hu Bd. III, 1, § 24, S. 51. Hu ebd. GA Bd. 21, § 10, S. 114 ff.

§ 24 Vorlesung: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“

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Auf dem Weg zu einer Erfassung des Zeitbegriffs ist eine Klärung von Sinn und Aufgabe der phänomenologischen Forschung vonnöten, besonders geht es um die fundamentalen Entdeckungen der Phänomenologie. Die Wahrheitsfrage stellt sich im Feld der Beschreibung dieser Entdeckungen der Intentionalität, der kategorialen Anschauung und des Apriori (Bd. 20). Auch in der Logik-Vorlesung, die eine eingehende Interpretation der Psychologismuskritik bringt, steht die Wahrheitsauffassung Husserls im Blick. Diesmal aber im Horizont der Wahrheitsthematik der Geltungslogik, die nur zu einem klareren Begriff in den Grenzen der Urteilswahrheit kommt. Man sieht deutlich, wie groß der Schritt ist, den die Intentionalität des Bewusstseins und seine Evidenzfähigkeit über Lotze und den Psychologismus hinaus tut. Die Anschauung als letztes Erkenntnisprinzip gibt Heidegger den Impuls, seinerseits über die Logischen Untersuchungen hinaus zu gehen (Bd. 21).

§ 24 Vorlesung: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ Diese Vorlesung aus dem Sommersemester 1927 nimmt durch ihre eigentümliche Verknüpfung mit Sein und Zeit eine Art Sonderstellung im Verbund der Marburger Vorlesungen ein. Sie ist ihrer Anlage nach mehr als ein bloßes Angebot an die Hörer, nämlich die „Neue Ausarbeitung des 3. Abschnitts des I. Teiles von ‚Sein und Zeit‘ “54 Also ist sie nicht nur Manuskript für das Kolleg, sondern auch die Weiterführung einer in Sein und Zeit verlassenen Thematik, offenbar ohne Publikationsziel. Heidegger hatte zu Beginn des Jahres 1927 eine bereits vorliegende, erste Ausarbeitung „dieses wichtigsten Abschnittes der ganzen Abhandlung“55 zurückgezogen und vernichtet. Darüber hinaus, so sieht von Herrmann die Position der Grundprobleme-Vorlesung, ist sie eine Art Verbindungstür zwischen Sein und Zeit und den ab 1932 geplanten Beiträgen zur Philosophie.56 Biemel, der die Anfänge der Vorlesungen als programmatische Selbstanweisungen Heideggers liest, entnimmt dem Beginn der Einleitung den Plan einer Charakterisierung der Phänomenologie, die nicht als Bericht über . . ., sondern als Vollzug ihrer selbst dargestellt werden soll. Darin sieht er einen Unterschied zum Beginn der Zeitbegriff-Vorlesung, wo es zunächst einmal um die konkreten Entdeckungen ging, die die Phänomenologie selbst schon geleistet hatte. Das war also ein Bericht über sie selbst. In der Entfaltung der Phänomenologie im Vollzug der Vorlesung sieht der um Integration be54 55 56

GA Bd. 24, § 1, S. 1. F.-W. von Herrmann: Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie“, S. 9. A. a. O., S. 11.

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

mühte Biemel ein einigendes Element zwischen Husserl und Heidegger. Beide Denker philosophieren in ihren zeitgleich in Marburg und Freiburg stattfindenden Vorlesungen, statt nur über Philosophie zu reden.57 Im ersten der drei Teile, um den es uns vorwiegend gehen wird, greift Heidegger wiederum auf einige klassische Begriffe der traditionellen Philosophie zurück. Im einzelnen sind es vier Thesen über das Sein: Kants These, Sein sei kein reales Prädikat; die letztlich auf Aristoteles zurückgehende These, zum Sein gehöre das Wassein und das Vorhandensein; die These der neuzeitlichen Ontologie vom Sein der Natur und dem Sein des Geistes und die These der Logik über das Sein der Kopula. Wir finden unsere Ansatzpunkte überwiegend in der zuletzt genannten vierten These, die sich in § 16 des Vierten Kapitels des 1. Teils befindet. I. Die vierte These: Von der Logik zum Grundproblem Wahrheit Auch in dieser vierten These, sowie in den anderen drei, finden wir Heideggers Suche nach einem fundamentalontologischen Grundproblem. Er sagt es gleich zu Beginn: „Die Vorlesung macht sich zur Aufgabe, die Grundprobleme der Phänomenologie zu stellen, auszuarbeiten und streckenweise einer Lösung näherzubringen.“58 Ein Problem stellen bedeutet zweierlei: Stellen im Sinne von Aufstellen, Hinstellen und damit für das fragende Denken sichtbar machen. Und zum anderen: Stellen im Sinne von Zur Rede stellen und Befragen, dadurch am Verschwinden hindern. In diesem zweiten Stellen schwingt eine gewisse Provokation mit. Probleme, die vielleicht auf der Flucht sind, werden gestellt, zum Sprechen gebracht. Das ist mehr als die hinleitende Einführung in die Grundprobleme, von der kurz darauf59 die Rede ist. Beiden Bedeutungen ist der Charakter des Aufschließens, des in Erscheinung-bringens gemeinsam. Man muss sich immer wieder klarmachen, dass es in der Philosophie nicht darauf ankommt, Probleme möglichst rasch und geräuschlos zu beseitigen, so wie wir es in unserem beruflichen oder privaten Alltag zu tun gewöhnt sind. Eine Aufgabe, eine Arbeit müssen wir bei unseren täglichen Verrichtungen in möglichst kurzer Zeit und effektiv dazu, vom Tisch haben. In der Phänomenologie ist es gerade umgekehrt: Es wird ein erheblicher denkender, auch geselliger (im Wortsinn unseres Vorworts) Aufwand getrieben, Probleme, etwa die Grundprobleme der Phänomenologie, erst 57

Walter Biemel: Heideggers Stellung zur Phänomenologie in der Marburger Zeit, S. 318. 58 GA Bd. 24, § 1, S. 1. 59 Ebd., Zeile 20 f.

§ 24 Vorlesung: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“

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einmal herbeizuschaffen, da sie nicht von sich aus auf der Hand liegen, für jeden von uns schon von weitem erkennbar. Sicher geht es auch darum, schrittweise eine Lösung zu erarbeiten, aber die Anlieferung der Probleme, ihre Präsentation, nicht ihre Beseitigung, ist die eigentliche Leistung der phänomenologischen Analyse, weil diese dem fragenden Denken nicht einfach vorgegeben sind, wie wir schon in der Einleitung dieser Arbeit vermuteten. Die Erschließung des Sachgehalts und ihrer Systematik scheint ihr wahrer Schatz zu sein. Dass dies nichts mit sich selbst bespiegelnder Grübelei zu tun hat, ist vielleicht eines der Nebenergebnisse unserer Darstellung. Auffallend ist, dass diese Vorlesung keine konkrete Zuordnung zur Phänomenologie des Bewusstseins, zumal nicht zu Husserls Logischen Untersuchungen schafft. Er gehört nicht in derselben Weise wie noch in der Logik-Vorlesung zu den direkten Gegenständen der Verhandlung, stellt nicht ausdrücklich mit Namen und Werk eins der vier Einzelprobleme der Vorlesung dar, die als Beispiele der traditionellen Thesen des Seins geeignet sind und zur Auffindung der Grundprobleme herangezogen werden. Auch die Frage der Wahrheit wird ohne direkte Zuweisung auf Husserls Logische Untersuchungen gestellt. Warum ist die Grundprobleme-Vorlesung dann überhaupt Gegenstand unserer Untersuchung? Weil sie, ohne dass ihr Name im Zusammenhang mit der traditionellen Urteilswahrheit genannt wird, gleichwohl in ihrer Thematik besonders präsent sind. Gleichwohl werden die Logischen Untersuchungen des Öfteren erwähnt, aber stets beiläufig.60 Es ist so, als habe Heidegger sie in den davor liegenden Marburger Semestern ausreichend besprochen, immer wenn es um zeitgenössische Phänomenologie ging und deren traditionelle Gegebenheiten wie den Psychologismus oder den Neukantianismus. Sowie in § 1 formal angezeigt, wird das hier gesuchte Grundproblem nicht aus einem Gegebenen oder schon Vorhandenen zitiert, sondern eigens gesucht und gestellt. Das Sein der Kopula, das uns schon im Zusammenhang mit Husserl in § 13 II. dieser Arbeit beschäftigt hat, wird so wie wir es bei Aristoteles finden, zur Diskussion gestellt. Das Wahr- oder Falschsein der Urteilswahrheit ist der Ausgangspunkt, der uns zum „Wahrheitscharakter des Seins als solchen“61 führen soll. Verstehend entdeckt das Dasein Seiendes in seinem Sein. Der fundamentalontologische Fundierungszusammenhang ist ein zweifacher: Eine Aussage ist erstens wahr oder falsch, aber ihre Evidenz gründet in einem vorprädikativen Wahrsein oder Entdecktsein des Seienden, das uns zum Grundproblem der Wahrheit als Frage nach dem Wahrsein des Seins führt. 60 61

A. a. O., Seiten 81, 253, 263, 285. F.-W. von Herrmann: Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie“, S. 51.

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

II. Die Erschlossenheit als letzter Sinn und Grund der Wahrheit Dieses Entdecktsein des Seienden, das der entdeckenden Aussagewahrheit ihren Grund gibt, ist selbst wiederum fundiert in der Erschlossenheit des Daseins. Die Erschlossenheit selbst ist der letzte Sinn, ist der „eigentliche Begriff der Wahrheit, wie er schon in der Antike aufdämmert.“62 Im Enthüllen schließt sich das Dasein eigene Möglichkeiten, wie es in seiner Welt sich entwerfend, geworfen, existiert oder es entdeckt vorhandenes Seiendes in seiner Entdecktheit. Beide Weisen zu sein, das Erschließen und das Entdecken, werden in dieser Vorlesung ausdrücklich in ihrer intentionalen Struktur gesehen, obwohl die Sprache von Sein und Zeit, und damit meinen wir die positive, fundamentalontologische Auslegung des Daseins, bekanntlich solche Begriffe, die eine Zuordnung zu Husserls Phänomenologie des Bewusstseins erlauben, möglichst vermeidet. Zum Beispiel kommt dort der Begriff des Intentionalen fast gar nicht vor. Aber der Satz „Zum Enthüllen gehört, wie zu jedem intentionalen Verhalten, ein Seinsverständnis dessen, worauf sich diese Verhaltung als solche bezieht“63 ist nun eine eindeutige Bezugnahme auf Husserls Bestimmung des Bewusstseins als Intentionalität. Eine Erklärung dafür könnte in der Rücksichtnahme auf die Hörerschaft liegen. Viele Studenten haben sicherlich aus den früher gehörten Kollegs Heideggers das Intentionale noch gut im Ohr. Um ihr Verständnis zu erleichtern, könnte Heidegger die Nennung des Intentionalen gewollt haben, denn er musste davon ausgehen, dass das gerade erschienene Werk Sein und Zeit von den meisten noch nicht erarbeitet und inhaltlich durchdrungen war.64 62

GA Bd. 24, § 4, S. 25. A. a. O., § 18 b, S. 309. 64 Der Autor erinnert sich an seine Freiburger Studienzeit (1973–1976), in der es eine spannungsgeladene Diskussion unter den Studenten, die gut in Sein und Zeit eingearbeitet waren, gab, denen nicht klar war und auch kaum klarzumachen war, dass Begriffe wie Bewusstsein oder Subjekt einer ontologischen Fundierung unterzogen waren und eigentlich vermieden werden sollten. Sie sprachen unbeeindruckt auch weiterhin vom Subjektivismus bei Heidegger. In größter Argumentationsnot war man bereit, im Begriff des Daseins eine Weiterentwicklung des Bewusstseins zu sehen. Daraus lernte der Verfasser, dass es auch bei ganz ernsthaftem Bemühen keineswegs selbstverständlich war und ist, sich den Grundthemen der Philosophie in ihren ontologischen Verwandlungen jederzeit zu öffnen. Noch schwieriger ist es, sich vorzustellen, dass die Studenten in Heideggers Marburger Zeit davon schon einen klaren Begriff haben konnten, von Ausnahmen abgesehen. Wenn Heidegger hier von der intentionalen Struktur des Enthüllens spricht, dann besteht die Gefahr der Missdeutung, ähnlich wie bei Husserl, der in den Logischen Untersuchungen seine Philosophie eine Psychologie nennt und damit die Begrifflichkeit weiter verwendet, für deren Überwindung die ganze Schrift kämpft. 63

§ 24 Vorlesung: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“

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III. Die Fundierung des Intentionalen im Entdeckend-sein einer Entdecktheit Also darf man in der Grundprobleme-Vorlesung nicht von einem Rückfall in eine frühere Begrifflichkeit sprechen, sondern muss sehen, dass das Phänomen des Intentionalen bei dieser Hinleitung zu einem ursprünglichen Wahrheitsbegriff bereits einer fundamentalontologischen Anverwandlung unterzogen wurde. Gemeint ist das Enthüllen als entdeckender oder aber aufschließender Vorgang des Daseins, das sich damit je ein Seiendes entdeckt oder aber einen Entwurf sich erschließt. Das im Entdecken (Intentio) (aus dem Gesichtskreis einer Entdecktheit) Entdeckte ist das ‚alte‘ Intentum. Ebenso ist das im Aufschließen (aus der Grundverfassung der Erschlossenheit) Erschlossene das Intentum. Beides, Entdecken und Erschließen sind Seinsweisen des Enthüllens. Die neue Fundierung des Intentionalen besteht in der Aufdeckung des Intentum als Entdeckten in seiner Enthülltheit. Enthüllen und Enthülltheit gehören zum ontologischen Begriff der Wahrheit. Sie gründen in seiner Transzendenz. Diese allerdings hat nichts zu tun mit dem transzendentalen Bewusstseins Husserls und der weiteren Tradition. Trotz mancher begrifflicher Anspielungen, die der Verdeutlichung des Gesagten für die Hörer dienen mögen, erreicht Heidegger hier, in der Bestimmung eines der vier Grundprobleme, eine weitestgehende Eigenständigkeit seines eigenen Wahrheitsbegriffs. Die philosophisch sehende Aneignung der Bewusstseinsstruktur des Intentionalen war schon in Sein und Zeit vollzogen. In der Grundprobleme-Vorlesung, also im Abstoß von der traditionellen These der Urteilswahrheit, wird sie ein weiteres Mal deutlich. In § 18 hat man den Eindruck, dass er Husserl schon weit hinter sich zurückgelassen hat.

Wir wissen nicht, wo der Grund für das vermutlich nie auszuräumende Missverständnis liegt, aber in der Schrift von Andrea Barbara Alker: Das Andere im Selben. Subjektivitätskritik und Kunstphilosophie bei Heidegger und Adorno, Würzburg 2007, S. 23 ff., kommt uns das alte Vorurteil vom Subjektivismus in Sein und Zeit erneut und in alter Frische entgegen, so als wären Bücher wie von Herrmanns „Subjekt und Dasein“ nie geschrieben worden. Ganz ähnlich unterstellt auch Gethmann im Zusammenhang der Marburger Jahre eine „Intersubjektivitätskonzeption“, Carl Friedrich Gethmann: Heideggers Wahrheitskonzeption in seinen Marburger Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von „Sein und Zeit“ (§ 44), S. 119.

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IV. Heideggers Verwendung des Begriffs Intentionalität Die neuen Einsichten, die sich auf den vier Hinleitungs-Wegen von vier Einzelproblemen zu vier Grundproblemen ergeben, bringen eine äußerst differenzierte, stellenweise auch etwas schwankende Verwendung mancher Begriffe mit sich. Daher halten wir es für angebracht, diese Differenziertheit deutlich zu machen, jedenfalls in dem uns betreffenden Feld der Wahrheitsbegriffe beider Denker. Im ersten Kapitel geht es Heidegger um Kants These, derzufolge Sein kein reales Prädikat sei. Von der Diskussion dieses Einzelproblems gelangt er zur Bedeutung der Wahrnehmung und schließlich zu seinem ersten Grundproblem, der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem. Das Phänomen der Wahrnehmung erläutert er unter Hinzuziehung des uns schon bekannten Ausdrucks der Intentionalität.65 Nur, welchen Begriff meint er genau? „Dieses rätselhafte Phänomen der Intentionalität ist längst nicht philosophisch hinreichend begriffen. Die Forschung konzentriert sich gerade darauf, dieses Phänomen deutlicher zu sehen.“66 Wir vermuten, mit der „Forschung“ meinte er sich vorwiegend selbst. Denn die Deutungen der Erkenntnistheorie (Nicolai Hartmann), des Neukantianismus (Paul Natorp) und auch Husserls oder Brentanos hatte er zwar immer wieder in ihren positiven Erkenntnissen für seine Hörer ‚aufgebaut‘, dann aber umso radikaler abgelehnt oder zumindest mit deutlichen Fragezeichen versehen. Sein eigener Weg führte ihn über den Husserlschen Begriff aus den Logischen Untersuchungen und den ersten Ideen-Band von 1913. So spricht er die noch ausstehende Aufgabe der Intentionalität deutlich aus und will später klären, „wie sie ontologisch in der Grundverfassung des Daseins gründet“.67 Dies war für den 2. Teil der Vorlesung geplant.68 Hier ist offenbar die Interpretation der Intentionalität in seiner Temporalität gemeint, da Heidegger auf Teil 2 der Vorlesung verweist. Dort kam diese Analyse aber nicht mehr zur Ausführung. Die Deutung der Intentionalität in einer radikaleren, fundamentalontologischen Begründung finden wir in der dritten These der Vorlesung (über die neuzeitliche Ontologie), in § 15 c, die später in die Thematisierung der verschiedenen Seinsweisen einmündet. In § 19g findet sich ein Hinweis darauf, dass die Intentionalität die Bedingung ihrer Möglichkeit in der Zeitlichkeit und deren ekstatisch-horizontalem Charakter hat. In einer späteren Analyse sollte er zeigen, wie der Transzendenz-Charakter des Daseins mit der Zeitlichkeit zusammenhängt.69 Das Fundierungsgefälle der Er65 66 67 68

A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O.,

§ § § §

9, 9, 9, 9,

S. S. S. S.

91, 84. 81. 82. 90 f.

§ 24 Vorlesung: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“

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möglichungen ist das folgende: Auf dem Boden der Zeitlichkeit überhaupt ist die Transzendenz des Daseins ermöglicht, in der das In-der-Welt-sein und die Sorge als Grundverfassung des Daseins gründen, die wiederum die Intentionalität möglich machen.70 Es ist möglich, dass die Darstellung dieses Fundierungskomplexes gerade das ist, was Heidegger in der Vorlesung leisten wollte und nicht mehr. Er rekapituliert noch einmal die Ergebnisse der dritten und vierten These, wonach Intentionalität keine Beziehung von Subjekt und Objekt ist, sondern das Verhalten charakterisiert, danach sich ein Subjekt auf Seiendes richtet. Aber nun ist es ‚nur‘ noch dieser „Richtungssinn“, den er jetzt, gegen Ende der Vorlesung, einer später zu fassenden Fragestellung anheim stellt,71 die er aber gleich danach folgen lässt.72 Wir hatten nach mehreren Ankündigungen eine größere Textpassage in Teil 2 der Vorlesung zum Problem der Temporalität der Intentionalität erwartet und diese schon als fehlend angemerkt. Von der Sache allerdings reichen die dort vorhandenen knappen Fundstellen aus, um sich Fundierung und Anverwandlung vorzustellen. So könnte es sein, dass die für Teil 2 vorgesehene Aufgabe voll inhaltlich eingelöst wurde und keineswegs dem Ende des Semesters zum Opfer fiel. Denn es sind immerhin drei kürzere Textpassagen im 2. Teil der Vorlesung, die das Wesen der Intentionalität zum Gegenstand haben. In diesem dritten Text macht er in Erinnerung an Kants These vom Sein auf den Fundierungszusammenhang von Subjekt und Dasein aufmerksam. „Wahrgenommenheit ist ein Modus der Entdecktheit und Enthülltheit, d.h. der Wahrheit.“73 Im Laufe der Ausführung der Vorlesung schrumpfte ihm der noch zu erarbeitende Aufgabenbereich zur Fundierung des Richtungssinns, die dann unterblieb. Möglicherweise sank mit der sich stets weiter klärenden Eingebundenheit der Intentionalität die Attraktivität der Aufgabe, hierüber eine eigene, komplexe Besinnungsleistung zu starten, so dass sich die Problematik am Ende der Vorlesung von selber beruhigt hatte. Dennoch ist der Begriff als eine, wenn auch noch nicht hinreichend geklärte Struktur des Denkens, in diesem jetzt anstehenden Gedankenschritt brauchbar. Zuvor kümmert er sich um zwei Missverständnisse über die Intentionalität. Die erste entstammt dem alltäglichen Verständnis des Daseins. Da geht es im Wahrnehmen um die Beziehung zwischen einem vorhandenen Subjekt und einem vorhandenen Objekt, so als wäre ein vom Objekt 69 70 71 72 73

A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O.,

§ § § § §

19, S. 379. 21 a, S. 444. 21 b, S. 447. 21 b, S. 448. 21 b, S. 446.

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isoliertes Subjekt nicht nur ohne Objekt, sondern auch ohne Intentionalität. Diese naive Meinung, das Sichrichten-auf werde nur im Bedarfsfall aufgerufen, wird abgewiesen. Die Beziehung auf Gegenstände hat also nichts mit einer Zufallsbekanntschaft zu tun, „sondern das Subjekt ist in sich intentional strukturiert“.74 Ist das Subjekt wirklich intentional strukturiert? Wir müssen uns auch hier davor hüten, darin Heideggers eigene Position zu vermuten, obwohl er es doch wörtlich so ausdrückt. Vielmehr sagt er dies quasi aus der Perspektive der Logischen Untersuchungen, auch ohne sie beim Namen zu nennen. Oder: „Die Intentionalität ist als Struktur der Verhaltungen selbst eine Struktur des sich verhaltenden Subjekts.“75 Ist sie das wirklich? Oder ist nicht vielmehr das Dasein in seinem Enthüllen von innerweltlichem Seienden bei diesem selbst? Kurz darauf, bei der Besprechung einer zweiten Missdeutung, bei der es wiederum um die Abwehr der Meinung geht, wir seien statt auf die Dinge selbst auf Vorstellungen derselben gerichtet, heißt es über die Intentionalität, sie „ist als der Verhältnischarakter des Verhaltens eine Bestimmung des Subjekts“.76 Von intentionalen Verhaltungen des Daseins ist die Rede, wo wir solche des Bewusstseins erwartet hätten.77 Oder – bei der Frage, wie eigentlich das Subjekt zu seinem Gegenstand komme, „dass die Intentionalität es gerade ist und nichts anderes, worin die Transzendenz besteht“.78 In Sein und Zeit war von der „Transzendenz des Seins des Daseins“79 die Rede. Wir haben solche Differenzen mitzulesen und machen wiederum darauf aufmerksam, dass Heidegger auch hier (in der Vorlesung) mit den Augen Husserls schaut. Warum tut er das? Warum lässt er nicht spätestens hier die Intentionalität zugunsten seines Begriffs der Erschlossenheit fallen? Natürlich braucht er die Intentionalität für die im Konzept der Vorlesung noch ausstehende Anverwandlung (siehe § 15 c). Wir vermuten auch, dass er hoffte, sich so seinen Hörern relativ leichter verständlich zu machen. Die Intentionalität kannten sie aus den vorigen Semestern schon. Denn im 2. Teil der Vorlesung, das wusste er natürlich, standen mit der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein weit kompliziertere Themen auf der Tagesordnung. 74

A. a. O., § 9, S. 84. A. a. O., § 9, S. 85. 76 A. a. O., § 9, S. 86. 77 A. a. O., § 9, S. 90. 78 A. a. O., § 9, S. 89. 79 GA Bd. 2, § 7, S. 51 (38); laut Fußnote a aus dem Hüttenexemplar setzt sich Heidegger mit diesem Begriff der Transzendenz aber nicht von Husserl ab, sondern von der Scholastik und dem griechisch platonischen Denken. 75

§ 24 Vorlesung: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“

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Aber wir wollen uns noch die zuweilen verwirrenden, sich gegenseitig scheinbar widersprechenden Hinblicknahmen der Interpretation vergegenwärtigen. So findet die Auslegung traditioneller Einzelphänomene der Seinsfrage hintereinander aus zwei verschiedenen Blickwinkeln statt. Zunächst geht es um eine eng am Text geführte Interpretation mit Hilfe eines hermeneutischen Horizonts, der die Begrifflichkeit der Bewusstseinsphilosophie in der Ausprägung von Husserl verwendet. Damit ist nicht gesagt, dass Heidegger dazu seinen daseinsontologischen Ansatz ‚ausgeschaltet‘ hätte. Er blendet ihn vielmehr zum Zweck solcher Textinterpretationen nur weg, um kurze Zeit darauf wieder daran zu erinnern und dieselbe Sache sodann erneut in den Blick zu nehmen. Beispiel: Kants Begriff der Wahrnehmung wird auf dem Weg der Auffindung des ersten Grundproblems der ontologischen Differenz mit Hilfe von Husserls Begriff der Intentionalität interpretiert. Der Horizont einer radikaleren Analyse wird weggeblendet und ist einem späteren Schritt der Auslegung im selben Kapitel vorbehalten. Und in diesem Vorgehen liegt die Möglichkeit eines Missverständnisses, weil man glauben könnte, Heidegger etabliere in der ersten Blicknahme positiv das Intentionale nicht des Daseins, sondern des Bewusstseins. Vermutlich dachte er zunächst sogar daran, diesen Begriff nach dessen erfolgter Fundierung in der Grundverfassung des Daseins beizubehalten. Damit wäre die etwas zweideutige Verwendung des Begriffs zu erklären. Wegen seiner Missverständlichkeit entschied er sich aber dafür, den Begriff, wohlgemerkt nicht die anverwandelte Sache der Erschlossenheit, Enthülltheit, ganz fallen zu lassen. Schon in Sein und Zeit ist er beinahe gar nicht mehr zu finden. Warum legen wir solchen Wert darauf, die steile Karriere und das Verschwinden des Begriffs Intentionalität für die Zeit des Wintersemesters 1923 bis zum Sommersemester 1928 herauszuarbeiten und festzuhalten? Weil wir sehen, dass Heidegger einen der zentralen Begriffe der vorbereitenden Fundamentalanalyse, nämlich die Erschlossenheit als Grundverfassung des Daseins, in der besonderen Ausformung des Aufschließens einer Erschlossenheit, des Enthüllens einer Enthülltheit, des Entdeckend-seins einer Entdecktheit, in einer formal-ontologischen, also nicht inhaltlichen, Anverwandlung aus Husserls Intentionalität schöpft.80

80

Der Ausdruck Transformation in Barbara Merkers „Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls“ trifft größtenteils die Sache der Anverwandlung, meint aber eigentlich nur das Phänomen der Umformung, Übertragung, ohne die Richtung dieser Übertragung als Aneignung anzugeben. Transformation scheint uns zudem technisch vorbesetzt zu sein. Wir hörten den Ausdruck Anverwandlung zuerst in einem persönlichen Gespräch (am 1.6.1991) mit Prof. Dr. F.-W. von Herrmann in Freiburg im Breisgau.

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In der Grundprobleme-Vorlesung dient die unterschiedliche Verwendung des Begriffs nicht der Textanalyse oder Hinleitung zum Grundproblem allein, sondern ist zugleich Teil und Schritt der genannten Anverwandlung. Formal haben wir es mit einer sechsfachen Verwendung des Begriffs Intentionalität zu tun: a) Strukturmodell der Seele bei Brentano und Tradition (Bd. 20, §§ 4, 5) b) Spezifisch theoretisches Sichverhalten in der Sorge der Wissenschaftsausbildung (Bd. 17, § 48) c) Strukturmodell des Bewusstseins bei Husserl (Bd. 20, § 5) d) Erklärungsmodell für Thesen über das Sein. Kants Wahrnehmung hat ihr Wahrnehmen (intentio) und ihr Wahrgenommenes (intentum) (Bd. 24, § 9 b und c) „vorläufige Klärung“ genannt. e) Radikalere Fundierung in der Transzendenz, Grundverfassung des Daseins (Bd. 24, § 15 c) f) Zeitlichkeit und Temporalität (Bd. 24, §§ 9, 19 g) V. Die schrittweise Anverwandlung der Intentionalität Heidegger avisiert seine Absicht, die Intentionalität in den zu ihr gehörenden fundamentalontologischen Kontext zu führen, frühzeitig. Schon in § 9 c merkt er an, bisher nur eine vorläufige Aufklärung der intentionalen Struktur der Wahrnehmung gegeben zu haben,81 die er dann zugunsten einer radikaleren Interpretation nicht etwa aufgibt, sondern in ihrer Fundiertheit sichtbar macht. Das Dasein (also hier nicht das Bewusstsein) existiert in Weisen, sich zu Seiendem zu verhalten, es ist damit gerichtet auf dieses Seiende.82 Die Schwierigkeit in der philosophischen Tradition besteht darin, erklären zu müssen, es aber letztlich nicht zu können, wie ein Bewusstsein zu seinem Gegenstand kommt, ein Subjekt zu seinem Objekt, ein Vermeinen zu seinem Vermeintem, ein Dasein zu seinem innerweltlich besorgten Seienden oder seinem erschlossenen Entwurf. ‚Irgendwie‘ muss diese Transposition einleuchten, mit der dem Dasein ein ‚Ausgriff in den Kreis der Dinge gelingt‘. Heideggers ontologische Aufklärung der Fundiertheit des Daseins in der Transzendenz ist bekannt und immer noch überraschend einfach. Gleichzeitig wird klar, dass diese Analyse mit Hilfe der Intentionalität des Daseins oder auch Bewusstseins nicht gelingen konnte. Die bisher übliche, 81 82

GA Bd. 24, S. 94, auch S. 107. A. a. O., § 15 c, S. 229.

§ 24 Vorlesung: „Die Grundprobleme der Phänomenologie“

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von ihm selber auch, wenngleich nicht ohne ontologischen Hintersinn, genutzte „Charakteristik der Intentionalität erweist sich als unzureichend und äußerlich“.83 Die Lösung bringt eine radikalere Fassung der Intentionalität und eine ontologische Deutung solcher Transposition. Mit anderen Worten: Die Transzendenz, und zwar jenseits ihrer traditionellen Bedeutung von Gegenständlichkeit, gilt es aufzuklären. Sie gehört ihrem ontologischen Wesen nach in die existenziale Verfassung des Daseins und bestimmt damit sein Wesen mit. Das heißt, Dasein ist Transzendenz. Insofern als die Intentionalität ein Modus der Transzendenz ist, gründet sie ihrerseits (ontologisch, nicht zeitlich) nicht länger im Bewusstsein, sondern ist ein fundamentaler Beitrag zur Transzendenz des Daseins. Mit ihrer radikaleren Fassung sieht sie sich in ihrem eigenen Wesen erkannt und ist, wenn nicht vereinnahmt, so doch quasi eingemeindet, das heißt, in ihrem Heimatrecht in der Existenzverfassung des Daseins bestätigt. Diese Verwurzelung im existenzialen Boden der ontologischen Verfassung des Daseins verschafft der Intentionalität einen Status der Re-etablierung und zwar in zweierlei Hinsicht: einmal in Bezug auf ihre frühere Situation in einer, wie Heidegger sie nannte, verunstalteten Phänomenologie84, und darüber hinaus auch in Hinsicht auf Sein und Zeit, wo sie schlicht gar keine Rolle spielte, auch nicht im Kontext der Transzendenz. Die Fußnote 10 in § 69 b gibt mit Bezug auf die intentionale Analyse der Wahrnehmung einen konkreten Hinweis auf den 3. Abschnitt des Werks, wo gezeigt werden soll, dass und wie die Intentionalität „in der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins gründet“.85 Dieser 3. Abschnitt ist in Bd. 24, in welchem wir uns befinden, veröffentlicht. Zurück zur Grundprobleme-Vorlesung: In § 15 d gibt Heidegger eine Zusammenfassung der von ihm aufgewiesenen, mannigfaltigen Seinsweisen in einem gleichwohl einheitlichen Seinsbegriff. Hier findet sich unter den Punkten 5. und 6. auch seine radikalisierte Fassung der Intentionalität. Und hier differenziert er auch ausdrücklich zwischen seinem bisherigen Gebrauch eines intentionalen Gerichtseins-auf und der neuen Einsichtnahme, wonach dieses auf der Grundverfassung des In-der-Welt-seins basiert. „Intentionalität setzt die spezifische Transzendenz des Daseins voraus“.86 Zudem gehört zur „Intentionalität ein Seinsverständnis des Seienden, worauf die intentio sich bezieht“.87 In diesem Seinsverständnis „umgreift“88, um83 84 85 86 87 88

A. a. O., § 15 c, S. 230. GA Bd. 17, § 48. GA Bd. 2, § 69 b, S. 480 (363). GA Bd. 24, § 15 d, S. 249. Ebd. A. a. O., § 15 d, S. 250.

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fängt die Intentionalität sowohl das Dasein selbst als auch Seiendes von der Art des nichtdaseinsmäßigen Seienden. Dieser Hiatus zwischen dem Dasein und dem innerweltlich begegnenden Seienden ist also nur ein scheinbarer und hat mit der Verkennung der Grundverfassung des Daseins zu tun. In dieser neuen, radikalisierten Fundierung findet sich die Intentionalität in einer Einbettung in die Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-seins wieder. Bei einem weiteren Hinweis auf die Intentionalität, die Heidegger gleichsam stets im Gepäck behält, erhält diese immer stärker einen positiv aufweisenden Sinn, wird, gegenüber ihrem fast völligen Fehlen in Sein und Sein, neu und verwandelt etabliert: Die „Transzendenz und damit die Intentionalität gehört zum Wesen des Seienden, das sich intentional verhält.“89 Es bleibt in der Grundprobleme-Vorlesung also bei einer neu gewonnenen, positiven Integration der Intentionalität, die wir nun nicht mehr als Husserlsche ansprechen dürfen. Schrittweise, in kleinen Etappen lässt die fundamentalontologische Analyse uns an der Entwicklung der intentionalen Strukturen teilnehmen. Auch die Frage nach dem ontologischen Sinn des Richtungssinns, wie dieser zur intentio gehöre, wird, nachdem aufgeworfen, nicht sofort beantwortet, sondern angesichts der drängenderen Wahrnehmungs-Frage ein wenig nach hinten geschoben90. Die Wahrnehmung aus Heideggers erster These (Kant) ist eine intentionale Verhaltung mit einem eingeborenen Richtungssinn. Dieser basiert und steht im zeitlichen Modus des Präsens. Die Ekstase der Gegenwart ist die Basis für die intentionale Transzendenz und ihren Richtungssinn der Wahrnehmung.91 All die kleinen Versatzstücke einer Beantwortung der Frage nach dem Intentionalen ergeben nun wie Steine in einem Mosaik in der Übersicht der Grundprobleme-Vorlesung das Bild einer hochkomplexen, aber sinnvollen Gegebenheit in der Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-seins vor ekstatisch-zeitlichem Horizont. Gegen unsere Vermisstenanzeige des Wortes Intentionalität in Sein und Zeit könnte eingewendet werden, dass die ursprüngliche Temporalität der 89

GA Bd. 24, § 21 b, S. 446 Zeilen 14 ff. Heidegger verschiebt die analytische Einbeziehung des Richtungssinns des Intentionalen nur um 37 Druckzeilen, von a. a. O., S. 447, Zeile 6 auf S. 448, Zeile 7. Vielleicht wollte er sie erst im Zusammenhang und gemeinsam mit dem dort verhandelten Gerichtet-sein auf Halluzinationen behandeln. Andere Variante: Er meinte mit der Bemerkung, diese Frage solle ihn und das Auditorium später beschäftigen, einen viel späteren Zeitpunkt, zu dem die Analyse dann nicht mehr zum Austrag kam. 91 A. a. O., § 21 b, S. 448. 90

§ 25 Vorlesung: „Metaphysische Anfangsgründe der Logik“

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Intentionalität doch erst im 3. Abschnitt (Bd. 24) geleistet werden sollte. Daher würde man sie zu Recht in den Abschnitten 1 und 2 vermissen. Dies mag so ein. Verwunderlich ist gleichwohl, dass ihr ursprünglicher, radikaler Sinn als besonderer Modus des Sein-bei auch erst in der GrundproblemeVorlesung vollzogen wird, bzw. in der Marburger Leibniz-Vorlesung. Wir hatten vergeblich einen Hinweis etwa im § 41 über die Sorge gesucht und bleiben also bei unserer These einer Fast-Ausstreichung im 1. und 2. Abschnitt von Sein und Zeit und der erst späteren Rehabilitierung in den beiden, gerade genannten Vorlesungen. Damit ist freilich nicht gemeint, dass Heidegger dem Wesen der Intentionalität in Sein und Zeit gar nicht nachgedacht hätte. Die Wahrheitsanalyse in § 44 zeigt das Gegenteil. Da verwendet er im 12. Absatz unausdrücklich gerade die von Husserl aufgeklärte Theorie des bildlichen Vorstellens, um die intentionale Ausweisung oder Identifizierung einer wahren Aussage vorzuführen. Doch den Begriff selbst spart er aus.

§ 25 Vorlesung: „Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz“ I. Abweis von sophistischen Ansprüchen der Logik und radikaler Ansatz beim Sein-bei Diese zeitlich letzte Marburger Vorlesung hielt Heidegger im Sommersemester 1928, bevor er dem Ruf zurück nach Freiburg im Breisgau auf Husserls Lehrstuhl folgte. Um sich und die Hörerschaft zu den metaphysischen Anfangsgründen der Logik leiten zu lassen, wählt er die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz, die er in vielen einzelnen Texten und Schriften findet. In der Gesamtausgabe liegen noch Ausführungen über Leibniz im 2. Band des Nietzsche-Buchs (Bd. 6,2) vor und in der späten Freiburger Vorlesung von 1955/6 (Bd. 10). Die hier wiederum selektiv zu besprechende Vorlesung bietet Heideggers ausführliche Interpretation der Grundbegriffe Transzendenz und Intentionalität aus dem Umfeld der zentralen Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsbegriff, der hier wieder eine deutliche Nähe zu Husserl sehen lässt. Wie steht es mit dem Vorrang der Logik vor der Metaphysik? Liegen die formallogischen Bedingungen des Denkens diesem zugrunde, oder ist es umgekehrt das Denken, das in Hinblick auf die Denkregeln in einer zu erbringenden Begründungsleistung steht? Dazu sagt die traditionelle Logik, dass alles auf sie zurückzuführen sei. Andererseits ist der Regelgebrauch der Begründung bedürftig. Die Logik ist nicht Vollzugsbedingung des Denkens, sondern hält seit Jahrhunderten nur die Regeln als solche fest. Diese

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selber kann sie nicht aufklären oder begründen. Die Argumentation, mit deren Hilfe die Logik den Anspruch der Begründung der Denkregeln immer wieder anmeldet, nennt Heidegger klassisch und kennzeichnend „für alle Sophistik“.92 Unter dem Vorwand einer Letztbegründung blockiert die Logik das Vorankommen einer metaphysischen Fragestellung der Philosophie. Auch Leibniz selber sieht Heidegger in der Nähe einer solchen Begründung der Metaphysik aus der Logik, da sie sich in ihrer klassischen Rolle immer wieder aufdränge und, nicht nur bezogen auf die zwanziger Jahre, sich ihres eigenen Fundaments sogar in der Mathematik versichere. Um hier Klarheit zu schaffen, gehe es darum, „ein zentrales Grundproblem der Logik anzusetzen und zur Klärung zu bringen“.93 Dabei wird sich zeigen, dass und „wie die Logik nur als Metaphysik der Wahrheit möglich ist“.94 Dies ist das Ergebnis des I. Hauptstücks der Vorlesung. In deren II. findet Heidegger im „Satz des Grundes“ sein zentrales Grundproblem und interpretiert es als solches der Logik, aber aus dem Fragehorizont einer Grund erst gebenden, neuen Metaphysik der Wahrheit. Das Problem des Grundes wird als Problem des Seins sichtbar. In der Absicht, das Wesen des Grundes aufzuklären, muss zunächst das Wesen der Wahrheit selbst aufgehellt werden, damit von daher auch ein Licht auf das Wesen des Grundes fällt.95 Bei Leibniz trifft er auf die traditionelle Bestimmung der Adaequatio als Wesen der Aussagewahrheit und führt sie zurück auf das im Phänomen der Sorge gesehene Schon-sein-bei. Als enthüllendes besorgt das Dasein im Modus des Sein-bei Seiendes in seiner Enthülltheit. Im Lichte dieses Besorgens spielt die Wahrheit der Aussage. Wahrsein als enthüllendes, und in der Aussagewahrheit als entdeckendes, gehört zur Existenz des Daseins.96 Ohne direkten Bezug auf Leibniz erläutert Heidegger nun, dass diese Bestimmung nicht nur nichts mit der geläufigen „Subjekt-Objekt-Beziehung“ zu tun hat, sondern die gesuchte Erhellung der Beziehung von Aussagendem und Ausgesagtem gerade verfehlt. Hier spielt Heideggers Erinnerung an den gerade verstorbenen Max Scheler eine Rolle und die mit ihm 1927 geführten Gespräche über die Subjekt-Objekt-Beziehung. Die Frage nach ihr müsste grundsätzlich neu gestellt werden, und zwar nicht aus dem Rahmen der Erkenntnistheorie. Sie habe vielmehr höchste Bedeutung bei der Neubegründung einer Metaphysik der Wahrheit, die in diesem Augenblick 92

GA Bd. 26, § 7, S. 131. A. a. O., S. 132; die mathematische Denkweise findet er auch bei Leibniz selber, vgl. a. a. O., § 9 a, S. 154. 94 Ebd. 95 A. a. O., § 9 a, S. 152. 96 A. a. O., § 9 a, S. 160. 93

§ 25 Vorlesung: „Metaphysische Anfangsgründe der Logik“

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gefordert sei. Beide Lösungen des Problems, Schelers Abweis von Idealismus und Realismus, und Heideggers Insistieren auf einer Neubegründung der Metaphysik verdankten ihre Stoßrichtung der Phänomenologie der Intentionalität.97 II. Fundierung von Intentionalität und Transzendenz Was wir mit dem von uns gewählten, aggressiven Begriff Stoßrichtung ansprechen, ist durchaus im Sinne der von ihm gemeinten Sache einer Aufhebung der Subjekt-Objekt-Beziehung: „aber das ist ja gerade der Zweck des Intentionalitätsbegriffes, dieses Scheinproblem zu beseitigen.“98 Das heißt auch: Wenn die Beziehung Subjekt/Objekt nur eine Täuschung ist, dann muss er ihr auch keinen neuen Ort innerhalb seiner neuen Metaphysik zuweisen. Stattdessen verschwindet sie nach erfolgter Enttarnung in ihrer eigenen Überflüssigkeit. Anders verhält es sich mit der Intentionalität selbst. Sie kann als eine ontisch transzendierende, unverzichtbare Verhaltung in einer Ontologie des Daseins aufgehoben, das heißt besorgt und integriert werden. Ähnlich wie in der Grundprobleme-Vorlesung kennzeichnet er hier kurz den in der V. Logischen Untersuchung gefundenen Begriff der Intentionalität in seiner gegebenen Verkürzung, die wir in der Version b und c schon beschrieben haben.99 Nun kommt die Ausdifferenzierung der Transzendenz hinzu. 1. Der vulgäre Begriff der Transzendenz meint, dass das Dasein sich in ihr zumeist und unmittelbar im äußerlichen Meinen von etwas bewegt. (Es fällt auf, dass Heidegger nicht auf einen vulgären Begriff des Intentionalen eigens aufmerksam macht.) 2. Das ursprüngliche Phänomen der Transzendenz betrifft das Dasein und seine Existenz überhaupt. Sie steht mit der Intentionalität als einem ontischen Verhalten in einem Fundierungszusammenhang. Das heißt, sie ist nur möglich auf dem Boden der Transzendenz als In-der-Welt-sein. So klärt sich das Problem der Wahrheit auch nur auf diesem ursprünglichen Boden der Transzendenz. Im weiteren Verlauf der Vorlesung (§ 10) zeigt Heidegger, dass das Problem der Transzendenz nicht aus dem dürftigen Zusammenhang mit einer möglicherweise nur vulgär verstandenen Intentionalität begriffen werden kann. Aber er sagt noch nicht wie. Zunächst einmal gründet der Vulgärbegriff der Transzendenz in einer Urtranszendenz.100 Das Seinsproblem 97 98 99

A. a. O., § 9 b, S. 166. A. a. O., § 9 b, S. 168. § 24 IV. dieser Arbeit.

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überhaupt zeichnet die Fragedimension vor, in der sowohl nach der Transzendenz, damit nach der Intentionalität, als auch nach der Wahrheit und dem Wesen des Grundes gefragt werden muss. „Das Transzendenzproblem ist ebenso universal und radikal wie das Seinsproblem überhaupt zu stellen.“101 Diese Transzendenz überspringt im Vorhinein Seiendes und sorgt dafür, dass es als Gegenüberstehendes erfassbar wird.102 Das ist so sehr das Gegenteil der Vorstellung, wonach ein Subjekt auf ein Objekt zielt, dass darin sogar die Bedingung der Möglichkeit jeder Subjekt-Objekt-Beziehung beschlossen liegt. Aus der fundamentalontologischen Perspektive intendiert das Subjekt ein Objekt als ein immer schon überschrittenes. Insofern ist die Transzendenz „die ursprüngliche Verfassung der Subjektivität eines Subjektes“.103 Hier kann wieder der Hinweis dienlich sein, dass Heidegger, obwohl es ein wenig missverständlich so klingt, nicht etwa der Subjektivität als letztem Daseinsgrund das Wort redet; wohl aber dem Transzendiertsein des Subjekts in der zweifachen Hinsicht des vulgären und ursprünglichen Transzendierens. Diese, seine fundamentalontologische Besinnungsebene dürfen wir nicht außer Acht lassen. Man sieht, wie er sich selber gegen die Missverständlichkeit seiner Sprache wehrt, deren hauchdünne Scheidewände kaum oder nur sehr schwer sichtbar zu machen sind.104 Dass Husserl sich gegen die Neugründung der Subjektivität in der Transzendenz eines Daseins gewehrt hat,105 lässt sich leicht nachvollziehen. Es muss ihm wie eine Art der Entmündigung einer seiner Grundbegriffe der Phänomenologie vorgekommen sein. Diese Abwehrhaltung galt sicher noch mehr Heideggers Anverwandlung der Intentionalität gegenüber. Drohte sie doch, nach einer großen Karriere in den früheren Marburger Vorlesungen (Bde. 17, 20, 21, 24) nunmehr im Sein-bei als einem von mehreren Strukturmomenten der Sorge zu verschwinden. Das muss ihm wie ein ‚unter anderem‘ vorgekommen sein. In diesem Zusammenhang erinnert Heidegger mit Nennung der Seitenzahl ausdrücklich an die Anmerkung in Sein und Zeit, wo er sagt, die Intentionalität gründe in der Transzendenz. Dies lesen wir aber nicht so sehr als ein Trost spendendes Argument in Richtung auf Husserl (Tenor: ‚Ich habe Sie und sie, die Intentionalität, doch nicht vergessen‘), sondern als ein 100

A. a. O., § 10, S. 194. Ebd. 102 A. a. O., § 11, S. 212. 103 A. a. O., § 11, S. 211. 104 A. a. O., § 11, S. 213, Zeilen 28 ff. 105 „Husserl hat vor zwei Jahren von vornherein heftig dagegen opponiert.“ a. a. O., § 11, S. 214. 101

§ 25 Vorlesung: „Metaphysische Anfangsgründe der Logik“

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Insistieren auf der u. a. von der Erkenntnistheorie immer unterschätzten Bedeutung der Transzendenz.106 Zum Schluss der Vorlesung stellt er noch einmal die entscheidenden Unterschiede zwischen Leibniz‘ Denken der Monade und seiner fundamentalontologischen Interpretation des Daseins als Zeitlichkeit heraus.107 Dass die Monaden keine Fenster haben, hängt damit zusammen, dass sie alles Seiende in seinem Sein schon in ihrem Inneren bergen. Dagegen gibt es in der Konstitution des Daseins kein Drinnen oder Draußen, weil es je schon draußen ist, also in Transzendenz existiert.108 Wie hängt das nun mit dem Wesen des Grundes zusammen? Erst einmal musste in das Wesen der Transzendenz Licht gebracht werden, damit auch das Wesen des Grundes erhellt werde. Dies geschah durch die Aufdeckung der zeitlichen Struktur der Transzendenz. Zum Wesen des Grundes gehört zudem ein Anspruch der Wahrheit. Diese wiederum ist Thema einer metaphysisch gegründeten Logik. Heidegger antwortet also auf die Frage nach dem Grund mit einer ontologisch aufgehellten Struktur der Transzendenz in ihrer Zeitlichkeit. Sie ist „das Urphänomen von Grund überhaupt“.109 In diesem Sinne ist das Ziel der Vorlesung letztlich, die Logik als Metaphysik der Wahrheit einsichtig zu machen. Diese wird beschrieben als die Bedingung der Möglichkeit einer ontisch intentionalen Wahrheit, also als der Wahrheit Husserls.110 Für uns erscheint die Frage nach dem Wahrsein aus dem Horizont von Bewusstsein und Dasein nun in einem neuen Zusammenhang: Die Intentionalität hat in der fundamentalontologischen Anverwandlung eine neue Position in einem äußerst komplexen System gefunden. Sie wurde also nicht ignoriert oder gelöscht. Nach einer ‚Zeit der Stille‘ oder der Ausblendung in Sein und Zeit kommt es bereits in der Grundprobleme-Vorlesung und dann auch in der Leibniz-Vorlesung vermehrt durch den Horizont der Zeitlichkeit der Transzendenz, zu einer Reetablierung oder Rehabilitierung der Intentionalität. Das Wesen der Wahrheit ist ein schlechthin verborgenes. Im a-Privativum von ’A – lh·ffieia dämmert dieser altgriechische, vorsokratische Sinn der aufgehobenen oder weggenommenen Verborgenheit auf dem Boden einer umfassenden Dunkelheit herauf. Dies geschieht dadurch, dass dem 106 A. a. O., S. 480 (363). 107 A. a. O., 108 Ebd. 109 A. a. O., 110 A. a. O.,

§ 11, S. 215, Zeilen 7 ff.; die Anmerkung steht in GA Bd. 2, § 69, § 12, S. 271. § 13, S. 276. § 13, S. 281.

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4. Kap.: Die Marburger Vorlesungen

Seienden die „Gelegenheit des Welteinganges“111 gegeben wird. Auch diese Anverwandlung der ’A – lh·ffieia muss nun im Zusammenhang der neu geschöpften Strukturkomplexität der Transzendenz in seiner Zeitlichkeit gedacht werden. Anzumerken ist noch, dass wir aus Husserls Feder, soweit bisher bekannt, keinen Versuch einer Anverwandlung der Sorge und ihres Sein-bei in sein System der Intentionalität als Grundstruktur der Subjektivität besitzen. Gleichwohl käme es darauf an, dies einmal in einem freien Versuch zu wagen.

111

Ebd; vgl. auch a. a. O., S. 159.

Exkurs

Der Kommentar zu Sein und Zeit § 44 Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit I. Dasein als Inaugenscheinnahme eines ontologischen Reliefs Die Idee, „eine am Text entlanggehende Gesamtinterpretation von SuZ“1 zu leisten, kam von Herrmann, dem zurzeit sicher besten Kenner von Heideggers Schriften, aus den Erfahrungen im Umgang mit diesem Text in vielen Vorlesungen und Seminaren. An diesen Veranstaltungen durfte der Verfasser zwischen 1973 und 1976 als Student und auch Schreiber von Protokollen persönlich teilnehmen. Da ging es weniger um die allgemeine Sentenz über den Text oder schlagwortartiges Wissen zum Auswendiglernen, sondern um eine insistierende Interpretation „Wort für Wort“. Zu dieser Zeit war von Herrmann persönlicher Assistent Heideggers und besuchte ihn regelmäßig zu Arbeitsgesprächen in Freiburg Zähringen. Über den Gang der Seminare ließ Heidegger sich stets berichten. So kam es, dass ihm auch über die damalige Zulassungsarbeit, die hier mit der Einleitung und den Kapiteln 1–3 wiedergegeben ist, berichtet wurde.2 Von Herrmann wusste, dass der hohe textliche Verdichtungsgrad von Sein und Zeit ein Erläuterungswerk von größerem Umfang in Gang setzen würde und ließ sich zunächst durch Einblick in die Texte der Marburger Vorlesungen, die man teilweise wie Kommentare zu Sein und Zeit lesen kann, davon abschrecken. Heidegger habe ihn aber in seinem Vorhaben bestärkt. „Erläuterung“, später, ab dem Band 2 „Kommentar“ genannt, soll besagen, dass kein abschließender, aus einem abständigen, wissenschaftlichen Beobachten geschriebener Auslegungstext zu erwarten sei, sondern eine textimmanente Interpretation, die sich „als am Fragen der Seinsfrage teilnehmender Mitvollzug“3 versteht. Dabei gilt auch hier die phänomenologische Maxime „Zu den Sachen selbst“, die die auszulegenden Sachen dazu bringt, sich selber zu zeigen. In Band 1 scheint es so zu sein, dass die Einleitung zu Sein 1

F.-W. von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, Band 1, S. XI. 2 s. auch das Nachwort zu dieser Arbeit. 3 F.-W. von Herrmann, a. a. O., S. XIII.

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Der Kommentar zu Sein und Zeit

und Zeit nur die Spitze eines Eisbergs sehen lässt, ein Bild, das Safranski später in Bezug auf das ganze Werk vor dem Hintergrund der Marburger Vorlesungen aufgreifen und wieder verwenden wird.4 Nicht allein der Text selbst wird ausgelegt, sondern auch die mit ihm gegebene, ganz eigene Besinnungsebene. In der „Hinführung“ zu Band 3, wie auch sonst an zahlreichen Stellen des Werks, stellt von Herrmann eine feine Differenzierung für das Grundverständnis des Ausdrucks Dasein vor. Das Da in Dasein besage Erschlossenheit, Sein des Daseins bedeute Sein der Erschlossenheit. Und wenn die Existenz gemeint ist, dann sagt Dasein Existieren in der Erschlossenheit. In ihr ist Dasein in seiner Grundverfassung des In-der-Welt-seins aufgeschlossen und zwar in den sie ausmachenden Existenzialien. Dies sei zwar eine richtige und auch gängige Auslegung des Daseins, aber nur ‚die halbe Wahrheit‘ über es. Denn darüber hinaus ist die Existenz des Daseins „ekstatisch aufgeschlossen . . . in die horizontale Erschlossenheit“.5 Darin ist die Welt aus dem In-der-Welt-sein und das Sein des nichtdaseinsmäßigen Seienden aufgeschlossen. Dieses tauche in Sein und Zeit in den Ausdrücken Sein des Daseins und Sinn von Sein überhaupt auf. Diese ekstatische, horizontale Erschlossenheit gründet nicht in einer jenseitigen Dimension des Daseins, sondern in diesem Da und zwar in seiner horizontalen Dimension. Man muss folglich zwei Dimensionen dieses Da unterscheiden, nämlich die selbsthaft ekstatische Erschlossenheit und die horizontale Erschlossenheit. In diesem Kontext ist auch die Frage nach Zeit und Sein als Frage dieses Da zu sehen, das in ihr in die Dimension der horizontalen Zeit blickt. Auch sie ist dem Dasein zur Begegnung mit dem nichtdaseinsmäßigen Seienden gegeben, das damit seinen zeithaften Sinn gewinnt. Diese volle, reichhaltige Dimensionalität des Daseins mit seiner selbsthaft-existenzialen und der horizontalen Erschlossenheit und der darin gründenden Entdecktheit des nicht daseinsmäßigen Seienden nennt von Herrmann das ontologische Relief,6 das uns vor Augen stehen muss, also auch bei seiner späteren Interpretation der Wahrheit. Zwei Weisen, dieses seit 2008 dreibändige Werk zu benutzen, haben sich bewährt: Man kann es neben dem aufgeschlagen daliegenden Text des Buches Sein und Zeit lesen und wird einen anspruchsvollen Begleiter des Textzusammenhangs finden. Oder aber man benutzt diesen Kommentar als Nachschlagewerk und sucht sich die jeweilige Interpretation einer Textstelle im Verfolg der lebenden Kolumnentitel, die leicht auffindbar über § und 4

s. die Einleitung zu dieser Arbeit. F.-W. von Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, Bd. 3, S. 14. 6 A. a. O., S. 17. 5

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Absätze orientieren. Bei dieser zweiten Möglichkeit entfällt ein mühsames Sicheinlesen in den vielleicht als fremd und schwierig vermuteten Kontext, weil der Autor seine Kommentare so angelegt hat, dass man an jedweder Stelle spontan in sie einsteigen kann. Diesen zweiten Weg versuchen wir nun mit einem lesenden und immer noch lernenden, aber gleichwohl selektiven Nachvollzug des Kommentars zu § 44. Hier ist es nämlich gerade umgekehrt: Man kann diesen Text Heideggers in seinem reichen Gehalt nur nachvollziehen, wenn man ihn in seinem Kontext begreift. Da gibt es die Anbindung an § 39, 10. Absatz, wo bereits die Analyse der Wahrheit als notwendig zu leistende angemerkt ist. Für eine zureichende Vorbereitung der Seinsfrage bedarf es der ontologischen Klärung des Phänomens Wahrheit. Dies geschieht auf dem bereits erarbeiteten Boden von Erschlossenheit, Entdecktheit, Auslegung und Aussage. Das bedeutet auch, dass dieser § in seiner Funktion als Hinführung auf den dritten Abschnitt „Zeit und Sein“ gelesen werden muss. Dazu gehört auch die Untersuchung des vierten fundamentalontologischen Grundproblems, dem Wahrheitscharakter des Seins. Damit ist nicht nur der Wahrheitscharakter des Daseins gemeint, sondern der Wahrheitscharakter des Seins überhaupt. Die Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Sein ist „keine ganz neue Einsicht der Fundamentalontologie“,7 sondern geht zurück auf Parmenides und, einer Randbemerkung aus dem Hüttenexemplar zufolge, auf Heraklit. Das bedeutet aber auch, dass die Wahrheitsthematik keine Sache der Daseinsanalytik allein ist, sondern inmitten der Frage nach dem Sein überhaupt steht. Das ganze Wesen der Wahrheit macht von Herrmann sichtbar „als ein ontologisches Ursprungsgefälle“.8 Die Wahrheit der prädikativen Aussage gründet in der Wahrheit der vorprädikativen Entdecktheit der Wahrheit, und diese wiederum gründet in der Wahrheit als Erschlossenheit des Daseins als In-der-Welt-seins und des Seins überhaupt. II. Der lebendige Hintergrund der Intentionalität Muss nun bei der Analyse der Übereinstimmungsbeziehung auf alle Fälle erkenntnistheoretisch vorgegangen werden? Muss man also von einer Subjekt-Objekt-Beziehung ausgehen oder kann die Analyse sogar auf das draußen liegende Objekt verzichten und sich darauf beschränken, eine interne Analyse des Wahrheitsbewusstseins, die innerhalb des Subjekts verbleiben könnte, durchzuführen? Weder noch, die erkenntnistheoretischen Ansätze 7 8

A. a. O., S. 245. A. a. O., S. 247.

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Der Kommentar zu Sein und Zeit

führen gar nicht zu einer ontologischen Aufklärung der Übereinstimmungsbeziehung.9 Der 12. Absatz bringt die Analyse des Erkennens und die Aufklärung der Selbstausweisung eines wahren Erkennens am Beispiel des schief hängenden Bildes an der Wand. Mit diesem Beispiel schwenkt Heidegger „in die Husserlsche Phänomenologie der erkennenden Verhaltungsweisen ein“, und es „ist zu erwarten, dass die Analyse dieser Erkenntnisverhaltung und Aussage die Intentionalität der Erkenntnis- und Aussageverhaltung eigens beachten und betonen wird.“10 Beachten ja, aber auch betonen im Sinne von ausdrücklich machen? Heidegger beachtet faktisch das Wesen der Intentionalität, was auch durch sein Verwenden von Verben wie „bezogen“ belegt ist, die den lebendigen Hintergrund des Intentionalen beweisen. Auffallend aber ist auch, dass er hier die Intentionalität nicht expressis verbis nennt. Von Herrmann sagt, er erwarte, dass bei dieser Analyse die Intentionalität eigens betont und zur Geltung gebracht werde. Der Sache nach wird diese Erwartung durch den 12. und 13. Absatz eingelöst. Wir jedoch hatten noch zusätzlich erwartet, dass Heidegger, der ja den direkten Bezug zu Husserl schon durch die Fußnote über Ausweisung als Identifizierung ausdrücklich macht, hier auch die Intentionalität beim Namen nennt, so wie er es in den Marburger Vorlesungen ganz selbstverständlich tut. Die Abbildtheorie in der geklärten Husserlschen Fassung wird ohne Einschränkung übernommen. Denn die Verhaltungen des Daseins, freilich in der von Heidegger anverwandelten Gestalt, „sind ebenfalls intentional verfasst“.11 Damit zeigt sich auch der Entdeckungscharakter des vergegenwärtigenden Vorstellens. Bei der Auslegung des Absatz 28, in dem es um die Wahrheit im ursprünglichsten Sinn geht, erinnert von Herrmann daran, dass die Erschlossenheit hier nun, wie schon in der „Hinführung“ zu diesem Band etabliert, in seinem ganzen ontologischen Relief gedacht werden muss, also nicht nur als Begriff der Existenz und ihrer Existenzialien. Sondern dieser ursprünglichste Begriff der Wahrheit der Erschlossenheit steht uns jetzt auch in seiner Dimension des selbsthaft-erschlossenen In-seins und der ekstatischen Erschlossenheit von Welt und Sein überhaupt vor Augen.12 Wahrheit in und als Erschlossenheit meint aber nicht, dass ein subjekthaftes Wesen sich in einem sich selbst setzenden Akt in diese Erschlossenheit eingesetzt hätte. Es gibt also keine Abhängigkeit von einer Subjektivi9

A. a. O., S. 249. A. a. O., S. 251. 11 A. a. O., S. 252. 12 A. a. O., S. 273 f. 10

Die Lunte der Wahrheit

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tät. Vielmehr schließt das Dasein in der Wahrheit seine Seinsmöglichkeit als geworfenes auf. Nur gibt es dafür keinen etwa steuernden Willensakt. Die Erschlossenheit ist ihm faktisch erschlossen und ohne sein Zutun über es gekommen. Dieser alte Ruf nach einem idealen Subjekt kommt aus der Not, das Sein der Wahrheit und ihre Voraussetzungen zu erklären. Das wiederum rührt aus der Forderung her, die Philosophie habe das Apriori zum Thema und nicht empirische Gegebenheiten. Nur ist der Sinn dieses Apriori ontologisch ungeklärt. In der Zurückweisung eines Bewusstseins überhaupt – von Herrmann gibt uns hier wiederum den Hinweis auf Husserl13 – liegt nicht der Abweis eines Apriori überhaupt. Dieses muss allererst im Dasein aufgefunden werden. Wir dürfen aus der Zeitbegriff-Vorlesung von 1925 ergänzen, dass Heidegger dort noch schärfer formulierte, das Apriori habe mit der Subjektivität primär gar nichts zu tun. Gleichwohl habe der Aufweis der fundamentalen Entdeckungen der Phänomenologie „die universale Reichweite des Apriori“ ergeben und seine spezifische Indifferenz gegenüber der Subjektivität.14 Man sieht, dass es angesichts des hohen Verdichtungsgrads dieser Texte wenig Sinn macht, sich in allgemeinen Thesen der Notwendigkeit einer präzisen Textinterpretation zu überheben. Die dadurch auftretende Engführung der ontologischen Begriffe verfehlt allzu oft ihren Gegenstand. Preiswert zu habende Missverständnisse und Vereinfachungen, zumeist in rhetorischer Gelehrsamkeit verpackt, liegen auf der Straße.

Bemerkung zu Sloterdijks Die Lunte der Wahrheit Wie ein halblaut geäußerter Vorwurf, bislang „Nicht gerettet“ worden zu sein, klingt Peter Sloterdijks Sammlung von Essays mit dem gleichnamigen Titel, die allesamt irgendwie auf Heideggers berühmte These aus dem Spiegelgespräch von 1966, „Nur noch ein Gott kann uns retten“,15 antworten. Interessant ist der Zusammenhang, in den Sloterdijk die vorplatonische, von Heidegger nicht nur in der Leibniz-Vorlesung anverwandelte Unverborgenheit stellt. Das Gefahrenpotential der Wahrheit als „Lunte der Wahrheit“ apostrophierend, verfolgt er die These, dass die historische Entwicklung von der Antike bis heute Anlass zu konkreten Befürchtungen von einer Wissensverwertung gibt, die auf eine katastrophenartige Explosion zuläuft.16 Die Entdeckung einer neuen, epochebildenden Wahrheit wird so in 13

A. a. O., S. 283. GA Bd. 20, § 7, S. 101. 15 GA Bd. 16, S. 671. 16 Peter Sloterdijk: Aletheia oder Die Lunte der Wahrheit. Zum Konzept einer Entbergungsgeschichte, in ders.: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, S. 290. 14

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wachsendem Gefährdungsgrad zur Zündschnur der Erkenntnis. Den demokratischen Ansatz in der griechischen Sophistik verbindet Sloterdijk mit Heideggers angeblich daran anknüpfender Übersetzung mit Unverborgenheit und habe damit nur die vorwissenschaftliche Weltauslegung im Blick. Für die Griechen sei es noch um „das Spiel von Entbergung und Verbergung“17 gegangen. Später allerdings sei das Verständnis der Wahrheit in Heideggers Sinne bald dekadent geworden. Die Geschichte des Raubes der Verborgenheit der Wahrheit sei „ausdehnungsgleich mit der Geschichte der Technik und ihrer Sozialisation.“18 Daraus folge, dass alle neuen Wahrheiten nur als Ergänzungen verstanden werden könnten. Die vorsokratische Zeit sei also eine Art „Urkonjunktur“ der Wahrheit gewesen, der einige weitere gefolgt seien.19 All diese zusammen verdienten laut Sloterdijk, der wähnt, darin Heidegger zu referieren, den Titel „Nihilismus“.20 Dabei ist Verborgenheit nicht nichts. Es ist an diesen Gedanken nichts so richtig falsch und nichts so richtig zutreffend. Das liegt auch daran, dass Sloterdijk Heideggers Begrifflichkeit durch eine eigene Metaphorik überwölbt. Aus Grundpositionen der Seinsgeschichte werden Konjunkturen. Das kann durchaus dem Verständnis auf die Sprünge helfen, denn es ist nicht immer ratsam, im Heidegger-Deutsch über Heidegger zu sprechen. Dass dabei die absurdesten Sprachbilder hervorkommen, hat uns schon Günter Grass in den Hundejahren gezeigt. Auch Adornos Jargon der Eigentlichkeit kann uns, bei allen sachlichen Missverständnissen, auch heute noch einen Fingerzeig darauf geben, wie sehr man sich vom Ringen um einen Ausdruck, der eine Sache möglichst treffe, provoziert fühlen kann.21 Es macht Vergnügen, Sloterdijks Metaphern von Feuerwerk und Weltenbrand lesend an sich vorbeiziehen zu lassen. Sie wurden für ein Publikum des sich allmählich (1993) verabschiedenden 20. Jahrhunderts erdacht – ein wenig Zündeln konnte da nicht schaden – und sollen eine Art grusligen Schauder hervorrufen. Das geht bis in die Raffinesse und Liebe zu sprachlichen, freilich manieristischen Details. Beispiel: Erst spät wird uns die Gefahr einer brennenden Lunte der Wahrheit bewusst, weil erst nach der Herrschaft über das moderne nukleare Feuer oder den Eingriff in den genetischen Code eine Wissensdämmerung der europäischen Achsenzeit: nicht etwa auftritt, sondern als Vorgeschichte „dieser Resultate ins Relief tritt“.22 17

A. a. O., S. 286. A. a. O., S. 287; vgl. GA Bd. 29/30, S. 43. 19 Sloterdijk, a. a. O., S. 288. 20 A. a. O., S. 289. 21 s. auch Dieter Thomä: Heidegger in der Satire. Das Herrchen des Seins, in: Heidegger-Handbuch, S. 510 ff. 18

Die Lunte der Wahrheit

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Verwirrender und manierierter kann man einen verwirrenden Sachverhalt nicht ausdrücken. Da erscheint uns der Moderator des „Philosophischen Quartetts“, der sich um ernsthafte Themen bemüht (in der Regel um anthropologische), immer wieder als der große Sprachkünstler, der ein Abstraktum in ein theatralisch leuchtendes Narrativ verwandelt. Seine Figuren überzeugen schon durch ihre exotische Optik. Nur ist bei solcher Verführungskraft besonders große Aufmerksamkeit am Platz, will man Fakten aus dem Textzusammenhang nicht hinter dem Gauklerzug der Sprachbilder verschwinden sehen. Beispiel Nihilismus. Wo sagt Heidegger, aus dem Raub an der Verborgenheit sei schon in vorplatonischer Zeit der Nihilismus entstanden, der sich bis heute durchhalte? Und doch legt der von ihm gebrauchte Begriff diesen Schluss nahe. Unklar ist, ob der Essayist hier auf die groß angelegte Analyse der Langeweile aus der Freiburger Vorlesung von 1929/30 über Die Grundbegriffe der Metaphysik anspielt, aus der er ja zitiert, und sie als nihilistisch deutet, oder auf Heideggers eigentlich lebenslange Auseinandersetzung mit dem Ende der Metaphysik und der Abwehr des Nihilismus. Nur zwei Wahrheitsepochen gebe es in Heideggers geschichtlichem Denken, eine ursprüngliche und eine verfallene. Diese würde, „wie in Großen Erzählungen üblich“,23 durch eine dritte abgelöst, die zum Wiedereintritt der ersten Epoche führen werde. Den Philosophen Heidegger will er daher gar nicht so ernst nehmen und ist „nichts anderes als ein klassischer Erzähler und ein exemplarischer Therapeut“.24 Wer von beiden ist der größere Märchenerzähler? Nun ist es rhetorisch durchaus lohnend, die Neuinterpretation der Geschichte der Wahrheit, zuliebe einer Griffigkeit des Bildes als Narrativ, als Große Erzählung umzudeuten. Sie wirkt dadurch schon viel kleiner, die große Erzählung. Man stelle sich vor, wir läsen Kants Kritik der reinen Vernunft unter der Vorgabe, dies sei ein Bilderbuch und müsse so betrachtet werden. Vor der Hand wäre damit eine angenehme Vorstellung verbunden, man brauchte sich auch um die schwierigsten Sachverhalte der Philosophie nicht mehr zu kümmern, sie wären im schönen Bild verschwunden. Ähnlich hier bei der Seinsgeschichte. Man vergegenwärtige sie sich als freie Bildergeschichte eines Märchenerzählers. Auch wenn wir die Überhöhung dieser Bilder ins Kalkül ziehen, diese Vorstellung ist tatsächlich absurd, und doch macht uns Sloterdijk diesen Vorschlag. Allerdings findet seine sprachliche 22 23 24

Sloterdijk, a. a. O., S. 290. A. a. O., S. 289. Ebd.

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Farbigkeit ihre Grenze: Zu behaupten, Heideggers Deutung der Wahrheitsgeschichte sei ein viel belachtes Narrativ25 – dies zielt klar unter die Gürtellinie. Wir wollen aber davon ausgehen, dass es sich um einen Druckfehler handelt und es „bedachtes“ heißen muss. Dessen ungeachtet bleibt es ein (feuilletonistisches, nicht philosophisches) Vergnügen, Sloterdijks Bildern genießend nachzuschauen.

25

Ebd.

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Blick in die Forschung Ein Blick ist kein umfassender Überblick. Er vermag eine Perspektive wiedergeben, die unsere kann Hinweischarakter haben, mehr nicht. Notgedrungen haftet ihm eine gewisse Willkür an und sogar ein Problem: Es gibt zu unserem Thema keine weitere systematische, monografische Darstellung. Die Habilitationsschrift von Ernst Tugendhat „Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger“ von 1967, auf die hier bereits (zuerst 1974) mehrfach eingegangen wurde, hat Eigenschaften, die man wissenschaftlich nicht beschreiben kann. Sie scheint nämlich, aus unbekannten Gründen, jede nach ihr kommende systematische Auseinandersetzung mit der Wahrheitskonzeption sowohl Husserls als auch Heideggers zu blockieren. Gethmann1 beschreibt das Problem der bisher versäumten Interpretation, wenn auch unter Benennung anderer rationaler Gründe, die wir teilweise nachvollziehen können. Gethmann geht von einem breiten Interesse aus, das der Wahrheitsproblematik generell entgegenkomme. Nur wenige Autoren aber messen der Wahrheitskonzeption bei Heidegger und Husserl Bedeutung zu. Eine phänomenologische Konzeption der Wahrheit scheint nicht zu existieren, nimmt man das Desinteresse der Theoretischen Philosophie als Maßstab. Die negative Einschätzung Tugendhats, Heidegger habe die Wahrheitsfrage überhaupt verfehlt, sei zudem folgenreich gewesen, und habe, im blinden Glauben an diese Behauptung, eine Mauer von Ignoranz und Schweigen errichtet. Die Publikation der Marburger Vorlesungen ist für Gethmann ein guter Grund, die Frage erneut aufzurollen. Wir wollen daran erinnern, dass bei Erscheinen seines Aufsatzes 1989 die Marburger Vorlesungen, die wir als relevant betrachten, noch gar nicht komplett erschienen waren, die Marburger, von uns so genannte Einführungs-Vorlesung, Bd. 17, wurde erst 1994 publiziert. Gethmann betrachtet neben Sein und Zeit nur zwei von fünf entscheidenden Vorlesungen, nämlich die Logik-Vorlesung und die LeibnizVorlesung. Die entscheidende, damals bereits publizierte Grundprobleme1 Carl Friedrich Gethmann: Heideggers Wahrheitskonzeption in seinen Marburger Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von „Sein und Zeit“ (§ 44), S. 101 ff.

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Vorlesung sowie auch die Zeitbegriff-Vorlesung spielen offenbar keine Rolle bei seiner speziellen Herangehensweise. Wir nennen Gethmanns Auswahl der Texte bewusst eine besondere, denn es zeigt sich die bannende Wirkung dieses negativen Zaubers der TugendhatSchrift ungeschwächt auch in seinem eigenen Aufsatz. Gerade die von ihm gewählten Schriften eignen sich für eine Diskussion der bei Tugendhat herausgestellten Scheinprobleme wie Urteilsgehalt und Urteilsvollzug. Als sei es Heidegger vor allem darum gegangen, Husserl „Fehler“2 nachzuweisen. Dieses fragwürdige Beharren besteht darin, dass man sich ‚konsequent‘ von 1967 bis heute nicht mit der Wahrheitsthematik beider Denker befasst, sondern sich mit ganzer Kraft auf Nebenschauplätze ablenken lässt, zu denen das Tugendhat-Buch zu zwingen scheint. Denn auch Gethmann kommt letztlich nicht zu seinem eigentlichen Thema, das der Titel seiner kleinen Abhandlung doch unmissverständlich nennt. Stattdessen lässt er sich die (scheinbaren) Probleme wie den Unterschied von Urteilsgehalt und Urteilsvollzug vollkommen aus der Tugendhat-Schrift vorgeben. Für Gethmann sind die fünf Druckseiten des § 44 a „überhaupt nicht transparent“, die These vom Entdeckend-sein entwickle sich nicht aus den vorangegangenen Argumenten, sondern stehe als Behauptung ziemlich unvermittelt im Raum. Diese zweifellos äußerst schwierig zu durchschauende Systematik des Wahrheitsparagrafen sei „interpretationsbedürftig“.3 Gethmann liest nun die Logik-Vorlesung als Aufklärungsbeitrag zu § 44 a. Von Herrmanns 3. Kommentarband zu Sein und Zeit, der sich u. a. dem vorgeblich Unentwirrbaren widmet (Gethmann über § 44 a: „unentwirrbar verknäuelt“4), erschien erst 2008. In Gethmanns Lesart schnurrt dieser hoch verdichtete Text allerdings zu einem nur bruchstückartig vorliegenden Telegramm zusammen, von entsprechender systematischer Fragwürdigkeit. Sogar noch beim letzten Punkt des Artikels, der Prüfung der Möglichkeit von Falschheit, wird man den Eindruck nicht los, dass Gethmann, ohne sich vorher des Blicks auf das Ganze vergewissert zu haben, sich wiederum nur zur Erläuterung von Detailfragen verführen lässt. Dort bleibt die Analyse leider hängen. Durch eine minutiöse Aufarbeitung von Teilproblemen kann man nun auch die Grundtendenz der Wahrheitsfrage ein Stück weiter entwickeln. Aber muss das soweit gehen, sogar noch die von Heidegger gewählten Beispiele aus der Logik-Vorlesung kritisieren und sie durch das gute, alte Beispiel mit dem Hammer ersetzen zu wollen?5 2 3 4 5

A. a. O., S. 107, 108. A. a. O., S. 104. Ebd. A. a. O., S. 123.

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Auch hier dürfen wir wiederum leise auf den 3. Kommentarband von Herrmanns zu Sein und Zeit und auch auf diese Arbeit verweisen, wo die zentrale Bedeutung und auch herausragende Stellung der Wahrheitsfrage am Ende des 1. Abschnitts herausgearbeitet wurde, so dass wir Fehlurteile wie das vom „Durchgangsthema“6 dem historischen Teil der Rezeptionsästhetik dieses Werks anheim geben können. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“7 Dies könnte als Motto über den fast 600 Druckseiten des Buches von Herrmann Schmitz über Husserl und Heidegger stehen. In ausladendstem Druckgut findet sich kein Raum für eine Interpretation des für beide Denker grundlegenden Problems der Wahrheit. Alle Themen werden, als habe man zu wenig Platz oder zu wenig Zeit gehabt, der Vollständigkeit halber gebracht, kurz angeschnitten, um sie gleich wieder sich selbst zu überlassen. Gleich anfangs stellt der Autor seine beiden Protagonisten in den Zusammenhang mit Leibniz, um ihre jeweiligen Fragen nach dem Sein zu profilieren. Sogleich ist er auch bei der Wahrheitsthematik. Husserls bekannte Bestimmung aus der VI. Logischen Untersuchung wird in einer Fußnote zitiert.8 Ansonsten finden wir Schlüsselbegriffe weithin durch die Kapitel verstreut. Wenn das Inhaltsverzeichnis eines wissenschaftlichen Werks dessen Struktur schon durchsichtig machen soll, dann zeigt sich hier, bei der Aneinanderreihung von Schlagwörtern, dass man ein gegliedertes Denken wohl vergeblich sucht. Als positives Gegenbeispiel nennen wir Bert C. Hopkins: Intentionality in Husserl and Heidegger, bei dem schon das ausführliche Inhaltsverzeichnis die saubere Struktur des Inhalts transparent macht. Heideggers sachlich phänomenologische Auseinandersetzungen mit Husserl sind inzwischen durch die Gesamtausgabe bestens belegt, man sehe sich einen großen Teil der Marburger Vorlesungen an. Dies versäumt zu haben, müssen wir bei Schmitz anmerken. Über die Marburger EinführungsVorlesung von 1923/24, die über viele Kollegstunden hinweg eine direkte oder indirekte philosophische Auseinandersetzung mit Husserl vorträgt, schreibt der Autor: „Kaum war Heidegger durch Husserls leidenschaftliche Protektion Professor in Marburg geworden, begann er dort in seiner ersten Vorlesung, durch die räumliche Distanz vor unmittelbarer Zwischenträgerei geschützt, Husserl mit Nennung von dessen Namen rücksichtslos herabzusetzen, als einen Anführer der verfallenden Flucht des Daseins vor sich selbst“, und das in naturalistischen und banal platonistischen Tendenzen.9 6 7 8 9

A. a. O., S. 125. J. W. von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, Vorspiel auf dem Theater. Herrmann Schmitz: Husserl und Heidegger, S. 47. A. a. O., S. 285.

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Schmitz bezieht sich auf eine Stelle in GA Bd. 17, § 50, S. 284, wo Heidegger das ursprüngliche Versäumnis der Seinsfrage bei Husserl darstellt und dessen Begriff der Intentionalität u. a. seinen Begriff des Daseins in dessen Fluchtgeneigtheit gegenüberstellt. Es ist nicht belegbar, dass Husserl selbst ein Anführer der verfallenden Flucht sei, was immer das auch sein mag. Wenn wir das Verfallensein als einen Grundcharakter in der Sorgestruktur des Daseins sehen, dann ist es schon befremdlich, es auf die Person Husserls als eine Art Schimpfwort umgemünzt zu finden. Es gehört die Einstellung der gezielten Desorientierung dazu, den Grundtenor dieser Vorlesung als eines lebendigen, indirekten Dialogs mit dem früheren Lehrer derart zu verfälschen. Heideggers „frühe Vorlesungen strotzen von schneidender, wenig verhüllter Kritik an Husserls Positionen, die von dessen und seinen Hörern auch registriert wurde.“10 Das erinnert uns an die Mutmaßungen, die vor der Drucklegung der Vorlesungen die Runde machten. Schmitz zitiert auch Löwith, Pöggeler und Schuhmann, einen der Herausgeber von Husserliana. Nach und seit ihrer Drucklegung, die Marburger EinführungsVorlesung erschien 1994, Schmitz’ Buch zwei Jahre danach, verwundert jedes unreflektierte Urteil von neuem. Über 300 Seiten indirekte Kolleg-Gespräche mit Husserl ziehen am Autor vorüber, ohne dass der etwas von diesem Diskurs mitbekommt. Wir sehen ein, dass der anekdotische Wert in einem schweren Werk dieser Größe (es bringt 1,1 kg auf die Waage) eine Rolle spielt. In diesem äußeren Habitus erinnert es uns an Friedrich Hebbels Bemerkung über Adalbert Stifters Nachsommer, der 1857 in drei starken Bänden erschienen war: „Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, dass er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.“11 Abgesehen davon, dass Kritiker nur in seltenen Fällen Bücher zu Ende lesen und die Krone Polens vermutlich immer noch nichts wert ist, geben wir Schmitz das gleiche Versprechen. Daraus lernt man, welche Provokanz im Wesen der Langeweile liegt und zu welchen Attacken sie Anlass geben kann. Zurück zum Anekdotischen. Mit Vergnügen kann man hier12 noch einmal nachlesen, wie es beim 65. Geburtstag Husserls zuging und sich vorstellen, wie Heidegger sein mit Blumen geschmücktes Exemplar von Sein und Zeit dem verehrten Lehrer überreichte. Die Mehrdeutigkeit dieser Geste hat auch heute noch ihren Unterhaltungswert. Aber bringt sie uns auch beim Verständnis der Werke weiter? 10

A. a. O., S. 402. Friedrich Hebbel: 8. Literaturbrief. Der Nachsommer, Eine Erzählung von Adalbert Stifter, in: Illustrirte Zeitung, Bd. XXXI, Nr. 797–1858, Gotha 1858. 12 Schmitz, a. a. O., S. 404. 11

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Schmitz stellt das Versagen der traditionellen Begriffe von Wahrheit und Sein bei Leibniz heraus und sieht darin eine Motivierung für Husserls Weg in den Idealismus.13 Sein ist kein Attribut und ist auch kein Kriterium. Für die Wahrnehmung scheint Kant allerdings ein solches besessen zu haben. Dass hier eins der Grundprobleme der Phänomenologie vorliegen könnte, bekommen wir nicht zu sehen. Im Kapitel „Sein und Wahrheit“, dessen Stellenwert und Bedeutung im Buch unklar ist, kommt der Autor auf das Thema Wahrheit bei Heidegger, das dieser „spaltet, ohne sich dazu zu bekennen, das Sein in ein verspätetes, das über die Wahrheit vom Dasein abhängt, und ein sozusagen rechtzeitig gekommenes, das auf das Dasein nicht wartet, dafür aber Sein des Seienden ist“.14 Warum sollte Heidegger das Sein spalten? Warum und wie sollte die Wahrheit vom Dasein abhängen oder das Dasein von der Wahrheit abhängig sein? Aufklärung darüber hätte man vom Text erwarten dürfen. Immerhin kommt nun der Wahrheitsbegriff Heideggers im Rekurs auf die Freiburger Metaphysik-Vorlesung vor. Schmitz zitiert die Definitionen von der Erschlossenheit und ahnt ihre Nähe zum Entdeckend-sein. Aber eine Klärung des ontologischen Zusammenhangs beider fehlt. Auch die Wahrheitsbegriffe beider Denker werden nicht in Relation gesetzt. Wir haben ein Werk vor uns, dessen Charakter Heidegger als sophistisch beschrieben hätte. Die schwierigsten Probleme werden uns mit großem Gestus vor Augen geführt, aber leider nicht so lange, dass man Einzelheiten erkennen könnte. Nur wenige Arbeiten nehmen die Marburger Vorlesungen zum Vorbild für eine Auseinandersetzung mit Heideggers Rezeption des Husserlschen Denkens, obwohl jene eine zumeist unbeachtete Fundgrube darstellen. Cheungs Buch gehört zu diesen wenigen. Für ihn sind die Vorlesungen der „Leitfaden“15, den er konkret verfolgen will. Dabei geht es ihm gar nicht um die Frage nach der Wahrheit bei beiden Denkern, sondern um die Art und Weise, wie Heidegger sich in den Marburger Vorlesungen mit Husserls Phänomenologie auseinandersetzt. Bei der Kritik des Psychologismus spielt die Logik-Vorlesung die entscheidende Rolle. Hier sieht man den Zusammenhang, wie, vom Psychologismus ausgehend, die Frage nach der Wahrheit im Rahmen der Phänomenologie des Bewusstseins gestellt wird. Als Ergebnis dieser Kritik entspringt die Intentionalität als Wesenscharakter des Psychischen.16 Die Seele 13

A. a. O., S. 47. A. a. O., S. 275. 15 Chan-Fai Cheung: Der anfängliche Boden der Phänomenologie, S. 6 (Leider ist die ganze Arbeit voller Tippfehler.). 14

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braucht keine Brücke, die sie über sich hinaus zum Gegenstand führt, sondern ihr intentionaler Charakter macht ihre Struktur aus. Damit radikalisiert Husserl den bei Brentano gefundenen Begriff des Intentionalen.17 Die intentionale Aussagewahrheit führt Husserl zu einer neu gefassten Wahrheit der Anschauung. Damit überwindet er zwar nicht den traditionellen Wahrheitsbegriff, aber er treibt ihn in seine äußerste Bedeutung.18 Geltung und Identität stehen in einem Fundierungsverhältnis zueinander. Das Verständnis der Übereinstimmung von Gemeintem und Gegebenem ist die Voraussetzung der Geltung. Ebenso ist der Begriff der Evidenz nicht ohne den Einfluss der Tradition denkbar. Besonders die vier Bestimmungen der Erkenntnis bei Leibniz, die auf Descartes zurückgehen, standen Pate. Ähnlich verhält es sich beim Begriff der Anschauung, den Husserl bei Kant aufnimmt und radikalisierend zuspitzt. Im Lichte der Intentionalität beginnen diese traditionellen Begriffe ein neues Leben. Die Fragen nach den Wurzeln der Phänomenologie, letztlich in der Frage nach dem Sein, führen Cheung zur Behandlung der Zeitbegriff-Vorlesung. In diesem Zusammenhang ist Vorsicht mit der Umstellung von HusserlZitaten geboten. Im Vorblick auf Heideggers Kritik bietet zwar der von Cheung gebildete Satz: „somit beginnt das Problem mit der Phänomenologie mit der Intentionalität!“19 bereits diese Kritik, aber auch das Originalzitat Husserls aus dem ersten Teil der Ideen ist ja durchaus voller Problembewusstsein: „Somit beginnt die Phänomenologie mit Problemen der Intentionalität“.20 Die Urenkelschüler Heideggers wie alle Schüler leben oft mit dem Vorwurf, sie würden jedes Argument von vorneherein nur zum Lobe des ‚Meisters‘ erfinden und vorbringen. Solche Umstellungen von Zitaten, selbst wenn sie als solche kenntlich gemacht werden, könnten diesen Vorwurf beschleunigen. So sieht man, wie Cheung die Argumentation Heideggers zuungunsten seines faktisch vorhandenen, lebendigen Entwicklungsgangs ‚glättet‘. Er beschreibt eher dessen Ergebnisse als ihre Entwicklung. „Von der Intentionalität des psychischen Phänomens oder des Bewusstseins ist von vornherein nicht die Rede.“21 Wir haben auf den durchaus mühsamen Denkprozess Heideggers aufmerksam gemacht, der schließlich, nach vielen Zwischenschritten, zu einer genuinen Anverwandlung der Intentionalität führte. 16

A. a. O., S. 27. A. a. O., S. 29. 18 A. a. O., S. 33. 19 A. a. O., S. 49. 20 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Hu Bd. III, 1, S. 337. 21 Cheung, a. a. O., S. 49. 17

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Dagegen ist Cheungs Differenzierung von (erkenntnistheoretischen) zwei verkehrten Weisen der Intentionalität, einer falschen Objektivierung und einer falschen Subjektivierung, erhellend und der Sache dienlich.22 Dasselbe gilt für seine Ausführungen über die natürlich-vorphänomenologische und die phänomenologische Betrachtung.23 Im Vergleich der Wahrheitsdefinitionen aus der VI. Logischen Untersuchung mit der Fixierung dreier Definitionen, die aus einer Interpretation dieser geschöpft sind und ein Zwischenergebnis in der Zeitbegriff-Vorlesung darstellen, ergibt sich u. a. Husserls Übersehen der ontologischen Differenz und zugleich der Ort, an dem nach Cheung die Seinsfrage „andeutend mit dem dritten Begriff im Hinblick auf die Gegebenheit der Fülle des Gegenstandes“24 gestellt wird. Des Weiteren verdanken wir dieser Arbeit die Einsicht in weitere Feinheiten. Der Autor führt aus, dass die Wahrnehmungsaussage gemäß der Intentionalität ein Ausdruckgeben ist. Im fundamentalontologischen Denken ist damit die Ausdrücklichkeit des Daseins vorausgesetzt. Das deutet Heidegger nur an, Cheung erläutert es: Das Ausdrücken ist „in der existentialen Struktur der Entdecktheit eingebettet“.25 In der Ausdrücklichkeit des Daseins sind „Kundgabe und Mitteilung zwei von vier Strukturmomenten der Rede, die dem Ausdrücken und Aussagen zugrunde liegt“.26 Wir bekommen hier eine Ahnung von der Differenziertheit der komplexen Gedankengänge. Wegen des Überschusses an Intentionen in der Wahrnehmungsaussage stellt Heidegger Husserls kategoriale Anschauung ins Blickfeld, damit erklärbar wird, freilich nur im Rahmen der Wahrheitsanalyse Husserls, wie diese Wahrnehmung in einer nichtgegenstandsbezogenen Anschauung gründet.27 Diejenigen Momente in der Aussage, die keine sinnliche Entsprechung durch anschauliche Wahrnehmung finden, haften in der nichtsinnlichen, also kategorialen Wahrnehmung. „Die Unterscheidung der kategorialen von der sinnlichen Anschauung gründet also in dem Fundierungsverhältnis zwischen den entsprechenden Akten und Gegenständen.“28 Der Ursprung der kategorialen Anschauung liegt also nicht in einem immanenten Bewusstsein, sondern in dessen intentionaler Struktur. Auch zu der von Heidegger in der Zeitbegriff-Vorlesung dargestellten dritten bahnbrechenden Entdeckung der Phänomenologie, nämlich des Apriori, erhalten wir in Cheungs Arbeit zahlreiche, dem Verständnis hilfrei22 23 24 25 26 27 28

A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., Ebd. A. a. O., A. a. O.,

S. S. S. S.

50. 54 ff. 65. 67.

S. 68 f. S. 72; bei Cheung steht leider „sittlichen“ statt „sinnlichen“.

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che Details. Heidegger zeige, dass das Apriori, wie seit Descartes und Kant geglaubt, keineswegs nur unter der Voraussetzung und Beibehaltung der Subjektivität seine Geltung hat. Es ist nicht einfach, es als der objektiven Gegenständlichkeit zugehörend zu verstehen. Nachdem er darauf die Grundzüge der Husserlschen Phänomenologie geschildert hat, kommt er in den §§ 13–15 seiner Arbeit auf die drei Entdeckungen der Phänomenologie zurück, um deren ursprünglichen Sinn nach Heidegger zu deuten. Wir beschränken uns auf die kategoriale Anschauung. In ihr erfasst das Subjekt ideale und kategoriale Gegenstände in schlichten Wahrnehmungen. Im Ausgang von der Intentionalität ist die kategoriale Anschauung ein weiterer „Schritt, in dem die Phänomenologie in ihren Möglichkeiten zur Entfaltung kommt“.29 Etwa die Aufhellung des Intendiertseins. Im Unterschied zwischen der sinnlichen und der kategorialen Anschauung bietet sich „eine entscheidende Einsicht in die Seinsfrage“.30 Cheung gibt einen Hinweis auf das Zähringer Seminar von 1973, in welchem Heidegger sich erinnerte, dass das Sein, um befragt werden zu können, erst einmal gegeben sein musste. Und das war es, wohlgemerkt ohne Reduktion auf ein transzendentales Subjekt, in der kategorialen Anschauung Husserls.31 Die Kategorie der Substanz im Sein des Gegenstands ist schon gegeben mit den sinnlichen Gegebenheiten, damit auch die kategorialen Formen. Diese Entdeckung Husserls habe Heideggers Denken in Bewegung gebracht. Sie sind also nicht, wie bei Kant, vermittelt in den reinen Verstandesbegriffen als Herleitungen aus den Urteilen, sondern unmittelbar anwesend und begründen damit den Weg zur einer ausweisenden Erforschung der Kategorien. So zeigt sich, wie die Kategorien „unmittelbar zugänglich sind“.32 Damit wird auch die Idee der Objektivität vertieft und radikalisiert. „Das Sein des Seienden ist ein Gegebenes. Dies ist der Sinn der Entdeckung der kategorialen Anschauung.“33 Es bedarf also keiner phänomenologischen Reduktion, um dem Sein auf die Spur zu kommen, sondern einer einfachen Akzeptanz dessen, was sich gibt. Cheung kommt zum Ergebnis, dass die Philosophie Husserls wegen der nicht gestellten Seinsfrage nicht in der Lage ist, ihrem eigenen Anspruch gemäß, die Sachen selbst zu entdecken, zu verfahren, das heißt, sie ist im strengen Sinne noch nicht phänomenologisch.34 29 30 31 32 33 34

A. a. O., S. 145. A. a. O., S. 146. GA Bd. 15, S. 378 (116). Cheung, a. a. O., S. 152. A. a. O., S. 153. A. a. O., S. 197.

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Wie nun aber die Intentionalität im besorgenden Sein-bei eines Daseins, das als erschlossenes je schon in einen Horizont der Entdecktheit transzendiert ist‚ ja diese Transzendenz selber ist, ‚ihre neue Heimat findet‘, und welche Konsequenzen das auf den anfänglichen Boden der Phänomenologie hat – Antworten darauf bleibt uns Cheung in dieser Arbeit schuldig. Man wird den Eindruck nicht los, dass seine Arbeit mittendrin quasi abbricht, als wären die letzten Korrekturseiten schon im Flughafenwartesaal gelesen worden. Wie sonst ist es zu erklären, dass der Autor auf Heideggers in der Zeitbegriff-Vorlesung erfolgte, ausführliche Interpretation des 6. Kapitels der VI. Logischen Untersuchung hinweist, ohne die von ihm gemeinten Textpassagen zu nennen?35 In der Endnote zu dieser Stelle ist nur die Bemerkung enthalten, dass dieses Kapitel der Vorlesung 36 Seiten umfasst; welche gemeint sind, erfahren wir dort nicht. Die Marburger EinführungsVorlesung (publiziert 1994) war zum Zeitpunkt der Abfassung der Arbeit (vor 1983) noch nicht erschienen. Aber auch die Leibniz-Vorlesung zieht Cheung gar nicht heran und die Grundprobleme-Vorlesung streift er nur. Vielleicht wäre es besser gewesen, der Untertitel hätte nicht generell auf die „Marburger Vorlesungen“ gelautet, sondern wäre eingeschränkt worden auf die beiden, die tatsächlich behandelt wurden, nämlich die Zeitbegriffund die Logik-Vorlesung.36 In Schönlebens Buch über Wahrheit und Existenz spielt die Auseinandersetzung mit Husserl eine zentrale Rolle. Dessen vorbereitende Grundlegung des Wahrheitsthemas durch den Begriff der Intentionalität ist im Anschluss einer historischen Orientierung über Wahrheit gleich Übereinstimmung sein erstes Hauptkapitel. Hier entwickelt er Husserls Begriff der Intentionalität anhand eines Referats der Logischen Untersuchungen, setzt sie vom Begriff des Intentionalen bei Brentano ab. Der nicht reelle, transzendierte Charakter des intendierten Gegenstands wird hervorgehoben, erst mit ihm mache diese Entdeckung Sinn.37 Mit der Freilegung der vollen Struktur der Intentionalität entsteht „das apriorische Sachfeld der deskriptiven Phänomenologie“,38 also nicht der deskriptiven Psychologie, wie Husserl noch missverständlich in der 1. Auflage von Band II der Logischen Untersuchungen geschrieben und sich damit den Vorwurf der Ketzerei zugezogen hatte. Im weiteren Verlauf der Arbeit gewinnt der Autor in transparenten Auseinandersetzungen mit dem Text die vier bekannten Wahrheitsbegriffe aus der VI. Logischen Untersuchung. Eine fundamentalontologische Radikalisie35

A. a. O., S. 151. So auch seine Einleitung auf S. 6. 37 Erich Schönleben: Wahrheit und Existenz. Zu Heideggers phänomenologischer Grundlegung des überlieferten Wahrheitsbegriffes als Übereinstimmung, S. 80. 38 A. a. O., S. 85. 36

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rung der Intentionalität durch Heidegger im dritten Kapitel bereitet die Analyse der Seinsart der Wahrheit als Erschlossenheit des vierten Kapitels vor. Husserl bleibt bei der Frage nach dem Sein des Seienden als einer metaphysischen Frage beim intentionalen Bewusstsein stehen. Der phänomenologische Blick wendet sich in der Gegenrichtung der natürlichen Einstellung, vermittels einer reflexiven Rückbeugung, in eine reine Erlebnisregion des Subjekts. In einem nächsten Schritt geht das Ich zu den Wesensgesetzen der Erlebnisarten, dem „intentionalen Strukturbestand einer Wahrnehmung überhaupt“.39 Diese in Ideation gegebene Welt zeigt sich als eingebunden in eine statische und dann dynamische Wesensdeskription. In diesen Schritten der Reduktion wird die Welt in die absolute Subjektivität zurückgenommen. Die strukturelle Voraussetzung der Reduktion liegt im Bewusstsein als eines intentional verfassten. Dabei bleibt Husserl stehen.40 Das Erkennen des Objektiven ist nur möglich durch die Bewusstseinsakte. „Heidegger geht diesen Subjektbegriff nicht mit“,41 da er der Phänomenologie nicht wesenseigen ist. Statt sich auf das zu verlassen, was der Blick auf die Sachen selbst lehrt, verlässt er sich auf eine konventionelle, dogmatische Setzung. Mit anderen Worten: Der Aus- und Rückgang auf das Subjekt ist nicht sachbezogen im Sinne einer phänomenologischen Zugangsart und also unphänomenologisch. Neben dem Versäumnis, die Seinsart „des sich in intentionalen Akten vollziehenden Seienden“42 zu klären, ist es die versäumte Frage nach dem Sein selbst, die Heidegger nach Schönleben von Husserl weg auf seinen eigenen Weg bringt. Nach einem breit ausgeführten Referat der Erschlossenheit auf Textbasis von Sein und Zeit kommt Schönleben im vierten Kapitel auf sein Thema einer phänomenologischen Grundlegung des Wahrheitsbegriffs der Übereinstimmung zurück. Die Behauptung des Autors, solche epische Breite sei notwendig für ein zureichendes Verständnis dessen, was nun ausgeführt werden soll, kommt nicht so ganz plausibel rüber. Denn der Leser will wissen, warum eine breite Darstellung notwendig ist und in welchem konkreten Bezug sie zum in Frage stehenden Problem steht. Dieser Bezug scheint uns zuweilen ein wenig locker zu sein. Von den für die Thematik der Wahrheit interessanten Marburger Vorlesungen war nur die erste, die EinführungsVorlesung, zur Zeit der Abfassung dieser Arbeit vor 1987, noch nicht erschienen. Die Bände 20, 21, 24 und 26 lagen schon vor. Schönleben begnügt sich mit wenigen Verweisen, Interpretationen fehlen ganz. 39 40 41 42

A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O.,

S. S. S. S.

110. 111. 112. 115.

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Dafür entschädigt er uns mit einer Auslegung von Existenz und Transzendenz des § 44 in Sein und Zeit, der die zentrale Wahrheitsanalyse enthält. Die Wahrheitsfrage, so wie Heidegger sie ansetzt, verfügt über ein spezifisches „Eigenwesen“.43 Weder will er sie anthropologisch noch aus dem Leben herleiten. Vielmehr soll sie aus der Existenz des Menschen ontologisch verstehbar werden. Damit ergibt sich, „dass die Wahrheit des Seins als Erschlossenheit in die Existenz des Menschen zurückschlägt“.44 In einem Rückgriff auf historische Bestimmungen von Existenz will Schönleben die spezielle Bedeutung der Existenz für Heideggers Wahrheitsbegriff aufweisen. Referiert werden Existenzbegriffe beginnend bei Thomas von Aquin über Leibniz, Kant bis zu Schelling, Kierkegaard und Jaspers. Dagegen stellt der Autor den existenzialen Seinscharakter einer ontologisch gesehenen Wahrheit in einer horizontalen Erschlossenheit. Die Existenz ist dahingehend auszulegen, inwiefern es ihr gelingt, in den Seinsstrukturen die ursprünglichste Wahrheit offen zu halten.45 Auch in seinem „§ 14 Wahrheit aus endlicher Transzendenz“ bleibt es der Geduld des Lesers überlassen, abzuwarten, wann der Autor zu seinem Thema kommt. Hier ‚verfließen‘ zunächst 13 Seiten mit Referaten aus Sein und Zeit und der Kantschrift, bis er sich etwa in der Hälfte des §46 zum ersten Mal seinem Thema der Transzendenz zuwendet. Darunter versteht der Autor aber keineswegs die Transzendenz des Daseins, in welcher ihm Wahrheit in seiner Zeitlichkeit immer schon erschlossen ist. Dies hätte etwa ein Blick in die bereits 1978 erschienene Leibniz-Vorlesung ergeben. Hier liegt der direkte Bezug zur Wahrheitsthematik, den man ergreifen kann, ohne eine „Stufenleiter der Wahrheit“47 zu bemühen. Für Schönleben ist Transzendenz ein eher theologischer Ansatz bei einer „endlichen Transzendenz“, die er aus dem Verstehen der Endlichkeit des Daseins als seines Todes interpretiert. Dies mag auch angehen, aber ist ein Ausflug in die Analyse des Seins zum Tode wirklich erforderlich, um den ontologischen Begriff der Wahrheit zu entwickeln, oder geht man da nicht besser von einer Analyse der Sache selbst, also des § 44 aus? Wie aber ist der konkrete Bezug der endlichen Transzendenz zur Wahrheitsthematik? Was hat dieser Begriff der endlichen Transzendenz mit der traditionellen oder auch fundamentalontologischen Analyse der Wahrheit zu tun? Dieser zweifellos vorhandene Bezug bleibt hier im Dunkeln. Man wird den Verdacht nicht los, dass es sich hier um einen vielleicht unwillentlich auf43 44 45 46 47

A. a. O., Ebd. A. a. O., A. a. O., A. a. O.,

S. 174. S. 208. S. 223. S. 233.

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gebauten und eingehaltenen Respekt- oder Furchtabstand zur Sache handelt. Wir wollen dem Autor nicht unterstellen, dass das Gliederungsprinzip der Arbeit möglicherweise in der Aneinanderreihung von Seminarprotokollen bestanden hat. Später dann wäre man der Aufgabe nachgegangen, dazu Paragrafen und Überschriften zu suchen. Aber, wie sollen wir dann die Gliederung als sachdienlich erkennen? Das Konzept von Pillers Buch über Sein und Denken bei Husserl und Heidegger48 ist hochinteressant. Er wählt den ungewöhnlichen Weg über Heideggers späteste Äußerungen im Zähringer Seminar von 1973, um sie am frühen Husserl, seinen Logischen Untersuchungen, zu realisieren. Der Relation von Sein (Heidegger) und Denken (Husserl) will er im Ausgang vom vorsokratischen Satz des Parmenides nachgehen. Wir beschränken uns auf Pillers Ausführungen, die unmittelbar mit unserer eigenen Thematik zu tun haben. Bei Husserl hat das Sein, so wie auch Heidegger es in der kategorialen Anschauung sieht, in „der Evidenzthematik überhaupt und in den LU im besonderen seinen eigentlichen Platz“.49 Die evidente Wahrnehmung will ihren Gegenstand als wahren im Sinne des Seins und Wirklich-Seins anschauen. Allgemein ist die Korrelation von Evidenz und Wahrheit als Bestimmung des Seins gemeint, speziell aber dem dritten Wahrheitsbegriff aus der VI. Logischen Untersuchung zugeordnet. Nur die Intentionen, die sich auf das Wahrsein einer Bedeutungsintention richten, kommen hier in Betracht und damit Husserls absolute Adäquation als solche. Die Schwierigkeit dieses Evidenzbegriffs formuliert der Autor in der Frage, wie es möglich ist, dass das Vermeinen intendieren kann, ohne eine Erfüllung vorauszusetzen, die ja in der Identifizierung erst geleistet wird. Die Erkenntnis des vorliegenden hermeneutischen Zirkels scheint den Autor nicht zu befriedigen, denn er meint, damit sei die traditionelle Erkenntnisproblematik nicht gelöst, sondern nur „eine Stufe weiterverschoben“.50 Es ist äußerst schwierig, sich die Notwendigkeit des Zirkels klarzumachen, der von uns verlangt, dass wir, freilich phänomenologisch, nicht formallogisch, in ihn einsteigen, und nicht, dass wir ihn vermeiden. Auch Heideggers Zeitbegriff-Vorlesung hatte auf den Wahrheitsbegriff als Sein und Wirklich-sein abgehoben, da Husserl ihn gerade gegen den Psychologismus hatte wirken lassen. Die Fülle selbst, in der der Gegenstand gegeben ist, ist das herausgehobene Moment des dritten Wahrheitsbegriffs und mit dem Wirklich-sein gemeint. Das heißt, in den Logischen Untersuchungen haben wir von einer nicht ausdrücklich gemachten, aber ur48

Gereon Piller: Bewusstsein und Da-sein. Ontologische Implikationen einer Kontroverse. 49 A. a. O., S. 57. 50 A. a. O., S. 62.

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sprünglichen Korrelation von Wirklich-sein und Bewusstsein überhaupt auszugehen.51 Denken im Sinne von Pillers Hauptthese bedeutet Intendieren von Wahrheit im Sinne des Wirklich-seins. Identität ist Basis und Ziel der Korrelation von Denken und Sein. Husserls Grundgedanke ist die „Urüberzeugung von der Relationalität von Denken und Sein“.52 Soweit so gut, aber warum und wie soll diese nicht ganz überraschende These mit Heideggers Frage nach dem Sein und die Relation beider wiederum mit dem Spruch des Parmenides zusammenhängen? Das Kapitel über das Da-sein enthält mehrfache Rückgriffe auf den späteren Wahrheitsbegriff nach der so genannten Kehre, leider aber wenig Erhellendes zu § 44 in Sein und Zeit, der offenbar für die Relationsfrage dieser Arbeit unergiebig war. Eine phänomenologische, immanente Interpretation des Zähringer Seminars, das so eine Art geistigen Angelpunkt der Arbeit bildet, im ganzen Zusammenhang, hätte man sich gewünscht. Stattdessen muss man sich die einzelnen Bruchstücke in der ganzen Abhandlung zusammensuchen. So referiert Piller zum Beispiel Heideggers Sätze über das Gegründetsein der Intentionalität in der Ekstatik des Daseins53, aber er legt sie nicht aus. Diese aneignende Interpretation hätte die Wurzel des Rätsels Relation beleuchten können. Ähnlich bei seinem Referat der Erschlossenheit. Es steht im Zusammenhang einer Zusammenfassung dreier Momente, an denen Sein und Zeit dem Autor zufolge auf dem Weg stehen bleibt. Im Punkt drei über Da, Erschlossenheit, Wahrheit und Offenbarkeit bleibe Heidegger „letztlich im Raum der Husserl’schen Selbst-gegebenheit“54 stehen. Dass es sich gerade umgekehrt verhält, zeigt ab 1976 von Herrmanns Buch Subjekt und Dasein. Eine persönliche Bemerkung zum Schluss dieses Anhangs sei mir erlaubt. Viele philosophische Fachautoren stellen ihre Auslegungen in den Zusammenhang ihres eigenen geistigen Systems, ohne zu berücksichtigen, dass sie für Leser und Leserinnen schreiben und nicht nur für sich selbst. Das hat zur Folge, dass ein ohnehin schon komplexes System in ein anderes, meist nicht so komplexes, aber umso komplizierteres System übersetzt wird. Ein zufälliges Beispiel aus einem beliebigen Kontext: Sätze wie „Ja, wenn es anders wäre, könnten wir überdies wohl jetzt gar nicht ‚so‘ davon reden. . .“55 mögen formal intentional interessant sein, auch ein gutes Beispiel für Seiendes, das man in kategorialen Anschauungen bestimmen kann. 51 52 53 54 55

A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O., A. a. O.,

S. S. S. S. S.

69. 96. 117. 121. 59.

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Aber dient solches auch dem Gedankengang des Autors und gar unserem Verstehen? Einfache Anführungsstriche, zusätzlich Kursivdruck, drei Punkte, ansonsten eine Reihe von Füllwörtern. Das hat keinerlei sachhaltigen Wert und nur den einen Zweck, zu präsentieren, mit welchem gedanklichen Zierrat der Autor assoziativ in der Lage ist umzugehen. Sich dafür sogar entschuldigend nennt er seinen Satzbau kompakt.56 Er ist nicht kompakt, das wäre ja ein Vorzug, sondern unnötig kompliziert. Wenn eine Person laut sprechend sich auf einen zu haltenden Vortrag vorbereitet und den sachlichen Gedankenfluss damit erst einübt, können solche Gebilde zustande kommen. Nun übt man ja laut, um sich dabei zu kontrollieren oder verbessern zu lassen. Wir haben den Eindruck, Zeugen eines nicht korrigierten, inneren Monologs zu sein und dürfen daran erinnern, dass eine wissenschaftliche Facharbeit viel strengeren Sprachgesetzen gehorchen muss. Mir ist es bei der Lektüre streckenweise so ergangen, dass ich, auf der verbissenen Suche nach einem einleuchtenden Gedanken, zunächst Subjekt, Prädikat und Objekt mit Bleistift unterstreichen musste, um einen gewissen Überblick zu gewinnen. Ist mit der Veröffentlichung einer Arbeit nicht auch eine Verpflichtung des Autors der Öffentlichkeit gegenüber verbunden? Zur klärenden Erholung konnten mir dann nur noch die Texte selber dienen, also die VI. Logische Untersuchung oder die Wahrheitsanalyse in Sein und Zeit. Wir meinen, dass es gerade bei hochkomplexen Inhalten, wie es die philosophischen nun einmal sind, eine Pflicht zum klärenden, einfachen Verständlichmachen zumindest einem Fachpublikum gegenüber gibt. Das kann man sich während des Studiums aneignen. Vielleicht durch die Lektüre der Marburger Vorlesungen, die auf höchstem kommunikativem Niveau zweierlei leisten: Sie richten sich direkt an die Studentenschaft und nehmen dabei die von uns angemahnte Aufgabe der Vermittlung an Rezipienten sehr ernst. Dies zeigt sich an vielen, während der Verlautbarung gefundenen, spontanen Erläuterungen und auch Wiederholungen, die dem Verständnis der Studentenschaft dienen. Heidegger machte ihr immer wieder die ‚Gelenke‘ seiner Gedanken sichtbar. Und sodann zeigt es sich an seinem offen geführten, indirekten Dialog mit Husserl.

56

A. a. O., S. 17.

Nachwort „Im Denken wird jeglich Ding einsam und langsam.“1

Sehr langsam ging es mit der Publikation dieser Arbeit voran. Am 31.07.1974 wurde sie als Staatsarbeit im Fach Philosophie begonnen und am 23.01.1975 bei der Philosophischen Fakultät der Freiburger Universität eingereicht und zu einem vorläufigen Ende gebracht. Das Thema lautete: „Wahrsein als Identifizierung im Horizont von Bewusstsein und Dasein. Ein Beitrag zur kritischen Rezeption Husserls durch Heidegger“ Heidegger selber wurde durch seinen damaligen Privatassistenten, meinen verehrten Lehrer Prof. Dr. F.-W. von Herrmann, über den Fortgang der Arbeit unterrichtet und zeigte lebhaftes Interesse. Dazu gab er Hinweise zu einem strukturierten Gedankengang. Von Zeit zu Zeit erinnerten sich wenige an diese Arbeit über Heidegger und Husserl – so mein Freund Prof. Dr. Lutz Ellrich, der sie bei unseren Treffen seit 1975 immer wieder ins Gespräch brachte und so dem Vergessen ein ums andere Mal entriss. Aber es dauerte 33 Jahre, bis der (richtige) Stein ins Wasser geworfen wurde, der die Arbeit zu neuem Leben erweckte. Inzwischen war ein langes Berufsleben in der Öffentlichkeitsarbeit nicht beendet, aber vorangeschritten. (www.afoe.de; www.venusmusic.eu) Im Januar 2009 war es dann Herr von Herrmann, der mich, wie immer wohlwollend und hilfreich, wieder einmal an meine damalige Auslegung von Husserls Logischen Untersuchungen erinnerte und an die große Bedeutung dieses Durchbruchs der Phänomenologie von 1900/01, die auch Heidegger selber ihm gegenüber betont hätte. Das phänomenologische Untersuchen hatte ich in von Herrmanns Seminaren und Vorlesungen erlernt. Ihm sei für seine bis heute unermüdliche, kenntnisreiche und geduldige Einstellung mir gegenüber besonders gedankt. Das Regierungspräsidium Freiburg im Breisgau teilte mir jüngst auf Anfrage mit, dass Zulassungsarbeiten nach fünfjähriger Lagerzeit vernichtet würden, meine also 1980. Mein Sohn Niklas fand die Arbeit dennoch in unserem Lager nach geduldiger Suche im Januar 2009 in Gestalt eines gebundenen, kaum noch lesbaren Durchschlags mit dunkelblauen Deckeln, 1

Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, GA Bd. 13, S. 81 (17).

182

Nachwort

einsortiert in eine von vielen Umzugskisten – eine wieder erwachende Herausforderung. Inzwischen sind Heideggers Marburger Vorlesungen längst erschienen und die Logischen Untersuchungen nach den Einzelausgaben auch im Rahmen der Husserliana herausgekommen. So ging ich im Januar 2009 erneut an die Arbeit, überprüfte frühere Resultate und stellte sie in einen Kontext mit neuen Publikationen. Vor allem behandelte ich in einem eigenen neuen vierten Kapitel fünf der Marburger Vorlesungen. Im erweiterten Rückblick ergibt sich folgendes. Von der Philosophie Heideggers und auch Husserls hörte ich schon als Schüler. Mein damaliger Lehrer Bernhard Eppens im Unterrichtsfach Philosophie hatte es unwissentlich geschafft, dass ich als Sechzehnjähriger in der Rheydter Buchhandlung Mühlen ein Exemplar von Sein und Zeit, 11. Auflage erwarb. Man muss davon ausgehen, dass in der mittleren rheinischen Kleinstadt, wo ich geboren wurde, heute Mönchengladbach-Rheydt, keine 15 Personen zu finden waren, denen der Name Martin Heidegger etwas sagen mochte. Wichtiger aber war, dass Eppens uns an Hand von § 2 „Die formale Struktur der Frage nach dem Sein“ nicht etwa mit Problemen, denen wir nicht gewachsen gewesen wären, traktierte. Dazu wäre er als früherer Assistent von Max Bense in Jena und ausgesprochener Kenner auch der Husserlschen Schriften durchaus in der Lage gewesen. Vielmehr erklärte er uns Schülern der Obersekunda damit den Charakter einer jeden Fragestellung überhaupt. Was ist das, eine Frage? Weiter ging es mit meinem Studium der Heidegger-Schriften an der Universität Köln – in Vorlesungen und Zwischenprüfung bei Prof. Dr. KarlHeinz Volkmann-Schluck und Übungen über Parmenides bei seiner damaligen Assistentin Dr. Ingeborg Schüßler. Später wurde ich an Korrekturarbeiten einiger Bände der Heidegger Gesamtausgabe beteiligt und blieb so stets im Kontakt mit der Sache, um die es mir ging. 1982 erschien meine Dissertation über Adalbert Stifter.

Literaturverzeichnis Biemel, Walter: Gesammelte Schriften. Band 1: Fragen zur Philosophie. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1996. Brentano, Franz: Psychologie vom Empirischen Standpunkt, Hrsg. Oskar Kraus, Hamburg 1955. – Wahrheit und Evidenz. Hrsg. Oskar Kraus, Hamburg 1974. Bretschneider, Willy: Sein und Wahrheit. Über die Zusammengehörigkeit von Sein und Wahrheit im Denken M. Heideggers, Meisenheim am Glan 1965. Cheung, Chan-Fai: Der anfängliche Boden der Phänomenologie. Heideggers Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls in seinen Marburger Vorlesungen, Frankfurt am Main 1983. De Almeida, Guido Antonio: Sinn und Inhalt in der Genetischen Phänomenologie E. Husserls, Den Haag 1972. Feick, Hildegard: Index zu Heideggers „Sein und Zeit“. 4., neubearbeitete Auflage von Susanne Ziegler, Tübingen 1991 (1. Auflage 1961). Figal, Günter/Gander, Hans-Helmuth: Heidegger und Husserl. Neue Perspektiven, Frankfurt am Main 2009. Fink, Eugen: Studien zur Phänomenologie 1930–1939, darin: Vergegenwärtigung und Bild, S. 1–78, Den Haag 1966. Gander, Hans-Helmuth: Selbstverständnis und Lebenswelt. Grundzüge einer phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von Husserl und Heidegger, Frankfurt am Main 2001. Gethmann, Carl Friedrich: Heideggers Wahrheitskonzeption in seinen Marburger Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von „Sein und Zeit“ (§ 44), in: Hrsg. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt am Main 1989, S. 101–130. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, darin: Die metaphysikkritische Unterwanderung des okzidentalen Rationalismus, S. 158–190, Frankfurt am Main 1993. Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. Ausgabe letzter Hand. Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann et alii I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976 II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944 III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen Frankfurt am Main ab 1975 (Nachweis von Einzeltiteln im Text). – Sein und Zeit, 11. Auflage 1967, Tübingen.

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Literaturverzeichnis

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185

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Sach- und Personenverzeichnis Abbild 39–42, 53 Abbildtheorie 27, 40, 161 Adaequatio 24, 61, 154 Anverwandlung 10, 18, 100, 145, 147–150, 156–158, 172 Apriori 99, 128, 130–131, 141, 162, 173 Aristoteles 23–24, 113, 121, 133, 135, 138, 140, 142–143 Ausdruck 17, 26, 28, 31–32, 34, 46, 51–52, 55, 57, 61–62, 80–81, 83, 87–88, 93, 101, 117–119, 122, 149, 164 Ausweisung 17, 27–29, 31, 38, 98, 114, 138, 140, 153, 161 Besinnungsebene 156, 160 Biemel 127, 134–135, 141–142, 183 Bildertheorie 25, 38–40, 48, 50, 60, 115–116 bildliches Vorstellen 40 Bildwelt 48–50, 53 Bildweltträger 48–50, 53 brüchiges Siegel 122 Cheung 171–175, 183 Da 8, 48, 86, 93, 95, 98, 102, 107, 110, 117, 147, 153, 159–161, 165, 178–179, 185 Dasein 17, 28–30, 91–95, 97–99, 101–111, 113, 115, 118–119, 122–124, 129, 143–145, 147–148, 150–152, 154–155, 157–160, 163, 171, 179, 181, 185 Eigentlichkeit 102, 109–110, 164 Einführungs-Vorlesung 10, 134, 167, 169, 175–176

Ellrich 181 Encyclopaedia-Britannica-Artikel 9 Entdecktheit 28–30, 90, 96–98, 100, 104–108, 110–111, 116–119, 144–145, 147, 149, 160–161, 173, 175 erkannte Erkenntnis 121–122 erkenntnistheoretisch 161 Erkenntnistheorie 7, 25–26, 96, 146, 154, 157 Erlebnisakte 31–32, 34, 36–37, 63, 96 Erschlossenheit 28–30, 93, 95–96, 98–100, 104–111, 115, 117, 119, 133, 136, 144–145, 148–149, 159–162, 171, 176–177, 179 Evidenz 17, 63–69, 71, 73–74, 80, 83, 85, 87–88, 90–91, 95, 105, 114, 121, 123–125, 130–131, 133, 138, 140, 143, 172, 178, 183 Existenz 29, 94–95, 101, 109, 119, 154–155, 160, 162, 175, 177, 185 Fundamentalanalyse 18, 23, 27, 30, 149, 185 Fundierungsgefälle 146 Gander 121, 182 Gegenständlichkeit 24, 28, 31–32, 36, 38, 42, 44, 47, 49, 51, 55, 57, 60–61, 68–69, 71, 73–76, 78, 80, 82–84, 86, 89–90, 96, 104, 151, 174 Gegenwartserinnerung 44–45, 98 Gelenk 128–129, 134 Gelenke der Gedanken 128, 140 Gethmann, Carl Friedrich 167–168, 183

Sach- und Personenverzeichnis

187

Grundprobleme-Vorlesung 10, 141, 143, 145, 150–153, 155, 157, 168, 175

Kopula 87–88, 142–143 kritische Rezeption 17–19, 92, 111, 113–114, 116

Hebbel 170 Heidegger Gesamtausgabe – Bd. 2 9–10, 17–18, 23, 25–26, 90–92, 94, 97, 108, 114–115, 117–119, 125–128, 130–135, 139–142, 144, 148, 150–154, 157, 163–164 – Bd. 15 18, 95, 121, 131, 138, 174 – Bd. 17 10, 120, 122–123, 140, 150–151, 167, 170 – Bd. 20 10, 25, 125–126, 128, 130–132, 139, 141, 150, 163 – Bd. 21 9–10, 127, 133–135, 139–141 – Bd. 24 10, 141–142, 144, 150–153 – Bd. 26 10, 154 Hopkins 169, 184 Husserl-Archiv 134 Husserliana 8–9, 11, 26, 46, 64, 70, 80, 84, 140, 170, 172, 182, 184 Hüttenexemplar 148, 161

Leibniz 10, 140, 153–154, 157, 163, 167, 169, 177 Leibniz-Vorlesung 10, 153, 157, 163, 167, 175, 177 Leitworte 123 Letztbegründung 154 Lichtung 99 Logik-Vorlesung 10, 127, 134, 141, 143, 167–168, 171, 175 Logische Untersuchungen 8–9, 18–19, 26, 30, 64–66, 77, 79, 112, 136, 143, 184 Lügoò 139 Lotze 136–138, 141

Ideation 35, 175 Identifizierung 17, 19, 29, 31, 51–52, 54, 66–67, 73, 88, 90, 114–115, 130, 138, 153, 162, 178, 181 Identität 33, 55, 67, 69, 87, 102, 125, 131, 140, 172, 179 In-der-Welt-sein 99–103, 105, 108, 147, 151–152, 155, 160–161 Intentionalität 9–10, 25, 30–31, 34–39, 50, 52, 61, 63, 74–75, 77, 80, 90, 101, 114, 121, 123–133, 138, 140–141, 144, 146–153, 155–158, 161–162, 170–176, 179

Man 7, 23, 58, 99, 101–103, 105, 109–110, 122, 127, 137, 141–142, 156, 160–161, 163, 165, 175, 177, 182 Marburger Schule 25 Marburger Vorlesungen 7, 9–10, 17, 40, 105, 113, 127, 140–141, 145, 156, 159, 162, 167, 169, 171, 175–176, 180, 182–183 mediale Akte 48 Metaphysik-Vorlesung 171 Modifizierung 47 Natorp 25, 127, 129, 146 Neugebauer 135, 184 Neukantianer 24–25, 127, 129 Neukantianismus 7, 143, 146 Nihilismus 164–165 Noema 47, 128–129, 131 Noesis 128–129

Jetztzeit 42

objektivierende Akte 52

kategoriale Anschauung 129–131, 174–175

Parmenides 121, 161, 178–179, 182 Piller 178–179, 185

188

Sach- und Personenverzeichnis

Psychologie 9, 26, 35–36, 126, 135, 137–138, 144, 175, 183 Reetablierung 157 Rehabilitierung 153, 157 Rekonstitution 43 Relief 160, 162, 164 Richter, Ewald 185 Safranski 10, 160, 185 Schein 47, 110, 119 Scheler 154 Schmitz 169–171, 185 Schönleben 119, 175–177, 185 Sein überhaupt 93–95, 111, 160–162 Sein-bei 105, 107–108, 122, 153–154, 156, 158, 175 Seinsfrage 18, 23, 113–114, 116, 123, 140, 149, 159, 161, 170, 173–174 Sloterdijk 163–165, 185 Sophistik 153–154, 164 sophistisch 171 Sorge 9, 30, 100, 105, 107–108, 111, 121–125, 127, 132–133, 147, 150, 153–154, 156, 158 Sorge der Gewissheit 121, 123–124, 127, 132–133 Stifter 170, 182 Subjekt-Objekt-Beziehung 154–156, 161 Tautologie 121 Thomä 164, 185 Transposition 150 Transzendenz 145–146, 148, 150–153, 155–158, 175, 177

Tugendhat 52, 65–66, 69, 71, 79–81, 117–119, 167–168, 185 Umkonstituierung 43 Uneigentlichkeit 109–110, 119 Unwahrheit 22, 65, 110–111 Unwirklichkeit 46–47, 49 Verfallen 108–110 Vergangenheitshorizont 42 Vergegenwärtigung 39–48, 59–60, 88, 115, 120–121, 123, 183 vgl. 9, 17–18, 28–29, 36, 39, 50, 52, 66, 69, 77, 79, 81, 95, 100–101, 106, 111, 113–114, 116, 119, 135, 139, 154, 158, 164 von Herrmann 94, 122, 141, 143, 145, 149, 159–163, 169, 179, 181, 183, 185 Vorentdecktheit 28, 96, 104 Vorerinnerung 44 vorontologisch 105 Wahrheitsfrage 28, 68, 124–125, 140–141, 167–169, 177, 185 Wahrnehmung 31, 37, 39, 41–45, 49, 51, 54–57, 59, 61–64, 68–70, 83, 87–88, 98, 115, 122, 129–130, 132, 146, 149–152, 171, 173, 176, 178 Wahrsein 17–18, 27–28, 50, 85–88, 90, 96, 99, 103, 105–107, 109, 111, 114–115, 118, 138, 143, 154, 157, 178, 181 Zähringer Seminar 121, 130, 138, 174, 178–179 Zeitbegriff-Vorlesung 10, 127, 138, 141, 163, 168, 172–173, 175, 178 Zukunftsvergegenwärtigung 42, 44