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German Pages [379] Year 2014
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Verena Mayer Christopher Erhard Marisa Scherini (Hg.) Die Aktualität Husserls
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In diesem Sammelband werden Aufsätze von renommierten HusserlForschern und Nachwuchswissenschaftlern zu systematischen Fragen und Problemen von Husserls Phänomenologie versammelt. Die Texte basieren teilweise auf Vorträgen der Tagung »Die Aktualität Husserls«, die 2009 an der Ludwig-Maximilians-Universität München stattgefunden hat. In drei thematischen Blöcken, die sich schwerpunktmäßig auf Probleme der Ontologie, Sprachphilosophie/Philosophie des Geistes und Handlungstheorie/Ethik konzentrieren, wird die systematische Breite und Komplexität von Husserls Denken deutlich, das sich nahezu nahtlos auf aktuelle Fragestellungen beziehen lässt – wenngleich es sich diesen nicht immer anpasst und in kritischer Distanz insbesondere zur Naturalisierbarkeit des Geistes bleibt.
Die Herausgeber: Verena Mayer ist Professorin für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Christopher Erhard, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl III der LMU München. Marisa Scherini, M.A., ist Doktorandin bei Verena Mayer.
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Verena Mayer Christopher Erhard Marisa Scherini (Hg.)
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Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48462-3
(Print)
ISBN 978-3-495-86020-5 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860205 © Ver
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zitierweise und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Überblick über die einzelnen Beiträge
Teil I Ontologie 1. 2. 3.
Uwe Meixner: Naturale Psyche: Husserl über die Seele als Naturobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
Roberta De Monticelli: Alles Leben ist Stellungnehmen – Die Person als praktisches Subjekt . . . . . . . . . . . .
39
Emanuele Caminada: Husserls intentionale Soziologie . .
56
Teil II Sprachphilosophie & Philosophie des Geistes 1.
Christian Beyer: Husserl über Begriffe . . . . . . . . . . .
88
2.
Verena Mayer: Husserl und die Kognitionswissenschaften
114
3.
Rochus Sowa: Das Allgemeine als das »Gemeinsame«. Anmerkungen zum Proton Pseudos der Lehre Husserls von der Wesensanschauung . . . . . . . . . . . . . . . 145
4.
Verena Mayer: Regeln, Spielräume und das offene Undsoweiter. Die Wesensschau in Erfahrung und Urteil . 172
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Inhalt
5.
Christopher Erhard: Empirische Bedeutung und Twin Earth – Husserls Bedeutungstheorie modifiziert . . 192
Teil III Handlungstheorie & Ethik 1.
Sonja Rinofner-Kreidl: Motive, Gründe und Entscheidungen in Husserls intentionaler Handlungstheorie . . . . . . . 232
2.
Henning Peucker: Husserls Ethik zwischen Formalismus und Subjektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
3.
Sophie Loidolt: Fünf Fragen an Husserls Ethik aus gegenwärtiger Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . 299
4.
Thomas Vongehr: Husserls Studien über Gemüt und Wille 335
Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Hinweise zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
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Vorwort
Die Aufsätze dieses Bandes sind größtenteils aus einer dreitägigen Tagung mit dem Titel »Die Aktualität Husserls« hervorgegangen, die im Oktober 2009 an der LMU München stattgefunden hat. Sie verstehen sich einerseits als Beiträge zur Husserl-Forschung, andererseits als Versuche, Husserl mit gegenwärtigen Theorien und Ideen in Beziehung zu setzen. Ein Ziel des vorliegenden Bandes besteht somit nicht zuletzt darin, die schier unerschöpfliche Differenziertheit des Husserl’schen Œuvres sichtbar werden zu lassen. Zu diesem Zweck sind die Aufsätze drei Teilen zugeordnet, die cum grano salis dem entsprechen, was heutzutage unter »Ontologie«, »Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes« sowie »Handlungstheorie und Ethik« verstanden wird. Eine Frage, die sich in den meisten Beiträgen in der ein oder anderen Form wiederfindet, ist die Frage nach der »Naturalisierbarkeit« von Bewusstsein, Bedeutung, Seele, Personalität etc. Die Aufsätze knüpfen damit an ein zentrales Thema aktueller philosophischer Debatten an. Wir danken der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige Förderung der Tagung und für die finanzielle Unterstützung bei der Publikation dieses Bandes.
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Überblick über die einzelnen Beiträge
Der Teil Ontologie umfasst Beiträge, in denen der ontologische Status der Seele, der Person und schließlich des Sozialen bei Husserl untersucht wird. Uwe Meixner beabsichtigt in seinem Beitrag »Naturale Psyche: Husserl über die Seele als Naturobjekt« anhand der Ideen II, einem noch weitgehend unerschlossenem Meisterwerk Husserls, die Seele (eines Lebewesens, einer Person) als eine naturale, obgleich nicht physikalisierbare Entität aufzuweisen. Mit dem Naturalismus verbindet sich heutzutage gewöhnlich der Physikalismus. Jedoch insbesondere in den Ideen II geht Husserl – indem er vorübergehend die »naturalistische Einstellung« einnimmt – dem Gedanken eines nichtphysikalistischen (nämlich dualistischen) Naturalismus bzgl. der Seele nach. Der Aufsatz stellt Husserls Ideen rekonstruktiv dar und will damit auf eine zu Unrecht vergessene Option hinweisen. Dabei wird deutlich, dass bereits Husserl die kausal-funktionalistische Gegenstandsauffassung klar formuliert hat. Der Aufsatz »Alles Leben ist Stellungnehmen. Die Person als praktisches Subjekt« von Roberta de Monticelli schlägt einen Bogen von der Seele zur Person, indem Einsichten Husserls und anderer Phänomenologen mit aktuellen Diskussionen über den ontologischen Status von Personen in Verbindung gebracht werden. De Monticelli nimmt dabei einerseits Husserls Begriff der Stellungnahme, andererseits den aus der analytischen Diskussion bekannten Begriff der Emergenz als Leitfaden, um einen gestuften Personenbegriff zu entwickeln. Demnach besteht das Wesen einer Person darin, durch ihre eigenen Akte über ihre Zustände zu emergieren. Die Basis der personalen Akthierarchie bilden dabei solche Stellungnahmen, die nicht der Freiheit des Subjekts unterstehen (z. B. Stellungnahmen der Wahrnehmung); erst auf höheren Aktstufen emergieren die für Personen und deren Identität konstitutiven freien Stellungnahmen. An der durch de MonA
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Überblick über die einzelnen Beiträge
ticelli exemplarisch vorgeführten Verbindung zwischen phänomenologischem und analytischem Vokabular wird einmal mehr die »Aktualität Husserls« sichtbar. Emanuele Caminada vertieft diese Überlegungen, indem er in seinem Aufsatz »Husserls intentionale Soziologie« Husserls Untersuchungen zur Natur des Sozialen im Kontext der Konstitutionsanalyse nachgeht. Dies sei, so Caminada, bisher vernachlässigt worden, da das Problem der Intersubjektivität vorwiegend in erkenntnistheoretischer Hinsicht Interesse erregte. Sogar die von Schütz inspirierte phänomenologische Soziologie blieb methodologisch individualistisch, so dass Husserls Erweiterung der egologischen Methode auf das Soziale in konkreteren Untersuchungen nicht angewandt wurde. Wenn die gegenwärtige Sozialontologie sich heute auf die frühe Phänomenologie bezieht, um in ihr Vorläufer der heutigen Debatte über kollektive Intentionalität aufzuwerten, wird Husserl komplett außer Acht gelassen. Man wirft ihm vor, einem »cartesianisch« individualistischen Intentionalitätsbegriff verpflichtet zu sein. Um solche Missverständnisse auszuräumen und die unterschätzte Aktualität von Husserls intentionaler Deutung der Soziologie zu zeigen, wird ihre sozialontologische und konstitutive Bedeutung hervorgehoben. Dazu werden die Ergebnisse der Analyse der vergemeinschafteten Intentionalität mit gegenwärtigen Ansätzen verglichen. Im zweiten Teil, Sprachphilosophie & Philosophie des Geistes, geht es um Husserls Konzeption von Bedeutung, Wesen, Begriffen, Bewusstsein und Intentionalität im Kontext aktueller Diskussionen. Ausgehend von systematischen Thesen des Naturalisten Jerry Fodor zu Adäquatheitsbedingungen einer Theorie von Begriffen, geht Christian Beyer in seinem Aufsatz »Husserl über Begriffe« Husserls Überlegungen zum begrifflichen Gehalt intentionaler Erlebnisse in werkgeschichtlicher Perspektive nach. Den Anfang bildet die Philosophie der Arithmetik (1891), wo Husserl den subjektiven Ursprung des Zahlbegriffs untersucht und sich dafür den Psychologismus-Vorwurf Freges gefallen lassen musste. Beyer zeigt, dass man hier differenzieren muss, denn zum einen sind ein starker und ein schwacher Psychologismus zu unterscheiden, zum anderen differenziert Husserl bereits an dieser Stelle zwischen Einzeldingen und Spezies. Sodann wird Husserls am Akt orientierte (»noetische«), quasi-platonistische Spezieskonzeption der Bedeutung (des Begriffs) in den Logischen 10
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Überblick über die einzelnen Beiträge
Untersuchungen (1900/01) mitsamt ihrem Ursprung in Husserls Bolzano- und Lotze-Lektüre skizziert. En passant zeigt Beyer, inwiefern Husserls Auffassung von Intentionalität anti-repräsentationalistisch ist. Mit der sich um 1906 anbahnenden »transzendentalen Wende« Husserls ändert sich auch dessen Konzeption des Begriffs, die nun zunehmend am intentionalen Gegenstand (»noematisch«) orientiert ist. Begriffe werden nunmehr als Einzeldinge (»mental files«), nicht mehr als abstrakte Allgemeinheiten behandelt. Husserls ingeniöse Binnenstrukturierung des Noema in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I (1913) in Charaktere, Kern/Sinn und bestimmbares X, ermöglicht es, so Beyer, unsere indexikalische Bezugnahme auf raumzeitliche Einzeldinge vom Standpunkt der Ersten Person aus transparent zu machen. Schließlich geht Beyer auf Husserls Spätwerk ein, wobei er v. a. die Ideen II und die Krisis-Schrift thematisiert. Beyer fokussiert auf die Intersubjektivitätsthematik und den Lebenswelt-Begriff. Beide Phänomene stehen Pate für eine gewisse Rückkehr Husserls zu den psychologischen Analysen zu Beginn seiner Laufbahn, denn die intersubjektiv strukturierte Lebenswelt ist einerseits der Boden, aus dem letztlich alle Begriffe »entstehen«, andererseits ist sie ihrerseits abhängig von Strukturen der Subjektivität. Verena Mayers interdisziplinär ausgerichteter Beitrag »Husserl und die Kognitionswissenschaften« geht dem, wie sie sagt, »gespaltenen Verhältnis« nach, das zwischen dem Gründervater der Phänomenologie und der neuen Wissenschaft vom Bewusstsein besteht. Anhand von drei zentralen programmatischen Ideen der cognitive sciences (Computermodell des Geistes, kausale Theorie der Referenz, Naturalisierung) zeigt sie, dass in jedem Fall grundlegende Einsichten Husserls ad absurdum geführt werden. Selbst solche Philosophen, die heutzutage das Label phenomenology für sich beanspruchen, haben wenig mit Husserl gemein. Insbesondere das Naturalisierungsvorhaben muss scheitern, aber nicht, wie oft angenommen wird, weil Qualia nicht naturalisierbar sind, sondern weil Bewusstsein wesentlich durch Motivation gekennzeichnet ist und diese nicht als eine naturale Kausalrelation verstanden werden kann. Rochus Sowa weist in seinem Text »Das Allgemeine als das ›Gemeinsame‹. Anmerkungen zum Proton Pseudos der Lehre Husserls von der Wesensanschauung« nach, dass Husserl, zusammen mit anderen großen Denkern der Philosophiegeschichte, einem falschen »Bild« A
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Überblick über die einzelnen Beiträge
der Natur von Begriffen anhängt. Dieses falsche Bild besteht laut Sowa darin, die Natur eines Begriffs in dessen Allgemeinheit zu lokalisieren, wobei ein Begriff genau dann allgemein ist, wenn er auf mehrere (mindestens zwei) Einzeldinge wahrheitsgemäß angewendet werden kann, kurz: wenn er ein Gemeinsames von Vielen ist, ein aristotelisches hen epi pollôn. Sowa widerlegt diese Auffassung anhand von Gegenbeispielen. Im Anschluss daran weist Sowa nach, dass Husserls falsches Bild von Begriffen ihn zur Konzeption der Wesensanalyse als einer anschaulichen Operation (»Wesensschau«) verleitet, im Zuge deren wir gemeinsame Merkmale von mehreren Einzeldingen »herauszuschauen« haben. Darin besteht das Titel gebende »proton pseudos« von Husserls Wesensanschauung. Schließlich skizziert Sowa eine fregeanisch inspirierte Begriffstheorie, die begriffliche Allgemeinheit nicht als Gemeinsamkeit in Vielem, sondern als Funktionalität deutet: Ein Begriff ist eine ein- oder mehrstellige Funktion, die jedem Gegenstand einen Wahrheitswert (wahr oder falsch) zuordnet. Wesensaussagen entpuppen sich dergestalt als uneingeschränkte Allaussagen (»Für jedes erdenkliche x …«), die durch freies Fingieren von Gegeninstanzen getestet werden können. Kontrapunktisch zum Beitrag von Sowa wirft Verena Mayer einen etwas anderen, eher apologetischen Blick auf Husserls Wesensanschauung. In ihrem Beitrag mit dem Titel »Regeln, Spielräume und das offene Undsoweiter. Die Wesensschau in Erfahrung und Urteil« stellt sie dar, dass Husserls Wesensbegriff nicht in erster Linie als Gemeinsames »im« Vielen in einem allzu wörtlichen Sinne zu verstehen ist; vielmehr sei ein Wesen, ähnlich wie ein kantischer Begriff, als eine Regel zu verstehen, die unserer Erfahrung von Einzeldingen eine Grenze vorschreibt. Während empirische Wesen sich aufgrund von faktisch wahrgenommenen Ähnlichkeiten konstituieren, zeichnen sich reine Wesen dadurch aus, dass sie durch das Verfahren der Variation in der freien Phantasie erkannt werden können. Wesensanschauung erweist sich somit als etwas Zentrales für die Philosophie, sofern sie den Anspruch erhebt, objektive Anwendungsbedingungen für ihre Begriffe anzugeben. In einem Seitenblick weist Mayer auf Parallelen zwischen Husserls und Wittgensteins Begriff des »undsoweiter« hin, der als Operationsbegriff zur »Konstitution« bestimmter Begriffstypen fungiert. Christopher Erhard weist in seinem Beitrag »Empirische Bedeutung und Twin Earth – Husserls Bedeutungstheorie modifiziert« auf die Änderungen in Husserls Theorie der Bedeutung hin, die sich nach 12
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Überblick über die einzelnen Beiträge
den Logischen Untersuchungen ereignet haben. Im Zentrum steht dabei die Beilage XIX der Göttinger Vorlesungen über Bedeutungslehre (1908), in der Husserl ein Twin Earth-Szenario im Stile Hilary Putnams entwirft und im Lichte seiner Bedeutungstheorie zu erhellen sucht. Erhard zeigt, dass Husserls frühe Konzeption der Bedeutung, die Bedeutung als »reine«, kontextunabhängige Spezies intentionaler Episoden deutet, angesichts von okkasionellen und allgemein »empirischen« Bedeutungen in Bedrängnis gerät. Husserl konzipiert nunmehr solche Bedeutungen nicht mehr als »reine«, sondern als »unreine« Spezies. Unreine Spezies sind, anders als reine, nicht unabhängig von faktischen Erfahrungen eines Bewusstseins identifizierbar. Gleichwohl, so Erhard, folgt aus der Annahme unreiner Bedeutungen kein Externalismus in der Philosophie des Geistes. Dies macht ein abschließender konkreter Vergleich mit Putnams Szenario deutlich. Das Resultat lautet, dass bei Husserl der Gegenstandsbezug sprachlicher Ausdrücke (und auch deren Bedeutung) auf dynamische Weise durch das, was in den »Köpfen« einer phänomenologisch beschreibbaren Monadengemeinschaft ist, festgelegt wird. Für eine externe Festlegung à la Putnam gibt es bei Husserl keinen Platz. Im dritten Teil, Handlungstheorie & Ethik, steht Husserls »praktische Philosophie« im Zentrum. Im Unterschied zu seiner theoretischen Philosophie sind Husserls Überlegungen zur Ethik- und Wertlehre und zur Handlungstheorie außerhalb von Husserl-Kreisen nahezu unbekannt. Die vier Beiträge lassen sich als Versuch verstehen, dieses Manko zu beseitigen. In ihrem Aufsatz »Motive, Gründe und Entscheidungen in Husserls intentionaler Handlungstheorie« untersucht Sonja RinofnerKreidl Husserls Motivationskonzept und konzentriert sich dabei insbesondere auf die Ausführungen in den Ideen II. Zunächst erklärt sie das Verhältnis von Intentionalität und Kausalität von Husserls transzendental-phänomenologischem Standpunkt her, um dann anhand dieser Erläuterung das verbreitete Vorurteil zu widerlegen, dass Husserls intentionale Handlungstheorie anti-kausalistisch zu verstehen sei. Der zweite Schritt ihrer Analyse besteht in einer sorgfältigen Unterscheidung zwischen einer Handlungserklärung mittels Rekurs auf Ursachen und einer Handlungsbeschreibung mittels Rekurs auf Motive. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung rekonstruiert die Autorin das Verhältnis von Motiv, Person und Handlung im Rahmen des MotivationsA
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Überblick über die einzelnen Beiträge
konzeptes der Ideen II. Dabei wird dem Konzept der »rationalen« Motivation, wie es paradigmatisch in Entscheidungskontexten vorliegt, und das im Gegensatz zur bloßen passiven Motivation steht, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Exkurs zum Internalismus/Externalismus-Problem bezüglich der Erklärung der Gründe des Handelns bettet Husserls Motivationsauffassung in den Kontext der gegenwärtigen Debatte ein. Henning Peucker geht in seinem metaethisch angelegten Aufsatz »Husserls Ethik zwischen Formalismus und Subjektivismus« von der These aus, Husserls Ethik lasse sich zwischen Formalismus und Subjektivismus lokalisieren. Damit sei der Anspruch verbunden, auf der einen Seite moralischen Gefühlen eine systematische Bedeutung für die Ethik zuzuweisen, ohne dem Subjektivismus zu verfallen; auf der anderen Seite gelte es, zu allgemeingültigen Wertbestimmungen zu gelangen, ohne im Formalismus stecken zu bleiben. In einem chronologischen Durchgang durch Husserls ethische Schriften zeigt Peucker, wie Husserls Position sich von seinen eher formalistischen Anfängen schließlich hin zu einer personalen Ethik entwickelt hat, in der die Idee des ethischen Lebens als eines universal rechtfertigbaren Lebens im Mittelpunkt steht. In ihrem Aufsatz »Fünf Fragen an Husserls Ethik aus gegenwärtiger Perspektive« geht Sophie Loidolt ebenfalls der Entwicklung Husserls von einer formalen zu einer personalen Ethik nach. Sie stellt drei Phasen von Husserls Ethikauffassung dar, die, von einem Parallelismus von Logik und Ethik ausgehend, durch eine rationalistische Erneuerungsethik hindurch letztendlich in eine personale Liebesethik mündet. Der Aufsatz beschäftigt sich in den ersten drei Abschnitten kritisch mit Husserls Auffassung des Wertens als Wert-Wahrnehmung, welche die objektive Grundlage und somit die Evidenz der Werterkenntnis gewährleisten soll. Die letzten zwei Abschnitte sind Husserls später Ethikkonzeption gewidmet, die von einer Spannung zwischen dem (irrationalen) affektiven Angesprochen-Sein, das die Erfahrung des »unbedingten Sollens« für jede Person ausmacht, und der absoluten ethischen Forderung nach Selbstverantwortung und rationaler Rechtfertigung gekennzeichnet ist. Diese Spannung zeigt sich in ihrer ganzen Tragweite in sog. tragischen Situationen. Hier stehen zwei oder mehrere inkommensurable Werte miteinander in Widerstreit, wobei keine Entscheidung für einen dieser Werte als die beste gekennzeichnet werden kann. 14
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Überblick über die einzelnen Beiträge
In seinem abschließenden Aufsatz »Husserls Studien zu Gemüt und Wille« stellt Thomas Vongehr das gleichnamige Editionsprojekt innerhalb der Husserliana vor. Die Grundlage dieses Bandes bilden die Manuskripte, die unter dem Namen Studien zur Struktur des Bewusstseins im Husserl-Archiv gruppiert sind. Im ersten Teil weist Vongehr auf die Schwierigkeiten hin, die mit Husserls Gemüts- und Willensanalysen in diesen Manuskripten verbunden sind und die auf eine mangelhafte Klärung des Verhältnisses von transzendental-phänomenologischer und psychologischer Forschung zurückzuführen sind. Im zweiten Absatz geht der Autor kurz auf Husserls Methode der Analogie ein, die eine der formalen Logik parallele formale Axiologie und Praktik zu entwickeln und phänomenologisch zu begründen versucht, um dann die Probleme, die mit der Intentionalität von Gemüt und Wille verbunden sind, explizit zu machen. Hierbei wird auf Husserls problematische Unterscheidung zwischen objektivierenden und nichtobjektivierenden Akten und auf den Fundierungszusammenhang zwischen nicht-objektivierenden Gemüts- und Willensakten in objektivierenden Denkakten hingewiesen. Im letzten Teil beschäftigt sich Vongehr mit dem Unterschied zwischen intentionalen Gefühlen und nicht intentionalen Gefühlsempfindungen, wobei diese Scheidung von der zwischen passivem und aktivem Fühlen überlagert wird. Abschließend weist er auf die Parallelen zwischen dem tendenziös-affektiven Geschehen der unteren Empfindungs- und Gefühlssphäre und dem »Ruf« der »absoluten Affektion« hin, den Husserl in seiner späten Freiburger Ethik thematisiert. Die Beiträge zu diesem Band demonstrieren die Vielschichtigkeit von Husserls Werk, das sich durch seinen konsequenten Anti-Naturalismus und seine Fundierung in einer sorgfältigen Deskription von Aktstrukturen dennoch als eine durchgängige Einheit auszeichnet. Aus beiden Merkmalen lassen sich fruchtbare Anregungen und Argumente für derzeitige Debatten nicht nur innerhalb der Philosophie, sondern auch an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Kognitions- bzw. Neurowissenschaften gewinnen. Denn kaum ein Philosoph hat je das umkämpfte Reich des Bewusstseins so genau erkundet wie Edmund Husserl.
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Zitierweise und Siglen
Husserls Texte werden – bis auf Erfahrung und Urteil – nach der HusserlianaAusgabe zitiert: Edmund Husserl 1950 ff.: Husserliana. Gesammelte Werke. Den Haag/Dordrecht. Als Abkürzung wird die Sigle »Hua« mitsamt Bandangabe in römischen und Seitenangabe in arabischen Ziffern verwendet. Materialienbände und Husserls Briefwechsel werden mit »Hua Mat« bzw. »Husserl-Briefwechsel« mitsamt Band- und Seitennummer zitiert.
Gesammelte Werke Hua I
Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hrsg. und eingeleitet von Stephan Strasser. Nachdruck der 2. verb. Auflage. 1991 Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Hrsg. und eingeleitet von Walter Biemel. Nachdruck der 2. erg. Auflage. 1973 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (= Ideen I) In zwei Bänden: 1. Halbband: Text der 1.–3. Auflage (= Hua III/1); 2. Halbband: Ergänzende Texte (1912–1929) (= Hua III/2). Neu hrsg. von Karl Schuhmann. Nachdruck. 1976 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hrsg. von Marly Biemel. Nachdruck. 1952 (= Ideen II) Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. Hrsg. von Marly Biemel. Nachdruck. 1971 (= Ideen III) Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. von Walter Biemel. Nachdruck der 2. verb. Auflage. 1976 (= Krisis, Krisis-Schrift)
Hua II
Hua III
Hua IV
Hua V
Hua VI
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Zitierweise und Siglen Hua VII Hua VIII Hua IX Hua X Hua XI
Hua XII Hua XIII Hua XIV Hua XV Hua XVI Hua XVII
Hua XVIII
Hua XIX/1
Hua XIX/2
Hua XX/1
Hua XX/2
Hua XXI Hua XXII
Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte. Hrsg. von Rudolf Boehm. 1956 Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hrsg. von Rudolf Boehm. 1959 Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925. Hrsg. von Walter Biemel. 2. verb. Auflage. 1968 Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917). Hrsg. von Rudolf Boehm. Nachdruck der 2. verb. Auflage. 1969 Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918–1926). Hrsg. von Margot Fleischer. 1966 Philosophie der Arithmetik. Mit ergänzenden Texten (1890– 1901). Hrsg. von Lothar Eley. 1970 Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905–1920. Hrsg. von Iso Kern. 1973 Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921–1928. Hrsg. von Iso Kern. 1973 Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935. Hrsg. von Iso Kern. 1973 Ding und Raum. Vorlesungen 1907. Hrsg. von Ulrich Claesges. 1973 Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft. Mit ergänzenden Texten. Hrsg. von Paul Janssen. 1974 Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Text der 1. und 2. Auflage. Hrsg. von Elmar Holenstein. 1975 (= Prolegomena) Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Hrsg. von Ursula Panzer. 1984 (= LU I-V) Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Zweiter Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Hrsg. von Ursula Panzer. 1984 (= LU VI) Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Erster Teil. Entwürfe zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer 1913). Hrsg. von Ullrich Melle. 2002 Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Zweiter Teil. Texte für die Neufassung der VI. Untersuchung: Zur Phänomenologie des Ausdrucks und der Erkenntnis (1893/94–1921). Hrsg. von Ullrich Melle. 2005 Studien zur Arithmetik und Geometrie. Texte aus dem Nachlass (1886–1901). Hrsg. von Ingeborg Strohmeyer. 1983 Aufsätze und Rezensionen (1890–1910). Hrsg. von Bernhard Rang. 1979
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Zitierweise und Siglen Hua XXIII
Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898–1925). Hrsg. von Eduard Marbach. 1980 Hua XXIV Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/ 07. Hrsg. von Ullrich Melle. 1984 Hua XXV Aufsätze und Vorträge (1911–1921). Hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. 1987 Hua XXVI Vorlesungen über Bedeutungslehre. Sommersemester 1908. Hrsg. von Ursula Panzer. 1987 Hua XXVII Aufsätze und Vorträge (1922–1937). Hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. 1989 Hua XXVIII Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908–1914). Hrsg. von Ullrich Melle. 1988. Hua XXIX Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934–1937. Hrsg. von R. N. Smid. 1993 Hua XXX Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie. Vorlesungen Wintersemester 1917/18. Mit ergänzenden Texten aus der ersten Fassung von 1910/11. Hrsg. von Ursula Panzer. 1996 Hua XXXI Aktive Synthesen. Aus der Vorlesung »Transzendentale Logik« 1920/21. Ergänzungsband zu »Analysen zur passiven Synthesis«. Hrsg. von Roland Breeur. 2000 Hua XXXII Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927. Hrsg. von Michael Weiler. 2001 Hua XXXIII Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18). Hrsg. von Rudolf Bernet und Dieter Lohmar. 2001 Hua XXXIV Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926–1935). Hrsg. von Sebastian Luft. 2002 Hua XXXV Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1922/23. Hrsg. von Berndt Goossens. 2002 Hua XXXVI Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908– 1921). Hrsg. von Robin D. Rollinger in Verbindung mit Rochus Sowa. 2003 Hua XXXVII Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924. Hrsg. von Henning Peucker. 2004 Hua XXXVIII Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Texte aus dem Nachlass (1893–1912). Hrsg. von Thomas Vongehr und Regula Giuliani. 2004 Hua XXXIX Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937). Hrsg. von Rochus Sowa. 2008 Hua XL Untersuchungen zur Urteilstheorie. Texte aus dem Nachlass (1893–1918). Hrsg. von Robin D. Rollinger. 2009
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Zitierweise und Siglen
Materialien Hua Mat I Hua Mat II Hua Mat III
Logik. Vorlesung 1896. Hrsg. von Elisabeth Schuhmann. 2001 Logik. Vorlesung 1902/03. Hrsg von Elisabeth Schuhmann. 2001 Allgemeine Erkenntnistheorie. Vorlesung 1902/03. Hrsg. von Elisabeth Schuhmann. 2001 Hua Mat IV Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1919. Hrsg. von Michael Weiler. 2002 Hua Mat V Urteilstheorie. Vorlesung 1905. Hrsg. von Elisabeth Schuhmann. 2002 Hua Mat VI Alte und neue Logik. Vorlesung 1908/09. Hrsg. von Elisabeth Schuhmann. 2003 Hua Mat VII Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis. Vorlesung 1909. Hrsg. von Elisabeth Schuhmann. 2005 Hua Mat VIII Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934): Die C-Manuskripte Hrsg. von Dieter Lohmar. 2006
Briefwechsel Husserl-Briefwechsel, Husserliana Dokumente III, in Verbindung mit Elisabeth Schuhmann hg. von Karl Schuhmann in zehn Bänden. 1994 Bd. I Die Brentanoschule Bd. II Die Münchener Phänomenologen Bd. III Die Göttinger Schule Bd. IV Die Freiburger Schüler, Bd. V Die Neukantianer Bd. VI Philosophenbriefe, Bd. VII Wissenschaftlerkorrespondenz Bd. VIII Institutionelle Schreiben Bd. IX Familienbriefe Bd. X Einführung und Register
Außerhalb der Husserliana EU
Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Redigiert und herausgegeben von Ludwig Landgrebe, Hamburg, 1948 ff.
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Unveröffentlichte Forschungsmanuskripte Unveröffentlichte Manuskripte werden nach der offiziellen Signatur des HusserlArchivs Leuven mit Seitenzahl der Originalblätter zitiert (z. B. A VI 12 I/12a). Das am Husserl-Archiv Leuven bearbeitete Editionsprojekt unter Husserls Arbeitstitel Studien zur Struktur des Bewusstseins wird im Folgenden abgekürzt als Studien. Ms. A V 21 Ms. A VI 3 Ms. A VI 8 I Ms. A VI 12 II Ms. A VI 26 Ms. A VI 30 Ms. B I 10 Ms. B I 21 Ms. E III 4 Ms. F I 33 Ms. F I 36 Ms. F I 44 Ms. K III 1 IX
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Teil I Ontologie
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Naturale Psyche: Husserl über die Seele als Naturobjekt Uwe Meixner
Wenn ich wenige Jahrzehnte zurückblicke, so stelle ich verwundert, ja befremdet fest, dass der Strom der Philosophiegeschichte bis vor (in geistesgeschichtlicher Perspektive) kurzem eine Idee, eine Denkmöglichkeit mit sich führte, die in der Gegenwart von der philosophischen Fachgemeinschaft beinahe so behandelt wird, als gäbe es sie nicht und als hätte es sie nie gegeben. Diese Idee ist die Idee der Seele als Naturobjekt. Im gegenwärtigen Denkbetrieb kommt diese Idee so gut wie nicht vor. Die gegenwärtig mit großem Eifer weithin betriebene Naturalisierung des Geistes versteht unter Naturalisierung ausschließlich Physikalisierung – und unter Naturobjekten ausschließlich physische Objekte und letztlich, auf der fundamentalen Ebene, physikalische Objekte: Objekte der Physik. Die Seele, da sie vorderhand weder zu den Objekten der Physik noch zu den physischen Objekten zählt, ist hiernach nun gerade kein Naturobjekt – sondern ein extranaturales, gar supernaturales Etwas, das im Zuge der Naturalisierung des Geistes zu eliminieren, also als nichtexistent anzusetzen ist, bestenfalls ein Etwas, das, soweit es für die Theorie des Geistes nützlich ist, auf das Gehirn und dessen Funktionen vollständig reduzierbar ist. 1 Der verbreiteten Ignoranz gegenüber der naturalen Idee der Seele – gegenüber ihrer mindestens potenziell naturwissenschaftlichen Konzeption – könnte Abhilfe geschaffen werden durch die Rezeption der Schriften Edmund Husserls, der diese Konzeption im 2. Buch seiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie ausführlich systematisch darstellt, sowie – weniger ausführlich, aber in manchen Punkten pointierter – in seiner Vorlesung von 1925, Phänomenologische Psychologie (vgl. dort insbesondere §§ 13–15, §§ 21–24). Ich beziehe mich im Folgenden auf die Ideen II Als typisch für die beschriebene Umgehensweise mit der Seele mag die Bekenntnisschrift Beckermann (2008) gelten.
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(Hua IV), an einigen Stellen auch auf die Phänomenologische Psychologie (Hua IX). 2 Husserl hat der naturalistischen – oder was ihm als dasselbe gilt: der naturwissenschaftlichen – Einstellung nicht ihr Recht bestritten, sondern sich nur gegen die schon zu seiner Zeit einsetzende – heute aber grassierende – Verabsolutierung dieser Einstellung zu einer Quelle nicht zu relativierender Wahrheiten über alles und jedes gewandt. So schreibt er in den Ideen I: »Wenn wirklich die Naturwissenschaft spricht, hören wir gerne und als Jünger. Aber nicht immer spricht die Naturwissenschaft, wenn die Naturforscher sprechen; und sicherlich nicht, wenn sie über ›Naturphilosophie‹ und ›naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie‹ sprechen.« (Hua III/1, 45) In den Ideen II vermerkt Husserl »die feste Gewohnheit« des »Zoologen und naturalistischen Psychologen« – »deren Schranken er in der Regel nicht mehr zu durchbrechen vermag« –, »sobald er überhaupt wissenschaftliche Einstel2 Die Unselbständigkeit der Seele wird in der Phänomenologischen Psychologie stärker betont als in den Ideen II. In der ersteren Schrift sagt Husserl: »Die Körperlichkeit hat die höhere Selbständigkeit, sofern sie, wenn auch unter Abwandlung ihrer realen Gestalt als organische Leiblichkeit, für sich ein volles Konkretum abgeben kann, während die Seele nie konkret selbständig werden kann zu einem eigenen Realen in der Welt.« (Hua IX, 109) Das bedeutet: Während in den Ideen II Husserl – in einer von ihm vorübergehend eingenommenen, bloß relativen Einstellung – noch eine Art von Substanzdualismus zugeschrieben werden kann (siehe dazu weiter unten), ist dies in der Phänomenologischen Psychologie nicht mehr möglich. – Man beachte auch, dass in der Phänomenologischen Psychologie das psychophysische Kompositum – in der von Husserl eingenommenen bloß relativen Einstellung – deutlich als primum reale aufscheint, während es in den Ideen II doch nur secundum reale ist (primum reale hingegen das rein materielle Ding): »[Es] zeigt die Erfahrungsanalyse, daß derartige Realitäten zweischichtig sind, sie sind ›psycho-physische‹ Wesen. Ihre Physis, wie ihre Psyche, sind abstraktiv an dem konkreten Ganzen für sich zu betrachten, jede hat ihren eigenen Veränderungsverlauf, die aber gegeneinander nicht gleichgültig sind.« (Hua IX, 106) – Der Grund für die beschriebenen Unterschiede zwischen Ideen II und Phänomenologischer Psychologie dürfte wenigstens teilweise in Folgendem zu suchen sein: In der Phänomenologischen Psychologie nimmt Husserl die einschlägige bloß relative Einstellung nicht in der naturwissenschaftslastigen, naturalistischen Form ein, in der er sie in den Ideen II einnahm (freilich vorübergehend und nur aus phänomenologischen Forschungsgründen). Tatsächlich spricht Husserl in der ersteren Schrift gar nicht von der Voraussetzung der naturalistischen Einstellung (von der er sich vielmehr distanziert: vgl. Hua IX, § 25), sondern nur von der Voraussetzung der natürlichen Einstellung: »Vorausgesetztermaßen bleiben wir in natürlicher Einstellung« (Hua IX, 56). In den Ideen II hingegen wird die natürliche Einstellung nicht von der naturalistischen, d. h. für Husserl: der naturwissenschaftlichen, geschieden; siehe zur Illustration Fußnote 3 sowie Fußnote 7.
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lung annimmt, dies unweigerlich in der Form naturalistischer (oder, was damit äquivalent ist, auf ›objektive‹ Wirklichkeit gerichteter) Einstellung« zu tun. Ein solcher Forscher habe »habituelle Scheuklappen. Als Forscher sieht er nur ›Natur‹« (Hua IV, 183). Nicht immer ist das unbedenklich. Als von vornherein bloß relative Einstellung – deren begrenztes Recht man kennt und die man jederzeit verlassen kann – ist die naturalistische Einstellung aber für Husserl vollkommen in Ordnung, auch aus philosophischer Sicht. 3 Husserl nimmt denn auch an einem Punkt in den Ideen II ganz bewusst die naturalistische Einstellung ein: Wir halten uns also von jetzt an rein in der naturwissenschaftlichen Einstellung und sind uns dabei klar, daß wir damit eine Art Ausschaltung, eine Art ¥pocffi, 4 vollziehen. Im gewöhnlichen Leben haben wir es gar nicht mit Naturobjekten zu tun. Was wir Dinge nennen, das sind Gemälde, Statuen, Gärten, Häuser, Tische, Kleider, Werkzeuge usw. All das sind Wertobjekte verschiedener Art, Gebrauchsobjekte, praktische Objekte. Es sind keine naturwissenschaftlichen Objekte. (Hua IV, 27) Wir vollziehen danach eine Art »Reduktion«. […] Wir erfahren also in dieser »reinen« oder gereinigten theoretischen Einstellung nicht mehr Häuser, Tische, Straßen, Kunstwerke, wir erfahren bloß materielle Dinge und von solchen wertbehafteten Dingen eben nur ihre Schicht der räumlich-zeitlichen Materialität und ebenso für Menschen und menschliche Gesellschaften nur die Schicht der an räumlich-zeitliche »Leiber« gebundenen seelischen »Natur«. (Hua IV, 25)
Die naturalistische Einstellung sieht also ab von allen Wertcharakteren – entsprechend heißt die Natur bei Husserl eine »Sphäre bloßer Sa3 »[D]as Erlösende« der Fundamentalmethode der phänomenologischen Reduktion, sagt Husserl (Hua IV, 179), »ist es, uns von den Sinnesschranken der natürlichen Einstellung und so jeder relativen Einstellung zu befreien. Der natürliche Mensch und insbesondere der Naturforscher merkt diese Schranken nicht, er merkt nicht, daß alle seine Ergebnisse mit einem bestimmten Index behaftet sind, der ihren bloß relativen Sinn anzeigt. Er merkt nicht, daß die natürliche Einstellung nicht die einzig mögliche ist, daß sie Blickwendungen offen läßt, durch die das absolute naturkonstituierende Bewußtsein hervortritt, in Beziehung auf welches vermöge der Wesenskorrelation zwischen Konstituierendem und Konstituiertem alle Natur relativ sein muß.« 4 Ein Wort zur Zitierpraxis: Im husserlschen Quelltext gesperrt Gedrucktes wird hier in der Regel nicht durch Kursivierung im Zitat gekennzeichnet. Wenn sich aber einmal in einem Zitat eine Kursivierung (ohne den Verweis, dass sie auf mich zurückgeht) findet, dann handelt es sich um eine im husserlschen Quelltext gesperrt gedruckte Textstelle.
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chen« (vgl. die Überschrift von § 11 in Ideen II; in der Phänomenologischen Psychologie ist dagegen nicht von einer Wertabstraktion die Rede, die »Dingwelt« – die teils rein physische, teils psycho-physische – wird dort durch die Abstraktion vom Kultursinn gewonnen; vgl. Hua IX, 118 f.). Wertentkleidete Dinghaftigkeit ist freilich für Husserl nicht etwas, das schon für sich genommen begrifflich hinreichend für Naturalität ist, auf allein deren Instanzen – also auf das Naturale – dann in der naturalistischen Einstellung hingesehen wird. Das Naturale ist vielmehr das wertentkleidete raumzeitlich Materiale, sowie dasjenige wertentkleidete Dinghafte, das – obwohl selbst immateriell – jeweils an etwas wertentkleidetes raumzeitlich Materiales in bestimmter Weise gebunden, von ihm ontologisch abhängig ist, sowie außerdem das aus diesem Materialen und jenem Immateriellen je Zusammengesetzte. Für alles dieses Naturale ist allerdings das definitorisch grundlegende gemeinsame Merkmal (als genus proximum fungierend) die Dinghaftigkeit, oder mit Husserls eigenem Wort: die Realität, die Husserl formal bestimmt als »Einheit bleibender Eigenschaften mit Beziehung auf zugehörige Umstände« (Hua IV, 136). Darauf wird im Folgenden noch näher eingegangen werden; schon jetzt sei aber gesagt, dass die in Eigenschaften (also Dispositionen – das ist es, was Husserl mit dem Terminus »Eigenschaften« in den Ideen II durchgängig meint) in geregelter Weise gegründete, von Umständen ausgelöste, in Verhaltensweisen sich manifestierende Kausalität – oder allgemeiner: Konditionalität – für Realität von zentraler Bedeutung ist. Hinzukommt aber, wie schon deutlich geworden ist, zur Realität, um begrifflich Naturalität zu ergeben, – neben der selbstverständlichen, von Husserl nicht weiter erwähnten Wertentkleidetheit – die primäre oder sekundäre raumzeitliche Lokalisiertheit; erst die primäre oder sekundäre raumzeitliche Lokalisiertheit schneidet (als hauptsächliche differentia specifica fungierend) aus dem (wertentkleideten) Realen das Naturale aus, scheidet m. a. W. primäre und sekundäre Natur-Realitäten, also »bloße NaturRealitäten« und »gemischte«, ab von eventuellen (wenn auch nur als »für uns leere Möglichkeit« 5 in Betracht zu ziehenden) »übernatürlichen Realitäten« (Hua IV, 137). Für Husserl ist die naturalistische Einstellung noch keine materialistische, und korrelativ bräuchte der Naturalismus, der hervorgeht, Eine leere Möglichkeit ist im Sinne Husserl eine Möglichkeit, die zwar besteht, die aber auch keinen Anhaltspunkt im Wirklichen hat: eine bloße Widerspruchsfreiheit.
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wenn man die naturalistische Einstellung allen Ernstes als die ontologisch und epistemologisch allein seligmachende ansieht, noch kein Materialismus zu sein (anders als heute fast generell vermeint wird). Husserl sagt: Wir richten unser Augenmerk auf das All der »realen« Sachen, 6 auf die gesamte Dingwelt, das »Weltall«, die Natur […] Schon beim ersten Blick fällt uns hierbei die wesensmäßig begründete Scheidung auf in Natur im engeren, untersten und ersten Sinn, nämlich in materielle Natur und Natur im zweiten, erweiterten Sinn oder beseelte, im echten Sinn »lebendige«, animalische Natur. Alles, was wir im gewöhnlichen Sinn (also in naturalistischer Einstellung) 7 als existierend bezeichnen, also auch Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle, psychische Akte und Zustände jeder Art, gehören eben in dieser Einstellung zur lebendigen Natur, sie sind »reale« Akte oder Zustände, ontologisch charakterisiert eben dadurch, daß sie tierische oder menschliche Betätigungen oder Zuständlichkeiten sind, als solche der räumlich zeitlichen [sic] Welt eingeordnet; sie unterliegen demnach den Bestimmungen, die »aller individuellen Gegenständlichkeit überhaupt« zukommen. (Hua IV, 27 f.)
Wenn hiernach noch bezweifelt werden sollte, dass die naturalistische Einstellung in Husserls Auffassung mit einem psychophysischen Dualismus verträglich ist und diese letztere theoretische Haltung sogar integriert, so mögen auch die folgenden, an Deutlichkeit kaum zu übertreffenden Worte Husserls zur Kenntnis genommen werden: Die geistige Natur, als animalische Natur verstanden, ist ein Komplex, bestehend aus einer Unterschicht materieller Natur mit dem Wesensmerkmal der extensio und einer unabtrennbaren Oberschicht, die von grundverschiedenem Wesen ist und vor allem Extension ausschließt. Wenn also auch das umfassende Wesensmerkmal des materiellen Dinges die Materialität ist, läßt es sich gleichwohl verstehen, wenn die Extension als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Materiellem und Seelischem oder Geistigem genommen wird. (Hua IV, 29)
Weil es Extension ausschließt, ist das Seelische oder Geistige – obwohl natural und vom Materiellen unabtrennbar – immateriell. Und das Implizit ausgeklammert sind hier von vornherein: eventuelle übernatürliche Realitäten (Sachen, Dinge). Deren Vorhandensein ist ja für uns nur eine leere Möglichkeit (vgl. Hua IV, 137). 7 Diese Folgerung von »in naturalistischer Einstellung« aus »im gewöhnlichen Sinn« ist merkwürdig; man würde eher erwarten, dass »in natürlicher Einstellung« aus »im gewöhnlichen Sinn« folgt; aber, wie gesagt (siehe Fußnote 2), in den Ideen II unterscheidet Husserl nicht zwischen natürlicher Einstellung und naturalistischer. 6
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Charakteristikum der Immaterialität, als Charakteristikum von manchem Naturalen, dehnt Husserl sogar in einem gewissen Sinn – nämlich im Sinne des Nichtvorliegens voller Materialität – vom Seelischen auf das leibseelische Kompositum aus: Menschen und Tiere haben materielle Leiber, und insofern haben sie Räumlichkeit und Materialität. Nach dem spezifisch Menschlichen und Tierischen, das ist nach dem Seelischen, sind sie aber nicht materiell, und somit sind sie auch als konkrete Ganze genommen im eigentlichen Sinne nicht materielle Realitäten. (Hua IV, 33)
Wir können nach alledem sagen, dass Husserl zwei Thesen zusammenhält, die die meisten modernen Philosophen des Geistes nicht in der Lage sind, zusammenzuhalten: (1) Das Seelische ist von Grund auf wesensverschieden vom Materiellen. (2) Das Seelische ist vom Materiellen unabtrennbar. Die gewöhnliche Meinung ist hier die, dass These (2) These (1) logisch ausschließe, dass aus These (2) vielmehr die Reduzierbarkeit des Seelischen auf das Materielle – oder allgemeiner: auf das Physische – folge. In der Konsequenz eines in naturalistischer Einstellung ergriffenen psychophysischen Dualismus liegt aber sowohl These (1) als auch These (2) – ohne dass dies doch das Anzeichen einer inneren Inkohärenz jenes naturalistisch eingestellten psychophysischen Dualismus wäre. Denn eine unabhängige Stützung erfahren beide Thesen zusammen aus dem phänomenologischen Befund, an dem wir uns, gemäß Husserl, auch in der naturalistischen Einstellung, also auch bei der »Betrachtung der Seele als Naturobjekt«, wie es in der Überschrift zu § 19 von Ideen II heißt, orientieren sollen; Husserl sagt dort: Den Sinn von Seele, den uns die vollkommene Intuition vom Seelischen vorschreibt, kann keine Theorie umstürzen. Er zeichnet aller theoretischen Forschung eine absolut bindende Regel vor. Jede Abweichung von ihm ergibt Widersinn. […] Es gilt also, den echten Begriff vom Seelischen »aus der Erfahrung zu schöpfen«. (Hua IV, 91)
Und in der Phänomenologischen Psychologie heißt es im gleichen Sinn (und es kann als »Ruf zur Umkehr« gelten für den gegenwärtigen, nicht mehr dualistischen, sondern fast vollständig physikalistisch monistisch gewordenen Naturalismus gegenüber dem Psychischen): A
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Wir werden die wahren Verhältnisse […] tiefer verstehen lernen können, einfach darum, weil wir nicht metaphysisch konstruieren, sondern nichts weiter tun und tun dürfen, als den in der natürlichen Welterfahrung selbst beschlossenen Sinn ihrer Erfahrungsgegenständlichkeiten und darunter der darin als Beseelung auftretenden Seelen zu enthüllen. (Hua IX, 139)
Auf der Grundlage des echten, aus der Erfahrung geschöpften Begriffs des Seelischen – d. h. gemäß naturalistischer Einstellung: des naturalen Seelischen, des Seelischen in der Welt (= in der Natur) – gilt nun u. a. das Folgende, wodurch das oben mit These (2) abstrakt-ontologisch Behauptete in einer bestimmten Hinsicht konkret ausgelegt wird: [E]s ist klar, daß weder eigenes noch fremdes Seelisches je erfahrbar werden kann, denn als Beseelendes der in ihrer Typik gebundenen eigenen oder fremden Leiblichkeit, und daß jederlei schon erfahrenes und bewährtes seelisches Sein alsbald zu einem Nichts werden muß, wenn die apperzeptiven Voraussetzungen seelischer Erfahrung aufgehoben werden, also wenn Leiblichkeit aufhört, denjenigen organischen Stil zu bewahren, der die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß sie für eine Beseelungsfunktion fähig ist bzw. daß sie Beseelung anzeigen kann. Tod als reales Vorkommnis in der Welt hat also nicht die Bedeutung einer Ablösung der Seele zu einem eigenen Realen innerhalb dieser Welt. Weltlich ist Tod Vernichtung der Seele, notabene als Seele in der Welt. (Hua IX, 108 f.)
»[E]ines ist sicher«, sagt Husserl wenige Seiten zuvor: »[W]enn die stets offene Möglichkeit des leiblichen Verfalles eintritt, wenn die Möglichkeit und die Gestalt eines einheitlichen Organismus übergeht in die Gestalt eines organisch uneinheitlichen Gemenges oder gar in bloß anorganische Materie, dann ist das psychische Leben vernichtet.« (Hua IX, 106) Die gewohnten Schemata der philosophy of mind gebrauchend, wird man nun geneigt sein zu sagen, Husserl sei eben, wenn er einmal, quasi zur Abwechslung, ›naturalistisch‹ eingestellt sei, ein Eigenschaftsdualist – aber kein Substanzdualist. Das wäre jedoch eine durchaus irrige Einordnung von Husserls Position bei von ihm eingenommener naturalistischer Einstellung in den Ideen II. Denn gemäß Husserl (in den Ideen II) ist die Seele eine Substanz in einem Sinn, der zum Substanzsein eines materiellen Dings analog ist; bei ihr handelt es sich zudem um eine ganz und gar natürliche Substanz per analogiam. Man kann also bei Husserl – dann, wenn er (in den Ideen II) die naturalistische Einstellung einnimmt – von einem naturalen Substanzdualismus per analogiam sprechen. 28
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Die Naturalität der Seele finden wir in den Ideen II wie folgt umrissen – und es klingt, als hätte Husserl die modernen Bestrebungen einer physikalistischen Naturalisierung des Bewusstseins vorausgeahnt und würde sich, in knapper Form, genau gegen diese Bestrebungen wenden, keineswegs jedoch gegen eine Naturalisierung des Bewusstseins überhaupt, sofern sie nur in einer von vornherein bloß relativen Einstellung vorgenommen wird: Daß Leib und Seele eine eigene Erfahrungseinheit bilden und das Seelische vermöge dieser Einheit seine Stelle in Raum und Zeit erhält, darin besteht die rechtmäßige [Herv. UM] »Naturalisierung« des Bewußtseins. (Hua IV, 168)
Zur Substantialität der Seele – zu ihrer substantiellen Realität, und das heißt einfach: zu ihrer Realität, welche gemäß dem weiter oben herausgearbeiteten allgemeinen Begriffsverhältnis zu ihrer Naturalität gehört – sagt Husserl in den Ideen II an erster Stelle: Von dem reinen oder transzendentalen Ich unterscheiden wir, immerfort getreu dem intuitiv Gegebenen folgend, das reale seelische Subjekt, bzw. die Seele, das identische psychische Wesen, das real verknüpft mit dem jeweiligen Menschen- und Tierleib das substantiell-reale Doppelwesen Mensch oder Tier, Animal, ausmacht. Inwiefern Seele und seelisches Subjekt zu unterscheiden sind in der Art etwa, daß seelisches Subjekt das zur Seele gehörende, aber nicht ohne weiteres mit ihr selbst zu identifizierende ist, das werden wir erst später erwägen können. 8 Vorläufig sprechen wir ohne diese Unterscheidung. Mit der Betonung der substantiellen Realität der Seele ist gesagt, daß die Seele in einem ähnlichen Sinn wie das materielle Leibesding eine substantiell-reale Einheit ist im Gegensatz zum reinen Ich, das nach unseren Ausführungen eine solche Einheit nicht ist. (Hua IV, 120) 9 Später schreibt Husserl dazu: »Jedenfalls die wichtigste Schichtung [von den Seelenschichtungen] ist mit der Scheidung zwischen Seele und seelischem Subjekt angedeutet, letzteres verstanden als eine Realität, aber als eine der Seele eingebettete, ihr gegenüber unselbständige und doch sie wieder in gewisser Weise umspannende Einheit, die zugleich so prominent ist, daß sie die allgemeine Rede von menschlichem und tierischem Subjekt vorwiegend beherrscht.« (Hua IV, 134 f.) 9 Warum ist das reine Ich keine substantiell-reale Einheit? – Husserl gibt einen transzendental-philosophischen Grund an: »[D]ie realen Ich, sowie die Realitäten überhaupt, [sind] bloße intentionale Einheiten. Während die reinen Ich […] keiner Konstitution durch ›Mannigfaltigkeiten‹ fähig und bedürftig sind, verhält es sich mit den realen Ich und mit all den Realitäten umgekehrt.« (Hua IV, 110 f.) Im Hinblick auf weiter unten im Haupttext Gesagtes ist auch das Folgende zu berücksichtigen: Beim reinen Ich geht die Rede von Verhaltungsweisen und Zuständlichkeiten, die auch dort ihren Platz hat, von einem »Begriff von Verhaltungsweisen und Zuständlichkeiten« aus, der »ein total an8
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Der Ausdruck »substantielle Realität« ist dabei in der Tat ein Pleonasmus, denn wie Husserl im folgenden Zitat explizit sagt, sind Realität und Substantialität nach seinen Begriffen dasselbe, jedenfalls im gegebenen Untersuchungskontext, und folglich müssen auch Realität und substantielle Realität dasselbe sein 10: Ist aber das Ding, so ist es als identisches Reales seiner realen Eigenschaften, die sozusagen die bloßen Strahlen seines einheitlichen Seins sind. […] Beständig ist es, indem es sich unter den ihm zugehörigen Umständen so und so verhält: Realität oder, was hier dasselbe ist, Substantialität und Kausalität gehören untrennbar zusammen. Reale Eigenschaften sind eo ipso kausale. Ein Ding kennen, heißt daher: erfahrungsmäßig wissen, wie es sich bei Druck und Stoß, im Biegen und Brechen, in Erhitzung und Abkühlung benimmt, d. h. im Zusammenhang seiner Kausalitäten verhält, in welche Zuständlichkeiten es gerät, wie es durch sie hindurch dasselbe ist. (Hua IV, 45)
Aus diesem Zitat geht zudem die für Husserl konstitutive Bedeutung der Kausalität für Substantialität, für Realität hervor. Das Bild vom Ding, vom Realen als konstant sich durchhaltender Ausgangspunkt von »Strahlen«, welche die kausalitätsfundierenden – also in diesem Sinne »kausalen« – Dispositionen, Vermögen des Dings, in Husserls Sprachgebrauch: seine (realen, kausalen) Eigenschaften 11 veranschaulichen sollen, findet sich auch im folgenden Zitat, dort nun insbesondere bezogen auf die Seele: Dabei ist wie das Ding selbst so die Seele selbst nichts weiter als die Einheit ihrer Eigenschaften; in ihren Zuständen »verhält« sie sich so und so, in ihren derer ist als der in der Realitätssphäre geltende, wo alle Verhaltungsweisen oder Zuständlichkeiten der konstituierenden Auffassung gemäß kausal bezogen sind auf ›Umstände‹. Das ist ein radikaler Sinnesunterschied, da doch Kausalität und Substantialität nicht äußerliche Annexe sind, sondern auf Grundarten der Apperzeption zurückweisen.« (Hua IV, 124) 10 Vgl. dazu auch die folgende Textstelle: »Die Analogien, die wir zwischen Materie und Seele festgestellt haben, […] gründen in einer Gemeinsamkeit der ontologischen Form, […] durch die sich ein formal-allgemeiner und offenbar höchst wichtiger Begriff von Realität, nämlich substantieller Realität, aus originären Quellen bestimmt.« (Hua IV, 125) 11 Ist F eine Eigenschaft eines Dings – eines Realen –, so ist (ipso facto) F in einem sekundären, analogen Sinn selbst real. Es besagt also dasselbe, wenn F »eine Eigenschaft des Dings X« genannt wird und wenn es eine »reale Eigenschaft des Dings X« genannt wird. Zudem besagt es – im Sinne Husserls – wegen der Deutung von »Eigenschaft« als »Vermögen, Disposition« dasselbe, wenn F »eine Eigenschaft des Dings X« genannt wird und wenn es eine »kausale Eigenschaft des Dings X« genannt wird.
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Eigenschaften »ist« sie, und jede ihrer Eigenschaften ist ein bloßer Strahl ihres Seins. Wir können dies auch so ausdrücken: die Seele ist die Einheit der auf den niederen sinnlichen aufgebauten (und selbst wieder in ihrer Art sich aufstufenden) »geistigen Vermögen«, und sie ist nichts weiter. (Hua IV, 123)
Wie das materielle Ding ist auch die Seele ein Ort von Eigenschaften, d. h.: von Dispositionen – und nichts weiter; wie das materielle Ding ist für Husserl auch die Seele – und gemeint ist natürlich, gemäß eingenommener naturalistischer Einstellung, die naturale Seele – ein Funktionsding. Die funktional definierte Dinglichkeit, Realität fasst Husserl ganz im Sinne des modernen Funktionalismus – aber lange, bevor er modern wurde – wie folgt auf: Ein Ding zu sein bedeutet ein kausaler Knotenpunkt zu sein in einem Geflecht von sich gegenseitig bestimmenden, also voneinander abhängigen kausalen Knotenpunkten: Sprechen wir danach nebeneinander von materieller und seelischer Realität, so drückt das gemeinsame Wort einen gemeinsamen Sinn, bzw. eine gemeinsame Form in den beiden verschiedenen Begriffen aus. In formaler Allgemeinheit sind die Begriffe reale Substanz (konkret verstanden als Ding in einem weitesten Sinne), reale Eigenschaft, realer Zustand (reales Verhalten), reale Kausalität wesentlich zusammengehörige Begriffe. Ich sage: reale Kausalitäten, denn mit den Zuständen werden wir auf reale Umstände in Form der Abhängigkeit des Realen von anderem Realen zurückgewiesen. Realitäten sind, was sie sind, nur mit Beziehung auf andere wirkliche und mögliche Realitäten in der Verflechtung der substantiellen »Kausalität«. (Hua IV, 125 f.)
Die kausalitätsfundierende Rolle der (realen) Eigenschaften – der Dingdispositionen, deren Einheit das Ding ist – im Zusammenspiel von (realen) Umständen und (realen) Zuständen 12 lässt sich dabei – im Sinne der Aussagen Husserls – wie folgt schematisch zusammenfassen: Sei X ein Ding: {gegebene Eigenschaften von X [Kausalitätsregulatoren; dispositionell] neuer Umstand, in den X gerät [Ursache; manifest]} !R neuer Zustand/Verhaltensweise von X [Wirkung; manifest].
Die Anwendung von ›real‹ auf Umstände und Zustände/Verhaltensweisen ist – wie die Anwendung von ›real‹ auf Eigenschaften – ein sekundärer, analoger Sprachgebrauch (siehe Fußnote 11). Reale Umstände sind Umstände die Dinge (Reales) wesentlich und vorherrschend involvieren; reale Zustände/Verhaltensweisen sind Zustände von Dingen (Realem).
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»« steht hier für ein ereignismäßiges Hinzutreten und »!R« für ein Resultieren, das gemäß einer Regel erfolgt. Entsprechend sagt Husserl in einprägsamer Verkürzung: Das Ding ist eine Regel möglicher Erscheinungen. (Hua IV, 86)
Gleich anschließend fügt er erläuternd hinzu: »Das sagt: das Ding ist eine Realität als Einheit einer Mannigfaltigkeit geregelt zusammengehöriger Erscheinungen.« Diese Erscheinungen zerfallen für Husserl in (ursächliche) Umstände und (wirkungsmäßige) Zustände oder Verhaltensweisen, und die geregelte Zusammengehörigkeit zwischen den Erscheinungen auf beiden Seiten – seien es bloß mögliche, oder aber wirkliche – wird durch die (dispositionellen) Dingeigenschaften bewerkstelligt, deren Einheit eben das Ding ist, wodurch das Ding dann freilich auch zur Einheit der von seinen Eigenschaften in der Abfolge geregelten und so zusammengehörenden (manifesten) Erscheinungen wird. All dies gilt für die Seele nicht weniger als für das materielle Ding. Das zentrale Gemeinsame, durch welches das Analogieverhältnis zwischen materiellem Ding und Seele hergestellt wird, das es dann erlaubt, die Seele als Substanz, als Ding, als Reales anzusprechen, stellt Husserl explizit heraus – unter Umreißung des gerade angegebenen Schemas der Kausalitätsfundierung durch Dingeigenschaften qua Dingdispositionen: Doch den Hauptpunkt, der die Analogie stützt, müssen wir ausdrücklich anmerken. Die Verhaltungsweisen deuten als reale in der materiellen Sphäre auf »reale Umstände« zurück, und nur im Wechselspiel von Verhaltungsweisen und Umständen des Verhaltens beurkundet sich im Rahmen originär gebender Erfahrung die substantial-reale Eigenschaft. Genau so bei der Seele als dem sich in den Erlebnissen eines monadischen Zusammenhangs beurkundenden Realen (Erlebnissen, die dabei natürlich eine entsprechende Apperzeption erfahren haben). Die Seele (bzw. das seelische Subjekt) verhält sich unter den zugehörigen Umständen und in geregelter Weise. […] In den mit Beziehung auf die phänomenal zugehörigen Umstände aufgefaßten Verhaltungsweisen bekundet sich, bzw. in originärer Erfahrung beurkundet sich die betreffende seelische Eigenschaft. Auch hier ist die Auffassung der seelischen Erlebnisse als Verhaltungsweisen des Realen eine phänomenologisch eigenartige. Die Regel der Zusammengehörigkeit ist im phänomenologischen Denken hinterher erkennbar, weil schon die Erfahrungsart vorliegt. Denn nur aus dem Wesen der Erfahrungsart und nicht induktiv-empirisch ist die Erkenntnis der für so geartete Einheiten der Realität konstitutiven Regelung zu gewinnen. (Hua IV, 124)
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Erlebnisse als Verhaltensweisen/Zustände der Dispositionseinheit Seele 13, die unter geeigneten Umständen gemäß den ihr eigenen Dispositionen – den seelischen Eigenschaften – sich manifestieren – analog zu den Verhaltensweisen/Zuständen der Dispositionseinheit materielles Ding, die sich unter geeigneten Umständen manifestieren gemäß den ihm eigenen Dispositionen: hiermit erkundet Husserl eine Möglichkeit der Theoriebildung, die Gilbert Ryle in seinem berühmten Buch The Concept of Mind (zuerst 1949 erschienen, wiederabgedruckt als Ryle (2002)) nicht in den Sinn kommt, 14 bei aller Bedeutung, die Ryle dem Verhalten und den Verhaltensdispositionen für eine korrekte Analyse des Geistes zuweist. Ryle sagt: To talk of a person’s mind is not to talk of a repository which is permitted to house objects that something called ›the physical world‹ is forbidden to house; it is to talk of the person’s abilities, liabilities and inclinations to do and undergo certain sorts of things, and of the doing and undergoing of these things in the ordinary world. Indeed, it makes no sense to speak as if there could be two or eleven worlds. 15
Mit der zweiten, affirmativen Behauptung von Ryle (der nach dem Semikolon: »it [d. h.: to talk of a person’s mind] is to talk of the person’s abilities […] in the ordinary world«) braucht der Husserl der naturalistischen Einstellung kein Problem zu haben: er kann sie schlicht akzeptieren (genauer gesagt: er kann sie so verstehen, dass er sie akzeptieren kann). Die erste, negative Behauptung von Ryle (»To talk of a person’s mind is not to talk [etc.]«) hätte aber selbst der Husserl der naturalistischen Einstellung dem wesentlichen Gehalt nach nicht akzeptiert (obwohl auch Husserl nicht gern vom Geist als »repository« Vgl. auch Hua IV, 131: »Seelische Zustände sind […] nichts anderes als die immanent wahrnehmbaren Erlebnisse des immanenten Erlebnisflusses«. 14 Freilich wird der husserlsche Gedanke im Vorübergehn berührt: »The verbs, nouns and adjectives, with which in ordinary life we describe the wits, characters and highergrade performances of the people with whom we have to do, are required [von den Vertretern der Official Doctrine, zu denen Ryle zweifellos auch Husserl zählt] to be construed as signifying special episodes in their secret histories, or else as signifying tendencies for such episodes to occur [Herv. UM]« (Ryle (2002), 15). Aber Ryle ist in The Concept of Mind weit davon entfernt, die von mir eben hervorgehobene Qualifizierung positiv zu würdigen. Vielmehr müssen für Ryle Erlebnisdispositionen ebenso wegfallen wie Erlebnisse selbst: »mental processes«, »inner states«, »experiences«, »nonphysical episodes«, die für ihn »ghostly«, »occult« und »mythical« sind, bloße Projektionen einer »unfortunate linguistic fashion« (vgl. Ryle (2002), 46, 54, 64, 135). 15 Ryle (2002), 199. 13
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gesprochen hätte) – und Husserl hätte damit jedenfalls keinen logischen Fehler begangen, denn, anders als Ryle suggeriert, folgt Ryles erste, negative Behauptung durchaus nicht logisch aus seiner zweiten, affirmativen. Das zeigt Husserls in naturalistischer Einstellung vorgetragene kohärente Auffassung von der Seele (bei Ryle: »a person’s mind«) als eine Einheit von Dispositionen (also von »abilities, liabilities and inclinations«), wobei aber eben die Manifestationen jener Dispositionen (und zwar ihre Manifestationen »in the ordinary world«) für Husserl (anders als für Ryle) ganz und gar immateriell, ja nichtphysisch, nämlich Erlebnisse sind, aber dennoch ebenfalls zur Seele gehören, freilich nicht wie ihre Dispositionen und nicht wie zu einem »repository« (siehe obiges Ryle-Zitat), sondern schlicht als die dispositionell reguliert unter geeigneten Umständen manifest werdenden Zustände, Verhaltensweisen der Seele. 16 Die Würdigung und anschließende Kritik der – durchweg dualistisch eingestellten – älteren Vermögenspsychologie, die nun Husserl in den nachfolgend zitierten Worten zum Ausdruck bringt, passen sehr gut auch auf Ryle und seine vielen dispositionsfunktionalistisch und zugleich, wie Ryle, anti-dualistisch eingestellten Jünger in Vergangenheit und Gegenwart (zu denen etwa auch Daniel Dennett zählt 17). Husserl hatte Ryle (und man kann hinzufügen: Wittgenstein) längst schon überholt: Wenn die alte Psychologie Vermögenslehre war, so war sie das, was sie eben als Seelenlehre einzig und allein sein konnte und sein mußte. Wenn sie fehlte, so lag das nicht an der angeblich »verkehrten Vermögenspsychologie«, sondern daran, daß sie methodisch versagte, d. i. nicht die Methode ausbildete, die ihr als Seelenlehre, als recht verstandene Vermögenslehre vorgezeichnet war. Sie fehlte, allgemein gesprochen, insbesondere darin, daß sie das systematische Studium der seelischen Zustände, also zu unterst der »Bewußtseinszustände« unterließ oder gar zu leicht nahm, während diese doch als das Material der Beurkundung alles Seelischen des allergründlichsten Studiums bedurft hätte. (Hua IV, 123)
Für Husserl ist es übrigens ein Leichtes, nicht mit besonderem ontologischen Ernst von ›der physischen Welt‹ oder ›der nichtphysischen Welt‹ zu sprechen, sind doch beide Welten für ihn – als Transzendentalphänomenologen – das Ergebnis von abstraktiver und summativer Konstitution (d. h.: Konstruktion). 17 »In due course you may discover that you have become a Rylean like me«, schreibt Dennett einleitungsweise zu Ryles The Concept of Mind (Dennett (2002), xvi). 16
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Die moderne, durch den Dispositionsfunktionalismus geprägte cognitive science – die Vermögenspsychologie im neuen Gewand – steht gegenüber der älteren Vermögenspsychologie freilich insofern schlechter da, als sie vielfach gar nicht mehr in den Blick bekommt, was ein Bewusstseinszustand im Unterschied zu einem Gehirnzustand überhaupt sein mag. Als Zustände sind Bewusstseinszustände wie Gehirnzustände Manifestationen, nicht Dispositionen; sie liegen also – im ontologischen Sinne – auf der Hand (d. h.: ihre Wirklichkeit ist restlos im Wirklichen und nicht, auch nicht zum Teil, im rein Möglichen begründet). Aus Gründen metaphysischen Interesses betreibt man aber heute – und Ryle betrieb als einer der Ersten – das systematische Übersehen, das Ausblenden, ja das Leugnen eines Teils dessen, was manifest ist: der Bewusstseinszustände in ihrer Eigenart (welcher zufolge sie übrigens nicht nur ontologisch, sondern auch epistemologisch manifest sind, eben Phänomene darstellen). 18 Ein Funktionsding – wie es nach Husserl das materielle Ding, aber eben auch die Seele (in naturalistischer Einstellung) ist – unterliegt einem Determinismus im folgenden Sinn: Die Umstände bestimmen es gemäß seinen Dispositionen (seinen Eigenschaften, sagt Husserl) zu seinen entsprechenden Verhaltensweisen (Zuständen), mit anderen Worten: Es funktioniert, wie es muss. Am deutlichsten formuliert Husserl den funktionalistischen Determinismus in den Ideen II dort, wo er Nach Ryle – gemäß einem frühen Text von ihm (aus dem Jahre 1932) – liegt eine der Wurzeln der Phänomenologie in Brentanos Ablehnung der Vermögenspsychologie: »Brentano, following Herbart, repudiated the psychologies which treated mental faculties as the ultimate terms of psychological analysis, and insisted instead that the ultimate data of psychology are the particular manifestations of consciousness. These he called ›psychic phenomena‹, […] as being directly discernible manifestations of mental functioning as opposed to being inferred or constructed mental ›powers‹. So ›Phenomenology‹ only means, as it stands, the science of the manifestations of consciousness and might have been used – though it is not – as another name for psychology.« (Ryle (1971), 167) Hierzu ist zu sagen: (1) Von Ryles späterer radikaler Ablehnung der Bewusstseinspsychologie ist hier noch nichts zu spüren. (2) Wie wir gerade gesehen haben, sah Husserl die Vermögenspsychologie schon differenzierter, als – nach Ryle – Brentano das tat. (3) Ryle suggeriert, dass es die Phänomenologie – als Psychologie genommen – nur mit Manifestationen zu tun haben wolle; aber jedenfalls bezogen auf den Husserl der Ideen II ist das keine richtige Einschätzung der Phänomenologie (in natürlicher Einstellung, also als Psychologie genommen), wie wir gerade gesehen haben. In einem frühen phänomenologischen Text Husserls liest man aber bemerkenswerterweise: »Disposition […] ist ein wichtiger Methodenbegriff der Psychologie, geht uns [als Phänomenologen] aber nichts an.« (Hua XXIII, 3) 18
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die naturalistische Einstellung bereits verlassen hat und sie mit der personalistischen vergleicht, von dieser Warte aus Zentralaussagen der naturalistischen Einstellung als Anfragen an sie formuliert: Ist nun ein Ding, das doch unter allen Umständen ein Ding, ein Identisches von Eigenschaften ist, wirklich in sich ein Festes, Starres hinsichtlich seiner realen Eigenschaften, nämlich ein Identisches, das identisches Subjekt identischer Eigenschaften ist, während das Wechselnde in ihm nur die Zustände und Umstände sind? Ist die Meinung also die: je nach den Umständen, in die es gebracht wird, oder in die es ideell hineingedacht werden kann, hat es andere aktuelle Zustände. Aber im voraus – a priori – ist durch sein eigenes Wesen vorgezeichnet, wie es sich benehmen kann und dann auch benehmen wird. (Hua IV, 298 f.) 19
In naturalistischer Einstellung ist die Realität der Seele in einem dazu analogen deterministischen Sinn »ein verharrendes Sein gegenüber wechselnden Umständen« (Hua IV, 127) 20. »[D]och bedarf es«, fügt Husserl hinzu, »einer näheren Prüfung, welcher Art diese ›Umstände‹ sind und was das für ein ›Verharren‹ ist.« Wie sich herausstellt, sind weder die Umstände noch das Verharren bei der Seele derselben Art wie beim materiellen Ding (was das Verharren der Seele angeht, siehe Fußnote 20). Dies muss nun freilich der von Husserl dispositionsfunktionalistisch aufgefassten Substantialitäts-, Realitätsanalogie zwischen materiellem Ding und Seele nicht abträglich sein. Aber Husserl weist auch auf die Punkte hin, die jener Analogie tatsächlich abträglich sind: Es gibt einen auf materielle Dinge korrekt anwendbaren mathematisch-objektiven Begriff von Substanz, so dass »wir zweifellos sagen Und Husserl fügt, weiter anfragend, hinzu: »Aber hat jedes Ding (oder, was hier dasselbe sagt: hat irgendeins) überhaupt ein solches Eigenwesen? Oder ist das Ding sozusagen immer auf dem Marsch, ist es gar nicht in dieser reinen Objektivität zu fassen, vielmehr vermöge seiner Beziehung zur Subjektivität prinzipiell nur ein relativ Identisches, etwas, das nicht im voraus sein Wesen hat, bzw. hat als ein für allemal erfaßbares, sondern ein offenes Wesen hat, das immer wieder je nach den konstitutiven Umständen der Gegebenheit neue Eigenschaften annehmen kann?« (Hua IV, 299) 20 Die Seele als verharrende Realität und das, was ihr Verharren macht, stellt sich allerdings gegenüber den entsprechenden Verhältnissen beim materiellen Ding als wesentlich komplexer dar, involviert es doch offenbar determinierende Metadispositionen. Denn wenige Seiten später sagt Husserl: »Mit der Notwendigkeit der Änderung der Zustände ist nun bei der Seele gegeben die Notwendigkeit der erwähnten Änderung seelischer Eigenschaften durch Neubildung von Dispositionen: Jedes Erlebnis hinterläßt Dispositionen und schafft in Hinsicht auf die seelische Realität Neues.« (Hua IV, 133) Bei der Seele sind also keineswegs schon die Dispositionen erster Stufe konstant. 19
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[müssen], es gibt keine Seelensubstanz« (Hua IV, 132); und es gibt einen auf materielle Dinge korrekt anwendbaren mathematisch-objektiven Begriff von Kausalität, so dass »bei der Seele von Kausalität überhaupt nicht zu reden« ist. 21 »Orientieren wir die Begriffe ›Natur‹ und ›Realität‹ am Wesen des materiellen Dinges, so müssen wir […] sagen, daß sie dem Seelischen als solchen nicht zukommen«, konstatiert Husserl (Hua IV, 138). Er fügt aber hinzu (und was er hinzufügt, stellt eine Art Fazit dar): Aber durch seinen Zusammenhang mit dem Körperlichen hat es [das Seelische] Anknüpfung an die Natur und »Dasein« in einem zweiten Sinne, Dasein im Raume, Dasein in der Raumzeit. Und so hat es auch, können wir sagen, eine Quasi-Natur und eine Quasi-Kausalität: wofern wir eben die Begriffe Natur, bzw. Substanz und Kausalität erweitern und jedes Daseiende, das auf konditionale Umstände des Daseins bezogen ist und unter Daseinsgesetzen steht, als Substanz (dingliches, reales Dasein) bezeichnen und jede Eigenschaft, die hier als konditional bestimmte sich konstituiert, als kausale. (Hua IV, 138)
Das, was die Seele sekundär natural macht, nämlich der Zusammenhang mit – die Abhängigkeit von – etwas primär Naturalem, dem Körperlichen (wie schon ausgeführt), hilft also auch dabei, ist gar entscheidend dafür, der Seele immerhin Realität/Substantialiät in einem weiten Sinn zuzuschreiben (trotz der Widerstände, die sich zunächst bieten, wenn man sich an der Realität/Substantialität des im engeren Sinne Realen/Substantialen – nämlich des Materiellen – orientiert). Bei alledem ist aber die Seele für Husserl – in naturalistischer Einstellung – dennoch nicht das zweite Reale nach dem materiell Realen. Man könnte seine Position gut als einen ›tertiären Substanzdualismus‹ bezeichnen, stellt Husserl doch die Seele als etwas Reales/Substantiales Hua IV, 132, wo Husserl auch feststellt: »Nicht jede gesetzlich geregelte Funktionalität in der Sphäre der Tatsachen ist Kausalität«. Zwei weitere Kontrastpunkte zwischen materiellem Ding und Seele, die aber nicht den Substanz-, Realitätsstatus der Seele affizieren, sind die folgenden: »[D]as materielle Ding kann, als prinzipielle Möglichkeit, völlig unverändert sein, unverändert hinsichtlich seiner Eigenschaften, auch unverändert hinsichtlich seiner Zuständlichkeiten. […] Das seelische ›Ding‹ kann aber prinzipiell nicht unverändert bleiben, zunächst nicht in unverändertem Seelenzustand verharren.« (Hua IV, 132 f.) »Da zeigt sich nun das Merkwürdige, daß materielle Dinge ausschließlich von außen her bedingt sind und nicht bedingt sind durch ihre eigene Vergangenheit; sie sind geschichtslose Realitäten. […] Demgegenüber gehört es zum Wesen seelischer Realität, daß sie prinzipiell in denselben Gesamtzustand nicht zurückkehren kann: seelische Realitäten haben eben eine Geschichte.« (Hua IV, 137)
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nicht nur dem Materiellen hintan, sondern zudem einem anderen Realen, welches dann seinerseits – und eben nicht die Seele – die zweite Realitätsstelle (die des secundum reale) hinter dem (rein) Materiellen (dem primum reale) einnimmt: Die Einheit der Seele ist reale Einheit dadurch, daß sie als Einheit des seelischen Lebens verknüpft ist mit dem Leib als Einheit des leiblichen Seinsstromes, der seinerseits Glied der Natur ist. Das Ergebnis der Betrachtung, die uns über den Sinn dessen, was die Rede von »Seele« und »seelischer Natur« meint, aufklären sollte, führt uns demnach zum Ausgangspunkt der gesamten Erörterung zurück: was wir der materiellen Natur als zweite Art von Realitäten entgegenzustellen haben, ist nicht die »Seele«, sondern die konkrete Einheit von Leib und Seele, das menschliche (bzw. animalische) Subjekt. (Hua IV, 139) 22
Literatur Beckermann, A. (2008), Gehirn, Ich, Freiheit. Neurowissenschaften und Menschenbild, Paderborn. Dennett, D. C. (2002), »Re-Introducing The Concept of Mind«, in: Ryle, G., The Concept of Mind. With an Introduction by Daniel C. Dennett, Chicago, vii– xviii. Ryle, G. (1971), »Phenomenology«, in: Ryle, G., Collected Papers, Bd. 1 (Critical Essays), London, 167–178. – (2002), The Concept of Mind. With an Introduction by Daniel C. Dennett, Chicago.
In den Ideen II haben wir demnach in naturalistischer (d. h. für Husserl in den Ideen II: in natürlicher) Einstellung: Das primum reale naturale ist der (reine) Körper, das secundum reale naturale ist das leibseelische Lebewesen, das tertium reale naturale ist die Seele. In der Phänomenologischen Psychologie hingegen haben wir in natürlicher (d. h. für Husserl in der Phänomenologischen Psychologie: nicht in naturalistischer) Einstellung: Das primum reale naturale ist das leibseelische Lebewesen, das secundum reale naturale ist der reine Körper, das tertium reale naturale hingegen fehlt, da die Seele nicht mehr als eine eigene Realität angesehen wird. (Vgl. zum Gesagten Fußnote 2.)
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Alles Leben ist Stellungnehmen – Die Person als praktisches Subjekt Roberta De Monticelli
I.
Das Neue an menschlichen Personen
Welche Art von Entitäten sind menschliche Personen? Dieser Beitrag wird eine Antwort skizzieren, die sich auf einen grundlegenden Begriff Husserls stützt, nämlich den Begriff der Stellungnahme oder Position. Das Folgende kann somit als eine Erläuterung des Zitates gelten, das diesem Beitrag seinen Titel gibt: »Alles Leben ist Stellungnehmen.« 1 Genauer: alles personale, insbesondere alles menschliche Leben, ist Stellungnehmen. Denn sicherlich ist nicht alles Leben überhaupt im Husserlschen Sinn Stellungnehmen – nicht das einer Bohne, vielleicht auch nicht das der meisten Tiere, wie wir sehen werden. Unsere Erläuterungen werden besser verständlich sein, wenn wir sie der besten gegenwärtigen analytischen Theorie der menschlichen Person, nämlich Lynne Bakers Constitution Theory, gegenüberstellen. Dafür benötigen wir den Begriff der ontologischen Bedeutung:
1 Der Zusammenhang des Zitats aus Husserls Essay Philosophie als strenge Wissenschaft von 1911 ist ebenfalls interessant, da Husserl Positionalität und Vernunft in Verbindung bringt: »Die geistige Not unserer Zeit ist in der Tat unerträglich geworden. Wäre es doch nur die theoretische Unklarheit über den Sinn der in der Natur- und Geisteswissenschaften erforschten ›Wirklichkeiten‹, was unsere Ruhe störte […] Es ist vielmehr die radikalste Lebensnot, an der wir leiden, eine Not, die an keinem Punkte unseres Lebens halt macht. Alles Leben ist Stellungnehmen, alles Stellungnehmen steht unter einem Sollen, einer Rechtssprechung über Gültigkeit oder Ungültigkeit, nach prätendierten Normen von absoluter Geltung. Solange diese Normen unangefochten, durch keine Skepsis bedroht und verspottet waren, gab es nur eine Lebensfrage, wie ihnen praktisch am besten zu genügen sei. Wie aber jetzt, wo alle und jede Normen bestritten oder empirisch verfälscht und ihrer idealen Geltung beraubt werden?« (Hua XXV, 56)
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Intuitively, to say that Fs (tigers, chairs, anything) have ontological significance is to say that the addition of an essential F is not just a change in something that already exists, but the coming into being of a new thing. 2
Eine Statue ist etwas Neues, relativ zu dem, worauf sie konstituiert ist, d. h. zum Bespiel ein Stück Ton. Denn die Statue kann aufhören, da zu sein, obgleich der umgeformte Ton weiter existiert. Jede menschliche Person ist auch in diesem Sinn etwas Neues bezüglich dessen, worauf sie konstituiert ist, nämlich einem Organismus einer bestimmten biologischen Art (homo sapiens). Die Frage lautet demnach folgendermaßen: Was ist die wesentliche Eigenschaft F, die den Unterschied macht, d. h. die aus einem menschlichen Organismus eine Person macht? Lynne Baker zufolge ist das, was den Unterschied ausmacht, die Fähigkeit über die Perspektive der ersten Person im engeren Sinne zu verfügen, d. h. sich als sich selbst auf sich beziehen zu können; dabei begreift man sich sowohl als Subjekt als auch als Objekt einer pronominalen Bezugnahme, wie etwa in dem Satz »Ich hoffe, dass ich unter den Auserwählten bin«. Man beachte, dass eine solche »starke« Perspektive, die sich von einer schwachen oder rudimentären, wie sie kleine Kinder anwenden können, unterscheidet, natürlich die Fähigkeit einschließt, sich »wie ein anderer« auf sich zu beziehen, wie Paul Ricœur zu Recht anmerken würde. Diese Antwort scheint jedoch nicht die wesentliche Eigenschaft F zu identifizieren, sondern höchstens eine Eigenschaft, die in dem wesentlichen F impliziert ist. Selbstbewusstsein im engeren Sinn ist nämlich eine Fähigkeit, die einem Menschen – z. B. einem Geisteskranken – fehlen kann, ohne dass er deswegen aufhört eine menschliche Person zu sein. Andererseits scheint Selbstbewusstsein eine grundlegendere Fähigkeit vorauszusetzen, nämlich die Fähigkeit als ein Selbst oder ein Subjekt leben zu können. Für einen Phänomenologen setzt in der Tat das Bewusstsein seiner selbst ein Selbst voraus, ein Subjekt, dessen man sich bewusst sein kann, ein Wesen, das nicht auf sein Bekanntsein reduziert werden kann. Wir sind auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: Was ist dann die wirklich wesentliche Eigenschaft, die den Unterschied macht? Wir antworten darauf, dass dies unsere Fähigkeit, Akte auszuführen, ist. Die Begründung für diese Aussage wird ein zentrales Konzept 2
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Baker (2002), 370. Vgl. De Monticelli (2007); Rota (1993), besonders 178–187.
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der Husserlschen Phänomenologie entfalten, das jedoch noch nicht Gegenstand einer systematischen und allgemeinen Theorie der Akte gewesen ist. 3 Dies werden wir im vorliegenden Essay skizzieren.
II.
Der Begriff des Aktes
Dieser Begriff wird sowohl in der kontinentalen als auch in der analytischen zeitgenössischen Philosophie stark vernachlässigt. Zwei Arten von Fehlern müssen vermieden werden: eine Reduktion des Begriffs Akt auf den Begriff Handlung und eine Reduktion von Akten auf Zustände oder Ereignisse. Man könnte diese zweite Reduktion als »Erbsünde« der zeitgenössischen Philosophie des Geistes bezeichnen. Diese Erbsünde geht in der Tat mit dem metaphysischen Naturalismus einher, dessen bekannteste Formen der reduktive und der eliminative Materialismus sind. Doch die erste Reduktion, die sozusagen von den meisten Sprachen suggeriert wird, ist aus phänomenologischer Sicht genauso gefährlich. Um dies zu erkennen, muss man sich auf den Begriff des Aktes konzentrieren, dem wir den Rest des Essays widmen werden. Zuerst aber seien drei Thesen vorgestellt, die wir im Folgenden vertreten werden: (A) Eine Person zu sein bedeutet, durch seine eigenen Akte über seine Zustände zu emergieren. (S) Eine Person ist ein Subjekt von Akten. (F) Es gibt eine Unterklasse von Akten, die für personale Identität erforderlich sind, nämlich alle freien Akte. Man wird ohne weiteres die These (S) als eine Hauptthese Husserls anerkennen. 4 Natürlich gibt es bei Husserl eine entwickelte Theorie der Akte qua intentionaler Erlebnisse; vgl. Hua XIX/1, V. Untersuchung, Kap. 2; Ideen I, §§ 76 ff. Jedoch zielt der Entwurf, den wir hier vorschlagen, auf eine Erweiterung des Begriffes »Akt« – sogar jenseits des Bereichs der intentionalen Erlebnisse. Das Wesentliche dieser Erweiterung ist aber schon in § 115 der Ideen I, »Anwendungen. Der erweiterte Aktbegriff. Aktvollzüge und Aktregungen«, geschildert. 4 Da Akte intentionale Erlebnisse sind oder einschließen, schließt die Fähigkeit, Akte vollziehen zu können, die Fähigkeit ein, bewusst zu sein. Wie Verena Mayer (2009), 70, 3
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Die These (A) stellt hingegen unsere Antwort auf die Frage dar: Was muss dem Sein eines bestimmten biologischen Organismus hinzugefügt werden, damit ein neues Wesen, nämlich eine Person, daraus entsteht? Wir sind ja auf der Suche nach der Eigenschaft F, die den Unterschied ausmacht, oder, in Bakers Sprache, »ontologische Bedeutung« hat. Damit folgen wir Husserls Hinweisen über die Schichtung, durch welche ein Bewusstseinsleben sich auf der unteren Schicht des psychischen Lebens aufbaut, wie dies im zweiten Buch der Ideen ausführlich gezeigt wird. 5 Es wird sich zeigen, dass die These (F) aus einer inneren Differenzierung der ganzen Klasse der Akte 6 entsteht, die erforderlich ist, um einen weiteren grundlegenden Aspekt im Aufbau der Person zu erklären, nämlich ihre Individuation. Um die These (A) zu stützen, müssen wir zuerst die darin enthaltenen Begriffe Akte und Zustände klären.
III. Akte und Zustände Wir liefern keine Definition des Begriffs Zustand, sondern nur eine partielle Beschreibung seines Gebrauchs in der analytischen Philosophie des Geistes. Bei den meisten Autoren spielt dieser Begriff eine zentrale Rolle bei der Beschreibung unseres geistigen und nicht-geistigen Lebens. Der Begriff mentaler Zustand (mental state) ist dann auch der Schlüsselbegriff für das Verständnis des Begriffs geistiges Leben (mental life). Das geistige Leben ist – nach einer von fast allen akzeptierten These – eine Abfolge von mentalen Zuständen (z. B. Überzeugungen, Wünschen, Emotionen). Diese Abfolge wird gemeinhin als eine Reihe von Zuständen beschrieben, die sich jeweils in einem Kausalzusammenhang mit dem bezüglich der Intentionalität sagt: »Diese Struktur ist so grundlegend für unseren Begriff des Bewusstseins, dass wir einem Wesen, das zu intentionalen Bezugnahmen nicht fähig wäre, kein Bewusstsein zuschreiben würden.« 5 Vgl. Hua IV, 214: »Denn in jedem Bewußtseinsleben baut sich die Schicht der Stellungnahmen, der Akte überhaupt auf Unterschichten auf.« Vgl. auch § 61, »Das geistige Ich und sein Untergrund«. 6 Eine Phänomenologie der freien und unfreien Akte, die Husserls Begriff des »Ich der ›Freiheit‹« (Hua IV, 213) umgrenzt und genauer analysiert, ist bei Edith Stein zu finden. Vgl. Stein (1922), 46–53.
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Alles Leben ist Stellungnehmen – Die Person als praktisches Subjekt
vorherigen und dem folgenden Zustand befinden. Das ist gemäß dem, was John Searle das »klassisches Modell praktischer Rationalität« nennt, die klassische Beschreibung eines jeden Stücks geistigen Lebens. Ein Beispiel: Edmund hat Durst, er glaubt, dass in dem Glas Wasser ist. – Edmund beschließt das Glas Wasser zu trinken. Eine Entscheidung wird typischerweise als ein vorgängiger Zustand (oder ein Ereignis) beschrieben, das ursächlich durch andere Zustände (Glaubensvorstellungen und Wünsche) bestimmt wird. Wie man sieht, beinhaltet dieses Modell eine klassische Form eines kausalen Determinismus. Willentliche Handlungen werden genau wie jedes andere Ereignis in der Natur durch Ursachen bestimmt; der einzige Unterschied liegt in der Art der Ursachen. In unserem Fall handelt es sich nicht so sehr um physische oder biologische, sondern um psychologische Ursachen wie Glaubensvorstellungen und Wünsche (psychologischer Determinismus). 7 Ein derart beschriebenes personales Leben scheint jedoch keinen Unterschied gegenüber dem Leben einer Ameise oder gar dem »Leben« einer Turing-Maschine aufzuweisen, das ebenfalls als Abfolge von Zuständen beschrieben werden kann, d. h. als ein Vorgang, der keiner Stellungnahme bedarf. (Nebenbei bemerkt, sind wir also mit John Searle einverstanden, der das klassische Modell der praktischen Rationalität auf eine Theorie reduziert, die sich auf die Rationalität von Affen beschränkt. 8) Unsere Argumente gegen eine Beschreibung des geistigen Lebens des Menschen als kausale Abfolge von Zuständen sind von zweierlei Natur: von phänomenologischer und von ontologischer. Aus phänomenologischer Sicht entspricht diese Beschreibung nur in geringem Maße dem geistigen Leben von Personen, wie wir es kennen. Ein bewusstes Leben und jegliches Intervall eines solchen Lebens entspricht nicht einfach einem bloßen Fluss von Bewusstseinszuständen (so sind eher unsere Träume beschaffen). Vielmehr ähneln sie stark einer Abfolge gut aufeinander abgestimmter Akte, wobei ihre Verbindung durch Motivation bedingt ist. Unter »Motivation« verstehen wir eine Relation R zwischen Akten, die von einer kausalen Verbindung dadurch abweicht, dass kein Folglich impliziert dieses Modell eine »kompatibilistische« Erklärung der freien Handlungen. 8 Vgl. Searle (2001). 7
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Akt durch einen vorherigen Akt motiviert sein kann, ohne die explizite oder implizite Zustimmung des Subjekts zu berücksichtigen. Und tatsächlich scheint kein mentaler Zustand fähig, einen weiteren zu »verursachen«, ohne sozusagen »das Subjekt zu konsultieren«. Nur die Zustimmung des Subjekts macht ein Motiv effektiv, denn ohne eine solche Zustimmung wäre das Motiv nur möglich. Ohne Zustimmung hätte dieses Motiv keine kausale Wirkung. 9 Die zweite Argumentationslinie ist ontologischer Natur. Das phänomenologische Argument ist nach analytischem Standard nicht ausreichend. Wie können wir sicher sein, dass das, was wir »Motiv« nennen, nur eine Ursache mit anderem Namen, und dass das, was wir »Akt« nennen, nur ein Zustand mit anderem Namen ist? Woher wissen wir, dass Zustände nicht ausreichen, um andere Zustände auszulösen und dass das Einverständnis des Subjekts keine Illusion ist? Woher wissen wir, dass das, was so zu sein scheint, wirklich so ist, und dass die Phänomenologie wirklich, und nicht nur scheinbar die Ontologie zu erkennen gibt? Mit einem Wort, wir brauchen neben der phänomenologischen noch eine ontologische Unterscheidung zwischen Motiv und Ursache sowie zwischen Akt und Zustand. Betrachten wir den ersten Punkt. Unser Argument setzt voraus, dass es einen ontologischen Unterschied zwischen Handlungen und Ereignissen gibt. Alle Handlungen sind Ereignisse, aber nicht umgekehrt. Diese These ist weniger umstritten als die Unterscheidung zwischen Zuständen (oder Ereignisse) und mentalen Akten. 10 Hier also das Argument: Zubettgehen ist eine Handlung, während Einschlafen, in den Zustand des Schlafs »Fallen«, ein Ereignis ist. Es handelt sich um etwas, das mir einfach passiert. Angenommen, man akzeptiert diese Prämisse. Und nun einmal angenommen, ich sei müde. Müdesein ist ein gutes Motiv, um schlafen zu gehen. So kann ich also durch Zustimmung zu meinem Zustand dem Motiv beipflichten und erlaube ihm somit, mich zur Handlung des Zubettgehens zu veranlassen. Doch der Zustand der Müdigkeit ist kein ausreichender Grund. Ich kann sehr wohl andere Gründe haben, aufzubleiben und mich meinem Zustand von Müdigkeit zu widersetzen, etwa um eine Arbeit zu beenden, einen Film zu Ende zu sehen etc. 9 10
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Vgl. Ideen II, § 56, »Die Motivation als Grundgesetz des Geisteslebens«. Vgl. Runggaldier (1996).
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Früher oder später werde ich jedoch mit Sicherheit einschlafen. Es ergibt sich – so könnte man mir entgegen setzen –, dass der Zustand letztendlich sehr wohl ein ausreichender Grund, bzw. eine Ursache für den Zustand des Schlafs gewesen ist, der daraus folgte. Eine Ursache gewiss, doch nicht für eine Handlung (Zubettgehen), sondern für ein Ereignis (Einschlafen). Solange wir an den Handlungen festhalten, gibt es keinen Zustand, der ohne meine implizite oder explizite Zustimmung eine Handlung auslösen kann. Sobald mein Zustand als Ursache fungiert, gibt es keine Handlung mehr, sondern ein Ereignis – oder einen anderen Zustand. Folglich unterscheidet sich ein Motiv auch in ontologischer Hinsicht von einer Ursache, da keine Ursache für ihre Wirkung der Zustimmung durch irgendjemand bedarf, wohingegen dies für alle Motive zutrifft. Um die zweite Unterscheidung, die zwischen Akten und Zuständen zu klären, müssen wir uns zuerst mit dem Begriff des Aktes befassen. Der Rest dieses Beitrags ist eine Skizze einer allgemeinen Theorie der Akte, die uns der Kern einer Ontologie der Person zu sein scheint.
IV. Akte und Handlungen Der erweiterte Begriff eines Aktes, den ich vorschlagen will, schließt den Begriff der Handlung ein, ohne sich auf diese reduzieren zu lassen. 11 Ein synoptischer Blick auf das Subjekt kann nützlich sein, bevor wir ins Detail gehen. AKTE IM WEITEREN SINNE HANDLUNGEN
AKTE IM EIGENTLICHEN SINN
1. Punktuelle Handlungen (im Gegensatz zu Aktivitäten) DAS, WAS MAN – 2. Handlungen, die eventuell mit positivem IRREFÜHRENDERWEISE – oder negativem Wert aufgeladene Hal»MENTALE AKTE« NENNT tungen oder Dispositionen aufweisen (z. B. ein Akt der Freundschaft, ein mutiHUSSERL: ger Akt); QUASI-SYNONYM 3. Sprechakte (Dinge mit Worten tun) VON »INTENTIONALE ERLEBNISSE« 4. Soziale Akte 11
Schon in den Logischen Untersuchungen unterstreicht Husserl, dass »Akt« im Sinne A
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Betrachten wir das linke Feld. Normalerweise bezeichnen wir als »Akte« einige Untergruppierungen von Handlungen: So z. B. punktuelle Handlungen im Gegensatz zu Aktivitäten, etwa jemandem einen Schlag mit der Faust geben, sich eine Kugel in den Kopf schießen. Wir verstehen unter »Akten« auch Handlungen wie die unter Punkt 2 aufgelisteten, z. B. einen mutigen Akt. Der dritte Punkt erinnert uns an eine Gruppe sehr wichtiger Handlungen: die Sprechakte, also Handlungen, die darin bestehen, Dinge mit Worten zu tun (Bestätigungen, Gebete, Versprechen …). Unter den Sprechakten könnten wir unser besonderes Interesse auf die performativen Akte richten, die soziale Sachverhalte wie z. B. Hochzeiten hervorbringen, oder auf »verpflichtende« Akte, die soziale Zustände wie Verpflichtungen oder Ansprüche hervorbringen, oder auf »direktive« Akte wie Befehle, ohne die es vermutlich keine Gesetze gäbe. Die meisten Akte durch Sprache sind zugleich auch soziale Akte (Punkt 4), welche Akte mit gesetzlicher, politischer etc. Wirkung einschließen. Was aber ist zum rechten Feld zu sagen? Es enthält das, was man in der Philosophie des Geistes bisweilen »mental acts« nennt – und viel häufiger einfach »mental states« 12. Die Bezeichnung »mentale Akte« ist irreführend, wenn wir, wie es normalerweise der Fall ist, darunter eine Art von »inneren« oder »mentalen« Handlungen verstehen. Meiner Meinung nach ist der Begriff jedoch trotz seines kartesianischen Ursprungs sehr verworren. Wenn man unter »mentalem Akt« »mentale Handlung oder Operation« versteht, dann ist die Kritik, die Gilbert Ryle an diesem Begriff geübt hat, immer noch gültig: No one ever says […] he has performed five quick and easy volitions and two slow and difficult volitions between midday and lunch-time. 13
Diese Kritik ist überzeugend, wenn wir uns einen mentalen Akt als eine Art innere Handlung vorstellen. Denken wir jedoch nicht an eine Handlung, dann ist die Ironie fehl am Platz. Eine Entscheidung ist das typische Beispiel oder gar Paradigvon »intentionalem Erlebnis« nichts mit dem Begriff einer Handlung zu tun hat: »Was anderseits die Rede von Akten anbelangt, so darf man hier and den ursprünglichen Wortsinn von actus natürlich nicht mehr denken, der Gedanke der Betätigung muss schlechterdings ausgeschlossen bleiben.« (Hua XIX/1, 393) 12 Vgl. Geach (1957). Die meisten Philosophen des Geistes bevorzugen das Wort »Akt«, das in der Psychologie des 19. Jahrhunderts üblich war. 13 Gilbert (1949), 64.
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ma eines Willensaktes. Doch wir können sehr wohl unsere Entscheidungen zählen und sagen, dass manche schwieriger als andere sind etc. Das zeigt, dass eine Entscheidung sehr wohl ein Akt, aber keine Handlung ist. Oder, wenn man so will, dass es möglich ist, sie als Akt zu bezeichnen, ohne zu implizieren, dass sie eine Handlung ist. Was genau ist dann aber ein mentaler Akt? Die Strategie zur Vermeidung der Reduktion von mentalen Akten auf Handlungen stammt von Husserl. Er geht in dieser Hinsicht weiter als Brentano. 14 Husserl verwendet »Akt« als Synonym für intentionales Erlebnis, was Brentano meistens psychisches Phänomen und die analytische Tradition – z. B. John Searle – »intentionalen Zustand« (intentional state) nennt. Doch die Gleichsetzung der (mentalen) Akte mit intentionalen Erlebnissen ist nicht befriedigend, denn Akte können nicht auf die gelebte oder bewusste Erfahrung, die wir von ihnen haben, reduziert werden. Die Akte – auch die »mentalen« Akte – gehen über ihre bewussten Aspekte hinaus. Im Akt liegt mehr als sein Erlebnis, wie wir in Kürze sehen werden. Zusammenfassend gesagt, kann die Intentionalität oder die Relation zu einem Objekt in der Tat als die charakteristische Eigenschaft von Bewusstseinszuständen angesehen werden, wie Brentano richtig erkannt hat. Doch Akte können nicht auf bewusste Zustände reduziert werden. Was ist dann aber schlussendlich die charakteristische Eigenschaft von Akten (im engeren oder weiteren Sinne)?
V.
Die Positionalität – Entwurf einer Hierarchie von Akten
Husserl folgend halte ich daran fest, dass diese spezifische Eigenschaft die Positionalität ist. Das heißt, dass alle Akte eine Stellungnahme im Bezug auf einen Sachverhalt oder einen Zustand beinhalten oder voraussetzen. 15 Alle im engeren oder weiteren Sinne »mentalen« oder »nichtmentalen« Akte sind Antworten auf die Umgebung. Als solche enthalten sie oder setzen sie eine Stellungnahme voraus in Bezug auf einen gegebenen Sachverhalt und einen entsprechenden mentalen Zustand. Vgl. Ideen I, § 115. Vgl. Hua III/1, 270: »Jedes Bewusstsein ist entweder aktuell oder potentiell ›thetisches‹. Der frühere Begriff ›der aktuellen Setzung‹ und mit ihm der der Positionalität erfährt dabei eine entsprechende Erweiterung.«
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Die Positionalität ist das, was aus einem mentalen Zustand einen Akt macht. Um dies genauer zu zeigen, werde ich einen Entwurf für eine Hierarchie von Akten skizzieren.
Grundlegende Akte Das Fundament unseres gesamten personalen Lebens ist durch eine Menge von Akten gegeben, die wir als grundlegende Akte bezeichnen können und die Stellungnahmen erster Stufe beinhalten. Es gibt zwei Klassen von Akten dieses Typs: kognitive und emotionale, Wahrnehmungen und Gefühlsregungen oder Emotionen. Die grundlegenden kognitiven Akte, die Wahrnehmungen, werden durch eine »doxische« Positionalität erster Stufe charakterisiert; die grundlegenden emotionalen Akte durch eine »axiologische« Positionalität erster Stufe. Von einer »doxischen Positionalität« sprechen wir, wenn man sich der Existenz einer wahrgenommenen Sache bewusst wird. Es handelt sich nicht um eine reflexive, sondern um eine unmittelbare Zustimmung oder Ablehnung: »Ja, da ist etwas«. Eine Wahrnehmung kann sich sehr wohl auch als Illusion herausstellen. Das wäre aber nicht möglich, wenn sie keine doxische Position enthielte, wie dies bei Akten der Imagination oder des Traums der Fall ist. Eine doxische Position entspricht einem Anspruch auf Wahrhaftigkeit, der die Wahrnehmung von Imagination und Traum unterscheidet. Von »axiologischer Positionalität« sprechen wir, wenn man des positiven oder negativen Wertes einer Sache oder einer gegebenen Situation gewahr wird. Jede Emotion enthält eine solche Position. Und tatsächlich sind Emotionen entweder angemessen oder eben nicht. Doch sie könnten sich nicht als unangemessen erweisen – wie wenn man vor einem kleinen Kätzchen in Panik gerät –, wenn sie keine axiologische Position besäßen. Die Positionen erster Stufe sind nicht frei. Ich kann nicht umhin, der Existenz dessen zuzustimmen, was ich sehe oder anfasse, so wie ich gegenüber einem Panik auslösenden Sachverhalt bezüglich seines negativen Wertes auch keine andere Position einnehmen kann. Und dies gilt sogar für den Fall, dass sich die wahrgenommene Sache kurz darauf als illusorisch herausstellt, oder sich das furchterregende Biest schließlich als nicht ganz so schrecklich erweist. 48
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Der Grund. weshalb wir unsere fundamentalen Erfahrungen als »Akte« und nicht als »Zustände« bezeichnet haben, sollte nun klar sein: Nur die Positionalität ist verantwortlich für die Angemessenheit von Wahrnehmungen und Emotionen. Wahrnehmungen sind wahrhaftig, insofern sie etwas als wirklich präsentieren, oder nicht, Emotionen sind angemessen oder nicht, je nach ihren Positionen. Bei Akten, deren Position eine charakteristische Modifizierung erfahren hat, wie die Akte der Phantasie oder das Bildbewusstsein, gibt es, wie Husserl sagt, keine »Rechtssprechung der Vernunft« 16, und damit keine Möglichkeit, sich zu irren. Wenn wir unter »Erfahrung« nicht nur die kausale Wirkung der äußeren Realität auf einen Organismus verstehen, sondern ein Lernverfahren, eine Grundlage zur Rechtfertigung unserer Urteile, dann müssen wir folglich die Positionalität mit berücksichtigen. Zusammenfassend gesagt, entspricht der Unterschied zwischen Akten und Zuständen dem Unterschied zwischen der Erfahrung als Evidenz für mögliche Urteile (Sach- oder Werturteile), als Sellarsscher space of reasons, und der Erfahrung als kausaler Wirkung der Realität auf einen Organismus. Doch die Erfahrung, die wir »machen«, die Erfahrung, »aus der wir lernen«, gehört zur ersten Sorte. Sie ist immer mehr oder weniger adäquat und könnte es ohne Positionalität nicht sein. Wir können also unsere Unterscheidung zwischen Akten und Zuständen folgendermaßen umformulieren: Zustände sind allein Effekte einer kausalen Wirkung der Realität. (Grundlegende) Akte sind adäquate oder inadäquate Antworten auf die Realität. Sie sind jenem »normativen Bewusstsein des Richtigen und Unrichtigen« unterworfen, das Husserl »Vernunft« nennt. 17 Unter Adäquatheit verstehe ich rationale Adäquatheit, in einem weiten, kognitiven, axiologischen und praktischen Sinne. Das personale Leben als Leben eines vernünftigen Wesens beginnt mit den grundlegenden Akten. Wir können auch sagen, dass die grundlegenden Akte ein erstes Niveau darstellen beim »Emergieren« einer Person über ihre Zustände: das Niveau der objektiven Erfahrung. Erinnern wir uns an unsere erste These: Hua III/1, 249. Das Wort »Vernunft« ist bei Husserl »Titel für die wesensmäßig geschlossene Klasse von Akten und ihren zugehörigen Aktkorrelaten […], die unter Ideen der Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit […] stehen« (Hua XXVIII, 68).
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(A) Eine Person zu sein bedeutet, durch seine eigenen Akte über seine Zustände zu emergieren. Dieser Satz dürfte nun verständlicher sein. Wir können hinzufügen: (A’) Grundlegende Akte schaffen ein erstes Niveau des Emergierens einer Person über ihre Zustände: die objektive Erfahrung. Tatsächlich kommen wir durch die grundlegenden Akte in Kontakt mit den Sach- und den Wertaspekten einer objektiven Realität, oder anders gesagt, wir erfahren die Realität als objektive Sachverhalte und Wertverhalte und nicht nur als das, was unseren Trieben widersteht.
Akte und Positionen zweiter Stufe Doch wir können mehr tun: Wir können die Zustände verwalten, die uns in Kontakt mit der Realität bringen. Durch die grundlegenden Akte, so haben wir gesagt, ist uns die Realität als objektiv vorgegeben. Wir können uns irren, doch es steht nicht in unserer Macht, innerhalb eines grundlegenden Aktes eine andere Position einzunehmen 18. Es liegt jedoch in unseren Möglichkeiten, dass wir uns dieser Realität mehr oder weniger aussetzen, d. h. die Gegebenheiten als Motiv für das spätere Leben annehmen oder verwerfen können. Dieser Hinweis führt uns zur Untersuchung dessen, was man als Emergenz des zweiten Niveaus bezeichnen könnte: das Verwalten der Zustände. Wir lenken unsere Zustände mittels einer zweiten Gruppe von Akten, die Positionen zweiter Stufe enthalten, d. h. Positionen, die wir in Bezug auf grundlegende Akte und ihre objektiven und subjektiven Korrelate (die Sachverhalten und die entsprechenden mentalen Zustände) nehmen. Diese Verwaltungsakte sind im weitesten Sinne des Wortes frei. Wenn es auch nicht in meiner Macht steht, die Realität dessen, was ich wahrnehme, zu leugnen, so bin ich doch in der Lage, mich zu weigern, einer wahrgenommenen Gegebenheit (einer Tatsache oder einem Wert) das Gewicht eines Motivs zu verleihen. Ich kann eine sehr schmerzliche Tatsache »auf mich nehmen«, mich dadurch motivieren lassen. Doch ich kann sie auch »verdrängen«, 18
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Vgl. Ideen I, § 31.
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und zwar nicht im Sinne einer negativen Position erster Stufe (das steht nicht in meiner Macht), sondern in dem Sinne, dass ich ihr nicht erlaube, meine späteren Akte, seien es Emotionen, Gedanken, Entscheidungen oder Verhaltensweisen, zu motivieren. Ich »neutralisiere« die Position erster Stufe. Durch diesen Akt kann ich mit meinen Zuständen haushalten, indem ich reguliere, auf welche Weise ich der späteren Erfahrung ausgesetzt bin. Als »Annahme« und »Ablehnung« können wir mit Edith Stein solche Stellungnahmen der zweiten Stufe bezeichnen. 19 Indem man die Gegebenheiten der grundlegenden Akte aufnehmt oder ablehnt, nimmt man Stellung zu den Stellungnahmen der ersten Stufe, offenbar durch Stellungnahmen zweiter Stufe. Diese Positionen charakterisieren die im weiteren Sinne freien Akte. Die Formulierung »im weiteren Sinne« unterstreicht eine typische Eigenschaft dieser zweiten Klasse von Akten: Sie sind nicht unbedingt oder gänzlich bewusst. Wir sind in der Lage, unsere Passivität sozusagen im Dunkeln zu leiten. Dies ist ein Beispiel für einen Akt, der weit über das Erlebnis, das wir davon haben, effektiv ist. Als abschließende Bemerkung dieses Abschnitts können wir der These (A) also einen zweiten Kommentar hinzufügen: (A’’) Durch ihre Positionen zweiter Stufe verwirklichen die im weiteren Sinne freien Akte ein zweites Niveau der Emergenz einer Person über ihre Zustände: das Management ihrer Passivität.
VI. Die Herausbildung der personalen Identität Wir haben die zweite Stufe des Herausbildens als Management unserer Passivität bezeichnet. Dieser etwas paradoxe Ausdruck erinnert an die Tatsache, dass unsere Erfahrung nie gänzlich passiv ist. Andernfalls könnten wir nicht einmal sagen, dass wir eine bestimmte Erfahrung »machen«. Der »Weg« hingegen, den jedermann sozusagen durch die Vgl. Stein (1922), 43: »Ich kann zu den Stellungnahmen ›Stellung nehmen‹ in einem neuen Sinn, ich kann sie aufnehmen, mich auf ihren Boden stellen, mich zu ihnen bekennen oder mich ablehnend gegen sie verhalten. […] Ich lehne sie ab: das bedeutet nicht: ich beseitige sie. Das steht nicht in meiner Macht. […] Aber ich brauche diesen Glauben nicht anzuerkennen, ich kann mich ganz so verhalten, als wäre er nicht vorhanden, ich kann ihn unwirksam machen.«
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Welt nimmt, indem er seine Passivität verwaltet und dadurch seine spätere Erfahrung konditioniert, bedarf nicht einer Reihe bewusster Entscheidungen. Gewiss drückt sich ein Charakter, eine Persönlichkeit durch diese Art von Akten der zweiten Stufe aus; die Akte können darüber hinaus nachträglich klar und die alternativen Wege bewusst gemacht werden, doch geschieht dies nicht notwendigerweise. Indem wir hingegen unsere Exponiertheit gegenüber dem uns durch die grundlegenden Akte zukommenden Informationsfluss regulieren, üben wir eindeutig eine Macht aus und beweisen eine Wirksamkeit, die unter den grundlegenden Akten keineswegs zu finden ist. Wir gestatten oder verbieten einer gegebenen Erfahrung, unsere spätere Erfahrung zu motivieren.
Autokonstitutive Akte Die spätere Erfahrung ist nicht notwendigerweise eine weitere Handlung. Indem wir die Gegebenheiten der Welt und unsere entsprechenden Zustände als Motive für das spätere Leben gewissermaßen bejahen oder verneinen, legen wir nicht notgedrungen unser künftiges aktives Verhalten fest. Wir bestimmen es nur durch eine spezielle Untergruppe von freien Akten, die in der Tat Bewilligungen für unser Handeln sind. Diese sind, genauer gesagt, Erlaubnisse, etwas mit den Gegebenheiten einer bestimmten Erfahrung zu tun und dadurch aus uns selbst etwas zu machen. Diese Akte dürfen wir als im eigentlichen Sinne frei bezeichnen. Ihre entsprechende Stellungnahmen sind Positionen der dritten Stufe: sie setzen eine (durch Annahmen und den Ablehnungen der zweiten Stufe) konstituierte persönliche Erfahrung voraus. Die im eigentlichen Sinne freien Akte sind diejenigen, durch die wir eine Gegebenheit (und einen entsprechenden Zustand) als Handlungsgrund auf uns nehmen (oder eben nicht). Diese Akte sind im Wesentlichen Verbindlichkeiten für unser künftiges Verhalten. Was diese Gruppe charakterisiert, ist die Tatsache, dass wir durch die Positionen, die darin bestehen, für einen Handlungsgrund zu bürgen oder nicht, eine Art Verpflichtung gegenüber uns selbst oder anderen Personen eingehen. Entscheidungen sind ein Paradigma der ersten, Versprechen eines der zweiten Gruppe von Verpflichtungen. 52
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Im eigentlichen Sinne freie Akte können als autokonstitutive Akte bezeichnet werden: Sie sind Quellen der personalen Identität durch die Zeit. Indem ich etwas als Grund für eine Handlung übernehme, verpflichte ich mein zukünftiges Ich und nehme die Verantwortung dessen, was ich sein werde, auf mich. In diesem Sinne können wir sagen, dass Entscheidungen ein Paradigma autokonstitutiver Akte sind, selbst wenn wir durch eine spätere Analyse herausfinden sollten, dass die Natur einer Entscheidung besser erklärt wird, indem man eine Entscheidung als eine Art von Versprechen analysiert, das man sich selbst gegeben hat. Das bedeutet, dass eine Entscheidung das zukünftige Selbst von jemandem verpflichten kann oder umgekehrt, dass eine Person nur in dem Maße die Verantwortung für ihre vergangenen Entscheidungen tragen kann, als sie tatsächlich fähig ist, ein Versprechen zu halten. Wir können in der Tat feststellen, dass – wie Nietzsche als Erster zu erkennen gab – die persönliche Verantwortung in genetischer Hinsicht zuerst mit den sozialen Akten des Versprechens verbunden ist, bevor sie die wunderliche Fähigkeit der Selbstverpflichtung ist, die wir an unserem (freien) Willen erkennen. Doch im Gegensatz zu den Fragen nach dem Wesen oder der Struktur haben uns die nach der Genese hier nicht zu kümmern. Während Entscheidungen stillschweigende Akte sein können, sind Versprechen nicht nur ein Paradigma eines sozialen Aktes, sondern auch eines auf Sprache basierten sozialen Aktes. Doch die meisten Sprechakte sind eigentlich Akte der Selbstverpflichtung, wie John Searle zu Recht nahegelegt hat. 20 Indem ich eine Behauptung aufstelle, verpflichte ich mich, ehrlich zu sein und erkläre mich bereit, meine Behauptung zu rechtfertigen; indem ich Anweisungen gebe, verpflichte ich mich, die Verantwortung für die Handlungen anderer Personen zu übernehmen; indem ich Versprechen abgebe, verpflichte ich mich gegenüber anderen Personen. Man könnte die Analyse der Sprechakte über die Standardkategorien hinaus fortsetzen: Mit einem Glaubensakt verpflichte ich mich zu einem spirituellen Weg, mit einer politischen Wahl verpflichte ich mich zu einer Reihe kohärenter Optionen etc. Fassen wir also das Ergebnis der vorangegangenen Analyse zusammen: Vgl. Searle (2001). Husserl hat dieselbe These ausführlich verteidigt unter dem Titel »Parallelismus der Logik und der Ethik«, vgl. z. B. Hua XXXVII, 22.
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(A’’’)Im eigentlichen Sinne freie Akte oder autokonstitutive Akte bewirken ein drittes Niveau der Emergenz einer Person über ihre Zustände: das Management ihrer Handlungen (Projekte), d. h. das zeitliche Emergieren einer Person über ihren gegenwärtigen Zustand. Die letzte Formulierung bedarf der Erläuterung. »Zeitliches Emergieren« bedeutet, jedes gegenwärtige Selbst zu überleben, als die eine und selbe Person über die Zeit hinweg. Erinnern wir uns nun an unsere These (F): (F) Es gibt eine Untergruppe von Akten, die für das Entstehen einer personalen Identität erforderlich sind, und zwar ist dies die Gesamtheit der freien Akte. Jetzt können wir genauer werden: (F’) Aus freien Akten (im weiteren Sinne) geht eine Persönlichkeit hervor, indem man sich durch die Art der Motivation und den Inhalt seiner Erfahrung von jedem anderen innerlich unterscheidet. (F’’) Aus freien Akten (im eigentlichen Sinne) oder autokonstitutiven Akten geht eine persönliche Identität durch die Zeit hervor, indem man aktuelle Verantwortung für sein vergangenes, gegenwärtiges und teilweise zukünftiges Ich auf sich nimmt.
VII. Person und Subjektivität Ich behaupte also, dass eine vollkommen entwickelte Person ein der autokonstitutiven Akte fähiges Wesen ist, während eine potentielle Person ein der grundlegenden Akte fähiges Wesen ist. Ich werde diesen Punkt in meiner dritten Formulierung zum Ausdruck bringen. (S) Eine Person ist ein Subjekt von Akten. Die Idee besteht darin, dass Subjektivität eine Fähigkeit für alle möglichen Akte ist; und dass ein Subjekt zu sein eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass man eine »Perspektive in der ersten Person« (Baker) hat. Anders gesagt: Bewusstsein und Selbstbewusstsein setzen Subjektivität als Fähigkeit für Akte voraus. Man muss ein Subjekt sein und als solches leben, um sich als solches zu erkennen. 54
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Man achte darauf, dass der Begriff des Aktes keineswegs den Begriff des Subjektes voraussetzt. Ganz im Gegenteil, der Begriff des Aktes erklärt den des Subjektes. Nicht das ganze Leben eines Menschen impliziert ihn als Subjekt. Die Verdauung tut dies normalerweise nicht. Doch der Akt des Essens und (noch viel mehr) der Geschlechtsakt implizieren dies sehr wohl (es handelt sich also nicht um eine Unterscheidung zwischen Seele und Leib). Nur ein der Akte fähiges Wesen ist ein Subjekt. Die unterschiedlichen Stufen von Akten nehmen entsprechende Entwicklungsstufen ein. Um die wichtigsten Schritte dieser Analyse zusammenzufassen, können wir sagen: Ohne grundlegende Akte gibt es kein Lernen durch Erfahrung, also kein Leben als Erfahrung. Nur indem wir ein solches Leben verwalten, wachsen wir als Subjekte dieses Lebens darüber hinaus. Doch nur die autokonstitutiven oder selbstverpflichtenden Akte sind Quellen der persönlichen Identität durch die Zeit.
Literatur Baker, L. R. (2002), »The Ontological Status of Persons«, in: Philosophy and Phenomenological Research 65, 370–388. De Monticelli, R. (2007), »Subjectivity and Essential Individuality. A Dialogue with Peter Van Inwagen and Lynne Baker«, in: Phenomenology and Cognitive Science 5, 225–242. Geach, P. (1957/2001), Mental Acts. Their contents and their objects, South Bend, IN. Mayer, V. (2009), Edmund Husserl, München. Runggaldier, E. (1996), Was sind Handlungen? Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, Stuttgart. Rota, G. (1993), Pensieri discreti, Mailand. Ryle, G. (1949), The Concept of Mind, London. Searle, J. R. (2001), Rationality in Action, Cambridge, MA. Stein, E. (1922), Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 5, Halle a. S., 1–283.
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Das phänomenologische Denken Edmund Husserls hat eine wirkungsvolle Rezeption durch die sich mit Max Weber auseinander setzende verstehende Soziologie von Alfred Schütz erfahren. 1 Die Strukturen der alltäglichen Lebenswelt 2 erforschend führte Schütz einen neuen handlungstheoretischen Denkansatz in die Sozialwissenschaften ein, der unter dem Titel phänomenologische Soziologie 3 bekannt und durch die Forschungen von Harold Garfinkel, 4 Thomas Luckmann und Peter L. Berger 5 mitgeprägt wurde. Trotz der Übernahme wichtiger Begriffe des späten Husserls, wie Lebenswelt und Typus, zeichnete sich aber die Strömung der phänomenologischen Soziologie dadurch aus, dass sie sich aufgrund von Schütz eigener Stellungnahme 6 von der Transzendentalphilosophie Husserls verabschiedete und sich eher auf eine anthropologische oder pragmatistische Grundlage stellte. 7 Postuliert Schütz die exzentrische und konstitutiv intersubjektive Stellung des Menschen, bleibt er dennoch dem methodologischen Individualismus Webers treu. Er hielt Husserls eigene anti-reduktionistische sozialontologische Ansätze, die mit den Begriffen von Gemeingeist und Personalität höherer Ordnung operieren, für eine »haltlose Theorie«, die keine detaillierte Auseinandersetzung verdiene. 8 Auch aus diesem Grund haben die analytischen Handlungstheorien, die sich neuerdings massiv mit sozialontologischen Fragen beschäftigen, kaum
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Vgl. Schütz (1932). Vgl. Luckmann/Schütz (1975, 1984). Vgl. Bühl (2002). Vgl. Garfinkel (1967). Vgl. Berger/Luckmann (1969). Vgl. Schütz (1957). Vgl. Srubar (1988). Vgl. Schütz (1975), 80.
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Interesse für die phänomenologische Soziologie bewiesen. 9 Während die von Schütz geprägte phänomenologische Handlungstheorie sich mit der Frage auseinandersetzt, wie im Ausgang von subjektiv gemeintem Sinn und Interaktion Wirklichkeit überhaupt entstehen kann, ist für die jüngste analytische Debatte die ontologische Natur der sozialen Gruppen und ihre spezifische kollektive Intentionalität von primärer Bedeutung. Im Gegensatz zu diesen beiden Denkrichtungen, die überzeugt sind, nichts mehr von Husserl selbst lernen zu können, wird im Folgenden versucht, die Aktualität seiner Intentionalanalyse für die heutige Debatte über die Grundlagen des Sozialen zu zeigen. Während zahlreiche Arbeiten über das Problem der Intersubjektivität in der Husserlschen Sekundärliteratur zu finden sind, haben sich ganz wenige mit seiner konkreteren Sozialphilosophie auseinander gesetzt und diese sind hauptsächlich von ethischen Fragen geleitet. 10 Wenn sie auch nicht im Einzelnen ausgearbeitet ist, 11 kann man dennoch bei Husserl eine intentionale Soziologie verorten, die das Soziale unabhängig von ethischen Motiven zum Thema macht. 12 Als Regionalontologie wird sie im ersten Abschnitt durch einige Bezugspunkte zur heutigen analytischen Sozialontologie dargestellt. Im zweiten Abschnitt wird im methodologischen Rahmen der transzendentalen Reduktion ein möglicher Weg vorgeschlagen, die eigenartige Struktur der Wir-Intentionalität phänomenologisch zu deuten.
9 Searle betitelte 1995 seinen Beitrag zur sozialontologischen Debatte The construction of social reality ohne sich darum zu kümmern, Stellung zu dem Hauptwerk des phänomenologisch inspirierten Sozialkonstruktivismus The social contruction of reality zu nehmen. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe der 1966 auf Englisch erschienen Arbeit von Berger und Luckmann schrieb Pleßner: »›Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‹ nennen die beiden Autoren das vorliegende Buch, nicht etwa ›Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit‹, was durchaus nicht auf das gleiche hinausliefe, da in solcher Fassung die soziale Welt als gegeben vorausgesetzt wäre und man es mit einem der vielen Versuche zu ihrer theoretischen Bewältigung zu tun hätte.« 10 Vgl. Toulemont (1962), Waldenfels (1971), Schuhmann (1988), Vaitkus (1991), Hart (1992), Steeves (1998) und Schmid (2000). Laut Husserl setzten jedoch sowohl Individualethik als auch Sozialethik eine formale Gesellschaftslehre voraus, vgl. Hua XXVII, 50. 11 Vgl. Schuhmann (1988), 66. 12 Der Terminus intentionale Soziologie findet sich z. B. in Hua XIII, 102, und Hua XXXIX, 389. In der phänomenologischen Schule Mailands wurde er zum programmatischen Manifest einer von der Krisis und vielen anderen zur Zeit noch unveröffentlichten Schriften Husserls inspirierten Sozialphilosophie, vgl. Paci (1962), (1965), (1978).
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In der analytischen Handlungstheorie ist in den letzten zwei Jahrzehnten eine Auseinandersetzung um den sozialontologischen Status gemeinsamen Handelns entstanden, die die vermeintliche individualistische Natur intentionaler Zustände in Frage gestellt hat. 13 Es bietet sich deshalb an, an diese Debatte anzuknüpfen, um den eigenen Beitrag Husserls zu profilieren. Da der Hauptbegriff, um den die analytische Sozialontologie heute ringt, derjenige von kollektiver Intentionalität ist, geht es in einem Vergleich mit Husserl um den Kern seiner Intentionalitätsanalyse. Einer der wenigen Mitstreiter, der die phänomenologische Tradition herangezogen und gewürdigt hat, 14 Hans Bernhard Schmid, behauptet, dass Husserl aufgrund seines monologischen, individualistischen und internalistischen Intentionalitätsbegriffs nicht in der Lage sei, das Soziale anders als ein Kollektivsubjekt zu denken, das »die sozialtheoretischen Folgelasten der transzendentalphänomenologischen Egologie« mit sich trage. 15 Er wirft deshalb Husserl zweierlei vor: 1. einen »cartesianischen« Intentionalitätsbegriff; 2. eine kollektivistische Subsumierung aller sozialen Gebilde unter derselben Struktur des Ego. Mit dem Begriff Intentionalität werden in der analytischen Tradition mentale Zustände, Prozesse oder Einstellungen gemeint, die prädikativ oder vorprädikativ auf etwas gerichtet sind. Dieser Zusammenhang wird oft als Repräsentation aufgefasst. 16 Aus phänomenologischer Perspektive sind hinsichtlich dieser Charakterisierung zwei Bemerkungen notwendig: Die Gegebenheit des Objekts bzw. die Gerichtetheit des Subjektes erfolgt in Akten und motivierten Aktstrukturen und nicht in Reihenfolgen von Zuständen. 17 Zweitens ist hervorzuheben, dass nicht alle intentionalen Akte Husserl zufolge repräsenFür eine Einführung und eine reiche anthologische Darstellung dieser Debatte vgl. Schmid/Schweikard (2009). 14 Sein Motto »Copernican Turn in der Soziolontologie« stammt nämlich von der ungerechterweise vergessenen Ontologie der Gemeinschaft der Phänomenologin Gerda Walther. Vgl. Walther (1923), 98; Schmid (2009), 43. 15 Schmid (2000), 18. 16 Vgl. Schmid/Schweikard (2009), 39. Oft wird aber Intentionality (Intentionalität) in der Handlungstheorie als Intention (Absicht) schlechthin aufgefasst. Über solche terminologischen Unklarheiten, vgl. Schmid/Schweikard (2009), 14. 17 Für eine ausführliche Kritik des Begriffes mental state und seine Ersetzung durch den phänomenologischen Terminus Akt, vgl. De Monticelli (2009) und De Monticellis Bei13
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tativer Natur sind. Sinnliche Gegenstände werden in Präsentationen und Appräsentationen erfahren, so dass es ein Irrtum ist, wenn man mentale Zustände als Repräsentationen abgebildeter Objekte begreift. 18 Nichtsdestoweniger stimmen Phänomenologie und die meisten analytischen Intentionalitätstheorien darin überein, dass sie drei Grundklassen intentionaler Akte feststellen: 1. Durch kognitive Akte erfahren und erkennen wir Gegenstände und Eigenschaften, 2. wir fühlen die Wertbestimmungen solcher Gegenstände dank der affektiven Akte und 3. entscheiden wir uns schließlich für bestimmte Ziele und Handlungen in volitiven Akten. 19 Kollektive Intentionalität wird je nach dem definiert, ob 1. das Subjekt der Akte, 2. eine andere, zu den drei Klassen hinzukommende Form der Intentionalität (etwa ein Wir-Modus) oder 3. der Gehalt der Intentionalität für ihre kollektive Natur verantwortlich gemacht wird. 20 Die Adjektive kollektive (collective), geteilte (shared) oder gemeinsame (common) Intentionalität werden dagegen oft synonym verwendet. Wie ist eine phänomenologische Sozialontologie in dieses terminologische Muster einzuordnen? Laut Schmid und Schweikard analysiere Husserl »nur die Ermöglichungsbedingungen« der Teilbarkeit von intentionalen Akten, indem er betone, dass jedes individuelle Erleben »immer potentiell teilbar« sei. Analysen der aktuellen Struktur des gemeinsamen Erlebens fänden sich bei ihm nicht. 21 Wenn es aber doch um einen Versuch geht, das trag in diesem Band. Auch wenn im Folgenden zu Autoren Stellung genommen wird, die den Begriff mentaler Zustand annehmen, wird hier von Akt die Rede sein. 18 Zur Kritik der Bildertheorie vgl. Hua XIX/1, 436–440. Aus diesem Grund ist auch die Verortung Husserls auf der Seite eines schlichten Internalismus fraglich. Zahavi hat dafür argumentiert, dass es sich eher um eine Form des gemäßigten Externalismus handeln könnte, falls eine solche Unterscheidung im Rahmen der phänomenologischen Reduktion noch gilt. Die konkrete, soziale transzendentale Intersubjektivität ist nämlich der Weg, um die Konstitution der äußeren Welt zu verstehen; vgl. Zahavi (2008). 19 Da diese Dreiteilung manchmal als Unterscheidung aufgrund des Modus der Intentionalität bezeichnet wird, ist zu bemerken, dass Modus bei Husserl eine ganz andere Bedeutung hat, die sich aus seiner Theorie der Modalisierung ergibt: Der Gegenstand eines intentionalen Aktes kann im Modus der (passiven oder aktiven) Gewissheit, des Zweifels, der Möglichkeit, der Vermutlichkeit gegeben sein. Obwohl die Modalisierungstheorie in diesem Beitrag nicht herangezogen wird, ist es offensichtlich, dass sie eine wichtige Rolle in der Durchführung einer intentionalen Soziologie spielen soll. Vgl. EU, 93–109, 365–371. 20 Schmid/Schweikard (2009), 46 f. 21 Schmid/Schweikard (2009), 23. A
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Soziale zu deuten, flüchte er zu einem Kollektivsubjekt. Ganz in diesem Sinne lehnt auch Schütz jede Form phänomenologischer Theorie überindividueller Subjekte ab 22 und versucht Husserls genetische Theorie der Typisierung anzuwenden, ausschließlich um die Entstehung des Gemeinsinnes (common sense) durch den individuellen Erwerb habitueller Wissensvorräte im Prozess der Sozialisierung zu beschreiben. 23 Schütz scheint damit zu bestätigen, dass das phänomenologische Paradigma der Wir-Beziehungen sich in dem iterierten Umeinanderwissen einer face-to-face situation entblößt. Dieser Verdacht gegenüber Husserls Kollektivismus ist, wie sich somit zeigt, sowohl in der analytischen Sozialontologie als auch in der phänomenologischen Sekundärliteratur verbreitet. Die Stichhaltigket dieser Bedenken ist zunächst an den Schriften zu überprüfen, die mit dem Titel Gemeingeist I und Gemeingeist II in der Husserliana von Iso Kern veröffentlicht worden sind (vgl. Hua XIV, 165–232). Dem üblichen Vorwurf des Individualismus widerspricht Husserls Kritik der modernen Psychologie krass. Ihm zufolge sei diese Psychologie aufgrund ihres unbefragten Naturalismus nicht in der Lage festzustellen, dass jedes Subjekt »in der Vergemeinschaftung mit anderen als intentional verbundenen« (Hua VI, 241) lebt: Es liegt im Naturalismus der neuzeitlichen Psychologie und Philosophie und an der Unfähigkeit, dem radikalen Wesen der Subjektivität, das ist ihrem Bewußtseinsleben, ihrer Intentionalität sein Recht angedeihen zu lassen, daß diese Psychologie wie blind war für die zusammengesetzten, zu subjektiven Ganzheiten verbundenen Einzelsubjekte. Die unter dem Einfluß des deutschen Idealismus vor mehr als einem Jahrhundert begründete neue Geisteswissenschaft sprach gern vom Gemeingeist. Nichts ist gewöhnlicher, als daß diese Rede als Mystik oder als eine bloß fiktive herabgewürdigt wird. 24 Das gilt nicht nur für Husserls Persönalität höherer Ordnung, sondern auch für Schelers (1916) Gesamtperson und für Steins (1922) und Walthers (1923) Sozialontologien, deren naive Eidetik – Schütz zufolge – die Phänomenologie vor den Sozialwissenschaftlern diskreditiert habe, vgl. Schütz (1959), 89. 23 Schütz (1971), 112 f. 24 F I 33, 140. Kurz nach der Machtergreifung 1933 scheint Husserl mit folgenden Worten seinen sozialontologischen Ansatz aufzugeben: »Alle Reden von Gemeingeist, von einem Volkswillen, von Taten und Untaten der Völker, von Idealen einer Nation, von der Einheit eines übernationalen Geisteslebens, all das ist […] Romantik, ist Mystik, Mythologie. Es handelt sich um eine analogische Übertragung von Begriffen, die nur für Einzelpersonen Sinn haben, auf Menschengruppen.« Husserl (K III 1 IX), 18, zitiert nach Toulemont (1962), 177. Trotz dieser verbitterten Aussage wies Husserl aber auch 22
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Es ist ein naturalistisches Missverständnis der Intentionalität und nicht etwa eine ihr wesentliche konstitutive Begrenztheit, dass in ihrem Namen dem Individualismus der Weg geebnet wird. 25 Zur Intentionalität gehört wesentlich die Möglichkeit, dass Einzelsubjekte sich intentional zu subjektiven Ganzheiten verbinden. Mit Gemeingeist bezeichnet Husserl solche intentionalen, überindividuellen Gebilde. Ihnen kann man auch Akte zuschreiben, wie Überzeugungen, Schätzungen, Entschlüsse, Handlungen (vgl. Hua XIV, 192). Husserl stellt die Frage des Gemeingeistes im Ausgang von der intersubjektiven und kulturellen Natur menschlicher Umwelt. Jedes Kulturobjekt weist nämlich auf einen subjektiven Ursprung und auf eine intersubjektiv anerkannte Praxis hin: Werkzeuge sind z. B. so und so von jemandem geschaffen worden, um bestimmten Zwecke zu erfüllen, die aufgrund entsprechender Bedürfnisse gesetzt worden sind, und so werden sie von der Gruppe ihrer möglichen Benutzer aufgefasst. Im höheren Maße gilt dasselbe für Kunst- und Kultobjekte und für jede Verkörperung des in einer Gemeinschaft geltenden symbolischen Denkens. Sie sind deshalb objektive Korrelate komplexer, überindividueller Akt- und Handlungsstrukturen, die im Horizont der Erfahrung kultureller Objekte notwendig impliziert sind. Husserl beansprucht für sich, durch die phänomenologische Reduktion den Blick auf die tiefe Bedeutung der Intentionalität als Korrelation ermöglicht zu haben (vgl. Hua VI, 169). Durch die Ausschaltung der natürlichen Einstellung wird jedes Objekt nach den subjektiven Leistungen befragt, die zu seiner Auffassung bzw. Konstitution führen. In den Untersuchungen zur Konstitution kultureller Gegenstände zeigt sich die innere intentionale Verbindung der leistenden Subjektivität mit den Mitgliedern ihrer Lebenswelt. 26 Husserl wendet sich deshalb in späteren Schriften auf die intentionale Implikation der Vergemeinschaftung hin und verwendete den Begriff von Personalität höherer Ordnung weiter. 25 Ähnlich argumentiert auch Schmid, sich auf Heidegger (gegen seinen Husserl) berufend, vgl. Schmid (2009), 155. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, Husserl als Opfer eines vermeintlichen cartesian brainwash zu bezeichnen. 26 Wie im zweiten Abschnitt gezeigt wird, fordert die Vergemeinschaftung der konstituierenden Subjektivität die Methodologie der phänomenologischen Reduktion maßgeblich heraus. Einer Mitteilung Husserls an Schütz zufolge sei die Veröffentlichung von Ideen II nicht gebilligt worden, weil Husserl dort das Problem der Konstitution der Intersubjektivität nicht für gelöst hielt. Erst in der fünften cartesianischen Meditation sei der Weg zur Konstitution der Intersubjektivität vorbereitet worden. Vgl. Schütz (1959), 88. A
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der subjektiven, noetischen Seite dieser vergemeinschafteten Konstitution zu, um die Struktur einer solchen intentionalen Verbindung zu untersuchen. Diese Verbindung erweist sich zunächst als »ein durch Einfühlung gestifteter personaler Zusammenhang«, in dessen einfachster Ausprägung, »›eine Überzeugung‹, eine ›Wertung‹, ›ein Wille‹ lebt« (Hua XIV, 194). Die Grundeinheit dessen, was in der heutigen Sozialontologie kollektive Intentionalität heißt, besteht laut Husserl in der Einheit einer gemeinsamen bleibenden Meinung. 27 Bleibende Meinung ist Husserl zufolge eine habituelle Form der Intentionalität, deren Thema eine Stellungnahme fixiert und an dem das Stellung nehmende Subjekt festzuhalten hat (vgl. Hua IV, 111 f.; Hua XIV, 195). Stellungnahmen werden vollzogen aufgrund bestimmter Gründe und verwandeln sich in bleibenden, habituellen Besitz des Subjekts, z. B. als Überzeugung, Entschluss, Gemütsstellungnahme (ein Groll, eine Hoffnung, usw.). Soweit sie nicht durch neue Motive in Frage gestellt werden, werden sie nicht preisgegeben und können immer wieder aktualisiert werden oder einfach verblassen. 28 Solche habituellen Meinungen, 29 machen den Kern der Person aus: Ich kann Person nur sein, sofern ich nicht nur bleibende Apperzeptionen habe und durch sie eine standhaltende und mir als ichfremd gegenüberstehende Welt, sondern sofern ich bleibende »Überzeugungen« habe, selbsterworbene, selbsttätig gewonnene Überzeugungen, durch tätige Stellungnahme vom Ich her, bleibende Wertungen, bleibenden Willen […]. (Hua XIV, 196) Seit seiner Philosophie der Arithmetik (1891) verwendet Husserl den Ausdruck kollektiver Akt mit einer ganz anderen Bedeutung als Ausdruck für Akte, die sich auf ein Kollektiv bzw. auf ein Aggregat von Objekten richten, die durch diesen Akt vereinigt werden. Vgl. Hua XII; Hua III/1, 246 f. Auch Schmid zieht das Adjektiv gemeinsam dem Adjektiv kollektiv vor, vgl. Schmid (2005), 241. 28 Im Gegensatz zur heutigen analytischen Debatte über Intentionalität zeichnet sich Husserls Ansatz dadurch aus, dass er der habituellen Form des konkreten intentionalen Lebens eine sehr wichtige Rolle zuschreibt. 29 Während Husserl in der Schrift von Gemeingeist II wie im § 29 von Ideen II weder »Disposition« noch »bleibender Habitus« für brauchbare Ausdrücke hält, um die Einheit solcher Meinungen zu charakterisieren, und ihnen den entsprechenden griechischen Begriff »Hexis« vorzieht, findet man in Gemeingeist I keine Spur eines solches Bedenkens. Husserl gibt sich hier einfach mit dem Begriff »Habitus« zufrieden. Aus diesem Grund scheint es plausibel Gemeingeist II im Kontext der Umarbeitung von Ideen II zu verorten. Das bestätigt eine Bemerkung Marbachs, wonach Husserl auch in den »alten Aufzeichnungen« (A VI 30, 29a) der Ideen II bereits auf den »Fall der Intersubjektivität und des intersubjektiven Übernehmens« von bleibenden Meinungen aufmerksam macht. Vgl. Marbach (1974), 308. 27
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Das Personale besteht laut Husserl darin, dass sich eine Spontaneität in Form von ichlichen Stellungnahmen aus der Schicht der Passivität erhebt und habituell festgehalten wird, so dass die Person in ihren Überzeugungen zur Einstimmigkeit mit sich selbst verpflichtet ist. Sowohl das aktive als auch das passive Bewusstseinsleben gehören zum erweiterten Begriff der Intentionalität. 30 Die Passivität ist der Untergrund, aus dem das wache Ich aufwacht. Sie ist in primäre und sekundäre Passivität zu unterscheiden: Die primäre Passivität (oder Urpassivität) ist von den Gesetzmäßigkeiten der Zeitigung und der Assoziation beherrscht. In ihr zeigen sich schon die drei Grundformen intentionaler Akte als Empfindungen, Gefühle der Lust und des Schmerzens, Triebe und Neigungen. Jede Regung hinterlässt Spuren, die schon in der Passivität habituelle assoziative Einheiten bilden, die in jeder neuen Appräsentation mitfungieren können, wenn solche Einheiten assoziativ geweckt werden. Die sekundäre Passivität ist durch den Vorgang der Weckung gekennzeichnet, der die Rezeptivität als Entwicklung von Apperzeptionen, Affektionen und Reaktionen verständlich macht (vgl. Hua XXXIX, 418 f.). Das eigentliche personale Bewusstseinsleben entsteht aber erst in der Entwicklung einer eigenen aktiven Stellungnahme zur Umwelt, die sich in der passiven Erfahrung bekundet. Die Person entwickelt sich so durch ihre Entscheidungen als »Pol mannigfaltiger aktueller Entschiedenheiten, Pol eines habituellen Strahlensystems von aktualisierbaren Potenzen für positive und negative Stellungnahmen« (Hua XI, 360). Ihre Stellungnahmen versinken ebenfalls in die Passivität und tragen dazu bei, diese zu einem habituellen Gesamtstil umzugestalten (vgl. Hua IV, 377 f.), so dass ihr gesamtes intentionales Leben in Affektionen und Aktionen ihre Persönlichkeit ausdrückt. Die intentionale Verbindung zwischen zwei oder mehreren Personen ist laut Husserl ein »personaler Zusammenhang«, welcher der Struktur der Person entsprechend sowohl in der Passivität als auch in der Aktivität gestiftet werden kann. Durch aktive Akte erfolgt z. B. der intentionale Zusammenhang der Mitteilung. Der Definition seines Göttinger Assistenten Adolf Reinach zufolge bezeichnet Husserl Mittelungen als soziale Akte, da sie spontane und vernehmungsbedürftige
Vgl. Hua III/1, 262. Hua IV, 11 f.; 332 f. Zur kontextbezogenen Verwendung des Begriffspaars Passivität/Aktivität vgl. EU, 119.
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Akte sind (vgl. Hua XIV, 166 f.): 31 Der Kundgebende fordert in der kommunikativen Praxis die Kenntnisnahme seiner Mitteilung seitens des Adressaten. Über die einfache Rezeption einer Mitteilung hinaus gehen jene kommunikativen Akte, die eine praktische Stellungnahme des Adressaten (z. B. Bitte, Befehl), des Kundgebenden (Versprechen) oder von beiden wechselseitig (Vereinbarung) fordern. Durch diese sozialen Akte performativer Natur entstehen praktische Einverständnisse. Praktische Willensgemeinschaften im prägnanten Sinne werden erst durch überindividuelle, einheitlich bleibende Stellungnahmen gestiftet, die »aus der stiftenden Willensverflechtung« der beteiligten Personen hervorgehen (vgl. Hua XIV, 170). Solche Verflechtung erweist sich als eine Schicht eines allgemeinen, überpersonalen, und doch personalen leistenden Bewusstseins, in allen beteiligten Personen lebendig, durch sie hindurchströmend oder von ihnen viel mehr ausströmend und doch durch sie hindurchströmend, als ob eine Einheit der Person wäre, mit einem Bewusstsein und einem personalen Leisten. Die gemeinsame, die verbundene Personalität als »Subjekt« der gemeinsamen Leistung ist einerseits Analogon eines individuellen Subjekts, anderseits aber nicht bloß Analogon, sie ist eine verbundene Personenvielheit, die in ihrer Verbindung eine Einheit des Bewußtseins (eine kommunikative Einheit) hat, innerhalb der Vielheit, der auf die einzelnen Personen verteilten Willen, hat sie einen für sie alle identisch konstituierten Willen, der keinen anderen Ort, kein anderes Substrat hat als die kommunikative Personenvielheit: und so für andere »einheitlich«, sozial konstituierte Akte. (Hua XIV, 200 f.)
Durch soziale Akte ist die intentionale Einheit einer kommunikativen Personenvielheit gestiftet, die aus einer Vielheit von Personen ausströmt und sie einheitlich durchströmt. Das »Subjekt« dieses intentionalen Zusammenhangs ist ein Analogon eines individuellen Subjekts, weil es aus einer multipolaren Struktur entsteht, aus einer Pluralität von Aktsubjekten. Dennoch wird diese Vielheit in der Einheit einer oder mehrer motivierter Stellungnahmen sozusagen personal geführt, weil sie eine gewisse einheitliche Einstimmigkeit in der Pluralität bekundet, die in die Ausübung einer einheitlichen Handlung münden kann. Das Personale solcher verbundenen Personenvielheit besteht in der Stellung nehmenden Natur der Akte, die sie stiftet, und in der Reinach (1913), 707. Für eine programmatische Aktualisierung der Philosophie Reinachs als realistische Phänomenologie (gegen Husserl), vgl. Mulligan (1987).
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damit gebundenen Verpflichtung, daran kohärent festzuhalten. Träger dieses konstituierten, auf die einzelnen Personen verteilten und auf ihren sozialen Akten fundierten Willens ist die kommunikative Personenvielheit, d. i. das plurale Substrat von Habitualitäten, die durch einen einheitlichen, gemeinsamen Sinn gestiftet werden. Die intentionale Struktur solches überindividuellen sozialen Subjekts kennzeichnet sich Husserl zufolge dadurch, dass sie aus einer Pluralität von Subjekten besteht, die zur Kohärenz 32 einer einheitlichen Stellungnahme bzw. Stellungnahmenstruktur verpflichtet sind. Diese Darstellung ähnelt sehr der holistischen plural subject theory Margaret Gilberts. Ein plural subject ist Gilberts Definition gemäß ein überindividuelles, intentionales Gebilde, das durch Akte des joint commitment gestiftet wird. Wie man sich im personal commitment zu eigener Entscheidung verpflichtet, so kann sich auch eine Pluralität von Subjekten durch Einverständnis zu einer Verabredung verpflichten. Durch dieses social atom bildet sich der Kern des auf den Individuen der Verabredung fundierten Pluralsubjekts. 33 Durch die Begrifflichkeit von plural subject erklärt Gilbert die Emergenz von kollektiven Vorstellungen und Gemütsstellungnahmen so wie komplexere Gefüge wie Sprache, moralische Verantwortung einer Gemeinschaft und politische Pflicht, ohne sie auf Netze ausschließlich individueller Intentionalität zurückzuführen. Ihr wird vorgeworfen, dass sie damit eine nicht individualistische, aber dennoch atomistische Theorie des Sozialen liefert, weil sie, um die der Theorie zugrunde liegende Grundeinheit des joint commitment zu erklären, auf konstitutiv vorsoziale Individuen zurückgreift, die zugleich im Stande sein sollen, sich auf ein solches commitment zu einigen 34 Die Individuen, die sich in joint commitment vereinigen können, gehörten nach Gilberts Ansatz nicht selbst zur SoHusserl spricht gerne von Einstimmigkeit. Dieser Begriff ist aber nicht als Eintracht zu verstehen, sondern eher als Akkord, d. h. als der Prozess der Einstimmung: Wie ein Musikinstrument sich mit den anderen einzustimmen hat, um zusammen spielen zu können, so ist intersubjektive Interaktion Husserl zufolge erst möglich, wenn durch Einstimmung ein gemeinsames Feld etabliert wird, worauf gemeinsame Stellungnahmen und Übereinstimmungen möglich sind. Wenn man Einstimmigkeit als potentiellen Prozess der Einstimmung und nicht als metaphysisch gesetzte Eintracht versteht, gewinnt Husserls Anlehnung an Leibniz ein neues Licht. Ein ähnlicher Gedanke spielt in Sterns Infant Research der englische Begriff des affect attunement, vgl. Stern (1985a, 1985b). 33 Vgl. Gilbert (2003). 34 So Schmid (2005), 214. 32
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zialontologie, da ihre Natur keine Kollektivitätskonzepte voraussetze. 35 Obwohl auch Husserl derselbe Vorwurf gemacht wird, 36 ist sein Ansatz, genauer betrachtet, differenzierter. Zwar argumentiert er mit dem Begriff von Personalität höherer Ordnung ähnlich, ihm zufolge wird aber die Verbindung der Kommunikation nicht erst durch aktive, soziale Akte hergestellt: Wie die Einzelsubjekte ihre Aktivität auf dem Grund einer dunklen, blinden Passivität entfalten, so gilt dasselbe auch von der sozialen Aktivität. Aber schon die Passivität, das instinktive Triebleben kann subjektive Zusammenhänge herstellen. […] Dabei ist zu beachten, daß auch diese Passivität in den Rahmen der reinen Subjektivität gehört und in phänomenologischer Reduktion als solche erforschbar ist. (F I 33 V, 141)
In der Passivität der Triebe und der Instinkte, die auch ihre eigene Intentionalität im Rahmen der phänomenologischen Reduktion aufweisen, 37 bilden sich schon Gemeinschaften, die die Konstitution ihrer Mitglieder nicht unberührt lassen: Worin besteht die »Konstitution« der Subjektivität? In eins mit der Einheitsbildung der immanenten Zeit konstituieren sich bleibende dingliche Umwelt und bleibende Stellungnahme zu ihr. Das Ich bekommt in Beziehung auf Vorgegebenheiten bleibende Eigenheiten, es entwickelt sich für sich und entwickelt sich in Gemeinschaft mit Anderen. Es konstituieren sich in relativer Passivität Gemeinschaften, die Einzelsubjekte als bleibend konstituierte und sich entwickelnde voraussetzen, aber sie auch in ihrer Entwicklung bestimmen. Es konstituieren sich in reiner Aktivität der beteiligten Subjekte Vereine und sonstige selbstbewußte und durch sich selbst gesetzte Personalitäten höherer Ordnung […]. (Hua XIV, 204)
Von der aktiven Stiftung sozialer, »pluraler« Subjekte ausgehend, vergemeinschaftet sich der individuelle Pol der Affektion und Aktion in relativer Passivität, indem jede Regung sozialer Triebe und Gefühle, jede damit verbundene Erfüllung sozialer Bedürfnisse und jede affektive Bindung mit anderen Subjekten intentionale Spuren, in Form immer reaktualisierbarer Habitualitäten, in ihnen hinterlässt. Das konkrete Gemeinschaftsleben ist zuerst keine konstituierte Erfahrungseinheit, sondern ein gemeinsames Zusammenwachsen in Wechselwir35 36 37
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Vgl. Gilbert (1989), 435 f. Vgl. Schmid (2005), u. a. 136, 185, 443. Zur Triebintentionalität, vgl. Lee (1993).
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kung, ein intentionales con-crescere in Affektion und Aktion. 38 Eine neue Stufe der Vereinheitlichung findet erst im Mitvollzug gemeinsamer Stellungnahmen statt: Auf dem Untergrund dieser Gemeinsamkeit, durch die jedes Leben in die Passivität jedes anderen hineinreicht, für jedes andere Vorgegebenheiten schafft, vollzieht sich das personale Gemeinschaftsleben, das Leben, in dem nicht nur wie in der Unterstufe viele einzelne Individuen mit vereinzelten Polen der Aktion »kommunizieren«, sondern in dem in verschiedenen Stufen eventuell nur in gelegentlichen Strecken sich Polsysteme konstituieren und korrelative Lebenseinheiten, die den Charakter eines Lebens haben, das keine isolierten Pole, keine für sich selbständig und unbekümmert um die anderen wirkenden hat, sondern mehrere Pole, die an jeder Aktion »beteiligt« sind und alle für sie »verantwortlich« sind. 39
In der passiven Kommunikation entfaltet sich eine Unterschicht der Gemeinsamkeit, in ihr sind die kommunizierenden Subjekte vertraut, ihre Umwelt erscheint ihnen heimisch und in der sich im Konnex der Intersubjektivität erstreckenden Apperzeption als eine gemeinsame Lebenswelt (vgl. Hua XXXIX, 542 f.). Durch den Mitvollzug aktiver Stellungnahmen zu gemeinsam apperzipierten Vorgegebenheiten können sich über diese Gemeinsamkeit hinaus »Polsysteme« bzw. »Pluralsubjekte« konstituieren. Das kann, »wie überall in der Intersubjektivität« auf zwei Weisen erfolgen: einmal ein passives Folgen, die Thesis wird mitgemacht, aber in passiver Übernahme. Das andere Mal ein Folgen in der nachverstehenden Aktivität […] wodurch ein sekundäres Konstituieren, eine sekundäre Originalität erwächst. 40
Eine zweite Konstitution entsteht durch den aktiven Mitvollzug von gemeinschaftlichen Stellungnahmen, welche wechselseitigen Vereinbarungen immer vorangehen. Mittels nachverstehender Aktivität wird das in der relativen Passivität vorkonstituierte Thema vergemeinschafteter Leistung in ein neues reflexives Licht gerückt und kann damit bestätigt und auf sich genommen oder eventuell in Frage gestellt werden. Eine Besonderheit von Husserls Personalismus besteht nämlich darin, dass der persönliche Selbstbezug bzw. das personale Selbstbewusstsein erst durch Vermittlung der passiven und aktiven Kom38 39 40
Vgl. Kokoszka, (2004), 176. Husserl (1997), 218. A VI 30, 31a, zitiert nach Marbach (1974), 308. A
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munikation zustande kommen kann. Der sich in der phänomenologischen Reduktion bekundende Pol von Affektionen und Aktionen wird zum Ich und damit zum personalen Subjekt, gewinnt darin personales »Selbstbewusstsein«, in der Ich-Du-Beziehung, in der durch Mitteilung ermöglichten Strebensgemeinschaft und Willensgemeinschaft. (Hua XIV, 170 f.)
Ein Ich im prägnanten Sinne – als einem Du und einer Gemeinschaft gegensätzlich – konstituiert sich erst durch vergemeinschafteten Selbstbezug, indem es durch die Verflechtung seiner Relationen und Bindungen praktischer Gegenstand seiner selbst wird. 41 Husserls Theorie der einheitlich verbundenen Personenvielheit ist deshalb anders als bei Gilbert zu deuten. Sie setzt nicht Individuen vorsozialer Natur voraus, die sich erst mittels Vereinbarung vergemeinschaften. Die intentionale Verbindung der Vergemeinschaftung setzt Husserl viel tiefer an: schon in der Stufe der Passivität entsteht eine vorreflexive, relationale Gemeinsamkeit, die sich notwendig in den mitfungierenden Polen solcher verflochtenen Intentionalität habituell niederschlägt. 42 Das personale Leben entsteht erst durch und über das intentionale Medium der Gemeinschaft hinaus und kann sie nicht mittels eines commitment konstituieren. Wie ist aber die sich auf dem Hintergrund solcher passiven Vergemeinschaftung emporhebende Lebenseinheit eines konstitutiven Polsystems durch das terminologische Muster der heutigen Debatte über kollektive Intentionalität zu deuten? Wie schon erwähnt, wird kollektive Intentionalität in der gegenwärtigen Auseinandersetzung entweder 1. durch das Subjekt der Akte, 2. durch eine andere, zu den drei Klassen hinzukommende Form der Intentionalität (etwa einen Wir-Modus) oder 3. durch den Gehalt der Intentionalität definiert. 43 Durch die phänomenologische Reduktion wird jede Anwendung auf transzendente Bezüge, die sich nicht in der intentionalen Struktur des Bewusstseins selbst ausweisen, methodologisch vermieden. Man So auch Joas (1999), 227 f. Damit ist nicht das egologische Paradigma der Intentionalität preisgegeben, sondern, wie im zweiten Abschnitt gezeigt wird, mittels der Habitualisierung zu einer Pluralität von mitfungierenden Subjektivitäten erweitert. Schmid plädiert dagegen für die Verabschiedung von der Frage nach der Trägerschaft bzw. dem Substrat der Intentionalität, um ihre relationale Natur nicht zu entschärfen. Vgl. Schmid (2005), 234. 43 Schmid/Schweikard (2009), 46 f. 41 42
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darf deshalb nicht die kollektive Natur eines intentionalen Erlebnisses dadurch erklären, dass sich mehrere Subjekte auf denselben Sachverhalt richten, wenn in der Konstitution dieses ihnen gegebenen Sachverhaltes sich nicht seine vermeintliche kollektive Natur bekundet. Wenn man die sich in der Reduktion erweisende Struktur treu so beschreibt, »wie sie sich gibt«, wird die Untrennbarkeit von noetischem und noematischem Pol in jedem Modus der Intentionalität sichtbar. Es kann deshalb keines dieser drei Momente für sich separat die kollektive Natur der Intentionalität bezeichnen. Dennoch wirken nicht alle drei Klassen von Akten auf die sie mitvollziehenden Subjekte gleich. Einer gewissen statischen Idealisierung entsprechend, versucht Husserl zu zeigen, wie sich Subjekte kognitiver, volitiver oder affektiver Akte in einem noetischen Polsystem vereinigen können. 44 Durch kognitive Akte bildet sich ein multipolares System von Subjekten, das Husserl auch gerne als offene, konstitutive Intersubjektivität 45 bezeichnet: Wie das Einzelsubjekt seine Umwelt mit offenen Horizonten hat, so hat eine kommunizierende Subjektvielheit eine gemeinsame Umwelt als die »ihre«. Jeder einzelne hat seine Sinnlichkeit, seine Apperzeptionen und bleibenden Einheiten; die kommunizierende Vielheit hat gewissermaßen auch eine Sinnlichkeit, eine bleibende Apperzeption und als Korrelat eine Welt mit einem Unbestimmtheitshorizont. Ich sehe, ich höre, ich erfahre nicht nur mit meinen Sinnen, sondern auch mit denen des Anderen, und der Andere erfährt nicht nur mit seinen, sondern auch mit meinen Sinnen; das geschieht durch Übermittlung der Kenntnisnahmen. Und das ist nicht bloß eine objektive Rede, sondern eine Bewusstseinstatsache, für mich und für jeden Anderen, etwas, was für mich beständig wirksam ist in meinem Verhalten, schon in dem in der Sphäre meiner Passivität, meiner Affektion und bloßen Rezeption. (Hua XIV, 197)
Dennoch ist diese Darstellung der Konstitution einer gemeinsamen Sinnenwelt als offener Horizont der intersubjektiven Apperzeption eine Abstraktion: Noch nicht Rücksicht genommen ist […] auf Gefühls- und Triebsinnlichkeit und auf das animalische Tun, das spezifisch »Tierische«, die Konstitution der
Der folgenden Darstellung entspricht die Unterscheidung von Toulemont zwischen simple intersubjectivité, systemes de pôles und synthèse de pôles, vgl. Toulemont (1962), 311 f. 45 Vgl. Zahavi (1996). 44
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Welt der subjektiven und der gemeinschaftlichen Bedürfnisse. (Hua XIV, 198)
Erst im Gemütsleben sind jene affektiven und triebhaften Abhebungen zu finden, die zur Konstitution einer eigentlich vergemeinschafteten Welt und nicht einfach zur intersubjektiven Offenheit des Horizontes führen. Über die passive Vergemeinschaftung hinaus geht die aktive Vereinigung durch volitive und affektive gemeinsame Intentionalität. Im Falle eines einheitlichen Willens verpflichten sich die mitbeteiligten Subjekte der pluralen Handlung zu ihrer Einheit: Jedes Ich ist Subjekt der Handlung, aber jedes in einer Funktion und so ist die verbundene Vielheit aller das volle Subjekt. Es ist ein einheitliches Substrat; wie das Ich, die Person, Substrat ist für ihre individuellen Akteneinzelheiten und bleibenden Akte, so ist die kommunikative personale Vielheit Substrat: sie ist da keine Vielheit, sondern eine in Vielheiten konstituierte Einheit und sie ist Substrat für »Akte« als Akteinzelheiten und für bleibende Akte – Akte, die selbst konstitutive Einheiten höherer Stufe sind, die ihre fundierende Unterstufe in den betreffenden einzelpersonalen Akten haben. (Hua, XIV, 201)
In einer pluralen Handlung fundieren die durch den einheitlichen Willen ineinander motivierten individuellen Beiträge ein höherstufiges »personales« Wesen, das keine Voraussetzung für die Entstehung kollektiver Intentionalität, sondern deren in jeden Einzelnen weiter wirkender Niederschlag ist. Die Tatsache, dass Husserl eine solche Personenvielheit auch Personalität höherer Ordnung nennt, beweist, dass Husserl diese besondere Form der sozialen Gemeinschaft durch seine eigene Begrifflichkeit des Fundierungsverhältnisses versteht. Schon gemeinsame Stellungnahmen sind »konstitutive Einheiten höherer Stufe«, »die ihre fundierende Unterstufe in den betreffenden einzelpersonalen Akten haben« (Hua, XIV, 201). Die fundierende Unterstufe besteht in den Akten der Mitglieder der Gemeinschaft, die durch den einheitlichen Sinn der gemeinsamen Stellungnahme vollzogen werden. Ein solcher Gegenstand höherer Ordnung ist ein Gegenstand derselben Art wie die ihn fundierenden Gegenstände. Das Fundierungsverhältnis, das den neuen Inhalt mit den fundierenden verbindet, ist ein unmittelbares: Die fundierenden Inhalte sind nicht wechselseitig in einem prägnanten Ganzen fundiert, sondern sie fundieren lediglich gemeinsam ein neues prägnantes Ganzes. Im Ausgang von dieser Husserlschen Unterscheidung definiert Conni zwei Formen von prägnanten Ganzen: die prägnante und die emergente Struktur. Die prägnante 70
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Struktur ist durch wechselseitige Fundierung unter den Teilen gekennzeichnet, wohingegen die emergente Struktur durch gemeinsame unmittelbare Fundierung eines neuen Ganzen ausgezeichnet ist. 46 Emergente Gegenstände individuieren darüber hinaus ihre fundierenden Teile dadurch, dass sie von der fundierten Einheit durchdrungen werden. Es handelt sich um ein wechselseitiges Fundierungsverhältnis zwischen Ganzem und fundierenden Momenten, insofern die fundierenden Elemente von der fundierten, emergenten Einheit zugleich individuiert werden. Eine Personalität höherer Ordnung ist in diesem Sinne ein emergenter Gegenstand. Individuiert werden dennoch nicht die Einzelpersonen als solche, die mereologisch unabhängige Ganze bleiben, sondern nur einige besondere Akte von ihnen, die nicht-unabhängige Teile der sie vollziehenden Personen sind. Wer gemeinsam Stellung nimmt, wird deshalb nicht ein einfacher Teil einer Gruppe von zusammen Stellung nehmenden Subjekten: er wird vielmehr, formalontologisch gesprochen, Träger eines prägnanten Teils eines emergenten Ganzen und damit in der Fundierung eines Gemeingeistes mitimpliziert. Er wird aber in ihm nicht einfach angeschlossen, da er nicht selber prägnanter Teil des Ganzen ist: er ist nicht organisches Glied, weil sein Leben sich nicht im Vollzug gemeinsamer Akte erschöpft. 47 Gemeinsame Intentionalität wird ferner nicht von einem schon vorhandenen Kollektivsubjekt vollzogen, sondern durch den Vollzug gemeinsamer Stellungnahme, die eine Personenvielheit erst entstehen lassen kann. Nur durch den stetigen Mitvollzug gemeinsamer Intentionalität wird in ihrer damit gestifteten Entwicklung die Personenvielheit erhalten. Die Individuation, die mittels des Fundierungsverhältnisses beschrieben worden ist, besteht darin, dass gemeinsame Intentionalität sich in den Subjekten in Form von Habitualitäten niederschlägt, die den individuierenden Charakter der Personenvielheit bekunden und weiter tragen. Laut Husserl ist persönliche Individualität erst durch Gemütsakte gestiftet, da sie von der habituellen Gesinnung getragen wird. Da verharrende Habitualitäten notwendig zum Conni (2005), 84 f. Diese Unterscheidung sei Conni zufolge bisher nur von Hering (1921) und Stein (1950, 2006) bemerkt worden. Beide Husserl-Schüler haben sie aber terminologisch nicht differenziert. Vgl. Conni (2005), 79 f. 47 Pettit hat versucht, durch die formalontologische Theorie der supervenience eine Gruppe als eine eigene Geistigkeit zu deuten. Vgl. Pettit (2003). Die supervenience zeichnet sich vorwiegend dadurch aus, dass die Rückwirkung des emergenten Ganzen auf die fundierende Elemente außer Sicht gelassen wird. Vgl. Conni (2005), 168 f. 46
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Begriff der Person gehören, 48 kann man im eigentlichen Sinne von einer Personalität höherer Ordnung nur dann sprechen, wenn gemeinsam gestiftete feste Habitualitäten in den sie fundierenden Personen bestehen. Tiefer als die Vergemeinschaftung durch kollektiven Willen wirkt Husserl zufolge die Bindung durch Liebe als Form affektiver Intentionalität, die aufgrund eines aktiven Gefallens an der personalen Individualität des Geliebten zum Streben nach personaler Berührung mit ihm führt: Ein Streben […] nach Gemeinschaft im Leben und Streben, in der sein Leben in mein Leben, nämlich sein Streben in mein Streben aufgenommen ist, sofern mein Streben, mein Wollen sich in dem seinen und in dessen realisierendem Tun selbst realisiert, wie das seine in dem meinen. […] Komme ich […] mit einem Anderen in eine Gemeinschaft des Strebens, so lebe ich als Ich in ihm und er in mir. […] Selbst in den Lebensbetätigungen eines jeden der Liebenden, die sich außer Berührung abspielen, von denen in größtem Ausmaß der jeweilige andere also nicht weiß, lebt implicite der Wille des anderen. (Hua XIV, 172 f.)
Die Individuation und Durchdringung, die in der Liebesgemeinschaft stattfindet, führt deshalb zur Entwicklung einer Personalität höherer Ordnung im ausgezeichneten Sinne: Liebe führt zum intentionalen, habituellen Ineinandersein der Liebenden, die sich in ihrem passiven und aktiven Streben ineinander tragen, so dass sie einen intimen kollektiven Willen leben, auch wenn sie nicht ständig in Berührung sind und nicht wissen, wonach der andere aktuell strebt. Affektive Bindungen leben in den Subjekten fort und wirken in ihnen nach, ihr ganzes personales Leben ständig mitbestimmend: »Liebende leben nicht nebeneinander und miteinander, sondern ineinander, aktuell und potentiell.« (Hua XIV, 174) Den Gemütsakten und ihren Niederschlägen in der Entwicklung des subjektiven Lebens ist deshalb genetisch nachzugehen, um die Struktur der kollektiven Intentionalität weiter zu erkunden. 49
Vgl. Goto (2004). Zur methodologischen Unterscheidung zwischen statischer und genetischer Phänomenologie, vgl. Hua XIV, 34 f.
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II.
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Der Vorwurf des vermeintlichen »cartesianischen« Individualismus Husserls erweist sich somit als ein Vorurteil, das der phänomenologischen Reduktion nicht Rechnung trägt. Husserl hat spätestens seit 1908 »mit einer pluralistischen Ontologie« in Form einer Erneuerung Leibnizscher Monadologie sympathisiert, die den Elementarkern der Wirklichkeit in eine Pluralität von Subjekten verlegt, die in ihren konstitutiven Leistungen ineinander impliziert sind. 50 Diese Implikation sollte im Rahmen der phänomenologischen Methodologie in konkreten Untersuchungen expliziert werden. Auch der Vorwurf, Husserl habe das Soziale ausschließlich durch den Begriff der Personalität höherer Ordnung gedeutet, ist unbegründet. Während die Ichzentrierung im Einzelsubjekt notwendig ist, ist eine »Art Ichzentrierung« in der Vergemeinschaftung nur eine Möglichkeit: Ferner möchte ich noch darauf hinweisen, daß jede verbundene Intersubjektivität zwar ein Subjektganzes ist, im gewissem Sinne eine aus Einzelsubjekten zusammengesetzte Subjektivität – ähnlich wie ein physisches Ganzes ein physisches Objekt ist, zusammengesetzt aus physischen Objekten als Teilen. Andererseits aber ist nicht jede Intersubjektivität eine Personalität, die aus den Einzelpersonen zusammengesetzt ist. Genauer gesprochen, jede Ichzentrierung, die dem Einzelsubjekt eigen ist, kann, muß aber nicht ein wirkliches Analogon haben in der vergemeinschafteten Intersubjektivität. Von einer sozialen Personalität wäre nur zu sprechen, wo wir gegenüber den Einzelsubjekten auch von einer Art Ichzentrierung und von einer verharrenden Habitualität der zentrierten Gemeinschaft sprechen können. (Hua XIV, 405)
Es gibt Formen der Vergemeinschaftung, die nicht eine Zentrierung erfahren, wie jede Form der passiven Gemeinsamkeit oder der aktiven Mitteilung, die zu keiner gemeinsamen Stellungnahme führen. Erst durch eigentlich gemeinsame Intentionalität entsteht eine »soziale Personalität«, jenes Pluralsubjekt, das sich dort bildet, wo eine Zentrierung der Gemeinschaft stattfindet. Es bleibt aber die Frage offen, ob die Struktur der gemeinsamen Intentionalität nicht durch eine »Art Ichzentrierung« erneut egologisch verstanden wird, so dass die EigenStrasser (1975), 6. Aufgrund der Verwendung der monadischen Begrifflichkeit ist Husserl ungerechterweise vorgeworfen worden, Bewusstsein als »abgeschottete Monade« individualistisch zu denken; vgl. Schmid (2005), 136. Cristin hebt aber hervor, dass die Tiefe der Monadologie Husserls in dem Versuch liegt, die Implikation der Monaden phänomenologisch zu beweisen, vgl. Cristin (1990). Dazu auch Paci (1978).
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tümlichkeit einer Wir-Intentionalität nicht zur theoretischen Sprache kommt, da Ich und Wir »im Eidos ego ›aufgehoben‹« seien. 51 Ist für die Mitglieder einer Gemeinschaft eine ihrer eigenen Zentrierung hinzukommende neue, gemeinsame Zentrierung überhaupt verträglich? Droht dies nicht zu einer Spaltung des Subjekts zu führen, so dass es konsequenter wäre, sich vom Paradigma des egologischen Subjekts definitiv zu lösen? Es ist zunächst zu bemerken, dass Husserl der Wir-Intentionalität keine schlichte egologische Form, sondern eine »Form des ego-alteri« zuschreibt: Dem individuellen Bewußtsein entspricht das Gemeinschaftsbewußtsein, den individuellen Akten Gemeinschaftsakte usw. Was das heißt, ist zu analysieren. Die Gemeinschaftssubjektivität ist eine vielköpfige Subjektivität, Form des ego-alteri. Jedes vergemeinschaftete ego hat nicht nur sein Bewußtsein, sondern seines als in die Anderen hineinschauendes und sich mit den Anderen zu einem universalen Bewußtseinszusammenhang mit vielköpfiger Subjektivität verbindend, aber freilich sich ins Unbestimmte verlierend. Für jedes ist ein Fernhorizont: die offen unbestimmte Vielheit Anderer außer denen, die ich wirklich einverstehend umgreife, und ihr Bewußtsein; das unbestimmte, noch unumspannte Bewußtsein der Anderen über das hinaus, was ich davon wirklich einverstehend weiß, das sich verbindend wieder mit dem Bewußtsein Anderer etc., lauter Horizonte, in die man mehr oder minder eindringen kann. (Hua XIV, 218)
Husserl beschreibt damit die Struktur der pluralen Subjektivität nicht einfach formal-ontologisch, als die auf den Einzelnindividuen fundierte vielköpfige Subjektivität, die eine Geistigkeit höherer Stufe beweist. Es geht hier nicht nur darum, die Emergenz des Gemeingeistes, als Subjekt höherer Stufe, durch die Werkzeuge der Formalontologie zu begreifen. Husserl will hier nicht zeigen, wie sich eine Sozialontologie als Regionalontologie formalisieren lässt. 52 Vielmehr geht er der Frage nach, welche transzendentale Relevanz die Iteration der VergemeinSchuhmann (1971), XXXIX. Wenn man aber eine solche ›Aufhebung‹ dialektisch versteht, könnte man Schuhmanns Behauptung folgendermaßen rekonstruieren: Das Eidos ego besagt konstituierende Subjektivität schlechthin, so dass in ihm sowohl Konstitution (in Form des Ich) als auch Mit-Konstitution (in Form des Wir) zur Deckung kämen. 52 Zum Verhältnis Formal- und Regionalontologie hinsichtlich der Frage nach dem Gemeingeist, vgl. Hua XXX, 282 f. Ein gegenwärtiger Annährungsversuch zur Sozialontologie durch formalontologische Ansätze ist kürzlich von Petitt geleistet worden, vgl. Petitt (2003). 51
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schaftung für die konstitutive Subjektivität latent trägt. 53 In der heutigen Sozialontologie ist der Begriff der Konstitution wieder relevant geworden, indem die notwendige Korrelation sozialer, institutioneller und kultureller Objekte mit »kollektiven« Einstellungen hervorgehoben wird. Daher muss die Prägnanz des phänomenologischen Begriffs der Konstitution betont werden. Dieser Begriff bezieht sich nicht nur auf einen limitierten Bereich der menschlichen Welt, der ohne soziale Akte nicht bestehen könnte, sondern weist darauf hin, dass das Paradigma der Korrelation notwendig zur Intentionalität als solcher gehört. Während das Konstitutive der gegenwärtigen Sozialontologien, als Gegensatz zur vermeintlichen Unabhängigkeit der durch die positiven Wissenschaften erforschten Natur konturiert wird, zeigt die Transzendentalphänomenologie Husserls, dass eine solche Natur nicht naturalistisch vorausgesetzt werden kann, als ob sie an sich sei, sondern dass sie selbst Korrelat einer naturalistischen Einstellung ist. Das Aufweisen von unterschiedlichen Einstellungen und deren konstitutiver Relevanz, wie z. B. naturalistische im Kontrast zur personalistischen Einstellung oder auch Ich-Einstellung im Gegensatz zur WirEinstellung, ist aber im Rahmen der phänomenologischen Reflexion nur der erste Schritt, wenn man den konstitutiven Leistungen solcher Einstellungen in ihrer Entwicklung nachgehen will. Auf diesem Weg wird zunächst jede Meinung über die Wirklichkeit der Objekte der Erfahrung vermieden, um dann die Elemente, die in der inneren intentionalen Struktur aufzuweisen sind, festzuhalten. Diese neutralisierte Erfahrung wird schließlich mittels der Methodologie der Abbaureduktion dadurch befragt, dass sie auf ein Erfahrungsfeld zurückgeführt wird, in dem die Leistung, deren konstitutiven Rolle zu beschreiben ist, noch nicht enthalten ist. 54 Ex negativo kann man auf diese Weise Schritt für Schritt die Konstitutionsstruktur enthüllen. In unserem Fall handelt es sich darum, wie Husserl eine Reduktion auf das Soziale durchführt und zu welchen Ergebnissen er gelangt. Husserl zeigt, wie die intentionale Horizonthaftigkeit der Erfahrung durch Vergemeinschaftung radikal modifiziert wird. Zum Horizont einer vergemeinschafteten Subjektivität gehören nicht nur die impliziten Strukturen, die das Ego selbst erworben hat oder erwerben Zur späteren Unterscheidung Husserls zwischen latent und patent, vgl. Hua XV, 608 f. 54 Lohmar (2002), 751. 53
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kann, sondern auch jene intentionalen Strukturen, die von der Mitkonstitution anderer vergemeinschafteter Mitsubjekte impliziert sind: Also wäre es falsch zu sagen, dass die transzendentale Reduktion mich auf mein eigenes Innensein und Innenleben, auf meine eigene transzendentale Subjektivität reduziert. Sie reduziert mich, wo immer ich in meiner Erfahrung fremde Subjektivität, dieses und jenes oder eine Mehrheit von Alterego habe, auf eine sozusagen vielköpfige transzendentale Subjektivität, die mit meiner eigenen all diese Alterego mit all ihrem Leben, mit all ihren Erscheinungen und intentionalen Korrelaten umspannt. (Hua XXXV, 111)
1922 betonte Husserl in seinen Londoner Vorträgen die große Relevanz der Entdeckung solcher notwendigen Implikationen der vergemeinschafteten mitkonstituierenden Subjekte: »In the proper line of its explication lies the development of the originally, egological […] phenomenology into a transcendental sociological phenomenology.« 55 Die Auslegung der konstitutiven Leistungen der Subjektivität, die in der Welt lebt, führt nicht nur zur Entdeckung ihrer Selbstvergessenheit sondern auch zur Entdeckung der Vergessenheit ihrer in ihr ständig mitwirkenden und bis zur Grenzidee einer offenen Intersubjektivität konvergierenden Vergemeinschaftung. Die implizierte Vergemeinschaftung ernst zu nehmen, heißt, den konstitutiven Leistungen der Subjektivität nicht im Rahmen einer transzendentalen Egologie, sondern »in allen ihren sozialen Gestalten« (Hua VI, 182), in dem erweiterten Rahmen einer transzendentalen Soziologie, nachzugehen. 56 Damit ist die egologische Zentrierung der konstituierenden Subjektivität überhaupt nicht in Frage gestellt. Sie wird vielmehr durch allmähliche Aufhebung des methodologischen Solipsismus im Kontext ihrer Vergemeinschaftung (in Form des ego-alteri) gewürdigt. Das besagt, dass der cartesianische Weg nicht preisgegeben wird, sondern modifiziert »als direkt losgesteuert ist auf das ego cogito und nos cogitamus.« (Hua VIII, 316) 57 Die Reduktion auf das Wir kann statisch oder genetisch erfolgen, indem der Struktur der vergemeinschafteten Erfahrung oder dem Prozess der Vergemeinschaftung phänomenologisch nachgeganSchuhmann (1988), 56; Zahavi (1996), 20. Vgl. Hua IX, 539. Vgl. Hua Mat VIII, 165; Piana (1962). 57 Folgende polemische Zusammenstellung von Husserl und Descartes scheint deshalb unbegründet: »Descartes hat die Philosophie des Geistes damit sozusagen auf die egologische Perspektive festgelegt, deren Grenzen in Husserls Intersubjektivitätstheorie so klar zum Ausdruck kommen – und die nostrologische Dimension (um es in Anlehnung an José Ortega y Gasset zu sagen) außer sicht gelassen.« (Schmid (2005), 222) 55 56
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gen wird. Im ersten Fall werden die Strukturen der Lebenswelt nach den folgenden Fragen erforscht: 1) Wir fragen: Wie erscheint uns die Welt, die wir miteinander erfahren und gemeinsam in unserem Weltleben immerfort dieselbe erfahrene Welt haben? Wie beschreibt sie sich in den ontologischen Wesensstrukturen, in denen sie notwendig für uns die gemeinsam seiende ist? Und wie erscheint sie modal? Sie erscheint uns »umweltlich«, jeder hat seine Umwelt, und in der Gemeinschaft haben wir gemeinsame Umwelt, jede Sondergemeinschaft hat die ihre. In diesem Wandel besteht aber bewußtseinsmäßig Einheitsbeziehung auf »die« Welt. Welche Typik besteht hier, welche Wesensstrukuren im einzelnen und in der Synthesis, welcher systhematische einheitliche Aufbau? Wir, die wir zur Welt selbst gehören, sind selbst in wechselnden subjektiven Modis, in denen von der Erfahrungswelt für uns, mitbeschlossen. (Hua XV, 67 f.)
Dies sind die Fragen, die Schütz, losgelöst von Husserls Sozialontologie, in seiner Lebenweltstheorie vorwiegend behandelte. 58 Dadurch wird das entfaltete Soziale unserer Erfahrung in seiner statischen Typik verfolgt, während der Prozess der Sozialisierung zunächst außer Acht gelassen wird. 59 Dank der Methode der primordialen Reduktion kann Husserl aber auch die Vergemeinschaftung als solche zum Thema machen: 2) Wir stellen wieder die ontologische Auslegung der Erfahrungswelt, die die unsere ist, voraus. Statt aber auf die Weisen einzugehen, in denen sie uns gemeinsam, und zwar in gemeinsamen Modis der Relativität und so überhaupt »subjektiv« gegeben ist, fragen wir sogleich zurück: Die Welt unserer Erfahrung ist allem voran zunächst Welt meiner Erfahrung, die Anderen, die Miterfahrenden, sind für mich selbst schon weltlich gegeben, verschiedentlich erscheinend in subjektiven Modis. Ich reduziere auf das Ich und die cogitationes, aus denen Welt für mich ist, und frage, wie sie das ist. Ich reduziere also sofort auf das primordiale ego, frage dann, wie es zum sozialen ego wird, und wie die sich für es bewährende Gemeinschaft, in der jede Einzelperson meinesgleichen ist und für welche alles gilt, was für mich gilt, zur gemeinschaftlichen Welt erfahrend kommt, welche Typik intersubjektiver Erscheinungsmodi und intersubjektiver Synthesis höherer Stufe etc. (Hua XV, 68)
In den von Luckmann ausgearbeiteten Schriften von Schütz scheint die Dynamik der lebensweltichen Apperzeption durch die Beschreibung routinemäßiger Konstanten ersetzt zu werden. Schütz wendet aber die Methode der genetischen Phänomenologie in seiner Relevanztheorie viel bewusster als in Strukturen der Lebenswelt an. Vgl. Schütz (1971). Luckmann; Schütz (1975, 1984). 59 Eine konstruktivistische Deutung der Sozialisierung wird von Luckmann und Berger vorgenommen, vgl. Berger/Luckmann (1969). 58
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Damit wird gefragt, wie das primordiale ego zum sozialen ego wird und zwar durch welche konstitutiven Leistungen es die Form des ego-alteri annimmt. Es handelt sich um die Frage der ursprünglichsten Vergemeinschaftung, die tief im passiven Leben verborgen bleibt. Um sie rekonstruktiv zu erforschen, gilt es, eine besondere Form der AbbauReduktion zu üben: die primordiale Reduktion. Damit wird jede konstitutive Leistung außer Geltung gelassen, die mitkonstituierende, vergemeinschaftete Mitglieder voraussetzt. Das ist der bekannte Weg der V. Cartesianischen Meditation. Ihm zufolge geschieht die ursprünglichste Vergemeinschaftung durch eine besondere Form passiver Synthesis, die zur Konstitution eines Paars führt. Zwei aktuell mitgegebene ähnliche Gegenstände paaren sich bzw. wecken eine verähnlichende Assoziation in Form der Paarung, indem eine Sinnformation durch wechselseitige Fundierung ermöglicht wird, die sich in den gepaarten Gegenständen simultan erfüllt. 60 Dabei ist hervorzuheben, dass diese Paarung eine Ähnlichkeit in der Differenz ausdrückt, und zu keiner phänomenologischer Verschmelzung führen kann. In der primordialen Sphäre wird die ausschlaggebende Paarung durch die Erfahrung eines den eigenen leiblichen Habitualitäten ähnlichen Körpers als eines Anderen geweckt. In solcher Eigenheitssphäre waltet die Korrelation eines Systems eigenleiblicher Habitualitäten, so dass alles als »Vermöglichkeit« der eigenen Kinästhese erfahren wird: es kann in dieser reduzierten Sphäre kein Ich und kein Gegenstand im eigentlichen Sinne unterschieden werden. Die erste ursprüngliche Vergemeinschaftung des eigenen Pols der Affektion und der Aktion wird also durch Paarung mit gegenüber tretenden, ihm ähnlichen leiblichzentrierten Habitualitäten geweckt. Dadurch kommt eine wechselseitige Konstitution zustande, in der sich Paare situativer, leiblich-zentrierter Habitualitäten und Ich-Orientierungen gegenüber stehen. Aus diesen situativen Habitualitäten-Paaren besteht die allgemeinste Korrelationsform ego-alteri. Die Iteration solcher ursprünglichster Vergemeinschaftung gipfelt in der Struktur der Wir-Intentionalität: Ich also im Zentrum, die Anderen um mich herum – aber nicht als Gegenstände, sondern als Akteure. So habe ich meine Anderen, aber jeder dieser Anderen hat mich und seine Anderen um sich herum, exzentrisch, während jeder Zentrum ist als Interessensubjekt, als erste Person, während die Anderen zweite und sich vermittelnde Personen sind. (Hua XXXIX, 385) 60
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Vgl. Iribarne (1994), 102.
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Die Anderen sind in der sich durch Paarungen stetig entwickelnden Wir-Intentionalität exzentrisch gegeben, da jede eigene Zentrierung die Zentrierung der Anderen ausschließt. Dennoch werden die in ihnen zentrierten Horizonte ihrer »Vermöglichkeit« zugleich Erweiterung meines »Vermöglichkeitssystems«, 61 so dass unsere Horizonte ineinander dringen und ein vergemeinschafteter, in mir zentrierter Horizont eines intentionalen Wir-Zusammenhangs entsteht. 62 Fern von einem einfachen Wir-Modus oder einer eingeborenen Fähigkeit zur Wir-Einstellung geht man in der genetischen Intentionalitätsanalyse auf die Sedimentierung der ursprünglichsten affektiven Relationen und assoziativen Bindungen in Form von Vermöglichkeitsystemen zurück, die zur Entfaltung einer gemeinsamen Welt führen. Erst im Rahmen der Vergemeinschaftung vollzieht und behält man eine eigentlich gemeinsame oder eigene Stellungnahme, die zur Kohärenz verpflichtet. Vom Zentrum aus vollzieht das Subjekt gemeinschaftliche Aktgefüge nach, es folgt vorhandenen intentionalen Strukturen, es macht in der Gemeinschaft mit, so dass einige von ihm aktuell vollzogene Strecken des gemeinschaftlichen intentionalen Lebens sich in ihm sedimentieren und habituell werden. Die Verflechtung solcher hinzukommender Aktualität und Habitualität macht die neue Zentrierung aus. Jede Form der persönlichen Stellungnahme ist auch von der Form egoalteri mitbedingt, indem jeder sich erst durch den Anderen als einen Anderen kennen lernt und dazu Stellung nimmt. 63 Man kann deshalb nicht zwei getrennte Fähigkeiten zur Ich-Intentionalität und zur Wir-Intentionalität annehmen, zwischen denen man umschalten kann. 64 Es handelt sich vielmehr um zwei Perspektiven, die sich in einer schon vergemeinschafteten Subjektivität wie ein Zoomobjektiv unterschiedlich fokussieren und von den nächsten Be61 Vermöglichkeit ist ein Neologismus von Husserl, der eine motivierte Möglichkeit bezeichnet, die im Horizont der Erfahrung auf eine subjektive Potentialität (in der Form des Ich-kann, als ein subjektives Vermögen) angewiesen ist. Mit dieser Form der Seinsmodalität, die der offenen Möglichkeit entgegengesetzt ist, konkretisiert Husserl die intentionale Struktur des Horizontes als ein System von Vermöglichkeiten. Vgl. z. B. Hua VI, 37, 164, 173, 184. Vgl. Rang (1973), 156 f. 62 Es scheint dadurch möglich, einen Weg zu finden, der das Verhältnis von personaler Exzentrizität im Sinne Plessners und das Wir-Bewusstsein in seinen wechselseitigen Verflechtungen phänomenologisch verfolgt. Vgl. Plessner (1928). 63 Vgl. Iribarne (1994), 113 f.; Hua XIV, 418. 64 Das ist dagegen der für die heutige Sozialontologie bahnbrechende Weg von Tuomela und Miller. Vgl. Tuomela/Miller (1988).
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zugspersonen bis zur offenen Intersubjektivität allmählich erweitert oder durch sie zurück auf die eigene Persönlichkeit beschränkt werden können. 65 Durch die Entfaltung einer konstitutiven Soziologie sollte die Vergemeinschaftung in allen diesen Stufen ernst genommen werden. Die Erweiterung der intentionalen Horizonte ist in ihrer konstitutiven Bedeutung Schritt für Schritt in der Verflechtung aller Aktklassen (nicht nur kognitiver, sondern vor allem volitiver und affektiver Akte) zu untersuchen, so dass die Konvergenz der unbestimmten Horizonte in der Idee der Möglichkeit einer mitfungierenden offenen Intersubjektivität nicht von Anfang an vorweggenommen, sondern erst in Geltung gesetzt wird, sofern die Iteration der Vergemeinschaftung dies ermöglicht. Das Interesse Husserls an der Entwicklung einer neuen intersubjektiven Form der transzendentalen Ästhetik, welche u. a. die Leistungen der Naturwissenschaften aufklären sollte, führte ihn dazu, der Konstitution von Ding und Raum durch die konstitutive Rolle der offenen Intersubjektivität nachzugehen, die in der Gemeinschaft der Wissenschaftler als Korrelat des normierenden Ideals der objektiven Wahrheit stillschweigend gesetzt wird. In der Durchführung seiner Lebenswelttheorie, wo es hauptsächlich um Kultur und nicht um bloße Natur geht, scheint aber Husserl mit dem Begriff der Intersubjektivität einen komplexeren Weg anzudeuten, der erst durch die allmähliche und notwendig partielle »Aufhebung« aller Formen der Vergemeinschaftung zur Idee der offenen Intersubjektivität führen sollte (vgl. Hua XXXIX, 259 f.) Die situativen Wahrheiten, die in den Relativitäten der vergemeinschafteten Lebenswelt ihren unbefragten Urboden haben, wären nicht aufgrund einer ihnen untergeschobenen objektiven Wahrheit preiszugeben, sondern als Hinweise der offenen Möglichkeit einer sich immer zu bewährenden fragilen Konvergenz anzusehen, deren unüberschreitbare Grenze erst die Idee einer Wahrheit an sich darstellt. 66 Die offene Intersubjektivität als Korrelat der Objektivität wäre also eine konvergente Idee, die um der Wahrheit Willen als ein regulatives Ideal angestrebt wird. Die Metapher der Zoomlenses ist von Anita Konzelmann Ziv während ihres Vortrags »We-Feeling – Between Experience and Attribution« bei der VII. Internationalen Tagung für kollektive Intentionalität in Basel (2010) vorgeschlagen worden. 66 Eine pänomenologische Metaphysik würde aufgrund dieser Hypothese die Form einer metaphysica povera annehmen, die nach dem Absoluten als Konvergenzidee im Sinne Speers anstrebt, vgl. Speer (2010). 65
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Deshalb scheint es mir plausibel anzunehmen, dass in den passiven Bereichen der Konstitution keine offene Intersubjektivität formal mitfungieren sollte, da sie ja erst in höheren aktiveren Leistungen einer schon konkret durch iterierte Paarungen vergemeinschafeteten Subjektivität in Geltung tritt. 67 Falls eine solche Interpretation von Husserls Lebenswelttheorie sich als haltbar erweisen würde, gewänne die Durchführung einer von sozialontologischen Fragen geleiteten konstitutiven Soziologie eine erhebliche Bedeutung für die Entfaltung einer phänomenologischen Philosophie (vgl. Hua VI 258 f.). Sowohl die Debatte über kollektive Intentionalität als auch die Rezeption von Husserls Intersubjektivitätstheorie leiden oft daran, dass sie fern von der konkreten Untersuchung der unterschiedlichen Stufen der Vergemeinschaftung sind. Beide Ansätze bleiben daher den Sozialwissenschaften fremd. Dennoch vermag die Methodologie von Husserls konstitutiver Soziologie diesem Mangel Abhilfe zu leisten, so dass es möglich wird, im Rahmen der Korrelation die dynamische Struktur der sozialen Wirklichkeit grundlegend zu erforschen. Durch die Untersuchung der konstitutiven Leistungen der unterschiedlichen Formen der intentionalen Verbindung, die im Rahmen der intentionalen Soziologie erforscht werden können, könnte sich vielleicht ein Weg finden, um die konkrete Ontologie der Lebenswelt in ihrer konstitutiven Tiefe weiter zu entfalten. Zu diesem Zweck können die phänomenologische Soziologie, die Sozialontologien anderer Phänomenologen und die gegenwärtigen Ansätze sehr hilfreiche Leitfäden für konstitutive Fragen darstellen.
III. Fazit Die Vorwürfe, mit denen Husserls sozialontologischer Ansatz überhäuft wird, scheinen bei einer genaueren Betrachtung von zwei Vorurteilen bedingt zu sein. Auf der einen Seite der phänomenologischen Soziologie hielt man an dem methodologischen Individualismus Webers fest, so dass die Anwendung der genetischen Ansätze von Husserls 67 Die These einer anonymen offenen Intersubjektivität ist von Zahavi vertreten worden. Vgl. Zahavi (1996). Sehr oft bestätigt aber Husserl den anderen Weg. Held wirft Husserl ausdrücklich vor, den Fehler gemacht zu haben, sich häufig für den zweiten, konkreteren Weg entschieden zu haben. Vgl. Held (1972), 46 f.
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Lebenswelttheorie diese nicht in ihrer Tiefe darzustellen erlaubte. Auf der anderen Seite bleiben die gegenwärtigen sozialontologischen Handlungstheorien, die sich auch mit der Phänomenologie befasst haben, in typischen Missverständnissen bei der Rezeption von Husserls Intentionalitätsanalyse befangen. Zwar ist es sehr schwierig, Husserls Analyse der Intentionalität mit Ansätzen zu vergleichen, die mit dem Intentionalitätsbegriff analytischer Prägung operieren, da Intentionalität in diesen Traditionen unterschiedlich aufgefasst wird. Dennoch kommen die Probleme des analytischen Intentionalitätsverständnisses durch sozialontologische Fragen deutlich zum Vorschein, so dass die Phänomenologie Husserls in dieser Debatte ihre Tragweite beweisen kann. In den letzten Jahren sind zunächst die so genannten realistischen Phänomenologen in diesem Kontext aufgewertet worden, u. a. Schelers Theorie des Fühlens, Reinachs Untersuchung der sozialen Akte, Steins Staatsphilosophie und auch Walthers Theorie der Gemeinschaft. Der vorwiegend ontologische Blickpunkt dieser Theorien hat ihre Rezeption ermöglicht. Die Stärke Husserls liegt aber gerade in der Methodologie, mit deren Hilfe er den Begriff der Konstitution systematisch an ontologische Fragen anknüpft. Inzwischen wird auch in der analytischen Sozialontologie der Begriff der Konstitution verwendet, um die Korrelation sozialer Objekte mit kollektiver Einstellungen zu pointieren. Damit scheint sich die Intuition Husserls zu bestätigen, wonach eine konsequente Erweiterung der intentionalen Psychologie auf das Soziale, auf das intentionale »Ineinander der Vergemeinschaftung«, notwendig zu tranzendentalphilosophischen, d. h. konstitutiven Fragen führt. 68 Ein solches Unternehmen ist keineswegs einfach, da Husserls intentionale Soziologie eine große Herausforderung auch für die Phänomenologie selbst darstellt. Als Regionalontologie ist sie mit der formalontologischen Natur von Gegenständen höherer Ordnung konfrontiert, die keine einfach fundierten Objekte sind, sondern zugleich konstituierende Subjekte. Als transzendentale Frage befasst sie sich in der Eigenheitssphäre mit der passiven Synthesis der Paarung, um nochmals in der verwirrenden Entwicklung der Vergemeinschaftung zur Konstitution der Lebenswelt und ihrer eigenartigen Wir-Intentionalität weitergeführt zu werden. 69 Die Aktualität von Husserls inten68 69
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Hua VI, 258 f. Vgl. Kokowska (2004), 176.
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Husserls intentionale Soziologie
tionaler Soziologie verlangt schließlich nach einer Erneuerung der phänomenologischen Forschung, damit sich diese auch mit anderen Traditionen und ihrer Terminologie auseinandersetzt, und sich mittels der phänomenologischen Methode zurück an die Sachen selbst wendet. Erst dann wird das Erbe der Husserliana, der phänomenologischen Forschung und der Sekundärliteratur in ihrer Tragweite gewürdigt.
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Teil II Sprachphilosophie & Philosophie des Geistes
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Husserl über Begriffe Christian Beyer
Begriff ist ein schlüpfriger Begriff. Der Terminus wird in Philosophie und Kognitionswissenschaft nicht einheitlich verwendet. Eine gewisse Kernbedeutung lässt sich ausmachen, aber diese ist vage: Begriffe gelten allenthalben als Komponenten oder »Konstituenten« von »Gedanken«; wobei die jeweils zugrunde liegende Vorstellung eines Gedankens so stark variiert, dass man (schon aus kategorialen Gründen) eigentlich nicht von einem gemeinsamen Untersuchungsgegenstand namens »Begriffe« sprechen kann. 1 Wenn nach einem gemeinsamen Bezugspunkt der heute unter dem Schlagwort »Begriffe« geführten Debatte(n) gefragt wird, so wäre wohl am ehesten Jerry Fodors Buch Concepts anzuführen. 2 Fodors Adäquatheitsbedingungen an eine Theorie der Begriffe sind alles andere als theorieneutral, was seinen Grund darin hat, dass Fodor seine eigene, »repräsentationalistische Theorie des Geistes (representational theory of mind)« als »the only game in town« betrachtet. 3 Diese Konzeption fasst Begriffe, grob gesprochen, als Komponenten intentionaler Zustände auf. Solche Zustände sind nach Fodor Relationen, in denen Lebewesen zu mentalen Repräsentationen (z. B. mentalen Bildern) stehen, die jeweils als Vehikel (Träger) ihres intentionalen Gehalts fungieren. Dabei stellt der intentionale Gehalt (auch: die »Bedeutung«) des intentionalen Zustands die Information dar, die der Zustand (dank einer kausal-nomologischen Beziehung der Kovariation) trägt – etwa die Eigenschaft, Wasser, d. h. H20 zu sein. Begriffe sind nach Fodor Bestandteile solcher mentaler Repräsentationen und enthalten kausalEinen Überblick bietet der Artikel von Eric Margolis und Stephen Laurence (2006) in der Stanford Encylopedia of Philosophy über »Concepts«. Allerdings bleiben darin einige wichtige Autoren zum Thema unberücksichtigt, beispielsweise Tyler Burge. 2 Vgl. Fodor (1998). 3 Ebd., 22. 1
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Husserl über Begriffe
funktional individuierte mentale Gegebenheitsweisen (etwa die Wasser- oder die davon verschiedene H20-Gegebenheitsweise) intentionaler Gehalte bzw. Gegenstände. 4 Obwohl diese kontroverse Begriffsauffassung in Fodors Adäquatheitsbedingungen einfließt, bilden sie so etwas wie eine allgemein anerkannte Verhandlungsbasis in der Theorie der Begriffe: 1. 2. 3.
4. 5.
Begriffe sind (in einem prägnanten Sinne) mentale Entitäten, die in Kausalbeziehungen zu (anderen) Entitäten stehen können. Begriffe sind auf Gegenstände anwendbar, derart dass diese unter Begriffe fallen. Begriffe sind Konstituenten von mentalen Repräsentationen mit propositionalem Gehalt, und oftmals auch von (anderen) Begriffen, derart dass der intentionale Gehalt, den eine (propositionale oder sub-propositionale) mentale Repräsentation trägt, eine Funktion des intentionalen Gehalts ihrer Konstituenten ist. Viele Begriffe werden erlernt. Begriffe sind öffentliche Gegenstände, derart dass in verschiedenen Personen ein und derselbe Begriff (qua Typ) instantiiert sein kann. 5
Diese Bedingungen können uns dazu dienen, Husserls Auffassung von Begriffen in den verschiedenen Entwicklungsphasen seiner Phänomenologie zu beleuchten, und damit auch zentrale Ideen seines Denkens. Ich orientiere mich dabei an den folgenden Schriften: 1. 2. 3. 4.
4 5
Philosophie der Arithmetik (1891) Intentionale Gegenstände (1894) und Logische Untersuchungen (1900/1) Ideen (1913) Cartesianische Meditationen und Krisis (1930er Jahre)
Vgl. Fodor (1998), Kap. 1. Vgl. ebd., Kap. 2. A
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I. Husserls Erstling, die Philosophie der Arithmetik, wird zwar üblicherweise seiner vorphänomenologischen Phase zugerechnet, enthält aber bereits einige wesentliche Gedanken seiner Phänomenologie, die man hier gleichsam in statu nascendi studieren kann. Außerdem – und das ist im vorliegenden Zusammenhang wichtiger – entwickelt Husserl hier eine interessante Methode der Begriffsanalyse, die deskriptive Psychologie und Erkenntnistheorie miteinander verbindet, und die sogleich auf die Analyse arithmetischer Grundbegriffe angewandt wird – eine Begriffssorte, die bei Fodor gar nicht thematisiert wird. Die Meinung ist weitverbreitet, dass die Position, die Husserl in diesem Werk entwickelt, ein Paradebeispiel jener »psychologistischen« Auffassung von Mathematik und Logik darstellt, welche Husserl dann im ersten Band seiner Logischen Untersuchungen scharf und mit zahlreichen (mindestens 18) 6 Argumenten angreift: die Auffassung nämlich, wonach die Gesetze der Mathematik und Logik von psychologischen Gesetzen des Denkens abhängen, die sich auf notwendige Voraussetzungen oder gar vollkommen kontingente empirische Tatsachen bezüglich des menschlichen Geistes zurückführen lassen. Husserl leistet dieser Auffassung selber Vorschub, wenn er im Vorwort der Logischen Untersuchungen schreibt, es sei dem Verfasser der Philosophie der Arithmetik u. a. um eine »psychologische […] Begründung des Logischen« zu tun gewesen (vgl. Hua XVIII, 6 f.). Das Hauptziel der Philosophie der Arithmetik besteht jedoch in der Klärung arithmetischer Grundbegriffe, und in den Logischen Untersuchungen verfolgt Husserl dann ein ganz ähnliches Ziel hinsichtlich der Grundbegriffe dessen, was er »reine Logik« nennt. Wie wir sogleich sehen werden, wirft Husserl Gottlob Frege in der Philosophie der Arithmetik vor, gewisse arithmetische Grundbegriffe in einer Art und Weise zu definieren, die deren gedanklich-begrifflichem Gehalt unangemessen ist. (Frege, dessen kritische Besprechung der Philosophie der Arithmetik aus dem Jahre 1894 einen der Kausalfaktoren zu bilden scheint, die für Husserls spätere Psychologismus-Kritik verantwortlich sind, 7 war sich der Zielsetzung der Philosophie der ArithVgl. Soldati (1998), 117 f. Soldati bietet eine aufschlussreiche Darstellung und Diskussion der Begriffslehre des frühen Husserl. 7 Vgl. Føllesdal (1958). Vgl. auch Patzig (1958). 6
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metik, Begriffe zu klären, offenbar bewusst, wie sein Brief an Husserl vom 24. Mai 1891 zeigt, in dem er Husserls »Begriffe« sogar mit seinen Prädikat-»Sinnen« gleichsetzt. 8 In seiner späteren Rezension ignoriert er diesen Punkt allerdings.) Im Anschluss an Stumpf lässt sich Husserl in der Philosophie der Arithmetik von der methodischen Strategie leiten, dass sich der Gehalt eines Begriffs am besten dadurch klären lässt, dass man – aus der Perspektive der Ersten Person (»ich«) – seinen psychologischen Ursprung untersucht, also die psychischen Erlebnisse, die im Zuge der Ausbildung des Begriffs bzw. beim Erlernen des Begriffs auftreten würden. 9 Es ist alles andere als klar, wie sich dieser Ansatz zum Psychologismus im eben erläuterten Sinne des Wortes verhält. In der Sekundärliteratur findet sich dazu die Unterscheidung zwischen einem »starken« und einem »schwachen« Psychologismus. Der starke Psychologismus behauptet, dass die Logik ein Zweig der Psychologie ist. Der sog. schwache Psychologismus betrachtet psychologische Forschung hingegen lediglich als ein unentbehrliches Mittel der Begriffsklärung im Bereich der elementaren Logik und Mathematik. 10 Diese letztere Auffassung vertritt der Verfasser der Philosophie der Arithmetik zweifellos. Damit ist aber noch keineswegs entschieden, ob er die Gesetze der Logik in irgendeinem Sinne als von psychologischen Gesetzen abhängig betrachtet. Die Philosophie der Arithmetik ist jedenfalls ein kleines Meisterwerk der Psychologie in der Tradition Brentanos. Beispielsweise antizipiert Husserl unter dem Titel »figurales Moment« einen wichtigen Begriff der Gestaltpsychologie, den Begriff einer Gestaltqualität: 11 Man spricht z. B. von einer Reihe von Soldaten, einem Haufen Äpfel, einer Allee Bäume, einer Kette Hühner, einem Schwarm Vögel, einem Zug Gänse usw. In jedem dieser Beispiele ist die Rede von einer sinnlichen Menge untereinander gleicher Objekte, die ihrer Gattung nach auch benannt sind. Aber nicht dies allein ist ausgedrückt – dazu würde der Plural des Gattungsnamens allein ausreichen –, sondern eine gewisse charakteristische Beschaffenheit der einheitlichen Gesamtanschauung der Menge, die mit einem Blick erfaßt werden kann, und in ihren wohlunterschiedenen Formen den wesentlichsten Vgl. Mohanty (1982), 117 ff. Vgl. Willard (2003), xvi f. 10 Vgl. Mohanty (1982), 20. 11 Vgl. von Ehrenfels (1890). Husserl gelangte zu diesem Begriff unabhängig von von Ehrenfels. 8 9
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Teil der Bedeutung jener den Plural einleitenden Ausdrücke Reihe, Haufen, Allee, Kette, Schwarm, Zug usw. ausmacht. (Hua XII, 203 f.)
Anschauungen, die ein solches figurales Moment besitzen, berechtigen uns, etwas als eine sinnlich-einheitliche Menge oder Gruppe oder Vielheit, oder als einen konkreten Inbegriff, zu klassifizieren. Husserl zufolge erlaubt es uns der Begriff eines figuralen Moments somit, ein epistemisches Problem zu lösen, das eine gewisse Verwandtschaft mit dem später von Wittgenstein diskutierten Problem des Regelfolgens aufweist: Woher wissen wir, daß der Prozeß der Kollektion auch nur um einen Schritt fortsetzbar ist, daß außer dem faktisch Kolligierten noch etwas zu Kolligierendes übrig ist? Woher wissen wir, daß eine »Gesamtkollektion« zu intendieren sei? (Hua XII, 197)
Indem Husserl an dieser Stelle auf den Begriff eines figuralen Moments zurückgreift, der einen deskriptiven Zug unserer alltäglichen Erfahrung von dergleichen wie sinnlichen Mengen, Gruppen oder kollektiven Inbegriffen darstellt, bezieht er diese auch formal zu fassenden Konzepte auf ihre begrifflichen Wurzeln innerhalb dessen zurück, was er später die alltägliche Lebenswelt nennen wird (s. u., Abschnitte 3 und 4). Hier nehmen unsere elementaren formalen Begriffe auch psychologisch ihren Ursprung, und dieser psychologische Ursprung ermöglicht es uns, so der Verfasser der Philosophie der Arithmetik, die fraglichen Begriffe anschaulich zu klären und, damit zusammenhängend, ihre Anwendung in letzter Analyse epistemisch zu rechtfertigen. Dementsprechend betont er wiederholt den engen Zusammenhang zwischen den begrifflichen Gehalten arithmetischen Denkens und Sprechens einerseits und den praktischen Interessen des Alltagslebens andererseits. So kritisiert er Gottlob Freges Definition des Anzahlbegriffs dafür, dass sie diesen Zusammenhang vernachlässigt. Freges Definition orientiert sich an seiner Definition der Richtung einer Geraden a als des Umfangs des Begriffs »parallel der Gerade a«, also als Gesamtheit aller zu a parallelen Geraden; sie lautet: Die Anzahl, welche dem Begriffe F zukommt, ist der Umfang des Begriffes »gleichzahlig dem Begriffe F«. 12
Freges Begriff der Gleichzahligkeit erklärt Husserl wie folgt: 12
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Frege (1961), 79 f.
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Husserl über Begriffe
Der Begriff F wird dem Begriffe G gleichzahlig genannt, wenn die Möglichkeit vorliegt, die unter den einen und unter den anderen Begriff fallenden Gegenstände beiderseits eindeutig zuzuordnen. (Hua XII, 121)
Seine Kritik an Freges Definition lautet, dass das, was diese Methode zu definieren gestattet, […] nicht die Inhalte der Begriffe Richtung, Anzahl [sind,] sondern deren Umfänge. (Hua XII, 122)
Als Definition des begrifflichen Gehalts des Ausdrucks »Anzahl« sei Freges Vorschlag ungeeignet, denn er definiere ihn als den Begriff einer »Gesamtheit von unendlich vielen ›äquivalenten‹ Mengen«, wobei Husserl hier »Menge« wieder als Bezeichnung einer konkret vorfindlichen Gruppe von Gegenständen verwendet. Hiernach bedeutete die Zuschreibung einer bestimmten Zahl an eine solche Menge nichts anderes, als diese Menge »zu einer bestimmten Gruppe untereinander äquivalenter Mengen [zu] klassifizieren; dies ist aber«, so Husserl, »doch gar nicht der Sinn einer Zahlenaussage« (Hua XII, 116): Nennen wir eine Menge vor uns liegender Nüsse darum vier, weil sie einer gewissen Klasse von unendlich vielen Mengen angehört, die sich wechselseitig in eindeutige Korrespondenz setzen lassen? Wohl niemand hätte hierbei jemals solche Gedanken, und kaum fänden wir überhaupt praktische Anlässe, uns für dergleichen zu interessieren. Was uns in Wahrheit interessiert, das ist der Umstand, daß eine Nuß und eine Nuß und eine Nuß und eine Nuß da ist. Diese ungeschickte und umständliche Vorstellung […] gestalten wir sofort für Denken und Sprechen bequemer, indem wir sie unter Vermittlung der allgemeinen Mengenform Eins und Eins und Eins und Eins, welche den Namen Vier hat, denken. (Hua XII, 116)
Husserl betrachtet die anschauliche Erfassung einer Menge von n Objekten als solcher vermittels eines figuralen Moments insgesamt als eine »uneigentliche«, bloß symbolische Vorstellung dieser Gruppe, wobei er in Anschluss an Stumpf davon ausgeht, dass es eine »eigentliche«, anschauliche Vorstellung einer Gruppe von n Objekten als solcher psychologisch nur für n = 12 möglich ist (vgl. Hua XII, 192). Die Distinktion zwischen eigentlichen und uneigentlichen Vorstellungen geht auf Brentano zurück (vgl. Hua XII, 193), und sie spielt auch in den Logischen Untersuchungen und in späteren Arbeiten Husserls eine bedeutsame Rolle. In der Philosophie der Arithmetik schreibt er: Ist uns ein Inhalt nicht direkt gegeben als das, was er ist, sondern nur indirekt, durch Zeichen, die ihn eindeutig charakterisieren, dann haben wir von ihm statt einer eigentlichen eine symbolische Vorstellung. Wir haben z. B. von der A
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äußeren Erscheinung eines Hauses eine eigentliche Vorstellung, wenn wir es wirklich betrachten; eine symbolische Vorstellung, wenn uns jemand die indirekte Charakteristik gibt: das Eckhaus der und der Straßen und Straßenseiten. (Hua XII, 193)
Diese für die Phänomenologie des Bewusstseins im Allgemeinen und eine Husserlsche Konzeption der Begriffe im Besonderen zentrale Konzeption erinnert stark an Bertrand Russells spätere Unterscheidung zwischen »knowledge by acquaintance« vs. »knowledge by description«, welche dem erkenntnistheoretischen Teil seiner berühmten Kennzeichnungstheorie zugrunde liegt. 13 Es ist bemerkenswert, dass Frege, dessen Begriff des Eigennamen-Sinns manchmal mit Russells Kennzeichnungstheorie assoziiert wird, seinen Lesern besonders das Kapitel der Philosophie der Arithmetik empfiehlt, in dem Husserl diese Konzeption präsentiert – allerdings mit der Begründung, es enthalte wertvolle psychologische Einsichten. Deskriptiv-psychologisch, und auch begrifflich, lässt sich das zwischen den Elementen einer sinnlichen Menge obwaltende Verhältnis der kollektiven Einheit auf keine andere Relation zurückführen, insbesondere auch nicht auf ein Verhältnis der Ähnlichkeit unter den Gruppenmitgliedern. (Ganz im Gegenteil: um eine solche Ähnlichkeit festzustellen, muss man die kollektive Einheit bereits voraussetzen.) Zur Rechtfertigung dieser und vieler anderer Thesen beruft sich Husserl auf die von Brentano so genannte »innere Erfahrung«, eine Art Introspektion oder innere Wahrnehmung, die ihrem Gegenstand hochgradig angemessen ist (vgl. Hua XII, 66). Weitere Beispiele bloß symbolischer alias uneigentlicher Vorstellung bieten die Multiplikation und die Potenzierung. Husserl gibt u. a. das folgende Beispiel: Das arithmetische Zeichen »4 3« steht symbolisch für »4 4 4«, dieses wiederum für »(4 4) 4«, letzteres für »(4 + 4 + 4 + 4) + (4 + 4 + 4 + 4) + (4 + 4 + 4 + 4) + (4 + 4 + 4 + 4)«, wobei die Ziffer »4« ihrerseits »1 + 1 + 1 + 1« symbolisch repräsentiert (vgl. Hua XII, 187). So lassen sich arithmetische Begriffe hinsichtlich ihres psychologischen Ursprungs – also der Art und Weise, wie sie gebildet werden – auf einfache Additionen zurückführen, d. h. auf Akte der kolligierenden Zusammenfassung von Einsen zu umfassenderen Summen. Diese Akte liefern die eigentliche Vorstellung einer entsprechenden Menge 13
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Vgl. Russell (1910/11).
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von n Objekten als solcher, also z. B. einer 20-köpfigen Gruppe von Soldaten. Und solche Akte des bewussten Kolligierens rechtfertigen zugleich die Anwendung des betreffenden Anzahlbegriffs. Gleichzeitig dient uns die deskriptiv-psychologische Analyse solcher Akte nun, wie man an dem Beispiel »4 3« sehen kann, zur Veranschaulichung und damit Klärung entsprechender arithmetischer Begriffe. Dabei wird deutlich, wie symbolische Repräsentationen als uneigentliche Surrogate für komplexe arithmetische Operationen fungieren und so unser Denken ökonomischer gestalten. Entsprechendes gilt mutatis mutandis für die Begriffe, die sich auf bestimmte »Zahlen« beziehen, worunter Husserl die »Vielheitsformen« von konkreten Mengen versteht, die eine Anzahl (im Sinne einer Kardinalzahl) von Einheiten enthält, auf die sich die beschriebenen arithmetischen Operationen beziehen. Dank »gewisse[r] Hilfsmittel« lassen sich diese Zahlbegriffe mit Leichtigkeit auf einen umfassenden Bereich von Fällen anwenden. »Diese Hilfsmittel bestehen«, so Husserl, »im Zählen und Rechnen, d. i. in gewissen sozusagen mechanischen Operationen, deren eigentliches Fundament in den elementaren Zahlenrelationen ruht.« 14 Dabei ist zu beachten, dass Husserl die Anzahlen, auf die er auch unter der Bezeichnung »abstrakte Vielheitsformen[en]« Bezug nimmt, als Genera betrachtet, deren Spezies eben die »Zahlen« im Sinne »bestimmte[r] Vielheitsform[en]« bilden, wobei unter »Vielheiten« konkret vorfindliche Gruppen, Mengen oder Inbegriffe von Objekten zu verstehen sind (vgl. Hua XII, 83). So fasst er z. B. die Anzahl Fünf als eine Spezies, einen Typus oder, wie er in der Philosophie der Arithmetik auch sagt, als einen allgemeinen Begriff auf, der sich etwa in der bestimmten Vielheitsform einer Gruppe von 5 Vögeln vereinzelt, d. h.: der individuelle Zug dieser Gruppe, der sie beispielsweise von einer sinnlichen Menge unterscheidet, die aus 6 Vögeln besteht, diese bestimmte Vielheitsform ist ein Einzelfall der Anzahl Fünf. »5 + 5 = 10« bedeutet dann: Eine (irgendeine, welche auch immer) unter den Begriff Fünf fallende Menge und irgendeine andere ergeben vereinigt eine unter den Begriff Zehn fallende Menge. (Hua XII, 181 f.)
Vgl. auch Hua XII, 394, wo Husserl einen Algorithmus als einen »blinden Mechanismus« beschreibt, der uns »logisches Denken« ersetzen und damit ersparen kann.
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Wenn Husserl behauptet, dass deskriptiv-psychologische Analysen in der gerade illustrierten Weise der Begriffsklärung dienen, dann hat er dabei keine traditionelle Begriffsdefinitionen im Sinn, die nicht zirkulär sein dürfen. Für Husserl ist die zirkuläre Erklärung eines Begriffs vollkommen akzeptabel, sofern sie nur Licht auf die Struktur »der Phänomene« wirft, »auf welchen die Abstraktion dieses Begriffes beruht« (Hua XII, 21). Diesem Credo folgt Husserl auch in den Logischen Untersuchungen, deren platonistischer Begriffskonzeption ich mich gleich zuwende. Zuvor möchte ich festhalten, dass die Begriffskonzeption der Philosophie der Arithmetik Fodors Adäquatheitsbedingungen Nr. 1, 2 und 4 offensichtlich erfüllt. Und da Husserl in den Philosophie der Arithmetik stark unter dem Einfluss Brentanos steht, ist es nicht unplausibel anzunehmen, dass er auch Nr. 3 unterschreiben würde (wenn auch vielleicht nicht Fodors externalistische Theorie des intentionalen Gehalts). Denn ein wichtiger Lehrsatz Brentanos (den möglicherweise auch Fodor akzeptiert) lautet, dass alle psychischen Phänomene, also auch propositionale Einstellungen, entweder Vorstellungen sind oder solche zur Grundlage haben; im Falle propositionaler Einstellungen wären das, wie Husserl in der V. Logischen Untersuchung ausführt, in einer wohlwollenden Lesart von Brentanos Lehrsatz (in der er dem Verfasser der Logischen Untersuchungen zufolge gleichwohl falsch ist) nichts anderes als Vorstellungen mit propositionalem Gehalt; wobei »Vorstellungen« psychische Phänomene ohne belief-Charakter bezeichnet, also Erlebnisse, die angeblich sowohl Fragen als auch entsprechenden Urteilsentscheidungen zugrunde liegen. Wenn der Autor der Philosophie der Arithmetik lediglich einen schwachen Psychologismus vertritt, dann spricht zudem einiges dafür, dass er auch Fodors Bedingung Nr. 5 unterschreiben würde. Er schreibt z. B: Versetzen wir uns in die Jugendzeit der Völkerentwicklung. Das häufige Interesse an sinnlichen Mengen gleichartiger Objekte hatte bereits […] zum Begriff der Vielheit geführt, welcher, auf dieser Stufe natürlich viel weniger abstrakt als auf der unsrigen, sich auf Vielheiten gleichartiger und sinnlicher Inhalte beschränkte. (Hua XII, 245)
Der Verfasser der Philosophie der Arithmetik lässt also Begriffswandel zu, unterstellt aber zugleich, dass die Begriffe vergangener Generationen heute noch zugänglich sind, indem man sich in das entsprechende Stadium der Begriffsgeschichte »versetzt«. Er unterschreibt noch eine 96
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weitere These, die mutantis mutandis auch für Begriffe qua Fregesche »Sinne« gilt, nämlich die These von der Determination des Sachbezugs (des Umfangs) durch den Begriff: »Mit dem Begriff ist auch sein Umfang bestimmt« (Hua XII, 168). Dieses Prinzip, das sich auch bei Bernard Bolzano findet (s. u., Abschnitt 2), spielt in Husserls späteren Schriften eine wichtige Rolle, die freilich von Husserl-Interpreten übersehen zu werden pflegt, denen »analytische« Autoren wie Bolzano und Frege fremd sind.
II. Als Mathematiker und Philosoph interessierte sich Husserl naturgemäß für Grundlagenfragen nicht nur der Arithmetik, sondern auch der Logik. Er hatte Bolzanos Wissenschaftslehre (1837) gelesen und konzipiert die Logik nun im Anschluss an Bolzano als allgemeine Wissenschaftslehre; jede Wissenschaft (einschließlich der Mathematik) sei nämlich ein logisch aufgebautes System von »Sätzen«, wie zum Beispiel dem Satz des Pythagoras oder dem Gravitationsgesetz. Worum handelt es sich bei diesen Sätzen? Bolzano fasst sie als abstrakte, also nicht in Raum und Zeit positionierte, kausal impotente Gegenstände auf – eine Ansicht, die Husserl anfangs mysteriös erscheint. Erst durch die Lektüre von Hermann Lotzes Interpretation der Platonischen Ideenlehre im dritten Buch der großen Logik 15 fand Husserl nach eigener Auskunft einen Weg, Bolzanos »Sätze« in einer für ihn befriedigenden Weise zu interpretieren: namentlich als so etwas wie abstrakte Typen (»ideale Spezies« alias »Wesen«), die durch gewisse, psychologischer Reflexion zugängliche Aspekte (»Materiemomente«) von Urteilen und anderen sog. intentionalen Erlebnissen (alias »Akten«) realisiert werden können, aber nicht müssen. Unter einem intentionalen Erlebnis ist dabei ein Zustand des Bewusstseins zu verstehen, der gleichsam ein Thema hat, auf das er (der Wortbedeutung von lat. intendere entsprechend) gerichtet ist. Husserl ist also in einem ganz bestimmten Sinne, der sich so nicht bei Bolzano findet, ein Platonist hinsichtlich der »Sätze«, von denen die Logik als Wissenschaftslehre handelt. Ebenso konzipiert er die nichtsatzartigen Bedeutungseinheiten, aus denen sich diese Sätze zusam15
Lotze (1874). A
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mensetzen, und die bei Bolzano »Vorstellungen an sich« oder »objektive Vorstellungen« heißen, im Sinne seiner Lotze-inspirierten Konzeption idealer Spezies, die sich – im vorliegenden Fälle – in den Materiemomenten »subjektiver Vorstellungen« vereinzeln, sofern sie überhaupt im Bewusstsein realisiert werden. Husserl nennt diese Bedeutungseinheiten in den Logischen Untersuchungen auch Begriffe. 16 Diese platonistische und zugleich deskriptiv-psychologische Konzeption erfüllt zweifellos einige der Adäquatheitheistbedingungen Fodors, inbesondere Nr. 1 und 5, aber auch 2 und eine modifizierte Version von 3. Allerdings setzt Husserl in den Logischen Untersuchungen, anders als Fodor, Begriffe mit nicht-propositionalen intentionalen Gehalten gleich (s. u.). Was die Bedingung Nr. 4 betrifft, so bieten die Logischen Untersuchungen im Unterschied zur Philosophie der Arithmetik keine Ausführungen zum Erwerb von Begriffen. Diesem Platonismus entsprechend bietet der erste Band der Logischen Untersuchungen (wie schon erwähnt) einen Generalangriff auf den logischen Psychologismus, den Husserl später in der einflussreichen Programmschrift Philosophie als strenge Wissenschaft (1911) zu einer Kritik an den damals vielfach vorherrschenden nachkantischen, alles relativierenden Strömungen des »Naturalismus« bzw. »Historismus« ausweitet. 17 In den Logischen Untersuchungen, deren Hauptthema die für die allgemeine Wissenschaftslehre relevanten Bewusstseinsstrukturen bilden, geht Husserl dazu zunächst einmal (angeregt durch John S. Mill) von den sprachlichen Ausdrücken aus, mit denen beispielsweise der Physiker seine Urteile kundgibt. Unter der »Kundgabe« eines Urteils ist dabei eine sprachliche Handlung zu verstehen, in der sich der Sprecher absichtlich als jemand präsentiert, der ein bestimmtes psychisches Urteil fällt; kurz: eine Aussage. Der Gehalt des kundgegebenen Urteils fällt mit der Bedeutung der Aussage zusamAn manchen Stellen gebraucht Husserl das Wort »Begriff« in den Logischen Untersuchungen als allgemeinen Ausdruck für ideale, »generelle« Gegenstände (Spezies, Universalien); vgl. etwa Hua XIX/1, 108. Dies ist auch der Sinn, den Husserl in Erfahrung und Urteil mit dem Wort verbindet; vgl. EU, 396: »Die Möglichkeit der Bildung von Allgemeingegenständlichkeiten, von ›Begriffen‹, reicht […] soweit, als es assoziative Gleichheitssynthesen gibt. Darauf beruht die Universalität der Leistung der Begriffsbildung«. Erfahrung und Urteil enthält instruktive Detailerörterungen zur Begriffsbildung im gerade genannten Sinne (vgl. z. B. die Ausführungen über »Wesenserschauung« durch »freie Variation« in der Phantasie in § 87), aber auch zur Frage des begrifflichen Gehalts der Wahrnehmung raumzeitlicher Gegenstände. 17 Vgl. Hua XXV, 3 ff. 16
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men. Etwas vereinfacht gesagt, vermag jedes intentionale Erlebnis nach Husserl eine solche bedeutungsverleihende Funktion auszuüben, es weist also einen Bedeutungsgehalt auf, der durch Kundgabe des Erlebnisses ausgedrückt werden kann. Der Bedeutungsgehalt existiert, und gilt, sofern er wahr ist, unabhängig vom jeweiligen Sprecher/Denker – ganz, wie der Platonismus es verlangt. In diesem Punkte geht Husserl mit Bolzano d’accord. Auch ansonsten übernimmt er viele Prinzipien der Bolzanoschen Satz- und Vorstellungslehre, insbesondere die folgenden sechs Thesen über Begriffe qua abstrakte Gegenstände und ihre auf »Sätze« (also propositionale Gehalte) bezogenen Gegenstücke: 18 I. Jeder subjektiven Vorstellung liegt eine objektive Vorstellung zugrunde, die darin aufgefasst wird: ihre Materie oder, wie es bei Bolzano heißt, ihr Stoff (vgl. Fodors Adäquatheitsbedingungen Nr. 1 und 5). II. Die Materie einer subjektiven Vorstellung ist verschieden vom Gegenstand bzw. den Gegenständen dieser Vorstellung (vgl. Fodors Adäquatheitsbedingung Nr. 2). III. Die Materie einer subjektiven Vorstellung ist ihr Bedeutungsgehalt (vgl. dagegen Fodors Adäquatheitsbedingung Nr. 3, wo Begriff und intentionaler Gehalt unterschieden werden). IV. Zwei subjektive Vorstellungen sind genau dann einander gleich, wenn sie denselben Bedeutungsgehalt besitzen; Gleichheit der betreffenden Vorstellungen impliziert, dass sie ggf. aus den in ihnen enthaltenen subjektiven Teilvorstellungen auf dieselbe Art und Weise zusammengesetzt sind, derart dass die Materie jeder dieser Teilvorstellungen in entsprechender Weise als Komponente in die gemeinsame Materie der beiden sie enthaltenen Vorstellungen eingeht (vgl. Fodors Adäquatheitsbedingung Nr. 3). V. Der Gegenstand bzw. die Gegenstände einer gegenständlichen (nicht gegenstandlosen) subjektiven Vorstellung sind identisch mit dem Gegenstand bzw. den Gegenständen ihrer Materie (vgl. Fodors Adäquatheitsbedingungen Nr. 1, 2, 5). VI. Die Materie einer subjektiven Vorstellung vermittelt ihren Gegenstandsbezug derart, dass sie ihn eindeutig determiniert, d. h. zwei subjektive Vorstellungen mit derselben Materie können unmöglich verschiedene Gegenstände vorstellen. (Vgl. Fodors Adä18
Für Belegstellen vgl. Beyer (1996), Kap. 2. A
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quatheitsbedingung Nr. 2 und seine Konzeption des intentionalen alias repräsentationalen Gehalts, nicht zu verwechseln mit dem, was er »Gegebenheitsweise« nennt.) An diesen Lehrsätzen orientiert sich Husserl schon 1894 in seinem gegen Twardowskis Brentano-inspirierte Intentionalitätsauffassung gerichteten Traktat über »Intentionale Gegenstände«, in dem es um das »Paradox der [gegenstandlosen] Vorstellungen« geht. Das Paradox besteht darin, dass einerseits (These 1) jede Vorstellung einen Gegenstand vorstellt, andererseits aber (These 2) nicht jede Vorstellung einen Gegenstand hat, den sie vorstellt – es gibt, mit Bolzano zu reden, »gegenstandlose Vorstellungen«, etwa die Vorstellung eines geflügelten Pferdes. Der Repräsentationalismus (Husserl spricht von der »Bildertheorie«) löst dieses Problem dahingehend, dass in These 1 von anderen vorgestellten Gegenständen die Rede ist als in These 2. In These 1 gehe es um »geistige Abbilder« derjenigen Gegenstände, von denen in These 2 die Rede ist; und diese Abbilder oder »Phantasmen« existierten auch dann, wenn die darin abgebildeten Gegenstände (wie bei der bildlichen Darstellung einer griechischen Gottheit) nicht existierten. Ist Fodors eingangs skizzierte »repräsentationalistische« Theorie des Geistes (»RTM«) eine Form des Repräsentationalismus? Fodor zitiert zustimmend Hume: Hume taught that mental states are relations to mental representations, and so too does RTM. 19
Dennoch möchte Fodor offenbar keinen Repräsentationalismus vertreten. Die fraglichen mentalen Repräsentationen enthalten Fodor zufolge Gegebenheitsweisen und haben intentionale Gegenstände (z. B. Wasser). Die jeweilige Gegebenheitsweise (»MOP«) wird im Zuge der mentalen Repräsentation aufgefasst, aber nicht ihrerseits repräsentiert: [E]ntertaining a MOP means using it to present to thought whatever the MOP is a mode of presentation of; it’s thinking with the MOP, not thinking about it. 20
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Fodor (1998), 10. Ebd., 18.
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Die Relation zwischen »mentalem Zustand« und zugrunde liegender mentaler Repräsentation, von der im vorletzten Zitat die Rede ist, lässt Fodor allerdings ziemlich im Dunkeln. Offenbar ist nicht die Relation des Auffassens (entertaining) gemeint, die bei Fodor, wie das vorstehende Zitat belegt, für mentale Repräsentationen und Gegebenheitsweisen als Relata (in dieser Reihenfolge) reserviert ist – wobei die Gegebenheitsweise, wohlgemerkt, nicht den intentionalen Gegenstand der Repräsentation und damit des mentalen Zustandes determiniert; dies besorgt vielmehr der intentionale Gehalt. Husserl erhebt in »Intentionale Gegenstände« im Wesentlichen drei Einwände gegen den Repräsentationalismus. Erstens tue diese Theorie »den Tatsachen« des Bewusstseins, so Husserl, »Gewalt an«: Ich möchte die »geistigen Abbilder« kennenlernen, welche den Begriffen Kunst, Literatur, Wissenschaft u. dgl. einwohnen sollen […]. Ich möchte auch die geistigen Abbilder in absurden Vorstellungen gedachter Gegenstände kennenlernen und wieder diejenigen, welche dem Mathematiker bei der Lektüre einer von komplizierten Formelsystemen erfüllten Abhandlung vorschweben. Wahre Wirbelstürme von Phantasmen müßten sich in seinem Bewußtsein abspielen […]. (Hua XXII, 305)
Zweitens wendet Husserl ein, dass die »Bildertheorie« das Problem der intentionalen Gegenstände, welches sie lösen soll, bloß verschiebt: Sie führt zu einer »Verdoppelung« vorgestellter Gegenstände, derart dass eine nicht-gegenstandlose Vorstellung wie »Berlin« sowohl ein geistiges Abbild eines Gegenstandes als auch den abgebildeten Gegenstand repräsentiert. Er schreibt: Aber wie, ist in dem Sinne der […] scheinbar oder wirklich kontradiktorischen Sätze [des Paradoxons] nicht gelegen, daß jeweils derselbe Gegenstand, der vorgestellt ist, existiert bzw. nicht existiert? Dasselbe Berlin, das ich vorstelle, existiert auch, und dasselbe würde nicht mehr existieren, bräche ein Strafgericht aus wie bei Sodom und Gomorrah. (Hua XXII, 305 f.)
Husserls dritter Einwand lautet, dass die »Bildertheorie« bereits voraussetzt, was eine Theorie der Repräsentation allererst zu leisten hat: Man übersieht, daß der Phantasieinhalt zum repräsentierenden Bild von irgend etwas erst werden muß und daß dieses Über-sich-Hinausweisen des Bildes, welches es zum Bild erst macht, […] ein Plus ist, das wesentlich beachtet werden muß. (Hua XXII, 306)
Was wir benötigen, ist eine durch unausgewiesene theoretische Vormeinungen wie dem Repräsentationalismus unvorbelastete AufkläA
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rung der Intentionalität des Bewusstseins. Wie lässt sich das Paradox der gegenstandlosen Vorstellungen unter dieser Vorgabe auflösen? Die Aussage, dass jede Vorstellung einen Gegenstand vorstellt (These 1), ist Husserl zufolge, wörtlich genommen, falsch. Richtig ist, dass es für jede Vorstellung eine hypothetische Annahme gibt, für die gilt: Wäre diese Annahme gültig, dann hätte die Vorstellung einen Gegenstand. Beispiel: Wäre das im griechischen Mythos Erzählte wahr, dann hätte die Vorstellung »Zeus« einen Gegenstand. So denken wir, bei Lichte besehen, über Nichtexistentes. Dementsprechend betont Husserl in den Logischen Untersuchungen, daß der intentionale Gegenstand der Vorstellung derselbe ist wie ihr wirklicher und gegebenenfalls ihr äußerer Gegenstand und daß es widersinnig ist, zwischen beiden zu unterscheiden. (Hua XIX/1, 439 f.)
An dieser realistischen Auffassung intentionaler Gegenstände hat Husserl stets festgehalten – aber nicht in naiv-unkritischer Weise, sondern in dem Bemühen, sie phänomenologisch zu begründen (s. u., Abschnitt 3). Auf mehreren für die Theorie der Begriffe relevanten Gebieten vollbringt Husserl in den Logischen Untersuchungen bedeutsame Pioniertaten. Er entwickelt z. B. eine Formenlehre der Bedeutungen (auch: reinlogische Grammatik bzw. Syntax), die der Logik sinnvolle Bedeutungseinheiten zur näheren Untersuchung bereitstellen soll. Er skizziert die Grundzüge einer Mereologie (Lehre von den Ganzen und den Teilen), deren zentraler Begriff, genannt Fundierung (worunter so etwas wie wesensgesetzliche Existenzabhängigkeit zu verstehen ist), in der Phänomenologie allerorten Anwendung findet. So z. B. bei der Analyse des »deskriptiven Inhalts« eines intentionalen Erlebnisses, in dem Husserl »Qualität und Materie« – gemeint sind die Einzelfälle entsprechender Ideen – »als zwei einander wechselseitig fordernde Momente« unterscheidet (vgl. Hua XIX/1, 431): Die Qualität bestimmt nur, ob das in bestimmter Weise bereits »vorstellig Gemachte« als Erwünschtes, Erfragtes, urteilsmäßig Gesetztes u. dgl. intentional gegenwärtig sei. Danach muß uns die Materie als dasjenige im Akte gelten, was ihm allererst die Beziehung auf ein Gegenständliches verleiht, und zwar diese Beziehung in so vollkommener Bestimmtheit, daß durch die Materie nicht nur das Gegenständliche überhaupt, welches der Akt meint, sondern auch die Weise, in welcher er es meint, fest bestimmt ist. Die Materie […] ist gewissermaßen der die Qualität fundierende (aber gegen deren Unter-
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schiede gleichgültige) Sinn der gegenständlichen Auffassung (oder kurzweg der Auffassungssinn). Gleiche Materien können niemals eine verschiedene gegenständliche Beziehung geben; wohl aber können verschiedene Materien gleiche gegenständliche Beziehung geben. Letzteres zeigen die obigen Beispiele [sc. das gleichseitige Dreieck vs. das gleichwinklige Dreieck und eine Länge von a + b vs. eine Länge von b + a Einheiten; CB] […]. (Hua XIX/1, 429 f.)
Eine weitere Pionierleistung der Logischen Untersuchungen ist die Entwicklung einer Semantik der »wesentlich okkasionellen«, d. h. in ihrem Gegenstandsbezug systematisch vom jeweiligen Äußerungskontext abhängigen, sprachlichen Ausdrücke. Dabei unterscheidet Husserl, wie in der formalen Semantik analytischer Provenienz heutzutage üblich, zwischen der »allgemeinen Bedeutungsfunktion« (der »usuellen« sprachlichen Bedeutung) eines Ausdrucks einerseits und seiner im betreffenden Äußerungskontext ausgedrückten »jeweiligen Bedeutung« andererseits. Bei Aussagen bildet ein unabhängig vom Äußerungskontext wahrer oder falscher »Satz an sich« im Sinne Bolzanos die jeweilige Bedeutung. Husserl setzt diese Bedeutung daher mit der idealen Materie des kundgegebenen Urteils gleich. Im Phänomen der wesentlichen Okkasionalität bekundet sich für Husserl ein Grundtatbestand unseres Bewusstseinslebens: die Ich-Zentriertheit der, in letzter Analyse auf den eigenen Leib als »Zentralglied der dinglichen Umgebungsauffassung« (Hua XIV, 114) bezogenen, Begriffe, mit deren Hilfe wir uns gemeinhin orientieren (»ich«, »jetzt«, »gestern«, »links«, »oben«, »dort drüben«, »dies da« usw.). Diese Egozentrizität ist einer der Gründe, weshalb Husserl in der Krisis sagen wird, alles in der alltäglichen Lebenswelt und alle darauf bezogenen wahren Sätze (die »alltäglichen Situationswahrheiten«) seien »subjektiv-relativ« (s. u., Abschnitt 4). Immer wieder analysiert Husserl die bewusste Wahrnehmung von Gegenständen der Außenwelt. An ihr lässt sich ablesen, dass der im Bewusstsein jeweils repräsentierte Weltausschnitt eben dieses Bewusstsein in der Regel »transzendiert«, und zwar in zweifachem Sinne. Erstens ist er kein »immanenter« (im Erlebnisstrom fließender) Teil des Bewusstseins, sondern außerhalb desselben zu verorten. Zweitens fällt stets nur eine Seite des wahrgenommenen Objekts in die gegenwärtige Anschauung, der Rest wird stillschweigend hinzugedacht und ist Gegenstand entsprechender, mehr oder weniger dunkler Erwartungen (Antizipationen) bezüglich des künftigen Erfahrungsverlaufs, die sich aus der Materie der gegenwärtigen Wahrnehmung ergeben. In den A
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Ideen spricht Husserl diesbezüglich von einem – prinzipiell unabgeschlossenen, durch die Materie vorgezeichneten – »Erwartungshorizont« und entwickelt eine Konzeption von Begriffen als »mentalen Dateien« (John Perry) 21, die nur wenige von Fodors Adäquatheitsbedingungen erfüllt, am ehesten wohl Nr. 1 und 2. Das heißt allerdings nicht, dass er die Bedeutungslehre der Logischen Untersuchungen nunmehr komplett aufgegeben hätte; vielmehr verwendet er das Wort »Begriff« nun manchmal in einem anderen Sinne, nämlich zur Bezeichnung kontextuell variabler mentaler Dateien.
III. Die für Husserls Denken zentrale Idee der gegenständlichen Transzendenz im zweiten Sinne findet sich bereits in den Logischen Untersuchungen. Um 1906 herum kommt Husserl jedoch zu dem Ergebnis, dass der deskriptiv-psychologische Ansatz der Logischen Untersuchungen aufgrund seiner einseitigen Orientierung an der »immanenten« Seite der Korrelation Bewusstsein-Gegenstand den Unterschied zwischen diesem Transzendenzgedanken und dem der »Transzendenz« im schieren Gegensatz zur bewusstseinsmäßigen »Immanenz« unzureichend reflektiert. Der letztere Begriff ist philosophisch eher naiv – er trägt nichts zur Begründung unseres Weltverständnisses bei, sondern ist als integraler Bestandteil desselben selber begründungsbedürftig. Um sich ganz auf den philosophisch substantiellen Transzendenzbegriff konzentrieren zu können, entschließt sich Husserl, seine deskriptiven Analysen fortan primär am intentionalen Gegenstand zu orientieren. Husserl will durch möglichst getreue Beschreibung des – soweit wie möglich – authentisch (eigentlich, anschaulich) gegebenen Gegenstandes im Rahmen einer vorurteilslosen Begründung des im Erwartungshorizont jeweils Hinzugedachten Aufschluss über zweierlei gewinnen: zum einen über die bewusstseinsmäßige »Konstitution« transzendenter Gegenstände, zum anderen über die diese Einzeldinge laut (»äußerem«) Erwartungshorizont umfassende Welt. Die den Gegenständen korrelierten Bewusstseinsstrukturen (die »noetischen« Strukturen) zeigen sich daran, wie sich die Gegenstände in einem solchen radikalen Begründungskontext beschreiben lassen. Diese Blick21
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Vgl. Perry (1980).
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wendung markiert die so genannte transzendentale Wende des Husserlschen Denkens. Der intentionale Gehalt von Bewusstsein bleibt dabei Thema der, nunmehr als »transzendental« bezeichneten, Phänomenologie. Aber dank der Orientierung am Gegenstand und seiner Transzendenz im zweiten Sinne weicht die statische Betrachtung des Gehalts als eines abstrakten deskriptiv-psychologischen Typs isolierter, innerlich erfahrener Bewusstseinsmomente einer eher dynamischen Betrachtungsweise unter dem (so Husserl) »funktionellen« Gesichtspunkt, welche rationalen Strukturen und wesentlichen Eigenschaften des Bewusstseins es uns ermöglichen, einen intentionalen Gegenstand zeit- und perspektivenübergreifend »im Sinn« zu behalten (vgl. Hua III/1, 196 f.) Husserl spricht in diesem Zusammenhang von der temporalen »Horizontstruktur« des Bewusstseins und stellt fest, dass Intentionalität stets »Horizontintentionalität« ist. Intentionales Erleben hat einen Vergangenheitshorizont – es fällt nicht vom Himmel. Es hat einen Erwartungs- oder Zukunftshorizont – es sorgt automatisch dafür, dass ich zukünftige Erlebnisse antizipiere. Einige dieser vergangenen und zukünftigen Erlebnisse bestimmen meinen »Begriff« eines einzelnen Gegenstandes, meine diesbezügliche mentale Datei, die ich im Laufe der Zeit immer wieder aktualisiere: Ich sehe einen Gegenstand ohne einen »historischen« Horizont [Fn.: ohne Bekanntheitshorizont und Wissenshorizont], und nun bekommt er ihn. Ich habe den Gegenstand vielfältig erfahren, »vielfältige« Urteile habe ich über ihn gefällt, vielfältige Kenntnis von ihm in verschiedenen Zeiten gewonnen und habe sie verknüpft. Nun habe ich durch diese Verknüpfung einen »Begriff« von dem Gegenstand, einen Eigenbegriff […]. [D]as in [der Erinnerung] mit einem gewissen Sinn Gesetzte erfährt eine erkenntnismäßige Sinnbereicherung, das heißt, das x des Sinnes bestimmt sich näher erfahrungsmäßig. (Hua XX/2, 358)
Husserl ergänzt das zukunftsbezogene Konzept des Erwartungshorizonts also um den Begriff des Bekanntheits- und Wissenshorizonts, in dem sich die vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen des Subjekts niederschlagen. Dieser »historische« Horizont und die Gegenstände der genannten Antizipationen bilden den »Innenhorizont« des Erlebnisses. All diese Erlebnisse gehören zum selben »x des Sinnes«. Andere vergangene und antizipierte Erlebnisse sorgen dafür, dass mein »›Begriff‹ von dem Gegenstand« des Erlebnisses mit anderen Gegenstandsbegriffen vernetzt ist. Sie bilden den »Außenhorizont« des ErA
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lebnisses, meinen gegenwärtigen Welthorizont. So bin ich als bewusstes Subjekt je schon in einer Welt, die mir intentional vorgegeben ist bzw. die ich, mein gegenwärtiges Bewusstsein transzendierend, antizipiere, wenn auch in vielfach unbestimmter Weise. Dem »x des Sinnes«, auch bestimmbares X genannt, das die entsprechende übergreifende Horizontstruktur zusammenhält, entspricht auf der Bewusstseinsseite die, durch Identitätsurteile aktualisierbare, Überzeugung, dass der Gegenstand der in diese Struktur einfließenden Erfahrungen durchgängig derselbe ist. Das bestimmbare X bildet das zentrale Moment des intentionale Gehalts eines (mit einem singulären Ausdruck kundzugebenen) Erlebnisses – seines »noematischen Sinns«, den Husserl mit der jeweiligen Bedeutung (einer sprachlichen Kundgabe) des Erlebnisses identifiziert, also mit seiner Materie (vgl. Hua XX/1, 74–78). Der Begriff des bestimmbaren X bindet den so verstandenen noematischen Sinn an einen »Eigenbegriff« und damit an eine zeitübergreifende Horizontstruktur an, in der sich ein Gegenstand im Bewusstsein erfahrungsmäßig »konstituiert«. In diesem Sinne bestimmt der transzendente Gegenstand, also ein Element der äußeren Umgebung, wiederum die Bedeutung (den noematischen Sinn) mit, so dass Husserls Position als eine frühe Version des Externalismus bezüglich semantischer und intentionaler Gehalte gelten kann. Tatsächlich skizziert er bereits im Jahre 1911 eine Variante des Gedankenexperiments, mit dem Hilary Putnam mehr als 60 Jahre später viele von der Wahrheit des Externalismus überzeugen sollte: Wie aber, wenn auf zwei Himmelskörpern zwei Menschen in völlig gleicher Umgebungs-erscheinung »dieselben« Gegenstände vorstellen und danach »dieselben« Aussagen orientieren? Hat das »dies« in beiden Fällen nicht eine verschiedene Bedeutung? (Hua XXVI, 211 f.)
Aber mit welchem Recht und in welchem Sinne ist diese Welt, die sich in meinem Erlebnishorizont befindet, als objektive Realität auffassbar, wie der Externalismus unterstellt? Husserl sucht nach einer vorurteilslosen, aus eigener Anschauung gewonnenen Begründung dieser für die »natürliche Einstellung« des alltäglichen Lebens charakteristischen Existenzannahme. Um eine solche Begründung, die »phänomenologische Reduktion«, zu gewährleisten, verzichtet er darauf, die »Generalthesis der natürlichen Einstellung« für seine Zwecke in Anspruch zu nehmen, also die Grundannahme, wonach wir uns je schon mit einer 106
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objektiven Wirklichkeit konfrontiert sehen und uns zugleich selbst als Teil dieser Wirklichkeit begreifen. Als Phänomenologe übt er diesem naiven »Weltglauben« gegenüber Epoché, klammert ihn gewissermaßen ein, ohne ihn wirklich aufzugeben. Dem authentischen Gegenstandsbewusstsein wird dadurch zunächst einmal nichts Wesentliches abgezwackt. Das zeigt Husserl zufolge der Umstand, dass sich eine erfolgreich auf einen Gegenstand der Außenwelt gerichtete Wahrnehmung und eine bloße Halluzination aus der – phänomenologisch allein relevanten – Perspektive der Ersten Person zum Wahrnehmungszeitpunkt nicht voneinander unterscheiden lassen (vgl. Hua III/1, 204 f.). Auf der Grundlage desselben sinnlichen Empfindungsmaterials – Husserl bezeichnet es mit dem aristotelischen Namen »Hyle« – wird beiderseits ein »Eigenbegriff« und infolgedessen eine übergreifende Horizontstruktur aktiviert. In beiden Fällen legt sich das Subjekt gedanklich auf die Existenz eines unter ganz bestimmten Aspekten wahrgenommenen Objekts der Außenwelt fest – der »thetische Charakter« (»Wahrnehmung«), d. h. der Aspekt der Qualität, ist ebenso derselbe wie die allgemeine Bedeutungsfunktion (»dieser so-und-so«). Die genannte Existenzvoraussetzung ist Teil des zu beschreibenden Phänomens; ob sie tatsächlich zutrifft oder nicht, macht zum Wahrnehmungszeitpunkt phänomenologisch gesehen keinen Unterschied.
IV. Dem nahe liegenden Vorwurf des Solipsismus versucht Husserl in der fünften seiner Cartesianischen Meditationen wie folgt zu begegnen. Er wählt zunächst den solipsistischen Begriff eines »Anderen«, eines alter ego, als Ausgangspunkt. Als Bewusstseinssubjekt ist mir der Andere, ähnlich wie zum Beispiel die Rückseite eines frontal (als Haus) wahrgenommenen Hauses, »appräsentativ« gegeben. Um ihn so aufzufassen, muss ich mit anderen Worten keine induktive oder sonstige Schlussfolgerung (etwa einen Analogieschluss) ziehen; und doch ist mir sein Bewusstsein nicht wahrnehmungsmäßig oder introspektiv gegeben, vielmehr assoziiere ich den wahrgenommenen Körper des Anderen automatisch mit dem Bewusstsein, das ich mit meinem eigenen Leib, den ich gleichsam von innen kenne, verbinde. Meine diesbezüglichen Antizipationen lassen sich dadurch verständlich machen, dass A
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ich mir durch bewusste Einfühlung anschaulich vor Augen führe, dass der Andere, genau wie ich, eine um den eigenen Leib zentrierte Perspektive auf seine Umgebung einnimmt. Nun könnte ich mich aber unmöglich derart in den Anderen einfühlen, wenn mein Welthorizont nicht wenigstens teilweise dieselben Gegenstände involvierte wie der des Anderen: Es ist der Einfühlung als Bewusstseinstatsache wesentlich, dass der Körper des Anderen darin analog dem eigenen Leibe »appräsentativ« aufgefasst ist als Orientierungszentrum mit weitgehend denselben Möglichkeiten des Wahrnehmungsbewusstseins, wie ich sie hätte, wenn ich die Perspektive des Anderen einnähme (vgl. Hua I, 150 ff.). Ich benötige also einen intersubjektiven, auf die Erfahrungen verschiedener Bewusstseinssubjekte zugeschnittenen Gegenstandsbegriff. So gewinne ich eine einsichtige Begründung für die Annahme einer unabhängig von meiner subjektiven Perspektive und meinem Bewusstsein existierenden raumzeitlichen Wirklichkeit. Das bedeutet nun aber Husserl zufolge nicht, dass die Elemente dieser Wirklichkeit vollkommen subjektunabhängig sind. Eine weitere Wesensbedingung intersubjektiver Erfahrung (Einfühlung) besteht nämlich seines Erachtens darin, dass ich die Welt im Großen und Ganzen im selben Stile strukturiere wie die anderen: Wir teilen eine gemeinsame Lebenswelt, die sich in allgemein anerkannten »Wahrheiten« manifestiert, welche unserer Erfahrungswelt ihr spezifisches Gepräge geben. In dem noch in Husserls Göttinger Zeit begonnenen zweiten Band der Ideen bezeichnet er diese Lebenswelt (genauer: die eines »Verkehrskreises«) als kommunikative Umwelt und untersucht deren intersubjektive »Konstitution«, also die zugrundeliegenden intersubjektiven Bewusstseins- und Begründungsstrukturen: Zunächst ist die Welt einem Kerne nach sinnlich erscheinende und als »vorhanden« charakterisierte Welt […]. Auf diese Erfahrungswelt findet das Ich sich in neuen Akten bezogen, z. B. in wertenden Akten, in Akten des Gefallens und Mißfallens. In ihnen ist der Gegenstand als werter, als angenehmer, schöner usw. bewußt … [Im Falle] begehrender und praktischer Akte [reizen] die erfahrenen Gegenstände als Gegenstände dieses Erfahrungssinnes […] mein Begehren, oder sie erfüllen Bedürfnisse, etwa [in Beziehung] auf das sich öfter wieder regende Nahrungsbedürfnis. Sie werden nachher auffaßbar als zur Befriedigung solcher Bedürfnisse gemäß der oder jener Eigenschaft dienlich, sie stehen dann auffassungsmäßig da als Nahrungsmittel, als Nutzobjekte irgendwelcher Art: Heizmaterialien, Hacken, Hämmer usw. Kohle
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z. B. sehe ich als Heizmaterial; ich erkenne es und erkenne es als dienlich und dienend zum Heizen, als dazu geeignet und dazu bestimmt Wärme zu erzeugen […] Ich kann [den brennbaren Gegenstand] als Brennmaterial benutzen, […] er ist mir wert mit Beziehung darauf, daß ich Erwärmung eines Raumes und dadurch angenehme Wärmeempfindungen für mich und andere erzeugen kann. Unter diesem Gesichtspunkt fasse ich ihn auf: ich »kann ihn dazu benützen«, er ist mir dazu Nützliches; auch andere fassen ihn so auf, und er erhält einen intersubjektiven Nutzwert, ist im sozialen Verbande geschätzt und schätzenswert als so Dienliches, als den Menschen Nützliches usw. So wird er nun unmittelbar »angesehen« […]. (Hua IV, 186 f.)
Am Ende des Zitats skizziert Husserl, wie das Bewusstsein intersubjektiver Übereinstimmung in Form geteilter emotionaler Wertungen zur Erweiterung der persönlichen, schon als objektiv vorhanden konstituierten Umwelt eines Einzelsubjekts beiträgt, so zwar, dass diese Umwelt nun den Sinn einer sozial geprägten Umgebung annimmt, die mit Objekten ausgestattet ist, denen intersubjektiv geteilte Werte zukommen – im vorliegenden Falle: gemeinsame Gebrauchs- oder Nutzwerte. Diese Werte bestimmen die »geistige Bedeutung« der fraglichen Objekte, der diese ihre Mitgliedschaft in der »geistigen Welt« verdanken, welche nach Dilthey die Domäne der Geisteswissenschaften bildet. Husserl behauptet, dass die soziale Umwelt, die geistige Welt, strukturell von Personen abhängt, die in der Lage sind, miteinander zu »kommunizieren«, d. h. dadurch aufeinander »motivierende Kraft« zu üben, dass sie »Akte in der Absicht [vollziehen], von ihrem Gegenüber verstanden zu werden und es in seinem verstehenden Erfassen dieser Akte (als in solcher Absicht geäußerter) zu gewissen persönlichen Verhaltungsweisen zu bestimmen« (Hua IV, 192 f.). Husserl bezeichnet solche sprachlichen Handlungen, mit einem Terminus seines Schülers Adolf Reinach, auch als soziale Akte (vgl. Hua IV, 192). Gelingt ein derartiger Akt, dann bilden sich, so Husserl, intersubjektive »Beziehungen des Einverständnisses«: [A]uf die Rede folgt Antwort, auf die theoretische, wertende, praktische Zumutung, die der Eine dem Anderen macht, folgt die gleichsam antwortende Rückwendung, die Zustimmung (das Einverstanden) oder Ablehnung (das Nicht-einverstanden), ev. ein Gegenvorschlag usw. In diesen Beziehungen des Einverständnisses ist eine bewußtseinsmäßige Wechselbeziehung der Personen und zugleich eine einheitliche Beziehung derselben zur gemeinsamen Umwelt hergestellt […]. Die sich im Einverständnis konstituierende Umwelt bezeichnen wir als kommunikative. (Hua IV, 192 f.)
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Die Welt, in der wir im Modus der Intentionalität leben, die Umwelt oder Lebenswelt, besitzt jedoch nach Husserl auch eine vorkommunikative Dimension, eine, die sich nicht erst in sozialen Akten konstituiert. Die Lebenswelt existiert mit anderen Worten einem wesentlichen Kern nach kulturübergreifend. Einzelne Kulturen oder Sprachgemeinschaften (»Verkehrskreise«) bilden »Heimwelten«, denen »Fremdwelten«, fremde Heimwelten, gegenüberstehen. Es gibt jedoch eine »allgemeine Struktur«, die sämtlichen Heimwelten a priori zugrunde liegt und dergleichen wie interkulturelles Verstehen möglich macht. Diese universale lebensweltliche Struktur bezeichnet dasjenige, »worin normale Europäer, normale Hindus, Chinesen usw. bei aller Relativität doch zusammenstimmen«, wie Husserl in seinem letzten Werk – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) – schreibt. Zu dieser Struktur gehören laut Husserl zum Beispiel die »allgemeinsamen« Begriffe »Körper« und »Kausalität« sowie die »Weltform Raumzeitlichkeit« (vgl. Hua VI, 142). Diese Begriffe bestimmen die allgemeine Struktur sämtlicher Gegenstandsbegriffe, die intentionale Bewusstseinssubjekte unter verschiedenen umweltlichen Bedingungen auszubilden bzw. zu erfassen im Stande sind. »Lebenswelt« bezeichnet für Husserl nicht zuletzt die Art und Weise, wie die Angehörigen einer oder mehrerer Kulturgemeinschaften die Welt in ihren alltäglichen, subjektiv-perspektivischen Erfahrungen von vornherein strukturieren, also begrifflich einteilen (vgl. etwa Hua VI, 135, 141). Der Zusammenhang mit der Begriffsthematik ist somit denkbar eng. Die jeweilige Lebenswelt zeichnet nach Husserl einen »Welthorizont« möglicher Erfahrungsverläufe vor (vgl. etwa Hua VI, 141). Man kann sich unter diesen »möglichen Erfahrungsverläufen« die Gesamtheit der möglichen zukünftigen Sachverhalte vorstellen, die für das jeweilige Erfahrungssubjekt zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Nachbarschaft der wirklichen Welt liegen, die also aus seiner Sicht – so, wie seine gegenwärtigen (und vergangenen) Erfahrungen beschaffen sind – mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit eintreten können. Der entsprechende, lebensweltlich bedingte Welthorizont kann von Kulturkreis zu Kulturkreis mehr oder weniger variieren (vgl. Hua VI, 141 f.; s. u.). Es ist hilfreich, Husserls Lebensweltkonzeption mit Wittgensteins Konzeption des »Hintergrundes« zu vergleichen. Diese Konzeption bezieht sich auf das »Weltbild« eines Subjekts, auf die Gesamtheit der 110
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Kriterien, mit deren Hilfe das Subjekt letztlich »zwischen wahr und falsch unterscheide[t]«. 22 Einige Überzeugungen haben laut Wittgenstein das Eigentümliche, dass wir sie nicht sinnvoll bezweifeln können, da unser Weltbild uns keine Gründe zum Zweifeln an die Hand gibt. 23 Wittgensteins Beispiel für eine solche Überzeugung 24 (S1) Ich habe mein ganzes Leben in geringer Entfernung von der Erde verbracht gehört in dieselbe Beispielklasse wie die (dispositionalen) Überzeugungen (S2) und (S3): (S2) Wenn man einen Raum durch die Tür verlässt, wird sich dahinter kein tiefes Loch auftun. (S3) Niemand kann durch die Wand gehen. Solche normalerweise nicht thematisierten »Erfahrungssätze« beschreiben Wittgenstein zufolge Aspekte unseres Weltbildes, »ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln«. 25 Das Spiel, welches Sie regeln, ist das der Rechtfertigung von Wissensansprüchen, die sinnvoll bezweifelbar sind. Sie gehören also zu den Kriterien der Rechtfertigung: Wer gegen diese Spielregeln (etwa (S3)) verstößt – sie außer Kraft setzt –, indem er an einer bestimmten unpassenden Meinung festhält (etwa der Meinung, er sei ein körperloses Gespenst), gilt dem bestehenden Weltbild zufolge zunächst einmal als in dieser Meinung ungerechtfertigt; diesen Zustand kann er nur dadurch beheben, dass er neue, passende Spielregeln etabliert, sie also im Lichte der verbleibenden Spielregeln – Wittgenstein spricht hier auch von »erstarrten Erfahrungssätzen« 26 – als vernünftiger denn die außer Kraft gesetzte(n) Spielregel(n) ausweist. In solchen Situationen geraten die Dinge in Fluss; ein alten epistemisches Weltbild wird durch ein neues, dem alten gegenüber mehr oder weniger stark modifiziertes, ersetzt (hier durch ein Weltbild, in dem dank der Negation von (S3) Raum für Gespenster Vgl. Wittgenstein (1984), § 94. Ebd., § 93. 24 Wittgenstein findet dieses Wort im vorliegenden Zusammenhang unpassend; vgl. ebd., § 94. 25 Wittgenstein (1984), § 95. 26 Ebd., § 96. 22 23
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ist). Aus »flüssigen Erfahrungssätzen« (wie der durch neue Erfahrungen 27 vor dem Hintergrund fixiert gehaltener Spielregeln motivierte Negation von (S3)) werden dann erneut starre Spielregeln, an denen sich zunächst einmal die Rechtfertigung neuer Wissensansprüche bemisst. Man beachte, dass neu etablierte Erfahrungssätze – etwa die Negation von (S3) – die bisherige Lebenswelt und damit (nach dem Gesagten) unser Begriffssystem zu verändern vermögen. Beispielsweise wird der bisherige Begriff eines Menschen, der keine Gespenster umfasst, durch einen Nachfolgebegriff ersetzt, wenn wir aufgrund der Negation von (S3) und ähnlicher Änderungen der Spielregeln auch Gespenster als »Menschen« anzusprechen bereit sind. Komplementär dazu weist Husserl darauf hin, daß der lebensweltliche »Horizont« zu einem gegebenen Zeitpunkt von Kultur zu Kultur variieren kann: Wir haben einen Welthorizont als Horizont möglicher Dingerfahrung […]; aber alles ist da subjektiv-relativ, obschon wir normalerweise in unserer Erfahrung und in dem sozialen Kreis, der mit uns in Lebensgemeinschaft verbunden, zu »sicheren« Tatsachen kommen […]. Aber wenn wir in einen fremden Verkehrskreis verschlagen werden, […] zu chinesischen Bauern usw., dann stoßen wir darauf, daß ihre Wahrheiten, die für sie feststehenden, allgemein bewährten und zu bewährenden Tatsachen, keineswegs die unseren sind. (Hua VI, 141)
Ändern sich die »feststehenden Wahrheiten«, die »starren Erfahrungssätze«, so erscheint die Welt aufgrund des damit einhergehenden Begriffswandels anders strukturiert als bisher; und die alltägliche Erfahrungswelt ist dann anders strukturiert. Diese Sicht auf Begriffe ist, denke ich, kompatibel mit Fodors Bedingungen 2, 4 und wohl auch 5 (je nachdem, was man unter Begriffen qua Typ versteht); wahrscheinlich auch mit den übrigen Bedingungen. Der späte Husserl nähert sich damit wieder der Begriffskonzeption aus der Philosophie der Arithmetik an, die für den Vergleich mit neueren Ansätzen besonders interessant sein dürfte. 28
Vgl. ebd., §§ 364, 368. Für Anmerkungen, die zur Verbesserung des Beitrags geführt haben, danke ich Christopher Erhard.
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Husserl über Begriffe
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I.
Einleitung
Das Verhältnis zwischen Husserls Phänomenologie, der Philosophie des Geistes und den Kognitionswissenschaften kann man mit Fug und Recht als ein gespaltenes bezeichnen. Einer nun schon mehrjährigen fruchtbaren Kommunikation zwischen Phänomenologie und Neurowissenschaften steht eine scharfe Ablehnung der phänomenologischen Methode in manchen Teilen der Philosophie des Geistes ebenso wie weitgehende Unkenntnis ihres Forschungsprogramms in den Kognitions- und Neurowissenschaften gegenüber. Beginnen wir mit dem Positiven. In den letzten zehn Jahren hat die Phänomenologie als Erklärungsmuster kognitiver Prozesse zunehmend an Einfluss gewonnen. Davon zeugen nicht zuletzt zahlreiche Beiträge in Zeitschriften wie Phenomenology and the Cognitive Sciences und Journal of Consciousness Studies. Francisco Varela hat sogar eine ganze Abteilung innerhalb der Philosophie des Geistes, und im weiteren Sinne auch der Kognitionswissenschaften, unter den Titel »Phänomenologie« gestellt. 1 Zu dieser zählt er nicht nur die phänomenologischen »Schulen« im engeren Sinne, sondern alle theoretischen Ansätze, in denen »die Perspektive der ersten Person« eine systematische Rolle spielt. Sein sog. »enactive approach« 2 führt darüber hinaus Bewusstsein nicht als Eigenschaft eines isolierten Gehirns, sondern einer in ihrer jeweiligen Umwelt handelnden Person ein, und greift dabei auch auf Husserls Idee einer genetischen Konstitution vor dem »Horizont« einer Lebenswelt zurück. Die gelungene Integration von Kognitionswissenschaft und Phänomenologie, die nicht zuletzt aus diesem Ansatz entsprang, hat meh1 2
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Vgl. Varela (1996). Vgl. Noë (2004); Varela/Thompson/Rosch (1991).
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Husserl und die Kognitionswissenschaften
rere Aspekte. Zum einen gibt es eine ganze Reihe von Wissenschaftlern und Philosophen, die explizit die Phänomenologie in den Kognitionswissenschaften anzuwenden versuchen, indem sie z. B. ihren Untersuchungen am Gehirn phänomenologische Analysen vorschalten oder Experimente nach phänomenologischen Kriterien konzipieren. 3 Zum zweiten gibt es philosophische oder kognitionswissenschaftliche Untersuchungen, Entdeckungen oder Experimente, die sich zwanglos mit Hilfe der Phänomenologie erklären lassen, obwohl sie ganz ohne Bezug dazu durchgeführt wurden. So findet sich Husserls Idee der Protention, der zeitlichen Vorwegnahme von Wahrnehmungen, in Untersuchungen zum sog. »repräsentationalen Momentum« wieder, der Beobachtung, dass in der Wahrnehmung eine Bewegung über ihr Ende hinaus fortgesetzt wird. 4 Ein anderes Beispiel ist Antonio Damasios Theorie der Gefühle, 5 die man zwar nicht mit Husserl, aber mit Heideggers Theorie der Stimmungen verglichen hat. 6 Und schließlich wurde versucht, phänomenologische Beschreibungen mit kognitions- oder neurowissenschaftlichen Methoden zu testen. Varela selbst versuchte, Husserls Analyse des inneren Zeitbewusstseins über temporale Beobachtungen am Gehirn zu bestätigen. 7 Diese wenigen Andeutungen sollen hier genügen, um zu zeigen, dass sich mittlerweile eine wissenschaftlich ertragreiche Kommunikation zwischen Phänomenologie und Kognitionswissenschaften entwickelt hat. Dieser fruchtbaren Entwicklung steht jedoch eine ganz andere, von Missverständnissen und Ablehnung geprägte Beziehung gegenüber. Als Paul Thagard vor zwölf Jahren eine Einführung in die Kognitionswissenschaften veröffentlichte, die bis heute als Lehrbuch verwendet wird, erwähnte er Husserl oder die Phänomenologie nicht. Thomas Metzinger erklärte wiederholt die Phänomenologie für bankrott, ähnlich äußerte sich John Searle. 8 Die Philosophie des Geistes, die sich in der »analytischen« Tradition sieht, hat nach wie vor kaum Zugang zum phänomenologischen Denken gefunden. Für ein Beispiel siehe Lutz (2002). Das hier vereinfacht wiedergegebene Beispiel stammt aus dem kritischen Aufsatz von Grush (2006), 446. Vgl. Thornton/Hubbard (2002). 5 Vgl. Damasio (1994). 6 Vgl. Ratcliffe (2002). 7 Vgl. Varela (1999). 8 Vgl. Metzinger (2003), 83; für einen Überblick vgl. Gallagher/Zahavi (2008), Kap. 1. 3 4
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Vielmehr ist die Diskussion hier von einem ganz und gar »unphänomenologischen« Thema bestimmt, den sog. »explanatorischen Lücken« zwischen Geist und Natur oder qualitativem Erleben und funktional reduzierbarem »mind«. Diese Lückenprobleme entstehen in einer, wie Husserl gesagt hätte, naturalistischen Einstellung, die zunächst lebensweltliche Gegenstände ihrer subjektiv und intersubjektiv konstituierten Eigenschaften beraubt (»Abbau«), um dann zu versuchen, diese durch Kausalbeziehungen auf der physikalischen Ebene zu re-generieren. Es mag daher scheinen, dass die Ablehnung der phänomenologischen Betrachtungsweise in der etablierten Kognitionswissenschaft und der naturalistischen Philosophie des Geistes aus prinzipiellen Gründen notwendig und unüberwindlich ist. Die wissenschaftliche und philosophische Erforschung des Denkens und des Bewusstseins wird heute weitgehend vom radikalen Physikalismus beherrscht: das Bewusstsein gilt als etwas, das früher oder später vollständig durch Physisches, nämlich das Gehirn, erklärt, wenn nicht sogar auf dieses reduziert werden muss und nach Überzeugung der jeweiligen Protagonisten auch wird. Die Behauptung, es gebe Geistiges – sei es in Form von Bewusstsein, von sog. Qualia oder vielleicht sogar von Geistigem als Nichtphysischem und Nichtpsychischem, etwa im Sinne von Freges »drittem Reich der Gedanken« – erscheint in diesem Kontext als eine Position, die erst noch gerechtfertigt werden muss, die jedenfalls zunächst rätselhaft ist und die sich möglicherweise einfach als irrational entpuppen wird. Was könnte ein Philosoph, der in einer Kapitelüberschrift eines seiner wichtigsten Werke vom »bloß phänomenalen Sein des Transzendenten« und vom »absoluten Sein des Immanenten« (Hua III/1, 91) spricht, zu einer solchen Denkweise beitragen oder von ihr profitieren? Dass kein leibhaft gegebenes Erlebnis auch nicht sein könne, betrachtet Husserl als ein Wesensgesetz, und die Seinsnotwendigkeit der Erlebnisse ist für ihn die Notwendigkeit eines Faktums (Hua III/1, 98). Die etwa von Churchland vertretene These des Eliminativismus wäre für Husserl schlicht unverständlich gewesen: Alles leibhaft gegebene Dingliche kann auch nicht sein, kein leibhaft gegebenes Erlebnis kann auch nicht sein; das ist das Wesensgesetz, das diese Notwendigkeit und jene Zufälligkeit definiert. (Hua III/1, 98)
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Für Husserl ist das Bewusstsein kein Rätsel, sondern vielmehr der Ausgangspunkt, von dem aus Objektivität erst verständlich gemacht werden kann. Die Position des transzendentalen Idealismus lautet, dass die Welt immer nur durch und im Bewusstsein gegeben ist. Husserl betont unermüdlich, dass damit kein ontologischer Idealismus verbunden ist und nicht die »wirkliche Welt« geleugnet werden soll: Wir zweifeln also nicht an der Existenz der wirklichen Dinge. Wir sehen nur, dass Existenz wirklicher Dinge wie jede Existenz sich im Bewusstsein ausweisen muss, wenn es für das Bewusstsein soll gelten können als wirkliche Existenz. (Hua XXXVI, 8)
Im Gegensatz zum Physikalisten ist für Husserl daher die Objektivität des Physikalischen selbst ein Rätsel, das nur dadurch aufgeklärt werden kann, dass gezeigt wird, wie sich diese Objektivität im Bewusstsein konstituiert. Das Bewusstsein selbst kann sich nicht rätselhaft werden: es ist sich immer unmittelbar und absolut selbst gegeben. Der heute so weit verbreitete Physikalismus und Eliminativismus stellt daher für Husserl die äußerste Selbstvergessenheit des forschenden Subjekts dar, und wäre Husserl in vivo unter uns, würde er sicherlich wissen wollen, wie es dazu kommen konnte. Im Folgenden versuche ich, ihm diese Frage zu beantworten. Ich werde mich also nicht mit der gelungenen Kommunikation von Phänomenologie und Kognitionswissenschaft beschäftigen, sondern mit den Schwierigkeiten, die einer solchen Integration im Wege standen oder immer noch stehen. Dabei konzentriere ich mich auf drei charakteristische Ideen oder Modelle in der Philosophie und Kognitionswissenschaft der vergangenen 60 Jahre. Sie haben meines Erachtens wesentlich die Kluft zwischen »subjektivistischen« und »objektivistischen« Ansätzen bestimmt, die sich seit Husserls Tod durch die Philosophiegeschichte zieht. Diese Ideen sind die folgenden: 1. 2. 3.
Das Computermodell des Geistes Die kausale Theorie der Referenz Das Programm der Naturalisierung
In den ersten beiden Abschnitten betreibe ich Ursachenforschung, im dritten wende ich mich einer bleibenden Schwierigkeit zu, die möglicherweise auch die sog. Neurophänomenologie Francisco Varelas betrifft, insofern diese selbst ein Programm der Naturalisierung betreibt. A
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Ich vernachlässige dabei gängige Missverständnisse, die aus einer bloßen Unkenntnis des phänomenologischen Programms stammen, wie die Behauptung, dass die Phänomenologie dem »Mythos des Gegebenen« verfalle 9 oder in bloßem Introspektionismus bestehe. 10
II.
Das Computermodell des Geistes
In seiner »Einführung in die Kognitionswissenschaft« aus dem Jahr 1996 beschreibt Paul Thagard als fruchtbarsten Ansatz für die Wissenschaften vom Bewusstsein das »computational-repräsentationale Verständnis des Geistes«, kurz CRUM (»computational-representational understanding of the mind«). Seine zentrale These lautet: Denken kann am besten im Sinne von repräsentationalen geistigen Strukturen und computationalen Verfahren, die auf diesen Strukturen operieren, verstanden werden. 11
Offensichtlich ist das Modell für CRUM der Computer mit seinem Dualismus zwischen Hardware und Software, und es verwundert nicht, dass die Wissenschaft, die sich auf diesem Modell aufbaute, »Kognitionswissenschaft« genannt wird, Wissenschaft vom Denken. Alle anderen Dinge, die im Bewusstseins des Menschen geschehen: Willensakte, Gefühle, Intuitionen, erfasst dieser Name nicht, wie auch Thagard selbst kritisch bemerkt. Das Computermodell des Geistes bewirkt eine Einschränkung des Untersuchungsfeldes des Bewusstseins in zweierlei Hinsicht: erstens in Hinsicht auf die »Software« ein Bevorzugen von Urteilsakten; zweitens in Hinsicht auf die Hardware eine Einschränkung auf das Gehirn. Das Gehirn erscheint als unser Zentralcomputer, abgeschnitten vom Körper und der Umgebung, so dass die Idee, wir könnten ein »brain in a vat« sein, ein Gehirn, das in einer unbestimmten Nährflüssigkeit schwimmt und dennoch exakt dasselbe erlebt wie wir, als gültiges Gedankenexperiment gilt. Diese Metapher ist so wirkungsmächtig, dass die bloße Abbildung von Prozessen im Gehirn mittels fMRT oder PET heute als stärkste und letztmögliche Erklärung aller BewusstseinsproZum Mythos des Gegebenen vgl. Rorty (1979), passim, und kritisch Soffer (2003). So etwa The MIT Encyclopedia of the Cognitive Sciences; vgl. Wilson/Keil (1999) im Artikel »Introspection«, ebd., 419. 11 Thagard (1999), 22. 9
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zesse gilt, als eine Art experimentum crucis aller Behauptungen über mentale Ereignisse. Die Metapher vom Gehirn als Computer, der Informationen verrechnet, kann in zweierlei Weise verwendet werden: einmal, wie es ja auch geschehen ist, als technisches Modell, um verschiedene kognitive menschliche Leistungen zu simulieren und zu ersetzen, z. B. in Hinsicht auf komplexe Rechenaufgaben. Zum zweiten um mit Hilfe dieses Modells menschliches Bewusstsein zu erklären. Die erste Verwendung hat per se nichts mit der zweiten zu tun und sagt uns nicht schon etwas darüber, was Bewusstsein ist oder wie unser Denken funktioniert, eben so wenig wie man deshalb mehr über Vögel wüsste, weil man Flugzeuge bauen kann. In der Krisis beschreibt Husserl das Verfahren, bei dem ein Modell, das technischen Nutzen hat, zur Erklärung lebensweltlicher Fakten herangezogen wird, am Fall der geometrischen und naturwissenschaftlichen, der mathematisierenden Methode. Mit geringen Abwandlungen zu Husserls Beschreibung der Mathematisierung der Lebenswelt könnte man die Computerisierung des Bewusstseins analog so darstellen: Wir messen dem Bewusstsein durch das Computermodell ein Ideenkleid an, d. h. wir konstruieren in einer (wie wir hoffen) wirklich und bis ins Einzelne durchzuführenden und sich ständig bewährenden Methode zunächst bestimmte symbolische Repräsentationen für die wirklichen und anschaulichen »Füllen« unserer Erlebnisse, mit denen sich dann rechnen lässt, und eben damit gewinnen wir Möglichkeiten einer Voraussicht der konkreten noch nicht geschehenen Erlebnisse; einer Voraussicht, welche die Leistungen der alltäglichen Voraussicht unendlich übersteigt. 12 Beispiele für ein solches Übersteigen unserer Voraussicht wären der Schachcomputer oder Expertensysteme, die heute Situationen in einer Weise steuern und überwachen, wie sie einzelnen Individuen längst nicht mehr möglich wäre. Husserl fährt dann fort: Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist – dazu da, um die innerhalb des lebensweltlich wirklich Erfahrenen und 12
Vgl. Hua VI, 51. A
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Erfahrbaren ursprünglich allein möglichen rohen Voraussichten durch »wissenschaftliche« im Progressus in infinitum zu verbessern. (Hua VI, 51)
Kurz: die Möglichkeit der Verbesserung der menschlichen Kognition durch Computer verführt zu der Annahme, der menschliche Geist funktioniere wie ein Computer und sei durch das Computermodell letztendlich vollständig erklärbar. Das ist deutlich Thagards Absicht und Idee. So schreibt er gleich zu Beginn seiner Einführung: Das Hauptziel der Kognitionswissenschaft ist es, eine Erklärung dafür zu finden, wie Menschen […] verschiedene Arten des Denkens bewerkstelligen. Wir wollen nicht nur Wege des Problemlösens und Lernens beschreiben, sondern auch erklären, wie der Geist diese Arbeiten ausführt. 13
Aus dem Computermodell ergibt sich ein Dualismus zwischen Gehirn und Geist, der demjenigen zwischen Hardware und Software analog ist und der seine Vorläufer in der Philosophiegeschichte hat und durch diese vorgezeichnet ist. Der Dualismus Gehirn und Geist entsprang also nicht erst aus dem Computermodell; jedenfalls aber schien er durch dieses Modell greifbare Wirklichkeit zu werden, sich für jedermann nachvollziehbar und zweckmäßig zu manifestieren. Es geht dabei nicht bloß um die tatsächlich formulierten und teils ja durchaus umstrittenen wissenschaftlichen Positionen. Die Allgegenwart des Computers hat längst dazu geführt, dass das einfache physikalistische Modell des Geistes sich im Horizont des Alltagsbewusstseins sedimentiert hat, für welches der Computer heute als ständiger Begleiter und praktische »Verlängerung« fungiert. Dies ist ein lebensweltliches Faktum, das Husserl noch nicht kannte, und um das man seine Phänomenologie der Lebenswelt erweitern muss. Denn während in Husserls Lebenswelt das Seelische noch selbstverständlich den Status natürlicher Realität beanspruchte, verschwindet es in unserer Lebenswelt zunehmend zugunsten funktionaler Hirnprozesse. Man kann diese Entwicklung als direkte Folge des Computermodells deuten. Das Modell legt durch seine intrinsische Struktur bereits nahe, wie ein Dualismus zwischen Hardware und Software letztlich zu überwinden wäre: die Software löst sich, wie Thagard darstellte, in Repräsentation und computationale Verfahren auf, die beide nicht notwendig geistiger Natur sind. Repräsentationen sollten sich in irgendeiner Weise physisch manifestieren und ebenso sollten den com13
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Thagard (1999), 13.
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putationalen Verfahren in der Maschine gewisse biologisch-chemische Gehirnprozesse entsprechen – dies erschien jedenfalls als eine natürliche und vernünftige Hypothese, die wissenschaftlich erforscht werden könnte. In seinem Lehrbuch beschreibt nun Thagard verschiedene Aspekte des Bewusstseins, die durch CRUM schlecht oder gar nicht erklärt werden können. Dazu zählen z. B. die Emotionen, die sich nicht nur im Gehirn abzuspielen scheinen, die Zeitlichkeit des Bewusstseins, die durch ein abstraktes Programm nicht erfasst werden kann, die kulturelle Modifikation, die in Wahrnehmungs- und Denkprozessen nachweisbar ist, oder die Tatsache, dass Bewusstsein Intersubjektivität vorauszusetzen scheint. Solche Erklärungslücken sollen seiner Meinung nach durch die künftige Erweiterung und Verbesserung des Modells geschlossen werden. Die Maschine muss daher durch einen lebenden Körper mit Sinnesempfindungen ergänzt, der Computer zu einer biologischen Maschine erweitert werden. Die zunehmende Komplexität soll dann jene Eigenschaften generieren, die wir am Computer vermissen. Die wichtigste dieser Eigenschaften ist die qualitative Erfahrung: man geht davon aus, dass ein Computer nicht weiß, »wie es sich anfühlt« ein Computer zu sein, eine biologische Maschine aber durchaus. 14 Bevor ich nach einem Exkurs in die kausale Theorie der Referenz auf diese sog. Qualia näher eingehe, möchte ich ein Fazit ziehen. Husserl nannte Galilei einen entdeckend-verdeckenden Genius. Analog könnte man das Computermodell des Geistes ein entdeckend-verdeckendes Modell nennen: es revolutionierte unsere Lebenswelt, indem es gleichzeitig die Natur des Bewusstseins verdeckte und unkenntlich machte, indem es alles Subjektive eliminierte. Es erweist sich damit als eine technische Fortsetzung der alten Idee der Mathematisierung mit denselben Konsequenzen: Wirklich ist, was prozessiert werden kann; alles bloß Qualitative wird ins Subjektive verwiesen und damit in seinem Realitätsstatus suspekt. Da die Phänomenologie im Ruf steht, vom Subjektiven auszugehen, kann sie angesichts der Erfolge des Computermodells von diesem Die Idee eines biologischen Computers, der komplexere Informationen auf kompliziertere Weise verrechnet, ist noch zu unterscheiden von Varelas Konzeption eines selbstorganisierenden biologischen Systems, aus dem das Bewusstsein als eine Art Gestalteigenschaft emergiert. Ich gehe im Folgenden auf die Unterschiede nicht ein.
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Standpunkt aus nur als bankrott gelten: die Münze, mit der sie handelt, ist nicht nur wertlos, sie existiert nicht einmal in dem Sinne von Existenz, den der Objektivismus als allein gültig anerkennt. So stellt sich also vom naturalistischen Standpunkt aus eine phänomenologische Analyse des Bewusstseins als sinnlos dar: nicht nur weil und sofern sie einen widernatürlichen »Idealismus« voraussetzt, sondern auch, weil ihre Ergebnisse zur Aufklärung der naturalistischen Fakten nichts beitragen können. Dieses Fazit unterminiert in gewissem Sinne selbst einige derjenigen Positionen, die Varela der »phenomenology« zurechnet, obwohl sie, wie Chalmers und Searle, ausdrücklich von der Position des Naturalismus ausgehen. Darauf gehe ich später noch etwas genauer ein.
III. Die kausale Theorie der Referenz Das Computermodell des Geistes ist sicherlich nicht der einzige Grund für das Verschwinden des Subjektiven aus Philosophie und Wissenschaft. Einen weiteren wichtigen Grund sehe ich im sog. linguistic turn, von dem bei Husserl wenig zu bemerken ist. Man hat Husserl sogar gelegentlich unter die Philosophen des 19. Jahrhunderts gezählt, eben weil er die Wende zur Sprache nicht mitgemacht habe. Diese Wende wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den Logischen Empiristen, insbesondere Schlick, zum Teil ausdrücklich gegen Husserl betrieben. 15 An die Stelle einer phänomenologischen Analyse der Erfahrung tritt hier die Analyse der Sprache, die oft als Begriffsanalyse (»conceptual analysis«) auftritt. Die ursprünglich an Frege orientierte Semantik unterscheidet zwischen Referenz und Bedeutung oder (mengentheoretisch) Extension und Intension von Ausdrücken. Die Bedeutung oder Intension soll dabei nichts »Psychologisches« oder »Subjektives« sein, sondern eine Art abstraktes Gegebensein des Referenzobjekts. Intensionen galten dennoch in der analytischen Sprachphilosophie lange als etwas anrüchige Entitäten; sie standen unter dem Verdacht, entweder metaphysischer oder eben doch psychologischer Natur zu sein. Dieser Verdacht legte sich, nachdem sie in der Modelltheorie als Extensionen in allen möglichen Welten dargestellt werden konnten. In anderer Weise hat auch Wittgensteins Spätphi15
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Vgl. Mayer (2009), Kap. 10. 4.
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losophie, indem sie Bedeutungen auf den Gebrauch der Ausdrücke reduziert hat, zu ihrer naturalistischen Domestizierung beigetragen. Mit beiden Lösungen kann eine naturalistische Philosophie aber nicht endgültig zufrieden sein. Der Rückgriff auf mögliche Welten bedeutet für viele nichts weiter als einen Rückfall in die Metaphysik. Reduziert man dagegen die Bedeutung von Ausdrücken auf ihren Gebrauch, so scheint dies einen Relativismus aller Bedeutungen – und letztlich auch ihrer Referenzobjekte – zur Folge zu haben, den Wissenschaft nicht akzeptieren kann. Beide Probleme versucht die kausale Theorie der Referenz zu vermeiden. Wie wichtig diese Spielart der Semantik für unser Thema ist, möchte ich an einem Beispiel zeigen. Der Wissenschaftstheoretiker Paul Griffiths bestreitet für den Bereich der Philosophie der Gefühle, der philosophy of emotions (die ein Teil der philosophy of mind ist), dass die Philosophie etwas Wesentliches zum Thema beizutragen habe. 16 Die Philosophie nämlich orientiere sich in ihren Überlegungen an einem vagen, inkohärenten und kontingenten Wortgebrauch, eben dem des Gefühls oder der emotion, den sie analytisch zu präzisieren versuche, während die Wissenschaften untersuchten, was Gefühle wirklich sind, What emotions really are, wie der provokante Titel von Griffiths Buch (1997) lautet. Griffiths betrachtet dabei die Bedeutungsanalyse oder die Analyse eines Wortgebrauchs als die ausgezeichnete Arbeitsform der Philosophie, zieht also die Phänomenologie nicht in Betracht. Gegen die Bedeutungsanalyse wendet er ein, was Kant mit folgenden Worten ausdrückte: Ich will nicht wissen, »was in meinem Begriffe von dem Dinge enthalten sei (denn das gehört zu seinem logischen Wesen), sondern was in der Wirklichkeit des Dinges zu diesem Begriffe hinzukomme, und wodurch das Ding selbst in seinem Dasein außer meinem Begriffe bestimmt sei«. 17 Kurz: die Analyse von Bedeutungen oder Begriffen trägt nichts zur Erkenntnis der wirklichen Dinge in der Welt bei. In Übereinstimmung mit den meisten Wissenschaftlern unserer Tage nimmt Griffiths an, dass die einzige Art, wie wir »zu den Sachen selbst« kommen, die empirische Untersuchung ist. Zur Begründung beruft Griffiths sich nun auf die kausale Theorie der Referenz, wie sie Kripke in Naming and Necessity und Putnam in 16 17
Griffiths (1997), Kap. 2. Kant (1911), 57 (Prolegomena, §14). A
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The Meaning of Meaning vorgelegt haben. 18 Generische Begriffe wie Wasser oder Wal beziehen sich demnach auf natürliche Arten oder Klassen von Gegenständen, die sie mit dem entsprechenden Wort »herauspicken«. Die Bedeutung solcher Wörter ist ein von den Tatsachen nur vage informiertes sog. Stereotyp, wie etwa »Wasser ist eine geschmacklose und farblose Flüssigkeit, die in Flüssen und Seen vorkommt«. Solche Stereotype helfen uns zwar, auf die entsprechenden Dinge Bezug zu nehmen, sie stehen aber in keiner analytischen Beziehung zu den Dingen und sagen uns keineswegs, was diese Dinge in Wirklichkeit sind. Nur die wissenschaftliche Forschung konnte letztlich zum Vorschein bringen, dass Wasser, jene Flüssigkeit, die in Flüssen und Seen vorkommt, in Wirklichkeit H2O ist. Was die Bedeutung des Ausdrucks ist, d. h. wie das entsprechende Stereotyp aussieht, ist dabei wissenschaftlich uninteressant, solange es uns nur die vorwissenschaftliche Identifikation des entsprechenden Gegenstandes ermöglicht. Ebenso steht es nun laut Griffiths auch mit dem Wort »Gefühl« bzw. »emotion«, und wir können dieses Argument wohl auf alle diejenigen Wörter erweitern, die in kognitionswissenschaftlichen Untersuchungen von Bewusstsein verwendet werden. Die Sprach- oder auch Begriffsanalyse hilft uns hier nicht weiter, nur Gehirnforschung und Psychologie können uns Aufschluss darüber geben, was sich hinter dem Stereotyp – wie immer es im einzelnen aussehen mag – in Wirklichkeit verbirgt. Diese Auffassung geht bereits davon aus, dass entsprechende Begriffe, wie »Bewusstsein«, »Wahrnehmung«, »Erinnerung«, »Gefühl«, ebenfalls natürliche Fakten durch Verweis auf äußere Anzeichen »herauspicken«. So deuten nach Griffiths z. B. manche Gefühlswörter auf Gesichtsausdrücke oder auf sprachliche Äußerungen wie »Aua«. Aber ebenso wie vermutlich bei vielen anderen Alltagsbegriffen ist die Klasse der Dinge, die unter den Begriff »Gefühl« subsumiert werden, nicht homogen; der Begriff pickt nicht »eine natürliche Art« heraus, sondern ganz verschiedene Dinge: auf der einen Seite genetisch festgelegte »Affektprogramme« (Angst, Ekel), auf der anderen Seite höchst komplexe kognitive Strukturen (Liebe, Scham), die eine ganz andere Phylogenese, Anpassungsfunktion, Gehirnstruktur und psychologische Rolle aufweisen. Über diese Heterogenität des Gefühlsbegriffes konnte uns jedoch 18
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Vgl. Kripke (1972) und Putnam (1975).
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keine Begriffsanalyse belehren. Nur die wissenschaftliche Forschung konnte darlegen, dass das Stereotyp irrt, indem es uns eine einzige Art von Dingen vorstellt. Die Methoden wissenschaftlicher Forschung bestanden in der Untersuchung von physischen Anzeichen wie Muskelkontraktion, Gehirnaktivität und Herzschlag, nicht von kontingent entstandenen Begriffen, Intensionen oder Bedeutungen. Man mag nun einwenden, dass hinter diesem Argument ein höchst angreifbarer metaphysischer Realismus steht – hier die Welt wie sie wirklich ist, dort unser unvollkommener mentaler Zugang. Griffiths jedoch argumentiert, dass kausale Referenzbeziehungen nicht notwendig die Annahme voraussetzen, dass die Welt der Kausalität metaphysische Realität besitzt, welche die Referenz unserer Begriffe unmittelbar bestimmt. Um die Priorität der wissenschaftlichen vor der philosophischen Analyse zu bestätigen, sei eine Theorie des dynamischen und offenen Begriffserwerbs hinreichend, die von einem Kontinuum Subjekt-Objekt ausgeht. Der Begriffserwerb führe dann zu immer »realistischeren« Konzepten der Dinge. So zeigten empirische Untersuchungen, dass Begriffe an Beispielen und Exemplaren gelernt werden, in dem sie etwas wie kausale Hypothesen integrieren, die offen für wissenschaftliche Präzisierung sind. Dieser sog. »theory view of concepts« geht auf Untersuchungen von Murphy 1993 und Keil 1989 zum Begriffserwerb zurück und ist u. a. von Boyd 1991 philosophisch ausgearbeitet worden. 19 Er hat auffallende Ähnlichkeit mit einer Position, die Husserl wohlbekannt war, da sie von dem Neukantianer Paul Natorp vertreten wurde, den Husserl sehr schätzte. Natorp glaubte, dass die »objektivierende« Erkenntnisrichtung der natürlichen und der wissenschaftlichen Weltsicht gemeinsam ist: Schon jede Benennung, jede Fixierung des Blicks, […] kurz jede noch so entfernt auf ein Erkennen gerichtete Funktion schließt wenigstens einen Versuch der Objektivierung ein. 20
Die objektivierende oder konstruierende Erkenntnisrichtung präzisiert die vagen Begriffe und Erscheinungen, die vor einer solchen Präzisierung gar nicht wirklich da, sondern nur als eine Art intuitive prätheoretische Hypothese gegeben sind. Die Wissenschaft braucht sich dem19 20
Vgl. Boyd (1991); Keil (1981); Murphy (1993). Natorp (1888), 193. A
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nach nicht im Gegensatz zur Subjektivität zu verstehen, sondern als einen sinnvollen Apparat der Präzisierung vorwissenschaftlicher Theorien. Sie steht dann am Ende eines Kontinuums, in dem das vage X der Erfahrung wissenschaftlich unendlich bestimmt wird. 21 Mit Argumenten wie diesen, die eine externalistische Semantik voraussetzen, sind dann schließlich Paul und Patricia Churchland für den Eliminativismus in Bezug auf das Bewusstsein eingetreten. 22 Sie glauben, dass unsere Sprache und unser Begriffssystem eines Tages völlig auf alle Ausdrücke und Begriffe für Geistiges verzichten wird, weil die Wissenschaft gezeigt habe, dass es nichts dergleichen gibt. Sie betrachten also auch den Begriff des »Bewusstseins« als generischen Begriff, der sich auf eine natürliche Tatsache bezieht und sich durch eine vage alltagssprachliche Theorie manifestiert, die durch wissenschaftliche Untersuchungen revidiert werden muss und kann. Bewusstsein muss sich auf diese Weise wiederum auf das Gehirn reduzieren, und wie es scheint, sind wir auf diesem Weg schon weit fortgeschritten. Indem die Philosophie des Geistes dann ganz in Naturwissenschaft aufgeht, könnte sie zur Erkenntnis in diesem Bereich nichts beitragen, sie würde nur noch die Konkursabwicklung übernehmen. So gesehen ist es nicht die Phänomenologie, sondern die analytische Philosophie, deren Bankrotterklärung ansteht, und pikanterweise würde dieser Bankrott gerade von einem ihrer theoretischen Kernstücke provoziert, nämlich eben jener kausalen Theorie der Referenz. Nun hat gerade auf dem Gebiet der Gefühle die Phänomenologie Manche Passagen in Erfahrung und Urteil lesen sich durchaus ähnlich. So sagt Husserl, der Wahrnehmungsgegenstand wecke »protentionale Erwartungen hinsichtlich seines Soseins, der noch ungesehenen Rückseite usw., überhaupt hinsichtlich dessen, was sich an ihm bei näherer Betrachtung an Eigenheiten ergeben wird. Geht nun die Betrachtung in Explikation über, folgt das Interesse der Richtung der geweckten Erwartungen […]. Explikation ist ein Hineingehen der Richtung des Wahrnehmungsinteresses in den Innenhorizont des Gegenstandes.« (EU, 114 f.) Obwohl auch bei Husserl das Wahrnehmen eine intrinsische Tendenz zur Explikation und Objektivierung zeigt, unterscheidet Husserl jedoch scharf zwischen einer Explikation von Erlebnissen und der wissenschaftlichen Untersuchung ihrer Gegenstände: die letztere muss mit ersterer anfangen und kann nicht beanspruchen, diese zu ersetzen; vgl. auch die Vorlesungen Natur und Geist 1927, insbesondere die Auseinandersetzung mit den Neukantianern in Kap. 3 (Hua XXXII). (Den Hinweis auf § 22 von Erfahrung und Urteil verdanke ich Christopher Erhard.) 22 Natorp selbst wäre einer solchen Radikalisierung seines Gedankens sicher nicht gefolgt; allerdings glaubte er, dass das Subjektive nur aus dem Objektiven rekonstruiert werden kann und nicht etwa primär gegeben ist. Vgl. dazu Kern (1964), 327 ff. 21
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schon sehr früh auf Grund phänomenologischer Analyse Erkenntnisse formuliert, die nach Griffiths der wissenschaftlichen Forschung vorbehalten seien. Die Zweideutigkeit des Gefühlsbegriffs hatten etwa bereits Brentano und Husserl bemerkt. So schreibt Husserl in den Logischen Untersuchungen, er stimme Brentano zu, der Schmerz und Lust im Sinne von Empfindungen von Schmerz und Lust im Sinne von Gefühlen unterscheidet. Er zweifle aber, schreibt er, »ob nicht die vorwiegende Bedeutungstendenz des Wortes Gefühl auf jene Gefühlsempfindungen abzielt und ob dann nicht die mannigfaltigen Akte, die als Gefühle bezeichnet werden, ihren Namen den ihnen wesentlich eingewobenen Gefühlsempfindungen verdanken« (Hua XIX/1, 408).Vom phänomenologischen Standpunkt aus ist es überhaupt erstaunlich, in welchem Maße in der gesamten sowohl philosophischen als auch wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Gefühlen die Struktur der Erfahrung unter den Tisch fällt oder doch nur sporadisch und partiell zum Vorschein kommt. Erst Damasio und im Anschluss dann einige Philosophen haben etwa entdeckt, dass Gefühle intrinsisch mit Wertungen verknüpft sind – eine Erkenntnis, die in der Phänomenologie zu Beginn des Jahrhunderts ganz ohne Rückgriff auf Gehirnforschung schon einmal zum common sense zählte. 23 Gegen eine in diesem Sinne objektivistische Semantik hatte Husserl im Logos-Aufsatz explizit argumentiert. Für ihn ist klar, dass die experimentelle Psychologie, wie er sie kannte, mit Phänomenologie anfangen muss. Das bedeutet, sie muss die Struktur von Erfahrung beschreiben anstatt von vagen Alltagsbegriffen auszugehen: Beschreibend verwenden wir die Worte Wahrnehmung, Erinnerung, Phantasievorstellung, Aussage usw. Welche Fülle von immanenten Komponenten zeigt solch ein einziges Wort an, die wir dem Beschriebenen, es »auffassend« einlegen, ohne sie in ihm analytisch gefunden zu haben. Genügt es, diese Worte im populären Sinn, in dem vagen, völlig chaotischen zu gebrauchen, den sie sich, wir wissen nicht wie, in der »Geschichte« des Bewußtseins zugeeignet haben? (Hua XXV, 23)
Statt dessen müssen die immanenten Komponenten, die aus den Phänomenen selbst stammen, in »wissenschaftlicher Strenge« offengelegt werden, damit das Ergebnis der Experimentalpsychologie selbst wissenschaftliche Strenge beanspruchen kann. An anderer Stelle schreibt er dazu: 23
Vgl. dazu die reichhaltige Studie von Vendrell-Ferran (2008). A
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Wie unzureichend muss eine Kausalforschung sein, welche die unmittelbaren Bestände seelischer Gegebenheiten überhaupt nicht wissenschaftlich kennt und bei höchster Prätention auf wissenschaftliche Strenge mit vagen, statt analytisch geklärten und umgrenzten inneren Erfahrungen operiert und nach ihnen orientierten unwissenschaftlichen Begriffen anstelle strenger Erfahrungsbegriffe. (Hua XXV, 103)
Gerade diesen Anfang in der Phänomenologie haben die modernen Neurophänomenologen von Husserl übernommen. So fordert Francisco Varela für die Forscher und Versuchspersonen in kognitionswissenschaftlichen Experimenten, insbesondere in fMRT und PET-Untersuchungen, phänomenologische Kompetenz: sie müssen ihre Erlebnisse beobachten und eidetisch strukturieren können, damit die Ergebnisse korrekt interpretierbar sind, eine Forderung, die übrigens auch Chalmers unterschreibt. Tut man dies nicht, dann geschieht, was man an den viel diskutierten Libet-Experimenten beobachten konnte: ein vager Alltagsbegriff der menschlichen Freiheit, der offenbar von der Idee der Willkür dominiert ist, wird ohne weiteres in ein Experiment »übersetzt«, aus dessen Ergebnissen dann weitreichende philosophische Folgerungen gezogen werden, insbesondere die, dass es menschliche Willensfreiheit nicht gebe. 24 Gerade in den Libet-Experimenten wird deutlich, wie stark solche Versuchsanordnungen von den »vagen Alltagsbegriffen« der untersuchten Subjekte und der untersuchenden Naturwissenschaftler abhängig sind. So wurden in einem dieser Experimente die Versuchspersonen aufgefordert, ihren Finger zu bewegen »when they felt like doing so« oder »to let the urge to act appear on its own at any time without any pre-planning or concentration on when to act«, wobei so ausgelöste Handlungen dann als »self-initiated voluntary acts« gelten. 25 Weshalb aber eine Handlung gerade dann ein Beispiel einer freien Handlung sein soll, wenn ich sie tue, weil mir danach ist oder weil ich einen Drang verspüre, sie zu tun, bleibt völlig ungeklärt. Das Natorpsche Programm – das unbestimmte X der Erfahrung wird letztlich nur durch wissenschaftliche Untersuchung präzisiert – führt zu einem unmerklichen Wechsel der Gegenstände, der vom phänomenologisch untrainierten Subjekt her nicht mehr erkennbar ist und als wissenschaftliches Faktum akzeptiert wird. 24 25
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Für eine Kritik an Libet in diesem Sinne vgl. Zhu (2003). Libet/Wright/Gleason (1982), 231.
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IV. Ein Übergang: Qualia und andere Quälgeister Sowohl das Computermodell des Geistes, als auch die kausale Theorie der Referenz unterschlagen Subjektivität, indem sie Bewusstsein und Bedeutung als von einer unabhängig gegebenen, objektiven Realität bestimmt voraussetzen. Dennoch ließen sich nicht alle Aspekte des Subjektiven restlos in das physikalische Weltbild integrieren. Thagard erwähnt die Emotionen als einen in diesem Sinne widerspenstigen Bereich – nicht nur, weil sie offenbar eine Ausweitung der Betrachtung vom Gehirn auf den Körper erzwingen, sondern weil ihnen besondere »Qualitäten« anhaften, von denen man sich schwer vorstellen kann, dass eine Maschine sie »erlebt«. Die Bewusstseinsqualitäten generell zeigen sich nun im Licht des Computermodells als höchst eigentümliche und mysteriöse Bestandteile unseres Geistes. Schmerz, Lust oder Farbqualitäten sind keine »funktionalen« Eigenschaften und nicht auf solche reduzierbar; sie erscheinen vielmehr als eine unerklärliche »Innenseite« physikalischer Zustände, auf die mit naturalistischen Mitteln nicht zugegriffen werden kann. Besonders deutlich hat David Chalmers die Nichtreduzierbarkeit der »Qualia« vertreten. Nach Chalmers besteht eine explanatorische Lücke zwischen Erlebnissen (experiences) und jenen Funktionen des Geistes, die durch das Computermodell oder auf biologische Weise erklärbar sind. Diese Lücke ist prinzipiell nicht durch Naturgesetze überbrückbar. Das alte Leib-Seele Problem, das zwischenzeitlich als GehirnGeist-Problem apostrophiert wurde, ist damit zu einem FunktionErlebnis-Problem (mind-mind-problem) mutiert. Chalmers nannte dies »das harte Problem des Bewusstseins«. Dieses Problem entsteht dadurch, dass die subjektiven Erlebnisse von den funktional reduzierbaren Anteilen des Bewusstseins abgetrennt werden und mit diesen in keiner inhaltlichen Weise mehr verbunden erscheinen. Sie sind nicht etwa, wie in Husserls Phänomenologie, Momente von Bewusstseinsakten, mit denen zusammen sie sich konstituieren; sie erscheinen vielmehr, um es in der Terminologie der dritten Logischen Untersuchung auszudrücken, als »Stücke« des Bewusstseinsstroms. Nur so erklärt sich das von Chalmers angeführte Zombie-Gedankenexperiment, in dem behauptet wird, es sei vorstellbar, dass es »philosophische Zombies« gebe, von denen gilt:
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A zombie is physically identical to a normal human being, but completely lacks conscious experience. Zombies look and behave like the conscious beings that we know and love, but »all is dark inside«. There is nothing it is like to be a zombie. 26
Auf seinen Webseiten führt Chalmers ironisch bizarre »Beispiele« von Zombies an, die sämtlich der zitierten Bedingung nicht genügen; sie zeichnen sich nämlich durch auffallende Unterschiede in Physiognomie und Gesichtsausdruck von den bewussten Wesen aus, die wir kennen. Dies ist kein Zufall: ein philosophischer Zombie wäre nach Voraussetzung eben nicht von einem normalen Menschen zu unterscheiden. In dieses »Gedankenexperiment« geht ersichtlich die Annahme ein, dass ein Computer sämtliche Gedanken, Willenszustände, Handlungsmotive etc. eines Menschen realisieren könne, jedoch ohne zu fühlen. Der Zombie ist im Grunde nichts weiter als der Computer, der endlich alle Aufgaben des normalen Menschen zu erfüllen vermag, aber jenen merkwürdigen qualitativen Aspekt, den wir »von innen« erleben, nicht hat. Das Zombie-Gedankenexperiment dient Chalmers der »Illustration« verschiedener Hypothesen, deren wichtigste eine Form des Dualismus ist: If there is a possible world which is just like this one except that it contains zombies, then that seems to imply that the existence of consciousness is a further, nonphysical fact about our world. To put it metaphorically, even after determining the physical facts about our world, God had to »do more work« to ensure that we weren’t zombies.
Die subjektiven Erlebnisse erscheinen hier nun also als eine Art »Geist über den Wassern«, losgelöst von der physikalischen Welt, durch nichts motiviert es sei denn durch einen Willkürakt Gottes. Um diese These wissenschaftlich einzuholen, verlangte Chalmers ein neues Modell für die Kognitionswissenschaften, welches den physikalistischen Ansatz oder auch Thagards CRUM für diesen Aspekt des Bewusstseins preisgibt. Der entstehende Dualismus ist in dem Sinne »harmlos«, als er das physikalische Universum intakt läst. Zwar wird die qualitative Erfahrung als einfache Tatsache akzeptiert, gleichzeitig aber werden Brückengesetze formuliert, die Abhängigkeitsstrukturen zwischen der Dieses und das nächste Zitat stammen von Chalmers Website http://consc.net/zombies.html, abgerufen am 18. 12. 2010. Vgl. Chalmers (2002).
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physischen und der psychischen Welt beschreiben. Sie bilden die explanatorische Verbindung zwischen beiden Welten, dürfen aber nicht als Naturgesetze aufgefasst werden, stellen also keine »Erweiterung« des physikalischen Universums dar. Um diese Brücke zwischen Subjektivität und Objektivität herzustellen, ist es nun nach Chalmers unerlässlich, auf die Perspektive der ersten Person zurückzugreifen. Nur dadurch kann man Beobachtungen in der physikalischen Welt, insbesondere am Gehirn, subjektiven Erlebnissen zuordnen. Beschreibungen eigenen Erlebens sind also in die Wissenschaften vom Bewusstsein so zu integrieren, dass regelmäßige Abhängigkeitsstrukturen z. B. zwischen bestimmten Erlebnissen und entsprechenden Gehirnprozessen hergestellt werden. Introspektive Erkenntnis, d. h. das Bewusstsein von Erlebnissen oder »experiences« wird also durch den Chalmerschen Dualismus in den Rang eines anerkannten Forschungsinstruments erhoben. Diese Tatsache veranlasste Varela, Chalmers den »Phänomenologen« zuzurechnen. Nun meint Varela mit dem Ausdruck »phenomenology« nicht bloß, wie es im Sprachgebrauch amerikanischer Philosophen oft der Fall ist, den introspektiven Blick auf Qualia. Er beansprucht vielmehr ausdrücklich einen gehaltvolleren Begriff der Phänomenologie, der das Husserlsche Verfahren der Reduktion und die Einstellung der Epoché einbezieht. Die Frage, ob man mit Recht das Chalmerssche Verfahren als »phänomenologisch« bezeichnen kann, scheint also nicht abwegig. Sie muss offensichtlich verneint werden. Ich nenne hier nur die wichtigsten Gründe. Zum einen wird der Naturalismus oder »Objektivismus« von Chalmers in keiner Weise in Frage gestellt; vielmehr wird er nur um ein zweites Reich des Qualitativen ergänzt. Chalmers gesteht jenem zusätzlichen Bereich aber zudem keineswegs die fundamentale Rolle einer Erkenntnisperspektive zu. Eben indem »Introspektion« auf das bloße Wahrnehmen von Erlebnisqualitäten beschränkt bleibt, erhält sie keine transzendentale Funktion in Husserls Sinne: sie konstituiert in keiner Weise die von ihr unabhängig existierende physikalische Realität. Deshalb geht Chalmers auch selbstverständlich davon aus, dass die beiden ontologischen Reiche auf methodisch unterschiedliche Weise zugänglich sind: das Reich der Natur durch die »Perspektive der dritten« oder den »view from nowhere«, das Reich der Erlebnisse durch die »Perspektive der ersten Person«. Diese Vorraussetzung erweist sich in der transzendentalen Phänomenologie als Mythos. »Die Welt ist, was sie ist, nur in A
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Beziehung auf Bewusstsein« (Hua XXXVI, 29), daher setzt die Perspektive der dritten Person jene der ersten immer schon voraus und konstituiert sich auf ihrer Grundlage. Das Subjekt blickt also nicht einmal mit dem introspektiven Auge in sich selbst, einmal mit dem Auge des Wissenschaftlers auf die Welt, sondern der wissenschaftliche Blick gewinnt seine Gegenstände durch die subjektive und inter-subjektive Perspektive hindurch erst durch Subtraktion ihrer lebensweltlichen Eigenschaften. Die Materialien der »Brücke« zwischen Welt und Bewusstsein müssten daher auf der Seite des Bewusstseins zu suchen sein. Gerade diesen Perspektivenwechsel aber kann der Naturalismus nicht akzeptieren, würde er sich damit doch selbst den Boden entziehen. Aus dieser Ausgangsposition resultiert aber auch die bereits erwähnte, phänomenologisch unsinnige Betrachtung von Qualia als »Stücken« des Erlebnisstroms. Kein wirkliches Erlebnis gibt uns solche isolierten Phänomene. Jeder Schmerz wird, wie Husserl in einer Beilage zu den Logischen Untersuchungen schreibt, leiblich lokalisiert wahrgenommen, und ist insofern nicht eine »reine Qualität«, sondern Gegenstand, d. h. bereits gedeutetes, aufgefasstes, intentionales Erlebnis. Husserl leugnet deshalb, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen der Perspektive der ersten und der Perspektive der dritten Person gebe: Dass die Angst mir die Kehle zuschnürt, daß der Schmerz im Zahne bohrt, daß der Kummer im Herzen nagt, das nehme ich genau in dem Sinne wahr, wie daß der Wind die Bäume schüttelt, daß diese Schachtel quadratisch und braun gefärbt ist u. dgl. (Hua XIX/2, 761)
Zwar schreibt er an derselben Stelle, dass »reine Erlebnisgegebenheit« möglich sei, dies aber nur in der »phänomenologischen Einstellung […], die alle transzendenten Setzungen inhibiert«, also auch die naturalistische Einstellung außer Kraft setzt. 27 Auf letztere jedoch möchten, wie es scheint, selbst die Phänomenologen unter den Kogni-
Auch in den Ideen II unterscheidet Husserl Empfindungsdaten, die schon primitive Gegenstände sind (etwa ein im Hintergrund des Bewusstseins wahrgenommener Ton) von bloßen »Empfindungszuständlichkeiten, die noch nicht gegenständliche Auffassung« (Hua IV, 23) sind. Solche Zuständlichkeiten sind aber hier nur erstmalig »akzipierte« Empfindungsreize, nicht etwa Eigenschaften, die an allen Erlebnissen vorkommen.
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tionswissenschaftlern nicht verzichten. Im letzten Abschnitt gehe ich auf deren Versuch ein, die Phänomenologie selbst zu naturalisieren.
V.
Das Programm der Naturalisierung
Die Kognitionswissenschaften entwickelten in den letzten Jahren zunehmend ein Interesse an »phänomenologischen Daten«, an akkuraten Beschreibungen subjektiver Erlebnisse aus der »Perspektive der ersten Person«. Das bedeutet, dass die Versuchspersonen in kognitionswissenschaftlichen Experimenten ihre eigenen Erlebnisse richtig und vorurteilsfrei beobachten und beschreiben können müssen – sie müssen also, wie es Husserl vom Phänomenologen forderte, vorurteilsfreie Beobachter ihrer selbst sein. Phänomenologische Epoché und Reduktion scheinen damit Verfahren, die gerade für die Kognitionswissenschaften von systematischer Bedeutung sind. Varela (1999) und Gallagher/Zahavi (2008) führen sie daher auch ausdrücklich als methodische Grundbestandteile ein. Gleichzeitig mit dieser Übernahme der phänomenologischen Methode aber soll der wissenschaftliche Naturalismus beibehalten werden. Dabei geht es nicht nur um eine naturalistische Einstellung in dem Sinne, als der Kognitionswissenschaftler Gehirne als physikalische Tatsachen betrachtet – eine Voraussetzung, die für ihn als empirischer Wissenschaftler unumgänglich ist – sondern in dem Sinne, als Bewusstsein, gelegentlich mit Ausnahme der Qualia, als auf solche Tatsachen reduzierbar betrachtet wird. Hier erweist sich der Neurophänomenologe Varela sogar noch als radikaler denn der analytische Philosoph Chalmers. Ihm zufolge sind Bewusstsein und physikalische Welt nicht zwei getrennte Reiche, die durch Abhängigkeitsbeziehungen verbunden werden, sondern es geht um Tatsachen, die durch dasselbe Modell beschreibbar und in dieser Hinsicht vielleicht sogar typenidentisch sind. Bevor ich darauf eingehe, muss ich betonen, dass sich der »enactive approach« Varelas noch in vielen anderen Hinsichten an Husserl anzulehnen sucht. Insbesondere geht es dabei um das sog. embodiment, das sich auch bei Thagard andeutete, und die Zeitlichkeit des Bewusstseins. Ich lasse beide Aspekte hier beiseite und widme mich ausschließlich dem Naturalisierungsanspruch, wie ihn Varela und andere Neurophänomenologen formuliert haben. A
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Varela und die Pariser Forschergruppe um Petitot, Pachoud, Roy u. a. haben 1999 einen Reader mit dem provokativen Titel »Naturalizing Phenomenology« veröffentlicht – provokativ deshalb, weil Husserl ja explizit und wiederholt die Möglichkeit einer »Naturalisierung« der Phänomenologie zurückgewiesen hat. Petitot fordert von einer naturalisierten Phänomenologie, die im Stande ist, die explanatorische Lücke zu schließen, folgendes: [I]t should be a naturalized or naturalistic one in the minimal sense of not being committed to a dualistic kind of ontology. In other words: it is not enough that such a phenomenology be descriptive and analytical; it should also be explanatory, and the explanations it gives should make clear how phenomenological data can be properties of the brain and the body without help of any spiritual substance. 28
Die Frage, inwiefern sich die vorgeschlagene Art der Naturalisierung von einem bloßen Eliminativismus unterscheidet, werde ich hier ebenfalls offen lassen. Es soll genügen, darauf hinzuweisen, dass mentale Eigenschaften als »continuous« mit physikalischen verstanden werden. Auch wird die Idee einer »Übersetzung« so interpretiert, dass den zu übersetzenden Erlebnissen ein eigener Existenzstatus zugeschrieben wird, da sie ja eben der Übersetzung bedürfen. Die wesentliche Frage lautet dann, wie die Forderung, dass phänomenologische Daten in solche des Gehirns übersetzbar sein sollten, mit Husserls »Antinaturalismus« kompatibel gemacht werden könnte, den Husserl z. B. im Logos-Aufsatz und in den Ideen I verteidigt. Der Vorschlag lautet grob zusammengefasst wie folgt: Husserl glaubte, dass Bewusstseinsphänomene nicht mit mathematischen Modellen beschreibbar sind. Hier irrte er: die Mathematik dynamischer Modelle kann auch solche Prozesse adäquat erfassen. Ich gehe auf diesen Vorschlag kurz ein. In den §§ 71 ff. der Ideen I fragt Husserl nach dem formalen Charakter der phänomenologischen Beschreibung von Erlebnissen. Diese Beschreibung soll eine eidetische sein, also nicht konkrete Erlebnisse, sondern deren Typen darstellen. Husserl sagt nun an dieser Stelle explizit, dass Erlebnisse nicht exakt beschreibbar seien: Man sieht ohne weiteres, dass an eine begriffliche und terminologische Fixierung dieses und jedes solchen fließenden Konkretums nicht zu denken ist, 28
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Peritot u. a. (1999), 19.
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und dass dasselbe für jedes seiner unmittelbaren, nicht minder fließenden Teile und abstrakten Momente gilt. (Hua III/1, 57)
Soweit ich sehe, steht diese Feststellung in den Ideen in keinem Zusammenhang zur Frage der Naturalisierbarkeit der Phänomenologie. Auch ist hier nicht von der Beschreibung der Typen selbst die Rede, sondern eben von den konkreten Facta. An anderer Stelle allerdings, und zwar in der Krisis, legt Husserl dar, dass die »Mathematisierbarkeit der Füllen«, d. h. der qualitativen Erlebnisse von Farben, Tönen, Wärme etc., nicht von vornherein nahe liegt. Die Idee der Mathematisierbarkeit der Welt bezog sich historisch zunächst auf ihre Gestaltseite, ihre geometrischen Eigenschaften. Es ist aber nicht a priori einzusehen, daß jede erfahrbare, jede in wirklicher und möglicher Erfahrung erdenkliche Veränderung von spezifischen Qualitäten der anschaulichen Körper auf Vorkommnisse in der abstrakten Weltschicht der Gestalten kausal angewiesen wäre, daß sie sozusagen ihr Gegenbild im Gestaltenreich hätte derart, daß die jeweilige Gesamtveränderung der Gesamtfülle ihr kausales Gegenbild in der Gestaltsphäre hätte. (Hua VI, 34)
Aus diesen beiden Gedankensträngen in den Ideen I und der Krisis scheinen nun Petitot et al. abzuleiten, dass die Nichtmathematisierbarkeit der qualitativen Erlebnisse ein wesentlicher Grund für Husserls Antinaturalismus gewesen sei: Husserl was thus deeply convinced of a necessary incompatability between the general nature of phenomenological data […] and the basic requirements of mathematization, thereby introducing a sharp contrast between phenomenology and the Galilean sciences of nature. 29
Betrachtet man nun die Nichtmathematisierbarkeit der qualitativen Erlebnisse als wesentliches Motiv für den Antinaturalismus Husserls, dann bietet sich die Mathematik dynamischer Systeme, die Husserl noch nicht zur Verfügung stand, als Heilmittel dar. Sie könnte etwa (das ist zunächst eine Arbeitshypothese) sowohl Husserls Analyse des inneren Zeitbewusstseins als auch entsprechende Gehirnvorgänge modellieren. Die neue Mathematik würde dann als eine Art Übersetzungsmanual der phänomenologischen Beschreibungen mentaler Phänomene in Gegenstände der Naturwissenschaften, also z. B. von Zeiterlebnissen in Gehirnvorgänge dienen. In diesem Sinne also wäre die Phänomenologie eben doch und contra Husserl naturalisierbar. 29
Ebd., 42. A
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Auf die Details dieses Vorschlags, der in verschiedener Weise ausgeführt wurde, kann ich hier nicht eingehen. 30 Generell scheint die Idee faszinierend, dass es zumindest auf der Ebene der passiven Synthesis eine mehr oder weniger direkte, wenigstens strukturelle Entsprechung zwischen Erlebnisqualität und Gehirnvorgang geben könnte. Gleichzeitig aber kann man der These widersprechen, dass Husserls Antinaturalismus von der Annahme motiviert war, dass fluktuierende Phänomene nicht mathematisiert werden könnten. In der Krisis hatte Husserl lediglich argumentiert, dass qualitative Eigenschaften nicht a priori als messbar erscheinen. Er hatte aber auch gezeigt, dass die Naturwissenschaften das Problem durch indirekte Mathematisierung gelöst hat, und zwar indem sie die qualitativen Erlebnisse kausal auf messbare Eigenschaften von Gestalten, etwa Tonschwingungen, Lichtschwingungen etc. zurückführte. 31 Daraus ergab sich historisch die Idee, dass das Qualitative von sozusagen sekundärer und abgeleiteter Natur sei, was zu der von Husserl beklagten »Sinnentleerung der mathematischen Naturwissenschaft in der ›Technisierung‹« und dem daraus entstandenen Dualismus von subjektiver und objektiver Welt beitrug. Ein Argument gegen die Naturalisierbarkeit des Geistes (oder gar der Phänomenologie) ergibt sich hieraus nicht. Wenn Husserl an der bereits zitierten Stelle in den Ideen I schreibt, »alles leibhaft gegebene Dingliche kann auch nicht sein, kein leibhaft gegebenes Erlebnis kann auch nicht sein« (Hua III/1, 98), so macht er damit ein »Wesensgesetz« geltend, das unsere Erfahrung von Dinglichem ebenso wie von Erlebnissen bestimmt. Dass Geistiges im Gegensatz zu Physischem notwendig ist, ist eine Frage des Sinns, und die Idee der Naturalisierung des Geistigen auf Physisches ist dementsprechend strikt genommen sinnlos. Ein solches Argument findet sich jedoch in den Ideen II. Dieses Argument steht im Zusammenhang der gesamten Konstitutionsproblematik, die Husserl hier entwickelt, und bildet eines ihrer Kernstücke. In diesem Argument thematisiert Husserl den Zusammenhang von Gehirn und Geist unmittelbar, und zwar in einem Kapitel mit dem bezeichnenden Titel »Ontologischer Vorrang der geistigen Welt gegenüber der naturalistischen« (Hua IV, 281 ff.). Husserl gesteht zu30 31
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Für eine Kritik vgl. Grush (2006). Hua VI, 32 ff.
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nächst ohne weiteres zu, dass Empfindungsdaten, also etwa diese Rotempfindung, vom Leib abhängig und letztlich durch gewisse Ereignisse im Gehirn verursacht sind. Seine wesentliche Frage lautet aber: [O]b nicht nur diese sinnlichen Inhalte, sondern auch in demselben oder einem ähnlichen Sinne alle Auffassungen und höheren Bewusstseinsfunktionen von C [dem Gehirn, V. M.] abhängig sein können, ob und inwiefern eine solche Abhängigkeit denkbar sei? (Hua IV, 289 f.)
Wie schon die Kapitelüberschrift sagte, glaubt er dies nicht. Grundlegend für sein Argument ist die Unterscheidung zwischen Kausalität und anderen Wirkungsarten, die zwischen oder in den verschiedenen konstituierten Schichten Leib und Seele, Natur und Geist etc. herrschen können. Kausalität besteht nach Husserl nur innerhalb der Natur; sie wirkt zwischen physikalischen Dingen. Das Bewusstsein ist aber offensichtlich nicht nur kausal, sondern auch von Wesens- und Vernunftgesetzen bestimmt, die Erscheinungen zur Grundlage haben und im einen oder anderen Sinne eine »Stellungnahme« des Subjekts erfordern. Bewusstseinszustände sind in diesem Sinne von vielerlei Phänomenen motiviert. Nun greifen die Natur und die geistige Welt des Bewusstseins in verschiedenster Weise ineinander. Ließe sich aber alles Geistige auf das Natürliche (Physikalische) reduzieren, dann müssten beide Bereiche parallel zueinander verlaufen, was ja auch offenbar durch Varelas Idee der Übersetzung mit Hilfe dynamischer Modelle nahe gelegt würde. Diesen Punkt aber bestreitet Husserl entschieden. Sein Argument wurzelt in seiner gesamten Auffassung von der stufenweisen Konstitution der Welt des Subjekts. Kausalität ist nicht eine Beziehung, die, wie der Naturalismus glaubt, die Welt überhaupt durchgängig bestimmt. Sie ist vom Standpunkt der Phänomenologie aus vielmehr diejenige Beziehung, durch die sich im Bewusstsein die »objektive Welt« der Natur konstituiert. Kausalität nennen wir die Beobachtung, dass sich Dinge regelmäßig in Abhängigkeit von anderen Dingen verändern, so dass eben der Zusammenhang dieser Dinge die objektive Welt darstellt (vgl. Hua IV, 59). Entsprechend konstituiert sich die Welt des Bewusstseins durch die Beziehung der Motivation, die, da sie Stellungnahmen involviert, nicht dieselbe Regelmäßigkeit wie die Kausalität aufweist und die nicht Dinge, sondern Bewusstseinsakte verbindet. Das »Weil–so« der Motivation zeichnet demnach »begrifflich« eine andere Beziehung aus als die der Kausalität. Wollen wir also Bewusstsein, z. B. das Lesen eines Buchs, verstehen, dann müssen A
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wir Motivations- und Begründungszusammenhänge aufdecken, nicht nur Kausalketten zu Gehirnvorgängen herstellen. Für das Verständnis des motivationalen »Warum?« ist die Kenntnis der Synapsenverbindungen vielmehr nutzlos, da das Subjekt von diesen ja gar nichts weiß und also von ihnen auch nicht motiviert sein kann. Mein Motiviertsein durch etwas kann zwar meiner aktuellen Aufmerksamkeit entgehen, es kann aber nicht etwas sein, das mir grundsätzlich und immer entgeht, wie das von den neuronalen Ereignissen in meinem Gehirn gilt. Insofern ist die Welt der Motivation eine andere als die der Kausalität, und der Versuch, die erstere auf die letztere zu reduzieren, stellt einen Themenwechsel dar, der sein Ziel von vornherein verfehlt. Aber auch beim Versuch, solche Motivationsbeziehungen und Wesensgesetze in systematische Beziehung zu Gehirnzuständen zu setzen, erheben sich fundamentale Probleme. Untersteht nämlich das Bewusstsein, wie Husserl ja behauptet, solchen nicht-physikalischen Motivationsgesetzen, von denen einige (etwa mereologische Gesetze) sogar a priori gelten, ist aber gleichzeitig kausal von Gehirnzuständen bestimmt, dann fragt sich, wie denn die beiden Gesetzmäßigkeiten parallel bestehen könnten. Husserls Argument in den Ideen II geht davon aus, dass es kognitive »Unverträglichkeiten« gibt, die wir nicht sinnvoll als kausale Unverträglichkeiten beschreiben können. So kann man nicht überzeugt sein, dass P der Fall ist und gleichzeitig in derselben Hinsicht nicht der Fall ist. Cum grano salis kann man sagen, dass mich das Widerspruchsgesetz »motiviert«, dergleichen nicht zu denken. Ähnliche »Unverträglichkeiten« gibt es auf der emotionalen und volitiven Ebene. Es macht keinen Sinn, dass jemand etwas haben will, von dem er weiß und überzeugt ist, dass er es bereits hat, oder dass jemand etwas fürchtet, dessen Ungefährlichkeit ihm völlig klar ist. Bezeichnenderweise verhindert die Sinnlosigkeit nicht, dass dergleichen immer wieder vorkommt, zumal in pathologischen Fällen. Husserl beschreibt die Schwierigkeit so (B bezeichnet einen Bewusstseinszustand, C einen Gehirnzustand): Wenn a priori eine Bewusstseinsmodifikation ausgeschlossen ist, wenn a priori ein Unverträglichkeitsgesetz besteht, vermöge dessen B’ und B’’ in einem Bewusstsein überhaupt unverträglich sind, so ist, was mit B’, das wir abhängig von C’ denken, verbunden ist, nicht mehr rein durch ein mit C’ verbundenes C’’ oder überhaupt durch ein Spiel von C-Zuständen bestimmt, sondern eine absolut starre Gesetzmäßigkeit besteht, die nicht ihre Parallele in der empirischen Gesetzmäßigkeit des C hat. […] Danach haben wir vieler-
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lei Phänomene, die auf kausale Dependenz von C-Zuständen zu reduzieren ein nonsens wäre. (Hua IV, 293 f.)
Mit anderen Worten: dass wir unter normalen Umständen nicht etwas begehren, das wir bereits besitzen, liegt nicht daran, dass unser Gehirn so und so »verdrahtet« ist, sondern daran, dass wir die Sinnlosigkeit eines solchen Begehrens einsehen und davon Abstand nehmen können, uns also von einem axiologischen Gesetz motivieren lassen können. Bewusstseinsakte zeichnen sich dadurch aus, dass sie Gründe haben, nicht etwa nur Ursachen. Die beiden Beziehungsreihen B’-B’’ und C’-C’’ können also nicht gesetzlich parallel zueinander verlaufen, weil Motivation nicht in einer beobachtbaren regelmäßigen Abhängigkeit der Veränderung von raumzeitlichen Dingen besteht, sondern andere und weitaus subtilere Strukturen aufweist. Bewerte ich einen Kriminalroman als »spannend«, dann nicht, weil ein Gehirnzustand C’ einen zweiten C’’ kausal verursacht, sondern deshalb, weil ein Bewusstseinsakt B’ (das Lesen) einen Grund für B’’ (das Urteil) darstellt. Es macht deshalb buchstäblich keinen Sinn, zu behaupten, dass Motivationsbeziehungen »in Wirklichkeit« Kausalbeziehungen seien. 32 Die systematischen »Regelungen« der physikalischen und der Bewusstseinswelt sind verschieden – eben deshalb erleben wir sie als unterschiedliche Welten. Motivationsbeziehungen, zumindest solche, die auf Wesensgesetzen beruhen, können also nicht naturalisiert werden, und es kann kein mathematisches Modell geben, das sie in Kausalbeziehungen übersetzt. Da zudem Motivation der wesentliche »Motor« der Konstitution höherer Bewusstseinsgegenstände ist, wirkt sich das Argument auf allen Ebenen des Bewusstseins aus, genau genommen auch auf den untersten Schichten. Husserl versteht nämlich unter Motivation nicht Husserls Begriff der Motivation ist zu komplex, als dass ich ihm an dieser Stelle gerecht werden könnte. So gibt es Motivationsbeziehungen, insbesondere solche, die auf individualgeschichtlicher Sedimentierung beruhen, die quasi-kausalen Charakter annehmen können, etwa wenn ein traumatisches Erlebnis eine Person hinfort zu gewissen Bewusstseinserlebnissen, etwa Panikattacken, motiviert. Dem unscharfen Sprachgebrauch zum Trotz kann man hier ja nicht von einer »Ursache« im physikalischen Sinne reden, schon deshalb nicht, weil das Erlebnis nur als ein so und so aufgefasstes traumatisch wirken kann. Husserl selbst hat in den Ideen II die verschiedenen möglichen Beziehungen zwischen Bewusstsein und Gehirnzustand nicht im Detail untersucht oder auch nur benannt. So spricht er von der Realisierung von Bewusstsein in Gehirnzuständen und umgekehrt der Verursachung von Bewusstseinszuständen durch Gehirnvorgänge.
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nur rationale Gründe (die aktive Motivation), sondern auch passive Motivation etwa durch Assoziation. Auch alle Wesensgesetze des Bewusstseins, zu denen er das Versinken einer Impression in Retention rechnet, sind nicht-kausaler Art und deshalb nicht auf Gehirnzustände reduzierbar. B’
-------------
# C’ (
)
B’’
Motivation
#
Abhängigkeit
C’’
Kausalität
Werden B’ und B’’ auf C’ und C’’ reduziert, dann wird aus Motivation Kausalität; dies macht aber keinen Sinn. Husserl leitet aus diesem Argument aber nun keineswegs ab, dass Phänomenologie und Naturwissenschaft sich nichts zu sagen hätten, im Gegenteil. Husserl ist kein Wissenschaftsfeind; vielmehr liegt ihm daran, Wissenschaft phänomenologisch zu fundieren, so dass sie, wie im oben angeführten Zitat gefordert, »statt mit vagen mit analytisch geklärten und umgrenzten inneren Erfahrungen operiert«. Die klare Unterscheidung zwischen Kausalität und Motivation gehört zu dieser Aufgabe. In ihrem Gefolge lässt sich dann auch erst das schwierige Problem des Ineinandergreifens der beiden Ebenen erforschen. Dabei bildet der Leib einen Schnittpunkt zwischen beiden Bereichen: er ist einerseits als Körper Teil der physikalischen Natur, andererseits aber als Leib die stoffliche Materie, hylé, des Bewusstseins. Damit stellen sich – ohne dass damit ein radikaler Naturalisierungsanspruch verbunden wäre – für Husserl Fragen, die nicht von der Phänomenologie und nicht a priori, sondern nur von der »experimentellen Psychologie« beantwortet werden können. Ich nenne nur einige: 1.
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In Bewusstseinsprozessen treten Empfindungen auf, die offenbar abhängig von physiologischen Vorgängen sind. Wenn eine solche Abhängigkeit nicht für alle Bestandteile des Bewusstseins gilt, wie das oben angeführte Argument zeigte, wo liegen die Grenzen? Husserl vermutet, dass noetisches Bewusstsein immer mit abhängig von Gehirnzuständen sein wird, da alle Noesen in Wahrnehmungsgegebenheiten fundiert sind. Dann aber ist es eine
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2.
3.
schwierige Aufgabe, den noetischen Gehalt empirisch von den mitverwobenen Empfindungen zu trennen. Die Frage stellt sich für Husserl auch als eine der Gleichzeitigkeit von Bewusstseinsvorgang und Gehirnprozess. Bewusstseinsprozesse haben nur durch ihre Beziehung auf den Leib objektives zeitliches Dasein, so dass »der Empfindung die objektive Zeit des betreffenden objektiven Gehirnvorganges zugemessen werden muss«, d. h. Empfindung und Gehirnvorgang müssen gleichzeitig stattfinden (vgl. Hua IV, 295). Damit ist aber auch ein empirisches Verfahren zur Trennbarkeit von Kausalität und Motivation angedeutet: Ungleichzeitigkeit weist auf einen nicht vollständig vom Gehirn bestimmten Bewusstseinsvorgang. Hat man den Parallelismus zwischen Geist und Körper einmal aufgegeben, dann stellt sich die Frage nach der »Wechselwirkung« von Motivation und Kausation. Dies ist eine besonders schwierige Frage, weil der Begriff der »Wirkung« je nach Zusammenhang anderes bedeutet. So kann angesichts der getroffenen Unterscheidungen, nicht davon die Rede sein, dass Geistiges Physisches kausal verursacht, aber auch nicht das Umgekehrte: Kausalität gibt es nur im Reich des Physikalischen. Andererseits besteht offenbar jene Abhängigkeit der Empfindung vom Leib, die Chalmers so rätselhaft fand, und ebenso eine dritte Art der Abhängigkeit in der umgekehrten Richtung, die etwa bei der willentlichen Erzeugung von Empfindungen (z. B. sich kneifen) beobachtet wird.
Husserl macht in den Ideen II folgenden einfachen Vorschlag zur Lösung der gesamten Problematik: nur die sinnliche Unterlage des Bewusstseins, also, das, was die hylé unserer Bewusstseinsvorgänge bildet, ist kausal durch Gehirnzustände fixiert, und zwar nur insofern, als die Wesenszusammenhänge Kausalität durch solche sinnlichen Unterlagen offen lassen, also ihnen gegenüber unbestimmt sind. So ist etwa eine Ton-Empfindung kausal bedingt, aber nicht das, »was sich daran notwendig an Retentionen knüpft« (Hua IV, 293), denn Retention ist ein Strukturmerkmal des Bewusstseins. Grundsätzlich ist das Bewusstsein durch Gehirnvorgänge unterbestimmt: diese liefern dem Bewusstsein nur notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen (vgl. Hua IV, 297). Die Argumente, die Husserl in den Ideen II anführt, scheinen oft auf eine Art des »metaphysischen Idealismus« hinauszulaufen, etwa A
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in der Kapitelüberschrift vom »ontologischen Vorrang« der geistigen Welt, oder wenn Husserl argumentiert, man könne sich Geister ohne Leib denken, die dennoch Individuen wären. Der Anschein ist jedoch irreführend. Husserl ist kein ontologischer, sondern ein transzendentaler Idealist. Seine These lautet, dass wir die wirkliche Welt, wie immer wir sie uns denken, durch unser Bewusstsein denken, eine Tatsache, die wir bei der Bestimmung dessen, was »wirklich« heißt, nicht übergehen können. Müssen wir die Subjektivität aber mit einbeziehen, dann müssen wir darin auch genau sei und dürfen nicht von vagen Alltagsbegriffen und verkehrten, wenn auch nützlichen Modellen und Vorurteilen ausgehen. Dann aber muss man zeigen, dass die Idee einer vollständigen Naturalisierung, wie Husserl sagt, »chimärisch« ist. Diese »phänomenologische Kognitionswissenschaft« müsste also, sofern man das Verfahren ernsthaft anwendet und Epoché und Reduktion nur weit genug betreibt, den gängigen Mythen der derzeitigen Philosophie des Geistes direkt widersprechen: Die Empfindungen und einfachen Qualia wären durchaus naturalisierbar, sofern sie sich als gleichzeitig mit Gehirnvorgängen ausweisen ließen, alle weiteren Bewusstseinsinhalte wären es nicht, und zwar auch dann nicht, wenn sie sich, wie man annehmen kann, im Gehirn realisieren oder evolutionär erklärbar sind. Die in dieser Hinsicht bestehende Grenze zwischen »einfachen Daten« und höheren Bewusstseinsstrukturen müsste nach Husserl empirisch bestimmt werden; darin bestünde gerade die Aufgabe der zukünftigen Experimentalpsychologie. Soweit ich Husserl verstehe, müsste diese – wie es die Neurowissenschaften heute in manchen Bereichen tatsächlich tun – vor allem zeitliche Prozesse und Zusammenhänge zwischen Bewusstseinvorgängen und Gehirnprozessen untersuchen. Sie müsste zudem versuchen, physiologische Unterschiede zwischen Bewusstseinsvorgängen mit gleicher Empfindungsbasis zu fixieren. Gelänge letzteres in bestimmten Bereichen nicht, dann würde dies Husserls These bestätigen: Motivation ist das eigentliche harte Problem des Bewusstseins.
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Das Allgemeine als das »Gemeinsame«. Anmerkungen zum Proton Pseudos der Lehre Husserls von der Wesensanschauung* Rochus Sowa
I.
Einleitung
In Bezug auf die verfänglichen Ausdrücke »›mentales‹ Objekt« und »›immanentes‹ Objekt« sagt Husserl im § 90 der Ideen I: »Benennungen bekunden hier schon Deutungen und oft sehr falsche.« (Hua III/1, 207; Herv. RS). Dass Benennungen falsche, manchmal sogar »sehr falsche« Deutungen bekunden, gilt auch und besonders, wie ich im Folgenden zeigen möchte, in Bezug auf die Rede von »dem Allgemeinen«. Dass auch in dem blassen und scheinbar unverfänglichen Ausdruck »das Allgemeine« eine falsche Deutung liegt, und zwar ein falsche Deutung desjenigen logischen Allgemeinheitsphänomens, das man undeutlich im Blick hat, wenn man sich mit diesem Ausdruck auf das begriffliche Allgemeine bezieht, ist Husserl entgangen. Es ist allerdings nicht nur Husserl entgangen. Husserl steht mit seiner Auffassung des Allgemeinen in einer langen, fast ungebrochenen Deutungstradition, die über das Mittelalter bis auf Aristoteles zurückreicht. Der deutsche Ausdruck »das Allgemeine«, der die Übersetzung des aristotelischen Terminus to kajlou (to kathólou) und des lateinischen Terminus »universale« ist, benennt nicht nur, sondern deutet zugleich das durch ihn in Blick gebrachte logische Phänomen, und zwar deutet er es als etwas »einem All von Gegenständen (einer gewissen Art) Gemeinsames«. Bei Aristoteles wird das kajlou explizit als ein koinn (koinón), als ein Gemeinsames, verstanden und als ein Eines im
* Erweiterte Fassung meines Vortrags auf der zum 150. Geburtstag Edmund Husserls vom Husserl-Archiv Leuven organisierten Konferenz »Phänomenologie – Wissenschaften – Philosophie« (Katholische Universität Leuven, 1.–4. April 2009). Eine englische Übersetzung ist unter dem Titel »The Universal as ›What is in Common‹. Comments on the Proton-Pseudos in Husserl’s Doctrine of the Intuition of Essence« in Ierna/Jacobs/ Mattens (2010), 525–557, erschienen. A
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Vielen, als ein n epffl polln (hen epi pollôn), aufgefasst; und das lateinische Mittelalter versteht, Aristoteles folgend, das universale von vornherein als ein »commune«, als etwas Gemeinsames, das seiner Natur nach in mehrerem zu sein vermag. Husserl, der diese bis ins 20. Jahrhundert hinein vorherrschende Deutung des Allgemeinen fraglos übernimmt, sieht nicht, dass es inzwischen eine alternative und adäquate Deutung des mit der Rede vom Allgemeinen intendierten logischen Phänomens begrifflicher Allgemeinheit gibt. Diese Alternative kennend und sie doch nicht als solche erkennend, konzipiert Husserl seine Lehre vom Allgemeinen und von der Anschauung des Allgemeinen, die als seine Lehre vom Wesen und von der Wesensanschauung eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat; und er konzipiert diese Lehre auf dem Boden einer inadäquaten und zu seiner Zeit schon überholten traditionellen Konzeption, der Konzeption des Allgemeinen als eines idealen Gemeinsamen. Dieses Proton Pseudos von Husserls Lehre vom Wesen und der Wesensanschauung möchte ich im Folgenden zunächst als ein Proton Pseudos mit einer sehr langen Tradition darstellen. Danach werde ich die traditionelle Auffassung des Allgemeinen einer kurzen kritischen Analyse unterziehen und sie anschließend mit einer alternativen Konzeption des begrifflichen Allgemeinen konfrontieren, die dessen spezifische Allgemeinheit adäquat erfasst. Zum Schluss werde ich noch einige Andeutungen über die Form der Husserl’schen Wesenslehre machen, die aufgrund dieser neuen Konzeption des Allgemeinen möglich ist.
II.
»Das Allgemeine«. Vorklärende Bemerkungen zum logischen Phänomen der begrifflichen Allgemeinheit
In einem ersten, vorklärenden Schritt muss allerdings, damit man überhaupt weiß, wovon hier eigentlich die Rede ist, wenn von »dem Allgemeinen« die Rede ist, dasjenige logische Phänomen in den Blick gebracht werden, um das es hier geht. Denn die Rede von dem Allgemeinen oder dem begrifflichen Allgemeinen blieb in meinen einleitenden Bemerkungen notwendig vage. Die Ausdrücke »das Allgemeine«, to kajlou und »universale« lenkten den Blick des philosophiehistorisch Gebildeten zwar schon in die Richtung, in der die mit diesen Ausdrücken intendierte Sache liegt, aber die intendierte Sache selbst, das durch sie anvisierte logische Phänomen des Allgemei146
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nen, ist durch sie noch nicht so in Sicht gebracht, dass hinreichend klar ist, wovon im Folgenden die Rede sein wird. Die nötige vorläufige Klarheit schaffen hier unzweifelhafte Beispiele aus der Alltagssprache: Substantive wie »Haus« und »Vater«, Verben wie »schlafen« und »schlagen« sowie Adjektive wie »rot« und »ähnlich« sind jeweils Ausdruck derjenigen Allgemeinheit, die das Allgemeine charakterisiert, das mit der Rede von »dem Allgemeinen« gemeint ist. Es ist diejenige Form von Allgemeinheit, die ich mit Husserl »begriffliche Allgemeinheit« nenne. Durch diese Form der Allgemeinheit sind die sogenannten Begriffswörter charakterisiert, die Wörter, die man den Wortarten »Substantiv«, »Verb« und »Adjektiv« zuordnet, und es ist diejenige Form der Allgemeinheit, die den Eigennamen (z. B. »Peter«) und den Kennzeichnungen (z. B. »die Hauptstadt Italiens«) fehlt. Sie fehlt aber auch denjenigen Gebilden, die wir »Sätze« nennen, gleichgültig ob es sich um Aussagesätze, Fragesätze oder Befehlssätze handelt, und gleichgültig welche logische Form die Sätze haben, ob es sich z. B. um universelle, partikuläre oder singuläre Aussagesätze handelt. Die universellen Aussagesätze, also Sätze der Form »alle F sind G« oder »jedes F ist G«, sind zwar allgemein, aber auf eine völlig andere Art allgemein als die Begriffswörter oder Begriffe. Die begriffliche Allgemeinheit ist toto coelo verschieden von der propositionalen Allgemeinheit, der Allgemeinheit allgemeiner Sätze 1. Diese Hinweise mögen genügen, um ungefähr klar zu machen, welches logische Phänomen in der Rede von »dem Allgemeinen« im Folgenden thematisch ist. Es ist diejenige Form von Allgemeinheit, durch die sich Begriffswörter einerseits von Eigennamen und Kennzeichnungen und andererseits von allgemeinen Sätzen unterscheiden. Es handelt sich also – grob gesagt – um diejenige Allgemeinheit, die Begriffe zu Begriffen macht. Kant bemerkt daher zu Recht, dass die Rede von »allgemeinen Begriffen« tautologisch ist und es allenfalls gerechtfertigt ist, von einem allgemeinen »Gebrauch« von Begriffen in universellen Urteilen zu reden im Unterschied zu ihrem Gebrauch in partikulären und singulären Urteilen. 2 * Auf diese Form der Allgemeinheit bezieht sich Aristoteles ebenfalls mit dem Ausdruck to kajlou. Dieser dient nun zur Bezeichnung der positiven und der negativen allgemeinen Sätze, die entweder allen Gegenständen, die unter einen Begriff F fallen, die Eigenschaft, G zu sein, zusprechen, oder keinem; vgl. Analytica priora I, I, 24a 16– 22. 2 Vgl. Kant (1987), § 1, Anmerkung 2. A
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Begriffe sind also per se allgemein. Was besagt das aber? Worin besteht die Allgemeinheit des Begriffs bzw. des begrifflichen Allgemeinen? Auf diese Leitfrage meines Beitrags hat die philosophische Tradition eine Reihe von Antworten gegeben, die im Grunde eine einzige Antwort darstellen. Und dies ist auch die Antwort, die Husserl gegeben hat: Das begriffliche Allgemeine ist ein Gemeinsames, ein Gemeinsames von vielen, ein n epffl polln.
III. Die traditionelle Bestimmung des Allgemeinen als eines Gemeinsamen (von Aristoteles bis Husserl) Die für die folgenden zwei Jahrtausende maßgebliche Antwort auf die Frage nach der Allgemeinheit des Allgemeinen hat Aristoteles gegeben. Und es ist eine Antwort, die mit Blick auf die beiden Grundweisen, in denen uns das hier thematische Allgemeine gegeben ist, phänomengerecht zwei Aspekte unterscheidet: Zum einen ist das Allgemeine für uns als etwas Sprachliches bzw. Semantisches gegeben, als etwas, das gewisse Arten sprachlicher Ausdrücke, nämlich Substantive, Verben und Adjektive charakterisiert und prototypisch in Aussagesätzen als das von einem Satzsubjekt Ausgesagte (»Prädikat«) auftritt. Zum anderen ist das Allgemeine etwas Ontisches, etwas, das an Gegenständen als ihre Bestimmung auftritt, sofern sie von uns sprachlich oder vorsprachlich apperzipiert werden, d. h. in einer gewissen allgemeinen Bedeutung z. B. als »ein Mensch« oder als »grün« oder als »laufend« wahrnehmungsmäßig aufgefasst werden. Die Antwort des Aristoteles, die den ersten, den sprachlichen bzw. semantischen Aspekt betont, findet sich in Peri Hermeneias. Dort sagt Aristoteles: »das Allgemeine [to kajlou] aber ist dasjenige was seiner Natur nach von mehreren ausgesagt [kathgore…sqai] werden kann«; und er führt als Beispiel für ein solches Allgemeines den Begriff »Mensch« an, den er mit dem Eigennamen »Kallias« kontrastiert, der nicht von mehrerem, sondern nur von einem Einzelnen [kaq’ kaston] »ausgesagt« werden kann. 3 Die den ontischen oder gegenstandsbestimmenden Aspekt des Allgemeinen betonende Antwort gibt Aristoteles in seiner Metaphysik. Dort 3 Vgl. De interpretatione 7, 17a 38–41. Siehe hierzu und zum Folgenden die Artikel von Koch (2005) und Wagner (2005).
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sagt er: »die Substanz [o'sffla] des Einzelnen ist dem Einzelnen eigentümlich [—dio@] und kommt keinem anderen zu; das Allgemeine aber ist [mehreren] gemeinsam [koinn]. Denn eben das heißt ja allgemein: was von Natur aus mehreren Dingen zukommt [¢p€rcei].« 4 Diese ontologische Bestimmung des Allgemeinen als eines mehreren Dingen Zukommenden macht auf eine stillschweigend gemachte Voraussetzung aufmerksam, die in der logischen Bestimmung des Allgemeinen als eines von mehreren Dingen Aussagbaren enthalten ist, nämlich die Voraussetzung, dass das begriffliche Allgemeine ein von mehrerem wahrheitsgemäß oder zu Recht Aussagbares ist; denn nur was wahrheitsgemäß oder zu Recht von einem Gegenstand ausgesagt werden kann, kommt diesem wirklich zu. 5 Aufgrund der von Aristoteles stillschweigend gemachten Wahrheitsvoraussetzung sind also seine ontologische Bestimmung des Allgemeinen und die von dieser geforderte logische Bestimmung streng korrelativ, und zwar mit der Folge, dass die ontologische Bestimmung des Allgemeinen – wie wir sehen werden – die Reichweite seiner logischen Bestimmung eigentümlich beschränkt. An der von Aristoteles gegebenen zweifachen, korrelativen Bestimmung des Allgemeinen als etwas, das seiner Natur nach wahrheitsgemäß von mehreren Gegenständen ausgesagt werden kann, und als etwas, das seiner Natur nach mehreren Gegenständen zukommt, fällt auf, dass beide Bestimmungen einen gemeinsamen Bestandteil haben. In beiden Bestimmungen tritt nämlich das Wort »mehrere« auf. Und es ist, wie noch zu zeigen sein wird, eben vor allem dieser Zusatz, der die Bestimmung des begrifflichen bzw. des gegenstandsbestimmenden Allgemeinen in folgenschwerer Weise verfälscht und bis ins 20. Jahrhundert hinein negativ auf die logische Theorie des Begriffs und die ontologische Theorie des Wesens gewirkt hat. Sowohl die semantische als auch die ontologische Bestimmung des Allgemeinen steMetaphysik VII 13, 1038b 10–12. Dieselbe Bestimmung gibt Aristoteles dem Allgemeinen in seiner Schrift »Von den Teilen der Tiere«, wo er das kathólou durch das koinón erläutert: »Das Allgemeine ist das Gemeinsame. Denn was mehrerem zukommt, nennen wir das Allgemeine.« (De partibus animalium, Buch I, Kap. 4, 644a 27, zit. nach Wöhler (1992a), 208 f.) 5 Diese implizite Wahrheitsvoraussetzung macht John St. Mill (1843), § 3, explizit, wenn er schreibt: »A general name is familiarly defined, a name which is capable of being truly affirmed, in the same sense, of each of an indefinite number of things.« (Vol. I, 2, § 3; mit meiner Hervorhebung zitiert nach Künne (1983), 21. 4
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hen seither unter der Vorannahme, das Allgemeine sei »irgendwie« ein Gemeinsames von mehreren Gegenständen. Diese These möchte ich im Folgenden durch einige exemplarische Stellen aus einflussreichen logischen und philosophischen Werken belegen und zeigen, dass sie auch für Husserl gilt. 1) Bestimmend war die aristotelische Auffassung des Allgemeinen zunächst für die Philosophie des Mittelalters. In den Summulae Logicales, dem maßgeblichen, von Petrus Hispanus verfassten Lehrbuch der scholastischen Logik, heißt es: »Universale wird das genannt, was seiner Natur nach in mehrerem zu sein vermag.« 6. Diese Auffassung des Allgemeinen liegt auch dem sich über Jahrhunderte hinziehenden mittelalterlichen Universalienstreit zugrunde, der bekanntlich seinen Ausgang nimmt vom Kommentar des Boethius zu der Einleitung des Porpyrius in Aristoteles’ Kategorienschrift. In unserem Zusammenhang ist nur »das philosophische Substrat« des Universalienproblems von Interesse, das Hans-Ulrich Wöhler in folgender Frage zusammenfasst: »Worin bestehen Wesen, Existenz und die innere Struktur des Allgemeinen, d. h. des Gemeinsamen, das sämtliche Dinge von bestimmter Beschaffenheit zu einer Einheit zusammenführt?« 7 Gleichgültig, wie man das hier thematische Allgemeine (universale) in seinen beiden Grundgestalten »Gattung« und »Art« nun näher bestimmt, ob als ›Allgemeinbegriff‹ oder, wie Wöhler vorschlägt, als ›Allgemeinbestimmung‹, entscheidend ist – hinsichtlich der uns leitenden Fragestellung nach der Allgemeinheit des Allgemeinen –, dass hier die aristotelische Bestimmung des Allgemeinen als eines Gemeinsamen durchschlägt und als unbefragte Voraussetzung in die Formulierung des Universalienproblems eingeht. 2) Die aristotelische Bestimmung des Allgemeinen verliert auch bei den Philosophen der Neuzeit nicht ihre Geltung. Im Jahr 1662 erscheint die für die neuzeitliche Logik überaus einflussreiche Logik von Port-Royal. 8 In dem Kapitel »Über die Ideen hinsichtlich ihrer AllVgl. Petrus Hispanus (1947), 2. 01: »Dicitur universale quod aptum natum est esse in pluribus.« Zitiert nach Künne (1983), 12. 7 Wöhler (1992b), VII; vgl. ebd., 309. 8 Das von Antoine Arnauld und Pierre Nicole verfasste Werk erschien auf Französisch ursprünglich unter dem Titel La Logique ou L’Art de penser (z. B. Amsterdam 1682) und später unter dem Titel Logique de Port-Royal (z. B. Paris 1877; ein Exemplar dieser Ausgabe befindet sich in Husserls Privatbibliothek). Auf Deutsch erschien es 1994 in der Übersetzung von Christos Axelos. 6
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gemeinheit, Besonderheit und Einzelheit« (Erster Teil, Kapitel VI), findet sich, wenngleich in einem neuen, von Descartes inspirierten sprachlichen Gewand im Wesentlichen die alte aristotelische Bestimmung des begrifflichen Allgemeinen als eines Gemeinsamen. Wir lesen dort: »Les idées qui ne représentent qu’une seule chose s’appellent singulières ou individuelles, […]; celles qui en représentent plusieurs s’appellent universelles, communes, générales.« Zu Deutsch: »Die Ideen, die nur eine einzelne Sache repräsentieren, heißen einzelne oder individuelle, […]; diejenigen, die mehrere repräsentieren, heißen universelle, gemeinsame oder allgemeine.« Die allgemeinen Ideen sind also hier allgemein, weil sie mehrere Gegenstände repräsentieren. Und dies tun sie dadurch, dass sie etwas mehreren Gegenständen Gemeinsames repräsentieren. Deshalb heißen sie auch gemeinsame Ideen (idées communes) und finden Ausdruck in sogenannten Gemeinnamen (noms communs). Die Allgemeinheit der allgemeinen Idee besteht also wie die Allgemeinheit des aristotelischen Allgemeinen, des kathólou, in der Bezogenheit auf eine Mehrheit oder Vielheit von Gegenständen und ist Ausdruck einer bei diesen aufweisbaren Gemeinsamkeit. 3) Auch Kant bleibt der Tradition verhaftet, die das begriffliche Allgemeine als ein Gemeinsames auffasst. Kant redet allerdings nicht mehr von allgemeinen Ideen, sondern von »allgemeinen Vorstellungen«, die er auch kurz als »Begriffe« bezeichnet und als »Funktionen des Verstandes« 9 den »Anschauungen« als den Gegebenheiten der Sinnlichkeit entgegensetzt. In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant: »In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt, und unter diesem Vielen auch eine gegebene Vorstellung begreift, welche letztere denn auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird.« (KrV, B 93) Und in Kants Logik heißt es: »Der Begriff ist eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist, also eine Vorstellung, sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann.« 10 Obwohl Kant – wie schon Aristoteles – die zentrale Rolle des begrifflichen Allgemeinen in Urteilen sieht und Begriffe geradezu als mögliche Prädikate von Urteilen bestimmt, löst er sich nicht von der alten aristotelischen Auffassung, wonach Begriffe allgemeine Vorstel-
9 Vgl. KrV, B 93: »Von […] Begriffen kann nun der Verstand keinen anderen Gebrauch machen, als daß er urteilt.« 10 Kant (1987), § 1.
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lungen sind, weil sie Vorstellungen von etwas Gemeinsamem von mehreren Gegenständen sind. 4) Die traditionelle Leitvorstellung des begrifflichen Allgemeinen a ls eines Gemeinsamen findet sich auch bei Hermann Lotze, einer der zentralen Gestalten der deutschen Universitätsphilosophie des 19. Jahrhunderts. In seiner 1874 erschienenen Logik, der wir den philosophischen Begriff der Geltung verdanken und die mit ihrer Deutung der platonischen Ideenwelt als einer Welt von idealen Geltungsgebilden von großem Einfluss auf Husserls Wesenslehre war, entwickelt Lotze im Rahmen seiner Lehre vom Begriff und von der Abstraktion von Begriffen seine Lehre vom »ersten« und »zweiten Allgemeinen«. Dabei setzt er ohne weiteres voraus, dass das Allgemeine jeder Art und Stufe ein Gemeinsames ist. Das gilt also auch für das erste Allgemeine. Das erste Allgemeine, das nicht wie das zweite Allgemeine methodisch und durch »logische Arbeit« erzeugt wird, sondern einer naturwüchsigen Verallgemeinerung entspringt und sich als ein unmittelbar Gegebenes aufdrängt, charakterisiert Lotze nämlich als ein »Gemeinsames«, das »in der Empfindung unmittelbar erfahren« wird und das sich »in einer Mehrheit verschiedener Eindrücke« als »etwas Gemeinsames vorfindet«. 11 Lotze erläutert seine Konzeption des ersten Allgemeinen – wie übrigens später Husserl seine Konzeption des Wesens – anhand von Beispielen aus der Sphäre der Farben, und zwar anhand der allgemeinen Farbgattungen Rot, Gelb und Blau sowie anhand der diesen Farbgattungen übergeordneten Qualitätsgattung Farbe überhaupt. Wie die Farbgattung Rot als das Gemeinsame von Rotnuancen ein erstes unmittelbar erfasstes Allgemeines ist, so zählt auch die Qualitätsgattung Farbe überhaupt, das nach Lotze allen Farben und Farbgattungen Gemeinsame, zum ersten Allgemeinen. Es werde nämlich, sagt Lotze, »die im Roth und Gelb bestehende Verwandtschaft [sic!], das Enthaltensein eines Gemeinsamen [sic!] in beiden«, unmittelbar empfunden, gefühlt oder erlebt, und die »logische Arbeit« bestehe hier beim ersten Allgemeinen nur »in der Anerkennung und dem [sprachlichen] Ausdruck dieser inneren Erfahrung«. 12 Die fundamentale Bedeutung des ersten Allgemeinen für das Verständnis von begrifflicher Allgemeinheit überhaupt bringt Lotze wie folgt zum Ausdruck: Lotze (1874), 27 f. Zum Verhältnis des ersten zum zweiten Allgemeinen vgl. hier insbesondere den § 24. 12 Lotze (1874), 30. 11
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Daß das Gelb des Goldes das Roth des Kupfers und das Weiß des Silbers nur Abwandlungen eines Gemeinsamen sind, das wir Farbe nennen, das empfanden wir unmittelbar; wem es aber nicht empfindbar wäre, dem würde durch logische Arbeit nie deutlich gemacht werden können, daß diese Eindrücke dieses Allgemeinen sind, noch überhaupt, was eigentlich ein Allgemeines und die Beziehung seines Besonderen zu ihm sagen will. 13
5) Wie Lotze, dessen Logik Husserl gründlich studiert hat, 14 steht auch Husserl in der Tradition der Deutung des begrifflichen Allgemeinen als eines Gemeinsamen. Dies will ich im Folgenden im Ausgang von einer allgemeinen Erläuterung der Bedeutung der Ausdrücke »Wesen« und »das Allgemeine« bei Husserl kurz belegen. Den Ausdruck »das Allgemeine« verwendet Husserl in einem engeren und in einem weiteren Sinne. Etwas Allgemeines im weiteren Sinne sind für Husserl nicht nur begriffliche bzw. gegenstandsbestimmende Allgemeinheiten, sondern auch »Sachverhaltsallgemeinheiten«, die in universellen bzw. generellen Sätzen Ausdruck finden. 15 Im engeren Sinne verwendet, bezeichnet der Ausdruck »das Allgemeine« bei Husserl allerdings nur das begriffliche bzw. das gegenstandsbestimmende Allgemeine. Das begriffliche Allgemeine, das als Bedeutung von Begriffswörtern auftritt, nennt Husserl auch kurz »Begriff«. Das in einem Sachverhalt auftretende gegenstandsbestimmende Allgemeine nennt er »Wesen«: Es ist nur ein anderer Ausdruck [für »das Allgemeine« (ebd.)], wenn wir von Wesen sprechen. […] Alles am Gegenstand begrifflich Fassbare […] ist sein Wesen […]. In weiterer Folge heißt dann jedes Allgemeine, objektiv genommen, ein Wesen, eine Essenz.« (Hua XXIV, 299) In Bezug auf den Husserl’schen Terminus »Wesen« (im Sinne von »gegenstandsbestimmendes Allgemeines«) ist allerdings zu beachten – und dies wird leider selten beachtet –, dass er bei Husserl eine doppelte Bedeutung hat: Wesen im weiteren Sinne sind, wie in dem Zitat, alle gegenstandsbestimmenden, in SubstantiEbd., 41 f. Das Problematische einer solchen Rede von einem Gemeinsamen hat Wittgenstein in seinem Blauen Buch einer kritischen Analyse unterzogen. Vgl. Wittgenstein (1982), 197–210. Seine Einwände treffen nicht nur Lotze, sondern auch Husserl, wo er Lotzes Farbenbeispiel übernimmt und an einer Farbgattung wie Rot oder an der Qualitätsgattung Farbe überhaupt das methodische Herausschauen eines Allgemeinen (Wesen bzw. Eidos) erläutert. 14 Ein annotiertes Exemplar der 2. Auflage von Lotzes Logik befindet sich in Husserls Privatbibliothek im Husserl-Archiv Leuven. 15 Hua VIII, 171. 13
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ven, Verben und Adjektiven sprachlichen Ausdruck findenden Allgemeinheiten, die wir als unselbständige Teile von Sachverhalten erfassen. Diesen gegenstandsbestimmenden »ontischen« Allgemeinheiten entsprechen die begrifflichen Allgemeinheiten, die Begriffe als Bedeutungen gewisser sprachlicher Ausdrücke. Wesen im engeren oder prägnanten Sinn sind nur die reinen gegenstandsbestimmenden Allgemeinheiten, die Husserl auch »reine Wesen« oder kurz »Eidé« nennt. Diesen reinen Wesen entsprechen reine Begriffe und nur reine Begriffe. Dies sind Begriffe, die in ihrem Inhalt weder explizit noch implizit etwas Faktisches mitsetzen und die ihrer Natur nach auf einen offen-unendlichen Umfang reiner Möglichkeiten oder Erdenklichkeiten bezogen sind. Es sind Begriffe, die aufgrund ihrer Freiheit von allen »empirischen« Mitsetzungen in den Sätzen einer eidetischen (apriorischen) Wissenschaft auftreten können, z. B. einer formalen eidetischen Wissenschaft wie der reinen Arithmetik oder einer materialen eidetischen Wissenschaft wie der reinen Geometrie, die für Husserl die paradigmatischen eidetischen oder apriorischen Wissenschaften sind. 16 Dafür, dass Husserl das Allgemeine in der Gestalt der allgemeinen Gegenstandsbestimmung und in der Gestalt des allgemeinen Begriffs durchweg als ein Gemeinsames auffasst und damit der skizzierten aristotelischen Deutungstradition verhaftet bleibt, will ich im Folgenden einige Textstellen als Belege anführen: In den Logischen Untersuchungen bestimmt Husserl das begriffliche bzw. gegenstandsbestimmende Allgemeine aus seiner Bezogenheit auf eine Vielheit von es exemplifizierenden Einzelfällen, und zwar bestimmt er es als eine »Einheit in der Mannigfaltigkeit« (Hua XIX/1, 107, 159) 17, als »identische Einheit gegenüber einer verstreuten Mannigfaltigkeit von konkreten Einzelfällen« (Hua XVIII, 135) und als »ein
»Wesen« im hier erläuterten weiteren und engeren Sinn (im Sinne des gegenstandsbestimmenden Allgemeinen überhaupt und des reinen gegenstandsbestimmenden Allgemeinen, das Husserl auch als Eidos bezeichnet) darf nicht verwechselt werden mit »Wesen« im Sinne von »Inbegriff notwendiger (›wesentlicher‹ oder ›essenzieller‹) Bestimmungen«. »Eidetisch« besagt daher auch nicht soviel wie »essenziell« oder »wesentlich«. Die Bedeutung von »eidetisch« bestimmt sich ausschließlich aus dem Gegensatz zu »empirisch«, wogegen sich die Bedeutung von »essenziell« aus dem Gegensatz zu »akzidentell« bestimmt. Eidetische Wissenschaften, die Husserl auch als Wesenswissenschaften bezeichnet, sind daher nichts anderes als nicht-empirische oder apriorische Wissenschaften. 17 Vgl. EU, §§ 81, 84. 16
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ideal Identisches […] gegenüber der Mannigfaltigkeit möglicher Einzelfälle« (Hua XVIII, 109). Diese prima facie unverfängliche Auffassung des Allgemeinen als ein ideales Eines im Vielen hält sich in Husserls Texten bis ins Spätwerk hinein durch. So wird in Erfahrung und Urteil das Allgemeine als das »identisch Eine« bezeichnet, das in einer Synthesis von zwei oder mehreren gleichen individuellen Gegebenheiten als »Gemeinsames« hervortritt; diese »ideale Einheit«, dieses »ideal absolut Identische« charakterisiert Husserl hier sogar explizit mit dem aristotelischen Ausdruck n epffl polln. 18 Diese formale Bestimmung gilt bei Husserl natürlich nicht nur für empirische, d. h. »unreine« begriffliche Allgemeinheiten, die explizit oder implizit Mitsetzungen von Wirklichkeiten unserer raumzeitlichen Welt enthalten; sie gilt auch für reine begriffliche Allgemeinheiten, die Husserl als reine Begriffe bezeichnet, sowie für die ihnen korrelativen reinen gegenstandsbestimmenden Allgemeinheiten, die Husserl »Eidé« oder »reine Wesen« nennt. Auch das reine gegenstandsbestimmende Allgemeine, das Eidos oder Wesen im prägnanten Sinn, wird von Husserl als ein »Gemeinsames« 19 und als »allgemeinsames Wesen« (Hua XVII, 255) charakterisiert: und zwar als dasjenige »Gemeinsame«, das in einer in freier Variation erzeugten Mannigfaltigkeit von Abwandlungen eines Beispiels (für ein thematisiertes begriffliches Allgemeines) als das in dieser Variantenmannigfaltigkeit Invariante hervortreten soll. Der Ausdruck »Invariante« als Bezeichnung für das reine Allgemeine ist hier nur ein anderer Name für das Gemeinsame von unendlich vielen rein möglichen Varianten desselben Beispieles; es ist, wie Husserl sagt, »ein notwendig Gemeinsames und bei aller Variation der Möglichkeiten schlechthin Invariantes« 20. Die soeben angeführten Textstellen belegen zur Genüge die These, dass Husserls Auffassung des Allgemeinen im Wesentlichen dieselbe ist wie die des Aristoteles und der von ihm begründeten Tradition. Auch Husserls Antwort auf unsere Leitfrage nach der Allgemeinheit
Vgl. EU, 389–391. Dasjenige Allgemeine, das als allgemeiner Typus (z. B. als Typus Baum) in der vorwissenschaftlichen Erfahrung gleicher bzw. ähnlicher Gegenstände passiv entspringt, nennt Husserl ein »sinnlich-passives Gemeinsames«; vgl. Hua IX, 98 f. 19 Ebd., 80. 20 Hua IX, S. 89. 18
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des begrifflichen bzw. gegenstandsbestimmenden Allgemeinen lautet: Das Allgemeine ist ein Gemeinsames, ein Gemeinsames von vielen.
IV. Kritik der traditionellen Bestimmung des Allgemeinen als eines Gemeinsamen Nach diesem groben Überblick über die von Aristoteles bis zu Husserl reichende Traditionslinie der Deutung des Allgemeinen als eines Gemeinsamen soll nun geprüft werden, ob diese Auffassung dem hier im Blick liegenden logischen Phänomen des begrifflichen Allgemeinen gerecht wird. Für eine solche Prüfung werde ich drei einfache Beispiele für Begriffe heranziehen, die ein wenig von den lebensweltlichen Normalfällen begrifflicher Allgemeinheit, also Begriffen wie »Mensch«, laufen« und »grün«, abweichen. 21 1) Betrachten wir zunächst Begriffe mit a priori leeren Umfängen. Ein solcher Begriff ist z. B. der Begriff »eine Primzahl zwischen 7 und 11«. Bei diesem Begriff versagt offensichtlich die Konzeption des begrifflichen Allgemeinen als eines Gemeinsamen. Denn es ist hier keine Mehrheit von Zahlen denkbar, denen gemeinsam sein könnte, eine Primzahl zwischen 7 und 11 zu sein. Die Konzeption des begrifflichen Allgemeinen als eines Gemeinsamen wird nicht dem Umstand gerecht, dass der Ausdruck »eine Primzahl zwischen 7 und 11« Ausdruck eines Begriffs ist und dass dieser Begriff nicht weniger ein Begriff ist als etwa »Haus« oder »grün«. Das begriffliche Allgemeine ist demnach nicht etwas, das von mehreren Gegenständen wahrheitsgemäß (zu Recht) ausgesagt werden kann oder das – dies ist nur der korrelative »ontische« Ausdruck – mehreren Gegenständen zukommt (hypárchei). 2) Die aristotelische Bestimmung ist dann natürlich auch in all den Fällen inadäquat, in denen das begriffliche Allgemeine a priori und notwendig nur einen einzigen Gegenstand als Umfang hat und nur von ihm wahrheitsgemäß ausgesagt werden kann, wie z. B. »eine zwischen 5 und 7 liegende natürliche Zahl«. In diesem Fall unterscheiDie folgenden drei Kritikpunkte waren – ohne dass mir dies bei der Niederschrift des Vortrags bewusst war – inspiriert von Künne (1983), 21 f. Künnes von Wittgenstein angeregter Kritik an Husserls Darstellung der sogenannten eidetischen Variation verdanke ich auch die ersten Anregungen zu einer Kritik der Rede vom Allgemeinen als eines Gemeinsamen (ebd., 159–164; siehe hierzu oben die Anmerkung 14).
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det sich das begriffliche Allgemeine – was die Zahl der Gegenstände, auf die es wahrheitsgemäß angewandt werden kann – in nichts von einem Eigen- oder Einzelnamen oder von einer Kennzeichnung. 3) Die aristotelische Bestimmung ist ferner inadäquat in all den Fällen, in denen der Umfang eines begrifflichen Allgemeinen kontingenterweise nur aus einem Gegenstand besteht und wahrheitsgemäß nur von einem einzigen Gegenstand aussagbar ist. Auch in einem solchen Fall unterscheidet sich das begriffliche Allgemeine – was die Zahl der Gegenstände, auf die es wahrheitsgemäß angewandt werden kann – in nichts von einem Eigen- oder Einzelnamen oder von einer Kennzeichnung. Dies ist z. B. mit großer Wahrscheinlichkeit der Fall bei dem Begriff »ein am 8. April 1859 im mährischen Proßnitz geborener Philosoph«. Nach der aristotelischen Bestimmung wäre dieser Begriff nämlich ein Einzelname wie Kallias oder Sokrates, aber kein »Gemeinname«, der ein Allgemeines ausgedrückt, das wahrheitsgemäß von mehreren Gegenständen ausgesagt werden kann. Es stimmt also etwas nicht mit der »klassischen« aristotelischen Bestimmung des begrifflichen Allgemeinen, wonach es etwas ist, das seiner Natur nach wahrheitsgemäß »von mehreren ausgesagt« werden kann. Diese Bestimmung ist, wie die obigen Beispiele gezeigt haben, keine dem Phänomen der begrifflichen Allgemeinheit adäquate und die verschiedenen Gestalten des begrifflichen Allgemeinen hinreichend allgemein charakterisierende Bestimmung. Was stimmt an dieser Bestimmung nicht? Was sie verdirbt, ist vor allem das hinzugefügte Wort »mehrere«. Wenn wir dieses Wort streichen und überdies die implizite, ontologisch motivierte Wahrheitsvoraussetzung fallen lassen, erhalten wir folgende einfache Bestimmung: Das begriffliche Allgemeine ist etwas, das seiner Natur nach ausgesagt werden kann. Diese sparsamere Bestimmung des begrifflichen Allgemeinen als eines Aussagbaren deckt jedenfalls die Gestalten begrifflicher Allgemeinheit ab, an denen die alte aristotelische Bestimmung aufgrund des hinzugefügten Wortes »mehrere« scheiterte. Wenn nun aber die Aussagbarkeit, die Prädikabilität, dasjenige ist, was das begriffliche Allgemeine hinreichend charakterisiert und seinen sprachlichen Ausdruck – den sogenannten »Gemeinnamen« – von dem Eigennamen oder »Einzelnamen« unterscheidet, dann muss die Beziehung zwischen dem begrifflichen Allgemeinen und dem Gegenstand, von dem es ausgesagt wird, eine prinzipiell andere sein als die Beziehung zwischen dem Einzel- oder Eigennamen und dem jeweils A
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genannten Gegenstand. Aristoteles (und die ihm folgende logische Tradition) nivelliert diesen Unterschied. Von eben dieser Nivellierung zeugen die traditionellen Bezeichnungen »Einzelname« und »Gemeinname«; sie suggerieren, es handle sich in beiden Fällen um ein Nennen und der Unterschied zwischen beiden Arten von Nennungen bestünde nur in der Anzahl der benannten Gegenstände: Der Einzel- oder Eigenname bezeichne eben nur einen einzigen Gegenstand, der Gemeinname hingegen mehrere oder viele oder gegebenenfalls unendlich viele Gegenstände. 22
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Das begriffliche Allgemeine als Funktion. Die Bestimmung der Allgemeinheit des Allgemeinen im Anschluss an Gottlob Frege
Dass zwischen der Beziehung eines sogenannten Gemeinnamens zu einem Gegenstand und der Beziehung eines Eigennamens (oder einer Kennzeichnung) zu einem Gegenstand ein kategorialer Unterschied vorliegt, hat eigentlich erst Gottlob Frege scharf herausgearbeitet, der in seinem Werk Begriffsschrift von 1879 die moderne Aussagen- und Prädikatenlogik schuf und heute als der bedeutendste Logiker nach Aristoteles anerkannt ist. Von Freges Bestimmung des begrifflichen Allgemeinen und von seiner Bestimmung des Begriffs als eines bestimmten Typs von Funktion her wird erst völlig deutlich, was an der aristotelischen Bestimmung falsch und irreführend ist. Durch Freges Bestimmung wird nicht nur der prädikative Charakter des begrifflichen Allgemeinen, den man ja irgendwie immer schon im Blick hatte, als Vgl. hierzu Freges (1969), 135, Bemerkung: »Das Wort ›Gemeinname‹ verleitet zu der Annahme, dass der Gemeinname sich im Wesentlichen ebenso auf Gegenstände beziehe wie der Eigenname, nur dass dieser nur einen einzigen benennt, während jener im allgemeinen auf mehrere anwendbar ist. Aber das ist falsch; und darum sage ich statt ›Gemeinname‹ lieber ›Begriffswort‹.« Dass auch in den traditionellen Bezeichnungen für die Beziehung zwischen Gemeinnamen bzw. Eigennamen und den Gegenständen eine Nivellierung liegt, darauf macht Künne aufmerksam. Obwohl die Beziehung jeweils eine vollkommen verschiedene ist, wird sie gleich bezeichnet: Petrus Hispanus nennt sie ein »praedicari de«, und Mill spricht von »to be affirmed of«; vgl. Künne (1983), 21. Beide nivellierenden Bezeichnungen haben freilich ihren Vorläufer in der oben zitierten Stelle aus Peri Hermeneias, wo Aristoteles sowohl die Weise, wie sich Allgemeinbegriffe auf Gegenstände beziehen, als auch die Weise, wie sich ein Eigenname auf einen Gegenstand bezieht, als ein kathgore…sqai bezeichnet.
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sein Grundcharakter herausgestellt, vielmehr macht sie auch deutlich, dass in diesem prädikativen Charakter und nur in diesem dasjenige liegt, was die Allgemeinheit des begrifflichen Allgemeinen ausmacht. Freges inzwischen selbst klassische Bestimmung des begrifflichen Allgemeinen in seinem Aufsatz Funktion und Begriff von 1891 lautet: »Ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist«. 23 Dieser Satz ist für den mit Freges Schriften nicht Vertrauten nicht unmittelbar verständlich. Um ihn ein wenig verständlich und in seiner Bedeutung für die Husserl’sche Problematik des Allgemeinen sichtbar zu machen, kann ich hier nur einige wenige Erläuterungen geben, bei denen ich allerdings Freges eigentümliche Terminologie, insbesondere seine ungewöhnliche Verwendung der Wörter »Sinn«, »Bedeutung« und »Begriff« vernachlässige. Als »Begriff« bezeichne ich im Folgenden mit Husserl eine semantische Einheit, eine Einheit, die auf der Ebene des Sinnes als der Ebene der Satz- und Wortbedeutungen angesiedelt ist. 24 Abweichend von der logischen Tradition analysiert Frege einen Satz wie »Peter liebt Maria« nicht nach dem an der grammatischen Struktur orientierten Subjekt-Prädikat-Schema der traditionellen Logik, wonach der Eigenname »Peter« das Subjekt bezeichnet und »liebt Maria« das Prädikat darstellt, in welchem implizit, nämlich in der Endung der finiten Verbform von »liebt« die sogenannte Kopula, das Subjekt und Prädikat miteinander verbindende Element, steckt, das in einem Satz wie »Peter ist in Maria verliebt« explizit durch das Wort »ist« ausgedrückt wird. 25 Frege analysiert den Satz »Peter liebt Maria« ganz anders. Er zerlegt ihn in folgende drei Komponenten: Die Komponente »( ) liebt ( )« zeichnet sich dadurch aus, dass sie, wie Frege sagt, »ungesättigt« oder »ergänzungsbedürftig« ist; denn sie besitzt zwei Leerstellen (angedeutet durch die leeren Klammern), die durch Gegenstandsnamen gefüllt oder gesättigt werden kann: durch Eigennamen (wie z. B. »Peter« und »Maria«) oder durch Kennzeichnungen (wie z. B. »der Lehrer Platons«
Frege (1975), 28. Also nicht auf der Ebene der Frege’schen »Bedeutungen«, sondern auf der Ebene der Frege’schen »Sinne« bzw. der »Gedanken«. 25 Zu Beginn des § 3 seiner Begriffsschrift erklärt Frege (1977a), 2: »Eine Unterscheidung von Subjekt und Prädicat findet bei meiner Darstellung eines Urtheils nicht statt.« 23 24
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und »der Lehrer des Aristoteles«). 26 Eine solche ergänzungsbedürftige und ungesättigte Satzkomponente ist nun Ausdruck eines Begriffes als einer Sinneinheit, die ebenfalls zwei Leerstellen aufweist. Werden die Leerstellen des Begriffsausdrucks mit Gegenstandsnamen gefüllt und der Begriffsausdruck durch sie gesättigt, so entsteht ein vollständiger nicht mehr ergänzungsbedürftiger Ausdruck: nämlich ein Satz, der als seinen Sinn einen vollständigen Gedanken (eine sogenannte Proposition) hat, und dieser ist, je nachdem durch welche Gegenstandsnamen die ungesättigte Satzkomponente gesättigt und zu einem vollständigen Satz ergänzt wird, entweder wahr oder falsch. Entsprechendes gilt für Sätze mit Begriffsausdrücken, die nur eine Leerstelle aufweisen (z. B. für intransitive Verben wie »schlafen« und adjektivische oder substantivische Begriffsausdrücke wie »krank« oder »Philosoph«), und für Begriffsausdrücke, die wie das Verb »schenken« drei Leerstellen haben. Beschränken wir uns im Folgenden auf einstellige Begriffsausdrücke, z. B. auf das intransitive Verb »schlafen« und auf elementare Sätze wie »Peter schläft« und »Anna schläft«. Mit Blick auf den einfachsten Fall der »einstelligen« Begriffsausdrücke und in Entsprechung zur mathematischen Redeweise von Funktion und Argument fasst Frege – und dies ist seine revolutionäre Neuerung – den durch eine Leerstelle ausgezeichneten, ungesättigten Begriffsausdruck als Ausdruck einer Funktion auf, und den Rest des Satzes – in unserem Beispiel also den Gegenstandsnamen »Peter« – als Ausdruck des Argumentes der Funktion. Ein Begriffsausdruck mit einer Leerstelle wie das Verb »schlafen« ist nun derjenige Typ von Funktion, der, gesättigt durch einen Gegenstandsnamen, als seinen Funktionswert für dieses Argument entweder einen wahren oder falschen Satz hat. Gehen wir von den Begriffsausdrücken als Satzfunktionen zu den Begriffen als den ihnen auf der Ebene des Sinnes korrespondierenden propositionalen Funktionen über, so können wir – den Wortlaut von Freges berühmter Formulierung abwandelnd – sagen: Ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer eine wahre oder eine falsche Proposition ist. Aus dieser Solche »zweistelligen«, d. h. mit zwei Leerstellen ausgestatteten Begriffe werden heute in der prädikatenlogischen Notation mit G(x,y) wiedergegeben. Hier zeigt die Klammer mit den Variablen x und y die Leerstellen und der Schemabuchstabe G den jeweiligen Begriff oder genauer den Inhalt des jeweiligen Begriffs an, denjenigen Inhalt, der eben bei verschiedenen Begriffen mit gleich vielen Leerstellen verschieden ist. Entsprechendes gilt dann für »einstellige« und für »dreistellige« Funktionen: F(x) und H(x,y,z).
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Bestimmung folgt: Die Begrifflichkeit des Begriffs, die ihn als Begriff charakterisierende und zum Begriff machende Eigenschaft, besteht darin, eine solche Funktion zu sein. Das aber heißt: Die Allgemeinheit des begrifflichen Allgemeinen liegt in seinem Funktionscharakter, und zwar in dem Charakter, eine Funktion zu sein, deren Werte wahre oder falsche Propositionen sind. Damit ist m. E. das logische Phänomen der begrifflichen Allgemeinheit adäquat gedeutet und eine gegenüber der Tradition neue, tragfähige Bestimmung des begrifflichen Allgemeinen gewonnen. Die Analyse des Satzes bzw. des Gedankens in Funktion und Argument erlaubt es Frege, auch die traditionelle Rede vom Begriffsumfang neu zu bestimmen. Ein Begriffsumfang ist für Frege im Unterschied zu Husserl nicht die Menge der unter den Begriff fallenden Gegenstände, sondern der Wahrheitswertverlauf der den Begriff ausmachenden Funktion; und dieser Wahrheitswertverlauf ist nichts anderes als die Folge der Wahrheitswerte »wahr« und »falsch«, die sich ergibt, wenn nacheinander verschiedene Gegenstandsnamen in den Funktionsausdruck eingesetzt werden und vollständige Sätze entstehen, wie z. B. bei dem Funktionsausdruck »schlafen« bzw. »( ) schläft« die Sätze »Peter schläft«, »Anna schläft« usw. Was traditionell als Umfang eines Begriffs bezeichnet wurde und auch von Husserl »Umfang« genannt wird, ist demnach nur diejenige Menge von Gegenständen, die der Menge der positiven Wahrheitswerte bzw. der Menge der wahren Propositionen entspricht, also nur einem Teil ihres Wahrheitswertverlaufs entspricht. Die traditionelle Logik und auch Husserl haben immer nur dieses Segment des Wahrheitswertverlaufs und damit nur die positiven Fälle im Blick, wenn sie das begriffliche Allgemeine mit Blick auf seinen als Gegenstandsmenge verstandenen »Umfang« als ein Gemeinsames von mehreren oder unendlich vielen Gegenständen charakterisieren. 27 Dass diese Charakterisierung des begrifflichen Allgemeinen inadäquat ist und den Begriffscharakter des Begriffs und damit die spezifische Allgemeinheit des begrifflichen Allgemeinen verfehlt, haben die oben angeführten Beispiele für Begriffe gezeigt, die von den lebensweltlichen Normalfällen begrifflicher Allgemeinheit abweichen. Mit derartigen Beispielen hat Freges Konzeption des Begriffs als Funktion, deren Werte die Wahrheitswerte »wahr« und »falsch« sind, keiVgl. hierzu die obigen Ausführungen zu der in der traditionellen Bestimmung des begrifflichen Allgemeinen implizierten Wahrheitsvoraussetzung.
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nerlei Schwierigkeiten. Ein Begriff wie »eine Primzahl zwischen 7 und 11« ist eine Funktion, die für jede natürliche Zahl den Wahrheitswert »falsch« ergibt und also einen Wahrheitswertverlauf hat, dem als Extension des Begriffs eine leere Menge zugeordnet ist. Freges Auffassung des begrifflichen Allgemeinen als einer Funktion erweist sich also auch im Falle der a priori leeren Begriffe als adäquat und als der traditionellen Auffassung des begrifflichen Allgemeinen als eines Gemeinsamen von mehreren Gegenständen überlegen. Demnach liegt – und dies ist die aus Freges Konzeption des Begriffs zu entnehmende neue Lehre – die Allgemeinheit des begrifflichen Allgemeinen in seinem Funktionscharakter, genauer in seinem Charakter, eine Funktion zu sein, deren Werte für entsprechende Argumente die Wahrheitswerte »wahr« und »falsch« sind bzw. – wie nach unserer Auffassung vom Begriff als propositionskonstitutive Funktion – wahre und falsche Propositionen. 28
VI. Anwendung der Frege’schen Neubestimmung des begrifflichen Allgemeinen auf Husserls Lehre vom Wesen und von der Wesensanschauung Husserl kannte Freges Funktionsauffassung des Begriffs und erkannte doch nicht ganz deren Tragweite für die Begriffs- und die Urteilslehre und insbesondere nicht ihre Relevanz für seine eigene Wesenslehre. In seiner in Hua XXX veröffentlichten Vorlesung über Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie, die er erstmals im Wintersemester 1910/11 in Göttingen vortrug, erwähnt Husserl Freges Schrift Funktion und Begriff und sagt, »der scharfsinnige Frege« habe das VerDass sich beim frühen Frege neben dem revolutionär Neuen seiner Begriffs- und Urteilslehre noch die traditionelle Auffassung von der Allgemeinheit des begrifflichen Allgemeinen als eines Gemeinsamen findet, davon zeugt die folgende Stelle aus seinem 1882 erschienenen Aufsatz Ueber die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift: »Indem wir nämlich verschiedenen aber ähnlichen Dingen dasselbe Zeichen geben, bezeichnen wir eigentlich nicht mehr das einzelne Ding, sondern das ihnen Gemeinsame, den Begriff. Und diesen gewinnen wir erst dadurch, daß wir ihn bezeichnen; denn da er an sich unanschaulich ist, bedarf er eines anschaulichen Vertreters, um uns erscheinen zu können.« Vgl. Frege (1977b), 107 f. Frege hat allerdings – soweit mir bekannt ist – auch später nirgendwo gegen die traditionelle Auffassung Stellung bezogen und ihr gegenüber die Allgemeinheit des begrifflichen Allgemeinen ausdrücklich durch dessen speziellen Funktionscharakter bestimmt.
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dienst, den Begriff der Funktion klärend in die Behandlung der universellen und partikulären Urteile eingebracht zu haben« (Hua XXX, 180). Husserl spricht in dieser Vorlesung sogar von »quantifizierten Funktionen« und setzt diese von ihm als »Funktionalurteile« bezeichneten Urteile den von ihm so genannten »festen Urteilen« entgegen, die im Unterschied zu den Funktionalurteilen keine durch Quantoren wie »alle« oder »einige« gebundenen Variablen (»Unbestimmte«) enthalten. Aber nicht nur das. Husserl entdeckt damals auch die Leerstellen, die zum Sinn begrifflicher Ausdrücke wie »rot« und »ähnlich« gehören. Das Haben von Leerstellen hebt er dann in seiner Lehre von den semantischen »Generalkernen« als deren Charakteristikum hervor und kontrastiert diese durch eine, zwei oder mehr Leerstellen ausgezeichneten Generalkerne begrifflicher Ausdrücke mit den sogenannten »Individualkernen« der Eigennamen, die keine Leerstellen aufweisen (Hua XXX, 347). Und wohl 1917, als Husserl dieselbe Vorlesung unter einem anderen Titel erneut hält, trägt er in das Vorlesungsmanuskript folgende Randnotiz ein: »Die Lehre von den propositionalen ›Funktionen‹ im mathematischen Sinn und ihren Argumenten […] ist von vornherein zu beachten und alles danach umzuarbeiten.« (Hua XXX, 117 Anm. 1) Diese Umarbeitung ist leider nie erfolgt. Husserl dringt, wie gerade diese Vorlesung mit ihrer Anverwandlung von Freges Funktionslehre der Begriffe zeigt, nicht zu einem vollen Verständnis der Lehre Freges durch und erkennt daher auch nicht deren Tragweite für seine Wesenslehre. Husserl hat hier gleichsam den Knopf in der Hand, aber er kriegt das Hemd nicht zu. In meinen abschließenden Bemerkungen möchte ich kurz andeuten, welche Konsequenzen die Funktionsauffassung des begrifflichen Allgemeinen für Husserls Lehre vom Wesen und von der Wesensanschauung hat und wie Husserl diese Lehre schon 1910 hätte »umarbeiten« können. 29 1) Wenn das begriffliche bzw. gegenstandsbestimmende Allgemeine seiner Natur nach kein Gemeinsames von mehreren Gegenständen ist, dann ist das Anschauen eines solchen Allgemeinen, das Husserl »allgemeine Anschauung«, »Ideation« oder auch »Wesensanschauung« nennt, kein Akt der Selbstgebung eines »Gemeinsamen« auf der Grundlage der Gegebenheit von mehreren exemplarischen Gegenständlichkeiten. Und ein »Ideation« genanntes Variationsverfahren 29
Diese Konsequenzen habe ich genauer entwickelt in Sowa (2007). A
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zum Zweck der Selbstgebung eines reinen begrifflichen bzw. gegenstandsbestimmenden Allgemeinen ist kein Verfahren, das in einem »Herausschauen« eines nun »Invariante« genannten Gemeinsamen aus einer Folge von Varianten terminiert. Wenn es aber nicht darum geht, gleichgültig, ob auf der Grundlage eines exemplarischen Einzelfalles oder vieler exemplarischer Einzelfälle – wie es in den Logischen Untersuchungen heißt – »ein Begriffliches im Akte der Ideation schauend [zu] erfassen […]« 30, dann muss der Titel »Ideation«, sofern wir dieses Wort als Titel für ein Verfahren und nicht als Titel für einen einzelnen Akt allgemeiner Anschauung nehmen, etwas ganz anderes bezeichnen als das Erschauen eines Gemeinsamen. (Ein solcher einzelner Akt allgemeiner Anschauung ist zum Beispiel ein Akt deiktischer Ideation einer bestimmten Farbnuance, der dadurch vollzogen wird, dass etwa auf ein rotes Ding oder einen roten Teil eines Dinges gezeigt und dabei beispielsweise gesagt wird »dieses Rot ist meine Lieblingsfarbe«; in einem solchen Akt beziehen wir uns auf einen bestimmten abstrakten oder allgemeinen Gegenstand, nämlich eine bestimmte Rotnuance, die weder ein reales Ding noch ein selbständiger Teil noch ein unselbständiger Teil eines Dinges ist. 31) Wenn es überhaupt noch darum geht, ein begriffliches Allgemeines auf exemplarischer Grundlage zur Anschauung, d. h. zur »Selbstgebung« zu bringen, dann muss sich diese den Begriff »klärende« Selbstgebung als eine Betrachtung seines Wahrheitswertverlaufs vollziehen. Da das begriffliche Allgemeine als Funktion einen Wahrheitswertverlauf als seinen Begriffsumfang hat, genügt es für die Selbstgebung dieses Allgemeinen nicht, nur die positiven Fälle der Anwendung eines Begriffs heranzuziehen, die seinen Umfang (im Sinne der Menge der unter den Begriff fallenden Gegenstände) ausmachen, sondern es müssen nun positive und negative Fälle herangezogen werden. Und das besagt für die Methode der anschaulichen Selbstgebung des begrifflichen Allgemeinen, dass wir von sicheren Beispielen zu sicheren Gegenbeispielen des thematischen Allgemeinen und von da aus zu Grenzfällen übergehen müssen, wo die Anwendung des Begriffs zweifelhaft wird. Und dies ist nichts anderes als Begriffsklärung oder Begriffsexplikation. Ein solches am Begriffsumfang im Sinne des Wahr30 31
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Hua XVIII, 109. Die Grundtypen deiktischer Ideationen habe ich in Sowa (2008) untersucht.
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heitswertverlaufs orientiertes exploratives Begriffsklärungsverfahren kommt zum Zuge, wenn wir uns als Phänomenologen einen uns interessierenden Phänomenbereich durch Begriffe der Alltagssprache vorgeben lassen und zwar genau so, wie diese Alltagsbegriffe die Grenzen und die Strukturierung dieses Bereiches vorgeben. Dies kann und sollte ein erster Schritt bei einer phänomenologischen Analyse sein. Hierbei geben wir, mit Austin gesprochen, der Alltagssprache und ihren oft schon sehr subtilen begrifflichen Artikulationen gewisser Phänomenbereiche zwar »das erste Wort« bei der Phänomenerschließung, wissen aber im Grunde schon zu Beginn, dass es nicht »das letzte Wort« sein wird. Das (vorläufig) »letzte« Wort wird das Resultat deskriptiver Analysen sein, das wir in Form eines Ensembles von Wesensgesetzen vorlegen, durch welches die Alltagsbegriffe, mit denen wir die Analyse begannen, neue, anschaulich vertiefte und anschaulich geeichte Bedeutungen erhalten. Ob es aber sinnvoll ist, dieses als ersten methodischen Schritt zumeist notwendige Begriffsklärungsverfahren »Ideation« oder gar »eidetische Variation« zu nennen, ist sehr fraglich. 2) Wir haben gesehen: Das Anschauen des begrifflichen bzw. gegenstandsbestimmenden Allgemeinen ist, wollen wir überhaupt noch von einem Anschauen reden, jedenfalls kein Anschauen eines Gemeinsamen. Gleichwohl ist die Suche nach einem Allgemeinen, das den Sinn eines »Gemeinsamen« hat, nicht sinnlos. Im Gegenteil! Aber eine solche Suche wird erst sinnvoll, wenn wir es aufgeben, nach einem Gemeinsamen im Sinne eines begrifflichen bzw. gegenstandsbestimmenden Allgemeinen zu suchen. Denn das von uns als eidetisch-deskriptiv Forschende gesuchte Gemeinsame ist kein »Gemeinsames im Sinne des Begriffs« (Husserl) 32, sondern ein Gemeinsames im Sinne Dass die Deutung des begrifflichen Allgemeinen als eines Gemeinsamen nicht unproblematisch ist, hat Husserl schon früh bemerkt. Gegen die etwas schlichte Gleichsetzung des begrifflichen Allgemeinen mit dem Gemeinsamen gewendet – wie sie bei gewissen Abstraktionstheoretikern vorkommen soll –, sagt Husserl: »Wenn zwei Häuser eine Mauer gemein haben, so würde […] die Mauer als das Gemeinsame sich ergeben und somit der Begriff sein. Die Mauer ist ein individueller Gegenstand, der Begriff der Mauer ist ›Mauer überhaupt‹, ein allgemeiner Gegenstand. […] Jedenfalls ist es klar, daß die Vorstellung einer zwei Häusern gemeinsamen Mauer keine allgemeine Vorstellung ist und sie selbst kein Gemeinsames im Sinn des Begriffs.« (Hua XXIV, 294 f.) In Husserls polemischer Aussage, eine zwei Häusern gemeinsame Mauer sei »kein Gemeinsames im Sinne des Begriffs«, ist allerdings der Ausdruck »kein Gemeinsames im Sinne des Begriffs« verräterisch: Diesem Ausdruck ist nämlich zu entnehmen, dass es für Husserl ein »Gemeinsames im Sinne des Begriffs« gibt, nur dass wir dieses für einen
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eines allgemeinen Satzes und näher eines allgemeinen Satzes, der den Status eines Gesetzes, und zwar eines Wesensgesetzes hat, das für alle erdenklichen Einzelfälle eines bestimmten Phänomenbereichs eine allgemeingültige Aussage macht. Wird die phänomenologische deskriptive Eidetik unter das Primat des Wesensgesetzes gestellt, kommt auch die freie Variation reiner exemplarischer Möglichkeiten, die sogenannte eidetische Variation, wieder ins Spiel. Sie erhält allerdings jetzt eine andere Funktion als in den offiziellen Darstellungen Husserls, der sie in Verkennung seiner eigenen eidetischen Praxis in den Dienst des Herausschauens eines chimärischen Gemeinsamen gestellt hat. Die freie Variation dient nun nicht der selbstgebenden Erfassung eines begrifflichen bzw. gegenstandsbestimmenden Allgemeinen in einer offenen Reihe es exemplifizierender Varianten, sondern der Prüfung allgemeiner Sätze, die mit dem Anspruch auftreten, gültige Wesensgesetze zu sein. Und die in freier Variation abgewandelten exemplarischen Einzelfälle sind nicht Gegenstände oder Eigenschaften oder Relationen, sondern in Sätzen artikulierte einzelne Sachverhalte. Denn die Prüfung von allgemeinen Sachverhalten oder Gesetzen findet nicht an Hand von Gegenständen, sondern immer an Hand von Sachverhalten statt, und zwar in aller Regel an Hand von Einzelsachverhalten. Und diese Einzelsachverhalte werden durch Sätze ausgedrückt, in denen das tatsächliche Bestehen bzw. das ideal mögliche Bestehen dieser Einzelsachverhalte behauptet wird. Ich will diesen für eine eidetisch-deskriptiv verfahrende Phänomenologie methodologisch zentralen Punkt noch ein wenig erläutern. Die in einer deskriptiven Eidetik gesuchten Gesetze sind reine Gesetze; das sind Gesetze, die – wie man auch schon in den Logischen Untersuchungen lesen kann – aus reinen, d. h. nichts Faktisches mitsetzenden Begriffen aufgebaut sind. Es sind Gesetze für Unendlichkeiten reiner Möglichkeiten, sofern die sie aufbauenden reinen Begriffe als ihre »Umfänge« Unendlichkeiten reiner Möglichkeiten haben. Solche Gesetze nennt Husserl »eidetische Gesetze« oder »Wesensgesetze«. Ein Wesensgesetz drückt nun aber allein aufgrund seiner logischen Form als allgemeiner Satz bzw. allgemeiner Sachverhalt ein »Gemeinsames« für alle erdenklichen Gegenständlichkeiten eines bestimmten Phänomenbereichs aus, nämlich einen für sie alle unbedingt Begriff als solchen spezifische Gemeinsame adäquat charakterisieren müssen, um seine eigentümliche »Allgemeinheit« korrekt zu bestimmen.
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geltenden gesetzlichen Zusammenhang, z. B. den wesensgesetzlichen Zusammenhang zwischen verschiedenen Typen von Aktmomenten. Hier lautet ein bekanntes Wesensgesetz »Jeder erdenkliche intentionale Akt hat Aktqualität und Aktmaterie«. 33 Sofern es in einer deskriptiven Eidetik überhaupt um ein Schauen eines Gemeinsamen geht, geht es um die Einsicht in das Bestehen solcher wesensgesetzlichen »Gemeinsamkeiten«. Unter dem Primat des Wesensgesetzes erhält die freie Variation, wie schon angedeutet, eine andere Funktion als die ihr von Husserl zugewiesene. Anstatt in dem chimärischen Verfahren der sogenannten eidetischen Variation die Rolle zu spielen, für das vorgebliche »komplizierte Erschauen« eines »Gemeinsame[n] und Allgemeine[n] beliebig vieler einzeln gesehener Exemplare« 34 die anschauliche Grundlage zu bieten, erhält die freie Variation unter dem Primat des Wesensgesetzes eine gänzlich andere Aufgabe: nämlich die Aufgabe, bei der Prüfung von prätendierten Wesensgesetzen mitzuwirken. Und diese kritische Funktion erfüllt sie auf folgende Weise: Für ein als gültig behauptetes oder versuchsweise als gültig angesetztes Wesensgesetz versucht man im Ausgang von Beispielen, die das Gesetz bewähren, in frei phantasierender Abwandlung dieser Beispiele ein Beispiel zu konstruieren, das ein potenziell falsifizierendes Gegenbeispiel für das vorgelegte Wesensgesetz ist. Denn es reicht ja bekanntlich ein einziges Gegenbeispiel, um einen universellen Satz zu falsifizieren, und hier, bei den Wesensgesetzen, reicht ein einziger intersubjektiv als möglich ausgewiesener Sachverhalt, um ein in Form eines universellen Satzes behauptetes oder angenommenes Wesensgesetz zu falsifizieren. Im Unterschied zu dem von Husserl dargestellten chimärischen Variationsverfahren ist dieses Variationsverfahren nicht nur möglich und nicht nur praktikabel, sondern es ist für eine deskriptive Eidetik wie die Husserl’sche eidetisch verfasste Phänomenologie sogar notwendig, sofern diese den Anspruch erhebt, Wissenschaft zu sein und damit die intersubjektive Überprüfbarkeit ihrer in Form von Wesensgesetzen vorgelegten Resultate voraussetzt. Ein weiteres einfaches Beispiel für ein phänomenologisches Wesensgesetz gibt Husserl in der folgenden symbolischen Form an: R(Wa) = Va. Dieses Gesetz besagt, dass jede erdenkliche erinnernde Reproduktion (R) einer Wahrnehmung eines Gegenstandes a (Wa), also R(Wa), eine Vergegenwärtigung des Gegenstandes a (Va) ist; vgl. Hua XXIII, 311. So ist z. B. die erinnernde Reproduktion der Wahrnehmung eines bestimmten Hauses dasselbe wie die Vergegenwärtigung dieses Hauses. 34 Hua IX, 85 f. 33
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3) Die Frege’sche Auffassung des Begriffs erlaubt nicht nur eine adäquate Charakterisierung der Begriffe als Funktionen und der reinen Begriffe als reine Funktionen, sie erlaubt auch eine adäquate Charakterisierung dessen, was bei Husserl »Eidos« oder »reines Wesen« heißt. Husserls reine Begriffe sind – wie Begriffe überhaupt – nichts anderes als reine propositionale Funktionen, d. h. Funktionen, die, gesättigt durch entsprechende Argumente, in Sätzen ausgedrückte Propositionen ergeben, also jene semantischen Einheiten, die die Eigenschaft haben, wahr oder falsch zu sein. Propositionen sind nun aber selbständige Sinneinheiten, in denen wir, wenn wir Urteile fällen, Sachverhalte entwerfen und diese als bestehende Sachverhalte vermeinen. Diese Propositionen erweisen sich in der Reflexion auf unser urteilendes Tun und sein jeweils geurteiltes Was als Sachverhaltsmeinungen. Und die eine Sachverhaltsmeinung mit aufbauenden Begriffe sind als Begriffe dann eben nichts anderes als Sachverhaltsmeinungsfunktionen, d. h. Funktionen, die gesättigt durch entsprechende Argumente, wahre oder falsche Sachverhaltsmeinungen ergeben. Den Begriffen als den eine Sachverhaltsmeinung aufbauenden propositionalen Funktionen entsprechen nun auf der Seite der urteilsmäßig vermeinten Sachverhalte, also auf der »noematischen« Seite der vermeinten Onta, Sachverhaltsfunktionen. Diese noematischen oder besser ontischen Funktionen sind ein- oder mehrstellige Funktionen, die, gesättigt mit entsprechenden Argumenten, jeweils einen vermeinten Sachverhalt bilden, der entweder besteht oder nicht besteht. 35 Die Werte einer Sachverhaltsfunktion sind nun aber nicht Wahrheitswerte, sondern sozusagen »Seinswerte«, nämlich die Werte des Der in Sowa (2005) im Rahmen einer formalen Noematik eingeführte Terminus »Sachverhaltsfunktion« wurde, wie ich inzwischen – dank Google – weiß, in ähnlicher Bedeutung schon von den Übersetzern von Hans Reichenbachs Buch Elements of Symbolic Logic (1999) verwendet und gibt dessen Terminus »situational function« (ebd., 83) wieder; in der deutschen Übersetzung heißt es: »Während die Aussagefunktion zum sprachlichen Bereich gehört, ist die von dem Funktionsnamen bezeichnete Funktion dem Bereich der Objekte zugehörig. Wir werden diese Funktion daher eine Sachverhaltsfunktion [situational function] nennen.« (78) Der Ausdruck findet sich auch in Meixner (2004), wo Funktionen eine zentrale ontologische Kategorie bilden. Meixner unterscheidet allerdings »Sachverhaltsfunktionen« (ebd., 72) und »sachverhaltsresultierende Funktionen« (74) und nur letztere entsprechen in etwa dem, was ich unter dem Ausdruck »Sachverhaltsfunktion« verstehe. So ist z. B. für Meixner »jede Eigenschaft eine einstellige Funktion, deren Sättigungsresultat (bei Sättigung mit jeder beliebigen Entität, mit der sie gesättigt werden kann) stets ein Sachverhalt« ist (74).
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Bestehens und des Nicht-Bestehens; und diese beiden Seinswerte sind eben diejenigen Werte, die Sachverhalten als Korrelaten von wahren oder falschen Urteilen zukommen. Eine Sachverhaltsfunktion im soeben erläuterten Sinne ist aber nichts anderes als das in einem Sachverhalt gegenstandsbestimmend fungierende, sozusagen »ontische« Allgemeine, das Husserl auch »Wesen« nennt, und zwar »Wesen« im weiteren Sinne, im Sinne einer Gegenstandsbestimmung überhaupt. Folglich ist das einem reinen Begriff korrelative reine Wesen, also das Wesen im engeren und für die Husserl’sche Eidetik einzig relevanten Sinn, nichts anderes als eine reine Sachverhaltsfunktion. Wird die Allgemeinheit des begrifflichen bzw. gegenstandsbestimmenden Allgemeinen in seinem Funktionscharakter gesehen, dann erweist sich das Husserl’sche Eidos als reine Sachverhaltsfunktion und damit als ein unselbständiger Teil eines in einem Urteil mittels reiner Begriffe entworfenen Sachverhalts. Und wo der entworfene Sachverhalt Korrelat einer universellen, nur aus reinen Begriffen aufgebauten Proposition ist, da sind die in ihm auftretenden, den reinen Begriffen korrelativen reinen Wesen unselbständige Momente eines eidetisch-allgemeinen Sachverhaltes, eines Wesensgesetzes. Die Auffassung des reinen Wesens oder Eidos als reine Sachverhaltsfunktion scheint im Unterschied zur Auffassung des Eidos als eines Gemeinsamen von reinen Möglichkeiten eine tragfähige Konzeption zu sein und den Ansprüchen der Husserl’schen Wesenslehre auf Wissenschaftlichkeit zu genügen. Ob aber nicht auch in der Auffassung des Husserl’schen Eidos als reine Sachverhaltsfunktion und allgemeiner in der Auffassung des begrifflichen bzw. gegenstandsbestimmenden Allgemeinen als Funktion eine Deutung liegt, die sich einmal als eine falsche und vielleicht sogar als eine »sehr falsche« Deutung erweisen wird, muss sich im Purgatorium wissenschaftlicher Kritik zeigen; denn Wahrheit und insbesondere wissenschaftliche Wahrheit ist – wie Husserl in einem seiner Manuskripte treffend sagt – »ein Kind der Kritik« 36.
B I 10/56a aus dem Nachlass-Manuskript »Kritik der universalen Erfahrung« (1931; B I 10/52–70).
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Regeln, Spielräume und das offene Undsoweiter. Die Wesensschau in Erfahrung und Urteil 1 Verena Mayer
Einleitung Husserls Begriff der Wesensschau oder Ideation ist sicherlich einer der umstrittensten Topoi seiner Phänomenologie. Schon Moritz Schlick hatte in seiner Allgemeinen Erkenntnislehre 1918 die Wesensschau als eine Form der Intuition dargestellt, die in einer nichtsinnlichen Anschauung von Ideen bestünde. Mit einer von Bergson geborgten Formulierung behauptet Schlick, es gehe bei der Wesensschau darum »sich durch eine Aufbietung der Intuition in das Objekt selbst zu versetzen« 2, wodurch angeblich nichtbegriffliche Erkenntnis ermöglicht werde. Bis heute wird das von Schlick überlieferte Verständnis der Wesensschau in der analytischen Philosophie tradiert. So identifiziert Ridder in seiner formal kenntnisreichen Monographie »Mereologie«, die ein ausführliches Kapitel über Husserl enthält, ohne weiteres die Wesensschau mit Husserls Evidenzbegriff, wobei er behauptet, beides bestünde im »starke[n] innere[n] Einleuchten einer Sache« 3. Dieses sei aber nicht intersubjektiv überprüfbar und könne daher keine objektive Wahrheit beanspruchen. Angesichts der bedeutenden Rolle, die Husserl der Wesensschau zuschreibt, scheint eine solche Interpretation die Phänomenologie von vornherein als anti-rational zu desavouieren, hält sich doch die analytische Philosophie einiges darauf zugute, die phi-
Für wertvolle Anmerkungen und Kritik zu diesem Aufsatz danke ich Rochus Sowa. Er hat mich unter anderem darauf aufmerksam gemacht, dass der von Landgrebe herausgegebene Band Erfahrung und Urteil keine ganz zuverlässige Quelle für Husserls Denken darstellt. Dieser Einwand verdient eine genauere Untersuchung, die ich hier leider nicht vornehmen kann. 2 Schlick (1979), 103. 3 Ridder (2002), 443. 1
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losophischen Probleme durch Begriffsanalyse und sprachlich formulier- und kommunizierbare Argumente anzugehen und im Zweifelsfalle auch lösen zu können. Husserl selbst ist auf die sinnentstellende Deutung Schlicks nicht weiter eingegangen, obwohl er sie z. B. im Vorwort zu sechsten Logischen Untersuchung (Hua XIX/2, 535 f.) explizit und im § 22 der Ideen I implizit zurückweist. Man gewinnt gelegentlich den Eindruck, dass Husserls Begriffswahl – d. h. die Rede von Wesen, Wesenserschauung, Ideation und Eidos – auch provokativen Charakter hat. Husserl besteht durchgängig auf der einsichtigen Notwendigkeit seiner Methode, die allein geeignet sei, aus den Tatsachen einen allgemeinen Sinn zu machen. Es erscheint ihm zwecklos, sich auf die naive Polemik von Seiten der Empiristen auch nur einzulassen, da diese sich nicht der Mühe phänomenologischer Reflexion unterziehen wollen und daher auch gar nicht wissen, wovon sie reden. »Weniger Studium an eine Lehre wenden, als nötig ist, ihren Sinn zu fassen, und sie doch kritisieren, das verstößt gegen die ewigen Gesetze literarischer Gewissenhaftigkeit.« (XIX/2, 536) Auf der anderen Seite bemüht er sich immer wieder, das Wesen der Wesensschau, ihren Sinn und Zweck innerhalb der Phänomenologie und für die Erkenntnis der Welt generell, nachvollziehbar zu machen und klar zu umgrenzen, so in den Ideen I, im Logos-Aufsatz, in Formale und transzendentale Logik und besonders ausführlich in dem von Ludwig Landgrebe herausgegebenen Band Erfahrung und Urteil. In diesem letzteren Werk, das im Folgenden im Mittelpunkt stehen wird, steht die Wesenserschauung in einem systematischen Zusammenhang: Husserl verfolgt hier die »Genealogie« des Urteilens aus einfachsten Wahrnehmungserlebnissen und fragt sich, wie wir von solchen Erlebnissen zu allgemeinen Urteilen von der Form »Alle S sind P« gelangen. Dabei spielt die Wesenserschauung eine wichtige Rolle, sie ermöglicht nämlich den Übergang von der Wahrnehmung von Konkretem zu Allgemeinem und damit auch die Bildung von Aussagen, die Prämissen in unseren deduktiven Argumenten sein können. Dies ist letztlich der Grund, weshalb Wesensschau einen unverzichtbaren Bestandteil von Rationalität überhaupt darstellt. Um dies zu sehen, ist es allerdings notwendig, sich von dem Vorurteil freizumachen, Wesensschau sei eine Art mystischer Anschauung von Ideen, durch die ein platonisch gesetztes Geistiges gleichsam ins Bewusstsein hinüberwandere. Vielmehr ist Wesensschau ein Titel für, wie Kurt von Fritz A
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schrieb, »eine Phänomenologie der Induktion« 4, vergleichbar mit dem ebenfalls umstrittenen und vielfach missverstandenen Aristotelischen Begriff der ¥pagwgffi, der ursprünglich die »Heranführung« des Hörers zum Allgemeinen im dialektischen Diskurs meint. Im Folgenden werde ich im Sinne einer Einleitung die Problematik der ¥pagwgffi kurz umreißen, um dann die ganz andere, an Kant und Wittgenstein erinnernde Lösung Husserls zu rekonstruieren.
I.
Die ¥pagwgffi
Das Wort »¥pagwgffi« wird in den Aristoteles-Übersetzungen und Kommentaren zumeist als »Induktion« wiedergegeben. Generell bezeichnet »Induktion« den Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen, also etwa von (diesem Menschen) Kallias zum Begriff Mensch überhaupt, dann aber auch den weiteren Übergang zu Allaussagen und Gesetzen, die als Prämissen in Schlussfolgerungen Eingang finden. Eine begrenzte Anzahl von beobachteten Fällen wird dabei nach heutiger Auffassung »generalisiert« auf alle Fälle, die in einer gewissen »Ähnlichkeitsrelation« zu jenen Beobachtungen stehen. In diesem Sinne sagte schon John Stuart Mill, »die Induktion [ist] diejenige Verstandesoperation, durch welche wir schließen, daß dasjenige, was für einen besonderen Fall oder besondere Fälle wahr ist, auch in allen Fällen wahr sein wird, welche jenem in irgend einer nachweisbaren Beziehung ähnlich sind« 5. Das Protobeispiel für die generalisierende Induktion ist die Behauptung, dass alle Schwäne weiß seien, die sich durch die Entdeckung schwarzer Schwäne in Australien als falsch erwies und damit gleichzeitig auch als Illustration der Unzuverlässigkeit der induktiven Methode dient. Wenn in der modernen Wissenschaftstheorie vom sog. Induktionsproblem die Rede ist, dann wird oft auf dieses Beispiel Bezug genommen, das folgendes zu zeigen scheint: noch so viele beobachtete Fälle garantieren uns nicht, dass die Generalisierung wahr ist, dass also nicht eine Instanz auftritt, welche die Allgemeinheit unserer Behauptung Lügen straft. Der Fokus auf die Generalisierung aus vielen Beob-
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Vgl. von Fritz (1964). Mill (1868), 508.
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achtungen, die dennoch nicht zu unangreifbarem Wissen führen, verschleiert jedoch die Tatsache, dass unsere alltäglichen ebenso wie viele mathematische »Induktionen« oft von ganz anderer Art sind. Dass durch zwei Punkte nur genau eine Gerade gezogen werden kann oder umgekehrt: dass eine Gerade durch zwei auf ihr liegende Punkte eindeutig bestimmt ist, das generalisieren wir nicht aus unzähligen Beobachtungen, sondern erkennen wir unter Umständen an nur einem Exempel. Ebenso wäre es absurd, durch immer weitere Zeichenversuche den Satz verifizieren oder gar falsifizieren zu wollen. In der Regel genügen uns wenige Beispiele, um ein bestimmtes Tier oder einen anderen Typ von Gegenstand in anderen Exemplaren wieder zu erkennen und richtig zu identifizieren. Die entsprechende Form der Erkenntnis hat offensichtlich mit generalisierender Induktion nichts zu tun. Obwohl Aristoteles mit seiner ¥pagwgffi gelegentlich auch die Verallgemeinerung aus vielen Beobachtungen meint, bezeichnet der Terminus doch, wie von Fritz nachweist, zumeist die Erkenntnis des allgemeinen Typs einer Sache am Beispiel (und zwar vielleicht auch nur an einem einzigen), und damit etwas, das der Husserlschen Wesensschau sehr nahe kommt. Diese, in der heutigen Debatte fast vollständig vernachlässigte, Erkenntnisfunktion gilt es nun genauer zu explizieren: was geschieht, wenn wir mit Sicherheit urteilen, jenes Ding sei »ein A« oder dass alle A die Eigenschaft E hätten? Wie sicher sind solche Behauptungen? Wie lässt sich ihr Wahrheitsanspruch begründen? »Erschauen« wir dabei einfach das Allgemeine »im Vielen« (n epi polln, hen epi pollôn), wie Aristoteles und mit ihm auch Husserl zu sagen scheinen? Vorläufig sei nur auf die Ergebnisse hingewiesen, die von Fritz aus seiner Analyse der Aristotelischen ¥pagwgffi gewinnt: 1. Die ¥pagwgffi bedeutet bei Aristoteles hauptsächlich die unmittelbare Einsicht in Strukturzusammenhänge, die für die Sache bestimmend sind. Die generalisierende Induktion spielt bei ihm nur eine Nebenrolle. 2. Die sog. summative oder vollständige Induktion durch Anführen aller Einzelfälle führt zu Vermutungen, die wissenschaftlich überprüft werden müssen. 3. Die ¥pagwgffi als unmittelbare Strukturerkenntnis tritt in verschiedenen Graden der Exaktheit und Gewissheit auf, die in den mathematischen Wissenschaften am höchsten sind. Dort reicht gelegentlich auch ein einzelnes Beispiel aus. A
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4.
Das offene Problem der ¥pagwgffi besteht in der Frage, nach welchen Kriterien ihre Zuverlässigkeit beurteilt werden kann. Diese Punkte bezeichnen auch die charakteristischen Merkmale von Husserls Wesensschau. Vor allem im Anschluss an den vierten Punkt erheben sich weitere Fragen: wie steht es etwa mit der Überprüfung und Analyse von Begriffen, die wir eidetisch gewonnen haben, wie gehen wir dabei vor? Und im Zusammenhang mit der generellen Kritik Schlicks an der sogenannten nichtbegrifflichen Erkenntnis lässt sich fragen, wie sich Wesensschau zu semantischen Bestimmungen verhält. Am Text von Erfahrung und Urteil sollen diese Fragen im Folgenden etwas näher betrachtet werden.
II.
Husserl Evidenzbegriff
Da der Begriff der Wesensschau oft mit demjenigen der Evidenz, der in der analytischen Philosophie als fast ebenso anrüchig gilt, in einen Hut geworfen wird, seien einige Bemerkungen dazu vorausgeschickt. Zum einen: Evidenz ist zwar ein notwendiger Bestandteil der Wesensschau – diese terminiert in Evidenzerlebnissen – aber beide sind weder der Kategorie noch dem Inhalt nach identisch. Zum zweiten: Evidenz ist bei Husserl ein ganz unprätentiöser Begriff: sie besteht im Erlebnis der Deckung oder Kongruenz von Gemeintem und Gegebenem. Wenn ich im Garten eine Rose suche und schließlich finde, wenn ich ein vorbeihuschendes Tier als Opossum erkenne oder wenn ich von jemandem verlange, dass er eine Linie zeichnet und er zeichnet eine Linie, so decken sich intentional gemeinter und gegebener Gegenstand. Finde ich dagegen nur Tulpen, fallen die Merkmale des vorbeihuschenden Tiers in kein mir bekanntes Muster und erhalte ich auf meine Aufforderung, eine Linie zu zeichnen, die Zeichnung eines Kreises, dann liegt keine Kongruenz vor, sondern im letzten Fall sogar etwas wie »Absurdität«, und auch dies ist evident. Das Deckungserlebnis, in den Kognitionswissenschaften als »internal matching« bezeichnet, hat mit einem »starken inneren Einleuchten« oder einem »Evidenzgefühl« nichts zu tun, wie jeder, der Husserls Erläuterungen gelesen hat, wissen muss. So schreibt Husserl in der sechsten Logischen Untersuchung ausdrücklich, dass Evidenz und ebenso dessen Gegenteil, »Absurdität«, nicht als besondere Gefühle verstanden werden dürfen, die den Urteilen zufällig anhängen und zu ihrer Bewertung als wahr oder falsch führten. Auch 176
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gilt der Einwand, dass Evidenzerlebnisse doch subjektiv und privat seien und deshalb keine Objektivität beanspruchen könnten, für Husserls Evidenzbegriff nicht: Erlebt jemand die Evidenz A, so ist es evident, dass kein zweiter die Absurdität desselben A erleben kann; denn, dass A evident ist, heißt: A ist nicht bloß gemeint, sondern genau als das, als was es gemeint ist, auch wahrhaft gegeben; es ist im strengsten Sinne selbst gegenwärtig. (Hua XIX/2, 656)
Evidenz in diesem allgemeinen Sinne ist also die Erkenntnis von Deckungsgleichheit, die auch schon bei der Wahrnehmung von individuellen Gegenständen statthat. Dieser Evidenzbegriff bringt es mit sich, dass Evidenzerlebnisse jedenfalls in bestimmten Erkenntnisregionen (wie der sinnlichen Wahrnehmung) inadäquat sein können. Obwohl das vorbeihuschende Tier ganz zu den mir bekannten Merkmalen des Opossums passte, war es mir doch in der Wahrnehmung nur unvollkommen gegeben, so dass sich später herausstellen mag, dass es tatsächlich ein Marder war. Diese Möglichkeit tut der Bedeutung von Kongruenzerlebnissen für die Erkenntnis keinen Abbruch; sie hat aber ebenfalls nichts damit zu tun, dass Evidenzerlebnisse »subjektiv« seien. Zuverlässige Kongruenzwahrnehmung fordert schlichtweg eine gewisse Vollständigkeit des Gegebenen. 6 Auf der anderen Seite sind Evidenzerlebnisse etwa im Bereich der exakten Wissenschaften wohl in der Regel vollständig adäquat: die Erkenntnis, dass 1 + 2 = 2 + 1 ist adäquat evident erkennbar an jeder Instanz; hier sind keine Steigerungs- oder Abschwächungsformen denkbar. Wesensschau hat es mit Evidenzerlebnissen der zweiten Art zu tun, deren Faktizität durch die genannten mathematischen Beispiele (aber nicht nur durch diese) außer Frage steht. Zu klären ist dann, wie eine Kongruenz im Hinblick auf die sog. Allgemeinbegriffe, die Husserl »Wesen« nennt, zu denken und zu erklären ist. Dass hier von Evidenz gesprochen werden kann, heißt schon, dass für Husserl Wesen »unmittelbar gegeben« sein können; nur dann kann es ja Kongruenz geben. Wer nun das Vorurteil, wonach Evidenz ein starkes inneres Einleuchten sei, abgelegt hat, dem scheint vielleicht diese Erläuterung nicht minder anrüchig: wie kann man allen Ernstes behaupten, es gebe Wesen und wir könnten ihrer in einer Weise ansichtig werden, dass überprüfbare Kongruenz zu unse-
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Vgl. dazu Husserl Ausführungen in den Ideen I, §§ 136 ff. A
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rer intentionalen Meinung möglich wäre? Das ist die Frage, die Husserl in Erfahrung und Urteil systematisch in Angriff nimmt.
III. Ähnlichkeiten Es fällt auf, dass in Husserls Schriften von der generalisierenden Induktion kaum die Rede ist. Das liegt nicht nur daran, dass sie ein Verfahren der Naturwissenschaften ist, das als solches nicht im Zentrum der phänomenologischen Aufklärung stünde. Vielmehr hat Husserl fundamentale Einwände gegen die Auffassung, wir würden Allgemeines durch »Ähnlichkeitskreise« im Sinne Mills (und später Carnaps) erkennen. Diese Auffassung nimmt nämlich, wie Husserl in der zweiten Logischen Untersuchung anführt, »die Schwierigkeit zu leicht, dass jedes Objekt in eine Vielheit von Ähnlichkeitskreisen hineingehört und dass nun die Frage beantwortet werden muß, was diese Ähnlichkeitskreise selbst voneinander scheidet« (Hua XIX/1, 120). Mit anderen Worten: Allgemeinbegriffe können nicht mit dem Umfang der Gegenstände, die unter sie fallen, identifiziert werden, da gleiche Umfänge nicht zwischen verschiedenen Eigenschaften differenzieren müssen. Da alle Lebewesen mit Herz auch eine Niere haben, käme man auf diese Weise nie zu einer Differenz zwischen Herzen und Nieren. Die »Einheit der Spezies« muss schon vorgegeben sein, damit ein infiniter Regress vermieden wird (ebd.). Diese Kritik muss man im Auge behalten, wenn man die Beschreibung der Wesensschau, die Husserl in Erfahrung und Urteil entwickelt, richtig verstehen will. Dort beginnt Husserl nämlich, scheinbar inkonsequent gegenüber der zweiten Logischen Untersuchung, mit einer Entwicklung des Allgemeinen 7 aus der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten. Zunächst macht er deutlich, dass es sich beim sogenannten Allgemeinheitsbewusstsein nicht mehr um bloß passiv-rezeptives Erfassen der Seiten und Aspekte von gegebenen Gegenständen handelt, wie er sie im ersten Teil des Textes darstellt. Auch die Urteile von Individuellem, die sich an solche passive Explikation des Wahrnehmungsfeldes anschließen und die im Das »Allgemeine« ist in Erfahrung und Urteil in erster Linie Allgemeingegenstand und wird als solcher ientifiziert mit dem »Begriff«. So schreibt Husserl hier, »die Universalität der Leistung der Begriffsbildung« beruhe auf »der Möglichkeit der Bildung von Allgemeingegenständlichkeiten, von ›Begriffen‹« (EU, 396).
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zweiten Teil abgehandelt wurden, werden nun ihrerseits thematisiert und überschritten. Damit entwickelt Husserl aber das Allgemeinheitsbewusstsein und mit ihm die Wesensschau auf der Grundlage von passiver Wahrnehmung und individuellem Urteil: ohne diese beiden Aspekte ist kein Begreifen der Welt möglich. Wir beginnen jedoch nun, auf unsere Wahrnehmungen und Urteile zu reflektieren, sie in Beziehung zu setzen und hinsichtlich Gleichheit oder Ähnlichkeit zu bewerten. So wird unsere Wahrnehmung zunehmend von der erkannten »Typik« überlagert und es kommt zu dem Effekt, dass wir alles, was uns neu begegnet, »als etwas« einordnen und erkennen. Auf der untersten Ebene, noch im Bereich der passiven Rezeptivität, ist uns ein Wahrnehmungsfeld gegeben, in welchem sich verschiedene Ähnlichkeitsbeziehungen überkreuzen. So gibt es Gegenstände von gleicher Farbe oder Form, gleicher Härte oder Wärme, Rauhigkeit oder Glätte, je nachdem, welche Wahrnehmungsorgane wir einsetzen. Gleichheit »affiziert«, wie Husserl sagt, sie fällt auf, sie lässt uns nicht gleichgültig. Ebenso wie die Gleichheit, fällt uns die Unterschiedlichkeit der Dinge ins Auge, und so ordnet sich das Wahrnehmungsfeld nach gewissen, sich »deckenden« oder sogar »verschmelzenden« Ähnlichkeiten und einander abstoßenden Differenzen. Dabei bleiben aber die ähnlichen oder verschmelzenden Dinge doch im Bewusstsein verschiedene Dinge: der rote Apfel bleibt Apfel, obwohl er die gleiche Farbe wie der Teller haben mag, auf dem er liegt. Es entsteht eine eigentümliche Zwitterhaftigkeit der Gegenstände: »das Bewusstsein einer Zweiheit der sich in der Verschmelzung Einigenden« besteht fort (EU, 387). Es ist diese Zweiseitigkeit der Wahrnehmung, aus der die neuen Formen des Urteilens entstehen. Dabei stellt Husserl fest, dass es sich bei den Gleichheiten und Ähnlichkeiten nicht etwa um subjektive Auffassungen der Sachen handle: es liegt vielmehr »in jeder solchen Zweiheit und in jeder beliebigen Mannigfaltigkeit Gleicher wirklich eine Einheit und Selbigkeit im strengen Sinne« (EU, 388). Das weist schon darauf hin, dass wir hier nicht auskommen mit einer bloßen Versammlung der Gleichen zu Ähnlichkeitskreisen; dies wird der wahrgenommenen »Selbigkeit« in keiner Weise gerecht. Die wahrgenommene Ähnlichkeit ist vielmehr bloß Anlass zum Übergang, zur ¥pagwgffi, die auf das Allgemeine verweist. Husserl gibt sich jedoch nicht mit einem solchen Verweis zufrieden. Wie findet er im Einzelnen statt, was geschieht dabei? Zunächst war schon auf der passiven rezeptiven Ebene die Ähnlichkeit Anlass für A
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Relationsurteile der Form »A ist gleich B«. Andererseits verfügen wir auf dieser Ebene auch schon über individuelle Urteile der Form »S ist P«, in denen von einem »Substrat« ein an ihm hervortretendes Moment prädiziert wird. Stellen wir nun fest, dass S’ ist p’, S’’ ist p’’ etc., und bemerken wir gleichzeitig, dass die Momente über verschiedene Individuen gleich (wenn auch nicht identisch) sind, so ist die Spezies p bereits »vorkonstituiert«. Generelle Urteile der Form S’ ist p, S’’ ist p etc. sind nun möglich. In dieser Vorkonstitution wird das Allgemeine »zunächst als ein Gemeinsames zweier oder mehrerer nacheinander erfasster S« angedeutet; endgültig bestimmt wird es dann als ein »ideal absolut Identisches,«, etwa die Röte oder das Menschsein, das durch die vereinzelten Gegenstände als ideale Einheit hindurchgeht (EU, 390). Gegenüber den individuellen Momenten, die in den Dingen real enthalten und einander gleich sind, hat dieses ideal absolut Identische ganz andere Eigenschaften: Es ist eine Einheit, die an der Wirklichkeit der Momente gar nicht interessiert ist, mit ihnen nicht entsteht und vergeht, in ihnen sich vereinzelt und doch nicht als Teil in ihnen ist (EU, 390)
Der Übergang von den individuellen Urteilskernen S’ ist p’ zu dem generellen Kern S’ ist p, und dann noch weiter zu S ist p, ist als ein Themenwechsel zu verstehen: das passiv vorkonstituierte Gleiche wird nun selbst Gegenstand aktiver Bezugnahme, intentionales Objekt, und damit aus dem Status bloßer Prädikativität herausgelöst. Husserl spricht auch davon, dass durch diesen Akt der Thematisierung das Allgemeine »spontan erzeugt« wird. Das ist nicht mysteriöser als etwa die spontane Erzeugung des Begriffs »Primzahl« auf Grund der systematischen oder unsystematischen Analyse der Eigenschaften von bestimmten Zahlen. Auch die Primzahl erhält durch eine solche thematische Zuwendung den Status eines allgemeinen Gegenstandes für unsere Erkenntnis, den wir auf seine Eigenschaften hin untersuchen können, für den die Wirklichkeit der Primzahl-Momente von Zahlen nichts austrägt, der sich in den Zahlen vereinzelt, aber doch nicht als Teil von ihnen aufgefasst werden kann. Das aristotelische n epi polln versteht Husserl in diesem Sinne: das ideal Gleiche im Vielen darf nicht mit den realen Ähnlichkeiten der Dinge verwechselt werden, sondern stellt eine ganz neue Thematik für die Erkenntnis dar. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich bereits eine konkrete und offenbar recht harmlose Deutung des Begriffs »Wesensschau«. Ver180
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stehen wir die Allgemeingegenstände p als Wesen 8, so werden Wesen thematisiert, indem sich der Blick anstatt auf die konkreten Dinge auf deren Ähnlichkeiten richtet und diese zu einem umfassenden Begriff objektiviert, der dann selbst Gegenstand des Urteilens werden kann. Umgekehrt erscheint dadurch »Gleichheit [als] ein Korrelat der Identität eines Allgemeinen«, das aus dem Gleichen »herausgeschaut« werden kann. So heißen nun die Zahlen 3, 5, 7, 11 etc. gleich in Bezug darauf, dass sie Primzahlen sind, obwohl der Begriff der Primzahl selbst der Vorkonstitution durch bestimmte Zahleigenschaften bedurfte. Einige der Schlickschen Vorurteile gegen die Wesensschau erweisen sich schon in diesem Stadium als irrtümlich. Der Prozess der Thematisierung, der Übergang von Gleichem zum idealen Gegenstand, geschieht nicht ohne Begriffe; er setzt im Gegenteil das im zweiten Kapitel von Erfahrung und Urteil beschriebene prädikative Denken voraus. Er besteht in einem aktiven, begreifenden Übergang von Individualurteilen zu generellen Urteilen und ist insofern nichts weniger als ein begriffsloses Anschauen von Ideen. Auch die Annahme, es handle sich um einen innersubjektiven, nicht kommunizierbaren Akt, erweist sich als Missverständnis. Husserl legt besonderen Wert darauf, dass vielmehr gerade durch die Objektivierung der wahrgenommenen Gleichheiten eine intersubjektive Auseinandersetzung über jene allgemeinen Gegenstände erst möglich wird. Wir können nun über die wesentlichen Eigenschaften von Pflanzen, Tieren, Raumschiffen oder Primzahlen diskutieren, anstatt auf individuelle Wahrnehmungsfelder verwiesen zu bleiben. Mit der Objektivierung beginnt Wissenschaft, anstatt dort zu enden. Die bisherige Beschreibung blieb im Grunde noch auf der untersten Stufe unserer Begriffsbildung: der Thematisierung von wirklich Genau genommen ist eine solche Identifikation nicht ganz korrekt: Empirische Begriffe sind in Erfahrung und Urteil nicht schon Wesen, da der Ausgangspunkt der Begriffsbildung »ein zufällig gegebenes Einzelnes« war (EU, 209). Wesen sind »reine Begriffe«, die, wie im folgenden beschrieben, »auf der Abwandlung einer erfahrenen oder phantasierten Gegenständlichkeit zum beliebigen Exempel« beruhen. (EU, 210) Allerdings setzt Husserl z. B. in den Ideen I Wesen und Begriff gleich und spricht etwa von der »Festigkeit und reinliche[n] Unterscheidbarkeit der Gattungsbegriffe, bzw. Gattungswesen, die ihren Umfang im Fließenden haben.« (Hua III/1, 156). Husserls Begriff »Begriff« schillert zwischen semantischen, psychologischen und ontologischen Aspekten. Ich verdanke den Hinweis auf eine mögliche Konfundation zwischen Wesen und Begriff Rochus Sowa.
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aktuell wahrgenommenen Gleichheiten. Das Allgemeine erscheint auf dieser Stufe, wie Husserl sagt, als »an den Dingen verhaftet«, »als ihnen einwohnender Begriff« (EU, 394 f.). Unsere wirkliche Erfahrung ist jedoch ein zeitlich ausgedehnter Prozess, der uns immer neue Gegenstände zuführt, während die alten entweder gerade unserer Aufmerksamkeit entschwinden oder schon Erinnerung sind. In diesem Prozess nun erscheinen die neuen Dinge und ihre Merkmale als Exemplare jenes einmal konstituierten Allgemeinen, das damit einen unendlichen »Horizont« aufmacht: neue Einzelheiten geben sich nun von vornherein als Vereinzelungen des Typus Pflanze, Tier etc., und die Individuen, die ursprünglich Anlass für die Begriffsbildung waren, verlieren ihre Bedeutung. Auch die Wahrnehmung von entsprechenden Gleichheiten ist nicht mehr nötig; der Typus Blume wird durch ein neu auftretendes Exemplar assoziativ geweckt und das Exemplar entsprechend kategorisiert. Das Allgemeine ist auch insofern »an keine einzelne Wirklichkeit gebunden« (EU, 395). Noch ein anderer Aspekt führt zum gleichen Ergebnis. Wir sind für die Begriffsbildung tatsächlich nicht darauf angewiesen, auf konkret auftretende Wahrnehmungen zu warten. Dem bereits bekannten Muster folgend können wir Gleichheiten auch in der Phantasie fingieren und entsprechend objektivieren. Diese Fiktionen liefern, da ja die idealen Gegenstände gegenüber der Wirklichkeit im beschriebenen Sinne »uninteressiert« sind, gleichwertige Ergebnisse: Möglichkeiten und Wirklichkeiten zusammen umschreiben das gesamte Feld der allgemeinen Gegenstände. So ergibt sich, dass für die Bildung von Begriffen »assoziative Gleichheitssynthesen« ausschlaggebend sind, nicht etwa wirkliche Dinge, »in denen« sich die Allgemeinbegriffe finden. Diese bilden allenfalls den ersten Anlass der Konstitution. Jedoch ist das ideale Sein des Allgemeinen unabhängig von Wirklichkeit nicht ein Sein in einem subjektunabhängigen »Reich der Ideen«. Vielmehr gilt: »Das Sein des Allgemeinen in seinen verschiedenen Stufen ist wesensmäßig Konstituiert-sein in jenen Prozessen [der Vergleichung und Objektivierung, VM].« (EU, 397)
IV. Empirische Begriffe Das Verfahren kann zunächst keineswegs beanspruchen, zu fraglos gültigen Ergebnissen zu gelangen. Unsere Alltagsbegriffe bilden wir 182
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vom Ausgangspunkt kontingenter Wahrnehmung aus durch Vergleichung von Ähnlichkeiten, die uns zufällig begegnen. Es ist kein Wunder, dass auf diese Weise auch Begriffe zustande kommen, die nicht wesentliche, sondern vielmehr »außerwesentliche« Merkmale der Dinge zum Inhalt haben. Husserl erwähnt das Beispiel des Walfischs, der eben kein Fisch ist. Interessanter noch ist der Begriff des Schimmels, der den des Weißseins so sehr in seine Bedeutung aufgenommen hat, dass der Ausdruck »schwarzer Schimmel« als Oxymoron erscheint, obwohl (da das Schimmelsein auf einem genetischen Merkmal beruht, das sich erst im Verlauf des Heranwachsens als weißes Fell manifestiert) sich in Ställen und auf Weiden zahlreiche schwarze Schimmel finden. Generalisierung und Objektivierung von Ähnlichkeiten führen also in solchen Fällen nicht notwendig zu unkorrigierbaren »Wesen«, sondern nur zu Typen, deren wesentliche Merkmale zu entdecken Aufgabe der Wissenschaften ist. Es ist aber entscheidend, dass die wissenschaftliche Untersuchung jener Allgemeinheiten systematisch die Erlebnisstrukturen von Subjekten voraus- und an ihnen ansetzt. Die allgemeinen Gegenstände finden sich ja nicht einfach in der Natur; sie sind, wie das oben angeführte Zitat zeigt, wesentlich im Bewusstsein Konstituiertes. Darin offenbart sich nun aber auch die Rolle und Funktion der Allgemeinheiten: anstatt zeitlos existierende Ideen, sind sie vielmehr Regulativa der Erfahrung, die unsere Wahrnehmung in gewisse Bahnen lenken. Auch kann man annehmen, dass diese Regeln nicht völlig falsch sein werden; würden sie doch sonst zu häufigen Erlebnissen der »Durchstreichung« führen, nämlich immer dann, wenn ein empirisch gegebenes Ding vom anscheinend selben Typus nicht die den Typus diktierenden Merkmale aufweist, etwa als sich herausstellte, dass der Walfisch nicht laicht. Husserls Begriff des Allgemeinen steht damit dem Kantischen Begriff des Begriffs nahe: Die allgemeinen Gegenstände sind Regeln empirischer Erfahrung, einerseits reflektiv aus der Vergleichung von Erfahrungsurteilen gewonnen, andererseits »bestimmend« für den Fortgang der Erfahrung selbst. Allerdings, insofern das Allgemeine als intentionaler Gegenstand erscheint, der selbst Gegenstand von Untersuchung, auch empirischer, sein kann, erschöpft sich sein Inhalt keineswegs in den Gemeinsamkeiten, aus denen es ursprünglich geschöpft wurde. Vielmehr spannen die Alltagstypen einen Horizont auf, der in seiner Präzisierbarkeit unbestimmt und systematisch offen erscheint. Was Wale oder Schimmel wirklich sind, das mag »empirisch-indukA
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tive« Forschung immer detaillierter feststellen, dabei immer neue Ähnlichkeiten entdeckend und generalisierend, die dem bloßen Auge oder der Alltagspraxis nicht zugänglich waren: So erwächst, über den wirklichen und durch wirkliche Erfahrung gewonnenen Begriff hinausgehend, eine präsumptive Idee, die Idee eines Allgemeinen, zu welchem neben den schon gewonnenen Merkmalen noch ein unbestimmt offener Horizont unbekannter Merkmale (begrifflicher Bestimmungen) gehört […]. So wandeln sich die empirischen Begriffe durch fortgesetzte Aufnahme neuer Merkmale, aber gemäß einer empirischen Idee, der Idee eines offenen und immerfort zu berichtigenden Begriffs, der zugleich die Regel des empirischen Glaubens in sich enthält und auf fortgehende wirkliche Erfahrung angelegt ist. (EU, 401)
In Erfahrung und Urteil stellt Husserl die Genealogie des Urteilens in den generellen Kontext menschlichen Strebens. Das Ich will, schon aus Gründen der Selbsterhaltung, eine konstante und konsistente Welt der Gewissheit und der bleibenden Geltungen. Es wird deshalb Allgemeinbegriffe konstituieren, die nicht anfällig sind für Durchstreichungen und Korrekturen, und es wird seine Urteile mit Modalisierungen versehen, die den Gewissheitsstatus deutlich machen (vgl. EU, § 71). Es ist deshalb nicht denkbar, dass wissenschaftliche Begriffe empirische Alltagsbegriffe dauerhaft ersetzen werden, wie manchmal in der analytischen Philosophie des Geistes etwa für den Begriff der Person oder des Bewusstseins prognostiziert wird. Die wissenschaftlichen Begriffe verlieren, sofern sie nicht in subjektabhängigen Erfahrungen fundiert bleiben, ihren Sinn und erfüllen damit nicht mehr den epistemischen Zweck der Begriffsbildung, eine stabile Welt der Geltungen und einen Rahmen fortlaufender Orientierung, »eine ins Unendliche fortlaufende Voraussicht des in Erfahrung zu Erwartenden« (EU, 42), zu bilden. Die »Krisis« der Wissenschaften, die Husserl auch in Erfahrung und Urteil anspricht (vgl. EU, § 10), besteht gerade in diesem Verlust der Erfahrung »im letztursprünglichen Sinne«, d. h. der elementaren Konstitutionsstrukturen, die wissenschaftliche Erkenntnis an subjektive und lebensweltliche Praxis anbinden. 9 Nur kurz handelt Husserl die formalen Allgemeinheiten ab, die durch Vergleichung von Satzstrukturen entstehen. Wie in Wittgensteins Tractatus, den Husserl kannte, werden formale Begriffe dadurch konstituiert, dass alle sachhaltigen Ausdrücke durch Variable ersetzt werden. Es entstehen Allgemeinheiten wie Gleichheit, Verschiedenheit, Einheit, Menge etc. Vgl. Wittgenstein (1989), 3.3 ff.
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V.
Reine Wesen
Genau genommen befanden wir uns bisher noch nicht im umstrittenen Reich der reinen Wesen und der dazu gehörigen Wesensschau. Es ging zunächst um profane Alltagsbegriffe, die wir im Sinne von Regeln der künftigen Erfahrung aus der Vergleichung von Ähnlichkeiten als zu untersuchende und immer weiter bestimmbare Gegenstände konstituieren. Es ist aber entscheidend, festzuhalten, dass der Übergang zu den reinen Wesen und ihrer Ideation nicht etwa die Einführung völlig neuer Begrifflichkeit oder Methodik verlangt. Die hier von Husserl durchgeführte Genealogie beschreibt im Gegenteil die kontinuierliche Erweiterung unserer natürlichen Erkenntnisbestrebungen und -instrumente hin zu immer grundsätzlicheren und von Kontingenz weitgehend befreiten Allgemeinheiten. Nichts Neues, insbesondere kein mystisches Sich-Hineinversetzen in die Dinge, wird dabei ins Spiel gebracht. Der Trick besteht lediglich darin, dass die zuvor an gegebenen Wahrnehmungen ansetzenden Vergleiche in der Phantasie nun bei beliebig gewählten Ausgangspunkten anfangen und diese beliebig variieren. Da die eidetischen Variationen also insofern von Erfahrung unabhängig sind, gelten ihre Ergebnisse a priori und die so konstituierten allgemeinen Gegenstände heißen reine Begriffe, Wesensallgemeinheiten, oder kurz Wesen. Phantasie umschreibt für Husserl Möglichkeitsräume der Erfahrung; deshalb können die reinen Wesen nicht durch Erfahrung korrigiert werden – es sei denn, was immer denkbar ist, bei der Vergleichung von Phantasiegebilden seien Fehler unterlaufen. Husserls Wesen oder reine Allgemeinbegriffe sind in Analogie zu den empirischen Begriffen also notwendige Spielräume der Erfahrung, in denen eine »Unendlichkeit des faktischen Fortlaufenkönnens evident gegeben« ist (EU, 410). Wesensschau besteht im konkreten Auffinden der Grenzen dieser Spielräume, die sich nun als »Strukturmöglichkeiten der Erfahrung« erweisen. Dieser Prozess, so sehr er auch durch die vorhergegangene Beschreibung der Gewinnung empirischer Begriffe vorgezeichnet ist, steht unter manchen Fragezeichen. Sollen wir uns etwa nun beliebige Hunde vorstellen, um eine »Invariante« zu gewinnen, eine Art Bild vom »allgemeinen Hund«, das durch alle Vorstellungen »hindurchgeht«? So scheint es aus dem Wortlaut des Textes hervorzugehen:
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Es zeigt sich dann, daß durch diese Mannigfaltigkeit von Nachgestaltungen eine Einheit hindurchgeht, dass bei solchen freien Variationen eines Urbildes, z. B. eines Dinges, in Notwendigkeit eine Invariante erhalten bleibt als die notwendige allgemeine Form, ohne die ein derartiges wie dieses Ding, als Exempel seiner Art, überhaupt undenkbar wäre. (EU, 411)
Husserls Erläuterungen machen jedoch klar, dass es sich hier nicht um das bildliche Vorschweben eines allgemeinen Gegenstandes handelt. Vielmehr dient die Rede von der Invariante nur der Umschreibung von Spielraum und Regel, derjenigen »Grenzen«, ohne die ein entsprechendes Ding nicht denkbar oder als das, was es ist, erfahrbar wäre. Worauf unsere Aufmerksamkeit in eidetischen Variationen gelenkt wird, das ist etwas, das auf keine andere Weise fassbar wäre: der Rahmen, innerhalb dessen die Dinge sich verändern können, ohne ihr »Wesen« zu wechseln. Aber obwohl diese spezifische Form des reflexiven Allgemeinheitsbewusstseins notwendig Begriffe involviert, muss doch festgehalten werden, dass es sich hier nicht um eine Begriffsanalyse in dem Sinne handelt, wie sie etwa ein analytischer Philosoph vornehmen würde. Gefragt wird ja nicht nach den Gebrauchsweisen eines Begriffswortes oder nach dem Sinn von Sätzen, in denen es vorkommt, sondern nach der Bandbreite von Darstellungsformen, die einem Gegenstand möglich sind. In der Tat haftet daher dem Verfahren der Wesensschau, unbeschadet der Tatsache, dass einfache Urteile immer schon involviert sind, der Charakter des Nichtsprachlichen an, der analytische Philosophen verstört. Es ist denkbar, dass durch Vergleichung von Phantasievorstellungen von Einhörnern der reine Begriff eines Einhorns entsteht, der die künftige Phantasie oder Erfahrung dahingehend lenkt, dass die Frage »Einhorn oder nicht?« unmittelbar entscheidbar ist, und dies ohne dass Kriterien der Entscheidung angegeben werden könnten. Die meisten Begriffe fundamentaler Art – Ding, Ton, Farbe, etc. – d. h. vor allem die obersten Begriffe regionaler Ontologien, werden uns in diesem Sinne »bekannt«: sie sind uns gegeben, um Russells Terminologie zu verwenden, durch »acquaintance«, nicht durch »description«, wir schauen sie gewissermaßen im Wechsel der Dinge an, anstatt dass wir sie uns indirekt durch sprachliche Zeichen zu Gemüte führen würden. Wenn man so will, liegt hier in der Tat ein Bruch gegenüber analytischem Philosophieren vor, der sich allerdings historisch gesehen verschleift. Russells bereits erwähnter Begriff der »acquaintance« und 186
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Regeln, Spielräume und das offene Undsoweiter
Wittgensteins Begriff des Zeigens im Tractatus oder des Regelfolgens in der Spätphilosophie sind Beispiele für wesensschau-artige Verfahren in der analytischen Tradition. Die Ähnlichkeit zu Wittgenstein zeigt sich insbesondere in dem Begriff des »offenen Undsoweiter«, den Husserl in Erfahrung und Urteil immer wieder anführt. In ihm zeigt sich, dass das Wesen keine bloß statische »Invariante« in den Dingen ist, sondern vielmehr ein offener Spielraum von Möglichkeiten: Zu jeder Variationsmannigfaltigkeit gehört wesentlich dieses merkwürdige und so überaus wichtige Bewußtsein des »und so weiter nach Belieben«. Dadurch allein ist gegeben, was wir eine »offen unendliche« Mannigfaltigkeit nennen. (EU, 413)
Wittgenstein führt im Tractatus das »undsoweiter« im Zusammenhang mit dem Begriff einer Formenreihe ein. Eine solche Reihe, z. B. die Reihe der natürlichen Zahlen, ist charakterisiert durch eine Operation, die aus einem beliebigen Glied das nächste erzeugt. Im Satz 5.2523 heißt es dann: Der Begriff der successiven Anwendung der Operation ist äquivalent mit dem Begriff »und so weiter«.
Auch wenn Wittgenstein die Operation auf Zeichen anwendet und für Zeichenketten definiert: offenbar liegt auch hier der Gedanke einer systematischen Abwandlung zu Grunde, die potentiell ins Unendliche fortgesetzt werden kann und dadurch die invariante Form des Ganzen »zeigt«. Wittgensteins Idee der Formenreihe dient zwar letztlich der Definition der allgemeinen Form der Wahrheitsoperation in Satz 6, wird aber ganz allgemein für jede Art von »Reihe« eingeführt. Reihen sind Varianten einer solchen allgemeinen Form. Zur Definition der Form einer Reihe benötigen wir das Anfangsglied (bei Husserl der Gegenstand, der variiert wird), ein beliebiges Glied der Reihe und die entsprechende Operation (bei Husserl die Abwandlung in Bezug auf Ähnlichkeit). So heißt es in 5.2522 [d]as allgemeine Glied einer Formenreihe a,O’a,O’O’a,… schreibe ich daher so: »[a,x,O’x]«. Dieser Klammerausdruck ist eine Variable. Das erste Glied des Klammerausdruckes ist der Anfang der Formenreihe, das zweite die Form eines beliebigen Gliedes x der Reihe und das dritte die Form desjenigen Gliedes der Reihe, welches auf x unmittelbar folgt,
wobei O’x die Operation andeutet, die aus x den Nachfolger erzeugt. In der Spätphilosophie ersetzt Wittgenstein dann die Angabe der OperaA
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tion durch das praktische Erzeugenkönnen des nächsten Gliedes, und auch dieses »jetzt weiß ich weiter« ist nicht ein durch Kriterien begründetes Ableiten nächster Schritte, sondern ein faktisches Operierenkönnen im Spielraum der von den Ausgangsdingen aufgespannten Möglichkeiten. Bei Husserl stellt sich dieser Prozess der spontanen Erzeugung streng analog zur empirischen Begriffsbildung als ein allmählicher Übergang vom Objektivieren der Ähnlichkeit zur Bestätigung des aufgefundenen Wesens dar: haben wir einmal durch Vergleichung von Erfahrungen eine Ahnung davon bekommen, was ein Ton ist, können wir immer neue Töne als »Exempel« des präsumptiven Wesens spontan erzeugen, und je besser wir mit dem Wesen bekannt sind, umso genauer wissen wir, wie es weiter geht. Haben wir etwa das Eidos Ton durch Variation eines Ausgangstones gewonnen, dann können wir dasselbe Eidos durch Variation eines anderen gewinnen: Und selbst das ist evident, dass wir, fortschreitend von einer Variation zu einer neuen, diesem Fortschreiten und Bilden neuer Variationsmannigfaltigkeiten selbst wieder den Charakter eines beliebigen geben können, und dass in solchem Fortschreiten in der Form der Beliebigkeit sich »immer wieder« dasselbe Eidos ergeben muß: dasselbe allgemeine Wesen »Ton überhaupt« (EU, 412).
Beispiele für Aussagen, die in diesem Sinne eidetische Spielräume umschreiben, sind die auch von Wittgenstein diskutierten Sätze »Jeder Stab hat eine Länge« oder »Jeder Ton hat eine Höhe«. So spricht Wittgenstein auch in einer Satzreihe im Tractatus vom »Raum möglicher Sachverhalte«, in dem sich ein Gegenstand befindet und der seine Form bestimmt: 2.013 Jedes Ding ist, gleichsam, in einem Raume möglicher Sachverhalte. Diesen Raum kann ich mir leer denken, nicht aber das Ding ohne den Raum. 2.0131 Der räumliche Gegenstand muss im unendlichen Raume liegen. (Der Raumpunkt ist eine Argumentstelle.) Der Fleck im Gesichtsfeld muss zwar nicht rot sein, aber eine Farbe muss er haben: er hat sozusagen den Farbenraum um sich. Der Ton muss eine Höhe haben, der Gegenstand des Tastsinnes eine Härte, usw. 2.014 Die Gegenstände enthalten die Möglichkeit aller Sachlagen. 2.0141 Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten, ist die Form des Gegenstandes. 188
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Fasst man im beschriebenen Sinne das Eidos oder Wesen als den Spielraum oder die Strukturmöglichkeit (Wittgenstein: »die Form«) eines Gegenstandes, dann erweist sich, dass die eidetische Variation nicht ein obsoletes und absonderliches Verfahren der Begriffsanalyse darstellt, sondern die allein angemessene Methodik zur Feststellung der »Grenzen« eines solchen Raums, die zudem bloß in einer Erweiterung unserer natürlichen Begriffsbildung besteht. Es bildet im Sinne dieses Verfahrens keine Schwierigkeit, dass manche vorgestellten Gegenstände überhaupt keinen Spielraum haben (die ganze natürliche Zahl zwischen 1 und 2) oder einen sehr engen Spielraum (die ganze natürliche Zahl zwischen 1 und 3): in solchen Fällen zeigt uns die Variation entsprechende »Durchstreichungen«, an denen wir die Grenzen »erschauen«. Umgekehrt lassen sich die in der analytischen Philosophie so beliebten Gedankenexperimente zwanglos als unsystematische Variationen von präsumptiven Ideen begreifen. So zeigt das berühmte Gettier-Experiment, dass der in der Philosophie überlieferte Begriff des Wissens nicht die Erzeugung beliebiger evidenter Exempel erlaubt, sondern in spezifischen Fällen »durchgestrichen« werden kann – ein deutlicher Hinweis, dass das Eidos »Wissen« noch nicht erfasst war. Für Husserl ist Wesensschau eine Form des Handelns, nämlich des Begreifens der Welt mit dem Ziel, bleibenden, nicht korrigierbaren »Besitz« an Erkenntnis zu erzeugen, der im Fortlauf der sich ständig bestätigenden Präsumptionen epistemische Befriedigung herstellt. Sie erlaubt Orientierung und sichere Vorhersage, sie strukturiert das Feld der Wissenschaften vor, so dass empirische Präzisierung möglich ist, die für lebensweltlich ausgerichtete Subjekte sinnvoll ist. Wesensschau ist in diesem Sinne kein esoterisches Brimborium, sondern das gewöhnliche Handwerkszeug des Philosophen.
VI. Kriterien Kehren wir zurück zu den beiden Beispielen für das Verfahren der ¥pagwgffi, die eingangs erwähnt wurden: die weißen oder schwarzen Schwäne und die durch zwei Punkte eindeutig gegebene Gerade. Beide Beispiele finden im Rahmen von Husserls Genealogie der Logik ihren Platz: Die Behauptung, dass alle Schwäne weiß seien, gründet auf einem empirischen Begriff, der eine Objektivierung von empirisch gegebenen Ähnlichkeiten darstellt. Die Aussage, dass jede Gerade durch A
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zwei auf ihr liegende Punkte eindeutig bestimmt ist, gründet in einem Eidos, das von einer gegebenen Geraden ausgehend durch beliebige Variation jederzeit evident bestätigt wird. Evident heißt hier immer, dass das Wesen sich in jedem Beispiel »zeigt«. Wir kommen gar nicht auf die Idee, jenen Satz durch konkrete Zeichenversuche bestätigen zu wollen, weil die Beliebigkeit der Phantasiewahl seine apriorische Gültigkeit bereits hinreichend ausweist. Von Fritz hatte die Frage nach den Unterscheidungskriterien von empirischer Generalisierung und apriorischer ¥pagwgffi als ungelöst auch für die Wesensschau betrachtet. Husserl selbst verlegt das Kriterium in die Beliebigkeit der Variation. Wie die philosophischen Gedankenexperimente zeigen, ist dabei nicht ausschlaggebend, dass die eidetische Variation in der Phantasie eines individuellen Subjekts abläuft: Varianten können sprachlich beschrieben, bildlich dargestellt und auf jede erdenkliche Weise kommuniziert werden. Entscheidend ist, dass sich an ihnen die Begriffsgrenzen »für jedermann einsichtig« ausweisen lassen. Wer etwa bestreitet, dass jeder Stab eine Länge hat, muss in der einen oder anderen Weise einen längelosen Stab vorweisen können, ohne sich in vielfältige Inkonsistenzen zu verwickeln. Die Grenzen des Verfahrens liegen deshalb nicht in der angeblichen »Privatheit« der Ergebnisse, sondern eher in der Frage, wie echte »Beliebigkeit« herstellbar ist, die nach Husserl »zum Grundcharakter des Aktus der Ideenschau« gehört (EU, 422). Husserl thematisiert diesen Punkt selbst im § 89 von Erfahrung und Urteil, wo er für das Verfahren die unbedingte Ausschaltung aller Seinssetzungen fordert: Die Wirklichkeiten müssen behandelt werden als Möglichkeiten unter anderen Möglichkeiten, und zwar als beliebige Phantasiemöglichkeiten. Das geschieht nur dann, wenn jede Bindung an vorgegebene Wirklichkeit in der Tat aufs Sorgsamste ausgeschlossen ist. Variieren wir frei, aber im geheimen daran festhaltend, dass es z. B. beliebige Töne in der Welt sein sollen, von Menschen auf der Erde zu hörende oder gehörte Töne, dann haben wir zwar ein Wesensallgemeines als Eidos, aber auf unsere tatsächliche Welt bezogen und an diese universale Tatsache gebunden. Das ist eine geheime, nämlich aus begreiflichen Gründen uns selbst unmerkliche Bindung (EU, 424).
Es sind jedoch nicht nur die unbewussten Seinssetzungen, durch welche die Apriorität der Wesensschau bedroht wird. Unsere Erfahrung folgt bestimmten »Stilformen«, Voraussetzungen der »Normalität und Anormalität«, die auch die Wahl der Varianten relativieren können. Husserl nennt als Beispiele Ruhe und Veränderung: so tendieren 190
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wir dazu, uns statische Objekte vorzustellen anstatt bewegte, oder Veränderung nur in bestimmten Hinsichten zu berücksichtigen. Vorausgesetzt ist auch »normale Sinnlichkeit«, d. h. scharfe Sicht, gute Beleuchtung etc., »normale Leiblichkeit«, d. h. etwa keine Einschränkungen der Beweglichkeit, und vieles mehr. Diese »Relation auf eine normale Erfahrungsgemeinschaft« kommt unter Umständen erst nachträglich zum Vorschein und erzwingt damit eine Korrektur der Ergebnisse. Auch Wesensschau ist in diesem Sinne irrtumsanfällig; sie muss die eigenen Relativitäten reflektierend in den Griff bekommen, um zu den konkreten Wesen vorzudringen. Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass von der betrachtenden Subjektivität und lebensweltlichen Einbettung der Dinge nicht abstrahiert werden kann. Es gehört zum »Seinssinn« von Dingen in der Welt, dass sie sinnliche Qualitäten in Relation zu wahrnehmenden Subjekten aufweisen, aber auch, dass sie für jeden anderen erfahrbar sind oder in einer »interrealen Kausalität« stehen, Personen affizieren etc. Erst die Berücksichtigung all dieser Relativitäten, ihre Integration in die Wesensbeschreibung, liefert uns die wahren Spielräume der Dinge und damit »die Sachen selbst«.
Literatur Fritz, K. v. (1964), Die ¥pagwgffi bei Aristoteles, München. Mill, J. S. (1868), System der deduktiven und induktiven Logik. Ins Deutsche übertragen von J. Schiel, Braunschweig. Ridder, L. (2002), Mereologie. Ein Beitrag zur Ontologie und Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. Schlick, M. (1979), Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918 (Neuauflage der zweiten Auflage 1979), Frankfurt a. M. Wittgenstein, L. (1989), Logisch-philosophische Abhandlung, Tractatus logicophilosophicus. Kritische Edition, Hrsg. Brian McGuinness und Joachim Schulte, Frankfurt a. M.
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Andererseits muss man radikal unterscheiden zwischen okkasioneller oder empirischer und idealer Wahrheit, und wenn dies die Prolegomena auch taten, so schossen sie über das Ziel hinaus, weil es bei der ersten Ausgabe der Logischen Untersuchungen an hinreichenden phänomenologischen Einsichten über den Bau der Konstitution des Transzendenten im Zusammenhang der Erfahrung noch mangelte […]. (Hua XX/1, 264 f.)
I.
Einleitung
Spätestens seit Freges Über Sinn und Bedeutung (1892) stehen Theorien der Bedeutung und der Intentionalität in der Pflicht, mindestens drei Ebenen sprachlicher Bezugnahme zu berücksichtigen: Erstens die Ebene der Zeichen/intentionalen Phänomene, in denen wir uns auf etwas beziehen; zweitens die Ebene des Sinns, der Bedeutung, des Inund Gehalts, durch den wir uns auf etwas beziehen; und schließlich drittens die Ebene des Gegenstands 1, auf den wir uns beziehen. Die Natur dieser Trias – In/Durch/Auf – gehört zu den heiß umkämpften Schauplätzen der Philosophie des Geistes und der Bedeutung. 2 In Freges Terminologie ist das bekanntlich die Ebene der Bedeutung. Ich halte mich im Folgenden an Husserls Terminologie, derzufolge »Sinn« und »Bedeutung« – zumindest auf sprachlicher Ebene – synonym sind. Vgl. Hua XIX/1, 58 f. Ein wichtiger Wegbereiter dieser Trias ist Bernard Bolzano durch seine Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Vorstellung und deren Gegenstand. Ähnliches gilt für Kasimir Twardowskis Differenzierung zwischen dem Inhalt und Gegenstand einer Vorstellung. Mehr dazu in dem Beitrag von Christian Beyer. 2 Dies belegen die zahlreichen aktuellen Theorien der Intentionalität, insbesondere des intentionalen Gehalts (intentional content). Vgl. die Aufsätze in McLaughlin/Beckermann/Walter (2009), Part III. 1
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Empirische Bedeutung und Twin Earth
Dabei wirft v. a. die Bezugnahme auf Individuen in Raum und Zeit immer wieder Fragen auf. Denn während abstrakte Gegenstände, die bei Frege im Vordergrund stehen, unabhängig von der aktuellen Wahrnehmung des Subjekts und dessen Standpunkt in der Welt identifiziert werden können, spielen bei konkreten Objekten solche indexikalischen und »egozentrischen« Elemente herein. Das sieht man deutlich beim Phänomen der direkten (demonstrativen) Referenz (»Dies da!«): Offenbar ist hier nicht nur der Gegenstand variabel, sondern auch die Bedeutung. Es stellt sich die Frage, ob sich in diesem Fall die Elemente der Trias In/Durch/Auf scharf voneinander trennen lassen und ob der Sinn den Gegenstand (wie bei Frege), oder nicht vielmehr umgekehrt der Gegenstand den Sinn bestimmt. 3 Interessanterweise sieht sich auch Husserl in der Zeit nach dem Erscheinen der Logischen Untersuchungen im Jahre 1900/01 mit solchen Problemen verstärkt konfrontiert, so dass er zu einer Modifikation seiner frühen »platonistischen« Bedeutungstheorie geführt wird. Ein Ausschnitt aus dieser Umbruchsphase soll im Folgenden mit Blick auf die Externalismus/Internalismus-Debatte beleuchtet werden. Ein wichtiger Textzeuge dafür sind die Göttinger Vorlesungen über Bedeutungslehre von 1908 (fortan: VüB) 4 – insbesondere die Beilage XIX, die um 1911 entstanden ist. Dort konfrontiert Husserl seine bisherige Bedeutungskonzeption direkt mit dem Problem empirischer Bezugnahme. 5 Während Husserl bisher die Speziestheorie vertreten hat, derzufolge Bedeutungen kontextunabhängige Spezies (Arten, Wesen) von begrifflichen Akten sind, macht er sich im Haupttext von VüB für die »ontische« Konzeption stark (fortan: Noematheorie). Gemäß dieser Theorie sind Bedeutungen ideale Gegenstände sui generis, die in anderer Weise ideal sind als Spezies. Im Unterschied zur Speziestheorie sind noematische Bedeutungen eher auf der Objekt- als auf der Subjekt-Seite
Frege hat bekanntlich die These vertreten, dass zwei Zeichen, die denselben Sinn haben, auch dieselbe (Frege’sche) Bedeutung haben. Vgl. Føllesdal (2006), 228 f. 4 Vgl. Hua XXVI. Seitenangaben ohne weitere Siglen beziehen sich auf diesen Band. 5 Einen ausführlichen Kommentar zu dieser Beilage liefert Sowa (2005), 198 ff.; vgl. auch Mohanty (2008), 237–241. In Briefen an Roman Ingarden berichtet Husserl über die Änderungen seiner Bedeutungstheorie und verortet sie in den Kontext des »ungeheuren Problem[s] der Individuation, der Konstitution individuellen (also ›thatsächlichen‹) Seins überhaupt« (Husserl (1968), 10; vgl. ebd., 63). 3
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der Akte zu verorten. 6 Die Beilage XIX markiert dabei ein Übergangsstadium, denn dort formuliert Husserl einerseits eine Modifikation der Speziestheorie, andererseits gibt es erste Ansätze der Noematheorie. Ich konzentriere mich hier auf den ersten Schritt, d. h. auf die Möglichkeit, an einer modifizierten Version der Speziestheorie festzuhalten. Die Beilage XIX hat sich nicht zuletzt wegen eines darin enthaltenen Gedankenexperiments einen Namen gemacht, das stark an Hilary Putnams Twin Earth aus The Meaning of ›Meaning‹ (1975; fortan: BvB 7) erinnert. 8 Putnam läutet mit seinem Aufsatz bekanntlich das »Zeitalter des Externalismus« in Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes ein, demzufolge Bedeutungen nicht »im Kopf« sind (vgl. BvB, § 4). Die entscheidende Frage der Beilage XIX besteht darin, ob die Speziestheorie die Bezugnahme auf Individuen in Raum und Zeit verständlich machen kann. 9 Husserl gelangt zu der These, dass empirische Zu Problemen der Noematheorie vgl. Aquila (1977), 107–121; Willard (1992). Mohanty (1992) zeigt, dass auch das Noema der Ideen I noch als Spezies des Aktes verstanden werden kann. Rang (1990), 233 ff., vertritt sogar die These, dass das »Noema des Aktes der Akt in specie« (ebd., 234) sei. 7 Ich habe die mit Überschriften versehenen Abschnitte in Putnams Aufsatz mit Paragraphen nummeriert. 8 Als erster, der darauf aufmerksam gemacht hat, ist Christian Beyer zu nennen. Vgl. Beyer (1996), Kap. 3. 3. Vgl. auch Føllesdal (2006), 231 f.; Alweiss (2009), 65 ff. Folgende Stellen bei Husserl und Putnam zeigen die Ähnlichkeit: Wie aber, wenn auf zwei Himmelskörpern zwei Menschen in völlig gleicher Umgebungserscheinung »dieselben« Gegenstände vorstellen und danach »dieselben« Aussagen orientieren? Hat das »dies« in beiden Fällen dieselbe Bedeutung? […] Aber erweist diese Betrachtung nicht, daß die Identität empirischer Bedeutung am empirischen Vorstellen und somit auch empirischen Bedeuten hängt? (211 f.) Zum Zwecke der folgenden Beispiele wollen wir annehmen, daß es irgendwo in der Milchstraße einen Planeten gibt, den wir Zwerde nennen. Die Zwerde ist gleichsam ein Zwilling der Erde; die Menschen auf der Zwerde sprechen wahrhaftig sogar Deutsch. Der Leser darf getrost annehmen, daß die Zwerde, abgesehen von den Unterschieden, die wir in unseren Science-fiction-Beispielen angeben, der Erde exakt gleicht. […] Einige der zwirdischen Eigentümlichkeiten besteht darin, daß die Flüssigkeit, die dort ›Wasser‹ genannt wird, nicht H2O ist, sondern eine andere Flüssigkeit mit einer sehr langen komplizierten chemischen Formel, die ich hier einfach mit XYZ abkürzen will. […] Oskar1 und Oskar2 faßten also im Jahre 1750 den Ausdruck »Wasser« verschieden auf, obwohl sie sich im selben psychischen Zustand befanden. […] Das heißt, daß die Extension des Ausdrucks »Wasser« (und auch seine Bedeutung im intuitiven, vortheoretischen Sinne) keine Funktion allein des psychischen Zustandes des Sprechers ist. (BvB, 31 ff.) 9 Vgl. dazu auch Beilage Nr. XIII. 6
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Bedeutungen dies nur dadurch können, dass sie sich von nicht-empirischen (»reinen«) Bedeutungen durch ein indexikalisches Moment unterscheiden. Im Unterschied zum semantischen Monismus der Untersuchungen, demzufolge alle Bedeutungen reine sind, gelangt Husserl in Beilage XIX zu einer hybriden Konzeption der Bedeutung: Die empirischen Bedeutungen sind keine reinen, sondern »unreine« Spezies, die »empirische Einschläge« (217) enthalten. Um diese Thesen näher auszuführen, gehe ich wie folgt vor: Zunächst wird vor dem Hintergrund der Bedeutungskonzeption der Untersuchungen gezeigt, inwiefern die Speziestheorie durch die Beilage XIX in Frage gestellt wird (II). Dann soll die für die Beilage zentrale Unterscheidung von empirischen und reinen Bedeutungen expliziert werden, wobei sich regelmäßige Seitenblicke auf Putnam als instruktiv erweisen (III). Abschließend gehe ich auf zwei zentrale Annahmen bei Putnam ein und skizziere eine husserlianische und – in gewissem Sinn – internalistische Sichtweise auf die Frage, inwiefern »Bedeutungen im Kopf« sind und die Referenz bestimmen (IV).
II.
Die Speziestheorie der Bedeutung
1.
Die wesentlichen Begriffe
Husserls Phänomenologie der Bedeutung besteht im Kern darin, die Natur derjenigen intentionalen Erlebnisse zu klären, die im Verstehen sprachlicher Ausdrücke konstitutiv involviert sind. Seine Bedeutungstheorie ist aktbasiert. 10 Methodisch zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie vom reflexiven Standpunkt der Ersten Person ausgeht und sich bemüht, diejenigen Akte zu identifizieren und zu beschreiben, die im Spiel sind, wenn wir ein Zeichen als bedeutungsvoll erleben. Dass es so etwas wie bewusstes Meinen gibt, dass das Mit-einem-Zeichenetwas-Meinen eine »phänomenale Qualität« hat, ist eine zentrale Husserl’sche These. 11 Das sinnlich fundierte Zeichenverstehen bildet dabei den AusBekanntlich versteht Husserl unter Akten bewusste mentale Episoden, die intentional auf etwas gerichtet sind (vgl. z. B. LU V, §§ 10–13). Akte in diesem Sinne sind nicht mit mentalen Handlungen zu verwechseln. Mehr zum Akt-Begriff findet sich in dem Beitrag von Roberta De Monticelli in diesem Band. 11 Vgl. dazu Soldati (2005). 10
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gangspunkt. Zeichen sind irgendwelche wahrnehmbaren Entitäten, die ihren Charakter als Zeichen nicht in sich tragen, sondern durch ihre kognitive Funktion für ein Subjekt erhalten. Sie haben abgeleitete Intentionalität. Zwei verschiedene Arten bzw. Funktionen von Zeichen sind zu unterscheiden: Anzeichen und Ausdrücke. Anzeichen sind typischerweise »natürliche« Signale. Ein Gegenstand (Ding, Sachverhalt, Ereignis) A ist genau dann ein Anzeichen für B, wenn ein Subjekt aufgrund seiner Überzeugung vom aktuellen Vorkommen (Sein, Bestehen) von A motiviert wird, an das Vorkommen von B zu glauben – etwa wenn jemand aufgrund seiner Wahrnehmung von Rauch zu der Überzeugung gelangt, dass Feuer in der Nähe ist (vgl. Hua XIX/1, 32, 42). Im Unterschied zu Anzeichen, die nach Husserl bedeutungslos sind, sind Ausdrücke bedeutungsvolle Zeichen. Husserl hat einen restriktiven und stipulativen Begriff von Ausdruck, da er körperliche Gesten, Mimik etc. ausschließt (vgl. LU I, § 5); diese sind für den logischen Begriff der Bedeutung irrelevant, um dessen Klärung es in den Untersuchungen geht. Ausdrücke sind somit in erster Linie sprachliche Zeichen, genauer »jede Rede und jeder Redeteil, sowie wesentlich gleichartige Zeichen« (Hua XIX/1, 37) ist ein Ausdruck. 12 Normalerweise, d. h. »im lebendigen Wechselgespräch« (Hua XIX/1, 30), fungieren sprachliche Zeichen als Anzeichen, da sie den Zuhörer motivieren, an das Vorliegen von bestimmten Akten auf Seiten des Sprechers zu glauben; von diesen Akten kann man sagen, dass sie durch die geäußerte Zeichenfolge »kundgegeben« werden: Wenn man diesen Zusammenhang überschaut, erkennt man sofort, daß alle Ausdrücke in der kommunikativen Rede als Anzeichen fungieren. Sie dienen dem Hörenden als Zeichen für die »Gedanken« des Redenden, d. h. für die sinngebenden psychischen Erlebnisse desselben. (Hua XIX/1, 40)
Diese sinngebenden Erlebnisse (Bedeutungsintentionen, bedeutungsverleihende Akte) sind keine Sprechakte oder sonstige Handlungen, sondern vielmehr intentionale Ereignisse, ohne welche die geäußerten Zeichen nicht als Ausdrücke fungieren würden. Im engeren Sinn sind darunter propositionale Akte des Urteilens oder Verstehens oder nominale Akte des positionalen oder neutralen Nennens zu verstehen. Im Offenbar sind Reden und Redeteile entweder Worte, Sätze oder Satzkomplexe. Silben und Buchstaben sind keine Ausdrücke. Auch Atempausen, Betonungen etc. sind keine Ausdrücke, sofern sie nicht mit mitteilender Absicht hervorgebracht werden.
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weiteren Sinn können auch nicht-begriffliche Episoden wie z. B. Wahrnehmungen kundgegeben werden (vgl. Hua XIX/1, 40). Sage ich z. B. aufrichtig zu einem Anderen »Die Sonne scheint«, so gebe ich mein Urteil, dass die Sonne scheint, kund im engeren Sinne; ggf. gebe ich dabei mein visuelles Erlebnis im weiteren Sinn kund. In der intersubjektiven Kommunikation gehört zur Kundgabe auf Seiten des Redenden korrelativ eine Kundnahme auf Seiten des Zuhörenden, der dem Redenden die von ihm im weiteren oder engeren Sinne kundgegebenen Erlebnisse »einlegt« (vgl. 213 f., 202). 13 Eine notwendige Bedingung für erfolgreiche Kommunikation besteht darin, dass Sprecher und Hörer bedeutungsverleihende Akte mit gleichem Bedeutungsinhalt vollziehen und sich wechselseitig »einlegen« (vgl. 202). Eine zentrale These Husserls lautet, dass die kundgebende Funktion eines Ausdrucks unabhängig von der Ausdrucksfunktion ist. Dies belegt Husserl durch den Hinweis auf die »Ausdrücke im einsamen Seelenleben« (LU I, § 8): Im Monologisieren – sei es laut oder still – verwenden wir Zeichen, die nichts kundgeben, aber dennoch bedeutungsvoll sind. 14 Bedeutungsvoll zu sein ist somit allein Privileg der Ausdrücke: Zeichen im Sinne von Anzeichen (Kennzeichen, Merkzeichen u. dgl.) drücken nichts aus, es sei denn, daß sie neben der Funktion des Anzeigens noch eine Bedeutungsfunktion erfüllen. […] Das Bedeuten ist nicht eine Art des Zeichenseins im Sinne der Anzeige. (Hua XIX/1, 31)
Für die Motivation der Speziestheorie sind folglich nur die sinnverleihenden Akte ausschlaggebend. Dass es solche Erlebnisse überhaupt gibt, hält Husserl nicht allein aus »kommunikationstheoretischen« Überlegungen für evident, vielmehr handelt es sich um ein introspektives Faktum. Um das aufzuzeigen, verweist Husserl auf den Unterschied zwischen der bloßen Wahrnehmung von Arabesken auf einem Teppich und dem fundierten Erlebnis, das sich einstellt, sobald wir merken, dass diese Muster nicht nur bestimmte primäre und sekundäre Qualitäten haben, sondern auch etwas bedeuten: Husserl sagt sogar, dass die »Kundnahme eine bloße Wahrnehmung der Kundgabe« (Hua XIX/1, 41) sei. Der Sprecher wird »anschaulich als eine Person, die dies und das ausdrückt«, aufgefasst oder »apperzipiert« (Hua XIX/1, 40). 14 Es scheint in der Tat merkwürdig, zu sagen, die im Stillen gesprochenen oder vorgestellten Worte und Sätze hätten die Funktion, dem Sprecher (der hier zugleich »Hörer« ist) seine eigenen intentionalen Erlebnisse kundzutun. Vgl. LU I, § 8. 13
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In dem Augenblick, wo die Arabeske zum Zeichen wird […], hat sich die psychische Lage total geändert. (Hua XXII, 116) In diesen und unzähligen ähnlichen Fällen liegt die Modifikation in den Aktcharakteren. (Hua XIX/1, 398; vgl. 87 f.)
Neben den perzeptiven Erlebnissen, die das bloße »Wortlautbewußtsein« (9 ff.) ausmachen, sind es die bedeutungsverleihenden Akte, die ein Zeichen zum Ausdruck machen. Husserl trifft dabei eine weitere Unterscheidung, die für unseren abschließenden Vergleich mit Putnam relevant sein wird, nämlich die zwischen Bedeutungsintentionen und ihren Erfüllungen. Im Hintergrund steht die Beobachtung, dass wir Ausdrücke verstehen können, ohne irgendwelche anschaulichen Vorstellungen von deren Bezugsobjekten zu haben. 15 Um bedeutungsvoll zu sein, muss ein Ausdruck nicht von erfüllenden Intentionen begleitet sein, aber aufgrund einer Erfüllung wird eine bloße Bedeutungsintention bestätigt (oder enttäuscht): [Z]weierlei Akte oder Aktreihen [sind] zu unterscheiden: einerseits diejenigen, die dem Ausdruck wesentlich sind, wofern er überhaupt noch Ausdruck, d. i. sinnbelebter Wortlaut, sein soll. Diese Akte nennen wir die bedeutungsverleihenden Akte oder auch Bedeutungsintentionen. Andererseits die Akte, die zwar dem Ausdruck als solchem außerwesentlich sind, dafür aber in der logisch fundamentalen Beziehung zu ihm stehen, daß sie seine Bedeutungsintention mit größerer oder geringerer Angemessenheit erfüllen (bestätigen, bekräftigen, illustrieren) und damit seine gegenständliche Beziehung aktualisieren. Diese Akte […] nennen wir bedeutungserfüllende Akte. 16 (Hua XIX/ 1, 44)
Husserl gelangt vor diesem Hintergrund – ähnlich wie Frege – zum Bedeutungsbegriff, indem er Ausdrücke mit gleichem Gegenstandsbezug, aber unterschiedlichem »Inhalt« untersucht. Eine der typischsten Thesen Husserls ist seine »intentionalistische« Auffassung von Bedeutung: Ein Ausdruck ist demnach genau dann bedeutungsvoll, wenn er auf eine »Gegenständlichkeit« bezogen Das zweite Kapitel der I. Untersuchung ist dem Nachweis gewidmet, dass bedeutungsverleihende Akte toto genere verschieden sind von Phantasie-, Bild- oder sonstigen anschaulichen Erlebnissen: Ausdrücke sind keine Bilder (vgl. LU I, §§ 17–23). 16 Die Berücksichtigung von erfüllenden Erlebnissen führt über das Gebiet der reinen Bedeutungstheorie hinaus auf erkenntnistheoretisches Terrain, d. h. zu normativen Fragen nach der Wahrheit, Rechtfertigung und Gültigkeit von Bedeutungsintentionen. Vgl. LU VI, Erster Abschnitt, insb. §§ 36–39. 15
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ist. Jeder Ausdruck bedeutet (»besagt«) also nicht nur etwas, sondern bezieht sich auch auf einen Gegenstand, und zwar »durch« oder »mittels« seiner Bedeutung: Jeder Ausdruck besagt nicht nur etwas, sondern er sagt auch über Etwas; er hat nicht nur seine Bedeutung, sondern er bezieht sich auch auf irgendwelche Gegenstände. (Hua XIX/1, 52) Im übrigen ist es klar, daß zwischen den beiden an jedem Ausdruck zu unterscheidenden Seiten ein naher Zusammenhang besteht; nämlich daß ein Ausdruck nur dadurch, daß er bedeutet, auf Gegenständliches Beziehung gewinnt, und daß es also mit Recht heißt, der Ausdruck bezeichne (nenne) den Gegenstand mittels seiner Bedeutung bzw. es sei der Akt des Bedeutens die bestimmte Weise des den jeweiligen Gegenstand Meinens – nur daß eben diese Weise des bedeutsamen Meinens und somit die Bedeutung selbst bei identischer Festhaltung der gegenständlichen Richtung wechseln kann. (Hua XIX/1, 54 f.)
So sind z. B. die Ausdrücke »der Sieger von Jena« und »der Besiegte von Waterloo« oder »das gleichseitige Dreieck« und »das gleichwinklige Dreieck« bedeutungsverschieden, weil sie eine unterschiedliche »Weise des den jeweiligen Gegenstand Meinens« inkorporieren; gleichwohl beziehen sie sich auf denselben Gegenstand, was sich in wahren Identitätsurteilen wie »der Sieger von Jena ist der Besiegte von Waterloo« etc. »ausweist« (vgl. VüB, §§ 9–21). 17 Zwei Desiderata sind für Husserls Bedeutungsbegriff entscheidend: Erstens muss die Objektivität (Idealität) der Bedeutungen gesichert werden; zweitens muss klar werden, wie sich Bedeutungen zu den subjektiven Bedeutungserlebnissen verhalten. 18 Formaliter besteht diese Objektivität darin, dass verschiedene Sprecher oder ein und derselbe Sprecher zu verschiedenen Zeitpunkten trotz unterschiedlicher Erlebnisse mit einem Ausdruck dasselbe meinen können. Die Objektivität der Bedeutung ist zentral für die Logik, die Husserl gegen den zeitgenössischen Psychologismus verteidigen will. 19 Die Speziestheo-
Vgl. Hua XXX, 200 f.: »Im Urteilszusammenhang hebt sich uns also in verschiedener Weise der Gegenstand als Identisches ab gegenüber den verschiedenen Vorstellungen bzw. Bedeutungen.« 18 Vgl. Mohanty (2008), 97 ff. 19 Husserl zufolge bilden Bedeutungen den Gegenstandsbereich der Logik (vgl. Hua XIX/1, 112). 17
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rie ist ein inhaltlicher Versuch, beiden Desiderata gerecht zu werden. Husserl führt sie via analogia ein: Diese wahrhafte Identität, die wir hier behaupten, ist nun keine andere als die Identität der Spezies. So, aber auch nur so, kann sie als ideale Einheit die verstreute Mannigfaltigkeit der individuellen Einzelheiten umspannen (xumb€llein e@ ˛n). Die mannigfaltigen Einzelheiten zur ideal-einen Bedeutung sind natürlich die entsprechenden Aktmomente des Bedeutens, die Bedeutungsintentionen. Die Bedeutung verhält sich also zu den jeweiligen Akten des Bedeutens […] wie etwa die Röte in specie zu den hier liegenden Papierstreifen, die alle diese selbe Röte »haben«. Jeder Streifen hat neben anderen konstituierenden Momenten (Ausdehnung, Form u. dgl.) seine individuelle Röte, d. i. seinen Einzelfall dieser Farbenspezies, während sie selbst weder in diesem Streifen noch sonst in aller Welt real existiert; zumal auch nicht in unserem Denken, sofern dieses ja mitgehört zum Bereich des realen Seins, zur Sphäre der Zeitlichkeit. (Hua XIX/1, 106; vgl. 102; kursiv von mir, CE)
Inwiefern wird damit den beiden Desiderata für den Bedeutungsbegriff Rechnung getragen? Da Bedeutungen als Spezies von Bedeutungsintentionen aufgefasst werden, sind sie einerseits etwas Objektives, das intersubjektiv geteilt werden kann; andererseits können solche Spezies durch »ideierende Abstraktion« von bedeutungsverleihenden Akten gewonnen werden. Wir können also die Bedeutung eines Ausdrucks zum Gegenstand machen und thematisieren, indem wir eine Abstraktion an solchen Akten vornehmen, die dasselbe meinen (vgl. Hua XIX/1, 111 f.). 20 Wissen von Bedeutungen erweist sich als reflexives Wissen über »kategoriale« Weisen der Bezugnahme. Da sich Bedeutungen ferner in unselbständigen Teilen (Momenten) von bedeutunsgverleihenden Erlebnissen vereinzeln, gibt es zu jeder Bedeutung eine intrinsische Eigenschaft eines Erlebnisses, aufgrund deren das Subjekt dieses oder jenes meint. In den Untersuchungen kennt Husserl kein anderes Modell als das von Spezies und Einzelgegenstand, in dem sich die Spezies vereinzelt, um das Verhältnis zwischen der einen Bedeutung und den vielen bedeutungsverleihenden Akten zu beschreiben. Husserl plädiert zudem nur dafür und argumentiert eigentlich nicht, dass Bedeutungen Spezies sind. Im obigen Zitat behauptet er, dass sich so, »aber auch nur so« (Hua Der Natur dieser Abstraktion sind umfangreiche Analysen in den Untersuchungen gewidmet; vgl. LU II, §§ 13 ff.; VI, § 52. Es ist die Vorform von Husserls reifer Wesensschau.
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XIX/1, 105) die Einheit in der Mannigfaltigkeit verschiedener Bedeutungsintentionen, die dasselbe meinen, verständlich machen lässt. Nichtsdestoweniger stellt die Grundidee der Speziestheorie einen originellen und eleganten Vorschlag dar, Bedeutungen einerseits den Status von etwas Objektivem zu verleihen, andererseits eine intrinsische Verknüpfung zwischen ihnen und Akten des Bedeutens herzustellen. 21 Eine Hintergrundannahme für die Speziestheorie ist ferner die ontologische Disjunktion, dass alles, was existiert, entweder individuell (real, d. i. (raum)zeitlich), oder spezifisch/generisch (ideal) ist, dass also innerhalb der begrifflichen Einheit des Seienden […] ein fundamentaler kategorialer Unterschied bestehe, dem wir eben Rechnung tragen durch den Unterschied zwischen idealem Sein und realem Sein, Sein als Spezies und Sein als Individuelles. (Hua XIX/1, 130)
Da Bedeutungen offensichtlich keine raumzeitlichen Objekte sind, müssen sie als ideale Gegenstände aufgefasst werden, die Husserl in den Untersuchungen mit spezifischen Entitäten gleichsetzt. Fixieren wir damit Husserls frühe Speziestheorie explizit: (Spezies) Für jeden Ausdruck A gilt: Die Bedeutung von A ist eine reine Spezies.
2. Über Spezies Zur Kategorie der Spezies rechnet der frühe Husserl nicht nur Bedeutungen, sondern nahezu alles, was heutzutage unter den Titel abstrakter Gegenstand fällt – also Zahlen, Eigenschaften, Relationen, Funktionen, (natürliche) Arten, geometrische Figuren, Möglichkeiten etc. Spezies, insbesondere Bedeutungen, können auch als Eigenschaften verstanden werden. Unter Eigenschaften versteht Husserl in der Regel im platonischen Sinne das Gemeinsame, was mehrere Individuen teilen können, was somit in verschiedenen Individuen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Räumen zugleich exemHistorisch gesehen stellt sich die Speziestheorie als Anwendung Lotze’scher Ideen auf Bolzanistische Vorstellungen bzw. Sätze an sich dar, die ihrerseits als Husserl’sche Sinne von Bedeutungsintentionen interpretiert werden. Vgl. Hua XXII, 156 ff.; Künne (2009a), 120 ff. Zu Husserls Selbsteinschätzung vis-à-vis Lotze und Bolzano vgl. Hua XX/1, 305–310; Hua V, 57–59. Eine aktuelle Verteidigung der Speziestheorie liefert Hopp (2011), v. a. Kap. 1.
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plifiziert sein kann – ähnlich wie die Röte. 22 (Spezies) kann demnach auch so formuliert werden, dass die Bedeutung eines Ausdrucks eine »reine« Eigenschaft von begrifflichen Erlebnissen ist. 23 Die duale Ontologie von Spezies und Einzeldingen stellt eine Art basso continuo von Husserls Phänomenologie dar, die er im Laufe der Jahre erheblich verfeinert hat. 24 Die Vereinzelungs-Relation galt ihm als undefinierbar und ontologisch »primitiv« (Hua XIX/1, 114). Gleichwohl widmet Husserl dieser Relation zahlreiche Beschreibungen, da ohne ihre Klärung der epistemologische Status der für Husserls Phänomenologie so zentralen Wesensschau im Dunkeln bleiben muss.
3. Das Problem okkasioneller Ausdrücke Es ist offensichtlich, dass die Speziestheorie in ihrer reinen Form bei systematisch kontextabhängigen Ausdrücken in Schwierigkeiten geraten muss. Dazu gehören insbesondere indexikalische Ausdrücke wie »ich«, »du«, »hier«, »jetzt«, »dort«, »dies« etc. Denn wie soll eine reine, d. h. zeit- und raumlose Spezies, einen Bezug zu solchen wechselnden Kontexten enthalten? Husserl hat dies klar gesehen und als einer der ersten Philosophen eine systematische Analyse solcher Ausdrücke vorgelegt (vgl. LU I, §§ 26 ff.). Allerdings ist seine Analyse in den Untersuchungen in mehrerlei Hinsicht merkwürdig. Denn zunächst verteidigt Husserl die Existenz »wesentlich okkasioneller« oder »subjektiver« Ausdrücke (vgl. Hua XIX/1, 85 f.), um sie dann doch für prinzipiell eliminierbar durch »objektive« Ausdrücke zu erklären (vgl. LU I, § 28). Ein Ausdruck heißt dabei objektiv (nicht wesentlich okkasionell), »wenn er seine Bedeutung bloß durch seinen lautlichen Erscheinungsinhalt bindet, bzw. binden kann, und daher zu verstehen ist, ohne daß es notwendig des Hinblickes auf die sich äußernde Person und auf die Umstände ihrer Genauer müsste man sagen, dass Spezies oder Wesen Eigenschaften in abstracto sind, d. h. sie werden »nicht vorgestellt als Gehabtes, sondern schlechthin und an sich« (Hua Mat VI, 219). 23 Zur Unterscheidung von reinen und unreinen/empirischen Spezies siehe Abschnitt III. 4. 24 Das umfassendste Bild von Husserls reifer Ontologie findet sich in Erfahrung und Urteil. Daneben ist auf die Bernauer Manuskripte zu verweisen; vgl. Hua XXIII, Abschnitt V. 22
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Äußerung bedürfte.« (Hua XIX/1, 86) Im Kontrast dazu gilt ein Ausdruck als subjektiv oder (wesentlich) okkasionell, wenn ihm »eine begrifflich-einheitliche Gruppe von möglichen Bedeutungen so zugehört, daß es ihm wesentlich ist, seine jeweils aktuelle Bedeutung nach der Gelegenheit, nach der redenden Person und ihrer Lage zu orientieren. Erst im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände der Äußerung kann sich hier für den Hörenden eine bestimmte unter den zusammengehörigen Bedeutungen überhaupt konstituieren.« (ebd., 87) Zunächst wird anhand des Wortes »ich« gezeigt, dass dessen Bedeutung eine Komposition aus zwei Komponenten ist: auf der einen Seite die »allgemeine Bedeutungsfunktion«, deren Inhalt man durch »der jeweilig Redende, der sich selbst bezeichnet« wiedergeben kann. Diese allgemeine Komponente ist kontextunabhängig und kann als reine Spezies aufgefasst werden. Diese Teilbedeutung verstehen wir immer, auch dann, wenn wir nicht wissen, wer gerade »ich« sagt; auf der anderen Seite gibt es die »angezeigte Bedeutung«, die von Kontext zu Kontext variiert und die uns ermöglicht, den jeweiligen Sprecher zu identifizieren. Beim Wort »ich« ist es die »unmittelbare Vorstellung der eigenen Persönlichkeit«, der von Subjekt zu Subjekt verschiedene »Individualbegriff ich«, eine »direkte Individualvorstellung« (Hua XIX/1, 87 f.). Sodann scheint Husserl ungeachtet der Zwei-Komponenten Lösung aus § 26 in § 28 die Idee einer aus spezifischen und okkasionellen Aspekten komponierten Bedeutung wieder zurückzunehmen, indem er auf die »Schrankenlosigkeit der objektiven Vernunft« (Hua XIX/1, 95) verweist. Sie besagt, dass »jeder subjektive Ausdruck, bei identischer Festhaltung der ihm augenblicklich zukommenden Bedeutungsintention, durch objektive Ausdrücke ersetzbar ist« (Hua XIX/1, 95). Das Schwanken der Bedeutungen soll sich bei genauerer Analyse als bloßes Schwanken des Bedeutens erweisen (vgl. LU I, § 28). D. h. nicht Bedeutungen selbst können indexikalisch sein, sondern nur die jeweiligen Akte. Der frühe Husserl hält somit an der prinzipiellen semantischen Eliminierbarkeit subjektiver Ausdrücke durch objektive eisern fest. 25 Anders gesagt: jede Bedeutung ist eine reine Spezies. Wie genau eine solche Ersetzbarkeit aussehen soll, wird von Husserl nicht ausgeführt. Es besteht »a priori die Möglichkeit […], jede subjektive Bedeutung zu objektivieren« (Hua XX/2, 379).
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Er müsste dazu zeigen, wie z. B. der von mir geäußerte Satz »Ich bin jetzt hier« in einen Satz überführt werden kann, der keinerlei wesentlich okkasionelle Ausdrücke mehr enthält und der mit dem ursprünglichen Satz semantisch identisch ist. 26 Neben dem Wort »ich« müssten insbesondere die zeitlichen und räumlichen Indexwörter (»hier«, »jetzt«) durch objektive Terme eliminiert werden. 27 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier der Wunsch – und nicht die Sache selbst – Vater des Gedankens ist: Da nach Husserl die reine Logik eine reine Wissenschaft mit einem eigenen Gegenstandsbereich sein soll, nämlich den Bedeutungen als Trägern von Prädikaten wie Wahrheit, Konsistenz etc., muss gesichert sein, dass Bedeutungen durch und durch objektiv sind. 28 Die Beilage XIX wird sich als Widerlegung dieser These und somit der Speziestheorie in ihrer ursprünglichen Form erweisen: Es gibt Bedeutungen, die keine reinen Spezies sind, nämlich die empirischen. 29
III. Die Beilage XIX: Das Wesen empirischer Bedeutung 1.
Reine und empirische Bedeutungen
Zu Beginn der Beilage knüpft Husserl terminologisch an die erste Untersuchung an. Das sieht der kundige Leser sofort, da Husserl hier die neuralgischen Schlagworte »Objektivität der Wahrheit« und »Schrankenlosigkeit der Vernunft« (202) erwähnt. Im Zentrum seiner Über-
Eine so starke »objektivistische« These hat nicht einmal Frege in Der Gedanke vertreten. Dort hält Frege an der Möglichkeit von idiosynkratischen Ich-Gedanken fest, d. h. von Gedanken, die nur der sich äußernde Sprecher fassen kann. Vgl. Frege (2003), 46. 27 Vgl. Hua XX/2, 372 f. 28 Unreine Bedeutungen haben »keinen möglichen theoretischen Wert und fallen somit aus der Sphäre der reinen Logik heraus« (Hua XX/2, 379). 29 Bekanntlich hat Husserl bereits im Vorwort zur 2. Auflage der Untersuchungen seine Analyse der okkasionellen Bedeutungen als »Gewaltstreich« (Hua XVIII, 13) bezeichnet. In Formale und transzendentale Logik (1929) heißt es selbstkritisch, dass er in den Untersuchungen »mit den okkasionellen Urteilen und ihrer Bedeutung nicht fertig werden« (Hua XVII, 207) konnte, da er noch nicht über den Horizontbegriff verfügte. Eine werkgeschichtliche Darstellung des Problems okkasioneller Ausdrücke liefert FerenczFlatz (2011). 26
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legungen steht nun die Unterscheidung zwischen empirischen (unreinen) und nicht-empirischen (reinen) Bedeutungen. Empirische und reine Bedeutungen lassen sich einerseits durch die Art ihrer Bezugsobjekte, andererseits durch ihre spezifische Weise der Gerichtetheit unterscheiden: Bedeutungen können auf Ideales gerichtet sein und können auf Individuelles gerichtet sein. (202; vgl. 206, 217)
Diese Aussage beruht auf der dualen Ontologie der Untersuchungen. Beispiele für empirische Bedeutungen sind Bedeutungen, welche teils singuläre Individuen denkend setzen in Eigenbedeutungen und attributiven Bedeutungen; aber auch allgemeine Bedeutungen, nämlich alle empirischen Begriffe und jedwede Aussagen, welche solche Bedeutungen einschließen. (206; kursiv von mir, CE)
Jede empirische Bedeutung bezieht sich explizit oder implizit auf raumzeitliche Einzeldinge. Als Paradigma verwendet Husserl dafür den demonstrativen Namen »dieses weiße Papier«; für ideale Bedeutungen hingegen »Röte« und den Zahlennamen »2«. 30 Berücksichtigt man die bedeutungsverleihenden Akte, so sind empirische Ausdrücke solcherart, dass wir sie nur dann verstehen können, wenn wir zugleich setzende Akte vollziehen, die auf (raum-)zeitliche Individuen gerichtet sind. Genauer: Auf Reales, Individuelles gerichtete Bedeutungen schließen in gewisser Weise Beziehung auf den Ausdrückenden oder (oder vielmehr: und) den den Ausdruck Verstehenden ein (202; vgl. 211). Empirische Ausdrücke setzen eben Individuelles, und Setzung von Individuellem vollzieht sich notwendig so, dass direkt oder indirekt auch Setzung des empirischen Subjekts oder seiner Umgebung statthat. (Hua XX/2, 374)
Da empirische Bedeutungen explizit oder implizit auf Individuen bezogen sind, werden sie durch setzende perzeptive Erlebnisse erfüllt oder enttäuscht. Solche Erlebnisse können aber nur von einem Subjekt vollAuch leere Begriffe wie »Einhorn« oder »perpetuum mobile« können als empirische angesehen werden, da für sie zumindest das kontrafaktische Konditional gilt »Wenn es ein Einhorn/perpetuum mobile gäbe, dann wäre es ein Individuum«. Offenbar haben auch analytische Sätze wie »Jeder Baum ist ein Baum« oder »der Abendstern ist der Abendstern« empirische Bedeutung; es handelt sich bei ihnen um »außerwesentliche« Daseinsurteile, deren Termini salva veritate variiert werden können (vgl. 123 f.).
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zogen werden, das sich selbst als raumzeitlich lokalisiert erfährt. »Ausdrückender« und »Verstehender« müssen sich als »Zentralpunkte« ihrer »Umgebung« (203) erfahren, von wo aus sie sich mit den Gegenständen der empirischen Bedeutungen in Beziehung setzen. Eine solche implizite Setzung des Subjekts fehlt nach Husserl bei reinen Bedeutungen: 31, 32 Das Wort »Chicago« wäre für mich ohne Sinn, wenn ich nicht die indirekte Bestimmung »eine Stadt in Amerika, unter dem und dem Längen- und Breitengrad« realisieren könnte, und diese und jede ähnliche Bestimmung kann ich nur realisieren, wenn ich ausgehe von meiner gegebenen Umgebung, von da aus schrittweise die Idee der Erde, die Idee Amerika etc. bilde […]. Würde diese okkasionelle Beziehung aber ganz durchgeschnitten, so wäre Amerika, die Erde, jeder relative Koordinatenanfang, jedes Koordinatensystem, auf das ich mich beziehe, nichts und damit fiele der Sinn jeder nur durch Koordinaten zu vollziehenden Bestimmung. (Hua XX/2, 373)
Das Verständnis empirischer Ausdrücke setzt somit notwendigerweise die Fähigkeit des Subjekts voraus, die Erfüllung/Enttäuschung dieser Ausdrücke im Prinzip von seinem eigenen Standpunkt hic et nunc in Gang zu setzen. Husserl folgert dies daraus, dass man einen empirischen Eigennamen wie »Chicago« nur dann verstehen kann, wenn man eine »indirekte Bestimmung« des Genannten kennt, hier eine solche Bestimmung, die eine vage geographische Lokalisierung ermöglicht. Eine solche Bestimmung setzt aber einen Ausgangspunkt voraus, der durch meinen Standpunkt festgelegt ist. Fiktionale Ausdrücke wie »Atlantis«, »Pegasus« o. ä. weisen nach Husserl ebenfalls diese Bindung an eine anschauliche Umgebung auf. Um fiktionale Namen zu verstehen, muss sich das Subjekt »auf den Boden« (Hua XXII, 318) einer möglichen »Phantasiewelt« (203; vgl. EU, §§ 39 f., 73 f.) stellen, wo es anschauliche intrafiktionale Urteile unter »Assumption« fällen kann, z. B. »In den Superman-Comics ist Superman identisch mit Clark Kent« (vgl. Hua XXII, 315 ff.). 32 Sogar gesetzesartige Aussagen der Naturwissenschaft weisen die für empirische Bedeutungen charakteristische Okkasionalität auf: »Sagen wir, alle materiellen Körper unterliegen dem Gravitationsgesetz, so ist gemeint, alle Körper, die jetzt sind oder früher waren oder künftig sein werden: Damit ist die Universalität bezogen auf die empirische Wirklichkeit, auf den durch meine aktuelle Existenz, durch mein aktuelles Jetzt und Hier vorgezeichneten und gesetzten, weil erfahrenen Horizont. Das gilt also bei allen Erfahrungsurteilen, mögen sie auch Gesetzescharakter haben und mögen die Gegenständlichkeiten-worüber, die im Gesetz völlig unbestimmt gelassen und beliebig sind, selbst keine Setzung erfahren.« (Hua III/2, 522; Herv. CE) Husserl subsumiert von nun an also alle »empirischen Prädikationen« unter die okkasionellen Bedeutungen. Vgl. Hua XVIII, 13; Hua XIX/1, 817. 31
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Die bisherigen Überlegungen legen nahe, dass man empirische Ausdrücke nur dann verstehen kann, wenn man als Sprecher bzw. Hörer seine eigene Position in der Raum-Zeit implizit mitsetzt. Daraus schließt Husserl, dass empirische Bedeutungen selbst okkasioneller Natur sind. Damit lässt sich das zentrale Problem, um das es Husserl in der Beilage XIX geht, formulieren: Wie kann die Bedeutung eines empirischen Ausdrucks eine reine Spezies sein, wenn empirische Bedeutungen intrinsisch okkasionell sind? Sind Bedeutungen reine Spezies, dann können sie nur das enthalten, was allen möglichen bedeutungsverleihenden Akten gemeinsam ist, in denen sie sich vereinzeln. Aber dann fallen eo ipso alle okkasionellen Komponenten aus der Spezies heraus: »das Empirische ist durch Übergang zum Wesen ausgeschaltet« (216 f.): Aber sowie wir reine Ideation vollziehen, also den Boden der individuellen Thesis verlieren, haben wir keine Welt mehr, sondern nur die Idee einer Welt, kein wirkliches Ding mehr, sondern nur die Idee eines wirklichen Dinges […]. (Hua XX/1, 265)
Offenbar ist (Spezies) unfähig, empirischen Bedeutungen Rechnung zu tragen.
2.
Die Identität empirischer Bedeutungen und Putnam’sche Skrupel
In der Beilage XIX und an anderen Stellen von VüB versucht Husserl die Natur empirischer Bedeutungen auf positive Weise zu klären, indem er ihre Identitätsbedingungen problematisiert: Wann können individuelle Dingbedeutungen, überhaupt empirische Bedeutungen (die orientiert sind nach verschiedenen Akten des empirischen Vorstellens (Setzens)) identisch sein? Bzw. wann können Bedeutungsintentionen, die gegründet sind in verschiedenen empirischen Vorstellungen[,] identische Bedeutungen in sich tragen? (206) 33
Dabei stehen Äußerungen ein und desselben Subjekts zu verschiedenen Zeitpunkten im Mittelpunkt. Es geht also um die intrasubjektive
Vgl. 186: »Wann ist nun eine Bedeutung wie »dieses rote Haus« dieselbe Bedeutung? Und wann hat sie sich verändert?«
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und diachrone Identität empirischer Bedeutungen in unterschiedlichen Wahrnehmungskontexten. Husserl interessiert sich für den Fall, dass wir aufgrund von »empirischen Vorstellungen« zu verschiedenen Zeitpunkten (und ggf. an verschiedenen Raumstellen) Bedeutungsintentionen vollziehen können, die dieselbe empirische Bedeutung »in sich tragen«. Wann ist das möglich? Ein identisches »Wesen« der Bedeutungsintentionen ist dafür lediglich notwendig, nicht aber hinreichend: Immerhin aber bestimmt sich zwar die empirische Bedeutung durch das Wesen des empirischen Vorstellens und Bedeutens, aber nicht durch das allein. Aber durch was sonst? (213)
Es genügt mithin nicht, dass mir aufgrund einer neuen Wahrnehmung ein Gegenstand als typidentisch mit einem zuvor wahrgenommenen erscheint und dass ich dieselben Ausdrücke verwende, um meine Akte kundzutun. Was zum Wesen hinzukommen muss, sind »interne« Identifikationen der beiden Bedeutungsintentionen, in denen das Subjekt ihre »Deckung« (187) erkennt: Nun, ich muß fähig sein, wird man sagen, den das zweite Mal vorgestellten Gegenstand als denselben wiederzuerkennen, als welchen ich ihn das erste Mal vorgestellt hatte. […] Die »Weise«, wie der Gegenstand jetzt vorstellig ist und wie er früher vorstellig war oder wie er in einer Wiedererinnerung gegeben ist, muß eine solche sein, daß »Wiedererinnerung« und jetzige Erinnerung sich in die Synthesis eines aktuellen Wiedererkennes schicken. Denken wir uns also eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen, die durch mögliche Wiedererkennungssynthesen einig sind, und eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungsintentionen, die sich nach ihnen richten und sich in dieser Anpassung mit einem gleichen Bedeutungsgehalt nach ihnen richten, dann haben alle diese Bedeutungsintentionen dieselbe Bedeutung. (206 f.) Nun, wenn man mit »dies« beiderseits dasselbe meint und wieder mit »Haus« und wieder mit »dieses Haus« der hier vorliegenden Verbindung. Und wann ist dasselbe gemeint? Nun, wenn ich, in mehreren Malen »dieses Haus« sagend und meinend, dies so tue, daß ich, rückblickend auf die früheren Male, eine gewisse »Deckung« vollziehe, eben die: »Ich meine immer wieder dasselbe«. Ich spreche von »mehreren Malen«: überall habe ich dieselben Glieder und Formen und nach all dem, nach dem ganzen Gehalt erstreckt sich die Deckung […]. (186 f.)
Zentral ist hier die Idee, dass sich empirische Bedeutungen nur aufgrund der Möglichkeit des Wiedererkennens des bedeuteten Gegenstandes be208
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stimmen lassen. Insgesamt lässt sich Husserls erster Vorschlag für die Identität empirischer Bedeutungen wie folgt präzisieren: 34 (Identität 1) Die Ausdrücke A und A* haben dieselbe empirische Bedeutung gdw. (1) Die Spezies der Bedeutungsintentionen I und I* sind identisch. & (2) S glaubt aufgrund von Erinnerung (diskrete Synthesis/Wiedererkennung), dass sich I und I* auf denselben Gegenstand beziehen. Dazu ein Beispiel. Sagt S zum Zeitpunkt t »dieses weiße Papier« und zu einem späteren t* wieder »dieses weiße Papier«, so haben beide Ausdrücke dieselbe Bedeutung, sofern (1) die zugrunde liegenden Bedeutungsintentionen zu derselben Spezies gehören und (2) S aufgrund seiner Erinnerung davon überzeugt ist, dass beide Intentionen von ein und demselben Gegenstand handeln. (1) bedeutet, dass beide Intentionen demselben Typ zugehören, was sich in hier im identischen sprachlichen Ausdruck manifestiert; die Materie der beiden Akte muss in specie dieselbe sein. Aber diese bloße Typidentität genügt nicht für Bedeutungsidentität. Hinzukommen muss, dass S sich in t* daran erinnert, im früheren Zeitpunkt dieselbe Bedeutungsintention vollzogen zu haben; ja mehr noch: S muss beide Intentionen als identische auffassen und die vergangene gleichsam wieder aufgreifen. 35 Es sind also insgesamt viererlei Akte involviert: die vergangene Bedeutungsintention I, die jetzige Bedeutungsintention I*, eine jetzige Erinnerung an I und ein komplexer Akt aktiver »Wiedererkennung«, in dem I und I* aufgrund der Erinnerung in eine Identitätseinheit eingehen. Auf diese Weise stellt sich eine »Synthesis der Rekognition«
Unter »S« wird im Folgenden das Subjekt der beiden Äußerungen A und A* verstanden, die zu verschiedenen Zeitpunkten t und t* stattfinden; I und I* sind die zugehörigen Bedeutungsintentionen, die sich jeweils auf Wahrnehmungsakte stützen. 35 Ohne einen solchen möglichen diachronen Zusammenhang ist die Frage nach Gleichheit oder Verschiedenheit von empirischen Bedeutungen Husserl zufolge sinnlos: »Sowie wir getrennte Gegenstände nehmen ohne übergreifendes Wiedersetzen und Wiedererkennen, ist gar nicht die Frage zu stellen, ob das Vorgestellte dasselbe oder nicht dasselbe sei.« (205) 34
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(206; vgl. 180 ff.) ein, wie Husserl mit Bezug auf Kant sagt (vgl. KrV A 103–110; 115). Was lässt sich zu diesem Identitätskriterium mit Putnam im Hinterkopf sagen? Zunächst fällt der »solipsistische« Charakter auf. Husserl redet hier ganz unverhohlen von Bedeutungsidentität relativ zu einem einzigen Subjekt S – das war der Sinn der oben verwendeten Vokabel »intrasubjektiv«, die sich auf »die Bedeutungen eines und desselben Subjekts« (203) bezieht. Für diese Bedeutungsidentität sind jene privatissime vollzogenen rekognitiven Identifikationen hinreichend, die Husserl darüber hinaus als nicht-faktive interpretiert: Aber was kann nicht alles in die Einheit eines identifizierenden Bewußtseins treten, was kann der Mensch nicht alles verwechseln! Das schadet nichts. Es gilt ihm als dasselbe, es ist als dasselbe vermeint, und wenn das wirklich so ist, ist die Eigenbedeutung dieselbe. Wenn ich also ein Haus und Stiefelwichse verwechsle, so ist die Bedeutung von »dies« dieselbe […]. (213; vgl. 187 f., 204, 208)
Das sieht verdächtig nach einer »Humpty-Dumpty«-Konzeption der Bedeutung aus, derzufolge S eigentlich alles mit einem Ausdruck meinen kann, wozu es psychisch gerade disponiert ist. 36 Ferner könnte Putnam eines seiner berühmten Paare von natural kind terms anführen, z. B. das Ulmen/Buchen-Beispiel (vgl. BvB, 36 f.): Nach Putnam unterscheiden sich die Bedeutungen dieser Ausdrücke auch dann, wenn ein Laie sie verwendet und keinerlei Kriterien angeben kann, um Ulmen und Buchen auseinander zu halten. Aber dem obigen Kriterium zufolge wären die empirischen Bedeutungen Ulme und Buche identisch, da er keine klaren Unterscheidungsmerkmale kennt und folglich einzelne Exemplare identifizieren würde. Diesen kritischen Anfragen steht Husserl indes nicht hilflos gegenüber. Eine Modifikation des obigen Identitätskriteriums muss her, wofür in Beilage XIX Ressourcen zu finden sind. Ich schlage die folgende Version vor, die einige der Putnam’schen Skrupel abweisen kann. Diese erweiterte Identitätsbedingung lässt sich als intersubjektive (statt »intrasubjektive«) und diachrone Identität empirischer Bedeutungen in unterschiedlichen Wahrnehmungskontexten bezeichnen:
Zu diesem Vorwurf gegen Husserls Bedeutungstheorie allgemein vgl. Dummett (1988), 45 ff.
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(Identität 2) Die Ausdrücke A und A* haben dieselbe empirische Bedeutung gdw. (1) Die Spezies der Bedeutungsintentionen I und I* sind identisch. & (2) S glaubt aufgrund von Erinnerung (diskrete Synthesis/Wiedererkennung), dass sich I und I* auf denselben Gegenstand beziehen. & (3) Es gibt ein anderes Subjekt S*, so dass gilt: S glaubt aufgrund der Kundgaben von S*, dass sich I auf denselben Gegenstand bezieht wie I*. Dazu wie zuvor ein Beispiel: Angenommen, ich verwende den Ausdruck »mein Bett«, bevor ich schlafen gehe und nach dem Aufwachen; während meines Schlafes werde ich, ohne davon etwas zu merken, auf Twin Earth versetzt, wo ich in einem »Zwillingsbett«, das nicht »meines« ist, aufwache. (Identität 1) zufolge haben beide Äußerungen von »mein Bett« dieselbe Bedeutung, wenn ich nur aktuelle Wiedererinnerung vollziehen kann und das Urteil fälle, dass beide Betten dieselben sind. Aber wenn gleichsam ein Putnam’scher »Experte« S* zugegen ist, der von meinem Transport weiß und mich davon überzeugen kann, so hätten beide Äußerungen gemäß (Identität 2) nicht mehr dieselbe Bedeutung, denn nun würde ich aufgrund der Äußerungen von S* nicht mehr eine solche Wiedererinnerung mitsamt Urteil vollziehen können. 37 Damit lässt sich auch Husserls extremer (und pathologischer) Fall der Verwechslung von Schuhwichse mit einem Haus vermeiden. (Identität 2) stimmt insofern mit der Beilage XIX überein, als Husserl dort die Rolle von anderen Subjekten bei der Bestimmung der Bedeutungsidentität erwähnt: Wenn ich also ein Haus und Stiefelwichse verwechsle, so ist die Bedeutung von »dies« dieselbe; wenn ein anderer oder ich ein andermal nicht verwechsle, so ist die Bedeutung eine verschiedene. (213) Eine zentrale These Putnams besteht in der »Hypothese von der universellen sprachlichen Arbeitsteilung« (vgl. BvB, § 5). Die Idee ist, dass bestimmte Wörter, v. a. »natural kind terms« wie »Ulme«, »Gold«, »Molybdän« etc., nur dadurch bedeutungsvoll sind, dass es Experten gibt, die das von diesen Wörtern Bezeichnete eindeutig identifizieren können. Allerdings muss der Laie nicht zu solchen Identifikationen in der Lage sein, damit er das entsprechende Wort sinnvoll verwenden kann. Nur die Sprachgemeinschaft als ganze muss dies können. 37
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Die [empirische, CE] Bedeutung gehört zum Akt, aber nicht zum einzelnen Akt, und sie gehört auch nicht zur einzelnen Person. Verschiedene Personen können sich über Empirisches verständigen: Die Person A vollzieht ein empirisches Vorstellen und Bedeuten. Die Person legt ihr solches Vorstellen ein und richtet nach demselben oder wesentlich demselben sein Bedeuten, eventuell auch nach einem anderen Vorstellen, das gleichbedeutend für ihn ist und von dem anderen A wieder als gleichbedeutend aufgenommen werden kann. […] Wir alle finden uns so gegenüber eine gemeinsame Welt, ein gemeinsames Feld von empirischen Bedeutungen, von Dies-Bedeutungen und dann weiter von Bestimmungsbedeutungen, Prädikationen etc. (213 f.; vgl. auch 202)
Husserl skizziert im unteren Zitat die Möglichkeit, wie A und B dieselben empirischen Bedeutungen verstehen können, indem A eine Bedeutungsintention vollzieht (und wohl auch kundgibt), B ihr diese »einlegt« und dann selber eine solche vollzieht. Ein solches Einlegen, das auf Husserls Konzeption der Einfühlung basiert, kann aber gelingen oder scheitern, je nachdem, ob B vergleichbare Wahrnehmungen wie A hat. Obiges Zitat verdeutlicht auch, dass A sich durch B’s identifizierendes Verhalten korrigieren lassen kann. Mit anderen Worten: Husserl berücksichtigt durchaus die Möglichkeit und Notwendigkeit intersubjektiver Verständigung und Korrektur bei der Frage nach Bedeutungsidentität. Nur sofern ich meine Identifikationen mit denen anderer Subjekte einstimmig »abgleichen« kann, ist empirische Bedeutungsidentität letztlich möglich. Auch wenn man so vielleicht die Sozialität von Bedeutung, die Putnam bei traditionellen Semantiken sträflich vernachlässigt sieht (vgl. BvB, 37–40, 62, 97 f.), in Husserls Kriterium integrieren kann, lässt sich der starke realistische Zug von Putnams Bedeutungskonzeption nicht mehr einfangen. Besteht doch gerade darin eine Pointe bei Putnam, dass Bedeutungen von Faktoren in der Welt abhängig gemacht werden (nämlich von der unterschiedlichen mikrophysikalischen Struktur von »Wasser«), von denen Oskar und sein Zwilling überhaupt nichts wissen oder »meinen«, die dem Subjekt also völlig opak sind. In Putnams H2O/XYZ-Szenario spielt darüber hinaus die Sozialität von Bedeutung gar keine Rolle mehr, denn im Jahre 1750, in dem beide Planeten betrachtet werden, gibt es weder auf Erde noch auf Erde* Experten, die Wasser von Wasser* unterscheiden können. Aber es gibt mikrophysikalische Unterschiede, die momentan niemand erkennen kann und die dennoch, so Putnam, unsere Bedeutungsintentionen beeinflussen, indem sie angeblich bestimmen, was wir meinen 212
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und was nicht. Es wird sich zeigen, dass Husserl Putnam darin nicht mehr folgen kann, denn Gegenstände, die in der Vorstellung nichts sind, können auch keine Differenz zwischen Vorstellung und Vorstellung bewirken, also speziell auch nicht die uns aus dem eigenen Gehalt der jeweiligen Vorstellungen so wohlvertraute Differenz hinsichtlich dessen, was sie vorstellen. (Hua XIX/1, 450)
Diese Passage liest sich geradezu wie ein internalistisches Bekenntnis.
3.
Empirische Einschläge
Wie bereits erwähnt, spielen »empirische Einschläge« die zentrale Rolle für die Identität unreiner Bedeutungen. Mit dem Wort »Einschläge«, das aus der Weberei stammt und dort die Querfäden in einem Gewebe bezeichnet, spielt Husserl auf die Andersartigkeit der nicht-begrifflichen Wahrnehmungsakte im Verhältnis zu den rein logischen Bedeutungsakten an. 38 Im Sinne von Husserls phänomenologischem Internalismus ist es wichtig, die empirischen Einschläge nicht mit den extramentalen Gegenständen zu identifizieren, auf welche die Bedeutungsintentionen gerichtet sind; vielmehr handelt es sich bei den Einschlägen um die zugrunde liegenden Empfindungen (Hylé), die perzeptiven Akte und deren Horizonte (Morphé), also um etwas, was im phänomenologischen Sinne »im Kopf« ist bzw. zum noetischen Bestand der Intentionalität gehört. 39 Um das klarer zu sehen, ist Husserls Unterscheidung zwischen Den Hinweis auf diesen Wortgebrauch verdanke ich Thomas Buchheim. In § 86 der Ideen I bezeichnet Husserl Empfindungen (= nicht-intentionale Erlebnisse) in diesem Sinne als »Einschläge in das intentionale Gewebe« (Hua III/1, 199). 39 Pace Føllesdal (2006), 231 f. Ich gebe zu, dass man sich auch anders entscheiden könnte und die externe Umwelt der Zwillinge mit in den Gehalt ihrer Akte nehmen könnte (eine Stelle, die so gelesen werden könnte, ist auf S. 216, Zeile 45 bis 217, Zeile 3 zu finden). Allerdings legt Husserls Rede von »empirischen Einschlägen« eher nahe, diese mit Erlebnissen zu identifizieren und nicht mit Gegenständen, die ohnehin »eingeklammert« sind. Das Problem wird bei Alweiss (2009), 70, deutlich: »Empirical predications are at least in part environmentally constituted. However, even this conclusion is not that clear cut. First, the context we are referring to depends on our particular perception of the situation of the utterance. Unlike the externalist, Husserl holds that content is not determined by reference but by perceived reference.« 38
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setzenden Wahrnehmungen und nicht-setzenden Phantasien ausschlaggebend. Identische empirische Bedeutungen können nämlich nur solche Ausdrücke haben, sie sich nach Akten mit gleicher Setzungsqualität orientieren. Ein Ausdruck wie »dieses weiße Papier«, einmal aufgrund einer setzenden Wahrnehmung, später aufgrund einer nicht-setzenden Phantasie 40 geäußert, kann nicht dieselbe Bedeutung haben: Bei der Überführung in die Phantasie, bei der modifizierenden, und zwar vollständig modifizierenden, Umwandlung der empirischen Anschauung in bloße Phantasie geht die Möglichkeit der Identität des Gegenstandes verloren. (209)
Folglich hängt die Bedeutungsidentität von »dieses weiße Papier« davon ab, dass S aktuell eine setzende Wahrnehmung vollzieht und seine identifizierenden Bedeutungsintentionen darauf gründet. Diese individuellen Aktzusammenhänge stellen den empirischen Einschlag dar, denen empirische Bedeutungen ihre Identität verdanken: Alles empirische Bedeuten vollzieht sich innerhalb der Aktualität der Erfahrung, es ist bestimmt durch den Wesensgehalt der Erfahrung, aber auch durch die Erfahrung als Erfahrung, als Aktualität. (215)
4.
Reine und unreine Spezies
Husserl greift somit auf empirische Einschläge zurück, um zweierlei Arten semantischer Spezies zu unterscheiden: reine und unreine. Eine reine semantische Spezies, z. B. die Bedeutung des Ausdrucks »Zwei«, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich sowohl in setzenden als auch nicht-setzenden Akten gleichermaßen vereinzelt. Ob ich also z. B. mehrere Paare Schuhe wahrnehmend vor mir habe und an den darauf gestützten Akten des Kolligierens eine »ideierende Abstraktion« übe, durch die mir klar wird, was es heißt, zwei Dinge zu intendieren; oder ob ich mir dasselbe mit geschlossenen Augen bloß vorstelle und phanEs ist wichtig, dass Husserl hier von reinen Phantasien ausgeht. Diese unterscheiden sich von unreinen Phantasien dadurch, dass sie durch und durch setzungslos oder neutral sind. Eine unreine Phantasie vollziehe ich z. B., wenn ich mir vorstelle, wie Superman über München zu fliegen. Denn dabei glaube ich, dass ich Superman bin und halte mich für existierend. Reine Phantasien sind hingegen disjunkt mit setzenden Wahrnehmungen. Vgl. 206, 209, 214.
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tasierte Schuhe zähle, ist egal. Das Resultat ist – bei einiger phänomenologischer Versiertheit – exakt dasselbe: die Bezugnahme auf die Bedeutung des Wortes »Zwei«. 41 Ganz anders verhält es sich bei unreinen semantischen Spezies, z. B. bei der Bedeutung des Ausdrucks »dieses weiße Papier«. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, muss ich mich an aktuellen Wahrnehmungen orientieren. Äußere ich diesen Ausdruck, so kann ich etwa um das weiße Papier herumgehen und mir dabei klar machen, dass ich mit dem Ausdruck trotz meiner stetig wechselnden Wahrnehmungen ein und dasselbe meine. Würde ich hingegen mit geschlossenen Augen ein weißes Papier phantasieren und mich darauf mit »dieses weiße Papier« beziehen, so liegt nicht mehr dieselbe Bedeutung vor: Mannigfaltige Akte können dieselbe Bedeutung »enthalten« – aber richtig gesprochen nur positionale Akte eine und dieselbe Aussage, z. B. »dies Papier ist weiß« kann durch die vielen Akte begründet werden, in denen dieses weiße Papier erscheint und die im Einheitsbewußtsein ineinander überzuführen sind. Aber es muß eben dieses weiße Papier erscheinen, erfahren sein (positional), und in einer bloßen Phantasie kann nicht dieses weiße Papier erscheinen, sondern ein quasi »dies weiße Papier«, das weder als dasselbe noch als verschiedenes gegenüber diesem bezeichnet werden kann. (214)
Wir können somit festhalten, dass nur reine semantische Spezies invariant gegenüber ihrer Vereinzelung in setzenden oder neutralen Akten sind. Ähnliches gilt übrigens auch für reine nicht-semantische Spezies. Folgende Fälle sind demnach möglich: (i) Ist S eine reine nicht-semantische Spezies, so kann sich S sowohl in existierenden als auch in frei fingierten Einzelfällen vereinzeln. 42 (ii) Ist S eine reine semantische Spezies (eine Bedeutung), so kann sich S sowohl in setzenden als auch in nicht-setzenden Akten vereinzeln. 43 Vgl. Hua III/1, 16: »Das Eidos, das reine Wesen, kann sich intuitiv in Erfahrungsgegebenheiten, in solchen der Wahrnehmung, Erinnerung usw. exemplifizieren, ebenso gut aber auch in bloßen Phantasiegegebenheiten. Demgemäß können wir, ein Wesen selbst und originär zu erfassen, von entsprechenden Anschauungen ausgehen, ebensowohl aber auch von nicht-erfahrenden, nicht-daseinserfassenden, vielmehr »bloß einbildenden« Anschauungen.« Vgl. Ideen I, §§ 70, 140; VüB, §§ 32, 36. 42 Die Spezies homo neanderthalensis ist z. B. unrein, da frei fingierte »Fälle« des Neanderthalers keine echten Einzelfälle sind; ihnen fehlt die Anbindung an die Evolution dieses Planeten Erde. Unreine Spezies sind somit wie Putnam’sche natural kinds »starr« und »indexikalisch«; vgl. BvB, § 6. 43 Der Unterschied zwischen reinen und unreinen Spezies lässt sich auch durch die Rede 41
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Husserls These in der Beilage XIX läuft somit darauf hinaus, dass empirische Bedeutungen keine reinen Spezies sind, da sie (ii) verletzen: Verwende ich einen Ausdruck wie »dieses weiße Papier«, einmal aufgrund von Wahrnehmung, sodann aufgrund reiner Phantasie, so kann ich in beiden Fällen laut Husserl nicht dasselbe meinen. Husserl resümiert: Das Resultat scheint zu sein: Empirische Bedeutung ist keine Idee im Sinne eines Eidos, das entnommen werden könnte aus einem aktuellen Bedeuten und einem Phantasiebedeuten, so wie Rot eine Idee ist, die zu entnehmen ist aus einem faktischen Rot-Wahrnehmen und einem Quasi-Rot-Wahrnehmen. (215; vgl. 210 f.) Also das Eigentümliche ist, daß wir zwar auch in der empirischen Sphäre Bedeutungen als Ideen haben, aber daß diese Ideen nicht reine Ideen sind, sondern nicht wegschiebbare empirische Einschläge enthalten. (217)
5.
Die hybride Speziestheorie der Bedeutung
Ich möchte dafür plädieren, empirische Bedeutungen tatsächlich als unreine Spezies zu verstehen. Mit einer solchen hybriden Auffassung ließe sich die Speziestheorie in ihrer Grundidee erhalten. 44 Den Hintergrund dafür bildet Husserls reife Ontologie, in der reine und unreine Wesen ihren Platz haben. Wenn dem so ist, was spricht dagegen, an der Anwendung dieser Ontologie auf Bedeutungen festzuhalten? Empirische Wesen oder Allgemeinheiten führen, unbeschadet ihrer Idealität, die Mitsetzung einer empirischen Sphäre mit sich, in der sie die Stätte ihrer möglichen Verwirklichung in Einzelheiten von möglichen Welten präzisieren, denn reine Spezies sind allein an mögliche Welten gebunden; unreine Spezies hingegen setzen die eine wirkliche Welt voraus. Vgl. Husserls modallogische Erläuterungen in EU, §§ 82, 89–91. 44 Husserl selbst deutet gegen Ende der Beilage XIX, insbesondere in Fußnote 1 auf Seite 217, einen anderen Weg an, indem er die Speziestheorie für (empirische) Bedeutungen ad acta zu legen und im Sinne der Noematheorie dafür zu plädieren scheint, unter empirischen Bedeutungen allgemeine/ideale Gegenstände sui – besser: novi – generis zu verstehen. Solche Gegenstände sind ideal, »aber diese Idealität ist nicht Idealität in meinem ursprünglichen Sinn (mit der ich sie verwechselt habe), die des Eidos, des Wesens als einer ›Allgemeinheit‹. Allgemeine Gegenstände im Sinne von Bedeutungen und allgemeine Gegenstände im Sinne von Spezies sind scharf zu unterscheiden. ›Unreine‹ Wesen sind keine Wesen, sondern Wesensvereinzelungen.« (217, Fn. 1; vgl. auch 216 oben)
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haben. Sprechen wir von Tieren, von Pflanzen, von Städten, Häusern usw., so meinen wir damit von vornherein Dinge der Welt, und zwar der Welt unserer wirklichen, faktischen Erfahrung (nicht einer bloß möglichen Welt [der reinen Phantasie, CE]) […]. (EU, 398)
Diese »Mitsetzung einer empirischen Sphäre« erinnert an die empirischen Einschläge aus VüB. Im Unterschied zu den Spezies in diesem Zitat handelt es sich bei empirischen Bedeutungen um semantische Spezies, die sich nicht in raumzeitlichen Individuen, sondern in Bedeutungsakten vereinzeln. Unreine Bedeutungen zeichnen sich dadurch aus, in ihrer Identität wesentlich an diese Bedeutungsakte bzw. die zugehörigen Wahrnehmungen gebunden zu sein. 45 Empirische Bedeutungen sind abhängig von positionalen Akten (genauer: Erfahrungen, Wahrnehmungen) desjenigen Subjekts, das eine entsprechende Bedeutungsintention vollzieht. Empirische Bedeutungen sind in setzenden Akten fundiert. 46 Man kann also an die Stelle von (Spezies) eine modifizierte hybride Version setzen: (Spezies*) Für jeden Ausdruck A gilt: Die Bedeutung von A ist eine reine oder eine unreine Spezies. Die Modifikation von Husserls früher Bedeutungstheorie besteht darin, dass nunmehr das zweite Disjunkt von (Spezies*) nicht leer ist.
6.
Freie Phantasie vs. Wahrnehmung: Husserls Disjunktivismus
Es ist wichtig zu sehen, dass Husserl nicht auf den faktiven, veridischen oder relationalen Charakter von Wahrnehmungen im Unterschied zu Phantasien zurückgreift, 47 um die empirischen Einschläge zu charakteBei nicht-anaphorischer Verwendung von »dies« ist die »Bedeutung des Dies […] ein Gemisch von Denkbedeutung und Anschauungsbedeutung« (Hua XXX, 122; Herv. CE). Vgl. schon LU VI, § 5. 46 Zu Husserls Begriff der Fundierung vgl. LU III, v. a. §§ 14 ff. 47 Laut Husserl kann ein intentionales Erlebnis eine Wahrnehmung sein, obgleich der Gegenstand nicht existiert: »Ein Haus wahrnehmen, das heißt, das Bewußtsein, das Phänomen haben von einem leibhaft dastehenden Haus. Wie es mit der sogenannten Existenz, mit dem wahrhaften Sein des Hauses, steht […] darüber ist hier nichts ausgesagt.« (Hua XVI, 15) Vgl. auch Hua XXX, 45: »[E]benso wie Wahrnehmen, den sinnlich sehenden Blick auf ein Ding gerichtet haben, nicht besagt, daß das Gesehene in Wirklichkeit ist.« Notwendig und hinreichend für Wahrnehmung ist Leibhaftigkeit (vgl. Hua XVI, § 5), die existenzneutral ist. 45
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risieren. Als Phänomenologe gilt es, den Unterschied zwischen diesen Formen anschaulicher Intentionalität »von innen« durch die intrinsische Struktur von Wahrnehmung und Phantasie aufzuzeigen. 48 Der zentrale Unterschied besteht darin, dass sich der sog. Horizont einer freien Phantasie wesentlich von dem einer setzenden Wahrnehmung unterscheidet: Nun kann ich in der Phantasie von gegebenen Phantasien in sehr verschiedener Weise »konsequent« weiter phantasieren, d. i. die Einheit der Phantasiegegenständlichkeiten und der Phantasiewelt erhaltend, die Fiktion weiterspinnen, eventuell den Roman des Helden in sehr verschiedener Weise weiterdichten etc. (207) Sie [die Phantasie] ist unbestimmt hinsichtlich ihres Vor und Nach, und es ist willkürlich, wie ich daraus Umgebung mir vorspiegle, wobei ich nur in geringem Maße durch den Strahl der gegebenen Vorstellung und jenen Hof gebunden bin. Die Unbestimmtheit der empirischen Phantasie ist also ein sehr wichtiges Thema. (218)
Mit der Idee eines Horizonts ist gemeint, dass es zum Wesen eines jeden Aktes gehört, ein Ganzes aus mehreren Teilerlebnissen zu sein, die ihrerseits auf weitere Erlebnisse verweisen. Diese Teilerlebnisse zeichnen sich durch unterschiedliche Grade sensorischer »Fülle« und unterschiedliche intentionale Gehalte (Materien) aus. Sehe ich z. B. einen Würfel, so setzt sich mein visuelles Erlebnis aus erfüllten und leeren Komponenten (»Leerintentionen«) zusammen. Im erfüllten Erlebnis erscheinen mir die »eigentlich« sichtbaren Teile oder Aspekte des Würfels, in den unerfüllten Komponenten bin ich in leerer und antizipativer Weise auf die »unsichtbaren« Teile und Aspekte des Würfels gerichtet (seine Rückseite, sein Inneres etc.). Diese Leerintentionen bilden einen Teil des Horizonts der visuellen Wahrnehmung. Die Horizonte von Wahrnehmung und Phantasie haben jedoch unterschiedlichen »explikativen« Charakter (vgl. 218). Kontrapunktisch zur Wahrnehmung, deren Horizont durch »bestimmbare[] Unbestimmtheit« (Hua III/1, 92) charakterisiert ist, zeichnet sich der Horizont von Phantasien durch, wie man sagen könnte, »stipulative Bestimmbarkeit« aus. Das hat zur Folge, dass bei Wahrnehmungen eine Erfüllung der Partialintentionen entdeckenden Charakter hat: Man muss stets mit Überraschungen rechnen, die Wahrnehmung 48
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Vgl. 205–208, 217–219. Vgl. dazu auch Sowa (2005), 206 ff.
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kann, wie Husserl plastisch sagt, jederzeit »explodieren« (vgl. Hua III/ 1, 320, 327, 353). Eine (transzendente) Wahrnehmung vollziehen heißt, sich der Möglichkeit solcher Explosionen bewusst zu sein. Diese Möglichkeit gehört zur intrinsischen Struktur, zum Sinn einer Wahrnehmung: Dieses Offenlassen ist vor den wirklichen Näherbestimmungen, die vielleicht nie erfolgen, ein im jeweiligen Bewußtsein selbst beschlossenes Moment, eben das, was den Horizont ausmacht. (Hua I, 83)
Phantasien hingegen können nicht »explodieren«. Stelle ich mir einen Gegenstand in der Phantasie vor, so finde ich nichts an ihm im eigentlichen Sinne vor, ich entdecke nichts an ihm; jede Erfüllung des Horizonts zeigt mir nur, was ich vorher schon hineingelegt habe. Er hält keine Überraschungen für mich bereit. Anders gesagt: ich kann eine aktuell imaginierte Seite des Gegenstandes willkürlich fortsetzen: 49 [E]s besteht die Freiheit, mir den gleichsam vermeinten Gegenstand im Sinn einer Idee zurechtzumachen oder ihn so willkürlich auszugestalten, als ob er einer Idee genügte. (219) In der wirklichen Welt bleibt nichts offen, sie ist, wie sie ist. Die Phantasiewelt »ist« und ist so und so, soweit sie von Gnaden der Phantasie phantasiert worden ist; keine Phantasie ist am Ende und ließe nicht eine freie Ausgestaltung im Sinne einer Neubestimmung offen. (EU, 202 f.)
Fazit: Husserls semantische These, dass empirische Bedeutungen, die auf explizite oder implizite Weise auf Individuen zielen, unreine Spezies sind, beruht auf der akttheoretischen These, dass Wahrnehmungen und Phantasien wegen ihrer unterschiedlichen (horizontalen) Struktur nicht denselben Bedeutungsintentionen zugrunde liegen können. Wahrnehmung und reine Phantasie können nicht denselben intentionalen Gehalt haben – das ist Husserls Disjunktivismus in Beilage XIX. 50 Vgl. dazu die Kontrastierungen von Wahrnehmung und Phantasie in Sartres L’Imaginaire, die sich wie eine Anknüpfung an Husserl lesen. Um den nicht-informativen Charakter der Phantasieerfüllung zu charakterisieren, spricht Sartre von »Quasi-Beobachtung«. Sartre verschweigt dem Leser, dass auch Husserl von einer solchen Quasi-Beobachtung in der Phantasie spricht (vgl. Hua III/1, 179). Vgl. Sartre (1948), 18–22, 26, passim. 50 Damit ist noch nichts darüber gesagt, ob Husserl Disjunktivist im herkömmlichen Sinne ist. Normalerweise geht es ja um das Verhältnis zwischen veridischer und nichtveridischer Wahrnehmung – und nicht um das zwischen Wahrnehmung und reinen 49
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IV. Twin Earth à la Husserl Abschließend möchte ich eine husserlianische Sichtweise auf die beiden tragenden Annahmen von Putnams Argument darstellen. Meines Erachtens ist Husserls Verhältnis zur ersten Annahme (I), die mit dem sog. methodischen Solipsismus einhergeht, gespalten; hingegen ist seine Position so rekonstruierbar, dass er an der zweiten (Intension bestimmt Extension) (II) festhält. Beide Annahmen müssen vor dem Hintergrund von Husserls reifer »konstitutiver« Phänomenologie gesehen werden. 51 Putnam will bekanntlich im ersten, destruktiven Teil seines Aufsatzes mit Hilfe von Twin Earth nachweisen, dass besagte Annahmen nicht kompatibel sind, so dass eine davon aufzugeben ist (vgl. BvB, §§ 1–9). Annahme (I) lässt sich so auf den Punkt bringen: (I)
Ein Subjekt S kennt die Bedeutung eines Wortes W gdw. S befindet sich in einem bestimmten engen psychischen Zustand Z.
Hinter (I) steckt nach Putnam die Position des Individualismus oder methodologischen Solipsismus (vgl. BvB, 28 f.). Unter »engen« mentalen Zuständen sind solche Zustände zu verstehen, die durch das, was »im Kopf« des Sprechers ist, erschöpfend festgelegt sind; es sind bezüglich der Existenz von individuellen Entitäten außerhalb des Sprechers existenzindifferente Zustände: Diese Annahme geht davon aus, daß kein psychischer Zustand im eigentlichen Sinne die Existenz irgendeines Individuums voraussetzt außer dem Subjekt, dem der Zustand zugeschrieben wird. (BvB, 28)
Offenbar kann man Putnam unterstellen, dass enge mentale Zustände allein durch die intrinsischen Eigenschaften des Gehirns von S festgelegt sind – also durch das, was im wörtlichen Sinne »im Kopf«, d. h. unterhalb der Schädeldecke von S ist. Nun muss man durchaus einräumen, dass Husserls Bedeutungstheorie eine gewisse Affinität zu (I) hat. Die intrakraniellen KonnotaPhantasien. Zur Frage, ob Husserl auch in diesem Sinne Disjunktivist ist, vgl. Smith (2008). 51 Für eine Übersicht über die Internalismus/Externalismus-Debatte vis-à-vis Husserl vgl. den Synthese-Band 160/3 aus dem Jahre 2008, insbesondere die Beiträge von D. Zahavi, A. D. Smith und S. Crowell.
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tionen einmal beiseite gelassen, 52 scheint er zu der These verpflichtet, dass es für das Verstehen eines Ausdrucks genügt, eine entsprechende Bedeutungsintention zu vollziehen. Dafür scheinen weder die »Außenwelt« noch andere Subjekte eine konstitutive Rolle zu spielen. 53 Ferner ist nach Husserl eine Bedeutungsintention nicht von der Existenz ihres Gegenstands abhängig – auch leere Ausdrücke wie »rundes Quadrat«, »Pegasus« oder »der gegenwärtige König von Frankreich« sind bedeutungsvoll (vgl. Hua XIX/1, 59 f.; Hua XIX/2, 563 f.; Hua XXII, 303). Darüber hinaus spricht eine überwältigende Mehrheit von Stellen bei Husserl dafür, dass Intentionalität eine Eigenschaft ist, die allein in den intrinsischen (nicht-relationalen) Eigenschaften von Erlebnissen fundiert ist: 54 Das Sich-auf-Transzendentes-beziehen, es in dieser oder jener Weise meinen, ist doch ein innerer Charakter des Phänomens. (Hua II, 46) Aber es ist klar, das momentane Erleben an sich selbst ist nicht nur überhaupt ein subjektives Erleben, sondern eben Wahrnehmen von diesem Haus. Also deskriptiv gehört zum Erleben die Objekt-Beziehung, ob nun das Objekt wirklich existiert oder nicht. (Hua IX, 32)
Allerdings ist auf zweierlei hinzuweisen. Erstens hat die Analyse der Beilage XIX ergeben (vgl. insbesondere die Diskussion von [Identität 2]), dass Husserl intersubjektiver Verständigung (»Einfühlung«) und Korrektur durchaus eine Rolle bei der Konstitution von Bedeutung einräumt. Man könnte im Rahmen der Speziestheorie z. B. versuchen, das Haben einer Bedeutungsintention durch eine erfolgreiche Einfühlung in ein anderes Subjekt zu ergänzen, so dass ich nur dann einen Husserl blickt nur selten unter die Schädeldecke. Einige der wenigen Stellen ist § 63 der Ideen II. Hier versucht Husserl einen nomologisch-reduktiven Physikalismus à la Gustav Theodor Fechners »psychophysischem Parallelismus« zu widerlegen. Zu Husserls Argument vgl. Arp (1994), 358 ff., Smith (2003), 124 f., und den Beitrag von Verena Mayer in diesem Band. 53 Putnam kritisiert an traditionellen Semantiken vor allem, dass sie die Rolle der »wirklichen Welt« und der »Gesellschaft« ignoriert haben (vgl. BvB, 62, 97 f.). Egal ob Spezies- oder Noematheorie – bei Husserl bestimmt der Akt/die Noesis die Bedeutung/ das Noema so, dass jede Noesis genau ein Noema festlegt; Noemata »supervenieren« auf Noesen (vgl. Smith (2008), 331 Fn. 26). Putnam kritisiert eine solche Auffassung als unter der Hand psychologistisch (vgl. BvB, 30 f.). 54 Husserl verwendet das Wort »intrinsisch« nicht. Allerdings meint er mit den (mereologischen) Begriffen reeller, deskriptiver oder noetischer Inhalt eines Aktes etwas sehr Ähnliches. 52
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Ausdruck verstehen kann, wenn ich in der Lage bin, dies einem anderen erfolgreich kundzugeben, d. h. so, dass auch er die entsprechende Bedeutungsintention zu vollziehen vermag. Zweitens ist auf den statischen Charakter der Bedeutungstheorie in den Untersuchungen und in VüB hinzuweisen. Husserl geht hier vom gegebenen Faktum des Verstehens aus, um dann jene Akte zu beschreiben, die ihm als »Bedingung der Möglichkeit« zugrunde liegen. Wie die »Verknüpfung« von Ausdruck und Bedeutungsintention entsteht, wird von Husserl nicht näher untersucht. Hierzu müsste man genetische Phänomenologie (des Spracherwerbs) betreiben. Es ist zu vermuten, dass Husserl hier auf kommunikative Bedingungen eingehen würde; allerdings muss auch gesagt werden, dass Husserl eben kein »Sprachphilosoph« in dem Sinne ist, dass Sprache conditio sine qua non jeder Art intentionaler Weltbeziehung ist. Bedeutungsverstehen hat für ihn primär damit zu tun, raumzeitliche Individuen kategorial zu formen oder aufzufassen – ein Vorgang, der nicht essentiell auf Sprache angewiesen zu sein scheint. 55 Aber von dem Verhältnis Bedeutung (oder Begriff) und Sprache einmal abgesehen, betont Husserl in etlichen Texten, dass die Konstitution eines objektiven Dings in Raum und Zeit Fremderfahrung (Einfühlung) voraussetzt. 56 Ist, wie insbesondere Erfahrung und Urteil nahe legt, Bedeutungsverstehen im Wahrnehmen von Dingen in Raum und Zeit fundiert, folgt, dass auch Bedeutungsverstehen auf Intersubjektivität basiert. Insgesamt ist Husserls Verhältnis zur Annahme (I) bei Putnam nicht eindeutig, es scheint jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass auch Husserl’sche Bedeutungsintentionen »eng« sind. Nun zur zweiten Annahme (II). Dieser zufolge bestimmt die Bedeutung eines Wortes dessen Extension im folgenden Sinne (semantische Determinationsthese): Auch in Husserls genetischem Hauptwerk Erfahrung und Urteil, in dem die Genese logischer Formen auf der Basis sinnlicher Wahrnehmung vorgeführt wird, spielt die Sprache keine konstitutive Rolle. Vgl. EU, 58 f., 248 f. Eine Verteidigung von Husserls Idee einer nicht-linguistischen Begriffsbildung liefert Soffer (2003). 56 Vgl. exemplarisch die V. Cartesianische Meditation (Hua I, 166): »Mein […] Ego […] kann a priori nur welterfahrendes Ego sein, indem es mit anderen seinesgleichen in Gemeinschaft ist, Glied einer von ihm aus orientiert gegebenen Monadengemeinschaft.« (Hua I, 142) Mehr zur Intersubjektivitätsthematik in dem Beitrag von Emanuele Caminada in diesem Band. 55
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(II) Wenn die Bedeutungen B und B* der Worte W und W* identisch sind, dann sind auch die Extensionen von W und W* identisch (vgl. BvB, §§ 2–4, 20). (II) gilt laut Putnam insbesondere für natural kind terms. Bekanntlich zeigt er mit Hilfe von Twin Earth, dass (I) und (II) nicht gleichzeitig wahr sein können (Putnam gibt (I) auf): Denn wären (I) und (II) wahr, so wären die Bedeutungen der Worte »Wasser« auf der Erde und »Wasser*« auf Twin Earth identisch, da nach Voraussetzung die engen psychischen Zustände von Oskar und Oskar* identisch sind und diese nach (I) die Bedeutung eines Ausdrucks festlegen. Mit (II) würde folgen, dass die Extensionen gleich sind. Aber das ist nach Putnam falsch, denn auf Twin Earth besteht Wasser* aus XYZ-Molekülen, während auf der Erde Wasser aus H2O besteht. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob Husserl ganz ähnlich argumentieren könnte. Betrachten wir dazu noch einmal die entscheidende Stelle in Beilage XIX: Wie aber, wenn auf zwei Himmelskörpern zwei Menschen in völlig gleicher Umgebungserscheinung »dieselben« Gegenstände vorstellen und danach »dieselben« Aussagen orientieren? Hat das »dies« in beiden Fällen nicht eine verschiedene Bedeutung? (211 f.) 57
Anders als Putnam verwendet Husserl hier den »puren« okkasionellen Ausdruck »dies«. In den sich anschließenden und etwas zögerlichen Zeilen der Beilage zeigt sich schließlich, dass Husserl die letzte Frage des Zitats bejaht. Das »dies« auf Erde und Erde* hat also auch bei Husserl verschiedene Bedeutung. Die Frage ist, wieso und ob das für eine »externalistische« Lesart Husserls spricht. Die bisher besprochenen Identitätskriterien sind Beispiele, die Putnams Annahme (II) krass verletzen. Insbesondere bei dem ersten Kriterium kann ja Bedeutungsidentität vorliegen, obgleich die Gegenstände verschieden sind – man denke nur an Husserls Beispiel, in dem jemand Schuhwichse und ein Haus verwechselt. Ähnliches gilt letztlich auch für das zweite Kriterium, denn es können sich ja auch zwei SubVgl. das identische Szenario in Fußnote 3 auf Seite 204. Zu ergänzen ist noch, dass Husserl kein instantanes Szenario im Auge hat, sondern ein »geschichtliches«, in dem die beiden Subjekte »in völlig gleicher Erfahrungswelt« (212) aufgewachsen sind. Es ist also wirklich ein genetisches »Zwillingsszenario« à la Putnam.
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jekte gemeinsam täuschen. Von daher muss es verwundern, wenn Husserl in den Untersuchungen folgende Version von (II) – mutatis mutandis – vertritt: 58 (Det1) Gleiche Materien können niemals eine verschiedene gegenständliche Beziehung geben […]. (Hua XIX/1, 430)
Eine eigentlich Begründung dafür gibt Husserl nicht an, (Det1) ergibt sich daraus, dass die Materie eine doppelte Funktion hat, nämlich einerseits eine »referentielle«, andererseits eine »deskriptive«; sie soll nämlich bestimmen, »welcher Gegenstand im Akte gemeint ist und mit welchem Sinne er hierbei gemeint ist« (Hua XIX/1, 520; vgl. ebd., 429 f.; Hua XIX/2, 616 f.). Dass (Det1) mit den obigen Beispielen kollidiert, nimmt insofern nicht wunder, als Husserl dieses Prinzip in den Untersuchungen vorwiegend an reinen Bedeutungen erläutert. Die Frage ist, ob Husserl an einer Variante von (Det1) und damit an Annahme (II) trotz dieser Gegenbeispiele festhalten kann. Auf den restlichen Seiten möchte ich eine positive Antwort auf diese Frage andeuten. Eine ausführliche Antwort würde letztlich mit Husserls dynamischer Konstitutionstheorie bzw. mit seinem phänomenologischen Idealismus zusammenfallen, da dieser u. a. impliziert, dass alle Unterschiede in der Wirklichkeit (hier: Realität) sich im Bewusstsein als solche ausweisen lassen müssen können. 59 Um das anzudeuten, sind folgende Sätze aus Beilage XIII von VüB hilfreich: (Det2) […] die voll bestimmte Bedeutung hängt wesentlich vom »Hof« ab, sei es vom unbestimmten Hof, sei es von dem anschaulichen Zusammenhang, auch von dem Fortgang des weiteren Anschauens. (185; Herv. CE) Ich vernachlässige im Folgenden den Unterschied zwischen Bedeutung (= Sinn von begrifflichen Akten) und Sinn im engeren Sinn (= Sinn von nicht-begrifflichen perzeptiven Akten) und spreche nur noch vom Sinn eines Aktes. Bekanntlich entscheidet sich Husserl in § 124 der Ideen I dafür, das Wort »Sinn« als Oberbegriff sowohl für Bedeutungen als auch für nicht-begriffliche Sinne zu verwenden (vgl. auch Hua XXX, § 16). 59 Vgl. dazu exemplarisch: »[U]nd das sagt, daß, was immer Welt und Wirklichkeit überhaupt sein und heißen mag, im Rahmen wirklichen und möglichen Bewußtseins vertreten sein muß durch entsprechende mit mehr oder minder anschaulichem Gehalt erfüllte Sinne, bzw. Sätze.« (Hua III/1, 310) Vgl. Smith (2003), Kap. 4.; Meixner (2010). 58
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Halte ich den Sinn und damit die Bedeutung genau fest, so muß der Gegenstand, wenn er in Wahrheit ist, derselbe sein. (187, Herv. CE)
Wichtig ist hier die Idee, dass Sinn und Bedeutung in Graden von Bestimmtheit und Unbestimmtheit/Voll- und Unvollständigkeit möglich sind und dass erst eine »voll bestimmte« bzw. eine genau festgehaltene Bedeutung Identität des Gegenstands impliziert. 60 Anders gesagt: Nicht Sinngleichheit, sondern Sinnidentität legt den Gegenstand fest. In dieselbe Kerbe schlägt eine Stelle aus der Vorlesung Ding und Raum (1907): Also hätten wir möglicherweise Sinnesgleichheit, aber nicht Sinnesidentität, und allgemeiner, wir hätten Gleichheit der gegenständlichen Richtung, nämlich Richtung auf Gleiches, aber nicht Identität als Richtung auf Identisches, auf einen und denselben Gegenstand. Nur wenn in der Einheit der Erfahrung der stetige Übergang von der einen Wahrnehmung in die andere gewährleistet ist, dürfen wir von der Evidenz sprechen, daß die Identität gegeben sei. Die Einheit des Gegenstands weist sich nur aus in der Einheit der mannigfaltigen Wahrnehmungen kontinuierlich verknüpfenden Synthesis, und diese kontinuierliche Synthesis muß zugrunde liegen, damit die logische Synthesis, die der Identifizierung, evidentes Gegebensein der Identität der in verschiedenen Wahrnehmungen erscheinenden Gegenstände herstellt. […] Diese wichtige Tatsache gilt allgemein. (Hua XVI, 155; Herv. CE)
Für eine »voll bestimmte« Bedeutung sind also kontinuierliche Synthesen der zugrunde liegenden Wahrnehmungsakte ausschlaggebend; sobald »Diskretion« eintritt, können wir streng genommen nur noch von Sinn–/Bedeutungsgleichheit reden. Daraus ergibt sich eine dynamische Sichtweise auf Putnams Szenario. Der Sinn einer transzendenten Wahrnehmung ist demnach »nichts Fertiges und Abgeschlossenes« (219), da uns ein raumzeitlicher Gegenstand »mit beständig anderem ›Sinn‹ (Gemeintheitsgehalt)« (211) erscheint: Der vermeinte Gegenstand im Wie seiner Bestimmtheit und Unbestimmtheit ist etwas Bestimmtes und mit ungefährer Rohheit eidetisch Zu-fassendes, der Gegenstand selbst (obschon in Anführungszeichen als Erfahrungsvermeintes) ist zwar gegeben, aber doch voll Präsumption, er ist eine »Idee«, eine dynamis, gerichtet auf eine Entelechie, und das gilt von allen Seiten des gegenständlichen Inhalts. (219) Contra Putnam kann man mit Husserl also durchaus sagen, Oskar befinde sich in einem »engen« psychischen Zustand des (unvollständigen) Verstehens von »Wasser«.
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Keiner dieser Akte und keine der in ihm beschlossenen Geltungen ist isoliert, sie implizieren notwendig in ihren Intentionen einen unendlichen Horizont inaktueller, in strömender Beweglichkeit mitfungierender Geltungen. (Hua VI, 152)
Diesen holistischen Ideen zufolge ist jedes intentionale Erlebnis ein statisches und dynamisches Ganzes, das neben (sensorisch) erfüllten Teilerlebnissen auch unerfüllte Komponenten enthält (Leerintentionen), die weitere Erlebnisse »implizieren«. Leerintentionen streben gleichsam nach Fülle, sie haben eine intrinsische Tendenz auf Erfüllung. Zu solchen potentiellen, vom Subjekt im Prinzip initiierbaren und somit motivierten 61 Erfüllungen gehören Wahrnehmungen von bisher ungesehenen Seiten, aus größerer Nähe, mit anderen Hilfsmitteln (Brille, Lupe etc.), aber auch »eingreifende« Wahrnehmungen (z. B. Teilung oder sonstige Analyse des Objekts). Interessanterweise sind für Husserl auch theoretische Entitäten wie Atome und Moleküle bereits auf der makroskopischen Wahrnehmungsebene antizipiert: Es muß Rücksicht genommen werden darauf, daß, was die Naturwissenschaft annimmt als Aufbau eines Dinges aus Molekülen und Atomen, jedenfalls in der Weise schon im anschaulichen Ding als Möglichkeit vorgezeichnet ist, daß ein Ding möglich ist als kausal zusammenhängendes Dingaggregat. (Hua IV, 50) 62
Zum Horizont gehören also auch solche Erlebnisse, in denen uns das »Innere« der Dinge sichtbar bzw. durch Erfahrungsschlüsse 63 als so und so beschaffen kenntlich würde. Aus Husserls Perspektive lässt sich somit sagen, dass Oskar und Oskar* zwar die Bedeutung von »Wasser« und »Wasser*« kennen, allerdings nur auf rudimentäre Weise, die keine sichere Identifikation eines Stoffes als XYZ- bzw. H2O-Wasser gestattet. Einschlägig ist hier die Unterscheidung zwischen bloßen und erfüllten (Bedeutungs-)Intentionen. Für natürliche Arten ist es zentral, dass es eine Kluft zwischen ihrer lebensweltlichen und ihrer »wisPerzeptives Bewusstsein basiert nach Husserl auf Sinneseindrücken, die der Wahrnehmende als lokalisiert in seinem Leib empfindet, der zugleich als ein bewegliches »Willensorgan« (Hua IV, 151) erfahren wird. Damit gehen kontrafaktische Antizipationen der Form »Wenn ich mich so und so bewegen würde, würden diese und jene Empfindungen und Wahrnehmungen auftreten« einher. Vgl. Hua IV, §§ 18, 35–42; Hua VI, §§ 28, 47, 62. 62 Vgl. Hua XXV, 32: »Die Naturwissenschaft geht also dem Sinn dessen nur konsequent nach, was das Ding selbst als erfahrenes zu sein sozusagen prätendiert […].« 63 Vgl. Ideen I, §§ 40, 52. 61
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senschaftlichen« Gegebenheitsweise gibt. Husserl spricht dabei von außerwesentlichen im Unterschied zu wesentlichen Typen: Während erstere »rein nach irgendwelchen augenfälligen Unterschieden, die eine tatsächlich bestehende innere Zusammengehörigkeit verdecken können« (EU, 402), identifiziert werden und zum Bereich der »unmittelbare[n] Erfahrung« (ebd.) gehören, sind letztere Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung, die darauf abzielt, kausal-nomologische Zusammenhänge zu formulieren, und dabei auch auf die nicht direkt wahrnehmbaren mikroskopischen Eigenschaften eingeht. 64 Für die Unterscheidung zwischen bloßen und erfüllten Intentionen bedeutet dies, dass Oskar und Oskar* zwar leere Bedeutungsintentionen in Bezug auf die »verborgene Struktur« (BvB, 49) des »Wasser« bzw. »Wasser*« genannten Stoffes haben, aber über keinerlei erfüllende Intentionen verfügen, da die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckt. Spinnt man diese Gedanken weiter, so kann man mit Husserl durchaus sagen, dass sowohl das, was in den Köpfen der Zwillinge ist, als auch die jeweiligen Akt-Sinne, verschieden sind – in the long run sozusagen. Es findet »Sinnbereicherung und Sinnfortbildung« (Hua VI, 161) statt, wenn Oskar Neues vom Wasser wahrnimmt, Altes korrigiert und modifiziert. Wenn die Wissenschaften sich entwickeln, wird der Sinn weiter angereichert, oftmals um Bestimmungen, die Oskar perzeptiv nicht direkt verifizieren kann, sondern lediglich aufgrund der Autorität oder Erklärungskraft der Wissenschaftler glaubt (sofern er selber kein Wissenschaftler ist). Im Jahre 1750, als auf Erde und Erde* noch nichts über die Mikrostruktur bekannt ist, stimmen Oskar und Oskar* sowohl in ihren perzeptiven Wasser-Sinnen als auch in ihren leeren Intentionen bezüglich der Mikrostruktur überein. In diesem Stadium der Sinn-Bildung kann man beiden eine disjunktiv erweiterte Extension von »Wasser« zuordnen, nämlich die Vereinigung von H2O- und XYZ-Wasser – ähnlich wie man ja auch schweres Wasser als Wasser bezeichnet. 65 Da Husserl aber eine starke Erkennbarkeitsthese 64 Husserls außerwesentliche Typen ähneln Putnams Stereotypen (vgl. BvB, §§ 11–13, 18) – abgesehen davon, dass außerwesentliche Typen primär erfahrungsbasiert und nicht konventioneller Natur sind. 65 Eine Prämisse von Putnams Argument besteht darin, dass die Extensionen von »Wasser« auf Erde und Erde* tatsächlich verschieden sind. Man kann jedoch mit guten Gründen behaupten, dass die Extension dieselbe ist, nämlich die Vereinigung der beiden Wasser-Arten. Vgl. Crane (1991), 9–15.
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vertritt, derzufolge alles, was es gibt und so-und-so beschaffen ist, prinzipiell als solches erkannt werden kann, müssen auf Erde und Erde* Erlebnisse möglich sein, in denen der Unterschied zwischen den beiden Mikrostrukturen manifest wird: Im Wesen liegt es, daß, was auch immer realiter ist, aber noch nicht aktuell erfahren ist, zur Gegebenheit kommen kann, und daß das dann besagt, es gehöre zum unbestimmten, aber bestimmbaren Horizont meiner jeweiligen Erfahrungsaktualität. (Hua III/1, 101)
Auch solche »in weiter Zukunft« liegenden Erlebnisse gehören mithin zum Horizont der aktuellen Wahrnehmungen von Oskar und Oskar*, den sie weiter bestimmen. Die beiden Zwillinge, als Bewohner von »fernsten Sternenwelten« (Hua III/1, 102), müssen prinzipiell in ein Verhältnis der »›Einfühlung‹, des Einverständnisses« (ebd.) treten und sich somit auf eine gemeinsame intersubjektive Welt beziehen können. Für Husserl ist eine andere reale Welt jenseits der unseren zwar keine logische, aber eine »sachliche« Unmöglichkeit, da sie »notwendig erfahrbar sein müsse« (ebd.). Die Erlebnisströme von Oskar und Oskar*, als ganze genommen, können in diesem Sinne nicht vollständig übereinstimmen, denn ihr Horizont ist – in the long run – ein verschiedener. Es zeigt sich, dass zwei Erlebnisströme (Bewußtseinssphären für zwei reine Ich) von identischem Wesensgehalt undenkbar sind, wie auch […], daß kein vollbestimmtes Erlebnis des einen je zum anderen gehören könnte; nur Erlebnisse identischer innerer Artung können ihnen gemein sein (obschon nicht individuell identisch gemeinsam), nie aber zwei Erlebnisse, die zudem einen absolut gleichen »Hof« haben. (Hua III/1, 187)
Somit sind letztlich auch die Sinne/Bedeutungen von Oskars und Oskars* Wahrnehmungen und die darauf gestützten Bedeutungsakte verschiedene, so dass man an einer – zugegebenermaßen weit ins Reich des Möglichen greifenden – Variante von Putnams These (II) festhalten kann. Hier zeigen sich schließlich die tiefen, »metaphysischen« Unterschiede zwischen Husserl und (dem frühen) Putnam 66: Während Putnam einen starken Realismus vertritt (vgl. BvB, § 7), deutet sich in den Hier wurde ausschließlich Putnams metaphysischer Realismus aus BvB betrachtet; inwiefern der später von ihm vertretene interne Realismus Gemeinsamkeiten mit Husserl aufweist, untersuchen Arp (1994), Zahavi (2004) und Meixner (2010), bes. 190.
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letzten Zitaten Husserls konstitutiver Idealismus an, demzufolge zum Wesen von Existenz und Realität Erkennbarkeit durch ein bewusstes Subjekt intrinsisch gehört. Die Beziehung zwischen Sinn/Bedeutung und Gegenstand erweist sich bei Husserl somit letztlich als eine »transzendentale« oder »konstitutive«. Fazit: Bei Husserl legt die »Intension« die Extension dynamisch und intersubjektiv fest: Nicht das, was aktuell im Kopf eines Individuums ist, sondern das, was aktuell und potentiell in den Köpfen einer »transzendentalen« Gemeinschaft ist, bestimmt die Extension. Bedeutungen können mithin nichts sein, was durch Unterschiede in der Welt bestimmt wird, die kollektiv opak sind.
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Teil III Handlungstheorie & Ethik
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Motive, Gründe und Entscheidungen in Husserls intentionaler Handlungstheorie* Sonja Rinofner-Kreidl
Einleitung Grundlage einer phänomenologischen Handlungstheorie ist die Theorie der Intentionalität. Folgen wir Edmund Husserl, so ist Intentionalität nicht ein Ereignis in einer mentalen Innenwelt, sondern die Art und Weise, wie Bewusstsein sich auf Welt bezieht. Nach phänomenologischer Auffassung besteht kein Hiatus zwischen Bewusstsein und Handeln, der über den Unterschied hinausginge, dass wir im einen Fall verändernd in Geschehensabläufe eingreifen, im anderen nicht. Abgesehen von dieser Differenz des praktischen Zugriffs ist die Innen/Außen-Unterscheidung nicht aussagekräftig, wenn es darum geht, ein Verständnis für die Natur von Bewusstseinserlebnissen und Handlungen zu gewinnen. Es trifft insbesondere nicht zu, dass Handeln in einem intersubjektiv geteilten, sozialen Feld stattfindet, Bewusstsein hingegen in der unzugänglichen Innenwelt einzelner Akteure. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle verständigen wir uns im Sinne konsensualer Identifikation und Beschreibung nicht nur über Handlungen, sondern ebenso über »reine« Bewusstseinserlebnisse. So nehmen wir etwa an, dass es in allen Kulturen Deutungskonventionen zum Entscheid der Frage gibt, ob einer wirklich Schmerzen hat oder diese nur vortäuscht, ob er lügt oder die Wahrheit sagt usw. Über irrtumssicheres Wissen verfügen wir weder mit Bezug auf eigene und fremde Erlebnisse noch mit Bezug auf äußere Ereignisse und Vorgänge. Handeln nimmt sowohl gegenständliche Identifikationsleistungen * Teile der vorliegenden Arbeit wurden im Rahmen von Vorträgen präsentiert an der LMU München (9. 10. 2009), im Österreichischen Kulturforum Prag (11. 1. 2010) und an der Universität Wien (22. 6. 2010). Ich danke den TeilnehmerInnen der betreffenden Veranstaltungen für ihre kritischen Kommentare und Hinweise, die wesentlich zur Verbesserung der Arbeit beigetragen haben.
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Motive, Gründe und Entscheidungen in Husserls intentionaler Handlungstheorie
und leibliche Vermögen in Anspruch, als auch emotionale Stellungnahmen und volitive Einstellungen, welche eine Wertbeziehung enthalten. In Husserls Philosophie involviert das Thema Handlung neben der Werttheorie auch die Bedeutungs- und Urteilstheorie, eine Konzeption der Motivation, eine Konstitutions- und Einstellungslehre sowie die Theorie des Subjekts bzw. der Person und der Intersubjektivität. Zu den phänomenologisch zu erforschenden Grundbedingungen von Handlungen gehören darüber hinaus Leistungen der passiven Intentionalität, z. B. die innere Zeitkonstitution, die Triebintentionalität und die selektive Funktion von Aufmerksamkeit und Interesse in Wahrnehmungsprozessen, wie ebenso motorische Vermögen, Kinästhese und Horizontbewusstsein. Dass das Thema Handlung in eine solche Vielfalt von Problembezügen eingebettet ist, deren Bearbeitung sich über die verschiedenen Entwicklungsphasen von Husserls Denken erstreckt, macht es nahezu unmöglich, eine ›Momentaufnahme‹ dessen zu präsentieren, was man als systematisch vollständige Husserlsche Handlungstheorie verstehen könnte. 1 Inmitten der Vielzahl handlungstheoretisch relevanter Themen und Einzelanalysen zeichnen sich jedoch markante Problemformulierungen ab, die den phänomenologischen Zugang Husserls in prägnanter Weise zum Ausdruck bringen. Mit einem dieser ›Problemknoten‹ ist die vorliegende Arbeit befasst. Sowohl im theoretischen als auch im praktischen Bereich zielt Husserls Bewusstseinsanalyse auf die Rechtsfrage nach dem Geltungsgrund von Sinnsetzungen. Dass nach Gründen gefragt werden kann und gemäß der teleologischen Struktur von Bewusstsein gefragt werden muss, gewährleistet nach Husserl die Einheit der theoretischen, axiologischen und praktischen Vernunft. Der eigentümliche Charakter der phänomenologischen Analyse als einer Form regressiver Analyse, welche von Gegebenem ausgeht, um im Rahmen einer immanenten Analyse intentionaler Beziehungen zu apriorischen Aussagen bezüglich deren Struktur zu gelangen 2, sollte uns vorweg auf einen Umstand aufmerksam machen, auf den wir im Folgenden zurückkommen wer-
Elemente einer solchen sind sowohl seinen frühen Schriften zur statischen Bewusstseinsanalyse als auch jenen Werken zu entnehmen, welche der Spätphase der genetischen Phänomenologie angehören. Grundlegendes findet sich u. a. in den Vorlesungen zur Ethik (vgl. Hua XXVIII; Hua XXXVII) sowie im ersten (Hua III/1) und zweiten Band (Hua IV) der Ideen. 2 Vgl. Rinofner-Kreidl (2000), 129–246. 1
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den, nämlich den bemerkenswerten Abstand dessen, was in Husserls Werk unter die Bezeichnung ›Handlungstheorie‹ gebracht werden kann, von dem, was in der gegenwärtigen philosophischen Debatte darunter verstanden wird. Husserls philosophisches Projekt hängt von Beginn an – jedenfalls seit seinem Durchbruch mit den Logischen Untersuchungen (1900/01) – an methodologischen Erwägungen. Bereits wenige Jahre nach den Logischen Untersuchungen konzipiert Husserl die immanente Analyse von Akttypen und Gegenstandsbeziehungen als eine transzendentale im Sinne seines Konzeptes der phänomenologischen Reduktion. Dem gemäß hat eine phänomenologische Untersuchung von allen Existenzsetzungen sowohl auf Seiten des Gegenstandes als auch auf Seiten des intentionalen Erlebnisses (oder: Aktes) abzusehen, sofern diese Existenzsetzung nicht Bestandteil des intentionalen Gehaltes, sondern eine außerphänomenologische Voraussetzung ist, die wir aufgrund unserer natürlichen Erkenntnishaltung bzw. unserer natürlichen Einstellung in die philosophische Analyse hineintragen. Eine phänomenologische Handlungstheorie ist damit befasst, unter der Bedingung der phänomenologischen Epoché, d. i. der Enthaltung von allen (phänomenologisch nicht ausweisbaren) Seinssetzungen, eine immanente Analyse und Beschreibung jener intentionalen Beziehungen vorzunehmen, welche den Phänomenen zugrunde liegen, die wir auf Basis unserer Erfahrung dem Umkreis des Handelns zurechnen. Zu diesen Phänomenen gehören u. a.: (episodisch oder habituell) Interessen verfolgen; praktische Überlegungen anstellen; Wollen; Entscheiden; nach Gründen und Motiven fragen und eigenes sowie fremdes Handeln in deren Licht interpretieren. Um einen Einblick in Husserls Konzeption der Handlung zu gewinnen, gehen wir von folgenden Fragen aus, die wir hauptsächlich im Fokus der Ideen II zu beantworten versuchen werden: I. Wie ist, Bezug nehmend auf das Grundthema der Intentionalität, Husserls (imaginärer) Ort in der gegenwärtigen Handlungstheorie zu bestimmen? Trifft tatsächlich zu, wie häufig angenommen, dass Husserls intentionale Handlungstheorie anti-kausalistisch auftritt? II. Was bedeutet es und welche Folgen für unser Verständnis von Handlungen hat es, das Motivationsproblem im Kontext einer Intentionalanalyse aufzugreifen? Können wir Handlungen erklären, indem wir auf Motive rekurrieren? Inwiefern zeigt sich anhand 234
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Motive, Gründe und Entscheidungen in Husserls intentionaler Handlungstheorie
der Analyse der Motivation in paradigmatischer Weise der Unterschied zwischen phänomenologischen und kausalen Handlungstheorien? Wie sollen wir das Verhältnis von Motiv, Person und Handlung fassen? Bezüglich des zuletzt genannten Fragenkomplexes zielen wir darauf, einige Thesen zu präsentieren, die in Husserls Analyse enthalten, aber z. T. nicht explizit gemacht sind. Anhand des Motivationsthemas wollen wir herausarbeiten, dass Husserls Phänomenologie, die vielerorts aufgrund ihres Bekenntnisses zu einer transzendentalen Methode programmatisch abgelehnt wird, einen erheblichen und unvermeidlichen hermeneutischen Problemeinschluss hat. 3 Wir werden zeigen, dass Husserls Umgang mit dem Problem der Motivation zwar einerseits perfekt in das Bild der ›rationalistisch‹ orientierten transzendentalen Phänomenologie passt, dass diese aber andererseits aufgrund der gewählten Methodik einer Selbstaufklärung des Denkens und Handelns im Sinne einer Intentionalanalyse in Auslegungsproblematiken hineinführt, welche zu Recht als ›hermeneutisch‹ zu bezeichnen sind. Letzteres bezieht sich darauf, dass die phänomenologische Untersuchung den intentionalen Gehalt von Bewusstsein aus der Perspektive dessen beschreibt, der seiner selbst im Vollzug der betreffenden Erlebnisse und Handlungen bewusst ist und sich in der Folge explizit auf sich selbst bezieht. Über die Grenzen von Husserls Phänomenologie hinaus gilt: Das Problem der Motivation verdeutlicht, in welchem Maße unsere Handlungsbeschreibungen und -erklärungen von zugrunde liegenden Theorieentscheidungen abhängen.
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Husserls (imaginärer) Ort in der gegenwärtigen Handlungstheorie
Die phänomenologische Analyse des Handelns fügt sich dem mainstream der rezenten Handlungstheorie nicht ohne Weiteres ein. Husserls Beitrag zur Handlungstheorie betrifft das, was als ›Handlungstheorie im weiteren Sinn‹ bezeichnet und als ›Titel einer philosophischen Disziplin‹ erläutert wurde, »als deren Hauptgegenstand man die sokratisch Dieser ließe sich auch mit Bezug auf andere Fragestellungen explizieren, z. B. die Paradoxie der Subjektivität. Vgl. Rinofner-Kreidl (2003), 125–221.
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gefärbte Wesensfrage bezeichnen kann, was Handeln ist. Diese Frage ist offenbar einer Theorie der Handlungserklärung vorgeordnet.« 4 Ein nahe liegender Anknüpfungspunkt, um die Auseinandersetzung zwischen phänomenologischen und nichtphänomenologischen Handlungstheorien zu eröffnen, ist die Kontroverse zwischen Kausalisten und Intentionalisten in der Debatte um Ursachen versus Gründe Ende der 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre. 5 Obwohl sich eine diesbezügliche Zuordnung der Phänomenologie geradezu aufdrängt, ist festzuhalten, dass Husserls Untersuchungsgegenstand nicht mit dem Explanandum jener Theorieansätze zusammenfällt, die in dieser Debatte von den sogenannten Intentionalisten vertreten wurden, 6 sofern diese nämlich ebenso auf eine Erklärung von Handlungen abzielen wie sie von Seiten der Kausalisten als zentrale Anforderung an eine Handlungstheorie formuliert wird. 7 Eine phänomenologische Analyse im Sinne Husserls verabschiedet sich konsequent von diesem Erklärungsziel. Der Anspruch einer phänomenologischen Handlungstheorie ist nicht (und kann nicht sein) zu erklären, warum eine bestimmte Handlung zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Situation aufgetreten ist. Diese Erklärung zu leisten, ist Ziel dessen, was man heute unter einer Handlungstheorie im engeren Sinn versteht, nämlich ein Modell der Handlungserklärung, welches auf kausale und/oder intentionale Momente zurückgreift. 8 Das phänomenologische Erkenntnisinteresse zielt dagegen ausschließlich darauf herauszufinden, was es überhaupt bedeutet zu handeln, und was wir voraussetzen, wenn wir von ›Handlungen‹ sprechen. Eine Klärung dieser Voraussetzungen, welche sich selbst einem methodischen Prinzip der Voraussetzungslosigkeit unterstellt 9, kann nach Husserls Auffassung nur auf Basis der phänomenologischen Reduktion erfolgen. Klärungsziel ist, explizit zu machen, was im Hinblick auf die Struktur des Bewusstseins der Akteure a priori gelten muss, wenn es möglich sein soll, HandKeil (2000), 21. Vgl. Horn/Löhrer (2010); Keil (2000), 13–39; Beckermann (1977); Meggle (1977). 6 Vgl. Dray (1963) und (1977); Peters (1958); Melden (1961); Von Wright (2000). 7 Vgl. Davidson (1985). 8 Als Standardmodell dient das belief-desire-Modell der Handlungserklärung. Vgl. Davidson (1985), Smith (2002), Locke (2002), Stoutland (2001) und (2002). Zu den problematischen epiphänomenalistischen Konsequenzen einer naturalistischen Kausalerklärung von Handlungen vgl. Roy (2010), 28 ff. 9 Vgl. Rinofner-Kreidl (2000), 757–773. 4 5
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lungsintentionen (Absichten) zu haben und im Zeitablauf beizubehalten oder zu ändern, diese Intentionen zu kommunizieren und zu reflektieren, sie kooperativ oder ›einsam‹, mittels spezifischer leiblicher Vermögen, zu realisieren bzw. beim Versuch ihrer Realisierung zu scheitern. Solche ›Erklärungen‹ (oder besser: Aufklärungen) können als phänomenologisch adäquat gelten, wenn sie eine feinkörnige Beschreibung der intentionalen Struktur der Handlung geben (z. B. im Hinblick auf verschiedene Modi volitionaler Stärke oder im Hinblick auf die jeweils involvierten Teilakte und Zeitverhältnisse) und wenn sie verdeutlichen, wie die fraglichen Handlungen aus der Sicht der Akteure mit den zugehörigen (praktischen) Gründen zusammen hängen. Eine phänomenologische Intentionalanalyse sagt über Verursachungsbeziehungen nichts aus. Über Ursache-Wirkungsbeziehungen nichts auszusagen, ist nicht gleichbedeutend damit zu behaupten, dass derartige Beziehungen nicht vorlägen. Die phänomenologische Bewusstseinsforschung leugnet insbesondere nicht, was kausale Theorien (der Wahrnehmung, der Referenz, des Wissens etc.) behaupten, nämlich »das Bestehen bestimmter Kausalbeziehungen zwischen einem Subjekt und seiner Umgebung als notwendige Bedingung für das Vorliegen des betreffenden intentionalen Phänomens« 10. Was der phänomenologische Intentionalismus Husserlscher Prägung leugnet, ist lediglich, dass sich intentionale Phänomene durch den Rekurs auf kausale Beziehungen ihrem eigenen Sinngehalt nach verständlich machen ließen. 11 Wenn es eine Handlungstheorie auf Basis der phänomenologischen Intentionalitätstheorie gibt, dann ist dies ein Projekt, das sich nach Husserl streng im Rahmen eines deskriptiv-eidetischen Vorgehens hält. Eine so angelegte phänomenologische Handlungstheorie ist akausal im Sinne der Nichtthematisierung von Verursachungsbeziehungen, nicht jedoch anti-kausalistisch. Sie kann zum einen nicht anti-kausalistisch auftreten, weil derartige starke ontologische bzw. metaphysische Thesen die selbstgesetzten methodischen Grenzen der Keil (2000), 3. Insofern würde Husserl, d’accord mit den Intentionalisten im Ursachen/GründeStreit, in der Tat insistieren, dass die Explananda der intentionalen und der kausalen Erklärung von Handlungen disjunkt seien. Vgl. Keil (2000), 6. Darin, wie dieser Umstand – die Nichtidentität der Erklärungsgegenstände – verstanden und interpretiert wird, unterscheidet sich Husserl allerdings von den nichtphänomenologischen Intentionalisten.
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transzendentalen Phänomenologie verletzten. 12 Zum anderen wäre eine anti-kausalistische Grundhaltung 13 mit Husserls eigenem Vorhaben unverträglich, das Verhältnis von Kausalität, d. i. der Gesetzmäßigkeit im Bereich der physischen Naturgegenstände, und Motivation als dem Grundgesetz des geistigen Lebens aufzuklären, wie er dies im zweiten Band der Ideen ausführt. 14 Dabei liegt es in der Konsequenz des phänomenologischen Zuganges, sich im Hinblick auf das Leib-Seele-Problem sowohl der Feststellung sogenannter Erklärungslücken wie auch aller Vorschläge zu ihrer Beseitigung zu enthalten. Dies verbietet sich allein deshalb, weil die Diagnose von Erklärungslücken die Annahme eines geschlossenen Systems von Kausalzusammenhängen involDass dies nicht in das allgemeine Bewusstsein vorgedrungen ist, hat wesentlich Anteil an dem schlechten Ansehen der Phänomenologie Husserls in weiten Kreisen jener Wissenschaften, die sich mit empirischen Fragen bezüglich des menschlichen Handelns befassen (Psychologie, Soziologie, Hirnforschung etc.). Den potentiellen Konflikt zwischen Philosophie und empirischer Bewusstseinsforschung am falschen Ort zu suchen, ist nachhaltig schädigend mit Bezug auf die Anerkennung des philosophischen Anliegens, das hier zu Recht geltend gemacht wird. Vgl. Rinofner-Kreidl (2004a) und (2004b). 13 Als Beispiel für eine ältere (nicht der phänomenologischen Tradition zugehörige) Arbeit, die ein entschieden anti-kausales Handlungsverständnis befördert und eine gewisse Breitenwirkung in der Rezeption erreicht hat, sei hier auf Hart/Honoré (1959) verwiesen: Den Autoren zufolge zeichnet sich ein freiwilliger Akt dadurch aus, dass er eine kausale Verknüpfung negiert. Zu jenen, die einem anti-kausalen Verständnis des Handelns auf Basis einer systematischen Analyse der Willensfreiheit – nämlich: im Anschluss an die Kantische Freiheitsantinomie – widersprochen haben, gehört Nicolai Hartmann, der verschiedene Formen der Determination unterscheidet. Vgl. Hartmann (1962). Zu Recht wurde andererseits darauf hingewiesen, dass die gegenwärtig vertretenen Varianten einer kausalen Handlungstheorie größtenteils versuchen, intentionale Phänomene zu berücksichtigen. Diesbezüglich ist zu beachten: »Solange […] das intentionale Idiom in Anspruch genommen wird und eine Erklärungsfunktion erfüllt, macht allein die Tatsache, daß Kausalbeziehungen ins Spiel gebracht werden, die kausale Handlungstheorie nicht zu einer naturalistischen. Am Ende wird keine Handlungstheorie ihren Gegenstand angemessen bestimmen, die jedes kausale Element im Handlungsbegriff leugnet.« (Keil (2000), 5). Gemäß der obigen Begriffseinführung wäre ›naturalistisch‹ hier mit ›anti-intentionalistisch‹ gleichzusetzen. 14 Vgl. Hua IV, 260: »Freilich ist meine Hand auch ein Ding, und wenn ich ein subjektives ›ich bewege‹ vollziehe und nicht träume und mich täusche, so vollzieht sich auch in der Natur ein physischer Vorgang. Gewiß ist in der Wahrnehmung des ›ich bewege‹ auch die Wahrnehmung der physischen Bewegung im Raum beschlossen, somit kann da auch die Frage der physischen Kausalität gestellt werden. Andererseits aber muß sie nicht gestellt werden, und sie ist nicht zu stellen in der personalen Einstellung, in der allein die tätige und leidende Person als Motivationssubjekt und Subjekt ihrer Umwelt gesetzt ist.« 12
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viert, welche nicht Ergebnis empirischer Forschung ist, sondern eine metaphysische Annahme darstellt. Die Strukturmomente menschlichen Handelns auf Basis einer immanenten Aktanalyse zu untersuchen, bietet keine Handhabe dafür, solche phänomentranszendierenden Behauptungen aufzustellen wie etwa die, dass menschliches Handeln nur dann möglich sei, wenn es Lücken in der Ursache-Wirkungs-Kette gäbe. Diesbezüglich ist Abraham Meldens Diagnose zuzustimmen: Derartige Annahmen stellen einen »Apriorismus der schlimmsten Art« dar. 15 Mit einem solchen Apriorismus, der als AntiKausalismus auftritt, hat Husserls Phänomenologie nichts zu tun. Um die Eigenart von Husserls Handlungstheorie zu verdeutlichen und gegen scheinbar affine Positionen eines aktuellen handlungstheoretischen Intentionalismus abzugrenzen, können wir auf einen Gedanken Bezug nehmen, der sich in einem von Stuart Hampshire und L. A. Hart verfassten Schlüsseltext der modernen Handlungstheorie (»Entscheidung, Absicht und Gewissheit«) ausgeführt findet. Dieser Gedanke kann wie folgt wiedergegeben werden: Sich zur Durchführung einer bestimmten Handlung zu entscheiden, involviert eine eigentümliche und genuin andere Art von Gewissheit als sie im Fall der Prognose eigener oder fremder Handlungen vorliegt. Die Gewissheit, über die wir im Moment einer Entscheidung verfügen, gewinnen wir nicht, indem wir uns mit Hilfe ähnlicher Kriterien, wie sie bei der Prognose zukünftigen Handelns verwendet werden, also auf Basis eines Tatsachenwissens, auf die bevorstehende Handlung beziehen. Aus dieser zutreffenden Überlegung, welche auf den Unterschied von Erster- und Dritter-Person-Perspektive bzw. auf den Unterschied von theoretischer Erkenntnis und praktischer Verpflichtung oder Selbstbindung (commitment) abzielt und von phänomenologischer Seite als eine grundlegende Einstellungsdifferenz zu erläutern wäre, ziehen die Autoren folgende weiter reichende Behauptung: Wenn jemand den Anspruch erhebt, mit Gewißheit seine eigenen zukünftigen Handlungen voraussagen zu können, wobei er seine Voraussage induktiv begründet, dann impliziert er, dass die fraglichen Handlungen in gewissem Sinn bzw. in einem gewissen Maße unfreiwillig sind, die Wirkung von Ursachen darstellen, die nicht seiner Kontrolle unterliegen. 16
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Letzteres ist eine mindestens missverständliche Darstellung der Differenz von Entscheidung und Prognose, welche dazu tendiert, Kausalzusammenhänge und Intentionalzusammenhänge über Gebühr gegen einander ›auszuspielen‹. Zweifellos nimmt die Realisierung meiner Absichten, wie ich vorweg mit berücksichtige, Ursache-Wirkungszusammenhänge in Anspruch. Das Wissen um relevante Kausalverhältnisse, über das der Akteur (habituell) verfügt, ist Bestandteil des Sinnentwurfs der Handlung. 17 Anders könnte ich gar nicht meinen, Absichten in einer von mir vorhersehbaren, also nicht bloß zufälligen Weise verwirklichen zu können. Das heißt aber nicht, dass ich die Absichten, die ich habe, unfreiwillig, also aufgrund irgendeines Zwanges, der auf mich ausgeübt wird, habe oder dass die Art und Weise ihrer Realisierung eine Unfreiwilligkeit meinerseits einschließt. Die – auch für eine phänomenologische Handlungstheorie – relevante Frage kann nicht sein, ob überhaupt Kausalverhältnisse involviert sind, sondern nur, wie wir uns dieses Involviertsein verständlich machen können, ohne das Eigenrecht des Intentionalen aufzuheben, d. h. wie wir den Begriff der Kausalität im Zusammenhang intentionaler Beziehungen interpretieren sollen. Offenbar ist es im Vollzug der fraglichen Erlebnisse Teil unserer Intention, dass die kausalen Relationen, die bei der Realisierung von Absichten ins Spiel kommen, insofern dem Bereich des Intentionalen zugehören, als sie unserer Kontrolle unterliegen: dass wir uns ihrer (wie auch ihrer Unverzichtbarkeit) bewusst sind und sie aus freien Stücken in Gang setzen. Was irritiert an der obigen Feststellung Hampshires und Harts? Diese Feststellung suggeriert, dass etwas, das absichtlichen Charakter hat, diesen Charakter einbüßt und zu einem unfreiwilligen Vollzug wird, sobald Ursache-Wirkungszusammenhänge ins Spiel kommen. Was wir hingegen behaupten sollten und was der methodischen Einführung der Intentionalität in der Phänomenologie Husserls entspricht, ist Folgendes: Der Unterschied freiwillig/unfreiwillig macht allein in der Sphäre des Intentionalen Sinn: Ursache-Wirkungszusammenhänge laufen nicht unfreiwillig ab; sie sind gegenüber der Unterscheidung freiwillig/unfreiwillig indifferent. (Dem entsprechend gilt auch: Naturgesetze sind nicht als Zwang zu beschreiben, der auf den
Eine detaillierte Beschreibung dieser Sachlage mit Hilfe der Unterscheidung von Um-zu-Motiv und Weil-Motiv findet sich in Schütz (1991), 115–136.
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Ablauf der Ereignisse ausgeübt wird.) Der Vorteil dieser Sichtweise ist, erstens, dass Naturvorgänge nicht quasi »humanisiert« werden, indem sie mit einem intentionalen Vokabular beschrieben werden, das ihrer eigenen Natur zuwiderläuft und dass, zweitens, die intentionalen Zusammenhänge, die menschlichem Handeln zugrunde liegen, nicht anti-kausalistisch interpretiert werden müssen. Die anti-kausalistische Auffassung der von Husserl nach den Logischen Untersuchungen vertretenen transzendentalen Phänomenologie hat erheblich dazu beigetragen, dass der phänomenologische Subjektivismus, insbesondere in der angelsächsischen Welt, weithin als ein ›non-starter‹ gilt. Die anti-kausalistische Lesart der Phänomenologie gründet in einer zu starken Interpretation des hier vorliegenden Idealismus. Dass diese Lesart falsch ist, ist zu zeigen, indem der phänomenologische Anspruch erläutert wird, die Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt als eine intentionale zu beschreiben, ohne die Bedeutung des Kausalitätsprinzips sowie kausaler Erklärungen zu leugnen. Um dies näher auszuführen, können wir auf jenen vielzitierten Passus in den Ideen I Bezug nehmen, in dem der Begriff des Noema erläutert wird. Dort stellt Husserl fest, dass der Vollzug der phänomenologischen Reduktion insofern eine Sinnesmodifikation unserer gewöhnlichen Redeweise bewirkt, als wir die üblicherweise zur Identifikation von Dingen und Sachverhalten gebrauchten Bezeichnungen (z. B. ›materielles Ding‹, ›Pflanze‹, ›Baum‹) quasi unter Anführungszeichen setzen. Damit soll die Enthaltung von allen Seinssetzungen bzw. Existenzannahmen zum Ausdruck gebracht werden: Der Phänomenologe handelt nicht von dem Ding an sich oder dem Ding schlechthin, sondern ausschließlich von dem Ding, so wie es intendiert und als was es intendiert ist. Diesbezüglich gilt: Der Baum schlechthin, das Ding in der Natur, ist nichts weniger als dieses Baumwahrgenommene als solches, das als Wahrnehmungssinn zur Wahrnehmung und unabtrennbar gehört. Der Baum schlechthin kann abbrennen, sich in seine chemischen Elemente auflösen usw. Der Sinn aber – Sinn dieser Wahrnehmung, ein notwendig zu ihrem Wesen Gehöriges – kann nicht abbrennen, er hat keine chemischen Elemente, keine Kräfte, keine realen Eigenschaften. (Hua III/1, 205)
Was bezweckt Husserl mit diesen Ausführungen? Er will deutlich machen, dass wir uns in phänomenologischer Einstellung aller Aussagen darüber zu enthalten haben, was es bedeutete zu sagen, ein Gegenstand ›existiere wirklich‹, nämlich unabhängig von allen seinen ErA
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scheinungsweisen bzw. Weisen des Intendiertseins. Die Beschreibung der Art und Weise, wie intentionale Erlebnisse auf den fraglichen Gegenstand gerichtet sind, ist von derartigen Spekulationen über an sich seiende Gegenstände unbetroffen. 18 Gemäß dem Prinzip der Voraussetzungslosigkeit, dessen radikale Form die phänomenologische Reduktion darstellt, dürfen solche Existenzannahmen nicht in die phänomenologische Beschreibung Eingang finden. Denn diese Beschreibungen zielen darauf, die Möglichkeit von Erkenntnis aus der immanenten Struktur von Bedeutungs- und Erkenntnisakten selbst verständlich zu machen. Würde hierbei die Wirklichkeit von Erkenntnis im Sinne einer adaequatio rei et intellectus vorausgesetzt, so entspräche dies einer metabasis eis allo genos (vgl. Hua II, 20 ff.), welche das Begründungsprojekt der Phänomenologie unterminierte. Husserls deskriptiver Analytik liegt mithin die Behauptung zugrunde: Es ist möglich, intentionale Beziehungen ohne Rekurs auf Kausalbeziehungen zu untersuchen, weil kausale Relationen zwischen Naturvorkommnissen intentionsfrei ablaufen und Intentionalität einen in sich geschlossenen, in Gestalt rein intentionaler Gehalte (Noemata) homogenen Bereich von Sinnbeziehungen und Sinnleistungen definiert. Soweit in diesem Bereich Momente auftreten, zwischen denen ›Wirkungsbeziehungen‹ im Sinne des Anreizes, der Beeinflussung oder Hervorbringung herrschen, handelt es sich nicht um kausale Beziehungen zwischen realen Entitäten, sondern um Motivationsbeziehungen zwischen ideellen Einheiten, d. i. Sinneinheiten, deren außerphänomenologische Existenz oder Nichtexistenz dahingestellt bleiben kann. Husserl spricht in diesem Zusammenhang von »Motivationskausalität« (Hua IV, 216): Der Geist als verbunden mit seinem Leib »gehört« zur Natur. Aber trotz dieser Zuordnung, Anbindung ist er nicht selbst Natur. Der Geist »wirkt« in die Natur und doch übt er auf sie keine Kausalität im Sinne der Natur. Kausalität ist das Verhältnis einer Realität zu ihren korrelativen Umstandsrealitäten. Die Realität des Geistes ist aber nicht bezogen auf reale Umstände, die innerhalb der Natur liegen, sondern auf reale Umstände, die bestehen in der »Umwelt« und in anderen Geistern: das aber ist nicht Natur. […] Wir müssen also ein eigentümliches Verhältnis zwischen Geist und physischer Natur sta-
Vgl. (in einem nichtphänomenologischen Kontext) Keil (2000), 383, Fn. 1: Die Behauptung, dass A und B universell korreliert sind, ist nicht mit der Behauptung gleichzusetzen, dass A B hervorbringt oder verursacht.
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tuieren, ein Verhältnis zwischen zweierlei Realitäten, ein Verhältnis der Bedingtheit, aber doch nicht der Kausalität im echten Sinn. (Hua IV, 283)
Das Spektrum der verschiedenen Formen der Intentionalität, wie es im menschlichen Bewusstsein realisiert ist, kann demnach beschrieben werden, ohne irgendwelche Aussagen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen – d. i. nach Husserl: über gesetzmäßige Verknüpfungen von Naturereignissen – zu machen. 19 Diese Behauptung spricht der phänomenologischen Bewusstseinsforschung Eigenständigkeit z. B. gegenüber psychologischen und hirnphysiologischen Untersuchungen zu, ohne deren Relevanz zu bestreiten. Die phänomenologische Untersuchung ist nicht an Kausalverhältnissen im Bereich der Naturereignisse interessiert und muss an diesen – gemessen an ihrem genuinen Erkenntnisanspruch – nicht interessiert sein. Sie ist gleichwohl nicht anti-kausalistisch in dem Sinne, dass sie der wissenschaftlichen Erforschung solcher Wirkungszusammenhänge auf irgendwelchen Gebieten ihr sachliches Recht abspräche – sofern dieser Forschungsstil nicht in einen universalen und absoluten Erkenntnisanspruch, d. i. in einen metaphysischen Naturalismus einmündet. Weder ein derartiger Naturalismus noch ein entsprechender Anti-Naturalismus in Gestalt eines Anti-Kausalismus ist auf phänomenologischem Boden zu verteidigen, da dies Behauptungen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit an sich involvierte.
II.
Motive und Motivation in Husserls intentionaler Handlungstheorie
Es entspricht dem oben skizzierten methodischen Untersuchungsrahmen, dass sich Husserl für Motive ausschließlich unter zwei Gesichtspunkten interessiert: erstens, unter dem Gesichtspunkt seines Versuches, apriorische Aussagen über Bewusstsein zu gewinnen, und Vgl. Hua IV, 215 f.: »Die reale Beziehung fällt weg, wenn das Ding nicht existiert: die intentionale Beziehung bleibt bestehen. Daß jedes Mal, wenn das Objekt existiert, der intentionalen Beziehung eine reale ›parallel‹ läuft, nämlich daß dann vom Objekte (der realen Wirklichkeit) Schwingungen im Raume sich verbreiten, meine Sinnesorgane treffen etc., an welche Vorgänge sich meine Erfahrung anknüpft, das ist ein psychophysisches Faktum. Es liegt aber nicht in der intentionalen Beziehung selbst, die durch Nichtwirklichkeit des Objekts nichts erleidet, sondern höchstens sich ändert durch sein Bewußtsein der Nichtwirklichkeit.«
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zweitens, unter der Bedingung der Gleichsetzung motivationaler Beziehungen mit intentionalen Beziehungen.
1.
Common Sense und philosophisches Begriffsverständnis
Die Begriffe Motiv und Motivation sind mehrdeutig und erläuterungsbedürftig. Im Alltag hören wir häufig solche Aussagen wie: ›über die Motive des Mörders können wir nur spekulieren‹ ; ›seine Motive, das junge Mädchen aus reichem Haus zu heiraten, waren mehr als zweifelhaft‹ ; ›weil er in alkoholisiertem Zustand seine Frau verprügelt hatte, wurde eine Wegweisung verfügt‹. Unser alltäglicher Sprachgebrauch legt nahe, dass Motive eng mit unserem affektiven Leben zusammenhängen; dass sie mitunter offen zu Tage liegen und für jeden ersichtlich sind, aber auch im Inneren, im Bewusstsein der Menschen verborgen sein können; dass sie, wenn verborgen, (in Grenzen) erforschbar sind mit Hilfe von Techniken, welche Expertenwissen verlangen (wie wir nicht erst seit den Recherchen der Lightman Group in der VOX-Serie ›Lie to Me‹ wissen); und dass eine solche Motivergründung insbesondere dann in Betracht kommt, wenn einer etwas Fragwürdiges, in besonderer Weise Rechtfertigungsbedürftiges, Unverständliches oder (scheinbar) Irrationales getan hat. Gleichwohl unterstellen wir Motive im Alltag nicht nur dann, wenn wir annehmen, dass die Handelnden infolge affektiver Überbeanspruchung die Kontrolle über ihr Handeln verloren haben und sich darin der treibenden Kräfte hinter ihrem Tun selbst nicht bewusst, also von unbewussten Motiven getrieben sind. Wie die obigen Beispiele belegen, sprechen wir von Motiven auch dann, wenn wir annehmen, dass diese dem Handelnden nicht nur im Vollzug der Handlung bewusst sind, sondern sogar im Sinne einer vorangehenden expliziten Überlegung (z. B. in Gestalt eines Nutzenkalküls) gewählt wurden. Mit anderen Worten: Als Motiv gilt uns im Alltag der Grund einer Handlung, gleichgültig, ob dieser bewusst oder nicht bewusst ist und gleichgültig, ob es sich um einen guten oder schlechten, d. i. unter normativen Gesichtspunkten positiv oder negativ bewerteten Grund handelt. Husserls Rede von ›Motiven‹ stimmt auf den ersten Blick mit diesem weiten Alltagsverständnis überein, auch wenn sie bei genauerer Betrachtung von ihm abweicht. Die Übereinstimmung liegt in dem allgemeinen Verständnis, dass es Motive sind, die unser Handeln leiten 244
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und dass wir, wenn wir Motive zu ergründen suchen, die Frage beantworten wollen, warum so und so gehandelt wurde. Die Abweichung vom Common Sense liegt, erstens, darin, dass Husserl den Bewusstseinsbegriff, gemäß seinem Grundverständnis von Intentionalität, von dem Innen/Außen-Schema, das in unserer Alltagsrede über Bewusstsein tief verwurzelt ist, freizuhalten sucht. Dies hängt auch damit zusammen, dass das, was ihn interessiert, nicht die Unergründlichkeit des individuellen Seelenlebens ist, sondern eine allem menschlichen Bewusstsein gemeinsame Struktur der Gegenständlichkeit und Selbstgegebenheit. Zweitens liegt eine Abgrenzung vom Common sense darin, dass Husserl unser gesamtes Bewusstseinsleben – und nicht bloß spezifische Aspekte desselben – als von Motivationsbeziehungen durchdrungen versteht. Motivationen können auf allen Stufen des Bewusstseins, mit Bezug auf affektive Gegebenheiten, emotionale, volitive, kognitive Akte vorliegen. In jedem Fall handelt es sich um intentionale Beziehungen, deren genaue Natur zu erforschen ist. Diese durchgängige Verwobenheit von Bewusstseinsinhalten, die Husserl in den Ideen II als Grundgesetz des geistigen Lebens bezeichnet, wird auf Basis einer Unterscheidung verschiedener Akttypen und entsprechender Gegenständlichkeiten analysiert. 20 Diese stehen, so Husserls These, in einer Fundierungsordnung zueinander, weshalb Motivationsbeziehungen, so sie auf Fundierungszusammenhängen beruhen, eine invariable, in der Natur der betreffenden Akttypen und Inhalte gründende Struktur zum Ausdruck bringen. Um zu verstehen, was »Fundierung« im vorliegenden Zusammenhang bedeutet, müssen wir uns Husserls Unterscheidung zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten in Erinnerung rufen.
2.
Motivation als apriorische Vernunftgesetzlichkeit
Jene Probleme einer Analyse von Intentionalität, welche auf Handlungszusammenhänge verweisen, betreffen spezifische Akttypen wie
Die hier relevante Frage der Motivation betrifft nicht das in psychophysischen Zusammenhängen realisierte Seelenleben, d. i. die Naturorganisation des Menschen, sondern dessen ›Geistigkeit‹, d. i. seinen Umgang mit idealen Gegenständen und sein diesbezügliches Selbstverhältnis als Person. Zu Husserls Konzeption der Seele als Naturobjekt vgl. den Beitrag von Uwe Meixner in diesem Band.
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etwa das auf Weltveränderung ausgehende Wollen oder das Wünschen, das – ebenso wie das Wollen – eine imaginäre Überschreitung gegebener Weltzustände darstellt, diese aber nicht, wie es im Wollen geschieht, zum Ausgangspunkt eines Strebens nach Veränderung macht, sondern in der bloßen Vorstellung des Anders-Seins von Welt verharrt (vgl. Hua XXVIII, 103–106). Husserl versteht Wollen und Wünschen als Besonderungen wertender Akte: Wünschen oder wollen kann ich nur das, was als positiv werthaft erlebt ist. 21 Wünschen und Wollen verweisen auf ein Grundproblem von Husserls Konstitutionsanalyse: die Bestimmung des Verhältnisses kognitiver (vorstellungsund urteilsmäßiger) und nicht-kognitiver (affektiver, leiblich-motorischer, gefühlsmäßiger, volitiver) Bestandteile intentionaler Erlebnisse. Gemäß einer frühen Konzeptualisierung Husserls betrifft dies die Frage, wie sich in Akten, welche Gemütsstellungnahmen darstellen, die Leistung der Objektivierung, d. i. des über einen intentionalen Gehalt hergestellten gegenständlichen Bezuges, mit nicht-objektivierenden Komponenten verbindet. Die Unterscheidung objektivierender und nicht-objektivierender Akte (vgl. Hua XIX/1, V. Untersuchung, §§ 22–45) liegt Husserls Untersuchung wertender Akte in den Jahren nach Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen, z. B. in der Ethik-Vorlesung von 1908/09, zugrunde, wenngleich bereits in diesen Vorlesungen grundlegende Schwierigkeiten bezüglich dieser Unterscheidung zu Tage treten. 22 Objektivierende Akte sind solche, die vermöge eines Vorstellungsgehaltes oder intentionalen Gehaltes eine Beziehung zu einem so-und-so-gemeinten Gegenstand herstellen. Im Hinblick auf die Möglichkeit der Wiedererkennung und Identifizierung des gemeinten Gegenstandes erhalten Urteile in den Logischen Untersuchungen einen ausgezeichneten Status. Objektivierende Akte bezeichnet Hus-
Das schließt nicht aus, dass auch die Nichtexistenz von Gegenständen bzw. das Nichtbestehen (oder Nichteintreten) von Sachverhalten sowohl gewünscht als auch gewollt werden kann. 22 Zum komplexen Problem der (nicht-)objektivierenden Akte, d. i. zur Frage des Primats der theoretischen Vernunft vor der axiologischen und der praktischen Vernunft, in der Entwicklung von Husserls Denken vgl. Melle (1990), Bejarano (2006), 51–140, v. a. 61–68, 103–107 u. 137 ff.; zur Unterscheidung (nicht-) objektivierender Akte in den Logischen Untersuchungen vgl. Mayer/Erhard (2008). 21
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serl auch als ›intellektive Akte‹. 23 Dem gegenüber sind die Gemütsstellungnahmen, welche unser Wünschen, Wollen und Fühlen umfassen, nicht-objektivierend. Sie sind fundierte Akte in dem Sinn, dass sie nur auftreten können, wenn bereits eine gegenständliche Beziehung hergestellt ist. Objektivierende und nicht-objektivierende Akte stehen im Verhältnis einseitiger Fundierung zueinander: Zwar können objektivierende Akte vorkommen, ohne dass sie zur Grundlage von Gemütsstellungnahmen werden, nicht aber können Gemütsstellungnahmen vorkommen, welche nicht in objektivierenden Akten fundiert wären. Mit anderen Worten: Objektivierende Akte fordern von sich aus keine Ergänzung durch Gemütsakte, wohl aber vice versa (vgl. z. B. Hua XXVIII, 261, 68 f.). An die Unterscheidung objektivierender und nichtobjektivierender Akte knüpft sich in Husserls Überlegungen die Analogie der Vernunftarten. Diese beruht auf der Annahme, dass so viele Vernunftarten zu unterscheiden sind wie Aktarten. Entsprechend der Klassifikation der Aktarten in intellektive Akte, wertende Gemütsakte und Willensakte ist demnach von drei Vernunftarten auszugehen: logisch-erkennende, axiologische und praktische Vernunft. Die Idee, dass sich die menschliche Vernunft zwar in verschiedenen Gebieten in verschiedener Weise besondert, dass sie gleichwohl aber eine insgesamt auf Vereinheitlichung tendierende Funktion im Bewusstseinsgeschehen darstellt, ist der entscheidende Hintergrund von Husserls Auffassung der Motivation. Dabei ist der Gedanke leitend, dass das Motivierende nicht eine von außen in intentionale Zusammenhänge ›hineinwirkende‹ Determinante ist, sondern Bestandteil eben dieser Zusammenhänge: Motivation ist »immanente Motivation« (Hua IV, 222, 226). »Die Einheit der Motivation ist ein in den betreffenden Akten selbst fundierter Zusammenhang.« (Hua IV, 229) ›Motivation‹ ist der Titel für universale Vernunftgesetzlichkeiten, welche nicht nur in der Sphäre intellektiver Akte in Gestalt von Gesetzen der Konsequenz vorliegen, mit denen sich die reine Logik befasst. Vernunftgesetzlichkeiten herrschen ebenso in der praktischen Sphäre wie sie überhaupt verschiedene Aktarten und, entsprechend, verschiedene Typen von Aktkorrelaten miteinander verknüpfen (vgl. Hua IV, 232). So spricht Husserl etwa davon, dass ein affektiver Zustand eine Körperbewegung oder geistige Zuwendung, Aufmerksamkeit motivie23 In den Ideen II ist es die Qualität der Doxa, d. i. des Glaubens in seinen verschiedenen Modifikationen, welche die objektivierenden Akte charakterisiert. Vgl. Hua IV, 15–17.
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ren könne. Als Beispiel für eine Willensmotivation, die unter Regeln praktischer Vernünftigkeit steht, nennt er u. a.: »Das Wollen des Mittels ist praktisch motiviert durch das Wollen der Prämissen.« (Hua XXVIII, 70) Sofern wir das Gewollte als ›Ziel‹ und den Zielvorsatz oder Zielentschluss als ›Willens-Grundsatz‹ oder ›Willens-Prämisse‹ bezeichnen, können wir die hier angeführte Regel auch so formulieren: Wer den Zweck will, muss auch die zur Erreichung desselben notwendigen Mittel wollen. Ein weiteres Beispiel, in diesem Fall für eine Vernunftmotivation, welche Intellektives und Axiologisches verknüpft, ist: »[W]er sicher überzeugt ist, daß A ist, kann nicht A wollen; wer überzeugt ist, daß A nicht ist, kann nicht, daß A nicht ist, wollen« (Hua XXVIII, 72). Oder: Wenn mir ein Gegenstand als schön erscheint, ist meine Freude an seiner Existenz vernünftig motiviert. Ist x (meine Freude) durch y (meine Überzeugung, dass der Gegenstand existiert) motiviert, so ist x (meine Freude an der Existenz des Gegenstandes) ›rationalisiert‹, d. h. als immanent vernünftig ausgewiesen. 24 ›Immanent vernünftig‹ meint: vernünftig nicht bloß im Hinblick auf irgendwelche dem fraglichen x äußerliche Faktoren (z. B. die Eignung von x als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke), sondern in sich selbst, aufgrund des eigenen Wesens von x, vernünftig. 25 Die hier relevanten »Wer an einem A nicht-existenziales Gefallen (ein Schön-Werten) hat, der muß sich vernünftigerweise freuen im Fall der Gewißheit, daß dieses ›Schöne‹ ist; und er muß trauern im Fall der Gewißheit, daß es nicht ist. Freude und Trauer sind hier vernünftig motivierte Akte. In solchen Fällen sich zu freuen bzw. zu trauern, das fordert gleichsam die vernünftige Konsequenz; es ist eine Gefühlsselbstverständlichkeit, und zwar eine vernünftige, von der abzuweichen Gefühlswidersinn wäre. Natürlich, kein normaler Mensch wird sich anders verhalten, aber das Faktum geht uns nichts an; ein gegenteiliges Faktum, etwa bei einem Wahnsinnigen, würde so wenig bedeuten wie etwa das Vorkommen der Überzeugung, dass 1 + 1 = 3 sei in irgendeinem anomalen Intellekt.« (Hua XXVIII, 73) 25 Husserl verwendet hier den Terminus ›Rationalisierung‹ in einer dem aktuellen Sprachgebrauch z. T. entgegen gesetzten Weise. Nach einem heute geläufigen Verständnis liegt eine Rationalisierung vor, wenn (wissentlich oder unwissentlich) eine rückwirkende Umdeutung von Handlungen vorgenommen wird, wonach diese als aus guten Gründen folgend dargestellt werden, obwohl sie in Wahrheit solche Gründe nicht hatten. In diesem Sinn meint der Ausdruck ›Rationalisierung‹ : eine Handlung (mit oder ohne Täuschungsabsicht) als vernünftig erscheinen lassen, obwohl sie das nicht ist. Dagegen hat sich in der analytischen Handlungstheorie, infolge der maßgeblichen Arbeiten Donald Davidsons, ein Sprachgebrauch etabliert, der Husserls Redeweise – ungeachtet der Differenz von intentionaler und kausaler Handlungstheorie – zumindest ein Stück weit entgegenkommt: Die Angabe eines Grundes rationalisiert eine Handlung 24
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Motivationszusammenhänge sind nicht empirisch-psychologischer Natur; sie stellen ein Apriori der Vernunft dar. Intellektive Akte, Gemütsakte und Willensakte stehen unter Normen der Richtigkeit und Unrichtigkeit, sofern wir sie nicht als Tatsachen betrachten, sondern ihrer Idee, ihrem Wesen nach. Mit diesem Anspruch, apriorische Vernunftgesetzlichkeiten zu entdecken, sucht Husserl nach motivationalen Zusammenhängen in verschiedenen Sphären des Bewusstseins, zwischen verschiedenen Stufen und Inhalten des Bewusstseins. Unter dem Gesichtspunkt eines so verstandenen Motivationsapriori wird nicht nur die Differenz einer philosophischen und einer psychologischen Auseinandersetzung mit dem Thema der Motivation deutlich, sondern ebenso der weite Abstand einer phänomenologischen Handlungstheorie von dem, was gegenwärtig unter dem Titel ›Handlungstheorie‹ firmiert. 26 Eine Phänomenologie des Handelns zeichnet sich dadurch aus, erstens, nach rein immanenten rationalen Zusammenhängen zu suchen, welche in den zu analysierenden Phänomenen enthalten sind, ohne dabei irgendwelche einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse und Hypothesen mit Bezug auf die Natur des menschlichen Bewusstseins als gültig vorauszusetzen; sie geht, zweitens, von dem Erleben motivationaler Zusammenhänge und von der Erfahrung des Handelns aus, d. h. in einer gegenwärtig geläufigen Terminologie: von der Erste-Person-Perspektive.
Motivation im Kontext der Ideen II In den Ideen II wird das Thema Motivation vor dem Hintergrund der oben skizzierten Problematik ›Kausalität und Intentionalität‹ eingeführt 27, welche auf die Leitunterscheidung von naturalistischer und personalistischer Einstellung verweist. Bedenken wir, dass die fraglichen Untersuchungen in phänomenologischer Einstellung, d. h. unter der Bedingung der phänomenologischen Reduktion, durchgeführt werden, so ist es nicht verwunderlich, dass sich Husserl im Zuge seiner Analyse nicht mit kausalen Theorien der Motivation (als Bestandteil dann, wenn das, was als Grund genannt wird (nach Davidson: ein Wunsch-Überzeugungs-Paar), die Handlung in der richtigen Weise verursacht. 26 Vgl. Handlungserklärung im engeren Sinn, Abschnitt I. 27 Vgl. Rang (1973). A
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kausaler Handlungstheorien) auseinandersetzt. Während die naturalistische Einstellung mit Problemen und Entitäten befasst ist, welche im Rahmen naturwissenschaftlicher Theoriebildung und zugehöriger Erfahrungssimulationen (Experimente) definiert werden, ist die personalistische Einstellung jene Einstellung, in der wir uns einerseits im täglichen Leben immer schon befinden und die wir andererseits im Zuge geisteswissenschaftlicher Forschungen einnehmen. Die »personale oder Motivationseinstellung« ist nach Husserl »in einem weitesten Sinn« auch als praktisch zu bezeichnen, weil es sich um das »tätige oder leidende Ich« handelt (Hua IV, 189 f.). In dieser Einstellung ist uns die Erscheinungsmannigfaltigkeit der Welt in mehr oder weniger komplexen Sinneinheiten und in qualitativ-vielfältigen Subjektbezügen gegeben. 28 Der Terminus ›Einstellung‹ verweist freilich auch im Fall der naturwissenschaftlichen Orientierung auf einen Subjektbezug, hier jedoch auf den Bezug zu einem rein theoretischen oder erkennenden Subjekt. Die in dieser Einstellung erfasste Natur umfasst keine Werte und keine praktischen Gebrauchsdinge, Kunstwerke u. dgl.; sie erfasst ausschließlich Dinge in ihrer räumlich-zeitlichen Materialität. 29 Ungeachtet der auch hier vorliegenden Korrelativität einer spezifischen Gegenständlichkeit und einer spezifischen Form bzw. Beteiligung des Subjekts zeichnet sich die naturalistische Einstellung dadurch aus, dass ihr Einstellungscharakter in dem von ihr erschlossenen Gegenstandsfeld ›unsichtbar‹ bleibt – im Unterschied zur geisteswissenschaftlichen Einstellung, in der die gegenstandskonstitutive Funktion des Subjekts mitthematisch ist und im Unterschied zur phänomenologischen Einstellung, welche diese Einstellungsdifferenzen und die Funktion von Subjektivität überhaupt zum Gegenstand einer Analyse macht, deren Ziel es ist, die Konstitution von jedweder Gegenständlichkeit im Bewusstsein aufzuklären. Um das Motivationskonzept der Ideen II zu charakterisieren, setzen wir bei dem Zusammenhang von Motiv und Entscheidung an. Damit ist lediglich ein Ausschnitt dessen ins Auge gefasst, was Husserl unter dem Titel ›Motivation‹ behandelt, der sich ebenso auf sogenannte passive Motivationen (z. B. assoziative Zusammenhänge) erstreckt. Die folgende Darstellung bezieht sich auf die Sphäre der »Motivationen im
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Vgl. Hua IV, §§ 34, 49–53. Vgl. Hua IV, 2 f., 15–17, 24–27, 75–90.
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höheren Sinne – Motivationen von Stellungnahmen durch Stellungnahmen, eigentliche Vernunftmotivationen« (Hua IV, 279) sowie auf den personalen Umgang mit passiven Motivationen. 30 Allein Motivationen in diesem höheren Sinn unterliegen Rechtfertigungs- oder Rechtsfragen. In unserer Untersuchung tritt die für (handelnde) Personen konstitutive Beziehung zu ihrer sozial geteilten Umwelt (vgl. Hua IV, 185–200) relativ in den Hintergrund. Das ist nicht zwingend durch den speziellen Fokus unserer Untersuchung bedingt: Entscheidungen können ebenso unter dem Gesichtspunkt der Sozialität analysiert werden. Wenn wir von ›Entscheidungen‹ sprechen, greifen wir einen markanten Zeitabschnitt aus einem größeren Entwicklungszusammenhang heraus. Dies geschieht aus einer Beobachterperspektive oder aus der Perspektive des Akteurs. In letzterem Fall erfordert dies entweder einen retrospektiven Bezug auf eigene vergangene Handlungen oder ein reflexives Innehalten im Ablauf eines noch andauernden Handlungszusammenhanges. Im engeren Sinn meint ›Entscheidung‹ die aktuelle Wahlsituation, in der ich, im Bewusstsein, verschiedenen Optionen nachgehen zu können, mich zu einer dieser Optionen als nunmehr für mich handlungswirksam bekenne. Entscheidungen haben nicht nur aktuelle Handlungsrelevanz. Sie dienen darüber hinaus dazu, zukunftsbezogene Handlungseinstellungen – Absichten und Pläne – festzulegen. 31 In diesem Sinn sorgen sie für Konstanz und Stabilität in unserer Handlungsorientierung. Sofern wir etwas überhaupt als Entscheidung erleben, geht mit diesem Erlebnis ein Freiheitsbewusstsein im Sinne der Urheberschaft einher. Verwenden wir in diesem Zusammenhang den Ausdruck ›bekennen‹, so soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass Wählen nicht nur ein kognitiver Vorgang ist, welcher darauf abzielt, dem nach bestem Wissen und Gewissen Besten, d. i. dem relativ Besten, nämlich Besten für mich in der fraglichen Situation, den Primat zu geben. Dies trifft zwar auf die Idee des rationalen Handelns zu – nämlich: auf Basis der besten zur Verfügung stehenden Gründe zu entscheiden –, wir können aber nicht davon ausgehen, dass rationales Handeln die einzige und ubiquitär gültige Form des Handelns darstellt. 32 Vgl. Hua XXXVII, 107–113, 331 f. Zur Analyse von Absichtlichkeit im Rahmen von Husserls Intentionalitätstheorie vgl. Vf., »Absichten haben und absichtlich handeln« (unveröffentlichtes Manuskript). 32 ›Rationalität‹ kommt bei Husserl selten vor. Er verwendet stattdessen den Terminus 30 31
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Heißt ›Entscheiden‹, sich zu einer Handlungsoption zu bekennen, so ist damit gemeint, dass ich mich als diese individuelle Person mit dieser und jener Motivations- und Wertstruktur darauf verpflichte, im Sinne der fraglichen Option zu handeln. Das kann, muss aber nicht die im Sinne der Zweckrationalität beste und insofern ›klügste‹ Option sein. Es muss jedoch, wenn tatsächlich eine Entscheidung, d. i. eine Selbstverpflichtung auf bestimmte zukünftige Handlungsweisen vorliegen soll, die Option sein, in der ich mich selbst ›wiedererkenne‹. In dieser Weise sind Entscheidungen praktische Vollzüge und niemals nur kognitive Leistungen, auch wenn sie dies auch und häufig in einem phänomenal vordringlichen Sinne sind. Mit anderen Worten: In Entscheidungssituationen ist nicht lediglich die Rationalität oder die Vernunftfähigkeit der Person angesprochen, sondern auch die Authentizität der Selbstbestimmung, zu der diese Person im Stande ist. […] kann ich mich nicht in Motivationslagen hineindenken, in denen ich noch nie war, wie ich sie gleich und ähnlich noch nie erfahren hatte? Und kann ich nicht sehen, im Quasi-Sehen [mittels phantasiemäßiger Variation, SR] herausfinden, wie ich mich verhalten würde, obwohl ich mich anders verhalten könnte, nämlich obschon es denkbar wäre, daß ich anders entschiede, klar vorstellbar, während ich doch als dieses persönliche Ich es nicht könnte? Das ist der entscheidende Punkt. Und weiter: ich mag schon wiederholt in ähnlichen Motivationslagen gewesen sein. Aber ich bin eben nicht ein Ding, das unter gleichen Umständen gleich reagiert; […] Früher wurde ich so motiviert, jetzt anders, und zwar eben darum, weil ich inzwischen ein anderer geworden bin. Die Motivation, die wirksamen Motive mögen dieselben sein, aber die Kraft der verschiedenen Motive ist eine andere. (Hua IV, 266, Hervorh. SR)
Wenn Husserl festhält, dass eine Person bei gegebenen motivationalen Zusammenhängen nicht umhin kann, in einer bestimmten Situation so und so zu entscheiden, so ist das – auch wenn es nicht in dieser Terminologie ausgeführt ist – als Selbstverpflichtung auf eine bestimmte praktische Identität des Handelnden zu verstehen und nicht als eine Determination im Sinne dessen, dass die fraglichen Motive eine bestimmte Handlungsweise oder Entscheidung verursachten (vgl.
›Vernunft‹, der einen weiteren Bedeutungshorizont hat als der Terminus ›Rationalität‹, der im damaligen und heutigen Sprachgebrauch meist auf den Mittel/Zweck-Zusammenhang bezogen wird. Zum ›ausgezeichneten‹ Fall der Vernunftmotivation, d. i. der Motivationen im Rahmen der Evidenz vgl. Hua IV, 220 ff.
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Hua IV, 140 f.). 33 Denn ›nicht anders können‹ verweist eben nicht, wie Husserl oben vermerkt, auf eine Ding(- oder Ereignis)ähnlichkeit des Akteurs gemäß dem Prinzip ›gleiche (ähnliche) Ursachen – gleiche (ähnliche) Wirkungen‹ ; es steht vielmehr elliptisch für: nicht anders können, sofern die Handelnde an dem personalen Selbstkonzept festhalten will, das sie bisher für sich als verbindlich anerkannt hat. 34 Die hier relevante Identität des handelnden Subjekts, in welche habituelle Absichten, Gesinnungen und Pläne Eingang finden, kann, aber muss nicht einem bestimmten Lebensideal der Vernünftigkeit entsprechen. Sich selbst als ein Vernunftwesen zu fassen, das sich zwar realiter nicht jederzeit und nicht in jeder Hinsicht an das vernünftigerweise zu Denkende und zu Tuende hält, das nichtsdestoweniger aber im Stande ist, sich an der normativen Idee einer durchgängigen Vernünftigkeit in allen intellektuellen und praktischen Zusammenhängen zu orientieren, ist ein theoretisches und sittliches Ideal, das speziell in Husserls späten ethischen Schriften (ab 1920) als solches formuliert wird. So auch in Parenthese bereits in den Ideen II: »Den höchsten Wert repräsentiert die Person, die habituell dem echten, wahren, gültigen, freien Entschließen höchste Motivationskraft verleiht.« (Hua IV, 268) Wenn wir ›Entscheidungen im engeren Sinn‹ die Bestimmungsleistung in aktuellen Wahlsituationen nennen, welche im obigen Sinn eine praktische Selbstbestimmung des handelnden Subjekts darstellt, indem sie dessen Wollen auf eine bestimmte Zukunft hin festlegt, so können wir das, was diese Bestimmungsleistung ermöglicht und ihr zeitlich vorhergeht, als ›Entscheidung im weiteren Sinn‹ bezeichnen. Zur Entscheidung im weiteren Sinn gehören auch die vorangehenden Letzteres höbe allerdings den Charakter der Entscheidung und, sofern wir die Determination als eine im Bewusstsein global herrschende Naturgesetzlichkeit denken, den Charakter der Handlung auf. In diesem Sinn ist der Begriff eines als Ursache wirkenden Motivs paradox. 34 Gemäß einem solchen Verständnis von Motivation beruht das Projekt einer Ethik darauf, dass praktische Identitäten, zumindest partiell, geteilt werden können – auf Basis emotionaler Bindungen und/oder auf Basis von Vernunftgründen. Für Husserl scheint jedenfalls festzustehen, dass das grundlegende personale Erfordernis einer Ethik die Fähigkeit zum Selbstentwurf, d. i. zur »personalen Selbstgestaltung« (Hua XIV, 19, Fn. 2) und »universale[n] Selbstregulation« (Hua XXXVII, 240) ist, welche kognitive, emotionale und volitive Leistungen einschließt. Welchen Stellenwert diese Fähigkeit im Kontext von Husserls frühen und späten Schriften zur Ethik erhält und wie verschieden sie in diesen interpretiert wird, muss einer Klärung andernorts vorbehalten bleiben. Vgl. Cobet (2003), 37–44. 33
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Überlegungsprozesse, die emotionalen und stimmungsmäßigen Beanspruchungen in diesem Prozess, die Wertorientierung der handelnden Person u. a. 35 Analog können wir mit Bezug auf das in Entscheidungen enthaltene Willensmoment zwischen einem Wollen im engeren Sinn und einem Wollen im weiteren Sinn unterscheiden. Im engeren Sinn bezieht sich der Ausdruck ›Wollen‹ auf die aktuelle Bildung einer Willensintention, die sich unter Umständen in einer entsprechenden Willensbekundung manifestiert und jedenfalls mit einer subjektiven Überzeugung bezüglich der realen Möglichkeit einer Realisierung des Gewollten verbunden ist. (Das Moment der Überzeugung ist insofern unverzichtbar, als ich nur das wollen kann, von dem ich glaube, dass ich es selbst verwirklichen kann.) Im weiteren Sinn umfasst unser Wollen sowohl die Durchführung des auf einen bestimmten Zweck gerichteten Strebens in Gestalt äußerer Handlungen, als auch den Prozess der Willensbildung und (sofern ein solcher vorliegt) den Akt der Entscheidungsfindung, welcher zugleich Entschluss ist, gemäß der getroffenen Entscheidung zu handeln. Husserl nennt das Wollen im engeren Sinn den ›Entschlusswillen‹, das Wollen im weiteren Sinn den ›Handlungswillen‹ (vgl. Hua XXVIII, 106 ff.). 36 Um annehmen zu können, dass das, was wir als ›Entscheidung‹ bezeichnen, nicht bloß eine subjektive Illusion, sondern eine reale Erfahrung ist, müssen wir davon ausgehen, dass es Willensfreiheit im Sinne des Prinzips der Urheberschaft und des Prinzips der alternativen Möglichkeit gibt und dass wir der Rede vom ›Willen‹ oder ›Wollen‹ einen vernünftigen Sinn geben können, der uns nicht auf irgendwelche mysteriösen mentalen Entitäten festlegt. 37 Wir gehen im vorliegenden Vgl. Hua XXVIII, 119 f., wo Husserl entsprechend von einer ›Wahl‹ im engeren und weiteren Sinn spricht. Zu beachten ist, dass – wie etwa das Phänomen der Habitualisierung von Absichten zeigt – nicht jede Willensfestlegung eine ›Willensstellungnahme‹ als Abschluss einer vorgängigen Willenserwägung darstellt, d. i. in einem Entschluss gründen muss. Vgl. Hua XXVIII, 111 f. 36 Zur Konzeption des Willensaktes und der Willensmodifikationen im werkgeschichtlichen Kontext vgl. Bejarano (2006), Melle (1992), Nenon (1990). 37 Letzteres wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder vehement bezweifelt. Dieser Zweifel ist etwa in Gilbert Ryles Angriff auf die ›Dreifaltigkeitstheorie des Geistes‹ dokumentiert, d. i. die Auffassung, dass Geist oder Seele »in drei unreduzierbar verschiedenen Modi, im Modus des Erkennens, im Modus des Affekts und im Modus des Strebens« (Ryle (1969), 79) operiere. Bekanntlich zielte Ryles polemischer Angriff u. a. darauf, den Begriff des Willens als einen künstlichen und antiquierten, inzwischen nutzlos gewordenen Begriff aus der Diskussion auszuscheiden. Vgl. ebd., 78 ff. 35
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Zusammenhang auf die Problematik der Willensfreiheit nicht ein. 38 Stattdessen wollen wir das Konzept der Motivation, so wie es Husserl als Bestandteil seiner Intentionalanalyse entwirft und wie es einerseits im Kontext der in den Ideen und in anderen Werken ausgeführten Konstitutionsproblematik und andererseits im Kontext axiologischer Gesetzmäßigkeiten näher auszuführen wäre, in seinen Grundzügen darstellen. Bislang hatten wir festgestellt: Sich zu entscheiden bedeutet, seinem Wollen eine bestimmte Richtung zu geben und sich insofern – wie wir speziell mit Bezug auf existentiell gewichtige, nicht bloß punktuelle und/oder triviale Entscheidungen (z. B. Bus oder Bahn? Cremefarbene oder rote Schuhe?) sagen werden – zu einer bestimmten praktischen Identität zu bekennen. Treffe ich in diesem Sinn eine Entscheidung, so setze ich voraus, dass das, wofür ich mich entschieden habe, durch mein Wollen herbeizuführen ist. Wollen kann ich nur, »was als praktisches Ende eines Willensweges dahin in Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit bewußt ist« (Hua XXVIII, 104). Wollen ist Verwirklichenwollen 39: Wollen kann ich nur, was noch nicht ist. 40 EntspreEs entspricht einem phänomenologischen Zugang, die Freiheitsproblematik zu ›konkretisieren‹, indem sie im Kontext des Wollens im weiteren Sinn eingeführt wird: Fragen wir nach der Freiheit des Willens mit Bezug auf reale Wollensintentionen, so bezieht sich der hierbei zugrunde gelegte Begriff des Wollens nicht auf einen (vorgestellten, d. i. ›abstrakten‹) punktuellen Akt des sich Entscheidens, sondern auf einen zeitlich mehr oder weniger ausgedehnten Prozess, welcher Intention, Motivationsbildung, praktische Überlegung, Entscheidung und Handlungsimpuls umgreift. Vgl. Fuchs (2008a), Rinofner-Kreidl (2007). 39 Vgl. Hua XXVIII, 107: »[D]er Wille spricht sein schöpferisches ›Es werde!‹. Die Willenssetzung ist Setzung der Verwirklichung. Aber Verwirklichung sagt hier nicht bloß Wirklichwerdung, sondern Wirklichmachung, Leistung der Verwirklichung. Das aber ist etwas Ureigenes, das eben in der Eigenheit des Willensbewußtseins seine Quelle hat und sich nur da verstehen läßt« 40 Bezüglich dieser These gelangt Husserl im Zusammenhang der Erörterung der Willensnegation allerdings zu einer differenzierteren Auffassung: »Ein schlichtes Wollen geht auf ein Realisieren, also auf ein Sein-Werden, und eben willentliches Sein-Werden, also nicht auf ein schon Seiendes. Es gibt aber auch ein Wollen eines schon Realisierten, das aber ein mittelbar durch Negationen hindurchgehendes Wollen ist. Weise ich eine Willenszumutung, daß etwas geschehen möge, zurück, so ist dieser negative Wille wesensmäßig zu verwandeln in einen positiven Willen, in die Willensbejahung, daß die Sache so bleibe, wie sie ist. Nur in dieser Art ist der Wille eines schon Realisierten möglich, eben im Durchgang durch die Ablehnung einer Veränderung.« (Hua XXVIII, 125) Wenn wir diesen Ausnahmefall konstatieren (vgl. Hua XXVIII, 105 f.) – wollen, dass alles so bleibt wie es ist –, dann sollten wir gemäß Husserls Willensanalyse hinzufügen: Wollen kann ich das nur, wenn ich glaube, zur fraglichen Nichtveränderung 38
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chend gehört es »zum Sinn eines Entschlusses […], daß nur ein Nochnicht-Seiendes sein Ziel sein kann« (Hua XXVIII, 74). Exkurs: Husserl und die Internalismus/Externalismus-Debatte Dass ich überhaupt entschlussfähig bin, dass ich mich also überhaupt in Entscheidungssituationen finde, verdankt sich dem Umstand, dass ich im Stande bin, mich motivieren zu lassen, d. h. für Motive empfänglich zu sein. ›Motive‹ nennen wir die Beweggründe unseres Tuns, sofern diese entweder im Vollzug der betreffenden Handlung bewusst sind oder der Handelnde sich ihrer in einer rückblickenden Rechtfertigung seines Tuns vergewissern kann. Unabhängig davon, ob ich mir der Gründe meines Tuns aktuell oder retrospektiv bewusst bin, ist entscheidend, dass ich, indem ich die betreffenden Motive anerkenne, sie zu den für mich handlungswirksamen Gründen mache. 41 In der Sphäre der sogenannten ›Vernunftmotivation‹ ist Motiv das, was mich veranlasst, den vorgestellten Zweck eines Wollens wert zu schätzen und deshalb in bestimmter Weise tätig zu werden. Da es sich hierbei um eine Konzeption rationaler Motivation handelt, welche vorweg einen Bezug auf normative Gründe herstellt, liegt es nahe zu fragen, wie Husserls Verständnis des Verhältnisses von Motiven und Gründen im Kontext der gegenwärtigen Debatte um einen Internalismus oder Externalismus der Gründe zu verorten ist. Nach Obigem sind Motive nicht psychische Ursachen, sondern Bestandteil einer formal-teleologischen – d. i. nicht auf bestimmte Zwecksetzungen, sondern auf die Zweckstruktur als solche abzielenden – intentionalen Handlungserklärung (wobei ›Erklärung‹ in einem weiten Sinn zu verstehen ist). 42 Die Erklärung eines Handelns durch Motive ergänzt nicht die Erklärung durch Gründe; sie erläutert vielmehr, was ›Erklärung‹ durch Gründe aus der Sicht des Akteurs bedeutet und etwas Relevantes beitragen zu können. Insofern bliebe auch hier die allgemeine Charakteristik des Wollens erhalten, nämlich die Intention auf einen aktiven Eingriff in die Welt. Für den vorliegenden Fall hieße das, die Verhinderung einer Änderung als Grenzfall der willentlichen Gestaltung meiner Umwelt zu verstehen. 41 Vgl. Peters (1958), 38: »The motive is the reason that is actually operative.« 42 Vgl. Schueler (2003) sowie die Beiträge von Schueler, Wilson, Mele und Sehon in Horn/Löhrer (2010). Ob das Verstehen von Handlungen mittels Rekurs auf Motive als ein eigener Typus von (z. B. teleologischen) Erklärungen zu verstehen ist, ist freilich nach wie vor umstritten – was auch ein Hinweis auf die unterschiedlichen Motivationsbegriffe ist, die in die entsprechenden Theorien Eingang finden. Vgl. Roy (2010), 25.
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erfordert. Begründetes Handeln ist, je nach der Art des Grundes, auf den rekurriert wird, richtiges, rationales oder gutes Handeln. Durch den Rekurs auf Gründe kommt eine normative, bewertende Dimension ins Spiel. Die Normativität eines Grundes ist – im Unterschied zur Kausalität einer Ursache – immer ›verliehen‹. Das impliziert: Normativität lässt Spielraum für die Differenz Anerkennung/Verwerfung, was praktische Irrationalität in Gestalt von Willensschwäche, Selbsttäuschung u. dgl. überhaupt erst möglich macht. 43 Das Verhältnis von Grund und Handlung ist nicht als ein bloßes Reagieren auf gegebene Zustände und Tatsachen zu begreifen; 44 es ist vielmehr als ein Ratifizieren, Integrieren und Identifizieren zu fassen: Ich handle aus diesem Grund, indem ich den Grund zu einem Teil dessen mache, was ich bin bzw. als was ich mich selber sehe und wertschätze. 45 Ist das der Fall, so sind die Gründe, die in einer gegebenen Situation zugunsten einer bestimmten Handlung sprechen, meine Gründe – und als solche motivieren sie mich. Somit können wir sagen: Die Motive einer Handlung sind deren Gründe, sofern diese unter einer bestimmten personalen Beschreibung reflektiert werden. 46 Über Motive sprechen heißt über Gründe sprechen, die bei gegebener Bindung an spezifische praktische Aus Gründen handeln kann ich zwar habituell, insofern ich es mir zur Maxime machen kann, den besten jeweils verfügbaren Gründen zu folgen, aber nicht automatisch im Sinne eines notwendigen Zusammenhanges von Grund und Handlung, welcher die pro- oder contra-Stellungnahme eliminierte. 44 Vgl. Bittner (2005), 104. 45 Auch wenn wir hier auf diesen Aspekt nicht eingehen können, sei doch darauf hingewiesen, dass nach Husserls Verständnis Gründe qua intersubjektiver Teilbarkeit intentionaler Gehalte nie bloß private Gründe in dem Sinn sein können, dass sie prinzipiell nur einem Subjekt zugänglich wären. Vgl. Rinofner-Kreidl (2000), 594–602. Darüber, ob bestimmte Gründe de facto von anderen geteilt werden oder wie zugunsten der Forderung argumentiert werden könnte, dass sie von anderen geteilt werden sollen, ist damit noch nichts gesagt. Es ist natürlich damit zu rechnen, dass die Genese individueller Selbstentwürfe soziale Prozesse der (sprachlichen und nichtsprachlichen) Akkordierung von Wertorientierungen einschließt. Insofern enthält die obige Formulierung ›als was ich mich selber sehe und wertschätze‹ ebenso die Perspektive ›als was ich von anderen gesehen und wertgeschätzt werden will‹. 46 Wie oben (Fn. 45) festgehalten, ist nicht davon auszugehen, dass personale Beschreibungen im Sinne der Phänomenologie notwendig allein die praktischen Interessen eines Subjekts repräsentierten. Zwar können wir uns hier nicht mit der Frage der plural action befassen. Dennoch ist zu vermerken, dass die vorliegende Beschreibung der Struktur von Motivationsbeziehungen nichts enthält, was die phänomenologische Analyse auf das Dogma of Motivational Autarchy festlegte, d. i. »the claim that in the last resort, only the individual’s own wishes, desires, projects, volitions, or whatever pro-attitudes 43
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Identitäten (sc. unter dem Gesichtspunkt dieser Bindungen) als handlungswirksam beschrieben werden. Das Verhältnis von Motiven und Gründen kann nur unter dem Primat des Begriffs der Person bzw. der praktischen Identität einer Person sinnvoll diskutiert und aufgeklärt werden. 47 So stellt sich das Problem Motive vs. Gründe im Rahmen einer volitionalistischen Konzeption der Motivation dar, wie Husserl sie avant la lettre, ohne diese Bezeichnung zu verwenden, in den Ideen II vertritt. 48 Eine solche volitionalistische Motivationstheorie hat eine klar internalismuskritische Ausrichtung – auch wenn wir dies mit dem Vorbehalt feststellen müssen, dass sich Husserls intentionale Handlungsanalyse nicht ohne Weiteres in die gängige Internalismus/ Externalismus-Terminologie einfügen lässt. Die Gründe dafür liegen sowohl in der Eigenart dieser Analyse als auch im uneinheitlichen und bemerkenswert vielschichtigen Gebrauch der Termini ›internalistisch‹ und ›externalistisch‹. 49 Gemäß Husserls Motivationstheorie ist der Zusammenhang von Grund und Motiv nicht internalistisch zu fassen, wenn ›internalistisch‹ meint, dass nur eine unabhängig von Gründen und unbeeinflussbar durch Gründe gegebene, ›natürliche‹ Wunschstruktur zum Handeln motivieren könnte. Husserl würde, im Gegenteil, folgenden Behauptungen zustimmen: i) Gegebene (›natürliche‹) Wünsche ›erzeugen‹ nicht eo ipso Gründe so-und-so zu handeln und sind als solche keine Gründe. ii) Wenn Gründe Motive für mich sind, dann können sie entsprechende Wünsche in mir hervorrufen (und tun dies häufig tatsächlich). 50 Motiv und Grund stehen einander nicht äußerlich gegenüber; sie sind nicht unabhängig voneinander, sondern über das praktische Selbstverständnis der handelnden Person im oben dargelegten Sinn verknüpft. 51 Der Schlüsselfaktor, der die Verhe or she might have are fit candidates to make own pro-attitudes.« (Schmid (2009), 15) Vgl. z. B. Hua XXXVII, 106 f. 47 Da die Motive im vorliegenden Zusammenhang nicht als psychische Ursachen verstanden sind, entspricht die oben vorgenommene bedingte Gleichsetzung von Gründen und Motiven nicht einer Psychologisierung des Normativen. Im Gegenteil: Husserl weist eine psychologische Begründung der Ethik auf Basis seiner Internalismuskritik zurück. Vgl. Hua XXXVII, 109. 48 Die maßgebliche aktuelle Variante eines volitionalistischen Motivationskonzeptes, welche Husserls Auffassung im Wesentlichen entspricht, findet sich in Wallace (2005). 49 Vgl. Finlay/Schroeder (2008). 50 Vgl. zu i) und ii) (»value-based reasons to have desires«) Parfit (1997), 128 f., 105. 51 Vgl. zur analogen Problemlage in Wallace’ Voluntarismus: Wallace (2005), 53.
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ortung der phänomenologischen Motivationstheorie in der Internalismus/Externalismus-Diskussion bestimmt, ist das, was wir oben ›Stellungnahme‹ oder ›Ratifizierung‹ genannt haben. 52 Gemäß der gegenwärtig gängigen Terminologie ist die vorliegende Konzeption als ›externalistisch‹ zu bezeichnen, weil sie das Wirksamwerden der normativen Kraft von Gründen nicht von einer bestimmten seelischen Naturausstattung des Akteurs (mit Wünschen, Trieben u. dgl.) abhängig macht. Aufgrund der Art und Weise, wie Husserl das Motivationsproblem an die praktische Identität des Akteurs rückbindet, müssen wir seinen Volitionalismus gleichwohl auch als externalismuskritisch verstehen, wenn ›Externalismus‹ meint, dass Gründe auch dann handlungswirksam sein können, wenn sie im strengen Sinn akteursneutral sind. 53 Dem würde Husserl nicht zustimmen. Dabei ist zu beachten, dass der Konnex zwischen Motiv und praktischer Identität in den Ideen II nur formal – als ein notwendiges Strukturmoment einer (Selbst-)Interpretation von Motivationen – hergestellt und nicht näher ausgeführt wird. Husserl würde in diesem Zusammenhang aber jedenfalls monieren, dass die Rede von ›akteursneutralen‹ oder ›akteursrelativen‹ Gründen solange mehrdeutig bzw. unklar bleibt, als nicht zwischen materialiter subjektrelativen Gründen und formaliter subjektbezogenen Gründen unterschieden wird. Der dieser Unterscheidung zugrunde liegende Gedanke ist: Nicht jeder Subjektbezug von Gründen, d. i. nicht jede Relation zwischen Gründen und Personen, enthält als solche bereits eine Relativierung der fraglichen Gründe im Sinne einer Geltungseinschränkung der normativen Kraft (des intentionalen Gehaltes) dieser Gründe auf einen individuellen Akteur oder eine soziale Gruppe. Im vorliegenden Zusammenhang bedeutet das: Der Bezug auf die praktische Identität des Akteurs, der im Hinblick auf das Verständnis der Motivation als unumgehbar (wenn auch realiter nicht jederzeit explizit vollzogen) behauptet wird, lässt per se noch offen, ob es sich um akteursneutrale oder akteursrelative Gründe hanVgl. Wallace (2005), 54: »Der Volitionalist behauptet, dass rationale Motivation eine Sache der Selbstbestimmung durch das Treffen einer Wahl oder Entscheidung ist, eine Sache der Ausübung eines grundlegenden, von den im voraus bestehenden Wünschen unabhängigen Vermögens zu bestimmen, was man tun wird. Dieses Vermögen ist unabhängig von den substantiellen Wünschen, die Internalisten als Bedingung dafür ansehen, dass überhaupt normative Gründe vorliegen können.« 53 Zur Diskussion akteursneutraler vs. akteursrelativer Gründe vgl. Ridge (2005) und Nagel (1992), 263–325. 52
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delt – sofern ›akteursneutral‹ hier in einem schwachen Sinn (›nicht relativ auf individuelle Akteure‹) verwendet wird. Ob das eine oder andere der Fall ist, hängt davon ab, wie der Begriff der praktischen Identität eingeführt wird. Das heißt: Eine genauere Aufklärung des Verhältnisses von Motiven und Gründen erforderte, sich damit zu befassen, wie – stark oder schwach, thick oder thin – der Begriff der praktischen Identität einzuführen und gemäß der so erfolgten Bestimmung auf dem Boden einer phänomenologischen Untersuchung zu rechtfertigen wäre. 54 Aus Sicht einer Phänomenologie des Bewusstseins, wie Husserl sie vor Augen hat, sind auch schwach akteursneutrale bzw. objektive Gründe unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Handlungswirksamkeit zu betrachten. Auch objektive Gründe sind nicht tout court akteursneutral. Sie müssen, um als Gründe wirksam zu sein, anerkannt sein, und zwar mit/in ihrem spezifischen Objektivitätsanspruch. Wenn wir ›akteursneutral‹ nicht als Ausschluss jeglicher Beziehung zu einem handelnden Subjekt verstehen, sondern als Bestandteil bzw. als Explikation des Sinngehaltes von ›Objektivität‹, dann sind auch akteursneutrale Gründe im phänomenologischen Untersuchungsfeld auffindbar. Es handelt sich um Gründe, die als nicht-individuell ›adressiert‹ aufgefasst werden, d. h. als nicht nur für mich gültig, sondern auch für andere, und eventuell für alle anderen. Auch mit Bezug auf das Verhältnis von Motiven und Gründen scheint es angebracht, an die methodischen Restriktionen der phänomenologischen Untersuchung zu erinnern. Wenn wir oben sagten, dass über Motive sprechen heiße über Gründe sprechen, die bei gegebener Bindung an spezifische praktische Identitäten handlungswirksam seien, dann ist damit – wie zur Vermeidung von Missverständnissen noch einmal zu betonen ist – nicht eine ›Reduktion‹ von Gründen auf Motive im Sinne eines notwendigen Angewiesenseins von Gründen auf von diesen unabhängig gegebene (›natürliche‹) Wünsche, Triebe u. dgl. vorgenommen. Ebenso ist mit Obigem nicht behauptet, dass es nur subjektive Gründe gäbe oder dass subjektive Gründe in geringerem Maße normativ (praktisch verbindlich) seien als objektive Gründe. Stattdessen gilt auf Basis der obigen Ausführungen: 1) Motiviertsein x zu tun, Hier münden die offenen Enden der Diskussion bei Husserl auch in das Umfeld eines gegenwärtig umstrittenen Vorschlages zum Verständnis der ›sources of normativity‹. Vgl. Korsgaard (1996).
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heißt nicht, einem Wunsch, Begehren, Trieb o. Ä. zu unterliegen; es heißt, etwas als für mich relevanten (subjektiven oder objektiven) Grund zu x-en anerkennen. 2) Subjektive und objektive Gründe bedürfen der Anerkennung, um handlungswirksam zu sein. In beiden Fällen erfordert der Gründe-Status, dass die Akteure sich mit dem identifizieren, d. i. sich das ›zu eigen machen‹, was der fragliche Grund zu denken oder zu tun auffordert. Dass ich u. U. einen nur subjektiven Grund habe x zu tun (z. B. meinen Sohn liebevoll zu umsorgen), heißt nicht, dass ich nicht die Option hätte, x zu unterlassen. Wenn das fragliche x-en überhaupt eine zurechenbare Handlung ist, und nicht z. B. ein bloßes Instinktverhalten, dann muss es mir freistehen, den ihr zugrunde liegenden Grund anzuerkennen oder nicht anzuerkennen. Darüber hinaus muss es jedem anderen Subjekt, in dessen Lebensraum x-en auch eine praktische Möglichkeit darstellt, ebenso offen stehen, aus demselben subjektiven Grund zu x-en wie ich. (In diesem Sinn gilt: Auch subjektive Gründe gibt es nur im Licht objektiver Gründe.) Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Gründen betrifft die Art bzw. Reichweite der Verbindlichkeit, nicht aber das, was dem Verbundensein als solchem zugrunde liegt, d. i. die normative Kraft von Gründen. Auch subjektive Gründe sind in diesem Sinn Gründe: Wenn wir etwas überhaupt als Grund anerkennen, dann gestehen wir damit auch zu, dass dieser Grund als solcher motivieren kann. Gründe haben motivierende Kraft, weil sie Gründe – und als solche in ihrer Verbindlichkeit einsichtig, wenn auch nicht in jedem Fall de facto eingesehen – sind. 55 Sie sind nicht deshalb Gründe, weil sie (unter günstigen Umständen) im Stande sind zu motivieren. Nicht nur objektive Gründe, auch subjektive Gründe werden so aufgefasst, dass es Bestandteil ihres intentionalen Gehaltes ist, dass ihre Verbindlichkeit nicht zufällig ist: nicht von ihrer (durchschnittlich erwartbaren) faktischen Anerkennung abhängt. Letzteres zu behaupten, entspräche einer Reduktion von Normativität auf Faktizität. 3) Die ›Existenz‹ eines im starken Sinn akteursneutralen Grundes, d. i. eines Grundes (und ebenso: eines Wertes) als unabhängig von jedem Bezug auf ein urteilendes und handelndes (bzw. wertendes) Subjekt, beweisen oder zugunsten einer solchen Annahme argumentieren zu wollen, ist im Rahmen von Husserls Intentionalanalyse ausgeschlossen (wie ebenso diesbezügliche Nichtexistenzthesen). Im Rahmen dieser Analyse kann lediglich untersucht wer55
Vgl. Nagel (1998), v. a. die Kapitel 5, 7 und 10. A
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den, was es für ein beliebiges Subjekt, welches mit Bewusstsein wie wir es kennen ausgestattet ist, bedeutet, nach (subjektiven oder objektiven) Gründen zu handeln, motiviert zu sein, Entscheidungen zu treffen etc. Ursachen vs. Motive: Was ›erklärt‹ der Rekurs auf Motive? Es entspricht Husserls volitionalistischer Auffassung von Motivation, die Konzepte Motiv und Person als (semantisch) untrennbar zu setzen. Das Handeln konkreter Personen ist in seiner Motivation verständlich, sofern es sich in einem Kontinuum zwischen zwei Extremen bewegt, die wir einerseits als maximale Unbestimmtheit und andererseits als radikalen Ausschluss praktischer Identität markieren können. Der erste Fall liegt vor, wenn von nur möglichen Motiven als Gegenstand einer reinen Gedankenspekulation gehandelt wird, die einen abstrakten Akteur fingiert, für den alle Optionen gleich ›nah‹ oder ›fern‹ sind. ›Möglichkeit‹ eines Motivs wird hier nicht im Sinne der mehr oder weniger großen Chance auf tatsächliche Zustimmung von Seiten des Akteurs verstanden, sondern als bloße Denkbarkeit (conceivability). 56 Der zweite Fall ist gegeben, wenn menschliches Handeln als Resultat faktischer Triebtendenzen aufgefasst wird. Dadurch wird der Spielraum von Anerkennung/Verwerfung (›Stellungnahme‹) beseitigt, während er im Fall der bloßen Denkbarkeit von Motiven derart erweitert wird, dass der Verweis auf mögliche Motive keinerlei Erklärungswert mit Bezug auf ein konkretes Handeln besitzt. Das Handeln eines in diesem Sinn ungebundenen Akteurs wäre in nahezu beliebiger Weise interpretierbar. Im Gegensatz dazu schließt der Grenzfall eines rein triebgesteuerten Verhaltens jegliche Interpretation aus und erscheint insofern als ›sinnlos‹. Unter der Bedingung, dass Motive eine anerkennende Stellungnahme von Seiten des Handelnden verlangen, um zu echten, wirksamen Motiven zu werden, schließen einander die Motiviertheit meines Wollens und seine Freiheit nicht aus (vgl. Hua IV, 269). 57 Ebenso macht das Vorhandensein natürlicher Antriebe oder Anreize ein freies Vgl. die Unterscheidung von logischer Möglichkeit, doxologischer Möglichkeit (sc. Phantasiemöglichkeit für irgendeinen abstrakt gedachten Akteur) und praktischer Möglichkeit des Könnens: Hua IV, 257–265, 327–332. 57 Von daher versteht sich eine andere Frage, die für eine phänomenologische Theorie der Handlung von grundlegendem Interesse ist: Wie müssen wir die handelnde Person verstehen, um ihr sowohl Willensfreiheit als auch ein jederzeit motivational bestimmtes 56
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Entscheiden nicht unmöglich, wenngleich unsere natürliche Ausstattung zu den realen Bedingungen gehört, unter welchen ein Entscheiden allein stattfinden kann. 58 In einer zu Husserls Zeit gängigen Terminologie können wir sagen: Antriebe und Motive inklinieren, sie nezessitieren aber nicht. Sie machen nicht einen bestimmten Ausgang unserer Wahl notwendig. Motive bestimmen uns nur insofern, als wir uns von ihnen bestimmen lassen, indem wir ihnen unsere Zustimmung geben. Die Art und Weise des ›Inklinierens‹, und damit die Funktion von Motiven im Zusammenhang intentionalen Bewusstseins, wie auch die Reichweite motivationaler Zusammenhänge genauer zu beschreiben, ist das zentrale Anliegen einer Phänomenologie der Motivation. Im Gegensatz zum oben charakterisierten intentionalen Zusammenhang von Motiv und Wollenszweck ist der Zusammenhang von Ursache und Wirkung ein Kausalzusammenhang, der von mir nicht als solcher erkannt oder auch nur implizit (passiv) bewusst sein muss. Dass ich mir im Vollzug meiner Bewegung fraglos dessen bewusst bin, warum ich soeben die Hand gehoben habe – nämlich: um einem Freund von weitem zuzuwinken –, schließt nicht ein, dass ich die physiologischen Ursachen dieser Handbewegung kenne oder dass ich sie kennen müsste, um mein eigenes Tun zu verstehen (vgl. Hua IV, 259 f.). Kennt ein anderer die fraglichen Ursachen – weil er etwa gerade die Aufzeichnung meiner Gehirnströme auf einem Bildschirm verfolgt –, so bedeutet dies nicht, dass ihm meine Handlung im Sinne ihrer Motivation verständlich wäre. Meine Handlung bildet sich in den beobachteten Gehirnstromsequenzen überhaupt nicht ab. Die auf die Motivation
(›gebundenes‹) Handeln zusprechen zu können? Vgl. Hua IV, 213 (das passive Ich der Tendenzen vs. das aktive, Stellung nehmende Ich der Freiheit), 230, 255–257. 58 Vgl. Keller (1954), 241: »Die Antriebe gehen in der Weise in die Motivation ein und sie haben insoweit Motivfunktion, als sie ihren Ausdruck und Niederschlag in der entsprechenden Akzentuierung eines inhaltlichen Zieles finden. Als ›Kräfte‹ selbst aber sind sie unbewußt, d. h. schlechthin erlebnistranszendent, und insoweit sind sie auch nicht Motive, sondern nur ›Triebkräfte‹ und haben als solche auch nur kausal fundierende Funktion. Sie wirken sich indessen stets gerade just als solche Triebkräfte auf die Motivation aus, indem nämlich eben sie – direkt oder indirekt – den Bereich bestimmen, aus dem überhaupt die möglichen Ziele und die Bestimmungsgründe für ein Wollen aufscheinen.« Vgl. ebd., 67–76 und 137–202. Zum Problem des Triebes vgl. Bernet (2005); zur passiven Motivation in Husserls denkerischer Entwicklung vgl. Bejarano (2006), 180–252. A
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einer Handlung abzielende Warum-Frage ist von der Warum-Frage zu unterscheiden, die auf die Verursachung einer Bewegung abzielt. Aber die physiologischen Prozesse in den Sinnesorganen, in Nerven- und Ganglienzellen motivieren mich nicht, wenn sie das Auftreten von Empfindungsdaten, Auffassungen, psychischen Erlebnissen in meinem Bewußtsein psychophysisch bedingen. Was ich nicht »weiß«, was in meinem Erleben, meinem Vorstellen, Denken, Tun mir nicht als vorgestellt, als wahrgenommen, erinnert, gedacht etc. gegenübersteht, »bestimmt« mich nicht geistig. Und was nicht in meinem Erleben, sei es auch unbeachtet oder implizite intentional beschlossen ist, motiviert mich nicht, auch nicht in unbewußter Weise. (Hua IV, 231) 59
Dass bestimmte, real existierende (z. B. physiologische) Ereignisse in dem Organismus, den ich als meinen identifiziere, bestimmte Wirkungen hervorrufen, trägt nichts zum Sinnverständnis dessen bei, was ich denke und tue. Im Rahmen der von Husserl als selbstverständlich genommenen Gesetzesauffassung der Kausalität können wir die hier relevante Differenz von Ursachen und Motiven wie folgt benennen 60: Während Ursachen, sofern eine hinreichende Ursachenmenge gegeben ist, eine bestimmte Wirkung mit gesetzmäßiger Notwendigkeit hervorbringen, gilt dies nicht für Motive, die keine Naturgegebenheiten darstellen, sondern Bestandteil der Sinninterpretation von Handlungen sind. Dient als Grundlage der Motivation die Vorstellung eines Handlungszweckes, d. i. die Vorstellung von etwas, das noch nicht wirklich, sondern erst zu verwirklichen ist, so können Motive nicht als Ursachen fungieren. Denn Ursachen müssen wirklich sein, um wirken zu können. 61 Anders im Fall von Motiven: Wenn das Motiv Motiv Vgl. Hua IV, 189, wo Husserl darauf hinweist, dass der Begriff Reiz »einen fundamental neuen Sinn gewinnt«, sobald wir nicht mehr in Kausalverhältnissen denken, sondern in intentionalen Beziehungen, d. i. in Motivationsbeziehungen. Kausal verstanden gehen Reize von physischen Naturobjekten aus und rufen in Sinnesnerven physische Erregungen hervor. Motivational verstanden gehen von intentionalen (z. B. sinnlich erfahrenen oder gedachten) Gegenständen mehr oder weniger starke Tendenzen aus, auf die ein personales Subjekt antwortet, indem es ihnen nachgibt oder widersteht. Vgl. Hua IV, 192, 219 f., 259. Vgl. Scheler (1954), 173. 60 Zur Zurückweisung der Gesetzesauffassung der Kausalität zugunsten einer alternativen Konzeption (kontrafaktisch verstandene Ereigniskausalität) vgl. Keil (2000). 61 Vgl. Pfänder (1963), 90: »[D]er Zweck [kann] nicht als Ursache des Strebens nach dem Zweck bezeichnet werden […]. Der Zweck ist, solange das Streben danach dauert, noch nicht verwirklicht, kann also als etwas, das noch nicht existiert, nicht das jetzt existierende Streben verursachen. Es können überhaupt Ursachen des Strebens nicht 59
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einer bestimmten Handlung sein soll, dann kann es die Handlung nicht erklären, sondern setzt die Handlung – genauer: die in der Vorstellung antizipierte Verwirklichung derselben – bereits voraus. Sollte das Motiv eine erklärende Funktion übernehmen, resultierte also eine zirkuläre Struktur. Geben wir allerdings die Erwartung einer Erklärungsfunktion auf, so verschwindet das Problem, wie ein Motiv etwas erklären können sollte, das seinerseits vorausgesetzt werden muss, um das Motiv als solches identifizieren und verstehen zu können. Dies weist uns auch auf einen wichtigen Umstand hin, nämlich darauf, dass die Situationen, in denen wir überhaupt nach Motiven fragen, vorzugsweise Rechtfertigungssituationen sind, in denen das fragliche Handeln von einer stillschweigend als gültig anerkannten Norm oder Erwartung abweicht und insofern Irritation, Verunsicherung und Zweifel hervorruft. 62 Nach Motiven fragen wir insbesondere im Kontext nachträglicher Sinninterpretationen von Handlungen, die sich durch eine gewisse Auffälligkeit auszeichnen. Wie ist vor diesem Hintergrund die Rolle von Motiven im menschlichen Handeln zu bestimmen? Nicht das Motiv erklärt die erst zu realisierende Handlung, indem es diese verursachte, sondern, umgekehrt: Die (Reflexion auf die) schon erfolgte Handlung ›erklärt‹ das Motiv insofern, als uns erst die Frage nach dem Motiv dahin führt, die Handlung in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und in diesem nach plausiblen Deutungen zu suchen, z. B. indem wir eine auf den ersten Blick unverständliche Handlung vor dem Hintergrund unserer Kenntnis des Charakters der handelnden Person und der Schicksalsschläge, welche diese erfahren hat, neu interpretieren und bewerten. 63 Mit anderen Worten: Um
zugleich Zwecke des Strebens sein. Denn Ursachen für ein vorhandenes Streben müssen immer schon verwirklicht sein, während Zweck immer etwas ist, das noch erst wirklich werden soll.« 62 Vgl. Peters (1958), 29–35. 63 Vgl. Hua IV, 222: »[W]ie komme ich darauf, was hat mich dazu gebracht? Daß man so fragen kann, charakterisiert alle Motivationen überhaupt. Die ›Motive‹ sind oft tief verborgen, aber durch ›Psychoanalyse‹ zu tage zu fördern.« Vgl. ebd., 228 f. (›Einfühlung in andere Personen als Verstehen ihrer Motivation‹), 270–275 (›Allgemeintypisches und Individualtypisches im Verstehen von Personen‹) und 268, wo Husserl andeutet, dass der Wert der Motivforschung und allen Handelns letztlich in der Selbsterkenntnis der Person liegen könnte. Vgl. Hua XIV, 18: »[…] dass sie sich selbst als individuelle Person in ebensolchen freien Akten (Axiosen, Stellungnahmen) kennenlernen kann als Einheitssubstrat von personalen Charaktereigenschaften.« A
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nach dem Motiv, d. i. dem praktischen Grund (vgl. Hua IV, 260), fragen zu können, muss ich schon wissen, welche (Art von) Handlung vollzogen wurde und diese im Lichte einer individuellen oder allgemeinen Typik auffassen. Was sich aus der Sicht der nachträglichen Rekonstruktion als ein (iterierter) Deutungsprozess darstellt, stellt sich aus der Sicht der handelnden Person, solange diese im Handeln begriffen ist, als ein Motivationsprozess dar. Entscheidend ist, dass Motive, wie oben erläutert, insofern nicht ›naturgegeben‹ sind, als sie mittels einer Stellungnahme des wollenden Subjekts ratifiziert werden müssen. Dabei können wir nicht voraussetzen, dass die so verstandene Motivation ein vor (oder spätestens mit) der eigentlichen Willensbildung bzw. -betätigung abgeschlossener Prozess ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass sich für die handelnde Person selbst erst mit dem tatsächlichen Entschluss, in bestimmter Weise handeln zu wollen, deutlicher abzeichnet, was die Motive sind, von denen sie sich in dieser Entscheidung hat bestimmen lassen. Wenn dies zutrifft, dann ist das freilich ein in der Sache selbst liegender Ansatzpunkt nicht nur für nachträgliche Rationalisierungen von Entscheidungen und Handlungen, sondern auch für Selbsttäuschungen. Beidem kann aus prinzipiellen Gründen, welche in der Natur von Motivationsbeziehungen liegen, nicht ein für allemal der Boden entzogen, sondern lediglich im Einzelfall durch fortgesetzte, genaue und disziplinierte Analyse begegnet werden. Eine philosophische Motivanalyse im obigen Sinn führt so zur Frage nach den realen Möglichkeiten und Grenzen der Selbsterkenntnis. Sofern unsere Handlungsanalyse auf Motivverstehen beruht, ist sie an Bedingungen der Aufrichtigkeit gebunden (›Gewissenserforschung‹), was nicht bedeutet, dass die Selbstauskunft des Akteurs als unhintergehbar und täuschungsimmun verstanden wird. Da sowohl die Konstitution des primären Untersuchungsgegenstandes – einer bestimmten Handlung – als auch die Untersuchung desselben interessegeleitet erfolgt, können wir festhalten: Nicht nur Entscheidungen sind keine rein kognitiven Vorgänge, auch die Analyse der Entscheidungen und ihrer Resultate (Handlungen) sind keine rein kognitiven Vorgänge. Dies ist letztlich darin begründet, dass der Zusammenhang von Motiv und Zweck (sc. Wollensziel) ein erlebter Sinnzusammenhang ist, in den die handelnde Person selbst involviert ist, den sie mithin nicht zum Zweck einer vollständigen Objektivierung von Motiven, welche als mögliche Motive für jede mögliche Person gefasst wären, 266
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auf Distanz stellen kann. 64 Die handelnde Person steht zu den Motiven ihres Handelns vielmehr in einem unaufhebbar dialektischen Verhältnis. 65 Dies äußert sich einerseits darin, dass Motivanalyse Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung sein kann. 66 Wenn Person und Motiv nicht voneinander unabhängige Momente darstellen, dann führt dies andererseits zu der Schwierigkeit, dass sich die Motivation einer vergangenen Handlung unter der Bedingung einer inzwischen erfolgten Veränderung der Person anders darstellt als zum Zeitpunkt der Handlung. ›Anders darstellt‹ meint dabei nicht nur, dass dieselben Motive anders bewertet werden, sondern dass mit Bezug auf die vergangene Handlung, die nun im Lichte des gegenwärtigen Selbstverständnisses des Akteurs interpretiert wird, andere Motive entdeckt werden. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass das jeweilige gegenwärtige Selbstverständnis zukunftsbezogene, projektive Anteile hat. Sofern wir Handlungen von Naturereignissen – und entsprechend Motive von Ursachen – unterscheiden, ist anzuerkennen, was sich uns eben als strukSofern Theorien personaler Identität nicht mit abstrakten, sondern mit motivational angereicherten Selbstkonzepten arbeiten, sind der Anwendung von Gedankenexperimenten – zumindest jener, die mit stark kontrafaktischen Annahmen arbeiten – engere Grenzen gezogen als dies mitunter angenommen wurde. Vgl. Wilkes (1988) und Gähde (2000), 197–201. 65 Vgl. Keller (1954), 83 ff., 96 f.; Sartre (1991), 97, 100 ff. Vgl. Waismann (1983), 106 f.: »Motive strömen durch uns, ziehen uns ein wenig mit, und verändern uns etwas. Je nachdem, ob wir uns diesem oder jenem Motiv zuneigen, sehen wir die Dinge unter einem verschiedenen Winkel, die Gewichtsverteilung ist eine andere, ja wir selbst sind nicht genau dieselben. Ein Motiv auf sich wirken lassen, heißt nicht bloß: es theoretisch betrachten. Die Fiktion ist die, zu meinen, ein Subjekt, den Betrachter festhalten zu können, der, während er ein Motiv nach dem anderen ins Auge faßt, selbst ganz unberührt bleibt. Aber die Motive sind ja ein Teil des Betrachters, sie gehören zu ihm, wir können ihn nicht deutlich von den Motiven unterscheiden. Ich kann nicht sagen: hier bin ich, hier sind meine Motive. Nein, die Sache geht tiefer: wenn wir lebhaft von einem Motiv ergriffen sind, so sind wir in einem etwas anderen Zustande, einem anderen ›seelischen Feld‹ : die Linien des Interesses nehmen einen anderen Verlauf, die Wünsche, Pläne, Aussichten, Erwartungen schließen sich in anderer Weise zusammen, die Möglichkeiten ergeben neue Konfigurationen, die Betonungen ändern sich, Perspektiven tauchen auf oder verschwinden. Jedes Motiv ist sozusagen ein Mittelpunkt, um den sich unsere momentanen Gedanken, Wünsche, Urteile, Neigungen gruppieren und zu einer Art Feld anordnen. Paradox ausgedrückt, der Wollende ist je nachdem, was er will, ein anderer.« Vgl. Hua IV, 266 ff. 66 Das ist ein Gedanke, mit dem alle jene vertraut sind, die sich mit psychoanalytischen Therapien befassen, die als solche freilich jenseits des Zugriffs einer Phänomenologie des Bewusstseins liegen. Vgl. Ziegler (2010). 64
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turelle Implikation der Motivationsbeziehung nahe gelegt hat: Wenn wir von Motiven sprechen, beziehen wir uns nicht auf eine unilineare, irreversible Zeitreihe; es muss vielmehr von einem Wechselspiel projektiver Selbstentwürfe und retrospektiver Selbstdeutungen ausgegangen werden, die in einem gegenwärtigen Zeitpunkt ›kulminieren‹. 67 Darin liegt eine weitere Eigentümlichkeit einer phänomenologischen Handlungstheorie im Unterschied zum mainstream der analytischen Handlungstheorie: Handlungen zu analysieren und die Frage nach der Konstitution von Personen in Handlungen aus methodischen oder anderen Gründen beiseite zu lassen oder zu marginalisieren – und damit die Verbindung von Handlungstheorie und Ethik zu unterminieren 68 –, stellt aus phänomenologischer Sicht eine willkürliche Phänomenbeschneidung dar. Wie in jüngerer Zeit eine (mehrheitlich an Aristoteles anschließende) Tugendethik deutlich in Erinnerung gerufen hat, ist es im Kontext praktischer Fragestellungen bezeichnenderweise viel schwieriger, wenn nicht gar unmöglich, eine solche Problembeschränkung vorzunehmen. 69 Diesbezüglich ist etwa auf das dialektische Verhältnis zwischen dem singulären, auf einzelne Entscheidungen und Handlungen bezogenen Zusprechen von Verantwortung und der Persönlichkeitsentwicklung im Sinne kognitiver Reife zu verweisen: einerseits ist letztere in ersterem vorausgesetzt, andererseits wird letztere durch erstere befördert und ermöglicht. Auf dieses prekäre Zusammenspiel weist etwa Donna Dickenson im Zusammenhang dilemmatischer Entscheidungssituationen mit Bezug auf den informed consent Minderjähriger hin: We need to guard against the corollary of distrusting any consent to testing given by an adolescent on the grounds that it ›really‹ represents pressure from his or her parents. If the young person’s values and identity seem reasonably coherent and secure, then a consent should be honoured – as should a
67 Während wir im vorliegenden Zusammenhang auf das Motivationskonzept der Ideen II abzielen und außer Acht lassen, dass der Kausalitätsbegriff (bei Husserl wie im allgemeinen) ebenso klärungsbedürftig ist (vgl. Fn. 60), müsste eine diesbezügliche Analyse u. a. der Frage nachgehen, inwiefern die Bezugnahme auf kausale Zusammenhänge und kausale Erklärungen ebenso interesseabhängig ist. Vgl. Zhok (2011), § 3 (Consciousness and causality) und Cobet (2003), 150–154. 68 Vgl. Spahn (1996), 48–52. 69 Vgl. z. B. in jüngerer Zeit die Debatte über (constitutive) moral luck: Statman (1993), Nelkin (2004).
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refusal. But identity comes only with making choices and having them honoured. 70
Um die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit richtig einschätzen zu können, müssen wir irgendwelche Annahmen bezüglich der praktischen Identität der handelnden Person immer schon unterstellen, obwohl sich allein durch die Zuschreibung von Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit eben diese Identität erst entwickeln kann. 71 Das Dilemma besteht darin, zwei Extreme zu vermeiden, nämlich weder durch kontrafaktische Zuschreibung von Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu überfordern noch durch eine diesbezüglich zu restriktive Vorgehensweise die reale Entwicklung dieser Fähigkeit zu behindern. Es ist die Idee einer in Entwicklung (oder Veränderung) befindlichen Autonomie, deren Anerkennung zum einen die praktische Lösung des Problems als eine lebensnahe, ›realistische‹ Gratwanderung im Einzelfall darstellen lässt und die zum anderen unverkennbar zum Risikogehalt praktischer Entscheidungen beiträgt. Inwiefern ist das geschilderte Dilemma aus dem Bereich der Medizinethik in unseren obigen Gedankengang übertragbar, welcher den ›Normalfall‹ einer Dialektik von Selbstentwurf und Selbstmanifestation in der Interpretation von Handlungsmotiven betrifft (ohne dass wir mit Bezug auf die fraglichen Handlungen von einer speziellen Risikosituation ausgingen)? In unserem Kontext geht es nicht um das Problem einer prozessual verstandenen Autonomie in der Zuschreibung von Verantwortung. Es geht um die mehr oder weniger stark veränderbare praktische Identität von autonomen, erwachsenen Akteuren, deren Kenntnisnahme zum einen das Verständnis der motivationalen ›Innensicht‹ von Handlungen überhaupt erst erschließt, zum anderen jedoch die verlässliche und konsensuale Identifikation und Beschreibung von Handlungen erschwert. Dies resultiert daraus, dass die obige Beschreibung der Motivationsstruktur das, was in der analytischen Handlungstheorie als ›AkDickenson (2003), 173, Herv. SR. Vgl. das Zweite Buch der Nikomachischen Ethik, wo Aristoteles die Frage aufwirft, wie wir Charaktertugenden erwerben können unter der Bedingung, dass diese weder von Natur gegeben sind noch gelehrt, d. h. durch theoretische Unterweisung erlangt werden können. Aristoteles’ Antwort lautet bekanntlich: Die Tugenden erwerben wir, indem wir sie betätigen, d. h. in tugendhafter Weise handeln. Dies birgt die Schwierigkeit in sich, wie wir gut werden können, ohne bereits gut zu sein. Analog im vorliegenden Fall: wie wir personale Identität oder eine spezifische praktische Identität entwickeln können, ohne über diese bereits zu verfügen. Vgl. Hua XXXVII, 254.
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kordeoneffekt‹ bezeichnet wird 72, in eine weiter ausgreifende zeitliche Dimension verlagert und dynamisiert. (Passive) Gegebenheit vs. (aktive) Stellungnahme: zur Komplexität einer phänomenologischen Sicht von Bewusstsein und Handeln Wenn unsere Ausführungen zutreffen, dann ist es notwendig, intentionale und kausale Beziehungen zu unterscheiden und den hermeneutisch-dialektischen Charakter einer ›Erklärung‹ durch Motive anzuerkennen, sofern damit auf die Relation von Motiv und Handlungs- bzw. Wollenszweck aus der Sicht einer individuellen Person (›Persönlichkeit‹) Bezug genommen wird. Gemäß dieser Sichtweise, welche eine in zeitlicher, motivationaler und selbstreferentieller Hinsicht komplexe Handlungsstruktur so zu bewahren sucht, wie sie sich im Tun und Lassen menschlicher Akteure niederschlägt, ist es ein fundamentaler Irrtum, wenn von deterministischer Seite immer wieder von einem ›Kampf der Motive‹ gesprochen wurde. Demnach müssten wir so entscheiden, wie es dem sich schließlich durchsetzenden, d. h. dem faktisch vorherrschenden stärksten Motiv entspräche. 73 Wenn jedoch tatsächlich zutrifft, dass wir so entscheiden müssen, dann können wir gar nicht entscheiden. Denn von einer ›Entscheidung‹ oder ›Wahl‹ kann nur dann gesprochen werden, wenn ein Spielraum des Anders-entscheiden-könnens vorausgesetzt wird. Wer mit dem Konzept des stärksten Motivs argumentiert, eliminiert die Dimension der Selbstgestaltung des Handelnden (Wahl der Zwecke; praktische Identität), setzt Motive mit Ursachen gleich und versteht Entscheidungsprozesse nach dem Vorbild eines Naturgeschehens, das sich ohne unser Zutun
Eine Handlung kann insofern auf ein Minimum zusammengedrängt oder weit auseinandergezogen werden, als ihre Beschreibung, so die Annahme, nahezu beliebig kleine oder große Ketten von Ereignissen umfassen kann. Vgl. Feinberg (1977), 204, 210. 73 In der jüngeren Debatte wurde diese Auffassung der Motivation als ›hydrauli(zisti)sche Wunschkonzeption‹ bezeichnet. Vgl. Wallace (2005), 45 ff. Vgl. Korsgaard (1996), 100: »From a third-person point of view, outside of the deliberative standpoint, it may look as if what happens when someone makes a choice is that the strongest of his conflicting desires wins. But that isn’t the way it is for you when you deliberate. When you deliberate, it is as if there were something over and above all of your desires, something which is you, and which chooses which desire to act on. This means that the principle or law by which you determine your actions is one that you regard as being expressive of yourself.« 72
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vollzieht. 74 Ein solches Geschehen, das wir quasi als unbeteiligte Zuschauer als in uns stattfindend beobachteten, könnten wir aber ebenso wenig als ›Entscheidung‹ bezeichnen wie wir bereit wären zu sagen, dass sich der Großglockner entschieden habe, eine Lawine abgehen zu lassen. Nur wenn wir die Rolle der Motive in Entscheidungsprozessen, in denen das Ich als aktives, Stellung nehmendes auftritt, im oben skizzierten Sinn als ein zustimmungsabhängiges Sich-Bestimmenlassen verstehen, können wir von motivierten, d. h. nicht willkürlichen, sondern begründeten Entscheidungen sprechen, ohne damit die Entscheidung als solche in ein Naturgeschehen zu verwandeln. Eine passive Nachgiebigkeit im »ich bewege« etc. ist ein subjektives Vonstattengehen, und frei heißt es nur, sofern es »zu meiner Freiheit gehört«, d. i. sofern es wie jedes subjektive Vonstattengehen inhibiert und vom Ich aus zentripetal wieder freigegeben werden kann; d. h. das Subjekt »billigt«, sagt zur Reizaufforderung als Aufforderung zum Nachgeben ja und gibt praktisch sein fiat. In Beziehung auf meine zentripetalen Ichakte habe ich das Bewußtsein des Ich kann. (Hua IV, 257)
Analoges gilt für den Fall der Zurückweisung der Reizaufforderung. Entscheidend ist nicht, ob der Reizaufforderung nachgegeben wird oder nicht, sondern dass beides eines fiat von Seiten des Subjekts bedarf. Nur dann jedenfalls, wenn ein solches fiat vorliegt, handelt es sich um eine freie Ichtätigkeit. 75 Dass auf gegebene Anreize vom Standpunkt höherer kognitiver Leistungen ›respondiert‹ wird, ist unbestreitZur notwendigen Präzisierung der Rede vom ›stärksten Motiv‹ und zum breakdown of the physical-psychological analogy (u. a. infolge des Umstandes, dass wir zwar mit Bezug auf physische Ursachen von der Gesamtwirkung einer Ursachenmenge sprechen können, nicht ebenso aber bei Motiven, da die schwächeren Motive gar nicht als determinierende Faktoren der Entscheidung auftreten) vgl. Edwards (1967), 73–74. Im phänomenologischen Kontext bedarf die nähere Aufklärung des Topos ›Kampf der Motive‹ der Unterscheidung von höheren (z. B. Mitleid, Scham) und niederen Gefühlen (z. B. sinnlichen Erregungen) bzw. von Gefühlen im eigentlichen Sinn und sinnlichen Empfindungen. Nur mit Bezug auf niedere Gefühle kann davon gesprochen werden, dass das fühlende Subjekt »dem stärkst affizierenden passiven Gefühl nachgibt« (Hua XXXVII, 232), womit freilich keine Stellungnahme verbunden ist. 75 Vgl. Hua XIV, 20: »Im passiven Trieb zeigt sich nichts von der Individualität, so wie nicht im sinnlichen Lust- oder Schmerzgefühl. Dem Trieb steht gegenüber die praktische Stellungnahme; und die triebhafte Realisierung, die rein passive, ist keine Bekundung von Persönlichkeit, wohl aber das vom Ich her einer sinnlichen Triebpassivität Nachgeben (der Habitus der Nachgiebigkeit) oder ihm aktiv Widerstreben, besser, Widerstandleisten.« 74
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bar. Darüber hinaus ist freilich zu klären, wie die fraglichen Anreize selbst zu verstehen sind, wenn auf sie im Rahmen einer phänomenologischen Bewusstseinskonzeption Bezug genommen wird. Was bedeutet es zu sagen, dass Anreize, sofern sie phänomenologisch überhaupt ›appellabel‹ sind, nicht als objektive, von einem neutralen Beobachterstandpunkt aus ermittelte und quantitativ bestimmbare Fakten in Betracht kommen, sondern als integrale Bestandteile von Bewusstsein? Folgen wir Husserls Devise, dass Bewusstsein, wenn es sich durch Intentionalität auszeichnet, durch und durch Bewusstsein ist, dann müssen wir sagen: Es ist nicht der Fall, dass Anreize, Empfindungen u. dgl. zuerst als neutrale ›Affektoren‹ auftreten, die dann in bewusstseinsimmanente Prozesse der Informationsverarbeitung, Adaption etc. eintreten. Vielmehr ist schon auf dieser elementaren Stufe mit den Syntheseleistungen von Bewusstsein als einem Funktionsganzen zu rechnen. Das heißt z. B., dass höherstufige, kognitive Interessen eine objektiv mögliche bzw. aufdringliche Affektion verhindern können. 76 So kann ich etwa von der Lektüre eines Buches oder der Niederschrift eines Gedankens derart gefesselt sein, dass ich nicht bemerke, dass es an der Tür geläutet hat. Unter phänomenologischen Gesichtspunkten können wir nicht davon ausgehen, dass Bewusstsein auf seiner ›primitivsten‹ Stufe ein bloßes Naturding ist, das erst durch das Hinzutreten höherer Funktionen – sogenannter Ichaktivitäten – in ein geistiges Gebilde transformiert wird. Bewusstsein tritt vielmehr in allen seinen Ausprägungen als ein mehr oder weniger komplexer Sinnbildungsprozess auf und ist in diesem Sinne ›immer schon‹ ein Humanum. 77 Auf der Grundlage seiner um die 1920er Jahre einsetzenden genetischen Untersuchungen ist für Husserl klar, dass Aktivität (StellungZur näheren Explikation und zur Verankerung in Husserls frühen Studien zur Aufmerksamkeit (1904/05) wie auch in seinen späteren genetischen Untersuchungen vgl. Wehrle (2010), v. a. die Abschnitte 5 u. 6. 77 Mit dieser These eröffnet sich freilich ein weites Feld theoretisch subtiler wie ebenso lebenspraktisch dringlicher Probleme. Was bedeutet die obige Zurückweisung elementarer Bewusstseinsschichten als bloß ›naturhaft‹ etwa im Hinblick auf genetisch frühe Entwicklungsstadien von Bewusstsein (z. B. bei Neugeborenen) oder mit Bezug auf pathologische Fälle? Verwandelt sich ein progredient an Alzheimer Erkrankter Schritt für Schritt in ein sinnleeres Naturding? Tendiert eine phänomenologische Bewusstseinskonzeption, sofern sie die Naturding-Auffassung zurückweist, dazu, mit Bezug auf noch nicht bzw. nicht mehr voll Bewusstseinsfähige mit dem Status eines potentiellen Personseins zu argumentieren, dessen anschauliche Ausweisung zumindest klärungsbedürftig scheint? 76
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nahme, ›freie Ichtätigkeit‹) und Passivität (Affiziertsein) nicht als reine Gegenpole zu fassen und nicht im Sinne einer Zuordnung zu den höheren, kognitiven (›aktiven‹) bzw. niederen, sinnlich-rezeptiven (›passiven‹) Bewusstseinsleistungen zu vereindeutigen sind. Eine der relevanten Mischformen wäre etwa: aufgrund von habituellen Einstellungen motiviert sein, x zu tun. In diesem Fall liegt qua Habitualisierung keine aktuelle Stellungnahme vor, der Einstellungsbezug bedingt jedoch, dass eine Stellungnahme zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben bzw. mindestens ›abrufbar‹ sein muss. Andernfalls müssten Einstellungen als gegebene Natur der Person betrachtet werden, die sich deren Zugriff prinzipiell entzöge. Sowohl unser diesbezügliches Erfahrungswissen als auch die Semantik von ›Einstellungen‹ verweisen jedoch klar auf die Annahme der Optionalität und Änderbarkeit von Einstellungen. Habitualisierte Motivationen – deren reales Vorkommen Ausdruck dessen ist, dass ein Großteil unserer Alltagshandlungen nicht überlegungs- und entscheidungsbasiert vollzogen wird – gehören, so können wir annehmen, zu »jene[r] Passivität des Sich-tuendFortziehenlassens, die wir der im ausgezeichneten Sinne freien Aktivität gegenüberstellen mögen« (Hua XXXIX, 367). Eine Phänomenologie des Bewusstseins bzw. des Handelns muss die Termini ›Aktivität‹ und ›Passivität‹ in differenzierter Weise gebrauchen, um gegebenen Mischformen deskriptiv gerecht zu werden: Es gibt Passivität in der Aktivität (›sekundäre Passivität‹ bzw. ›sekundäre Sinnlichkeit‹, z. B. die Habitualisierung von Absichten und Einstellungen) wie auch Aktivität in der Passivität (z. B. eine durch vorherrschende geistige Interessen bedingte stark selektive oder in ihrer Intensität geminderte Reizaffektion). 78 Wenn Intentionalität das Wesen von Bewusstsein ist und dessen Leistungen nicht ohne Rekurs auf die Erfahrungsgeschichte eines bewussten Subjekts zu beschreiben sind, dann hat dies Konsequenzen im Hinblick darauf, wie das Zusammenspiel von passiven und aktiven Bewusstseinsleistungen zu konzipieren ist – auch wenn dies mitunter zu Setzungen führt, die für Phänomenologinnen methodisch problematisch sind, weil sie Grenzfälle einer intuitiven Erfassung darstellen (was auf Anreize, Empfindungen u. dgl. sicherlich zutrifft). Dem Prinzip der Anschauung zu folgen, ohne sich dadurch zu naiven, unreflektierten Setzungen verleiten zu lassen, ist insofern nicht ein einmalig zu
78
Vgl. Hua IV, 11 f., 276 f., 280, 332–336. A
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leistendes Credo phänomenologischer Forschung. Es ist ein Gedanke, der unsere analytische Arbeit auf Dauer begleiten und irritieren sollte.
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I.
Einleitung in die Problemstellung
Wenn in gegenwärtigen Diskussionen über den Gültigkeitsbereich ethischer Theorien ein Streit zwischen Universalisten und Relativisten geführt wird, bleibt eine ähnliche, aus der Tradition der Transzendentalphilosophie stammende Gegenüberstellung meist unbeachtet, obwohl sie zur Differenzierung der Diskussionen beitragen kann – die Unterscheidung von Formalismus und Subjektivismus. »Formalismus« und »Subjektivismus« sind polarisierende Titel, deren Bedeutung für die Kennzeichnung von unterschiedlichen Ethiktypen zunächst sehr unklar ist. Husserl hätte sie wohl nicht zur Charakterisierung seiner eigenen Ethik, sondern nur zur polemischen Bezeichnung von anderen Ethiken verwendet. So etwa, wo er – und später Scheler noch klarer – der kantischen Ethik einen Formalismus vorwirft. Kants Ethik, so die Phänomenologen, sei formalistisch, weil sie das Gute allein durch das Kriterium der gesetzmäßigen Form des Willens zu bestimmen versuche. Kant vertrete damit einen »Formalismus«, was insofern als Vorwurf gilt, als eine Begründung der Ethik unzureichend bleibe, die nicht auch die Inhalte, d. h. die Materie des Willens bei einer ethischen Beurteilung berücksichtigt. 1 Auch das Label des »Subjektivismus« hätte Husserl zur Charakterisierung seiner eigenen Philosophie und Ethik als irreführend abgelehnt. Er verwendet es aber, um sich von Ethiken abzugrenzen, die behaupten, dass die Grundlage von moralischen Bewertungen und Einstellungen allein im Individuell-Subjektiven liege. Wenn dies geschehe, sei ein ethischer Relativismus unausweichlich, den Husserl immer Vgl. Hua XXVIII, 416 ff.; Hua XXXVII, 199, 235, 243, 245; Scheler (1966). Zu Husserls Kritik an der kantischen Ethik vgl. Crowell (2002), Cobet (2003), Peucker (2007) und Rinofner-Kreidl (2010).
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bekämpft hat. Einen solchen Subjektivismus und Relativismus wirft Husserl unterschiedlichen Positionen der Ethik vor, bei denen die Gründe für das Entstehen des Subjektivismus allerdings sehr verschieden sind. So vertrete etwa Max Stirner den »extremsten Subjektivismus«, weil er den Unterschied zwischen dem Vollzug des Wertens und dem Wert, – oder allgemeiner – zwischen den subjektiven Akten und den inhaltlichen Korrelaten dieser Akte missachte. 2 Dies habe zur Folge, dass die Subjekte oder Individuen gewissermaßen das einzig Reale seien und es ihnen auch immer nur um sich selbst gehen könne, was zu einem grenzenlosen Individualismus führe. Andere Formen des Subjektivismus können aus Theorien der sogenannten Gefühlsmoralisten resultieren, zu denen Husserl Shaftesbury und Hutcheson, aber auch David Hume und Adam Smith zählt. 3 Ungeachtet aller Unterschiede sind diese Theorien für Husserl subjektivistisch, weil sie den konstitutiven Ursprung von moralischen Bewertungen und Einstellungen im Gefühl von Subjekten lokalisieren, die sie als bloß faktische oder empirische konzipieren. Dies führe zu einem Relativismus, weil empirische Subjekte im Allgemeinen und Gefühle im Besonderen kontingenten Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten unterliegen, und sich mit den Methoden der Tatsachenwissenschaften auch keine geeignete Basis für die Begründung einer strikt allgemeingültigen Ethik finden lasse. Husserl argumentiert gegen diese beiden Formen des Subjektivismus mit phänomenologischen Mitteln: Gegen Stirners einseitige Subjektivierung des Wertens weist er auf den Unterschied zwischen dem subjektiven Werten und dem Werthaften als dessen Korrelat hin und gegen die empiristische Interpretation des Fühlens bei den Gefühlsmoralisten setzt er seine transzendental- und wesensphänomenologische Analyse des Fühlens, die im Fühlen Vernunftgesetzmäßigkeiten aufweist. Das Ziel dieser Kritik liegt dabei nicht nur darin, eine phänomengerechte Analyse des Wert- und Gefühlsbewusstseins vorzulegen, um damit unser Fühlen und Werten besser zu verstehen. Vielmehr will Husserl den Relativismus in der Ethik zurückweisen, indem er zeigt, dass es auch in der Ethik objektiv gültige Gesetzmäßigkeiten gibt. Deswegen bekämpft er den »ethischen Skeptizismus«, der ihm »als Gegen-
2 3
Hua XXXVII, 87–91. Vgl. Hua XXVIII, 384–402; Hua XXXVII, 148. A
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spieler einer wirklichen Ethik« 4 gilt und der in der Geschichte der Ethik immer wieder in verschiedenen Varianten vertreten wurde. 5 Gegen diesen aus dem Subjektivismus resultierenden Skeptizismus will Husserl das verteidigen, was er in seinen Ethikvorlesungen der zwanziger Jahre die »unbedingte Objektivität der Geltung des Ethischen« 6 nennt, und zu diesem Zweck dient ihm die Phänomenologie als Grundlegungsdisziplin. Während somit der Subjektivismus von Husserl kritisiert wird, weil er keine Begründung von allgemeingültigen moralischen Urteilen erlaubt, kritisiert er den Formalismus, weil dessen Begründung des Ethischen aus phänomenologischer Perspektive unzureichend bleibt. Trotz dieser Kritik zieht Husserl allerdings aus seiner Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Vertretern beider »Ismen« auch Einsichten, die er in seine eigene Ethik übernimmt. So stimmt er mit den Gefühlsmoralisten darin überein, dass für die sorgsame Untersuchung des Ursprungs von moralischen Bewertungen und Einstellungen auf die konstitutive Leistung des Gefühlsbewusstseins zurückzugehen ist, und dem vermeintlichen Formalismus Kants stimmt er darin zu, dass es strikt allgemeingültige ethische Sollensgesetze gibt, denen sich niemand entziehen kann. Somit lassen sich die eigentümliche Stellung der Husserl’schen Ethik zwischen Formalismus und Subjektivismus, sowie die sich daraus ergebenden systematischen Aufgaben folgendermaßen skizzieren. Husserls Ethik will sowohl den konstitutiven Anteil des Gefühls bei der Entstehung des Ethischen berücksichtigen, dabei aber relativistische Konsequenzen vermeiden, als auch allgemeingültige ethische Gesetzmäßigkeiten begründen, dabei aber nicht formalistisch argumentieren. Mit dieser Doppelaufgabe – Berücksichtigung der Konstitutionsleistungen des Gefühls ohne Subjektivismus einerseits, Rechtfertigung von strenger Allgemeingültigkeit ohne Formalismus andererseits – ist nicht nur die systematische Zielsetzung der Husserl’schen Ethik bestimmt, sondern auch ein theorieimmanenter Maßstab gewonnen, an dem sie gemessen werden kann. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Erfüllung dieser Doppelaufgabe ergeben, sind Husserl dabei so drastisch bewusst, dass er sie mit dem mythologischen 4 5 6
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Hua XXXVII, 39. Vgl. Ebd., 32. Ebd., 147.
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Husserls Ethik zwischen Formalismus und Subjektivismus
Bild einer Fahrt zwischen Scylla und Charybdis beschreibt. 7 Wie gelingt diese Fahrt bzw. die Bewältigung der Doppelaufgabe? Um einen Mittelweg zwischen den zu vermeidenden »Ismen« zu finden, gibt es in systematischer Hinsicht zwei Argumentationsweisen, die sich im Laufe der Entwicklung der Husserl’schen Ethik finden. In seiner frühen Ethik betont er den allgemeingültigen, formalen Charakter der Ethik und versucht, für diesen formalen Grund der Ethik mit der Phänomenologie auch einen subjektiven Ursprung zu finden. In seiner späteren Ethik dringt er dann tiefer in die subjektive Ursprungsdimension des moralischen Bewusstseins ein, ohne deswegen aber das Ziel einer streng allgemeingültigen Ethikbegründung aufgeben zu wollen. Im Folgenden werde ich beide Argumentationen vorstellen und kritisch fragen, ob Husserl dabei die Erfüllung der Doppelaufgabe gelingt.
II.
Die formale Ethik der frühen Jahre
1.
Die formalen Grundlagen der frühen Ethik
Husserls sogenannte frühe Ethik, die Ethik der Göttinger Jahre 8, ist von der Idee geprägt, dass sich die Ethik ähnlich wie die Logik aufbauen und begründen lasse. Husserl spricht daher von einer Analogie oder einem Parallelismus zwischen Logik und Ethik, der sich in ganz unterschiedlichen Bereichen zeige. Beide Disziplinen verfolgen für Husserl zuletzt praktische Zwecke, denn sie sollen uns Regeln geben, mit denen wir das Richtige, d. h. das Wahre im Bereich des Denkens und das Gute im Bereich des Handelns finden können. Dadurch, dass sie auf das Richtige, bzw. auf das Wahre und Gute ausgerichtet sind, sind sie für Husserl als Vernunftdisziplinen ausgezeichnet, denn diese Differenz zwischen dem Richtigen und Falschen finden wir ausschließlich dort, wo etwas zumindest in irgendeinem Sinne vernünftig ist. Husserl legt nun in seiner Logik und Ethik großen Wert darauf, dass die Begründung dieser angewandten oder praktischen Disziplinen (Kunstlehren) von rein theoretischen Disziplinen geleistet wird. Für die Logik als angewandte, d. h. auf das Forschen und Wahrheitssuchen 7 8
Vgl. Hua XXXVII, 132. Zur Entwicklung von Husserls Ethik vgl. Melle (1991), (2002). A
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in den Einzelwissenschaften bezogene Disziplin leistet diese Begründung die formale oder reine Logik. Entscheidend ist dabei, dass sie ihre wissenschaftsbegründende Funktion nur deswegen erfolgreich erfüllen kann, weil die Geltung ihrer Aussagen und Gesetze strikt notwendig und allgemeingültig, d. h. a priori ist. Dadurch unterscheidet sich die reine Logik von allen auf Empirisches bezogenen Wissenschaften, von denen Husserl sie auch dadurch abgrenzt, dass er sie als eine Idealwissenschaft bezeichnet. Sie bietet formale Gesetzmäßigkeiten, die sowohl für alle Einzelwissenschaften als auch für alles vernünftige Denken maßgeblich sind, weil ihre Missachtung die Erkenntnis von Wahrheit unmöglich macht. Diese Logikkonzeption, also der Gedanke, dass eine reine, apriorische Disziplin als Grundlage für das praktische Streben nach der Wahrheit in den Einzelwissenschaften fungiert, bildet den Leitfaden für den Aufbau von Husserls früher Ethik. Als Paralleldisziplinen zur reinen Logik fungieren dabei innerhalb der Ethik die sogenannte formale Axiologie und die formale Praktik. Ähnlich wie die reine Logik die formalen Begründungen und Gesetze des möglichen Wahrseins von Sätzen bestimmt, sollen diese Disziplinen festlegen, unter welchen Bedingungen unsere Wertungen und Handlungen richtig oder falsch sein können. Dabei soll die formale Axiologie die Gesetze möglichen richtigen Wertens und die formale Praktik die Gesetze möglicher guter Handlungen bestimmen. Beide zusammen umfassen damit die Grundlagen für den gesamten Bereich unserer praktischen Vollzüge und der Ethik. Allerdings hat die formale Axiologie für die Begründung der Ethik insofern eine herausragende Stellung, als das Werten, mit dessen Gesetzmäßigkeiten sie sich befasst, auch für das Wollen und Handeln als Thema der formalen Praktik ein Fundament bildet. Dies liegt daran, dass sich unser Wollen und Handeln nur auf das richten kann, was wir in einem konstitutionstheoretischen Sinne zunächst als etwas Positives bewertet haben – ein Zusammenhang, den Husserl auch so beschreibt, dass er das Wollen als einen im Werten fundierten Akt bezeichnet. Die Entdeckung der Parallelität von Logik und Ethik sowie die daraus folgende Entwicklung einer formalen Axiologie als Grundlagenwissenschaft für die gesamte Ethik betrachtete Husserl als seinen eigenständigen Beitrag zur Theorie und Geschichte der Ethik. 9 Ohne an dieser Stelle zu sehr in die Details gehen zu können, ist es deshalb 9
282
Vgl. Melle (1988b), XXIV.
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wichtig, Husserls Konzeption der formalen Axiologie zu skizzieren. 10 Ihr Gegenstandsgebiet sind die Werte und die formalen Gesetzmäßigkeiten, die zwischen ihnen bestehen. Sie zu untersuchen ist für die Ethik elementar, weil unsere Wertungen und die in ihnen fundierten Wollungen und Handlungen nur dann richtig sein können, wenn sie nicht die Wertgesetzmäßigkeiten verletzen, die im Gebiet der Wertsphäre herrschen. Diese Wertgesetzmäßigkeiten gelten ähnlich wie die formal-logischen Gesetze a priori und die sie untersuchende Wissenschaft – also die formale Axiologie – ist gemäß Husserl eine Idealwissenschaft. Mit der Betonung des idealen und apriorischen Charakters der Wertgesetzmäßigkeiten vertritt Husserl in der Ethik das, was er einen »Standpunkt des Objektivismus« und zugleich »Idealismus« nennt, den er gegen jeden Relativismus und Skeptizismus »durchkämpfen« will. 11 Sieht man näher hin, auf welche Gesetzmäßigkeiten sich dieser »axiologische Objektivismus« 12 stützt, trifft man auf Gesetze, deren Gültigkeit in der Tat nicht bezweifelt werden kann. Zuoberst ist da das sogenannte Gesetz vom ausgeschlossenen Vierten, demgemäß etwas hinsichtlich seines Wertcharakters entweder positiv-wertig, negativwertig oder neutral sein muss. 13 Weitere Wertgesetze sind mereologischer Art, so etwa das Summationsgesetz, nach dem die Summe von mehreren Werten stets höherwertig als die ihrer Teilglieder ist, oder das Gesetz, nach dem die Wertsumme durch die Hinzufügung eines Adiaphoron, d. h. eines Wertneutralen, nicht vermehrt oder vermindert wird. 14 Weitere Gesetze regeln die Hierarchie zwischen den Werten in Hinsicht auf die Zusammensetzung und Dauer des Werthaften. 15 Alle diese Gesetze, die im Übrigen bereits ansatzweise in Brentanos Schrift Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis (1889) formuliert sind, 16 haben formalen Charakter. Das gilt auch für die Gesetze des Vorziehens, die sich mit unseren Möglichkeiten zur Realisierung des Werthaften in unserem Wollen und Handeln befassen. So ist es »rich10 11 12 13 14 15 16
Vgl. hierzu auch Roth (1960), 77 ff. Vgl. Hua XXVIII, 89. Vgl. Melle (1988b), XXX. Vgl. Hua XXVIII, 86 ff. Vgl. ebd., 93. Vgl. ebd., 97 ff. Vgl. Brentano (1955), 24–28. A
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tig«, und in diesem Sinne »vernünftig«, wenn wir in einer Situation, in der wir zwischen der Realisierung mehrerer Werte wählen können, in unserem Wollen und Handeln das vorziehen, was im Sinne der formalen Axiologie höherwertig ist. Somit unterliegt auch das richtige Wollen und Handeln Gesetzen, die von denen der formalen Axiologie abhängen. Richtiges Wollen und Handeln ist nämlich immer auf die Realisierung dessen gerichtet, was den höchsten Wert hat. Gleichwohl formuliert Husserl im Rahmen seiner formalen Praktik als der Lehre von den Gesetzen des richtigen Wollens und Handelns auch Gesetze, die sich nicht auf die Gesetze der formalen Wertlehre reduzieren lassen. Das oberste Handlungsgesetz aus der formalen Praktik ist dabei ein Satz, den Husserl als »kategorischen Imperativ« begreift: »Tue das Beste unter dem Erreichbaren« 17. Dieser Imperativ hat zwar insofern nur eine eingeschränkte Gültigkeit, als er auf die in der Handlungssituation gegebene Anzahl von realisierbaren Alternativen beschränkt ist, aber er gebietet doch kategorisch, in dieser Situation der Wahl stets das »Beste« zu realisieren. 18 Durch den in ihm formulierten Sollensanspruch (Imperativ) geht er im Übrigen über das Gebiet der formalen Axiologie hinaus. Obwohl es Husserl mit der formalen Axiologie und Praktik gelingt, strikt allgemeingültige Gesetze für unser Werten und Handeln aufzustellen, weist er auch auf die systematischen Grenzen dieser Disziplinen für den Aufbau der Ethik hin. Diese Grenzen ergeben sich aus der Formalität der Gesetze dieser Disziplinen, die es zwar einerseits erlaubt, apriorische oder ideale Geltung zu gewährleisten, die sich aber andererseits als unzureichend erweist, wenn es im Konkreten darum geht zu bestimmen, was denn eigentlich eine richtige Wertung oder eine gute Handlung ist. Denn ebenso wenig wie uns die formale Logik dabei helfen kann zu entscheiden, welche formal richtig gebildeten Urteile auch inhaltlich oder material wahr sind, hilft die formale Axiologie oder die formale Praktik zu entscheiden, welche Wertung bzw. Handlung sachlich richtig bzw. gut ist: Was gut ist, das kann formaliter nicht entschieden werden, ebensowenig wie, was wahr ist, durch die bloß formale Logik. (Hua XXVIII, 137)
Hua XXVIII, 221. Vgl. ebd., 142. Zum Vergleich der Imperative von Husserl und Kant vgl. Cobet (2003) und RinofnerKreidl (2010).
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Die formalen Disziplinen können uns nämlich mit anderen Worten nur die notwendigen, aber nicht die hinreichenden Bedingungen für die Wahrheit eines Urteils, die Richtigkeit einer Wertung bzw. einer Handlung angeben. Was darüber hinaus für die Ethik erforderlich ist, sind inhaltliche oder materiale Kriterien, mit denen wir bestimmen können, welcher von den zur Wahl stehenden Werten denn eigentlich wirklich der »höhere«, bzw. welches von den in einer Handlungssituation erreichbaren Gütern tatsächlich das »Beste« ist. Husserls kategorischer Imperativ bleibt ohne zusätzliche Kriterien dafür, was das Beste eigentlich inhaltlich auszeichnet, ebenso formal wie der von Kant. Weil Husserl sich dieses Problems bewusst ist, konzipiert er seine formale Axiologie und Praktik aber auch nur als die erste Stufe im Aufbau der Ethik, der weitere folgen müssen. 19 Anders als Kants Ethik, die das Gute allein auf der Basis eines einzigen formalen Prinzips glaubt bestimmen zu können – dem kategorischen Imperativ –, betont Husserl, dass für den Aufbau der Ethik auch materiale Prinzipien erforderlich sind. Sie sollen im Rahmen einer materialen Wertlehre entwickelt werden, die uns inhaltliche Kriterien darüber geben müsste, in welchem Hierarchieverhältnis einzelne Werte oder Wertgebiete zueinander stehen. Max Scheler hat eine solche materiale Wertlehre entwickelt und darin sowohl Kriterien zur Bestimmung der »Höhe« eines Wertes als auch eine Werthierarchie aufgestellt, die von den sinnlichen über die sogenannten vitalen zu den geistigen und schließlich den religiösen Werten führt. 20 In Husserls Ethik findet sich dagegen zwar die Forderung nach einer Untersuchung des materialen Apriori des Wertgebiets, aber keine systematische Ausarbeitung einer solchen materialen Axiologie. 21 Deswegen kann man sagen, dass das, was von Husserls früher Ethik tatsächlich vorliegt, formalistisch bleibt, obwohl diese Ethik konzeptionell sicher nicht formalistisch angelegt ist, da sich Husserl von Anfang an darüber im Klaren war, dass eine ausschließlich formale Begründung der Ethik gar nicht hinreichend sein kann. Dementsprechend hat er in seinen Göttinger Ethikvorlesungen betont, dass eine bloß formale Regelgebung für unser Werten und Wollen ohne die Einbeziehung der in-
19 20 21
Vgl. Hua XXVIII, 141, 243. Scheler (1966). Vgl. Melle (1988b), XXXIV. A
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haltlichen Besonderheiten des Wert- und Wollensgebiets nicht sinnvoll ist. 22 An dem konkreten Aufbau einer materialen Axiologie haben Husserl mehrere systematische Problem gehindert, von denen die wohl gravierendsten erkenntnis- oder begründungstheoretischer Art sind. Gemäß ihrem Anspruch müsste eine materiale Wertlehre ebenso notwendige und allgemeingültige Aussagen und Gesetze über die Größe verschiedener Werte aufstellen wie die formalen Grundlagendisziplinen. Es müssten dafür a priori zunächst einzelne Wertgebiete voneinander unterschieden und dann bestimmt werden, in welchem Rangordnungsverhältnis sie zueinander stehen. Was hierfür gefordert ist, ist also nichts anderes als der Aufbau einer materialen Ontologie für das Wertgebiet. Nun hat Husserl aber mit der erkenntnistheoretischen, also phänomenologischen Rechtfertigung der materialen Ontologien so große Schwierigkeiten, dass er seine Bemühungen um deren Aufbau nicht auf das besonders schwierige Gebiet der Werte und Wertgesetzmäßigkeiten konzentriert hat. Stattdessen finden wir in seinem Werk eine allgemeine Charakterisierung der ontologischen Regionen von »Natur« und »Geist« sowie eine weitere Ausdifferenzierung der Geistsphäre in den Bereich der Person und des Gemeingeistes. Dass dagegen die Region der Werte und Wertgesetzmäßigkeiten materialontologisch besonders schwer zu durchdringen ist, liegt zum einen an dem schwer auszumachenden ontologischen Status der Werte und Wertgebiete. Zum anderen muss für die Rechtfertigung jeder materialen Axiologie zunächst geklärt werden, wie uns Werthaftes und Werte überhaupt gegeben sind. Diese spezifisch phänomenologische oder erkenntnistheoretische Frage führt uns zu dem eingangs erwähnten zweiten Aspekt der Husserl’schen Ethik, nämlich der Berücksichtigung der Einsichten der Gefühlsmoralisten bei der Begründung der Ethik, denn Werthaftes ist uns ursprünglich in einem fühlenden oder gemütsmäßigen Bewusstseinsmodus gegeben.
2.
Die frühe Phänomenologie der wertgebenden Gefühle
Für die eigentlich philosophische, nämlich phänomenologische Analyse der Wertgegebenheit schließt Husserl sich zunächst einer alten 22
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Vgl. Hua XXVIII, 139.
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Einteilung unserer verschiedenen Bewusstseinsaktivitäten in drei Klassen an, nämlich in Denken, Fühlen und Wollen. Diese Aktklassen müssen phänomenologisch untersucht werden, damit die auf sie bezogenen Disziplinen der Logik, Axiologie und Praktik erkenntnistheoretisch begründet werden können. 23 Geklärt werden muss mithin, wie das Wahre, Werthafte und Gute in unserem Denken, Fühlen und Handeln gegeben oder erreicht werden kann. Husserl knüpft damit insofern an Einsichten der Gefühlsmoralisten an, als er mit diesen der Überzeugung ist, dass wir Werthaftes nicht allein intellektuell oder denkend erfahren können. Begründet ist diese Überzeugung in dem phänomenologischen Befund, dass wir die Dinge der Welt im Gefühl ursprünglich auf positive oder negative Weise, d. h. zustimmend oder ablehnend erleben. Durch die Gefühle bekommen die Dinge so einen gewissen Wertcharakter, der sich in einer ganz neutralen oder einer rein intellektuellen Betrachtung nicht zeigt. Um dies zu illustrieren, stützt Husserl sich auf ein Bespiel von Hume, demgemäß ein Wesen, das zwar intellektuell brillant ist, aber keine Gefühle hat, wohl die mathematischen Größen und Proportionen eines Kreises berechnen kann, aber keinerlei Vorstellung von der Schönheit desselben bekommen kann. 24 Gefühle eröffnen also erst die Dimension des Werthaften, womit sich die Frage stellt, wie sie dazu in der Lage sind. Das Bemühen, diese Frage zu beantworten, ist für Husserl ein Ausgangspunkt für seine ausführliche Beschäftigung mit der Phänomenologie der Gefühle und der Gemütsakte. In seinen Göttinger Ethikvorlesungen ringt Husserl mit dem Problem der Wertgegebenheit im Gefühl, ohne dass er es hier bereits zu lösen vermag. Seine Überlegungen zur Problemlösung setzen dabei bei der Einteilung der Aktarten in Denk- und Gemütsakte ein. Diese Differenzierung zwischen intellektiven oder theoretischen Akte einerseits und Gefühlsakten andererseits ist für ihn gerade deswegen wichtig, weil er davon überzeugt ist, dass es für den Bereich der ursprünglich nur durch die Gefühle zugänglichen Werte eigene Vernunftgesetzmäßigkeiten gibt, die sich nicht auf die formal-logischen Gesetze reduzieren lassen. Nur weil die formalen Wertgesetzmäßigkeiten nicht auf formallogische Gesetzmäßigkeiten reduzierbar sind, kann Husserl überhaupt von der Selbständigkeit der rein formalen Axiologie spre23 24
Vgl. Melle (1988a). Vgl. Hua XXVIII, 396 f.; Hua XXXVII, 184 f. A
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chen. Die exakte Unterscheidung der Gefühle von den intellektiven Akten – beide Aktklassen sollen die rein formalen Disziplinen der Axiologie und Logik begründen –, ist für Husserl allerdings mit einem gewichtigen Problem verbunden. Er versucht diese Unterscheidung zunächst dadurch vorzunehmen, dass er eine Klassifikation aus den Logischen Untersuchungen aufgreift, nämlich die zwischen den sogenannten objektivierenden und den nicht-objektivierenden Akten. 25 Objektivierende Akte sind all jene, die uns etwas gegenständlich machen; es sind Akte des Vorstellens und Wahrnehmens, in denen wir thematisch auf etwas anderes unserer selbst bezogen sind, dasjenige nämlich, was wir in ihnen objektivieren. Anders als die Vorstellungen und Wahrnehmungen tun die Gefühle bzw. die wertenden Akte genau dies jedoch nicht, weshalb Husserl sie zunächst als nicht-objektivierende Akte bezeichnet. Auf der Grundlage dieser aktphänomenologischen Differenzierung zwischen verschiedenen Klassen von Intentionen kann Husserl eine eigenständige Vernunftsphäre für den Bereich der Gefühle von der theoretischen Vernunft unterscheiden. Das Problem dieser Differenzierung zwischen den objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten liegt nun in der frühen Ethikkonzeption darin, dass Husserl gleichwohl behauptet, dass die nichtobjektivierenden Akte im Medium des Gefühls durchaus etwas vorstellig machen und auch einen eigenen Gegenstandsbereich eröffnen – nämlich das Werthafte. Damit ergibt sich die Frage, wie diese Gegebenheit des Werthaften im Gefühl genau zu denken ist, und wie hier m. a. W. »Gegenstände« gegeben werden können, wenn dies nicht von gegenstandsgebenden, d. h. objektivierenden Akten geleistet wird. Wie können die Gefühle m. a. W. einen Zugang zum eigenständigen Bereich der Werte eröffnen, wenn sie doch selbst von allen Objektivationsleistungen unterschieden bleiben sollen? Es ist dieses Problem, dass in Husserls Göttinger Ethikvorlesung dazu führt, dass er die Frage, wie eigentlich die Wertgegebenheit phänomenologisch zu denken ist, nicht lösen konnte. Er sieht zwar, dass das Werthafte in fühlenden Akten gegeben ist, ohne dass diese es im eigentlichen Sinne auch zum Gegenstand haben, aber das genaue Wie-der-Gegebenheit des Werthaften im Fühlen wird hier phänomenologisch noch nicht befriedigend geklärt. So kommt Husserl zwar das Verdienst zu, diese Frage in seinen Zur Problematik der genauen Bestimmung und Abgrenzung der objektivierenden und nicht-objektivierenden Akte vgl. Melle (1990) und Erhard/Mayer (2008).
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Untersuchungen aufgeworfen zu haben, aber gelöst hat er sie in seinen Göttinger Ethikvorlesung noch nicht. 26 Husserls subjektive oder phänomenologische Begründung der formalen Axiologie und der Ethik als Kunstlehre bleibt somit in seiner an der Logik orientierten Ethikkonzeption noch unvollständig. Die Einsichten der Gefühlsmoralisten hat er darin zwar berücksichtigt, aber eine genaue Klärung des subjektiven Ursprungs von moralischen Urteilen und Einstellungen gelingt darin nicht. Damit fehlt der an der formalen Logik orientierten frühen Ethik noch ein vollständiges phänomenologisches Fundament. Wenn wir an dieser Stelle eine Zwischenbilanz ziehen, wird klar, dass Husserls frühe Ethik sicher eher als »formalistisch« denn als »subjektivistisch« bezeichnet werden könnte. Die Gefahr eines Subjektivismus droht hier deswegen an keiner Stelle, weil Husserl von dem Bestehen apriorischer Wertgesetzmäßigkeiten auch dann vollends überzeugt ist, wenn es ihm noch nicht gelingt, hierfür eine erkenntnisphänomenologische Begründung zu liefern. Husserl verstand seine frühe, an der Idealität des Logischen orientierte Ethik geradezu als ein Bollwerk gegen den Subjektivismus und Relativismus. Es wird im Folgenden zu fragen sein, ob und wie es Husserl in seiner späteren, eher der Konkretion des subjektiv-personalen Aktlebens zugewandten Ethik gelingt, an einem solchen Objektivitätsanspruch für die Ethik festzuhalten.
III. Die personale Ethik der zwanziger Jahre In seiner Phänomenologie der zwanziger Jahre präsentiert Husserl eine neue Konzeption der Ethik, die die Bestimmung des ethisch Guten aus dem konkreten subjektiven Leben heraus versucht. Das Gute wird dabei schließlich als ein von uns selbst durchgängig vernünftig gestaltetes Leben begriffen. Die Grundlage dieser Konzeption liegt nicht mehr in einer Orientierung am Vorbild der Logik, sondern in den Ergebnissen der Phänomenologie des personalen Lebens. 27 Diese hat sich aus der Vgl. Hua XXVIII, 340 ff. Das Problem, dass Husserl die wertenden Akte des Gemüts von den objektivierenden, d. h. gegenstandsgebenden Akten kategorial unterscheidet, dann aber doch den Gemütsakten eine wertgebende, also objektivierende Funktion zuschreibt, hat Schuhmann (1991) gut herausgearbeitet. 27 Die Texte zu Husserls späterer Ethik finden sich in Hua XXV – darin insbesondere die drei Vorlesungen aus dem Kriegsnotsemester 1917 über Fichtes Menschheitsideal (267– 26
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Vertiefung und Erweiterung der früheren Arbeiten auf dem Gebiet der Aktphänomenologie entwickelt. Wird nun das personale Leben zum Ausgangspunkt der Ethik gemacht, muss sich das Problem des Subjektivismus und Relativismus allerdings auf verschärfte Weise erneut stellen und es ist in der Tat nicht leicht zu sagen, wie es Husserl in seiner späteren Ethik in den Griff bekommt. Bevor ich hierzu Stellung nehme, will ich zunächst eine kurze Einführung in Husserls neue Ethik geben. Die Entstehung der Ethik des personalen Lebens ist motiviert durch die umfangreichen phänomenologischen Analysen, die Husserl in den späteren Göttinger und den frühen Freiburger Jahren geführt hat und die er sich auch für die Ethik zu Nutze machen kann. In den Jahren nach den Logischen Untersuchungen haben sich Husserls Arbeitsschwerpunkte rasch von engeren Fragen der Logik- und Mathematikbegründung auf mehrere, breiter angelegte Problemgebiete ausgeweitet. Die ursprünglich erkenntnistheoretische Zielsetzung seiner Phänomenologie verliert Husserl dabei nicht aus dem Blick, nur wird der Fokus der Phänomenologie gewissermaßen erweitert und vertieft, wenn nun Funktionen aus anderen Dimensionen des subjektiven Lebens als erkenntniskonstitutive untersucht werden. Die somit behandelten Themen sind in sich sehr reichhaltig: das Zeitbewusstsein, die Raumkonstitution, die ursprünglichen, assoziativen Sinngenesen, die Unterschiede von Phantasie, Wahrnehmung und Erinnerung, die noetisch-noematischen Korrelationen, die allgemeinen Strukturen des Bewusstseins und schließlich die Analysen des Ichbewusstseins, um das herum das gesamte intentionale Leben zentriert ist. Der für die Begründung der Ethik entscheidende Ichbegriff ist aber nicht der des transzendentalen Ichpols, sondern der phänomenologisch reichere Begriff des personalen Ich. Die Person ist der konkrete Ausgangspunkt aller Geltungsansprüche, sodass deren Begründung und Rechtfertigung von einer phänomenologischen Analyse des personalen Lebens her erfolgen muss. Das Ich als Person charakterisiert Husserl durch eine Vielfalt subjektiver Erlebnisse und dynamischer Prozesse. Zum personalen Leben zählt er die affektiven Tendenzen und Triebe als unterste Schicht des 293); Hua XXXV, 40–46; Hua XXVII – darin insbesondere die so genannten Kaizo-Artikel über »Erneuerung«, 3–94; Hua XXXVII, sowie in der noch nicht veröffentlichten Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« von 1919 (Archivsignatur F I 40).
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Bewusstseins ebenso wie die aus ihr heraus angeregten Strebungen und Wünsche, das Willens- und das Leibbewusstsein. All dies steht in einem dynamischen Bildungs- und Veränderungsprozess, in dem Erlebnisse und Sinnbildungen aus dem Bewusstseinshintergrund in das Aufmerksamkeitszentrum aufsteigen und wieder herabsinken, wobei sie dann nicht völlig verloren gehen, sondern als habituelle Erwerbe behalten werden. Die Person hat damit eine individuelle Geschichte, in der ihre früheren Erwerbe ihr weiteres Erleben mit beeinflussen. Husserl sieht die Dynamik des personalen Lebens als einen sinngeschichtlichen Zusammenhang, in dem die einzelnen Erlebnisse und Episoden durch Motivationsgesetzmäßigkeiten miteinander verbunden sind. Diese Motivationsgesetzmäßigkeiten unterscheidet er von den kausalen Gesetzmäßigkeiten, die den Zusammenhang des Naturgeschehens regeln. Es gehört daher zu den Eigentümlichkeiten des personalen Lebens und seiner Geschichte, dass es naturwissenschaftlich nicht vollständig erklärbar ist, sondern angemessen, nämlich als Sinngeschichte, nur durch eine phänomenologische oder verstehend-psychologische Analyse erhellt werden kann. Die Sphäre der Person hat m. a. W. eine andere Ontologie als die der Natur. An mehreren Stellen betont Husserl, dass das personale Leben auf allen Ebenen durch Strebungstendenzen bestimmt ist: »Zum Wesen des Menschenlebens«, sagt Husserl, »gehört […], daß es sich beständig in der Form des Strebens abspielt«. 28 Dieses Moment des Strebens gibt es bereits in den unwillkürlichen, affektiven Schichten des personalen Lebens, in denen von sinnlichen und gefühlsmäßigen Reizen eine Tendenz hin auf das »höher« geordnete Ich ausgeht, die zu deren bewusster, ichlicher Auffassung führen kann. Diesen ganzen elementaren Bereich personalen Lebens bezeichnet Husserl auch als einen vor-ichlichen. Über diesen hinaus haben auch die deutlicher bewussten, willkürlichen und ichlichen Vollzüge der Person diesen Strebungscharakter, der sich hier etwa in den Erkenntnisintentionen als Streben nach Klarheit und Fülle, oder natürlich am Deutlichsten in den Willensakten und ihrer Tendenz auf Realisierung des Gewollten zeigt. Das letzte Ziel allen Strebens ist dabei ein Zustand beständiger Erfüllung, den Husserl als »Glück«, »Glückseligkeit« oder »Seligkeit« bezeichnet. 29 Hua XXVII, 25; vgl. auch Hua IX, 9 f. Hua XXV, 285; Hua XXVII, 98; Hua XXXV, 43 f. Husserl Rede von »Seligkeit« steht in engem Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit Fichte; vgl. dazu Hart (1995).
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Dieses Glück umfasst gemäß Husserl als letztes Ziel eines leidenschaftlichen Strebens unser gesamtes Leben, dessen Befriedigung in der Form des »bestmöglichen« 30 oder »vollkommenen« Lebens 31 liegen würde. Glück oder Glückseligkeit ist für ihn der vollkommene Limeszustand einer Erfüllung aller unserer Intentionen; es wäre »ein einheitliches Leben, das nach allen seinen Intentionen, nach all seinem Streben, immerfort in der Form reiner Erfüllung verliefe« 32. Mit der idealen Erfüllung unseres Strebens nach einem solchen Glück ist bei Husserl ganz eng verbunden, was er die Idee eines »echten« oder »wahren« Menschen nennt. Was ein Mensch also gewissermaßen »in Wahrheit« ist, entfaltet sich in der Erfüllung des ihm eigentümlichen Strebens. Dieser Zusammenhang ist für die praktische Ausrichtung der Ethik bedeutsam, da ihr in ihrer Bestimmung als Kunstlehre die Aufgabe zukommt, unsere Strebensziele und die zu deren Realisierung erforderlichen Mittel zu erforschen, und damit zugleich die Idee eines vollkommenen Menschenlebens zu bestimmen: immer wollte Ethik die Theorie und Kunstlehre vom vollkommenen Menschenleben und Menschsein sein, Theorie und praktische Lehre von den Methoden der Selbstgestaltung des Subjekts und seines Lebens zur Vollkommenheit bzw. zur »Glückseligkeit.« (Hua XXXV, 46)
Solche Vollkommenheit bleibt als letztes Ziel unseres Strebens für uns ein unerreichbares, im Unendlichen liegendes Ideal. 33 Menschliches Leben ist gemäß Husserl immerfort von Enttäuschungen und Verlusten von bereits gesichert geglaubten Gütern gekennzeichnet. Wir verfehlen unsere Strebensziele und setzen uns außerdem solche, deren Bedeutung einer genaueren Prüfung nicht standhalten kann und die daher letztlich auch gar nicht befriedigen können. Illusionslos und in existenzialistischem Ton spricht Husserl über die Erfahrungen des Zweifels, der Negation und der Entwertung, die mit dem Streben einhergehen und dazu führen, dass »der Mensch alles in allem ein unseliges Leben« 34 lebt. Gerade die als schmerzhaft erlebten Phänomene der Enttäuschung sieht Husserl jedoch als Ausgangspunkt von Überlegungen dazu, wie 30 31 32 33 34
292
Hua XXXVII, 252. Hua XXVII, 30. Hua XXXV, 44. Vgl. Hua XXXV, 45; zur Redeweise von »Limes« vgl. Hua XXVII, 33. Hua XXXV, 44; vgl. auch Husserl (1997).
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sie künftig vermieden werden können, das Leben also verbessert werden kann. Von den Erfahrungen der Hemmung des Strebens und des Verlustes des bereits Erstrebten geht nämlich die Motivation dafür aus, vergebliches Streben fortan möglichst zu vermeiden, also sich nur auf das hin auszurichten, was einer Kritik standhält: Die von [den] peinlichen Entwertungen und Enttäuschungen ausgehende Motivation ist es, die […] das Bedürfnis nach solcher Kritik und somit das spezifische Wahrheitsstreben bzw. das Streben nach Bewährung, nach »endgültiger« Rechtfertigung durch einsichtige Begründung motiviert. (Hua XXVII, 30)
Diese Kritik erstreckt sich nicht nur auf den Bereich der Erkenntnis, sondern auch auf den der Praxis, der den Willen einschließt. Erkenntnis- und vor allem Willenskritik dient so der möglichst weitgehenden Absicherung gegenüber Erfahrungen des Irrtums, der Enttäuschung und der Entwertung, ist aber eben selbst durch diese Erfahrungen motiviert. Soll diese Kritik ihr Ziel erreichen, so muss sie alle unsere ichlichen Vollzüge umfassen, so dass das Leben »in allen seinen Betätigungen voll zu rechtfertigen wäre und ein reine, standhaltende Befriedigung gewährleistete« 35. Die Kritik, die hierfür erforderlich ist, ist also eine radikale Selbstkritik, die das gesamte ichliche Leben in Frage stellt und es dann gegebenenfalls neu organisiert. Husserl nennt diese kritische und willentliche Neuorganisation des Lebens »Erneuerung«. 36 Personen sind zu dieser Kritik fähig, da sie sich zu sich selbst verhalten, also in einem Selbstverhältnis stehen, das sich in mehreren Formen zeigt: etwas als »Selbstbewusstsein«, »personale Selbstbetrachtung«, »Selbstbewertung« und als »praktische Selbstbestimmung«. 37 Die personale Selbstbetrachtung geht dabei auf Leistungen der vorstellenden und denkenden Akte zurück, die Selbstbewertung beinhaltet auch fühlende Leistungen des Gemüts und die Selbstbestimmung solche des Willens. Für Husserl gehören diese Fähigkeiten zum Wesen der Person, durch die sie sich von einem bloß affektiven oder gänzlich naiven Leben unterscheidet. Personen sind somit ungeachtet aller affektiven und passiven Tendenzen, die ihnen eigen sind, zu »freiHua XXVII, 30. Der Begriff der Erneuerung spielt eine zentrale Rolle in den fünf Artikeln, die Husserl zu Beginn der zwanziger Jahre für die japanische Zeitschrift Kaizo schrieb; vgl. Hua XXVII, 3–94. 37 Hua XXVII, 23. 35 36
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er Aktivität« fähig, die letztlich von ihrem »Ich-Zentrum« ausgeht. 38 Husserl bestimmt also das Wesen der Person ganz im Sinne neuzeitlicher, genauer kantischer und fichtescher Konzeptionen von Subjektivität. Personen sind frei oder autonom, weshalb sie die Möglichkeit haben, ihr Leben selbst zu bestimmen und willentlich zu gestalten. 39 Diese Fähigkeit zur Selbstgestaltung unseres eigenen Lebens illustriert Husserl, indem er darauf hinweist, wie wir unsere Berufe wählen. 40 Unsere Berufe prägen unseren Alltag und weite Teile unseres Lebens. Durch den Entschluss zu einem bestimmten Beruf regeln wir unser Leben gemäß gewissen Vorstellungen oder Idealen, die wir damit verbinden. Mit der Berufswahl wählen wir so gleichzeitig bestimmte »Lebensformen«, die als Selbstregelungen unser Leben prägen. Lebensformen werden durch unsere Berufe, aber auch durch das bestimmt, was wir begehren. Husserl nennt in seinen Aufsätzen aus der ersten Hälfte der zwanziger Jahre zum Thema »Erneuerung« als Beispiel hierfür etwa die Güter der Macht und des Reichtums, 41 aber auch jene der Kunst und der Erkenntnis, die Künstler und Wissenschaftler erstreben. In all diesen Fällen sind die personalen Lebensformen Resultat einer willentlichen Ausrichtung und aktiven Gestaltung des eigenen Lebens, von der wir uns letztlich Glück, mithin eine weitgehende Befriedigung unserer Bedürfnisse erhoffen. Fragt man nun, welche Art personaler Selbstgestaltung, also welche Lebensform am Besten vor Erfahrungen von Irrtum und Enttäuschung gesichert sind, d. h. welche in größtem Umfang zu rechtfertigen ist, kommt man zu einem überraschenden Ergebnis. Jegliches Berufsleben, so Husserl, geht zwar auf eine aktive, ichliche Selbstgestaltung des eigenen Lebens zurück, aber doch nur so, dass es nicht wirklich das gesamte Leben umgreift, das es Lebensbereiche offen lässt, die von dieser Regelung nicht betroffen werden. Dasselbe gilt z. B. von dem Leben des Wissenschaftlers oder des Künstlers, die ebenfalls Spielräume für möglicherweise nicht gerechtfertigte, unreflektierte Aktivitäten lassen. Husserl setzt hiervon die Idee eines Lebens ab, das nicht nur in Teilen, sondern in seiner Gesamtheit von der Vernunft gesteuert wäre. Dieses Leben universaler Selbstregelung wäre »in allen seinen Be38 39 40 41
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Ebd., 24. Vgl. Hua XXVII, 23 ff. Vgl. Hua XXXVII, 250; Hua XXVII, 28. Vgl. Hua XXVII, 27.
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tätigungen voll zu rechtfertigen« 42 und ein durchgängig rationales und willensgesteuertes Leben. – Diese Lebensform ist gemäß Husserl die Form des ethischen Lebens. Das ethische Leben wäre ein so weit wie möglich aus rationaler Selbstbestimmung heraus geführtes Leben. Es wäre ein Leben, das sich vollständig rechtfertigen ließe, weil alle seine Akte einer kritischen Prüfung standhalten würden und somit verantwortbar wären. Diese Charakterisierung des Ideals eines ethischen Lebens bedarf nun genauerer Betrachtung, um sie vor dem Hintergrund der eingangs genannten Doppelaufgabe zu prüfen. Sicher trägt sie den Einsichten der Gefühlsmoralisten nicht nur Rechnung, sondern vertieft diese erheblich, indem sie sowohl die Gefühle als auch das gesamte personale Leben und seine Geschichte als Ursprung unserer moralischen Überzeugungen berücksichtigt. Ist die Bestimmung des Guten deswegen aber subjektivistisch, oder kann sie m. a. W. doch die Grundlage einer allgemeingültigen Ethik bilden? Was sich für die Person in einer Handlungssituation als das Richtige oder Gute zeigt, wird in dieser Ethik sehr individuell bestimmt. Husserl spricht sogar davon, dass jeder und jede von uns einen persönlichen »kategorischen Imperativ« hat, der individuell vorgibt, was je situativ eine vernünftige oder richtige Handlung ist. Vernünftig soll dabei das sein, was sich bei strengster Prüfung rechtfertigen lässt, und dies muss jede Person mit Bezug auf ihren Überzeugungshintergrund und ihre eigene Geschichte gewissermaßen »mit sich selbst ausmachen«. Als Ergebnis dieser Prüfung würde sich ergeben, dass die interne Kohärenz des personalen Lebens durch eine neue, zu prüfende Handlung gewahrt bliebe, sich also keine Widersprüchlichkeiten im personalen Leben ergeben würden. Diese interne Kohärenz personaler Überzeugungen und Handlungen ist natürlich ein formales Kriterium, das in inhaltlicher Hinsicht und vor allem in Bezug auf verschiedene personale Biografien ganz Verschiedenes bedeuten kann. Da die mögliche Rechtfertigung einer konkreten Handlung im personalen Leben stark von dem Zusammenhang der bereits erworbenen Überzeugungen abhängt, ist nicht direkt ersichtlich, inwiefern sich durch Husserls ethische Forderung nach einem rational völlig selbstbestimmten und kohärenten Leben auch objektiv verbindliche ethische Maßstäbe gewinnen lassen. So mag z. B. der Verzehr von Tieren für die eine Person vernünftig sein, während die andere dafür 42
Ebd., 30. A
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schlechthin keine letztlich überzeugende Rechtfertigung finden kann. Was also – um es noch einmal als Frage zu formulieren – sichert in Husserls personaler Ethik die angestrebte Allgemeingültigkeit und damit die geforderte Abwehr des Subjektivismus oder Relativismus? Vor dem Hintergrund von Husserls reifen phänomenologischen Einsichten in die Konstitution von Objektivität muss die Antwort auf diese Frage überaus komplex ausfallen. Sie muss berücksichtigen, dass sich das, was wir für objektiv gültig halten, personalen Konstitutionsprozessen verdankt, die ihrerseits in gemeinschaftlichen und historischen Kontexten stehen. Objektivität ist für Husserl generell das Korrelat von Intentionen, die sich bewährt haben, 43 aber wie diese Bewährung im einzelnen verläuft, ist bei den unterschiedlichen Gegenständen der Intentionen jeweils sehr verschieden. So zeigt sich die Objektivität eines Gegenstandes der Wahrnehmung viel direkter als die eines logischen Gesetzes oder die eines allgemein anerkannten moralischen Grundsatzes. Denn während uns Wahrnehmungsgegenstände in verhältnismäßig einfachen Intentionen gegeben sind, verdanken sich logische Gegenständlichkeiten einer komplexen und höherstufigen Konstitution. Ethische Wertgehalte und andere Wertgegenstände gehen auf die Konstitutionsleistungen von Personenverbänden zurück; sie gehören gemäß Husserl in die ontologische Region des geistigen Seins, die von vergemeinschafteten Personen konstituiert wird. Die Objektivität der an soziale Gemeinschaften und ihre intersubjektiven Konstitutionsleistungen gebundenen Gegenstände ist daher eine andere als die der Objektivität von Wahrnehmungsdingen. Ebenso ist die ideale Geltung oder Objektivität des Logischen entsprechend eine andere als die eines guten, d. h. eines richtigen oder vernünftig zu rechtfertigenden Lebens. Ist somit das, was im Bereich des Ethischen allgemein als verbindlich oder gültig anerkannt wird, an die höherstufigen Konstitutionsprozesse von Gemeinschaften geknüpft, so werden sich die einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaften den bereits geltenden Werten und Normen kaum völlig entziehen können, wenn sie ihre individuellen ethischen Überzeugungen und Handlungsweisen auf deren interne Kohärenz hin vernünftig prüfen. Zwar bleiben die Individuen gewissermaßen die Instanzen, die für sich überprüfen müssen, ob sie ihre Überzeugungen und Handlungen ethisch rechtfertigen können, aber die 43
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Vgl. z. B. Hua I, 94 f.
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Husserls Ethik zwischen Formalismus und Subjektivismus
konkreten inhaltlichen Vernunftmaßstäbe, nach denen sie dies tun, sind nicht von ihnen allein konstituiert. Was Husserls personale Ethik mit ihrer höchsten Idee eines ethischen, d. h. durchgängig vernünftig geführten Lebens so vor dem möglichen Relativismuseinwand schützt, ist die Einsicht, dass Vernunft selbst ein allgemein verbindlicher, nie sinnvoll in Frage zu stellender Boden für die Bestimmung des Richtigen ist. Husserl wäre als Rationalist, der aber auch die intuitiven und gefühlsmäßigen Konstitutionsbedingungen von Rationalität nie aus dem Blick verliert, jede postmoderne Relativierung oder Pluralisierung von Vernunft in letzter Hinsicht zuwider gewesen. Welche konkreten geistigen Gehalte allerdings das zunächst so formal scheinende Kriterium der Vernünftigkeit erfüllen, geht jeweils auf die höherstufigen intersubjektiven Konstitutionsleistungen zurück, an die eben die Sphäre des Geistes gebunden ist. So bleibt hier die Einsicht, dass sich die Label des Formalismus und des Subjektivismus auf Husserls personale Ethik nicht mehr fruchtbar anwenden lassen, weil sie der Komplexität dieser Ethik nicht gerecht werden.
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Fünf Fragen an Husserls Ethik aus gegenwärtiger Perspektive* Sophie Loidolt
Husserls ethische Überlegungen sowie seine Entwürfe zu einer nichtnaturalistischen Handlungstheorie und einer Phänomenologie der Gemütsakte erfreuen sich in den letzten Jahren innerhalb der »HusserlCommunity« eines gesteigerten Interesses und beginnen bereits auch in breiteren Debatten fruchtbar gemacht zu werden. Im Anschluss an diese angehende Entwicklung möchte ich im vorliegenden Aufsatz fünf Fragen formulieren, die man aus gegenwärtiger Perspektive an die Husserl’sche Ethik stellen könnte. Dabei steht eine Vorstellung der genuinen Grundgedanken und internen Grundprobleme von Husserls Entwürfen im Vordergrund, die vor allem den Wandel nachzeichnet, den er bei einigen entscheidenden Themen- und Thesenstellungen im ethischen Bereich vollzogen hat. Ohne noch konkrete Vergleiche durchzuführen, sollen Hinweise auf aristotelische und kantische Motive in Husserls Ethik, aber auch Positionierungen im Verhältnis zur klassischen Wertethik sowie Anknüpfungsmöglichkeiten zu Existenzialismus, Alteritätsethik und Care-Ethik dazu beitragen, ihn in die breitere ethische Diskussion einzubringen. Die kundige Leserin wird zudem in Stichwörtern wie »moralische Tatsachen« oder »Anti-Naturalismus« aktuelle Diskussionsfelder aus der Metaethik erkennen, zu denen mit Husserl möglicherweise in Richtung eines »Nicht-naturalistischen Realismus«, wie er etwa von John McDowell vertreten wird, etwas beizutragen wäre. Dies alles bewegt sich hier freilich nur im Rahmen der Andeutung bzw. ersten Erschließung und wäre erst genauer auszuarbeiten. 1 * Ich danke dem Husserl-Archiv für die Erlaubnis der Zitierung aus Husserls unveröffentlichten Manuskripten. Auch bei Johanna Gaitsch und Anja Weiberg möchte ich mich für eine aufmerksame Lektüre des vorliegenden Textes und die hilfreichen Kommentare zu seiner Verbesserung herzlich bedanken. Einige Teile und Ideen dieses Aufsatzes sind dem größeren Zusammenhang meiner Dissertation (Loidolt (2009)) entnommen. An den betreffenden Stellen wird konkret darauf hingewiesen. 1 Was nicht bedeuten soll, dass es nicht schon Arbeiten gibt, die solche Vergleiche anA
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Dabei sollte allerdings Eines stets bedacht werden: Husserl ist nicht primär als Ethiker zu verstehen und die Schriften, die wir heranziehen können, um seine ethische Position zu erläutern, sind keine von ihm selbst publizierten Schriften, sondern meist Vorlesungen oder z. T. noch unpublizierte Forschungsmanuskripte, denen man ihre teilweise Unausgereiftheit nicht zum Vorwurf machen kann. Behält man diese Ausgangslage im Hintergrund, dann ist Husserls Ethik gewiss eine Entdeckung wert, da sie, wie sein gesamtes Denken, eine bemerkenswerte Eigenständigkeit aufweist, die der permanenten, sich selbst kritisch in Frage stellenden Arbeit an den Phänomenen entspringt. Die Ethik Husserls ist u. a. auch ein Ort, an dem phänomenologische Grundkonzeptionen wie Intentionalität, Konstitution, Motivation, Akt- oder Evidenzbegriff etc. z. T. kritisch verhandelt und manchmal sogar an ihre Grenzen gebracht werden, weshalb sie auch aus methodischen Gründen Interessantes bereithält. Vor allem aber ist sie ein wichtiger Baustein in Hinblick auf das Gesamtprojekt »Phänomenologie«, insofern sie Husserls philosophische Grundhaltung und den wichtigen Platz der Ethik in ihr deutlich macht.
I.
Was hat Phänomenologie mit Ethik zu tun? Bzw.: Welche Weichenstellungen bringt die Phänomenologie Husserls für ethische Betrachtungen mit sich?
Mit Husserls Ethik liegt keine typische Wertethik vor, wie sie Scheler oder Hartmann konzipiert haben. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Husserls ethische Überlegungen parallel zu seiner Entwicklung der transzendentalen Phänomenologie verlaufen, die einem anderen Phänomenologietypus entspricht als die realistische Phänomenologie Schelers und der Göttinger Schule. 2 Auf die frühen Texte zu Humes und Kants Ethik von 1902 (die noch deutlicher mit der Terminologie stellen. Vgl. v. a. den aufschlussreichen Sammelband Drummond/Embree (2002), sowie Hart (1995), Hart (2003), Peucker (2007) und Peucker (2010). 2 Vgl. dazu auch den 2010 erschienenen Text »Was kann Phänomenologie heute bedeuten?« von Rudolf Bernet, in dem dieser von einem »doppelten Versäumnis« spricht: erstens hätte sich die Generation von Phänomenologen nach Husserl um dessen transzendentalphilosophische Thesen »herumgedrückt« und zweitens wäre durch diese Tabuisierung »die Berechtigung der frühen Kritiken an Husserls Transzendentalphilosophie kaum noch kritisch geprüft« worden (Bernet (2010), 7). Diesen Hinweis
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der Logischen Untersuchungen operieren) folgen 1908/09 in einer »Vorlesung über die Grundprobleme der Ethik« erste systematische Ausarbeitungen, die sich vor allem mit erkenntnistheoretischen Problemen der Unterscheidung zwischen axiologischer (wertender) und praktischer Vernunft hinsichtlich der Erschließbarkeit von Werten beschäftigen. Diese vernunfttheoretischen Untersuchungen sind in werkgenetischer Hinsicht mit den »Vorlesungen über Logik und Erkenntnistheorie« aus 1906/07 parallel zu lesen, in denen ebenfalls bereits nach »noetischen Rechtscharakteren«, d. h. Ausweisungsmöglichkeiten gefragt wird. 3 Für Husserl ist die Konstitution von Werten und die Frage ihrer normativen (vernünftigen) Beurteilung also von Anfang an kein unproblematisches Thema, sondern eingehende Untersuchungen wert (Husserl spricht von einem »Urwald von Schwierigkeiten« (Hua XXVIII, 205)). Der Selbstgewissheit, mit der Scheler etwa eine Einsicht in materiale Werte und Werthierarchien behauptet 4, steht bei Husserl eher ein Fragen gegenüber, was Gemütsakte als nicht-objektivierende Akte leisten können und was in diesem Fall »Evidenz« und »Normgerechtigkeit« bedeuten kann. Insofern ist der Vorwurf eines jeder intersubjektiven Kontrolle entzogenen »Intuitionismus« Husserls Ethik gegenüber nicht berechtigt. So sehr Anschauung und Evidenz phänomenologische Grundpfeiler sind, so sehr ringt Husserl auch um die Möglichkeiten echter Ausweisbarkeit und legt wohl deshalb niemals einen hierarchischen Katalog materialer Werte vor, obwohl systematisch durchaus eine »materiale Axiologie« als Teilstück der Ethik vorgesehen ist. Vielmehr konzentriert er sich in den »Vorlesungen über Grundfragen zur Ethik und Wertlehre« 1914 auf die Ausarbeitung einer formalen Axiologie und Praktik. Diese befasst sich mit Gesetzen der Wertsteigerung, Wertsummation etc. und mit praktischen Konsequenzgesetzen, die eine eigene Vernünftigkeit des Wolaufgreifend, soll sich der vorliegende Aufsatz u. a. auch explizit mit den transzendentalen Elementen in Husserls Ethik befassen. 3 Vgl. Hua XXIV. Für Husserl ist diese Periode u. a. durch eine Auseinandersetzung mit Kant geprägt, die wesentlich für seinen Weg in die Transzendentalphilosophie ist. 4 Scheler (2000), 84: »Das Fühlen, das Vorziehen und Nachsetzen, das Lieben und Hassen des Geistes hat seinen eigenen apriorischen Gehalt, der von der induktiven Erfahrung so unabhängig ist wie die reinen Denkgesetze. Und hier wie dort gibt es eine Wesensschau der Akte und ihrer Materien, ihrer Fundierung und ihrer Zusammenhänge. Und hier wie dort gibt es ›Evidenz‹ und strengste Exaktheit der phänomenologischen Feststellung.« A
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lens sichtbar machen (z. B. Ich verstricke mich nicht in eine Denkunmöglichkeit, wenn ich A will, aber B, das für A notwendig wäre, nicht will, wohl aber verstricke ich mich in einen Widerspruch des Wollens). Husserl erreicht hier durchaus beachtenswerte Ergebnisse, die für eine deontische Logik als Wert- und Wollenslogik interessant sein könnten. Zusätzlich dazu entwickelt Husserl in diesen Vorlesungen eine eigene »Phänomenologie des Willens« und schließt mit den Analogien zwischen theoretischem und praktischem Überlegen, Entscheiden, Vermuten 5 an die noetisch-noematischen Untersuchungen der Ideen I an, die 1913 seine offizielle »Wende« zu einer transzendentalen Phänomenologiekonzeption markieren. Die Husserl-Forschung 6 spricht von drei Phasen der Husserl’schen Ethik, die sich von (1) einer Parallelisierung von Logik und Ethik über (2) eine rationalistische Erneuerungsethik hin zu (3) einer personalistischen Liebesethik entwickelt. Ohne die Phasen und Übergänge hier im Einzelnen darstellen zu können 7, möchte ich die (oben bereits erwähnte) These vertreten, dass diese parallel zur Entfaltung der transzendentalen Phänomenologie verlaufen und in der Ethik der Erneuerung und der Person schließlich mit der reifen Transzendentalphänomenologie der Krisis–Schrift konvergieren. Denn ab den 20er Jahren wird es für Husserl immer deutlicher, dass sein phänomenologisches Projekt nicht nur mit ethisch konnotierten Grundparadigmen operiert (methodisch-theoretische (Selbst-)Verantwortung), sondern das gesamte Programm einer systematisch-wissenschaftlichen Aufdeckung der inter/subjektiven Konstitutionsleistungen auf eine umfassende geVgl. Hua XXVIII, 119–124. Vgl. Melle (2004) und (2005). Dabei wird die Periode bis zu den Vorlesungen über Ethik und Wertlehre 1914 (Hua XXVIII) zur ersten Phase zusammengefasst, in welcher sich Husserl vor allem einer formalen Axiologie und Praktik am Leitfaden der Parallelisierung von Logik und Ethik (formale und materiale Gesetze) widmet. Die zweite Phase der »Erneuerungsethik« ist mit den »Fünf Aufsätzen über Erneuerung« 1922– 1924 (Hua XXVII, 3–124) markiert, in denen eine rationalistische Willensethik, deren telos sich über das ganze Leben erstreckt, ausgearbeitet wird. Dabei geht es primär um die Haltung der Erneuerung, die auf ein relatives Vollkommenheitsideal hinstrebt. Die »personalistische Liebesethik« entwickelt Husserl hauptsächlich in den Manuskripten und verstärkt in den späten 20er und den 30er Jahren. 7 Ich verweise dafür auf die sehr übersichtliche Darstellung bei Ullrich Melle (2004, 2005) und auf meinen eigenen Versuch einer genaueren Auseinandersetzung mit Husserls Ethik am Leitfaden der Fragen nach Rechtfertigung und Evidenz (Loidolt (2009), 121–200). 5 6
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schichtliche »Selbstbesinnung« führt, die aufs Engste mit dem »Projekt Aufklärung« als »ethische Menschwerdung« zu tun hat. Bevor ich hier aber zu voreilig auf das »big picture« der späten Husserl’schen Phänomenologie und Ethik verweise, deren Jargon eines gewissen Pathos nicht entbehrt 8, möchte ich zu der klarer zu umreißenden Frage zurückkehren, was nun das spezifisch »TranszendentalPhänomenologische« der Husserl’schen Ethik (etwa im Unterschied zu anderen phänomenologischen Wertethiken) ausmacht. Hier sind vor allem zwei grundlegende Punkte zu nennen: (1) Husserls Anti-Naturalismus, der für die Zusammenhänge der »geistigen Welt« eine eigene Betrachtungsweise fordert und damit eine eigenständige Sphäre der Person und ihrer Motivationszusammenhänge herausarbeitet. Möglich ist diese Rede von »Einstellungen« und »Einstellungsänderungen« für Husserl nur durch die phänomenologische Reduktion. Denn diese ist von ihm im Kontext der Ideen II explizit als »phänomenologische Reflexion und Reduktion« gefasst, deren Vollzug es erst möglich macht, »die Einstellung selbst zum Thema« werden zu lassen, wo sonst nur das in einer Einstellung Erfahrene, Gedachte usw. erfasst ist (Hua IV, 174). Die Entdeckung, dass das inter/subjektive Bewusstsein Welt konstituiert, macht eine Thematisierung der Konstitution verschiedener »Sphären« oder Sinnstrukturen in ein und derselben Welt möglich 9, da einer jeweiligen Einstellung auch ein jeweiliges Sinngebilde korreliert: so der natürlichen Einstellung die natürliche Welt oder Lebenswelt, der naturalistischen Einstellung die physisch-physikalische und psychophysische Natur, und der personalistischen Einstellung die geistige Welt, in der das Ich und die Vgl. auch Schuhmann (1988), 186, der ganz richtig anmerkt, dass Husserls Begrifflichkeit in diesen visionär-teleologischen Aufzeichnungen über die Liebesgemeinschaft »oft merkwürdig unbestimmt und unreflektiert [bleibt]. Seine Rede vom ›wahren Selbst‹, das in der Liebesgemeinschaft realisiert wird, oder von der ›ethischen Echtheit‹ sind schmerzliche Paradebeispiele für eher suggestive als kritisch geklärte Begriffe«. Sogar Husserl selbst spricht in einer Vorlesung diesbezüglich von einem »Höhenflug« (Hua XXXVII, 241), was aber nicht als Selbstironie zu verstehen ist, sondern zeigt, dass er sich durchaus der noch mangelhaften Ausarbeitung bewusst war. 9 Diese verschiedenen Seinssphären stehen in vielfältigen, z. T. fundierenden Beziehungen zueinander. Die unterschiedlichen Auffassungen (naturalistisch, personalistisch) sind demnach nicht willkürlich und bloß subjektiv, sondern enthüllen einen »grundverschiedenen phänomenologischen Typus« (Hua IV, 210), unterschiedliche »Regionen«, »mit Beziehung auf die Zusammenhänge möglicher Erfahrungsausweisung und darauf zu basierender Erfahrungserkenntnis« (Hua IV, 210). 8
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anderen als Person/en und als Mitglied/er einer sozialen Welt verstanden werden können. Im Gegensatz zur naturalistischen Einstellung, in der wir uns und die Natur als Themen der Naturwissenschaft, als Naturobjekte verstehen, ist die personalistische Einstellung der lebensweltliche Boden, auf dem erst durch eine Abstraktionsleistung die naturalistische Einstellung erreicht wird. Als irreduzibel erweist sich für Husserl also einzig die Lebenswelt, aus der alle anderen Einstellungen erwachsen. Der Naturalismus wird als eine Einstellung aufgedeckt, die auf der natürlichen Einstellung 10 beruht, der sich auch fundamentale Realitäten der physikalischen und psychophysischen Welt erschließen, die aber gleichzeitig »blind« 11 ist für andere Sinnstrukturen, die ebenso der wirklichen Welt angehören (und den Ausgangspunkt jeder Naturforscherin darstellen, nämlich die Lebenswelt in personalistischer Einstellung): Der Naturwissenschaft, obschon sie das All der Realitäten erforscht, entschlüpft die Lebenswelt der Personen, sie berührt nicht die subtilste naturwissenschaftliche Theorie, und einfach darum, weil die thematische Gedankenrichtung des Naturforschers von der Lebenswirklichkeit aus einem theoretischen Strom folgt, der sie gleich zu Beginn verläßt und erst in der Form der Technik und so jeder naturwissenschaftlichen Anwendung im Leben zu ihr zurückführt. (Hua IV, 374)
Zu diesen Sinnstrukturen, die wesentlich nur in personalistischer Einstellung erschließbar sind und die »der subtilsten naturwissenschaftlichen Theorie entgehen«, gehört nun auch die Ethik. Es ist dies eine Sphäre, die durchaus nichts Mystisches hat (das hat sie nur, wenn man sich in ausschließlich naturalistischer Einstellung befindet) 12, sondern es ist vielmehr die Einstellung, Die natürliche Einstellung geht vom objektiven Vorhandensein der Welt und der Selbstobjektivierung des Bewusstseins als einem bloßen Vorkommnis in der Welt aus und hält diese Thesen in unhinterfragter Geltung. (Die Reduktion inhibiert die Geltung dieser Thesen.) 11 »Wer überall nur Natur sieht, Natur im Sinne und gleichsam mit den Augen der Geisteswissenschaften, ist eben blind für die Geistessphäre […]. Er sieht keine Personen und aus personalen Leistungen Sinn empfangenden Objekte – also keine ›Kultur‹-Objekte – er sieht eigentlich keine Personen, obschon er sich mit Personen in der Einstellung des naturalistischen Psychologen zu schaffen macht.« (Hua IV, 191) 12 Vgl. dazu auch McDowells (2001, 2002) Versuch, einen rein naturalistischen Naturbegriff zu überwinden bzw. ihm mit dem Aristotelischen Begriff der »Zweiten Natur« ein anderes, weiteres Konzept von »Natur« entgegenzusetzen, welches das »Geistige« nicht als puren »Mystizismus« abtun muss. 10
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in der wir allzeit sind, wenn wir miteinander leben, zueinander sprechen, einander im Gruße die Hände reichen, in Liebe und Abneigung, in Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede aufeinander bezogen sind; desgleichen in der wir sind, wenn wir die uns umgebenden Dinge eben als die uns umgebenden Dinge und nicht wie in der Naturwissenschaft als »objektive« Natur ansehen. Es handelt sich um eine durchaus natürliche und nicht um eine künstliche Einstellung, die erst durch besondere Hilfsmittel gewonnen und gewahrt werden müsste. (Hua IV, 183)
Das Grundgesetz der geistigen Welt und der personalistischen Einstellung ist die Motivation im Gegensatz zur Kausalität. Denn Motive als intentionale Zusammenhänge »verursachen« nicht wie äußere Ursachen, sondern bedürfen als handlungswirksame Gründe einer anerkennenden Stellungnahme von Seiten der Handelnden. 13 Sie sind »keine Naturgegebenheiten […], sondern Bestandteil der Sinninterpretation von Handlungen« 14. Auf diese Weise können Personen und ihre Handlungen auch zum Thema einer phänomenologischen Wissenschaft werden: Wie wird nun das Leben, wie werden Subjekte und ihre Habe zu wissenschaftlichen Themen? Sie werden es, indem wir sie eben nehmen, als was sie sind, und nun fragen, was ihnen als Subjekten, als affiziert durch ihre Umgebung, als Leidenden, als Tätigen zukommt; und desgleichen fragen, was sie an ihrer Umwelt leisten, schaffen, wie ihre Umwelt durch ihre Einzelleistungen und in wechselseitiger Motivation als Gesamtleistung wird, wächst, sich entwickelt. (Hua IV, 375)
Vgl. dazu den erhellenden Aufsatz von Sonja Rinofner-Kreidl (2010), 17: »Motiv ist, was mich veranlasst, den vorgestellten Zweck eines Wollens wert zu schätzen und deshalb in bestimmter Weise tätig zu werden. ›Motive‹ nennen wir Beweggründe unseres Tuns, sofern diese entweder im Vollzug der betreffenden Handlung bewusst sind oder der Handelnde sich ihrer in einer rückblickenden Rechtfertigung seines Tuns vergewissern kann.« 14 Rinofner-Kreidl (2010), 19. Dazu Rinofner-Kreidl ebd., 18, weiter: »Die auf Motivation einer Handlung abzielende Warum-Frage ist von der Warum-Frage zu unterscheiden, die auf die Verursachung einer Bewegung abzielt.« Und Husserl, ebenfalls unmissverständlich: »Aber die physiologischen Prozesse in den Sinnesorganen, in Nerven- und Ganglienzellen motivieren mich nicht, wenn sie das Auftreten von Empfindungsdaten, Auffassungen, psychischen Erlebnissen in meinem Bewußtsein psychophysisch bedingen. Was ich nicht ›weiß‹ […], ›bestimmt‹ mich nicht geistig. Und was nicht in meinem Erleben, sei es auch unbeachtet oder implizite intentional beschlossen ist, motiviert mich nicht, auch nicht in unbewußter Weise.« (Hua IV, 231) 13
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Die Ethik schließlich wird und muss nach der normgerechten, vernünftigen Beurteilung von Handlungen und Handlungsmotiven fragen, ebenso wie – in der formalen Axiologie und Praktik – nach apriorischen Vernunftgesetzen des Wertens und Wollens. Dies alles aber ist situiert in der personalen Sphäre, die allein die Motive in ihrem Eigensinn erschließbar, verstehbar und beurteilbar macht. Die erste Weichenstellung, die die Husserl’sche transzendentale Phänomenologie für eine ethische Fragestellung mit sich bringt, ist daher, dass die Dinge der Ethik in einer sie allein erschließenden und phänomenologisch als fundamental ausgewiesenen Sinnsphäre abgehandelt werden, dass sie sozusagen ihren speziellen »Ort« bekommen, der auch erkenntnistheoretische Berechtigung hat, insofern er lebensweltlicher Boden ist, der aller naturalistischen Befragung zugrunde liegt. (2) Die zweite Weichenstellung liegt im transzendentalen Grundmotiv der Selbstbesinnung, einerseits auf subjektive Konstitutionsleistungen überhaupt (Krisis- und Lebensweltmotiv), sowie, ethisch, auf Wollungen und Strebungen auf ein gesamtes aus Einsicht gestaltetes Leben hin. Selbstbesinnung, Selbstverantwortung und Erneuerung sind für Husserl ebenso für die Entwicklung der theoretischen transzendentalen Phänomenologie notwendig wie für den praktischen Lebensvollzug, im Sinne des speziellen »Berufs Philosophie« und des allgemeinen »Berufs Mensch«. 15 Es handelt sich also bei der Durchmessung der Möglichkeiten ethischer Besinnung, Fragestellung und Beurteilung niemals bloß um eine Betrachtung »von außen«, sondern um innere Möglichkeiten des intentional-personalen Lebens: »Handlungsanalyse ist an Bedingungen der Aufrichtigkeit gebunden (›Gewissenserforschung‹). So müssen wir sagen: Nicht nur Entscheidungen sind keine rein kognitiven Vorgänge [sondern praktische Vollzüge, die mich auch auf zukünftiges Handeln festlegen, SL], auch die Analysen der Entscheidungen und ihrer Resultate (Handlungen) sind keine rein kognitiven Vorgänge.« 16 Der Mensch als ein »in personalen Aktivitäten und Habitualitäten lebendes Wesen« (Hua VI, 272) hat das Vermögen »Willenskritik aus letztem Persönlichkeitsgrund« (Hua VI, 485) zu üben und kann sich so in der »Urstiftung der Selbstregierung« (Hua VI, 486) zu autonomer Freiheit erheben: »Der Gedanke einer das ganze Leben des personalen Ich umfassenden Selbstgesetzgebung und 15 16
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Vgl. A V 21, 122a, und Hua XXXVII, 252. Rinofner-Kreidl (2010), 20.
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Fünf Fragen an Husserls Ethik aus gegenwärtiger Perspektive
Selbstregelung ist bestimmend für Husserls spätere Ethik.« 17 So entfaltet er z. B. in den »Aufsätzen über Erneuerung« 18 1922 bis 1924 den Gedanken der Erneuerung als individuelle Lebensform echter Humanität und als »das oberste Thema aller Ethik« (Hua XXVII, 20). Es geht dabei um ein rechtfertigendes Verhalten, das sich in freien Entscheidungen über das ganze Leben erstreckt und in dieser umfassenden Haltung gemäß der Forderung der Vernunft immer nach Erneuerung strebt. Das Vernunftproblem zeigt sich damit als praktisches in einer personalen Lebenswelt; urdoxischen Setzungen und Habitualitäten wird Kritik als Selbstbesinnung und Erneuerung – analog zum theoretischen Evidenzbegriff – entgegengesetzt. Jede Vorhabe, insbesondere die Mannigfaltigkeiten der Vermittlung intentional implizierende, bedarf der wiederholenden Besinnung, der Wiederholung als Erneuerung der Ursprünglichkeit, der Evidenz ihres eigentlichen Sinnes. Im höchsten Maße gilt das vom Willen, gerichtet auf den letztlichen Sinn in der Totalität des Daseins. […] [D]iese Vorhabe muss besinnlich wiederholt klargemacht werden als Erneuerung der Selbstbesinnung, Erneuerung der Überschau, der Selbstkritik, der kritischen Durchsicht der strömend sich wandelnden Gesamtsituation, zentriert in der jeweiligen Nahsituation, als der unmittelbar praktisch zugänglichen Umwelt. (Hua VI, 485 f.)
Dies soll nur den generellen Hintergrund andeuten, vor dem sich eine Ethik aus der allgemeinen philosophischen und transzendentalphänomenologischen Haltung Husserls entfaltet. Phänomenologische Ethik nach Husserl ist aus diesen Gründen prinzipiell eine Ethik der Selbstbefragung und Selbstgestaltung, die immer neu die Prinzipien ihrer Grundorientierung hinterfragt, kontextsensitiv/situationsbezogen urteilt und dabei dem Gefühl (bis zur »absoluten Affektion«) – wie noch zu zeigen sein wird – einen wesentlichen Stellenwert neben der Vernunft einräumt.
II.
Gibt es Werte bzw. »moralische Tatsachen« als »objektive Entitäten«?
Nach dem oben Gesagten ist klar, dass »Tatsache« hier nicht als naturwissenschaftliche Tatsache verstanden werden kann, dass also in jedem 17 18
Melle (2004), 344. Vgl. Hua XXVII, 3–124. A
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Fall von einer anderen Sinn- und Seinssphäre die Rede sein muss, die nicht auf die naturwissenschaftliche Einstellung reduzierbar ist. Von welcher? Jeder Gegenstand und jede Gegenstandsart sind phänomenologisch über die Gegebenheitsweise zu verstehen, der sie korrelieren, d. h. über den Akt, in dem sich ihr Selbsterscheinen vollzieht. 19 Ein »Wert« ist nun für Husserl zunächst überhaupt nichts Selbstständiges, ja nicht einmal etwas Gegenständliches (worin sich theoretisch zwar eine gewisse Phänomentreue erweist, aber auch deutliche phänomenologische Schwierigkeiten auftauchen). Werthaftes zeigt sich nach Husserl an Gegenständen/Situationen, wird an diesen erfühlt. Es ist also nicht bloß ein subjektiver Zustand, der zufällig mit vielen Menschen übereinstimmt, weil wir ungefähr gleiche biologische Parameter und kulturelle Hintergründe haben, sondern etwas, das sich im Bezug zum Gegebenen (Gegenstand oder Situation) an diesem und als zu diesem gehörig erschließt. In der Sinnsphäre, die Husserl durch die phänomenologische Reduktion etabliert hat und in der phänomenologische Untersuchungen stattfinden, gibt es keine naturalistische Kluft zwischen einem kausal affizierenden »neutralen« Objekt und einem Subjekt, das in der Blackbox seiner Innerlichkeit irgendwelche Gefühle hat; vielmehr erfährt das Bewusstsein von vornherein eine »Welt«, die sich als solche in verschiedenen Sinnschichten zeigt (und über die man sich auch täuschen kann etc.). Die wichtige Erkenntnis, die Husserl dennoch von der empiristischen Gefühlsmoral übernimmt und phänomenologisch transformiert, ist, dass »der Ursprung der moralischen Begriffe, d. i. die Anschauungsquelle, in der die Begriffe ihre evidente Berechtigung ausweisen und in welcher der Sinn der Worte evident realisiert werden kann, zumindest teilweise Gefühlserlebnisse sind« 20. Nur über theoretische (kognitive) Akte wäre uns die Welt der Werte und damit ethische Fragen wie die nach dem Guten und Richtigen überhaupt nicht erschlossen, wir wären Dieses phänomenologische Grundgesetz des »Korrelationsapriori« hat Klaus Held treffend auf den Punkt gebracht: »Zwischen dem Ansichbestehen der Gegenstände und ihrer subjektiven situationsgebundenen Gegebenheitsweise besteht ein Wechselverhältnis, eine Korrelation, deren konkreter Charakter von der Art der Gegenständlichkeit abhängt. […] [D]as Klima eines Landes kommt mir auf gänzlich andere Weise ursprünglich zur Gegebenheit als der Inhalt eines mathematischen Lehrsatzes, und die originären Weisen des Erscheinens beider Sachen lassen sich nicht austauschen.« (Held (2002), 15) 20 Melle (1988), XVIII. 19
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unempfänglich dafür (so, wie man eben farbenblind ist). Es sind also die Gemütsakte des Wertens bzw. des »Wertnehmens«, in denen Werte ursprünglich gegeben sind. 21 Nun sind diese Gemütsakte von sich selbst her aber keine objektivierenden, d. h. gegenstandsgebenden Akte. Ihre Erschließungsweise ist eben nicht direkt mit dem Wahrnehmen (Korrelat: reale, d. h. raum-zeitlich individuierte Gegenstände) gleichzusetzen, auch wenn Husserl von einer »Analogie« spricht; genausowenig ist das Wertnehmen so wie mathematische oder logische Einsichten (Korrelat: ideale Gegenstände 22) zu behandeln. Es zeigt sich als eine ganz eigene Form des Erschließens, der man phänomenologisch auch in dieser Eigenheit gerecht werden muss. Husserl unterscheidet im Allgemeinen bei den intentionalen Akten drei fundamentale Aktarten 23: die intellektiven Akte, die fühlenden Akte und die Willensakte 24. In der ersten Klasse erfahren wir sachliche Bestimmungen (von realen oder idealen Gegenständen), in der zweiten erfühlen und erfahren wir Werte in ursprünglicher Weise und in der dritten entscheiden wir uns für Ziele und Handlungen. Zwischen den verschiedenen Aktklassen ist zudem ein unumkehrbares Fundierungsverhältnis festzustellen 25: So sind wertende Akte fundiert in objektivierenden Akten, da jeder Gegenstand, der gewertet werden soll, zuerst gegeben/vermeint (d. h. überhaupt als Objekt »da«) sein muss; darüber hinaus sind wollende Akte in wertenden fundiert, da Wertbestimmungen für ein konkretes Wollen (ein Vorziehen, Hintanstellen etc.) unerlässlich sind (ich kann nur etwas wollen, das ich auch als positiv vernehmen kann). 26 Nicht-objektivierende Akte »geben« also den Wert, machen ihn »Die ursprünglichste Wertkonstitution vollzieht sich im Gemüt als jene vortheoretische […] Hingabe des fühlenden Ichsubjekts, für die ich den Ausdruck Wertnehmung […] verwendet habe. Der Ausdruck bezeichnet also ein der Gefühlssphäre zugehöriges Analogon der Wahrnehmung […].« (Hua IV, 9) 22 Z. B. das Dreieck als geometrischer und idealer (auch: irrealer) Gegenstand, der durch die jeweiligen Dreiecksdarstellungen (raum-zeitlich lokalisierbare reale Gegenstände) nicht individualisiert oder gar »verbraucht« wird. 23 Vgl. dazu auch Melle (2004), 333. 24 Gemüts- und Willensakte zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine individuell-personelle Beziehung auf ein Vorgestelltes ausdrücken (also z. B. das Urteil »Ich freue mich, dass A b ist«, worin das fundierende Urteil »A ist b« schon impliziert ist). 25 Vgl. Melle (2004), 333. 26 »Die Unumkehrbarkeit der Fundierungsordnung […] wird jedoch insofern relativiert als einerseits alle Akte als Ichvollzüge ein zumindest geistiges Tun und somit willent21
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überhaupt vernehmbar, aber – nach Husserls Aktkonzeption aus den Logischen Untersuchungen – nicht als Gegenstand. Dies ist eine Schwierigkeit, die sich vor allem hinsichtlich der normativen Beurteilung, d. h. der Rechtsprädikation der Vernunft, nicht ohne Weiteres übergehen lässt und auf die Husserl auch in den Vorlesungen über Grundprobleme der Ethik 1908/09 immer wieder eingeht. 27 Denn ein nicht-objektivierendes Bewusstsein vermeint eigentlich keine Gegenstände, sondern ist bloß eine Form der Bewusstheit/des Bewussthabens, die aber schwerlich für Objektivität garantieren kann, wie das ein »objektiv« – und das heißt für Husserl auch immer ein intersubjektiv – konstituierter Gegenstand seinem Seinssinn nach kann. Solange wir uns nicht auf diese Sphäre mit einem vermeinenden (doxischen) Akt richten (was wir laut Husserl im »Wertnehmen« selbst nicht tun) 28, stellt sich die Frage, inwiefern hier »etwas« gegeben sein soll – und richten wir uns darauf, in einem vergegenständlichenden Akt – so fragt sich, ob wir es noch mit dem zu tun haben, was uns durch die Gemütsakte am Gegenstand »aufgegangen« oder »bewusst geworden« ist. In den Ideen I versucht Husserl diese schwierige Lage folgendermaßen zu lösen, indem er den Begriff der »Objektivierung« abstuft, d. h. in »potenziell« und »aktuell« aufteilt und die Aktualisierung den doxischen Akten zuspricht: 29 liche Akte sind und als andererseits darüberhinaus das Bewusstsein als Leben den Charakter des Strebens und Wirkens hat.« (Melle (2004), 333 f.) 27 Vgl. Hua XXVIII, 237–381. 28 »Sind wir in einem Akte des Wertens auf eine Sache gerichtet, so ist die Richtung auf die Sache ein Achten auf sie, ein sie Erfassen; aber ›gerichtet‹ sind wir – nur nicht in erfassender Weise – auch auf den Wert.« (Hua III/1, 76) 29 Ich schließe mich Melle in der Meinung an, dass »[d]ie Frage bleibt, wie sich der Unterschied zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten aufrechterhalten lässt, wenn auch die nicht-objektivierenden Akte gegenstandsgebende Akte sind« (Melle (1988), XXXVII) – und dies müssen sie in gewisser Weise sein, wenn aus ihnen intentionale Erfüllungen bis zu Evidenzen ablesbar sein sollen (vgl. Loidolt (2009), 160). Schuhmann legt diesen Kritikpunkt ebenfalls nahe: »Husserl [konnte sich], um die Objektivität der Werte zu garantieren, […] nicht auf den objektivierenden Akt einer kategorialen Anschauung berufen […], wie er das in der Frage der logischen Bedeutungen getan hatte. Denn ›das Werten ist nicht ein Schauen‹ (366), eben weil es keine Gegenstände vorstellig macht. Und der Wert ist mithin kein anschaubarer Gegenstand. Objekthabe ohne objektgebende Akte: das ist Husserls Problem.« (Schuhmann (1991), 108) Vgl. zu dieser Frage auch Ideen II (Hua IV), § 4, v. a. 8 ff. Hier präsentiert Husserl die »geglättetste« Version des Problems, indem er es durch »Einstellungsänderung« vom gemütshaften Genießen hin zum theoretischen Erfassen zu lösen versucht.
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Nach all dem ergibt es sich, daß alle Akte überhaupt – auch die Gemüts- und Willensakte – »objektivierende« sind, Gegenstände ursprünglich »konstituierend«, notwendige Quellen verschiedener Seinsregionen und damit auch zugehöriger Ontologien. Zum Beispiel: Das wertende Bewußtsein konstituiert die gegenüber der bloßen Sachenwelt neuartige »axiologische« Gegenständlichkeit, ein »Seiendes« neuer Region, sofern eben durch das Wesen des wertenden Bewußtseins überhaupt, aktuelle doxische Thesen als ideale Möglichkeiten vorgezeichnet sind, welche Gegenständlichkeiten eines neuartigen Gehaltes – Werte – als im wertenden Bewußtsein »vermeinte« zur Heraushebung bringen. Im Gemütsakte sind sie gemütsmäßig vermeint, sie kommen durch Aktualisierung des doxischen Gehaltes dieser Akte zu doxischem und weiter zu logisch-ausdrücklichem Gemeintsein. Jedes nicht-doxisch vollzogene Aktbewusstsein ist in dieser Art potentiell objektivierend, das doxische cogito allein vollzieht aktuelle Objektivierung. (Hua III/1, 272)
Wertgegenstände und Wertbestimmungen sind daher »keine bloßen Reflexionsbestimmungen, die aus einer Abstraktion aufgrund der inneren Wahrnehmung von Akten des Gefallens hervorgehen« 30. Sie sind gefühlsmäßig gegebene und potenziell gegenständliche Korrelate, die dann als solche aktualisiert werden, wenn sich ein objektivierender Akt auf das Werten sowie auf den Wert selbst richtet. Simpel formuliert: Macht man sich explizit, was einem gefühlsmäßig an einer Sache aufgegangen ist, so betritt man einen neuen Bereich des »Sprechens/ Denkens über«, der neue und andere Eigenschaften aufweist als das Sprechen/Denken über die bloße Sache allein (das raum-zeitlich Gegenständliche). Dadurch ergibt sich auch die Doppeldeutigkeit des Wortes »Wert«: Einerseits ist damit die werte Sache, der werte Gegenstand gemeint, andererseits der Wert »an sich«. »Werte haben ihre Gegenstandsseite und zugleich ihre spezifische Wertseite, die erstere für die letztere fundierend, und wenn Werte selbst zu Gegenständen der urteilenden Erkenntnis werden, so wird die Wertseite selbst objektiviert.« (Hua XXVIII, 72) Erst diese zum neuen »Gegenstand« objektivierte Schicht der Wertseite können wir als den »Wert selbst« oder den »Wert an sich« bezeichnen. Dieser ist ein idealer Gegenstand mit idealer Existenz 31, gehört für Husserl also in eine »total neue Dimension« (Hua XXVIII, XLI): »Was nun die Werte betrifft, so fallen sie Husserl zufolge ›nicht unter die prinzipielle Hauptregion Realität‹. Werte sind ›sekun30 31
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däre Gegenstände‹, die nur in sekundärem Sinn real oder irreal sind, je nachdem der fundierende Gegenstand real oder irreal ist. 32 Werte scheinen so eine eigene, vom realen wie vom irrealen Sein unterschiedene eigene Seinssphäre zu bilden.« 33 Husserls Wertbegriff erweist sich folglich als äußerst komplex. 34 Dies ergibt sich aus der Vielfalt der intentionalen Schichtungen, aus denen die Wertobjektität aufgebaut ist, und die eine phänomenologische Analyse zu Tage fördert. Wichtig ist, dass sich in Husserls Wertkonzeption im Fortgang seiner ethischen Überlegungen doch ein deutlicher Wandel vollzieht. Ist seine frühe Ethik bis zu den Vorlesungen 1914 von dem Begriff des »Wertnehmens« geprägt, der, auch wenn er nicht gleichgesetzt, doch in Analogie zum Wahrnehmen verwendet wird, so wird Husserl das Problematische dieser Analogie immer deutlicher. Denn das Ethische ruht damit noch immer auf einer Grundkonzeption des Erkennens (wie viele Probleme damit auch verbunden sein mögen), also des Theoretischen und nicht des Praktischen. So schreibt er in einem Forschungsmanuskript aus den 20er Jahren: »Die Stimme des Gewissens, des absoluten Sollens, kann von mir etwas fordern, was ich keineswegs als das in der Wertvergleichung Beste erkennen würde.« (Hua XXVIII, XLVII): »Das Spielen einer Mozartschen Sonate ist schöner als das Waschen des Kindes, aber das letztere ist Pflicht, wenn es jetzt eben an der Zeit ist. Alle praktischen Güter stehen für mich nicht in einer Ebene, auch nicht alle, die ich verwirklichen könnte.« (Hua XXVIII, XLVII) Aus diesem Grund wendet sich Husserl mehr und mehr einer »Ethik der Person« zu, für die Werte keine bloß erfühlbaren und weiter objektivierbaren Entitäten sind, die dann rational miteinander verglichen werden könnten (Wertsteigerung, Wertsummation etc.), sondern die, vor allem dann, wenn es um ethisch relevantes Handeln geht, als eine Art »Ruf« an die individuelle Person ergehen: Bsp.: Die Schönheit einer mathematischen Formel, die ein idealer oder irrealer Gegenstand ist, im Vergleich zur Schönheit des realen Gegenstandes »Gebäude«. 33 Melle (1988), XL. 34 Roth (1960), 74, Fn. 2, kritisiert: »Husserls Wertbegriff fehlt doch die letzte Prägnanz.« Gegen diesen Vorwurf muss man Husserl doch verteidigen. Denn Husserl ist sehr aufmerksam auf den fragilen Status eines Wert-»Gegenstands« in Zusammenhang mit der Sache, die als werte dasteht. Deshalb verzichtet er darauf, einen bloß fingierten selbstständigen »Gegenstand« am Phänomen auszumachen: »Im Objekt ist nicht alles Wert, das Objekt ist Wert als die und die Bestimmtheiten gebend, und diese sind die primären Träger der Wertcharaktere.« (Husserl, Manuskriptzitat, zitiert nach Roth (1960), 74, Fn. 2) 32
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Ein Besonderes ist es aber, dass das Ich nicht nur polare, zentrierende Innerlichkeit ist, dabei aus sich Sinn und Wert und Tat leistende Innerlichkeit, sondern dass es auch individuelles Ich ist, das in all seinem Vorstellen, fühlend Werten, Sichentscheiden noch ein tiefstes Zentrum hat, das Zentrum jener Liebe im ausgezeichneten personalen Sinne, das Ich, das in dieser Liebe einem »Ruf«, einer »Berufung« folgt, einem innersten Ruf, der die tiefste Innerlichkeit, das innerste Zentrum des Ich selbst trifft und zu neuartigen Entscheidungen, zu neuartigen »Selbstverantwortungen«, Selbstrechtfertigungen bestimmt wird. Man kann wohl sagen, das Rufende sind schon geahnte oder erschaute Werte. 35
Der Wertbegriff ändert sich damit substanziell 36: Werte sind nicht in eine pure Sphäre der Erkennbarkeit gestellt, sondern sie sind »rufende«, sogar affektiv rufende; als »geahnte« entstehen sie überhaupt erst im liebenden Wertschätzen. 37 Was aber noch erstaunlicher ist, ist dass Husserl die Individualisierung der Person an diesen Ruf als die Bedingung ihrer Möglichkeit zurückbindet. Das »Absolute der Persönlichkeit« wird durch die »absoluten Sollensforderungen« selbst konstituiert. 38
III. Wie verhalten sich intuitives Erkennen von »richtigen« Werten/Bewertungen und intersubjektive Rechtfertigung zueinander? Bisher haben wir nur von der Art der Wertgegebenheit und der intentionalen Schichtung der Wertobjektität gesprochen. In den Bereich der Ethik aber fallen die Klassen der Gemüts- und Willensakte, insofern sie unter dem Rechtsurteil der Vernunft stehen. Das bedeutet, dass es nicht nur ein Irgendwie-Werten und -Wollen als rein subjektiv-relatives geben kann (sonst könnte man ja auch die Fragen der Ethik »Was soll ich tun?«/»Wie soll ich leben?« nicht einmal stellen, geschweige denn beB I 21, 55a. Vgl. Melle (2005), 135: »Husserl now distinguishes between two completely different kinds of values: objective values and values of love. The first are given in a value-reception as objective characters of the object; the second are given to the object through the love of the subject. This love is something active; in one place, Husserl calls it ›a personal decision of the active heart‹, indicating that it can no longer be classified as a mere feeling, but involves an element of choice.« 37 Vgl. Melle (2004), 349. 38 Vgl. Loidolt (2009), 187 f. 35 36
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antworten), sondern eben ein richtiges Werten und ein richtiges Wollen. 39 Diese Richtigkeit ist nun aber in der Wertsphäre nicht so leicht einzusehen, wie dass 2 2 = 4 (Selbstgegebenheit idealer Gegenstände; ich kann mich verrechnen, das ändert aber an der Richtigkeit der Gleichung nichts) und auch nicht in gleicher Weise auszuweisen wie die Richtigkeit der Behauptung, dass auf dem Tisch ein Glas steht (Selbstgegebenheit realer Gegenstände; intersubjektive Evidenz der Bewährung). Ebenso wurde im Vorhergehenden von einer Sinn- und Seinssphäre der Werte gesprochen. Eine Seinssphäre lässt sich aber nur behaupten, wenn Werte nicht bloß subjektive Chimären sind, sondern behauptet und gerechtfertigt bzw. ausgewiesen werden kann, dass etwas so gewertet wird, wie es eben gewertet werden soll, d. h. wie es objektiv wert ist. Husserls Vorgehen ist hier zunächst ganz parallel zu seiner antipsychologistischen Argumentation in den Logischen Untersuchungen zu verstehen: (1) Durch die Herausstellung der Gemütsakte als Akte, die etwas Bewusstseinstranszendentes intendieren (auch wenn sie sich nicht als Gegenstand auf es richten), soll die psychologistische und skeptische Verwechslung des Wertens mit dem Wert ein für allemal ausgeräumt werden: Denn ebenso wie bei allen anderen Akten ist das Erfahren vom Erfahrenen (dem intentionalen Objekt selbst) zu unterscheiden. Das Fühlen vermeint nun zwar nicht doxisch, d. h. objektivierend/setzend, aber es ist dennoch eine Gegebenheitsweise von Bewusstseinstranszendentem (auf das sich ein objektivierender Akt richten kann). (2) Hierzu kommt ein axiologisch–formales Kriterium, nämlich der »Satz vom ausgeschlossenen Vierten«, der damit zu tun hat, dass neben positiver und negativer Wertigkeit Wertneutralität ein drittes Vorkommnis in der Wertewelt ist, das »wertende Vernunft als solche festzustellen hat« (Hua XXVIII, 84) (ganz im Gegensatz zur Erkenntnissphäre, wo Sätze nur »wahr« oder »falsch«, aber nicht »neutral« sein können). Der Satz vom ausgeschlossenen Vierten besagt nun, dass einem Für-Wert-Halten korrelativ ein objektiv positives oder negatives Wertsein oder ein Wertneutralsein entspricht – aber keine vierte VaDas richtige Wollen besteht, kurz gefasst, im Wollen des als richtig Erkannten, d. h. des Besten innerhalb meiner praktischen Möglichkeiten. In diese kurze Formel des Brentano’schen kategorischen Imperativs lässt sich die frühe Ethik Husserls zusammenfassen.
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riante möglich ist, soll der intentionale Bezug wirklich ein intentionaler Bezug sein. Mit diesen Sätzen ist die Strenge und eigentliche Objektivität der Geltung für die axiologische Sphäre ausgesprochen. Es ist gesagt, daß, wenn M eine beliebige Materie ist, sie nicht bloß überhaupt Inhalt eines wertenden Verhaltens sein kann, eines Verhaltens positiven oder negativen oder gleichgültigen Wertens, sondern daß dem Für-Wert-gehalten-Werden ein objektives Wertsein entspricht, ein im engeren Sinn objektives positives oder negatives Wertsein oder ein objektives Wertlossein. (Hua XXVIII, 88)
Hier beginnen aber schon die Schwierigkeiten, denn das obige Zitat ist mehr als eine programmatische Forderung denn als einfaches Rezept zur Anwendung zu verstehen. Husserl gibt in seiner Vorlesung von 1914 zunächst wichtige Hinweise formaler Natur (formale Axiologie und Praktik), wie an diese Aufgabe heranzugehen wäre: So weist er darauf hin, dass (1) Wertungen in ihrer Gültigkeit relativ auf eine Motivationslage sind, d. h. positive und negative Wertprädikate sich nur bei gleicher Motivationslage ausschließen. Zwei scheinbar entgegengesetzte Wertungen können daher miteinander verträglich und beide »richtig« sein, wenn ihnen unterschiedliche Motivationslagen zugrunde liegen. 40 (2) Ein weiteres, sehr wichtiges Element der individuellen Personbezogenheit, Situations- und Kontextsensitivität, welche die Ethik Husserls aufweist, entstammt der formalen Praktik: Es gibt eine wesentliche Relativität des Handelns auf Subjekt und Zeitpunkt, denn »die Objektivität der praktischen Möglichkeit ist wesentlich gebunden an das betreffende Subjekt, und dasselbe gilt für den gesamten praktischen Bereich des Subjekts für jeden Moment seines möglichen Handelns […]« (Hua XXVIII, 149). Mit diesem phronesis-Moment formuliert Husserl 1914 seinen an Brentano anschließenden kategorischen Imperativ: »Tue das Beste unter dem Erreichbaren!« (Hua XXVIII, 153) Dieser soll deshalb nicht am Formalismus des kantischen kategorischen Imperativs leiden, weil sowohl das »Beste« (durch Wertvergleichung, Wertsummation etc.) als auch das »Erreichbare« (durch praktische Abwägungen, Konsequenzgesetze etc.) material und objektiv von sich selbst her bestimmbar wären, nur eben relativ auf das jeweilige Subjekt und die jeweilige Situation. In genau jedem Einzelfall gebe es dann ein objektiv Gesolltes und »jedes andere Subjekt [müßte] ebenso handeln […], wenn wir seinen praktischen Bereich verwandelten in 40
Vgl. Melle (1998), XXIX. A
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denjenigen des Handelnden, und dies gründet eben darin, daß ausschließlich reine Wesensgesetze die Richtigkeit vorschreiben und bloß Anwendung finden auf den faktisch gegebenen Einzelfall und das faktische Subjekt« (Hua XXVIII, 138). Jeder könnte also sozusagen »nachrechnen« (Hua XXVIII, 153), ob diese oder jene Entscheidung die richtige gewesen sei und müsste sie sich ebenso »evident« machen können. Ein dritter Hinweis aus formaler Axiologie und Praktik sei noch erlaubt, bevor wir auf die sich nun aufdrängende Frage dieses Kapitels nach dem Zusammenhang von intersubjektiver Rechtfertigung und intuitiver Werte- und Wesensschau eingehen: (3) Das rationale Verfahren der Prüfung von Wertableitungen: Da Werte auch oft abgeleitete Werte sein können 41, ist es notwendig, in einer Motivationsanalyse zu prüfen, welche Wertungen vernünftig motiviert sind und tatsächlich mit der Sache zu tun haben und welche unberechtigt sind (Husserls Beispiel ist die Übertragung einer Antipathie von einer unsympathischen Romanfigur auf eine Bekannte durch Namensgleichheit: »Was kann die arme Eulalie dafür, daß ich einen Roman einmal gelesen habe, in dem ein Scheusal von Frauenzimmer Eulalie hieß?« (Hua XXVIII, 410)). Letztendlich, so Husserls Vorstellung, müsste man sich durch diese Methode von unberechtigten Wertableitungen und Ableitungen überhaupt befreien können und zu direkt fundierten Gefühlen vordringen können: Wie auf rein intellektuellem Gebiet der Rückgang auf die Anschauung die uneigentliche, unvollkommene und indirekte Vorstellung realisieren muß, so auf dem Gefühlsgebiet und in analoger Weise der Rückgang auf die Objektanschauung und auf das darauf sich gründende eigentliche, d. i. direkte Gefühl, auf das durch den wirklich gegebenen Objektinhalt fundierte Gefühl. (Hua XXVIII, 410)
Es lässt sich fragen, inwieweit rationale Wertableitung auf einen letzten »objektiven« Grundwert (ein Wert, der nicht aus einer anderen Wertung konsequenzlogisch folgt und daher auf einen wertgenommenen Gegenstand/Sachverhalt selbst verweist) wirklich möglich ist. 42 Denn es ist erstens keineswegs gegeben, dass sich im »Rückgang auf die Objektanschauung«, d. h. bei klarer Gegebenheit des Gegenstands/ Sachverhalts auch eine ebenso klare Bewertung einstellt – die Klarheit »Ist W ein Wertobjekt bzw. ein wertvoller Sachverhalt und ist A eine Ursache von W […], so überträgt sich der Wert von W auf A […].« (Hua XXVII, 78) 42 Vgl. zu dieser These auch Loidolt (2009), 172–181. 41
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der doxischen Akte hat ja im Grunde nur beschränkt mit der Klarheit meiner Gemütsstimmung zu tun und ich kann sehr wohl etwas klar gegeben haben, über das mein Gefühl noch immer verworren ist. Zweitens könnte sich zeigen, dass bei einer radikalen Abstraktion von der geschichtlich-kulturellen Eingebettetheit qua Abgeleitetheit unseres Wertnehmens sich manche Werte (und sogar manche Sachverhalte) schlichtweg in Luft auflösen würden. 43 Deshalb ist es als Stärke anzusehen und »mit Husserl gegen Husserl« ernstzunehmen, dass er ursprünglich für eine Ethik in personalistischer Einstellung plädiert, in der zur Person immer irreduzibel eine Umwelt gehört, die per se geschichtlich-kulturell kodiert ist. Solche Ableitungen zu vollziehen kann also nie heißen, vollständig über seine Perspektive oder die Perspektivität überhaupt hinauszuspringen, da man – wenn man es überhaupt könnte – möglicherweise gleich über das Werthafte selbst hinausspringen würde. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass man nie in einer unhinterfragbaren Selbstgewissheit ankommen kann, die mögliche Evidenzform von Wertungen also ebenso wie bei raum-zeitlichen Gegenständen (die mir auch immer nur von einer Seite gegeben sind) immer »inadäquat« sein muss. 44 Alle drei erwähnten Hinweise für die ethische Überlegung sind daher nicht außerhalb oder jenseits der intersubjektiven Rechtfertigung zu verstehen. Dies wäre schon insofern ein grobes Missver-
Wenn man versucht, sich aus seinem kulturell-geschichtlichen Rahmen herauszubewegen – was gerade für das Gefühl unmöglich ist, da es etwas Praktisches, Situationsbezogenes und kein allgemeines »Schauen« ist – dann stehen die meisten, wenn nicht alle Dinge plötzlich wertfrei da. Dies betrifft nicht nur den »Wilde[n], der in abergläubischer Weise einen Fetisch verehrt« und der, in Husserls Sicht, damit etwas wertet »was nicht nur hnichti in der Hinsicht wert ist und nicht nur nicht in dem Sinn positiv wert ist, den er bewußt hat, sondern was überhaupt ›wertlos‹ ist« (Hua XXVIII, 83). Auch viele unserer Werte (Demokratie), und Wertgegenstände (z. B. die »Guernica« von Picasso und alle Kunst-Gegenstände, insofern sie in einem geschichtlich-kulturellen Zusammenhang stehen und schon einen gewissen »Blick« erfordern) könnten durch eine solche Reduktion (wenn wir ihrer fähig wären) plötzlich als völlig sinn- und wertlos dastehen. Vgl. Loidolt (2009), 173 f. 44 Vgl. die verschiedenen Formen der Evidenz (apodiktisch, adäquat, inadäquat etc.), die durch ihre Gegenstände wesensmäßig vorgezeichnet sind und – v. a. in der Kritik des Evidenzbegriffs – oft zu wenig beachtet werden (Hua III/1, 314–336). Raum-zeitliche Gegenstände können niemals apodiktische und auch nicht adäquate Evidenz liefern, da sie nie gleichzeitig von allen Perspektiven gesehen werden können. Adäquate Dinggegebenheit ist für Husserl wesensmäßig nur als »Idee im Kantischen Sinn« möglich. 43
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ständnis Husserls, als Konstitution von Welt und Gegenständlichkeit immer intersubjektive Konstitution sein muss. Dies gilt natürlich auch für die Welt der Werte und die Welt der ethischen Handlungsentscheidungen, wollen sie »objektive« und vernünftig beurteilbare sein. Um allerdings den Unterschied zwischen »Rechtfertigung« und »Wahrheit« aufrecht zu erhalten, ist es bei Husserl immer der Gegenstand bzw. das Gemeinte selbst, das letztlich auszuweisen ist und über das man sich auch täuschen kann (das man in verschiedenen Klarheitsstufen gegeben haben kann etc.). Um zu einer klaren Sicht der eigenen, manchmal verworrenen Bewertungen, Gefühls- und Motivationslagen zu kommen und auf dieser Basis den Handlungsspielraum und das »Beste unter dem Erreichbaren« zu bewerten, bedarf es nun zweifellos des Durchsprechens, des Durchdenkens, des Gründe Gebens (Husserl spricht z. B. auch von der Fiktion des »unbeteiligten Zuschauers« 45). Wie in der eidetischen Variation handelt es sich dabei nicht um eine mysteriöse Wesensschau, sondern um konkrete Arbeit am Begriff bzw. an der Situationsanalyse. Intuitives und Diskursives gehen dabei Hand in Hand. Auf jeden Fall kann die Zustimmung den anderen nur »angesonnen« und argumentativ nahe gelegt werden, zur Gefühls-, Wertungs- und Willensklarheit muss jeder selbst kommen. Dies löst aber noch immer nicht ein methodisches Kernproblem, das die Anschauung(sgegebenheit) selbst betrifft und das wir schon im vorigen Kapitel (2.) angedeutet haben (auch hier kann ich es nur in seinen gröbsten Zügen skizzieren) 46: Die Schwierigkeit, dass Gemütsakte eigentlich nicht gegenstandsgebend sind und die Frage, wie es daher möglich sein soll, über Gemütsakte, in denen das Werthafte ja gegeben ist, dieses auch als richtig Gewertetes, Objektives auszuweisen. Husserl formuliert dies als ein Problem der Phänomenologie der Vernunft und der Rechtsprädikationen der Vernunft. Da es den phänomenologischen Analysen zufolge drei Aktarten gibt, deren Gegenstandsgebiet durch eine je eigene »Logik« beherrscht wird, gibt es nach Husserl auch drei Vernunftarten: eine theoretisch-logische, eine axiologische und eine praktische Vernunft. Diese drei Vernunftarten erfül»So werden wir auch gerecht der von manchen historischen Ethikern angeführten Fiktion des unbeteiligten Zuschauers. Wir handeln richtig, wenn ein beliebig unbeteiligter Zuschauer sich in unsere Lage hineinversetzend unser Handeln anerkennen müßte.« (Hua XXVIII, 138) 46 Vgl. dazu Loidolt (2009), 147–156, und 168–181. 45
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len nun die jeweils analoge Aufgabe, innerhalb ihres Gebiets »Recht zu sprechen«. Das Problem ist dabei folgendes: Da der Rechtsausweis phänomenologisch prinzipiell nur über Anschauungsgegebenheit erfolgt (vgl. das »Prinzip aller Prinzipien« 47) und diese einen gegenstandsgebenden, doxischen (setzenden) Akt voraussetzt, resultiert in Sachen Rechtssprechung eine »Allherrschaft« der logischen/intellektiven/ »theoretischen« Vernunft. Denn: »Schon das Sehen im engeren und weiteren Sinn, also auch im Sinne des ›Einsehens‹ ist ein doxischer Akt.« (Hua XXVIII, 68) 48 Eine Rechtsprädikation ist unmöglich zu leisten ohne die »Akte des Anschauens […], in denen Gegenstände gegeben werden und durch ihre Anschauungsgegebenheit letzte Gründe abgeben für die Berechtigung ihres Denkens« (Hua XXVIII, 277). Husserl bezeichnet dies als Rechtsprechung der doxischen Vernünftigkeit, die so allein »den Werturteilen den begründenden Rechtsausweis verleih[t]« (Hua XXVIII, 281): »[B]loß wertende Vernunft sieht nicht, begreift nicht, expliziert nicht, prädiziert nicht.« (Hua XXVIII, 69) Die logische Vernunft muss Husserl zufolge also »[h]ineinblicken in wertende Akte« (Hua XXVIII, 281), um eine notwendige Unterlage für das urteilende Feststellen der Normgerechtigkeit zu haben. Trotzdem sollen die Rechtsgründe selbst in den anderen Vernunftarten gleichsam unthematisierbar vorliegen: »Die logischen Akte leuchten aber nur hinein und machen nur sichtbar, was da ist. Sie konstituieren nur die logischen Formen, nicht aber die in den Formen gefaßten eigentümlichen Vernunftgehalte der parallelen Vernunftsphären.« (Hua XXVIII, 69) 49 Es ist in der Tat sehr schwierig, sich vorzustellen, in welcher Weise diese »eigentümlichen Vernunftgehalte« vorliegen, die die logische »Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär […] darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich da gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine Theorie irre machen.« (Hua III/1, 51) 48 »[L]ogische Vernunft hat […] den einzigartigen Vorzug, daß sie nicht nur in ihrem eigenen Feld, sondern im Feld jeder anderen Gattung des Vermeinens, also in jeder anderen Vernunftsphäre Recht formuliert, Rechtmäßigkeit bestimmt, Rechtsgesetze als Gesetze prädiziert und ausspricht. Wertende und praktische Vernunft sind sozusagen stumm und in gewisser Weise blind.« (Hua XXVIII, 68) 49 Ebenso parallel zum Willen: »Wenn der logische Akt der Rechtsprädikation hier Rechtsgründe herausholt, so holt er sie eben nur heraus, sie liegen im Willensgebiet als das ihm eigentümliche Willensrecht.« (Hua XXVIII, 71) »Er [der Wille] bedarf logischer Akte, um zu Wort kommen zu können, und das Resultat ist das Sollensurteil, das ein Urteil und kein Wille ist.« (Hua XXVIII, 64) 47
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Vernunft erst erfasst und in Form bringt: Denn in ihr und durch sie wird der Rechtscharakter als solcher erst konstituiert, formuliert, begriffen. Es muss daher gefragt werden, welche »Evidenz« hier vorliegen soll und wie diese als Rechtsgrund begriffen werden kann. Der Problemkreis lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der eigentliche Akt der vernünftigen Rechtsprädikation findet durch die logische Vernunft statt, dieses »Recht« d. h. diese »Evidenz« 50 liegt aber auf wie immer geartete, »blinde« Weise in der Gemütssphäre schon vor. Anschauungsgegebenheit eines Werts bzw. einer richtigen Wertung sind also immer schon ein gemeinsames Produkt von theoretischer und axiologischer (und analog praktischer) Vernunft. Bedeutet das nicht auch, so kann man fragen, eine gewisse Relativierung dessen, was unter »Intuitionismus« normalerweise verstanden und oft zurückgewiesen wird? Denn es sind ja stets Werkzeuge der Kritik, der Reflexion, der Diskussion und Rechtfertigung am Werk, die zu einer Klärung und damit Verobjektivierung des Wertens führen sollen. So kann man sich etwa vorstellen, dass gerade das »In-die-logische-FormBringen«, das die theoretische Vernunft leisten soll, Anstoß gibt, Gefühlsunklarheiten noch weiter zu klären (oder sich klarzumachen, warum sie nicht zu klären sind), sich Einwände zu machen, Einwände anderer zu berücksichtigen etc. Gerade also die Herausarbeitung der verschiedenen intentionalen Schichtungen, die nicht nur das Gewertete selbst, sondern, zusätzlich, seine Richtigkeit in der richtigen Situation sehen lassen, macht auf die Vielfältigkeit der Bewusstseinsleistungen aufmerksam, die ein unter Vernunftnormen stehendes Wertnehmen und Wollen ausmachen. Deutlich wird in dieser intensiven Auseinandersetzung auch, wie wichtig für Husserl »objektive Geltung« in der Ethik ist (in dieser Hinsicht ist er Kant sehr ähnlich: Wie soll irgendein Element einer Ethik verbindlich sein, wenn es nicht allgemeine Geltung beanspruchen kann? »[S]ubjektives Gelten ist gar kein Gelten und hebt den Begriff des Geltens auf« (Hua XXVIII, 403)) und wie sehr gerade aufgrund seiner phänomenologischen Analysen die Probleme, die mit einem solchen Anspruch verbunden sind, sichtbar werden. Husserls ethische Konzeption um 1914 ruht auf den Grundpfeilern, dass das »Beste unter Husserl geht, auf Brentano verweisend, zunächst von einem Analogon der Evidenz bei den nicht-objektivierenden Akten aus; es fehlen allerdings genauere Ausführungen, wie dieses zu erfassen bzw. zu beschreiben wäre.
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dem Erreichbaren« getan werden solle (Kombination von Axiologie und Praktik) und beides verursacht nicht nur der phänomenologischen Aktkonzeption, sondern auch ihren Ausweisungsstrategien gehörige Probleme. Gerade darin aber trifft die Analyse auch etwas Wahres an der Gegebenheit des Werthaften, das nicht Nichts ist, das aber auch nicht einfach am Gegenstand »abzulesen« ist. Natürlich ist es schwer abzuleugnen, dass wir fühlen (und nicht primär kognitiv feststellen), dass gewisse Dinge, Situationen, Sachverhalte in sich einen negativen oder positiven Wert, also quasi intrinsische Qualitäten besitzen, die sich uns als eben solches Vernehmungsfähiges erschließen – aber wie sollen wir unterscheiden können zwischen unseren geschichtlichen, kulturellen, sozialen, politischen etc. Befangenheiten, die ebenso deutlich das Gefühl lenken, und dem, was sich eben nicht auf gleiche Weise zeigt wie das Wahrgenommene (oder das (naturwissenschaftlich) Messbare) – dem Werthaften an der Sache selbst? Hier scheinen allein stets fortgesetzte kritische Analyse, Diskussion und »Selbstbesinnung« Abhilfe zu schaffen. Dieser notwendigen und sich ins Unendliche fortsetzenden kritischen Arbeit steht aber auch immer der andere Aspekt gegenüber, dass es ohne Gefühl – so trügerisch es sein kann – gar keine Wertnehmung geben würde. So unabdinglich also diese »Ableitungsanamnesen« sind, die uns unsere subjektiven und intersubjektiven (kulturell-geschichtlich relativen) Motivationslagen klar machen sollen, so sehr sollte uns im Gegenzug die personalistische Einstellung daran erinnern, dass gerade diese Beschränkung und Befangenheit des Gefühlshaften und Situationsbezogenen die Ermöglichungsbedingung des Vernehmens von Werthaftem darstellt. Der Wert oder die mögliche Praxis zeigen sich darin erst, wenn auch immer in einer bestimmten geschichtlichen Erscheinungsform. Oder, anders formuliert: Die Bedingung der Möglichkeit der Vernehmbarkeit von Werthaftem ist kulturell-geschichtliche intersubjektive Situativität (so wie die Handlungsmöglichkeit des Subjekts u. a. in der Bedingtheit seines Leibes liegt). Das ist selbstverständlich keine Lösung der Problematik, aber eine phänomenologische Explikation der Lage, die auch impliziert, dass es sich in der Ethik nur um einen unendlichen inter/subjektiven Diskussionsmodus handeln kann, der beständiger Kritik und Erneuerung ausgesetzt ist, ohne dabei die Dringlichkeit der Geltung und Verbindlichkeit aufzugeben. Aber – und hier kommt der große Einwand, den Husserl sich in seiner späten Ethik selbst macht: Hat das alles irgendetwas mit dem A
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Kern des Ethischen selbst zu tun, nämlich damit, was es heißt, einem Sollen ausgesetzt zu sein? So wie sich im vorigen Kapitel die Analogie von Wertnehmen und Wahrnehmen als zu »theoretisch« enthüllte, so scheinen Husserl auch die Richtigkeitsdiskussionen zu »theoretisch« und zu »technisch« 51 zu sein, selbst wenn sie situationsbezogen sind. Dafür mag ein Einwand Moritz Geigers, den der Herausgeber Melle aus den Manuskripten zitiert, nicht unwesentlich gewesen sein: Es ist klar, daß eine nach dem bloßen kategorischen Imperativ, wie er hier im Anschluss an Brentano zugrundegelegt worden ist, durchgeführte Ethik keine Ethik ist. […] [H]at mir [doch] schon 1907 Geiger den berechtigten Einwand gemacht, dass es lächerlich wäre, an eine Mutter die Forderung zu stellen, sie solle erst erwägen, ob die Förderung ihres Kindes das Beste in ihrem praktischen Bereich sei. (Hua XXVIII, XLVI)
Damit scheint die ganze Vernunftethik plötzlich sehr reduziert auf die Fälle, in denen ich wirklich ausschließlich rational (und damit ist auch gemeint: rational fühlend) zwischen verschiedenen Möglichkeiten abwägen kann, ohne einer Affektion ausgesetzt zu sein, die mich existenziell in mein jeweiliges Sollen 52 verstrickt. Wie viele solche Fälle gibt es? Der späte Husserl wird aufmerksam darauf, dass es gerade die Ausgesetztheit des Angesprochenseins ist, die die Unabweisbarkeit des Ethischen ausmacht und damit sozusagen ein »Faktum der praktischen Vernunft« in affektiver Hinsicht darstellt. 53 Bezüglich der RechtferDies wird auch deutlich in einem Manuskript zur Ethik aus dem SS 1930: »[F]ormale Ontologie der absoluten Werte und des Lebens auf sie hin (formale absolute Axiologie und Praktik). Absolute Lebenskunst – formale Kunstlehre des richtigen individuellen Lebens, also in gewisser Weise eine ›Technologie‹. Aber kann ein solches Leben wirklich ›technisiert‹ verlaufen? Handelt es sich um ein zunächst formales und dann materiales Regelsystem, das ich ›mechanisch‹ anzuwenden habe? Kann ›ethisches‹ Leben Leben in einem ethischen Betrieb werden? Hier ist in der Tat eine Gefahr. Denn absolut Gesolltes, absoluter Wert ist das nur in der absoluten Stellungnahme, als einer absoluten Liebe; und eine Liebe, die mechanisiert wäre, ist keine Liebe. Obschon Liebe habituell wird, ist sie doch echt und wirklich nur in aktiver Betätigung.« (E III 4, 12b) 52 Husserl sagt dazu in den Ethik-Vorlesungen von 1920: »Was ich soll, ist bestimmt durch das ›Ich kann‹, und was ich kann, ist ein anderes, als was ein jeder andere kann. Was ich kann, das ist aber nicht bloß in meiner momentanen Umgebung beschlossen, sondern mein gegenwärtiger Wille umspannt meinen gesamten Zukunftshorizont, weil mein ›Ich kann‹ in seine mehr oder minder unbestimmten und bestimmten Weiten hineinreicht.« (Hua XXXVII, 252) 53 Diese These habe ich versucht, in einem eigenen Aufsatz auszuarbeiten. Vgl. Loidolt (2010). 51
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tigung tut sich hier aber gleichsam ein Abgrund auf, der den so auf rationale Ausweisung und Geltung bedachten Husserl selbst beunruhigt haben muss: Es gibt ein unbedingtes »Du sollst und mußt«, das sich an die Person wendet und das für den, der diese absolute Affektion erfährt, einer rationalen Begründung nicht unterliegt und in der rechtmäßigen Bindung von ihr nicht abhängig ist. Diese geht aller rationalen Auseinandersetzung, selbst wo sie möglich ist, vorher. (Hua XXVIII, XLVIII, Anmerkung 1)
Damit liegt die »absolute Affektion«, die die Erfahrung des »unbedingten Sollens« ausmacht, nicht nur jenseits der intersubjektiven Rechtfertigung (was nicht bedeutet, dass man solches nicht nachfühlen oder nachverstehen könnte), sondern auch vor der eigenen rationalen Auseinandersetzung – selbst wo sie möglich ist (!). Hier trifft nun aber auch der Begriff der »intuitionistischen Evidenz« ganz und gar nicht mehr zu, da es um kein (gefühlsmäßiges) Erkennen oder Anschauen mehr geht, sondern um ein Getroffen- und Gerufensein, das die Person, unweigerlich und kontingent, zu der macht, die sie ist: Das Ich […], an das Berufungen ergehen, die seine, dieses Ich Berufungen sind, hat Individualität. Es steht als dieses Ich unter absoluten personalen Normen. Es ist freies Ich, sofern es dem gehörten Ruf folgen oder die Nachfolge verweigern oder auch auf sie bloß nicht hinhören (weghören, wegsehen) kann. Es ist dabei zu bemerken, dass dieser individuelle Ruf immer auf Werte zurückgeht, aber instinktiv blind sein kann wie der ursprünglich blinde Mutterinstinkt. Auch in dieser Art hat er die Form des absoluten Rufes und wird erlebt als absolutes Sollen. 54
IV. Was haben Instinkt und Ethik miteinander zu tun? Und wie kann man eine Ethik des »absoluten Sollens« intersubjektiv verantworten? Sind wir damit bei Personen angelangt, die ihren »Instinkten« folgen und daraus »ethische Berufungen« ableiten? Und ist es nicht vollkommen irrational, ja sogar gefährlich, wenn sich Personen auf ihr affektives »Angesprochensein« als Handlungsgrund berufen? Wie kann ich –
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in Anlehnung an Kierkegaard formuliert – wissen, dass nicht der Teufel zu mir spricht? 55 Auf diese durchaus berechtigten Fragen ist zu antworten: (1) Ad »affektives Angesprochen-Sein als Handlungsgrund«: Tatsächlich – auch wenn PhilosophInnen es ungern wahrhaben wollen – begründen wir unser ethisches Handeln sehr oft mit Aussagen wie »Ich konnte nicht anders handeln, sonst könnte ich in keinen Spiegel mehr sehen« oder »Ich habe mich für xy entschieden, weil ich es tun musste« etc. Genau die damit ausgedrückte Erfahrung meint Husserl mit der Aussage, dass sich das Ich praktisch »wenn es den Ruf erlebt, […] nicht gegen diesen Wert entscheiden [kann], ohne sich zentral zu schaden, ohne sich preiszugeben in einem innersten Wesen« 56. Das »Hier stehe ich, so wahr mir Gott helfe« 57 ist etwas, das wir als Rechtfertigung akzeptieren, wenn uns die Person glaubwürdig erscheint. Diese Authentizität und Glaubwürdigkeit sollte Husserls Entwurf gemäß aber auch vor dem eigenen Gericht ständig geprüft werden. Darüber hinaus wird die intersubjektive Zugänglichkeit der Entscheidungen nicht einfach über Bord geworfen. Husserl setzt auf ein Nachfühlen, das ein »Billigen« sein kann: »Was für den wertvergleichenden Verstand Torheit ist, wird gebilligt als ethisch und kann zum Gegenstand größter Verehrung werden.« (Hua XXVIII, XLVII f.) (2) Ad »Kierkegaard’scher Zweifel«: Was kann mir garantieren, dass mein ethisches Angesprochensein auch wirklich ethisch ist? Zunächst handelt es sich bei Husserl um eine »Liebesethik« 58, also um ein liebendes Antworten auf den ethischen Ruf (nach christlichem Ideal), das auch wesentlich darauf bedacht ist, die anderen in ihrer Autonomie und Freiheit zu fördern. Es geht also zweifellos um Hingabe (auch an die Gemeinschaft) und nicht um Selbstermächtigung. 59 Darüber hiEs geht also darum, eine »Hermeneutik des Verdachts« (Ricœur) gegenüber der unmittelbaren affektiven Betroffenheit zu entwickeln. Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Johanna Gaitsch. 56 A V 21, 117a. 57 Gewiss spielt hier auch eine Rolle, dass Husserl – zum größten Teil aus Glaubensgründen – zum Protestantismus konvertierte. Die christlichen Elemente in Husserls Ethik machen neben dem Aufklärungsgedanken die wesentlichen Grundzüge seines Ansatzes aus. Genauere Studien hierzu sind noch ausständig, eine erste Behandlung findet sich bei Held (2010). 58 Vgl. Melle (2005), 131–138. 59 Husserl ist auch nicht der christliche, an sich selbst zweifelnde raffinierte Psychologe, für den sich hinter jeder vermeintlich ethischen Regung bloß egoistische Selbstliebe 55
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naus ist Husserl sicherlich kein Denker, der einen »Sprung« ins Religiöse oder Irrationale fordert, auch wenn er diese Komponenten als konstitutiv für eine bestimmte Form des ethischen Personseins anerkennt. Das, was mich ruft, bleibt zwar in gewisser Weise rätselhaft, es ist rational nicht vollständig durchsichtig zu machen – dies aber ist eine phänomenologische Erkenntnis im Bereich des Affektiv-Passiven/-Persönlichen und keine Setzung transzendenter Werte/Gottes etc. Von dieser Undurchsichtigkeit her erhält die Person erst eigentlich ihre Dichte, ihre Substanz, ihre ethische »Jemeinigkeit«. Zweifellos gibt es in der Ethik des späten Husserl eine Spannung zwischen Irrationalem und Rationalem, zwischen den »Untiefen« des affektiven Angesprochen-Seins und der absoluten (ebenso ethischen!) Forderung nach Selbstverantwortung und Rechtfertigung, die vor allem mit der transzendentalen Phänomenologie selbst verbunden ist. 60 Was verhindert, dass dies absolut kollidiert, ist die vernünftige Forderung, dass alle ethischen Strebungen in der Menschheit letztlich zusammenstimmen müssen und niemand für sich ein »ethisches Privatuniversum« beanspruchen könne: Jedes personale Subjekt ist ethisches Subjekt und hat als das sein Universum ethischer Werte und Unwerte. Dieses ethische Universum ist aber nicht Privatsache. Alle diese Universa sind in der Menschengemeinschaft aufeinander oder gar noch anderes verstecken könnte. In diesem Sinn zeichnet sich seine Ethik durch eine gewisse Schlichtheit aus, hinter der auch die phänomenologische These steht, dass sich Sachen als sie »selbst« zeigen: Insofern ist Hingabe eben Hingabe und echtes Mitleid eben Mitleid und nichts anderes: »Jeder Akt reiner und echter Nächstenliebe aufgrund einer intuitiven, das geistige Auge und das Herz für das Innenleben eröffnenden Einfühlung ist ein Beispiel, jede innerliche und tief sich einfühlende Mitfreude mit einer edlen Freude. […] Das alles unter den Titel pathologischer Affektion zu stellen, das ist doch eine starke Zumutung […].« (Hua XXXVII, 228) 60 »Autonome Wissenschaft ist das Organ der Menschheit in ihrem Streben zu einem praktisch vernünftigen, die ›Glückseligkeit‹ verbürgenden Leben, korrelativ zu ihrer Selbstgestaltung, in der sie zur letzten personalen Vollendung kommt und sich vollendet in der Vollendung der faktisch seienden Welt zu einer optimalen menschlichen Umwelt. Die Wissenschaft ist nicht nur ein Hilfsmittel, sondern das notwendige und zureichende und einzig mögliche Hilfsmittel. Demgegenüber die Tendenz, dem ›Irrationalen‹ genugzutun und die religiösen Irrationalitäten oder die Irrationalitäten der Persönlichkeit – das spezifisch ethische, das absolute, sich an die Individuen ganz persönlich richtende Sollen – als Erkenntnisgrund zu verwerten und damit statt autonomer Wissenschaft Wissenschaft zu fördern, die dem Irrationalen genugtut, eventuell der Wissenschaft selbst mit all ihrer verbleibenden Rationalität ein irrationales – aber doch einsichtig gegebenes – Fundament zu geben.« (A V 21, 126a) A
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bezogen und bilden einen einzigen universalen Zusammenhang, auf den also nach dem Obigen jedes Subjekt bezogen ist […]. 61
Insofern ist der »universale Zusammenhang« ein gewisses Kriterium für die Bewertung des ethischen Rufs, auch wenn ein ihm äußeres. Aber Husserl geht es im ethischen »Jemeinig-Sein« es nicht darum, ein »Selbst« zu werden, um dem »Man« zu entkommen. Seine Selbstwerdung ist auf das »Wir«, klassisch aufklärerisch: die Menschheit hin bezogen und seine Überzeugung liegt darin, dass ein echtes Wir nur durch vollentwickelte, autonome, ihrem Ruf folgen könnende Subjekte möglich ist (die sich idealerweise darin auch gegenseitig unterstützen). 62 Jedes ursprüngliche absolute Sollen hat ein Irrationales. Muss das nicht scharf betont werden? Aber wird nicht jeder Mensch für jeden Thema absoluten Sollens? Also grundunterschieden als Wert von jedem außerpersonalen Wert? Ich kann nicht allen zumal mich widmen; da scheidet die praktische Unmöglichkeit. 63
Wenn »jeder Mensch für jeden Thema absoluten Sollens« wird, dann ist das Affektive genauso und genauso unabweislich auf Gemeinschaft und auf die Erreichung der Freiheit und Autonomie jedes Einzelnen hin angelegt wie auf die personale Selbstwerdung (Husserl nennt dies oft – in beiden Hinsichten – »Seligkeit«). Nun stellt sich schließlich die Frage, wie diese »Angelegtheit auf« zu verstehen ist. (3) Ad »Instinkt«: So wie Kant glaubt auch Husserl an die Verwirklichung eines »mundus intelligibilis« in der ethischen Praxis, nur dass Husserl die »Neigung« als wesentlich eingebunden in diese Entwicklung versteht. Die »Teleologie« als Bewusstseinsgesetzlichkeit ist eine wesentliche Komponente in Husserls »big picture« der Ethik. Mit Teleologie ist hier gemeint, dass das Bewusstsein selbst in seinen passivsten und triebhaften Regungen als ein »Streben« verstanden wird und dessen Wesensgesetzlichkeit erforscht wird. 64 Gibt es z. B. einen A V 21, 122b. »Es ist dabei selbst ein absolutes Sollen für jedermann, also ein allgemeines, ein Sollensgesetz, dass eines jeden absolutes Sollen in den Kreis meines absoluten Sollens, in den Kreis meiner absoluten ethischen Verantwortungen und Werte gehört, wonach ich niemand darin hemmen oder gar von seinen Pflichten ablenken darf, ohne mich zu versündigen. Das ist, dergleichen ist ein besonders großer ethischer Unwert.« (A V 21, 122b) 63 A V 21, 119b. 64 Vgl. EU, §§ 48–49. 61 62
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Widerstreit in der Wahrnehmung, so tendiert das Bewusstsein auf Auflösung dieser Spannung, auf Eindeutigkeit – auf Wahrheit, wie mit Husserl letztlich zu sagen wäre. Parallel dazu tendiert nach Husserl das Triebleben von Anfang an zu den Anderen hin, zeichnet triebhafte Gemeinschaftsbildungen vor, die schließlich vernünftig übernommen und bewusst gestaltet werden können (nichts zwingt zu dieser Entwicklung, sie ist zwar »vernünftig vorgezeichnet«, aber kann sich nur verwirklichen, wenn die je einzelnen Subjekte dies auch bewusst wollen und verfolgen). Von der Triebgemeinschaft über die Zweckgemeinschaft führt eine teleologische Linie hin zur »Liebesgemeinschaft«, der die bewusste Übernahme der Förderung der anderen und der unendlichen Erneuerung korreliert. 65 Diese Stufen der Bewusstwerdung beinhalten also eine wesentliche »ethische Entscheidung« und überführen somit das bloß Trieb- oder Instinkthafte in einen ethischen Willen zur Lebensgestaltung: »[S]ich für gewisse individuelle, objektive Werte oder vielmehr Ziele oder für gewisse objektiv-ideale Wertgebiete, Wertunendlichkeiten in einer neuen Weise zu entscheiden, sich in ihren Dienst zu stellen, sie als absolutes an das innerste Ich gerichtetes Sollen zu hören und ihnen in absoluter Habitualität ins Unendliche nachzuleben.« 66 Eine längere Passage aus den Manuskripten mag Husserls skizzenhafte Überlegungen dazu veranschaulichen: »Was könnte man aus der konstitutiven Phänomenologie wirklich erschließen? Niederste Stufe: Trieb der Selbsterhaltung, Trieb zu Anderen hin, zur Vergemeinschaftung. Liebestrieb, Erweiterung der Anderen-Liebe zur allgemeinen Nächstenliebe, Trieb zur Gründung von Liebesgemeinschaften – auch von egoistischen Selbsterhaltungs-Gemeinschaften. Höhere Stufe: Vernunft, ratio und rationales Leben, Rationalisierung der Welt durch die Wissenschaft, und Wissenschaft als Funktion der Vernunftherrschaft des Menschen über die Welt, über die Anderen, über sich selbst. Höchste Stufe der Rationalisierung, höchste Stufe des autonomen Menschen als Vernunftmenschen. Höchste Stufe der menschlichen theoretischen Autonomie: die transzendentale Phänomenologie und phänomenologische Wissenschaft. Höchste Stufe der menschlichen praktischen Autonomie: die Stufe der absoluten Vernunft oder des Lebens unter der Idee absoluter Vernunft, das phänomenologisch begründete Leben. Idee eines universalen Vernunftlebens. Idee meines Lebens und des Lebens von Mitlebenden unter der Idee, dass es so sei aus meiner Selbstwollung und aller Selbstwollung und vergemeinschafteten Wollung, also von mir aus willentlich mitzugestalten und von uns aus gemeinsam und immerfort gestaltet – ich wiederhole, dass es so sei, dass ich absolut wollen kann, aus ›absoluter‹ Vernunft wählen und wollen muss. Was heißt das aber? Was ist das für eine Absolutheit?« (E III 4, 9b–10a) 66 B I 21, 55a. 65
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Husserl ist sich im Klaren darüber, dass die »Phänomenologie erst die nötigen konstitutiven Untersuchungen durchführen« 67 muss, um eine solche Entwicklung wirklich nachzeichnen zu können, und er betrachtet dies als die »größte Aufgabe der Phänomenologie« (Hua XIV, 271). Da es sich dabei in gewisser Weise auch um eine »Genesis der Vernunft« handelt (wie analog im Spätwerk Erfahrung und Urteil, wo in theoretischer Hinsicht der vernünftige, prädizierende und schließlich allgemeine logische Formen hervorbringende Zugriff auf ursprünglich vorprädikative Wahrnehmungs- und Sinnstrukturen konstitutiv erläutert wird), muss die Kernfrage lauten: »Wie motiviert sich das absolute Vernunftleben als absolute Autonomie? Und wie verflicht sich dieses Leben in einem absoluten Vernunftleben der Intersubjektivität als Idee, als ideale Möglichkeit eines gewissen Gemeinschaftslebens?« 68 Denn »Instinkt« ist im phänomenologischen Kontext eben als ein motivierendes, wenn auch »blindes« Bewussteinsvorkommnis zu verstehen, als eine passive Strebung und nicht bloß als ein in sich abgeschlossenes naturales Getriebensein, auf das sich weitere Akte, Wollungen etc. anderer Art nicht beziehen könnten. Obwohl es sicher diskussionswürdig ist, ob unser Triebleben in eine Vernunftteleologie eingespannt werden kann und soll (d. h. ob es wirklich so verstanden werden kann oder nicht vielmehr genausoviel zum Ethischen wie zum Unethischen motiviert), so ist andererseits an Husserls Ansatz wertzuschätzen, dass er der »Neigung« ihren Stellenwert gibt, ohne damit den Freiheits- und Autonomiegedanken aufzugeben: Denn der Trieb gibt für Husserl den Anstoß zum Ethischen, aber nicht bloß so, dass wir soziale Wesen sind, weil wir eben nicht anders können und so »gebaut« sind (das wäre jenseits von Autonomie und Ethik), sondern dass die Ethik damit beginnt, sich in bewussten und selbstbestimmten Wollensakten dazu zu verhalten, sie zu verneinen oder zu bejahen.
V.
Gibt es »Lösungen« von ethischen Fragen? Bzw.: Was wäre eine Husserl’sche Antwort auf eine Dilemmasituation
Das paradigmatische Beispiel für Instinkt und Ethik, das in Husserls Überlegungen immer wieder auftaucht, ist »das Kind«: Es steht für 67 68
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das instinktive Angesprochensein und für die unmittelbare gefühlte menschliche Verantwortung, die Vorrang vor allem anderen hat, unabweisbare »Pflicht« ist. In diesem Kernthema kristallisieren sich einige Probleme einer Ethik des »absoluten Sollens«, die zu lösen sich z. T. auch als unmöglich erweist, im äußersten Fall als »tragisch«. (1) Dass das »Spielen einer Mozart’schen Sonate« schöner sei als das »Waschen des Kindes«, das letztere aber »Pflicht«, wurde bereits weiter oben angeführt. »Das Wohl des Kindes ist mir anvertraut, ich bin dafür verantwortlich. Es zu fördern ist von mir ›absolut gefordert‹.« 69 Dieser »Ruf ins Konkrete«, zu den unmittelbaren Verantwortungen, macht sich auch gegen einen anderen »Ruf« bemerkbar: den Be-ruf, in Husserls Fall auch oft: der philosophische Beruf. Obwohl sich in Husserls Bemerkungen relativ deutlich abzeichnet, dass eine Arbeitsteilung nach den klassischen Geschlechterverhältnissen erfolgt 70, ist keineswegs ausgeschlossen, dass die Kollision dieser »Rufe« in einer Person stattfindet. Das absolute Sollen des Konkreten, d. h. des auf mich angewiesenen Kindes ist hier gewiss das Dringendste, es ist eben Pflicht 71; gleichwohl bin ich aber auch dazu aufgerufen, in den Wollungen und Strebungen, die die Gestaltung meines Lebens (also einen weiteren Horizont) betreffen, dem philosophischen Ruf nachzugehen (in diesem speziellen Beispiel); und schließlich habe ich neben meinem konkreten Beruf auch immer den »Beruf Mensch«, »dessen Wahrheit die ist, wahrer Mensch sein zu wollen«. 72 (2) Das absolute Sollen, das in Bezug auf das Kind erfahren wird, macht die Beschränktheit des Affekts (der ja, im Sinne der praktischen B I 21, 65a. Husserl bringt im Zusammenhang mit dem Thema »Kind« und »Instinkt« oft die Mutter ins Spiel, wohingegen der »Beruf« eindeutig männlich assoziiert ist (oder auch, je nach Interpretation, das Muttersein als »Beruf« aufgefasst wird). Für Husserl ist diese Lösung der »ethischen Arbeitsaufteilung« nach klassischen Geschlechterrollen noch fest verankerte gesellschaftliche Realität, obwohl die Intensität, mit der er die Fragen bezüglich des Kindes immer wieder stellt, auch eine Art der Identifizierung mit der Mutterposition verrät. 71 Husserl kritisiert Kant für die Abwertung und Verkennung des Gefühls, aber er schätzt ihn umso mehr für die »Restitution der Idee der Pflicht, der zentralen ethischen Idee, der Idee des absoluten Sollens, die der herrschenden Gefühlsmoral eigentlich ganz anhanden gekommen war. Kant schöpft hier direkt aus der Intuition, aus dem lebendigen moralischen Bewusstsein« (Hua XXXVII, 201), auch wenn Kant diese Einsichten fälschlicherweise rein von allem Gefühl haben möchte. Vgl. zur Ermittlung dessen, was ich absolut soll, auch Fußnote 52. 72 A V 21, 122a. 69 70
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Vernunft im Grunde »für alle« gefordert wäre) deutlich, ebenso wie die »praktische Unmöglichkeit«, mich »allen zu widmen«. Kann es vernünftig sein, d. h. kann es ethisch richtig sein, dass der Affekt so »exklusiv« ist? Könnte es nicht eher eine bloße Form der erweiterten Selbstliebe sein, dass mir »die Meinen« näher stehen als alle anderen? Bedeutet sich in der Ethik auf den Affekt zu verlassen nicht direkt einem Universalismus zu widersprechen? Aber von den Menschen meiner Umgebung ist mein Kind mir das »nächste«, und darin steckt eine Irrationalität des absoluten Sollens. Andere Menschen treten gelegentlich in meinen Kreis und werden eventuell auch zu Nächsten, wofern eben nicht ein absolutes Sollen anderes als Näheres und Nächstes zu bevorzugen fordert. Bestimmt das Nächste bloß die praktische Möglichkeit? Oder ist der instinktive Vorzug zu fassen als ein Hilfsmoment, das Rationalität macht? […] Fordert das Irrationale eine rationale Begründung? Und was heißt das? 73
Wieder stellt sich für Husserl die (unlösbare) Frage, ob sich die subjektiven Irrationalitäten des ethischen Gerufenseins und des Instinkts letztlich in eine intersubjektive Rationalität auflösen, gleichsam eine »prästabilierte Harmonie« der subjektiven ethischen Einzelberufe ergeben. Dies kann freilich nur die Hoffnung eines »Vernunftglaubens« sein. 74 »Teleologie« und »Übereinstimmung« erweisen sich so als die »kantischen Postulate« der Husserl’schen Ethik, die dem Willen die Möglichkeit geben, sich in ständiger Erneuerung auf das unendliche Ziel der »Vollkommenheit« in der Liebesgemeinschaft zu richten. Husserl glaubt an die Pluralität menschlicher Verwirklichung in ethischer Weise, er kann und will sie nicht durch ein allgemeines Gesetz begrenzen. Fordert das Irrationale eine rationale Begründung? Oder – auch diese Möglichkeit denkt Husserl an – geht es darum, »eventuell der Wissenschaft selbst mit all ihrer verbleibenden Rationalität ein irrationales – aber doch ein einsichtig gegebenes – Fundament zu geben« 75? Gewiss können aufgrund der mangelhaften Ausführungen Husserls hier nur Problembereiche angeschnitten werden, Problembereiche allerdings, denen sich gegenwärtige »Care-Ethiken« ebenso A V 21, 119b. Vgl. dazu Melle (2004), 353: »Die vermeintliche Irrationalität von Liebe und Schicksal kann für Husserl mit der Vernunft nur im Vernunftglauben an eine göttliche Weltordnung versöhnt werden.« 75 A V 21, 126a. 73 74
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stellen müssen sowie alteritätsethische Ansätze eines Emmanuel Levinas, welchen Husserl im »Gerufen-Sein« sehr nahe kommt. (3) Die äußerste, tragische Situation, die Husserl schildert, ist der Verlust des Kindes im Krieg. Dies steht für ihn u. a. unter dem Zeichen des Dilemmas zwischen Vaterlandsliebe und Kindesliebe (also wieder zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen). Für Husserl gibt es hier keine Lösung, es bleibt eine zentrale Schädigung der Person, ein ethisches Verwundetsein, das die »peinliche Erkenntnis« (Hua XXVII, 30) mit sich führt, dass das für gut und richtig Gehaltene nur vermeintlich Gutes war – dass also all meine Bestrebungen nutzlos, mein Einsatz dafür sinnlos gewesen seien. 76 In diesem Zusammenhang wird für Husserl das Thema der Selbsterhaltung der ethischen Person wichtig. »Selbsterhaltung« bedeutet, dass ich mich auf meine ethischen Setzungen, Entscheidungen und Stellungnahmen verlassen können möchte, dass ich nicht leichtfertig irgendeine Entscheidung treffe, die sich dann als verfehlt herausstellt und mich selbst zunichte macht. Die Erfahrung dieser fundamentalen Enttäuschung löst das Streben aus, zu einer höheren Rechtfertigung zu kommen, ja, diese Rechtfertigung als Haltung anzunehmen in der ständigen Erneuerung des Prüfens und Rechtfertigens. Es gibt allerdings keine Garantie, dass sich Wert- oder Entscheidungskonflikte »lösen« lassen, weder rational, noch affektiv. Dilemmata sind Dilemmata. Es gibt keine »gute Lösung«, wenn ich entweder meine Schwester, oder den »dicken Mann« oder den »Präsidenten« auf den Geleisen überfahren muss. 77 Von dieser ethischen Unlösbarkeit abgesehen, kann man sagen, dass Husserl auch und gerade in Dilemma-Situationen das ethische Bricht die Idee des notwendigen Opfers für Krieg und Nation plötzlich weg, so ist der Verlust eines Kindes in einem solchen Krieg auch in Bezug auf die eigenen Wertvorstellungen eine überaus schmerzliche Erfahrung. Davon abgesehen, hat der generelle Zusammenbruch der »alten Welt« nach dem Ersten Weltkrieg noch viel weitere Dimensionen, auf die Husserl mit den ersten Sätzen seiner Fünf Aufsätze über Erneuerung anspielt: »Erneuerung ist der allgemeine Ruf in unserer leidvollen Gegenwart und ist es im Gesamtbereich der europäischen Kultur. Der Krieg, der sie seit dem Jahre 1914 verwüstet und seit 1918 nur statt der militärischen Zwangsmittel die ›feineren‹ der seelischen Torturen und der moralisch depravierenden wirtschaftlichen Nöte gewählt hat, hat die innere Unwahrheit, Sinnlosigkeit dieser Kultur enthüllt.« (Hua XXVII, 3) Vgl. Loidolt (2009), 185. 77 Diese Dilemmasituationen sind bekannt als das »Trolley Problem« (Philippa Foot) und die »Fat Man«-Variante (Judith Jarvis Thomson) des Trolley-Problems, das seither in vielen verschiedenen Varianten durchgespielt worden ist. 76
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Gewicht des »absoluten Sollens« einer rationalen (Prinzipien-)Argumentation oder Leidensdruck- und Güterabwägung vorziehen würde. In dem Bewusstsein, dass man eben nicht immer »nachrechnen« kann 78, bleibt letztlich nichts anderes, als der der ratio nicht mehr zugänglichen, möglicherweise auch tragischen Sprache zu vertrauen, die das »absolute Sollen« spricht: Als Beispiel 79 kann das bekannte Dilemma aus Der Existenzialismus ist ein Humanismus (1945) dienen, wo Sartre den Konflikt eines jungen Mannes schildert, der während des Zweiten Weltkriegs »vor der Wahl steht, nach England zu gehen und sich bei den Freien Französischen Streitkräften zu engagieren – das heißt, seine Mutter zu verlassen – oder bei seiner Mutter zu bleiben und ihr leben zu helfen« 80. Wie entscheiden? Nach Husserls Ansicht gäbe es wohl ein »absolutes Sollen«, dem der junge Mann folgen müsste und das ihn als diese Person mit dieser Wahl individualisiert. Husserl betont die Passivität in dieser Entscheidung; Sartre hingegen die absolute Freiheit, die verantwortlich übernommen werden muss, da keine Moral und keine vernünftige Überlegung hier entscheiden können. Man kann sich fragen, ob in dieser außerordentlichen Situation das Hören auf die »innere Stimme« und die »absolute Freiheit« nicht zusammenfallen: Denn beide Philosophen geben die Verantwortung als letzte Instanz nicht auf – und auch Husserl in einer ähnlichen Art der »existenzialistischen Verlassenheit« wie Sartre: »Aber in der absoluten Entscheidung (und absolut ist auch das ›Ich muss mich entscheiden‹) entscheide ich mich im Bewusstsein absoluter Verantwortung, und eventuell der absoluten Gefahr.« 81 »Jetzt ist die Stunde, der Augenblick, jetzt ›muss‹ ich mich entscheiden, entscheide ich mich überhaupt nicht, so verletze ich schon ein absolutes Sollen. Ich muss als Freier. Aber jetzt kann ich nicht mehr meine ›Lage‹ ändern. […] Jetzt ›kann‹ ich hmichi nur für das absolute Sollen entscheiden, wie es eben im Jetzt spricht.« 82 Vernunft berechnet alle Normen des Guten, Wertkategorien, die moralische Weltordnung usw. »Aber dieses Ideal wäre nur wahr, wenn die Welt eine wirklich berechenbare wäre und das Ich für sich selbst ein berechenbares wäre bzw. nach idealer Möglichkeit die Anderen in der menschlichen Umwelt ›berechnen könnte‹. Was ist hier der Fehler?« (A V 21, 80a) 79 Dieses Beispiel ist einer Passage aus Loidolt (2009), 189 f., entnommen. 80 Sartre (2002), 156. 81 A V 21, 13b. 82 A V 21, 14a. 78
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Wir können hier also durchaus eine »existenzialistische« Komponente in der ethischen Problemstellung des späten Husserl bemerken. Aber Husserl ist letztendlich kein »Existenzialist«. Er bleibt den Grundgedanken der Aufklärung im Erneuerungswillen der »Krisis« treu. Was sich hier vielmehr zeigt, ist eine sehr genaue, alle philosophischen »Richtungen« übersteigende Beobachtung einer Dilemmasituation und ihrer Komponenten: Der Konflikt der Werte und Verantwortungen; die Unmöglichkeit, das Problem vernünftig (wertend) zu lösen; und letztlich die Bürde der Willensentscheidung, die in ihrer ganzen »Freiheit« doch nicht beliebig, sondern verantwortlich ist und damit einem Ruf folgt. Husserl respektiert die Passivität, die den freien Willen zu einem verantwortlichen macht.
Literatur Bernet, R. (2010), »Was kann Phänomenologie heute bedeuten?«, in: Information Philosophie 4, 7–21. Drummond, J. J./Embree, L. (Hgg.) (2002), Phenomenological Approaches to Moral Philosophy: A Handbook, Dordrecht. Hart, J. G. (1995), »Husserl and Fichte: With Special Regard to Husserl’s Lectures on ›Fichte’s Ideal of Humanity‹«, in: Husserl Studies 12, 135–163. – (2003), »Wisdom, Knowledge, and Reflective Joy: Aristotle and Husserl«, in: The New Yearbook for Phenomenology and Phenomenological Philosophy 3, 53–84. – (2006), »The Absolute Ought and the Unique Individual«, in: Husserl Studies 22, 223–240. Held, K. (2002), »Einleitung«, in: Ders. (Hg.): Edmund Husserl. Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. Stuttgart, 5–52. – (2010), »Gott in Edmund Husserls Phänomenologie«, in: Ierna, C./Jacobs, H./ Mattens, P. (Hgg), Philosophy, Phenomenology, Sciences. Essays in Commemoration of Edmund Husserl, Dordrecht, 723–738. Loidolt, S. (2009), Anspruch und Rechtfertigung. Eine Theorie des rechtlichen Denkens im Anschluss an die Phänomenologie Edmund Husserls. Phaenomenologica 191, Berlin/ New York. – (2010), »Husserl und das Faktum der praktischen Vernunft. Phänomenologische Ansprüche an eine philosophische Ethik«, in: Ierna, C./ Jacobs, H./ Mattens, P. (Hgg.), Philosophy – Phenomenology – Sciences. Essays in Commemoration of Edmund Husserl, Dordrecht, 483–503. McDowell, J. (2001), Geist und Welt, Frankfurt a. M. – (2002), Wert und Wirklichkeit. Aufsätze zur Moralphilosophie, Frankfurt a. M. Melle, U. (1988), »Einleitung des Herausgebers«, in: Hua XXVIII, XIII–XLIX. – (2004), »Husserls personalistische Ethik«, in: Centi, B./Gigliotti, G. (Hgg.), Fenomenologia della ragion pratica. Napoli, 327–356. A
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Husserls Studien zu Gemüt und Wille* Thomas Vongehr
I.
Einleitung
Editionen befinden sich manchmal länger auf der Reise als erwartet. Das trifft nun auch für die Edition der Forschungsmanuskripte Husserls zum Thema »Gemüt und Wille« zu, deren Fertigstellung seit geraumer Zeit vom Husserl-Archiv Leuven in Aussicht gestellt wird. 1 Den Verzögerungen zum Trotz gibt es aber schon eine Rezeption. In einer gewissen Regelmäßigkeit sind nämlich in den letzten Jahren auf Tagungen und in Seminaren Texte aus dieser Edition zur Diskussion gestellt worden, und zwar nicht nur von den Herausgebern, sondern auch von zahlreichen Forschern, die diese Texte vorab lesen konnten. Auch der vorliegende Aufsatz wird über Themen dieser aktuellen Edition informieren. 2 * Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei Verena Mayer und ihren Mitarbeitern, bei Marisa Scherini und Christopher Erhard, für die freundliche Einladung und Organisation der Tagung »Die Aktualität Husserls« an der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Oktober 2009 bedanken. Mein Aufsatz beruht im Wesentlichen auf dem dort Vorgetragenen und auf den Anregungen aus der sich anschließenden Diskussion. 1 Das Editionsprojekt im Rahmen der Husserliana Reihe wurde erstmals 1988 von Ullrich Melle in der »Einleitung des Herausgebers« zum Husserliana Band XXVIII angekündigt (Melle (1988), XXXI, XXXVIII). Ullrich Melle, der zusammen mit dem Verfasser dieses Aufsatzes die Edition am Husserl-Archiv in Leuven durchführt, hat sich in zahlreichen Aufsätzen (vgl. das Literaturverzeichnis im Anhang) mit Themen der zur Veröffentlichung stehenden Texte beschäftigt und damit grundlegende Einsichten in Husserls Ethik, Gefühls- und Willenstheorie gegeben, denen auch die folgenden Ausführungen zu großem Dank verpflichtet sind. – Im Folgenden werde ich vorwiegend auf die Gemüts- und Willensanalysen Husserls eingehen. 2 Ich bleibe hier vorwiegend im Fahrwasser der Edition, d. h. ohne auf das zunehmende Interesse an philosophischen und speziell phänomenologischen Beiträgen zur Gefühlsund Willenstheorie einzugehen und ihren möglichen Bezug zur Husserl’schen Theorie herauszuarbeiten. Exemplarisch seien einige Veröffentlichungen zur Gemüts- und Willensthematik der letzten Jahre genannt, die sich explizit auf die hier zu besprechenden A
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Mein Darstellungen teilen sich in folgende Schritte: In einem ersten Schritt werde ich kurz auf das der Edition zugrundeliegende Projekt Husserls, die Studien zur Struktur des Bewusstseins, eingehen und über Gründe mutmaßen, die Husserl von der Veröffentlichung abgehalten haben mögen. Ich werde dabei vor allem auf die ihm ab etwa Mitte der 1920er immer dringlicher werdende Klärung des Verhältnisses von transzendental-phänomenologischer und psychologischer Forschung und auf seine damit verbundenen Versuche einer Begründung einer reinen Psychologie eingehen. Im Weiteren werde ich einige methodische Schwierigkeiten der Studien hervorheben, die ich unter den Stichworten ›Methode der Analogie‹, ›Schichtenanalyse‹ und ›Methode des Abbaus‹ behandeln werde. Anschließend werde ich die Intentionalität von Gemüts- und Willensakten in Grundzügen darstellen. Dabei versuche ich zu zeigen, inwieweit die von Husserl in den Logischen Untersuchungen im Ausgang von Brentanos Lehre von der Intentionalität entwickelte Scheidung von objektivierenden und nichtobjektivierenden Akten in der Konfrontation mit den Resultaten seiner Gemüts- und Willensdeskriptionen auf große Probleme stößt, die sogar seinen leitenden Akt- und Intentionalitätsbegriff in Frage stellen. Das beharrliche Festhalten an der Methode der Analogie – derzufolge die aus den Analysen der intellektiven Akte entwickelten Strukturen zum Leitfaden auch für die Untersuchung der emotiven und volitiven Akte werden sollen – erschwert eine grundlegende Revision seiner Intentionalitätslehre. In einem anschließenden Schritt werde ich auf die Unterscheidung zwischen nicht-intentionalen Gefühlsempfindungen und intentionalen Gefühlsakten eingehen, die in Husserls Ethik von der Unterscheidung zwischen passiven und aktiven Gefühlen überlagert wird. In einer Art Ausblick soll abschließend auf das tendenziös-affektive Geschehen der unteren Empfindungs- und Gefühlssphäre hingewiesen werden, das eine Parallele in dem findet, was Husserl in seiner späten Freiburger Ethik auf der Wertebene gerne als »Ruf« oder »absolute Affektion« bezeichnet.
Texte Husserls beziehen: Bejarano (2006), Bernet (2006), Bianchi (2003), Lee (1993), Lotz (2002), Melle (1990, 1992, 1996, 1997b, 1998a), Mertens (1998, 2010), Métraux (1975), Micali (2006), Schuhmann (1991), Spahn (1996), Vongehr (2004).
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Husserls Studien zu Gemüt und Wille
II.
Die »Studien zur Struktur des Bewusstseins« und das Problem einer reinen Psychologie bzw. transzendentalen Phänomenologie
Zunächst sei kurz an Husserls Projekt sowie an die Manuskripte erinnert, die der Gegenstand der Edition sind. Ab etwa Mitte der 1920er Jahre plante Husserl in Zusammenarbeit mit seinem Assistenten Ludwig Landgrebe eine Auswahl seiner im Zeitraum von etwa 1902 bis 1923 geschriebenen Manuskripte zur Grundlage einer Publikation unter dem schon genannten Titel Studien zur Struktur des Bewusstseins zu machen. Während die 1913 veröffentlichten Ideen I einen bloß programmatischen Überblick über die Themengebiete der phänomenologischen Forschung geben und dabei kaum mehr als eine Grob-Skizze einer Phänomenologie der Vernunft entwerfen, sollte das neue Buch nicht nur fortführen, was in den Logischen Untersuchungen von 1900/01 begonnen wurde – nämlich eine konkrete, deskriptive Analyse des intellektiven (dort speziell des logischen) Bewusstseins –, sondern erstmals auch die aktiven und passiven Leistungen des wertend-fühlenden und wollenden Bewusstseins in die Analysen einbeziehen und – in einem darüber hinausgehenden und weit anspruchsvolleren Schritt – die komplizierten inneren Verflechtungen dieser Bewusstseinsarten darstellen. Diese als Gesamtschau der Intentionalität gedachte Darstellung der konkreten, vielschichtigen intentionalen Leistungen des Bewusstseins gilt Husserl als das notwendige Fundament für eine phänomenologische Vernunfttheorie (Hua III/1, 314 ff.). Zweifellos bietet das Sammelsurium der zu verschiedenen Zeiten und Anlässen geschriebenen Texte 3 äußerst differenzierte und reichhaltige deskriptive Analysen zu Phänomenen wie Lust, Freude, Gefallen und Stimmung, Genuss und Wert, Wunsch, Begehren, Trieb, Instinkt, Wille und Handlung, die weit über das hinausgehen, was sich bisher im veröffentlichten Werk Husserls dazu finden lässt, und dadurch – so die Überzeugung der Herausgeber – schon bald eine fruchtbare Auseinandersetzung nicht nur auf phänomenologischer Seite anregen werden. 4 Viele der von Husserl für die Studien ausgewählten Texte sind im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Ausarbeitung seiner ethischen Vorlesungen der Jahre 1908– 1914 (vgl. Hua XXVIII) und der 20er Jahre (vgl. Hua XXXVII) verfasst worden. Andere Texte sind aus der kritischen Auseinandersetzung mit den Schriften von Alexander Pfänder, Moritz Geiger, Hermann Schwarz, Theodor Lipps hervorgegangen. 4 Einen Vergleich der Handlungstheorien von Husserl und Davidson zieht neuerdings 3
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Allerdings stehen der Rezeption auch Hindernisse im Wege; die Texte haben oftmals einen terminologisch uneinheitlichen Charakter – sie sind als ›Forschungsmanuskripte‹ in einem dem Husserl-Leser wohlbekannten Sinn 5 sozusagen explorativ, tentativ und in den Ergebnissen stark schwankend, manchmal sogar widersprüchlich. Nun wissen wir aus unmittelbaren Mitteilungen Husserls oder Landgrebes sehr wenig über die konkrete Arbeit an dem Studien-Projekt und so gut wie nichts über die schließlich zum Scheitern führenden inhaltlichen Schwierigkeiten. 6 Es ist deshalb hilfreich, zunächst einen Blick auf die Problemstellungen zu werfen, mit denen sich Husserl beschäftigte, als er zusammen mit Landgrebe an den Studien arbeitete. Ab etwa Mitte der 1920er Jahre setzte Husserl sich intensiv mit der Klärung des Verhältnisses der Phänomenologie zur Psychologie auseinander. Er versuchte eine intentionale bzw. reine Psychologie zu begründen, die einerseits einen neuen, pädagogischen Zugangsweg 7 zur transzendentalen Phänomenologie bieten und andererseits eine »reformatorische Funktion für die empirische Psychologie« (Hua IX, 287) entwickeln sollte. 8 Diese Absicht, aber auch die daraus erwachsenMertens (2010). Ferran versucht in ihrer überaus materialreichen Arbeit zu belegen, dass »fast alle Kontroversen, Thesen und Argumente der heutigen Debatte [zur Emotionstheorie] bereits in den Debatten der Frühphänomenologen und in den Emotionstheorien der Wende des XIX. zum XX. Jahrhundert vorweggenommen sind.« (Ferran (2008), 13) 5 Vgl. zur Charakteristik von Husserls ›Forschungsmanuskripten‹ die einschlägigen Ausführungen von Kern (1973), XVIII-XX. 6 Ludwig Landgrebe sollte etwa in den Jahren 1926/27 aus der disparaten und uneinheitlichen Manuskriptmasse (mehrere hundert, meist nicht zusammenhängend stenographierte Seiten) eine gegliederte Textfassung erarbeiten. Dazu kombinierte er thematisch passende Textstücke und formulierte stilistische Übergänge, Einleitungen und gliedernde Titel. So entstand eine maschinenschriftliche Ausarbeitung im Umfang von etwa 800 Seiten, zu deren erstem Teil Husserl eine Einleitung (A VI 26/141–153) schrieb, die er jedoch als »gescheitert« ansah. Danach hat sich Husserl offenbar nicht mehr mit den Studien beschäftigt. Wenige Texte aus den Studien (zu Themen des intellektiven Bewusstseins) wurden später in jenes Buch aufgenommen, das in der Redaktion von Landgrebe kurz nach dem Tod Husserls im Jahre 1939 unter dem Titel Erfahrung und Urteil zur Publikation kam, vgl. Lohmar (1996). 7 Vgl. zu den verschiedenen Motivationswegen in die Phänomenologie Kern (1962). 8 Husserl weist darauf hin, dass er »erst ganz spät […] die Einsicht gewonnen« habe, dass die »systematische Ausbildung der reinen Psychologie als positiver Wissenschaft […] als pädagogische Unterstufe« für das Verständnis der transzendentalen Einstellung der Phänomenologie dienen könne, dass dadurch aber auch der »Begriff der Phänomenologie einen pädagogisch unteren, noch unechten« erhalte. (Hua IX, 270)
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den Probleme treten besonders deutlich in der Zusammenarbeit mit Martin Heidegger am Encyclopaedia-Britannica-Artikel (zweite Hälfte des Jahres 1927) hervor. 9 Von besonderem Interesse ist, dass Heidegger die von Landgrebe besorgte Schreibmaschinen-Fassung der Studien gelesen und bewertet hat, wie aus einem Brief deutlich wird, den er am 22. Oktober 1927 an Husserl schreibt. Heidegger will in diesem Brief, dem seine Korrekturen des Encyclopaedia-Britannica-Artikels beigefügt sind, vor allem die »grundsätzliche Tendenz von ›Sein und Zeit‹ innerhalb des transzendentalen Problems« klären. Er setzt fast beiläufig, aber wohl nicht ohne Bedacht hinzu: »Erst in der wirklichen Arbeit werden die Probleme offenbar.« Im weiteren Verlauf des Briefes drängt er Husserl, die Studien möglichst bald zu veröffentlichen. Er nennt folgende Gründe: Es handele sich erstmals um »konkrete Untersuchungen« im Sinne einer offenbar von Husserl selbst als fehlend beklagten reinen Psychologie; mit der Veröffentlichung der Studien würde Husserl, so Heidegger weiter, über das bisher bloß Programmatische hinausgehen. Schließlich würde Husserl auf dem Weg einer Konfrontation mit der in concreto in den Studien vorgeführten reinen Psychologie und ihrer Probleme »Luft bekommen für eine grundsätzliche Exposition der transzendentalen Problematik«. 10 Die verschiedenen Bearbeitungsstufen des Encyclopaedia-Britannica-Artikels (Hua IX, 237 ff.) dokumentieren die Zusammenarbeit zwischen Husserl und Heidegger und machen deren Divergenzen deutlich. Ab etwa 1925 hat Husserl in Vorlesungen das Verhältnis der transzendentalen Phänomenologie zur Psychologie zum Thema gemacht; diese sind zum großen Teil in Hua IX veröffentlicht. Es handelt sich im Einzelnen um die Vorlesung »Phänomenologische Psychologie« (SS 1925; F I 36), die Vorlesung über die Möglichkeit einer intentionalen Psychologie (WS 1926/27; F I 33) und über »Intentionale Psychologie« (SS 1928; F I 44). Um die Klärung des Verhältnisses zwischen Psychologie und Phänomenologie geht es Husserl auch in den Vorträgen, die er im April 1928 in Amsterdam und Groningen gehalten hat (Hua IX, 302 ff.). 10 Die Briefstelle, aus der hier zitiert wird, sei in ihrem Zusammenhang wiedergegeben. Im Anschluss an seine Lektüre der Studien schreibt Heidegger an Husserl: »Sie bemerkten in den letzten Tagen wiederholt: eigentlich gibt es noch keine reine Psychologie. Nun – die wesentlichen Stücke liegen in den drei Abschnitten des von Landgrebe getippten Ms. Diese Untersuchungen müssen zuerst erscheinen u. zwar aus zwei Gründen: 1. Dass man die konkreten Untersuchungen vor Augen hat u. nicht als versprochene Programme vergeblich sucht. 2. Dass Sie selbst Luft bekommen für eine grundsätzliche Exposition der transzendentalen Problematik. Ich möchte Sie bitten, den zweiten Entwurf für die ›Studien‹ festzuhalten als Leitfaden. Ich habe ihn jetzt noch einmal durchgelesen u. halte mein Urteil im vorigen Brief aufrecht.« (Husserl-Briefwechsel, Bd. IV, 145; auch veröffentlicht in Hua IX, 600 f.) Der »vorige Brief«, auf den Heidegger hier Bezug nimmt, ist leider nicht mehr auffindbar. 9
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Obwohl Husserl in einem Entwurf einer Einleitung zu den Studien schreibt, dass diese »in einer gewissen Zweideutigkeit sowohl als psychologische wie als transzendental-phänomenologische gelesen werden können« 11, so bleibt der Leser dieser Texte doch schlicht im Unklaren darüber, wie und warum ein solcher Wechsel der Perspektive zu bewerkstelligen ist. Es muss hier genügen, kurz darauf hinzuweisen, dass Husserl in den Studien keine Antwort auf jene drei Fragen gibt, deren Beantwortung ihm in dem zeitnah entstandenen EncyclopaediaBritannica-Artikel nicht nur für das rechte Verständnis einer reinen Psychologie als (nicht-transzendentaler) Wissenschaft vom Bewusstsein, sondern auch für ihr Verhältnis zur empirischen Psychologie und weiterhin für die systematische Bestimmung der Stellung der transzendentalen Phänomenologie selbst unabdingbar sind. Diese Fragen lauten: »1. Was gehört zum Gegenstand der reinen Psychologie; 2. welches ist die Zugangs- und Behandlungsart, die dieser Gegenstand gemäß seiner eigenen Verfassung verlangt; 3. welches ist die grundsätzliche Funktion der reinen Psychologie?« (Hua IX, 258) Man kann daher leicht in den von Heidegger vorgebrachten Argumenten jene erkennen, die Husserl gerade davon abgehalten haben mögen, die Studien zu veröffentlichen. Dabei sind es wohl nicht so sehr die sich aus den oft disparaten Einzelanalysen und ihrer Komposition ergebenden Schwierigkeiten, sondern diese machen in ihrer Gänze auf ein prinzipielles systematisches Problem aufmerksam, das auf der fehlenden Abgrenzung der Phänomenologie von der Psychologie beruht und damit letztlich – ganz im Sinne Heideggers – auf die Notwendigkeit einer »grundsätzlichen Exposition der transzendentalen Problematik« hinweist. Mit diesen Problemstellungen, die sich Husserl wahrscheinlich während der Ausarbeitung der Studien immer stärker aufdrängten, hat er sich dann auch bis in sein Spätwerk hinein beschäftigt. 12
A VI 26/141a. Vgl. dazu besonders den dritten Teil der Krisis-Schrift »Die Klärung des transzendentalen Problems und die darauf bezogene Funktion der Psychologie« (Hua VI, 105–276). Die damit bezeichnete Thematik müsste natürlich ausführlicher erörtert werden, als das hier geschehen ist.
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III. Die Methode der Analogie Wenden wir uns nun einigen methodischen Problemen der StudienTexte zu. In den Untersuchungen, wie sie uns in den Studien vorliegen, macht Husserl u. a. nicht deutlich, inwiefern er sich überhaupt noch auf dem von Brentano begründeten Boden deskriptiv-psychologischer Methode befindet (bzw. ob er diesen nicht schon längst verlassen hat). Insbesondere fehlt fast jeglicher Bezug auf die in den Ideen I explizierten Grundmethoden der transzendentalen Phänomenologie, nämlich der Eidetik und der Reduktion. 13 Aber auch grundsätzliche – unter anderem von Moritz Geiger thematisierte 14 – methodische Fragen, z. B. inwieweit Gefühle überhaupt beobachtet werden können, also ob sich diese nicht gerade wegen ihres Gefühlscharakters prinzipiell einer angemessenen intellektuellen Thematisierung entziehen, werden von Husserl allenfalls beiläufig diskutiert, jedenfalls nicht zum Ausgangspunkt seiner Analysen gemacht. Erörtern wir nun etwas näher Husserls »Methode der Analogie«. Der Analogiegedanke, bei Brentano ursprünglich als Übertragung der Urteilsevidenz in das Gebiet der Gefühlsakte gedacht, erweitert sich bei Husserl zu der Idee, dass die formale Logik ein Analogon in einer formalen Axiologie als Wertlehre bzw. formalen Praktik als formale Prinzipienlehre des Wollens, Handelns besitzt. Vor allem in seinen frühen ethischen Vorlesungen versucht Husserl diesen Gedanken mit Entschiedenheit aufzuzeigen, 15 sieht er darin doch nicht nur eines der »wichtigsten [Forschungs-]Desiderate [seiner] Zeit« (Hua XXVIII, 242), sondern auch seinen eigenen originellen philosophischen Beitrag zur Ethik. Hier soll daran nur interessieren, dass diese Analogisierung auch eine wichtige methodische Konsequenz für die Untersuchung der praktisch-wollenden und axiologisch-wertenden Akte und der entsprechenden Vernunftarten hat. Da das Gebiet der theoretisch-logischen Vernunft, also der vorstellenden und urteilend-aussagenden Vernunft, das in der Geschichte der Philosophie und auch in concreto bei Husserl Reduktion und Eidetik werden von Husserl schon vor der Veröffentlichung der Ideen I als phänomenologische »Fundamentalmethoden« (Hua IV, 179; vgl. Hua I, 106) bestimmt (so z. B. in der Vorlesung von 1907 (Hua II)). 14 In einem zu den Studien gehörigen Manuskript aus dem Jahr 1911 (A VI 8 I/60–69) setzt sich Husserl mit Geiger (1911) auseinander (vgl. Hua III/1, § 70, und Métraux (1975)). 15 Vgl. Hua XXVIII, 3–69, 204–212. 13
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am weitesten entwickelte Gebiet ist, sollen die dort entwickelten Begriffe »analogische Leitfäden« (Hua XXVIII, 205) für die Erforschung der phänomenologisch weniger untersuchten Vernunftgebiete der Praxis und Axiologie abgeben. Husserl setzt aber diesbezüglich weder eine Methodendiskussion in Gang, noch bezieht er sich zur näheren Erläuterung der »analogischen Methode« 16 auf entsprechende Traditionen. Ganz unbedarft betrachtet, scheint der Vorteil dieser Methode darin zu liegen, dass man sich nicht unvorbereitet auf das Gewühl der Gefühle und Wollungen zu stürzen braucht, sondern diszipliniert bestimmten, anderweitig, nämlich in der intellektiven Sphäre, erfolgreich erprobten Verfahrensweisen folgen kann. Aber kann die vor-gewählte Zugriffsweise überhaupt dem neuen Untersuchungsgegenstand (Gemüt und Wille) adäquat sein? Bedarf es nicht einer steten Selbstkritik oder Offenheit, und zwar auch in dem Sinne, dass die fortschreitende Erforschung des Praktischen und Emotionalen eine positiverhellende, möglicherweise korrigierende Rückwirkung auf die als leitend postulierten Strukturen der intellektiven Sphäre gewinnt? 17 Dazu findet sich bei Husserl leider nichts. Die Wegbahnung mit Hilfe der intellektiven Akte scheint für ihn vielmehr eine Einbahnstraße gewesen zu sein, jedenfalls ergreift er nicht aktiv die Chance, einmal ein kritisches Licht zurückzuwerfen. Und das, obwohl er bei seinen Forschungen im Gemüts- und Willenslebens verschiedentlich auf Irritationen stößt, die eine Selbstkorrektur an grundlegenden Lehrstücken bis hin zum Akt- und Intentionalitätsbegriff fordern würden, wie es später exemplarisch an der in den Logischen Untersuchungen entwickelten und in der Folge zu zahlreichen Schwierigkeiten führenden Scheidung der intentionalen Akte in objektivierende und nicht-objektivierende Akte gezeigt werden soll.
Vgl. zu Husserls Rede von der »analogischen Methode« oder der »Methode der Analogie« (Hua XXVIII, 347; vgl. Hua XXXIX, 418 ff.). 17 Offenheit und Vorurteilslosigkeit im Umgang auch mit eigenen Einsichten fordert Husserl ja immer wieder (vgl. z. B. Hua III/1, 190 f.). Nichts anderes drückt sich in seinem »Prinzip der Prinzipien« (Hua III/1, 51) aus. 16
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Zur Intentionalität von Gemüt und Wille
Werfen wir zuvor einen kurzen Blick auf die Stellung von Gemüt und Wille innerhalb der Intentionalität. Die Klassifikation der intentionalen Akte wird von Husserl bekanntlich in den Logischen Untersuchungen entwickelt, und zwar aus einer Modifikation der Brentano’schen Lehre von den psychischen Phänomenen. Husserls Untersuchungen sind bis in die Terminologie hinein von diesen Bestimmungen Brentanos geprägt, und sie bleiben der Ausgangspunkt fast aller seiner Klärungsversuche. Gegenüber der Tradition liegt das Neue von Brentanos Einteilung in der Scheidung von Vorstellung und Urteil auf der einen Seite und in der Zusammenlegung von Gefühl und Wille in eine eigene Grundklasse (der sogenannten Gemütsbewegungen) auf der anderen Seite. Brentano richtet sich so – anders als später Husserl – kritisch gegen Kants strikte Dreiteilung, nämlich in das »Erkenntnisvermögen, das Gefühl […] und das Begehrungsvermögen« 18. Während also Brentano Gefühls- und Willensakte in die Klasse der Gemütsbewegungen zusammenfasst und demgegenüber zwischen Vorstellungen und Urteilen als zwei unterschiedlichen Klassen scheidet, 19 entwirft Husserl eine Dreiteilung, die aber letztlich durch seine prinzipielle Zweiteilung der Aktsphäre in objektivierende und nicht-objektivierende Akten wieder unterlaufen wird. Husserl unterzieht den von Brentano im Anschluss an seine Einteilung der psychischen Phänomene entwickelten Grundsatz »Jeder Akt ist eine Vorstellung oder ist in einer Vorstellung als Brentano (1874), 239 f. Die von Brentano vertretene Unterscheidung, die er anhand von zahlreichen, manchmal nicht leicht nachvollziehbaren Phänomenbeschreibungen zu belegen versucht, war in der Brentano-Schule ein Stein des Anstoßes und setzte eine lebhafte Diskussion in Gang. Interessant ist die von Brentano favorisierte Zusammenlegung von Gemüt und Wille insofern, als Brentano anhand deskriptiver Analysen zu zeigen versucht, dass eine strikte Entgegensetzung von Fühlen und Wollen nur in einer abstrakten Betrachtung möglich sei, wohingegen sich in der konkreten Phänomen-Analyse ein kontinuierlicher Übergang zeige. In vielen Fällen sei es gar nicht möglich, zu entscheiden, wo das Fühlen aufhört und das Wollen anfängt. Terminologisch neigt Brentano daher auch dazu, die Klasse der Gemüts- und Willensakte allgemein als »Phänomene des Interesses« zu bezeichnen. Im Begriff des Interesses – so verstehe ich Brentano – treffen wir sowohl auf eine Willens- oder Strebenskomponente, wie es z. B. zu Tage tritt, wenn wir sagen, »Ich habe daran Interesse« (im Sinne von »Ich will es haben«), als auch auf eine Gefühlskomponente, so wenn wir z. B. sagen »Das interessiert mich« (im Sinne von »Ich finde es schön, anziehend«).
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seiner Grundlage fundiert« in den Logischen Untersuchungen einer ausführlichen und verwickelten Kritik, deren Ergebnis – im Hinblick auf das hier maßgebende Interesse – wie folgt zusammengefasst werden kann: Auf der Seite der objektivierenden Akte stehen 1. die intellektiven Akte (also Urteile, Wahrnehmungen, Vorstellungen usw.), in denen wir die kategorialen Eigenschaften der Dinge erfahren und erkennen; auf der Seite der nicht-objektivierenden Akte gibt es 2. die Gefühls- und Gemütsakte, in denen wir die Werteigenschaften der Dinge erleben; und 3. die intentionale Klasse der Willensakte, die Grundlage unserer Handlungen und Entscheidungen sind. Bevor ich näher auf Husserls Intentionalitätstheorie der Gefühle eingehe, möchte ich zumindest in Grundzügen einige Gedanken seiner Willenstheorie zusammenfassen, 20 um im Anschluss daran das Problem der objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten zu erörtern. Die Willensakte als dritte intentionale Aktklasse neben den intellektiven und den Gemütsakten sind – weil sie, wie Husserl sagt, »vielfältig fundiert« 21 sind – besonders schwierig zu analysieren: Als nicht-objektivierende Akte sind sie notwendig in Gemütsakten fundiert, und diese sind wiederum in objektivierenden intellektiven Akten (Vorstellungen, Urteile) fundiert. So ist jeder Wille, Husserl zufolge, von einem Wert motiviert; das Gewollte muss also positiv bewertet sein. Eine solche Wertsetzung erfolgt in fundierenden emotionalen Akten wie z. B. in dem Gefallen, das ich an einem Objekt habe. 22 Und das Gefallen als Gemütsakt setzt wiederum einen vorstellenden Akt voraus, auf den es sich beziehen kann. Die Willensintentionalität als praktische Intentionalität und die Gemütsintentionalität als axiologische sind für Husserl zwar wegen dieser notwendigen Fundiertheit in intellektiven bzw. emotionalen Akten unselbständig, aber trotzdem – so kann man formulieren – jeweils nicht weiter reduzierbare Grundarten der Intentionalität. Auf jeden Fall widersetzt sich Husserl so schon früh z. B. den Tendenzen einer reduktionistischen Willenspsychologie, in der der Wille entweder einseitig auf Gefühlsakte oder einseitig auf intellektive Akte zurückgeführt wird, wie er es von William
Vgl. dazu ausführlicher Bejarano (2006), Lotz (2006), Melle (1992, 1997a), Mertens (1998, 2010), Spahn (1996). 21 A VI 3/5a. 22 Siehe z. B. Hua XXXVII, 214 f. 20
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James und Carl Lange einerseits und von Christian von Ehrenfels andererseits kannte. 23 Der Grundbegriff der praktischen Intentionalität ist der der Handlung. Da für Husserl aber kein Handeln möglich ist, ohne einen initiierenden oder die Handlung tragenden Willen, so steht der Willensakt in der Hierarchie der für die Handlung bewusstseinsmäßig relevanten Akte zuoberst. Allerdings darf man daraus nicht den Schluss ziehen, dass seine Handlungstheorie eine reine Willensakt-Theorie sei und somit ohne Bezugnahme auf die leiblich-emotionale und lebensweltlich-situative Verflochtenheit des Subjektes auskäme. Ausführliche Untersuchungen in dieser Richtung hat Husserl z. B. in den Ideen II unternommen, wo er vom Leib als »Willensorgan« (Hua IV, 151) oder – an anderer Stelle – als dem »Ausgangspunkt aller Praxis« (Hua XV, 328) spricht. Die Handlungstheorie von Husserl tritt also, was die Bewusstseinsseite anbelangt, wesentlich in Gestalt einer »Phänomenologie des Willens« (Hua XXVIII, 102 ff.) auf. Was versteht Husserl unter dem Willen? »Jede Handlung«, schreibt Husserl in den Forschungsmanuskripten, »geht auf ein Sein, das wird, das nur durch Werden oder im Werden zur Realisierung kommt«. 24 Das Wesen des der jeweiligen Handlung vorausgehenden Willens besteht darin – wie er etwas kryptisch, aber mit konsequentem Blick auf den besonderen ontologischen Status des Korrelats eines Willensaktes formuliert –, dass der Wille »auf Nicht-Seiendes, aber Sein-Werdendes als willentlich SeinSollendes gerichtet« 25 sei. Ein Wille sei daher immer auf Künftiges gerichtet, und zwar auf solches, das auch schöpferisch vom Wollenden verwirklicht werden kann und daher – anders als im Fall des Wunsches – nicht ein »Ideales«, sondern ein »Reales« (Hua XXVIII, 106) ist. Wünschen kann man sich allerlei, Wollen jedoch nur etwas, was sich im Rahmen der Möglichkeiten auch realisieren lässt. Wir müssen also die Überzeugung haben, »dass das zu Wollende durch den Willen ausVgl. dazu näher Melle (1992), 287 ff. Die systematische Auswertung von Husserls Auseinandersetzung mit den Philosophen und Psychologen seiner Zeit hinsichtlich der hier interessierenden Themen steht noch aus. Grundlage dafür bieten die sich in seinem Nachlass befindlichen Exzerpte, kritischen Reflexionen und die zahlreichen Annotationen in den in seiner Bibliothek befindlichen Büchern und Aufsätzen (z. B. von v. Ehrenfels (1887, 1897–1898), Lipps (1901, 1902), Pfänder (1900, 1911), Schwarz (1900), Stumpf (1899, 1907)). 24 A VI 12 II/211a. 25 A VI 12 II/190b; vgl. Hua XXVIII, 108 f. 23
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führbar« 26 sein kann. Handeln wir wider diese Überzeugung, dann handeln wir unvernünftig. Drei Formen der Willenssetzung sind für eine Typologie der Handlungen entscheidend: neben dem von James entlehnten fiat als dem eigentlichen Willensimpuls unterscheidet Husserl noch den allgemeiner gedachten Handlungswillen und als dritte Form den Vorsatz- bzw. Entschlusswillen. 27 Nicht-objektivierende Akte bedürfen, wie oben dargestellt, einerseits Vorstellungen, d. h. objektivierender Akte, zu ihrer Fundierung – wir beziehen uns ja in einem Akt des Gefallens, Wollens auf etwas – und andererseits bedürfen sie auch objektivierender Akte, damit das, was im Gemüts- oder im Willensakt ursprünglich erscheint, zum Ausdruck, zum Thema und somit zum expliziten Gegenstand gemacht werden kann. Erkennen kann Husserl zufolge nur von objektivierenden, theoretischen Verstandesakten geleistet werden. 28 Auch der Gegenstands- bzw. Seinsbegriff wird von ihm in der Regel in dieser Verengung auf die Erkenntnissphäre bzw. auf die Sphäre der objektivierenden Akte verwendet, so dass Werte eigentlich nichts Seiendes sind. 29 Was sind sie aber dann? Inwieweit sind Gemüts- und Willensakte wirklich nicht-objektivierende Akte, also Akte, die selbst nichts vorstellen oder zur Erkenntnis beitragen? Was meinen wir, was erscheint uns, was stellen wir vor, was setzen wir in einem emotionalen oder volitiven Akt? Derartige Fragen werden für Husserl in seinen deskriptiven Analysen – und, so kann man behaupten, wohl nur, weil er diese Analysen konkret und mit einer gewissen Verbissenheit durchA VI 12 II/190a. Vgl. Hua XXVIII, 101 f.; dazu Melle (1992), 292. 28 Vgl. zur Problematik der Einteilung in objektivierende und nicht-objektivierende Akte Melle (1990). 29 Die Gleichsetzung des Akts der Erkenntnis im weitesten Sinn (zu dem auch die Wahrnehmungen gehören) mit den objektivierenden Akten führt – trotz aller Beteuerungen Husserls – zu einer klaren Hierarchisierung innerhalb der Intentionalität. Die alternativen Denkmodelle, die er zu entwickeln versucht, z. B. in Gestalt einer der Wahrnehmung parallel laufenden »Wertnehmung« oder der Bestimmung der Werte als Wertsetzungen bzw. Wertstellungnahmen (vgl. Hua III/1, § 117), werden nicht konsequent genug verfolgt. Entsprechend bleiben die ursprünglichen Korrelate der Gemüts- und Willensakte aus der Sphäre des Seienden bzw. Erscheinenden ausgeschlossen, ohne dass Husserl klar machen kann, zu welcher Sphäre sie dann gehören könnten. Husserl betont zumindest verschiedentlich: »Wert ist nicht Seiendes, Wert ist etwas auf Sein oder Nicht-Sein Bezügliches, aber gehört in eine andere Dimension.« (Hua XXVIII, 340) Probleme der Husserl’schen Wertlehre werden auch von Schuhmann (1991) erörtert. 26 27
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führt – zu einem stetig wiederkehrenden und bohrenden Problem und damit zu einem Prüfstein seiner gesamten Aktlehre. 30 Eines der Kardinalprobleme für Husserl liegt also darin, phänomenologisch zu bestimmen, was denn in Gemüts- oder Willensakten als nicht-objektivierenden Akten selbst ursprünglich erscheint und wie dieses Etwas zu verstehen und zu beschreiben ist. Die Korrelate von Gemüts- und Willensakten sind gegenüber den sich in theoretischen Akten konstituierenden Seinsgegenständen der Sachenwelt »neuartige« Gegenstände, wie Husserl ausdrücklich sagt, nämlich axiologische bzw. praktische Gegenstände, die er daher auch als »ein Seiendes neuer Region« (Hua III/1, 272) bezeichnet bzw. präziser, wie zu Beginn im Fall des Willenskorrelats zitiert, als »Nicht-Seiendes, aber Sein-Werdendes als willentlich Sein-Sollendes«. Die Eigenart dieser neuartigen Gegenstände, also der Korrelate nicht-objektivierender Gemüts- und Willensakte, ist im eigentlichen Wortsinn nur schwer vorstellbar. Ein zentrales Problem verbirgt sich daher hinter der scheinbar harmlosen Frage, die Husserl in einem Forschungsmanuskript von 1914 die praktische Sphäre betreffend stellt, nämlich: »Ist Handeln Wahrnehmung der Handlung?« 31 Er fragt hier, wie es überhaupt zur Erfassung einer Handlung kommen kann bzw. wie sich die Handlung in ihrem Handlungscharakter konstituiert z. B. gegenüber einem normalen Ablauf, Ereignis oder Vorgang in der Natur. Warum können wir überhaupt zwischen einem Naturvorgang und einer Handlung unterscheiden? Aufgrund der Deskriptionen in seinen Forschungsmanuskripten gelangt Husserl diesbezüglich zu neuen Einsichten, ohne aber wirklich weitreichende Konsequenzen daraus zu ziehen. Das Neue in der Bestimmung des Verhältnisses von nicht-objektivierenden und objektivierenden Akten scheint mir im Folgenden zu bestehen, wie ich kurz zusammenfassen will: Im Vollzug einer Willenshandlung ist die Objektität, die Gegenständlichkeit ›Handlung‹ gegeben, die ich dem Akt zwar ›entnehmen‹ kann; dieser Akt der Entnahme, das ThematischMachen, ist aber kein Akt der Reflexion im Sinne einer vergegenständVgl. z. B. entsprechende Ausführungen in der Ethik-Vorlesung von 1908/09, wo Husserl im Hinblick auf die Logischen Untersuchungen zugesteht, dass er dort »mit den Gemütsakten und mit dem ganzen Wesen der Fundierung bei ihnen und ihrer Stellung zu den objektivierenden Akten nicht fertig werden« konnte. Er spricht von einem »ernstlich gefährdeten Aktbegriff […]. Hat der Begriff Akt noch Einheit? Ist sie durch Erkenntnis des Doppelsinnes der Intentionalität nicht zersprengt?« (Hua XXVIII, 337) 31 A VI 3/18a. 30
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lichenden Objektivierung, wie das noch in den Logischen Untersuchungen nahegelegt wurde. Der gebende Akt für die Wahrnehmung der Handlung ist vielmehr der Vollzug einer Handlung, wobei wir dann nicht auf das Handeln als Akt schauen, sondern auf das Produkt, das Gehandelte, die Tat. »Die Handlung«, schreibt Husserl »ist wahrgenommen im eigentlichen Sinne, wenn ich eben handle und dabei dem Vorgang in seinem voluntären Charakter zugewendet bin.« 32 Und Ähnliches ließe sich in Richtung auf die Gemütskorrelate ausführen, so wenn Husserl etwa in den Ideen I (Hua III/1, § 108) schreibt, dass das Prädikat »schön« nicht ein Reflexionsprädikat sei. Meint Husserl hier nicht, dass wir das »schön« nicht im Hinblick, in Reflexion auf den entsprechenden ästhetischen Akt, den wir vollziehen, erfassen, sondern im Hinblick auf das, was uns im Vollzug dieses Aktes erscheint? Aber dieses im nicht-objektivierenden Gemütsakt ursprünglich Erscheinende ist der in den Ideen I gegenüber den Logischen Untersuchungen revidierten Auffassung zufolge, nach der nun alle Akte überhaupt – auch die Gemüts- und Willensakte – »objektivierende« sind, nämlich »Gegenstände ursprünglich ›konstituierend‹« (Hua III/ 1, 272), wie Husserl dort unter ausdrücklicher Verwendung von Anführungszeichen schreibt, nicht eigentlich objektiviert (d. h. doch wohl: bloß vor-konstituiert), aber so, dass es jederzeit dem Gemütsakt durch einen objektivierenden Akt entnommen werden kann. In dieser Entnahme liegt aber ein großes Rätsel der Husserl’schen Intentionalitätstheorie. Ist die Entnahme des sich in einem nicht-objektivierenden Gemüts- oder Willensaktes Vorkonstituierten durch einen theoretischen objektivierenden Akt sachangemessen? Oder gibt es andere adäquatere Zugangsweisen?
2. Die Intentionalität der Gefühle, das Schichtenmodell und die Methode des Abbaus Beschäftigen wir uns im Folgenden etwas näher mit der – im Vergleich mit den Willensakten – scheinbar weniger komplexen intentionalen Gefühlslehre Husserls. Zunächst wieder einige allgemeine Bemerkungen. Die für seine gesamte Gefühlslehre grundlegende Unterscheidung zwischen der Intentionalität bzw. Nicht-Intentionalität von Gefühlen 32
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wird auf dem Hintergrund der oben genannten Brentano’schen Bestimmungen bekanntlich im § 15 der V. Logischen Untersuchung expliziert. Danach gibt es einerseits sogenannte Gefühlsakte, denen »eine intentionale Beziehung auf Gegenständliches zukommt« (Hua XIX/1, 402) wie bei dem Gefallen an einer Melodie, dem Missfallen an einem schrillen Pfiff, bei der Freude oder Unfreude an bzw. über etwas usw. In diesen Fällen fordere, so Husserl, das spezifische Wesen des Aktes die gegenständliche Beziehung auf einen Gegenstand. 33 Andererseits gibt es nicht-intentionale Gefühle: die sogenannten Gefühlsempfindungen 34 wie bloße Schmerz- oder Lustempfindungen (z. B. der Wohlgeruch oder der Wohlgeschmack einer Speise). Es ist zu beachten, dass diese Gefühlsempfindungen in enger Beziehung zu den sinnlichen Empfindungen stehen, da sie einerseits in diesen fundiert oder mit diesen verschmolzen sind: So liegt einem Wohlgeruch eine Geruchsempfindung zugrunde, die Geschmacksempfindung einem Wohlgeschmack usw. 35 Andererseits werden Gefühlsempfindungen von Husserl oft in Analogie zu den sinnlichen Empfindungen in funktioneller Weise bestimmt: Gefühlsempfindungen können wie sinnliche Empfindungen aufgefasst, apperzipiert werden, wodurch uns erst Wertbestimmungen des Gegenstandes erscheinen. Husserl zufolge muss unterschieden werden »erlebte Lust, empfundene (also Empfindungslust und Erlebnislust irgendwelcher Art), und Freude als Gefallen, die Lust zwar vo-
Vgl. Hua XIX/1, 403: »Aber wir haben nicht bloß die Vorstellung und dazu das Gefühl als etwas zur Sache an und für sich Beziehungsloses und dann wohl bloß assoziativ Angeknüpftes, sondern Gefallen oder Missfallen richten sich auf den vorgestellten Gegenstand, und ohne solche Richtung können sie überhaupt nicht sein.« 34 Mit den Gefühlsempfindungen hat sich Stumpf (1907, 1906) verschiedentlich auseinandergesetzt. Vgl. dazu ausführlich Reisenzein (2003), der Stumpf als einen Vorläufer moderner kognitiver Emotionstheorien behandelt. 35 Die Gefühlsempfindungen stehen den sinnlichen Empfindungen nahe und können ähnlich wie diese im Sinne des Inhalts-Auffassungs-Schemas als Anhalte oder darstellendes Material für gegenständliche Auffassungsleistungen oder Apperzeptionen fungieren (vgl. Hua IV, 152 f. und A VI 30/226). Husserl greift auf dieses AuffassungsSchema zurück, wenn er das Gegebensein von Werten – in nicht ausdrücklicher Anlehnung an Scheler – als ein Wertfühlen oder als eine »Wertnehmung« (Hua IV, 9; vgl. Hua XXXVII, 72, 292) bezeichnet, die in entsprechender Analogie zur Wahrnehmung gedacht wird. Wie geht eine nicht-intentionale Gefühlsempfindung (wie Lust oder Unlust) in einen intentionalen Gefühlsakt (wie Trauer oder Freude) ein? Und ist der Wert dann das objektive bzw. ›gegenständlich‹ erscheinende Resultat dieser Apperzeption? 33
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raussetzt, aber nicht Lust ist. Analog wie eine Wahrnehmung Empfindung voraussetzt, aber nicht Empfindung ist.« 36 Eine täuschende – d. h. nur scheinbar intentionale, nicht zum Wesen der Gefühlsempfindungen gehörige – gegenständliche Bezogenheit kann sich dadurch ergeben, dass man z. B. zwischen einem Schmerz und dem Ort oder dem Gegenstand, der diesen Schmerz erzeugt hat, eine Beziehung herstellt, so wenn man sagt »Der Schmerz ist im Knie« oder »Das Messer hat mich verletzt«. In solchen Fällen spricht Husserl statt von einer intentionalen Beziehung von einer bloß assoziativen oder vorstellungsmäßigen Beziehung auf einen Gegenstand (bzw. auf ein Ereignis); mit dem möglichen Effekt, dass uns Gegenstand oder Ereignis, wie er hervorhebt, in einer bestimmten »Gefühlsfärbung« erscheinen, wobei wir diese Färbung einerseits als eine subjektive, aus dem psychophysischen Subjekt hervorgehende Gefühlserregung deuten und andererseits als eine objektive Eigenschaft des Gegenstandes oder Ereignisses auffassen. Interessant ist, dass uns diese irgendwie, d. h. nicht näher erläuterte, am Gegenstand oder Ereignis haftende Gefühlsempfindung dazu motivieren kann, uns diesem (z. B. in einem intentionalen Akt der Freude) zuzuwenden: »Das Ereignis scheint wie von einem rosigen Schimmer umflossen. Das in dieser Weise lustgefärbte Ereignis als solche ist nun erst das Fundament für die freudige Zuwendung.« (Hua XIX/1, 408) Die Rede vom »rosigen Schimmer« des Gegenstandes und andere von Husserl häufig und in ähnlich bildhafter Weise verwendete Ausdrücke 37 machen aber auch deutlich, welchem Leitfaden er in seinen Analysen folgt: Ich will dies hier einmal pointiert als ›Schichtenanalyse‹ bezeichnen. Husserl geht in vielen Manuskripten davon aus, dass »Fühlen und Wollen Erkenntnisfunktionen schon voraussetzt, da schon Gegenstände bewusst sein müssen, um das Gefühl berühren zu können« (Hua XXXVII, 291). Dies ist natürlich wiederum eine Konsequenz der in den Logischen Untersuchungen grundgelegten Lehre A VI 8 I/76b. Vgl. zu dieser Unterscheidung zwischen Empfindungslust und Erlebnislust Bernet (2006), 47 f. 37 Vgl. Ausdrücke wie »Gefühlsfärbung« (A VI 12 II/28a), »Gemütsfärbung« (A VI 12 II/29a, A VI 30/219a), »Gefallensfärbung« (ebd.), »Lusttönung« (A VI 30/167), »Gefühlslicht« (A VI 12 II/88a), »Temperatur der Gefühle« (A VI 12 II/129a), »mit Wert umkleidet« (A VI 3/70a), »lustgefärbtes Ereignis« (Hua XIX/1, 408), »mit der Färbung der Trauer umkleidet« (Hua XIX/1, 409), »mit dem Gemütsprädikat bekleidet« (A VI 30/219b) usw. 36
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von der Fundierung der nicht-objektivierenden Akten in objektivierenden. Husserl unterstellt gewissermaßen, dass sich Gefühls- wie Wertprädikate im Sinne einer bloß oberflächlichen Schicht auf den fundierenden Gegenstand – der in einer Wahrnehmung oder in einem anderen objektivierenden Akt vorgängig gegeben ist – ›auflagern‹ würden; anders als Eigenschafts- oder Sachbestimmungen des Gegenstandes (wie Wärme, Größe, Farbe etc.) gehören Gefühls- oder Wertprädikate daher für ihn nicht notwendig zum Gegenstand: »Das Stimmungsmäßige, das Traurige und Heitere einer Landschaft zum Beispiel, oder der Auffälligkeitscharakter im Ding, das Fremdartige usw. gehört nicht zum Ding selbst.« (Hua XXXIX, 267) 38 Es kommt auf diese Weise bei den Gefühlen – um in Husserls Bild zu bleiben – nicht zu einer farblichen Durchtränkung des Gegenstandes, die durch alle Schichten desselben reichen würde, eben nicht zu einer wirklichen Tinktur, sondern nur zu einer oberflächlichen Färbung, die einfach und jederzeit wieder weggewischt werden kann, wenn der vermeintlich darunterliegende Gegenstand, der Naturgegenstand, wieder sichtbar werden soll. 39 Im Zusammenhang mit dieser von Husserl vor allem in seinen Gefühlsanalysen bevorzugten Schichtenanalyse steht auch die von ihm entwickelte »Methode des Abbaus« (Hua XXXVII, 295), mit der, und zwar ausdrücklich in der sogenannten »naturalistischen Einstellung«, von allen Sinnesleistungen, die aus der Gemüts- und Willenssphäre stammen, systematisch abstrahiert werden soll – mit der ZielEntsprechend heißt es in den Ideen II: »[…] übergelagert über die Schicht der sinnlichen Prädikate [ist] die Schicht des ›erfreulich‹, des gegenständlich-objektiven ›traurig‹, des ›schön‹ und ›hässlich‹ usw.« (Hua IV, 15) Vgl. auch entsprechend Ms. A VI 30/ 219b: »In der Gemütsapperzeption ist das sinnlich apperzipierte oder kategoriale Objekt mit dem Gemütsprädikat bekleidet oder erscheint, steht da in solcher Charakterisierung und im nachkommenden Urteil wird ihm das Prädikat ›schön‹, ›gut‹ etc. prädikativ zugemessen.« 39 Scheler (1960), 109 f., scheint die gegenteilige Ansicht zu vertreten, wenn er betont, dass »jede Art intellektiver Soseinserfassung eines Gegenstandes ein auf diesen Gegenstand bezogenes emotionales Werterlebnis voraussetzt. […] Die Wertnehmung geht stets der Wahrnehmung vorher.« Bei Husserl heißt es hingegen oft: »Erst ein Gegenstand und dann ein Gefallen daran und mit diesem erst sich konstituierend das Prädikat gefällig, Wert des Gegenstands.« (A VI 12 II/84) Vgl. zur Schichtung der emotionalen Sphäre bei Husserl und Scheler ausführlicher Zhang (2009). Obwohl ein Einfluss Schelers auf Husserls Ethik- und Wertlehre naheliegt, so lässt er sich jedoch konkret – sei es anhand von Manuskriptstellen oder ›Lesespuren‹ oder Annotationen in den Büchern von Scheler in Husserls Bibliothek – nur schwer nachweisen (vgl. dazu Melle (1997b)). 38
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setzung, den für die moderne Naturwissenschaft relevanten Gegenstandsbegriffs freizulegen. 40 Natürlich ist sich Husserl im Klaren darüber, dass die naturalistische Einstellung (und damit auch die Naturwissenschaft) »keine Wertprädikate und keine praktischen Prädikate [kennt]. Begriffe wie wertvoll, schön, lieblich, reizend, vollkommen, gut, nützlich, Tat, Werk usw., ebenso aber auch Begriffe wie Staat, Kirche, Recht, Religion und sonstige Begriffe bzw. die Gegenständlichkeiten, zu deren Konstitution wertende und praktische Akte wesentlich beitragen, haben in ihr keine Stelle, sie sind keine Naturbegriffe.« (Hua IV, 25; vgl. Hua XXXVII, 294 f.) Eine angemessene Analyse komplexer Gefühlsphänomene, wie sie z. B. der Protagonist in der Erzählung von Proust erlebt, wenn er das berühmte französische Gebäck, die Madeleine, (mit Tee gemischt) zu sich nimmt, kann daher – wie es auch für Husserl außer Zweifel ist – nie in der naturalistischen, sondern nur in der personalistischen Einstellung geleistet werden. Es ist aber fraglich, ob die von Husserl zumeist vertretene Auffassung von sich dem Gegenstand auflagernden Gefühlsschichten solchen Gefühlsphänomenen überhaupt gerecht werden kann. 41 Nun ist die Scheidung zwischen intentionalen Gefühlsakten und nicht-intentionalen Gefühlsempfindungen, die ja oben der Ausgangspunkt gewesen ist, aus einer sehr abstrakten Einstellung heraus gewonnen. Der Gefühlsbegriff ist also in gutem Husserl’schen Sinn äquivok, 42 was bei Nichtbeachtung zu Fehldeutungen und Missverständnissen führen kann. In der konkreten deskriptiven Analyse der Vgl. z. B. Hua XXXVII, § 9, 291 ff., und Hua XXXIX, Text Nr. 26, 259 ff. Wenn man Husserl kritisieren will, dann dahingehend, dass sich in seinem Werk keine vertieften Analysen dieser Gefühls-Sinnesschichten, geführt in der personalistischen Einstellung, finden lassen. Für diesen Mangel scheint es mir auch bezeichnend, dass es bei ihm so gut wie keine Versuche gibt, das Wesen des künstlerischen Erlebens, Fühlens, Genießens, sei es des Schaffenden oder des Rezipierenden, zu analysieren. Kunst ist aber nun mal ein vorzüglicher Bereich, in dem mit Gefühlen jongliert, ein Spiel gespielt wird. Sicherlich gibt es in seinem Werk eine Reihe grundlegender Vorarbeiten für die Analyse von Kunstphänomenen, wie z. B. die des Bild- und Phantasiebewusstseins, aber keine weitergehenden Ausführungen zum ästhetischen Erleben. In diesem Zusammenhang wären nur die gefühlstheoretisch ausgerichteten Analysen anderer Phänomenologen zu nennen, wie z. B. die von Moritz Geiger oder Roman Ingarden. 42 Husserl will hinsichtlich der Intentionalität bzw. Nicht-Intentionalität von Trieben und Begehrungen statt von einem »Verhältnis der Gattungsgemeinschaft« lieber von einem »Verhältnis der Äquivokation« sprechen (Hua XIX/1, 410). Vgl. die allgemeinen Ausführungen zur Äquivokation der logischen Grundbegriffe (z. B. Hua XIX/1, 520 ff.). 40 41
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Erlebnisse trifft man meist auf Komplikationen, also, wie dargestellt, auf Mischungen von intentionalen Gefühlsakten und nicht-intentionalen Gefühlsempfindungen. Das hat zur Konsequenz, dass in einigen Fällen nicht klar bestimmt werden kann, ob nun eine intentionale Beziehung des Gefühls auf seinen Gegenstand vorhanden ist oder nicht. Es gibt eher einen gleitenden Übergang zwischen Gefühlsempfindung und intentionalem Gemütsakt als eine wirklich scharfe Trennung. Nehmen wir das Missfallen an einem schrillen Pfiff. Stehen wir am Bahnhof und sind in ein Gespräch vertieft, so wird der störende laute Pfiff zunächst doch wohl eine Gefühlsempfindung der Unlust (z. B. als Schmerz im Gehörgang) erregen. Diese kann dann, wie Husserl beschreibt, übergehen in einen intentionalen Gemütsakt »aktiven Missfallens« (Hua XIX/1, 409), wenn wir uns – das Gespräch unterbrechend – z. B. missbilligend auf das Woher und Warum etc. des Pfiffes oder einfach missfällig auf den Pfiff selbst richten. Der intentionale Aktcharakter kann sich aber auch jederzeit wieder aus der Gefühlsempfindung zurückziehen, so wenn der Pfiff zwar andauert, wir uns aber zwischenzeitlich wieder in das Gespräch versenkt haben. Auch am Beispiel religiöser Gefühle versucht Husserl zu zeigen, wie ein ehemals intentionaler Gemütsakt zu einem nicht-intentionalen Fühlen ›degradiert‹ wird. Es handelt sich um einen echten Intentionalitätsakt, wenn wir uns betend an Gott wenden und in dem dabei möglicherweise entstehenden Wertgefühl der Demut oder Ehrfurcht auf Gott gerichtet leben. 43 Diese gefühlsmäßige intentionale Gerichtetheit kann ihre spezifische Intentionalität verlieren, wenn man zu einem »Genüssling der Religiosität« 44 wird, wenn man also nur noch in den religiösen Gefühlen schwelgt, ohne sich im echten Sinne des Gebets an Gott zu wenden. Das nicht-intentionale Gefühl ist dann zwar irgendwie weiterhin mit der Vorstellung Gottes assoziiert, aber stellt keine intentionale We-
Vgl. zur Phänomenologie des religiösen Erlebens mit ausführlichen Bezügen zur phänomenologischen Bewegung Beckmann (2003). 44 »Der Fromme, der sich in jeder Weise hineinsteigert in Schauer der Seligkeit, kann zu einem Genüssling der Religiosität werden. Statt in religiösen Wertgefühlen, in Hingabe an einen Wert des Göttlichen zu leben, lebt er im Genuss der sinnlichen Schauer, die er auch auf unechte Weise zu erregen weiß durch bedeutungslos gewordene Zeremonien, kirchliche Formen etc.« (A VI 12 II/74a) Es ist fraglich, ob man in diesem Fall nicht besser von einem unecht-intentionalen Gefühlsakt statt von einem nicht-intentionalen Gefühl sprechen sollte (vgl. Mulligan (2006)). 43
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sensverbindung her, da ihr der aktive Vollzug des Intentionalitätsaktes fehlt. Nun wird die Scheidung zwischen nicht-intentionalen und intentionalen Gefühlen in Husserls Deskriptionen überlagert von der zwischen passivem und aktivem Fühlen, die ihren Widerhall in der Willenssphäre in der Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Willen findet. Den Hintergrund dafür bilden seine Überlegungen zur Ethik bzw. zur ethischen Verantwortung. 45 Es erscheint mir überlegenswert, ob diese für die Ethik bedeutsame Scheidung nicht im Grunde schon der in der Logischen Untersuchungen in intentionalklassifikatorischer Absicht getroffenen Scheidung der Gefühle zugrundegelegt werden kann. Nicht-intentionale Gefühlsempfindungen haben in den Beschreibungen Husserls doch meist einen passiv-rezeptiven Charakter (wir ›erleiden‹ Unlust bzw. Lust), während der gegenstandsgerichteten Komponente intentionaler Gemütsakte eher eine aktiv-spontane Tendenz zukommt. Als hier nicht weiter zu diskutierendes ethisches Ideal gilt Husserl eine gewisse Form von »Selbstdressur« 46 oder wie er es in einer anderen, überspitzten Formulierung zum Ausdruck bringt: »Allem Triebmäßigen, mich affektiv Motivierenden oder zu motivieren Tendierenden schleudere ich mein ewiges Nein entgegen« 47 (Hua XXXVII, 339). Gefühle, Triebe, Affekte und Stimmungen etc. können uns zu bestimmten Verhaltensweisen verleiten, ohne dass dem eine willentliche Entscheidung des Subjektes vorausgeht. In einem ethisch wertvollen Sinn sollen Gefühle aber vom Subjekt bewusst aufgefasst, rationalisiert werden und auf dieser Grundlage eine Entscheidung für etwas gefällt werden. Auf der Grundlage seines Gefühls macht sich das Individuum einen Wert deutlich, in dem es das Gefühl aktiv vollzieht, das dann zum bewussten Motiv seiner Handlungsweise wird. Dazu ein stark vereinfachtes Beispiel: Ein starkes Hungergefühl kann dazu führen, dass ich diesem einfach gedankenlos Vgl. dazu Hua XXXI, 8 f. u. Hua XXXVII, 220 ff., wo Husserl den Unterschied zwischen passiven und aktiven Gefühlserlebnissen aus einer Kritik an Kant entwickelt. Gegenüber Kant will Husserl zeigen, »dass das Fühlen eine Sphäre eigener Normierung ist« (Hua XXXVII, 228). 46 E III 4/28b. 47 Husserl formuliert diesen Satz als eine Frage, und er schließt an: »Die Antwort lautet: Triebe dürfen mich nur motivieren, wenn ich sie an der Leine habe, nur wenn ich ihnen ihre Funktion und den Rahmen ihrer Funktion vorzeichne. Es ist die Aufgabe, diese Art der Motivation genau zu beschreiben.« (Hua XXXVII, 339) 45
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Folge leiste und alles in mich, wie ein Vielfraß, hineinschlinge. Ich folge dann einfach dem Hungertrieb und befriedige ihn mit der Nahrungsaufnahme. Ich kann diesem Trieb-Gefühl aber auch widerstehen. Wenn ich das Essen nun genieße, Bissen für Bissen, und mich bewusst darauf konzentriere, dann verhalte ich mich, würde Husserl wohl sagen, aktiv wollend oder aktiv fühlend, nämlich meine Triebe dadurch »an der Leine« haltend, dass ich »ein tätiges Erfassen des daseienden Dingwertes« (Hua XXXVII, 223) vollziehe. Ich möchte mit folgendem Gedankengang abschließen. Die von Husserl so bezeichneten »passiven Gefühle«, die das Subjekt bedrängen, es qua Trieb, Instinkt, Begierde, Lust zu etwas drängen, ohne dass dem ein eigener Wille entgegensteht bzw. folgt, 48 werden in ihren grundlegenden Funktionen in der genetischen Phänomenologie zum Forschungsthema Husserls. Deren Leitbegriffe sind die der Assoziation und Affektion. Jede Affektion bzw. jeder Affekt, Husserl verwendet synonym auch den Ausdruck »Tendenz«, übt nun eine Anziehung aus. Husserl verfällt hier allerdings nicht einem einfachen Reiz-ReaktionsMuster, da die Affektion bzw. Tendenz zwei Seiten hat, nämlich die Anziehung, den »Zug«, der vom Objekt ausgeht, und die Hinwendung, die vom Subjekt ausgeht. 49 Ich erwähne dies, da das, was Husserl in seiner späten Freiburger Ethik gerne als einen »Ruf« bezeichnet, schon in seinen Beschreibungen des tendenziösen Geschehens der unteren, affektiv-passiven, Empfindungs-, Gefühls- und Wahrnehmungssphäre zu finden ist. 50 Die Anziehung, die vom Objekt ausgeht, wird schon auf dieser sinnlichen Ebene qua »Zug« (Hua XI, 138) gewissermaßen als ein Ruf verstanden, dem das Subjekt entsprechend nachgeben kann oder nicht. 51 Aber auch bei der höheren Ebene der Werte ist es ange»Das fühlende Subjekt, das dem stärkst affizierenden passiven Gefühl nachgibt, vollzieht damit keine eigentliche Bevorzugung, keinen freien Akt der bevorzugenden Stellungnahme, in der das eine Gefühl sein Substrat als das bessere auszeichnet.« (Hua XXXVIII, 232) 49 Vgl. z. B. Hua IV, 136. 50 Vgl. zur Wertaffektivität Lotz (2002), 20, der der Frage nachgeht, »ob nicht schon auf der Ebene der Affektion ein wertendes Subjekt mit im Spiel ist«. Vgl. auch Micali (2006), (2008), 41–77. 51 In den Analysen zur passiven Synthesis sind es die perzeptiven Abschattungen des Wahrnehmungsgeschehens, von denen eine solche Ruf-Motivation ausgeht: »Auch hinsichtlich der schon gesehenen Seite ertönt ja der Ruf. Tritt näher und immer näher, sieh mich dann unter Änderung deiner Stellung, deiner Augenhaltung usw. fixierend an, du wirst an mir selbst noch vieles neu zu sehen bekommen […].« (Hua XI, 7) 48
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bracht, von einer »Affektion« zu sprechen. Werte affizieren das Ich, aber nicht wie Gefühle oder Empfindungen, sondern in einem Sinne, dass von ihnen Forderungen ausgehen, nämlich ihnen zu folgen oder eben nicht zu folgen. Der absolute Ruf, um den es in Husserls ethischer Konzeption der letzten Freiburger Jahre geht, 52 konkretisiert sich in der Aufforderung zu einem absoluten Sollen, nämlich zu einem absoluten Wert. Dieser Ruf trifft auf ein Wesen, das dem Ruf antworten kann: »Den absoluten Sollensforderungen entspricht ein Absolutes in der Persönlichkeit, ein Zentrales des Wesens; darin liegt, dass es das Zentrum ist, an das die absoluten Forderungen sich wenden und das in der Entscheidung ihnen gemäß sein Wesen erhält.« 53 Der absolute Ruf ist daher eine Forderung, dem sich das Ich in ethischer Hinsicht nicht entziehen darf. Das Ich kann, wie Husserl schreibt, »wenn es den Ruf erlebt, den Vorzug als unbedingten anerkennen muss, nicht gegen diesen Wert entscheiden, ohne sich zentral zu schädigen, ohne sich preiszugeben in einem innersten ›Wesen‹« 54. Husserl bezeichnet diesen ethischen Ruf daher auch als eine absolute Affektion: »Es gibt ein unbedingtes ›Du sollst und musst‹, das sich an die Person wendet und das für den, der diese absolute Affektion erfährt, einer rationalen Begründung nicht unterliegt, und in der rechtmäßigen Bindung von ihr nicht abhängig ist. Diese geht aller rationalen Auseinanderlegung, selbst wo sie möglich ist, vorher.« 55 Führt man sich diese alle Schichten durchziehende Affektion, die hier zugegebenermaßen an einem etwas über Gebühr strapazierten »Ruf«-Begriff festgemacht wird, vor Augen, dann erscheint es zweifelhaft, ob man der Gemüts- und Willenssphäre gerecht werden kann, wenn man diese immer wieder nur als »Schichten« zu einer schon vorgängig konstituierten und irgendwie gefühls- und willensfreien Gegenstandsschicht hinzutreten lässt. An diesem Schema orientiert sich Husserl jedoch faktisch in vielen seiner Gemütsanalysen. Und dennoch, so wurde hier verschiedentlich betont, stößt er in der konkreten Durchführung seiner Analysen immer wieder auf die Notwendigkeit, die in den Logischen Untersuchungen im Ausgang von den intellektiVgl. zu Husserls später Ethik der Freiburger Jahre, insbesondere zum Verhältnis von Ruf und Berufung, die Ausführungen von Melle (1991, 1997c, 2002, 2004, 2007). 53 A V 21/117b. 54 Ebd. 55 B I 21/65a. 52
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ven Akten getroffenen Bestimmungen zu modifizieren. Einsichten wie die folgende fordern eine solche Modifikation: »Bloße Empfindungsdaten und in höherer Stufe sinnliche Gegenstände, wie Dinge, die für das Subjekt da sind, aber wertfrei da sind, sind Abstraktionen. Es kann nichts geben, was nicht das Gemüt berührt.« 56
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Sach- und Personenregister
Sachregister Abbau 78, 116, 336, 348, 351 Abhängigkeit 31, 37, 137, 139–141 Adiaphora 283 Affekt 330, 354–355 Affektion 66–67, 69, 78, 272, 307, 322–323, 325, 336, 355–356, 358– 359 Ähnlichkeit 78, 94, 125, 179, 187–188, 194 akausal 237 Akkordeoneffekt 270 Akt 26, 40–55, 58–59, 61–66, 68–71, 75, 80, 82, 94–95, 102, 108–109, 127, 163–164, 167, 180–181, 194– 199, 203, 205, 208–209, 212–213, 215, 221–222, 224, 226–227, 238, 245–249, 254–255, 275, 279, 282, 287–289, 293, 295, 297, 300–301, 308–311, 314, 317, 319–320, 325, 328, 336, 341–348, 350–352, 355, 358 Akte –, nicht-objektivierende 288, 310, 320 –, objektivierende 245–247, 275, 288– 289, 297, 309–311, 314, 336, 344, 346–347, 351 Allgemeines 148, 152–153, 155, 157, 164, 178 Allgemeingültigkeit 280, 296 Allgemeinheit 31, 146–148, 150–152, 155–159, 161–162, 166, 169, 174 Analogie 32, 36, 185, 247, 281, 297, 309, 312, 322, 336, 341–342, 349, 358 anti-kausal 234, 237, 239, 241, 243
Anzahl 92–93, 95, 158, 174, 284 Anzeichen 27, 124–125, 196–197 Apriori 249, 285 –, materiales 170, 230 Argument 44, 124–125, 136–140, 160–161, 220–221, 227 Assoziation 63, 78, 140, 355 Aufforderung 176, 271, 356 Autonomie 269, 324, 326–328 Axiologie 282–289, 301–302, 306, 314–316, 321–322, 341–342 Bedeutung 25, 28, 30, 33, 39, 42, 57, 59, 61–62, 80–81, 88, 92, 98, 103, 106, 109, 113, 122–124, 129, 133, 148, 152–154, 159, 168, 170, 177, 182–183, 192–196, 198–205, 207– 212, 214–217, 220–226, 229–230, 241, 275, 278, 292, 297 Bedeutungsintention 198, 203, 209, 212, 217, 221–222 Begehren 108, 261, 337 Begriffe –, empirische 182, 184–185, 205 –, reine 154–155, 168, 185 Begriffsanalyse 90, 122, 124–125, 173, 186, 189 Begriffserwerb 125 Beliebigkeit 188, 190 Computermodell 117–122, 129 Determinismus 35, 43 Dilemma 269, 331–332 Ding 23, 30–33, 35–37, 80, 123, 162, 164, 175, 183, 186, 188, 196, 207, A
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Sach- und Personenregister 217, 225–226, 238, 241, 243, 252– 253, 351 Disjunktivismus 217, 219 Disposition 30, 35, 62 doxisch 48, 307, 310–311, 314, 317, 319 Dualismus 26–27, 118, 120, 130–131, 136 –, Substanzdualismus 23, 28, 37 Eidos 74, 153–155, 168–169, 173, 188–190, 215–216 Einstellung –, naturalistische 24–26, 28, 36, 132– 133, 250, 304, 352 –, natürliche 23–24, 106, 304 –, personalistische 250, 304, 321 embodiment 133 Emergenz 50–51, 54, 65, 70–71, 74 Emotionen 42, 48–49, 51, 121, 129, 144, 357, 359 Empfindung 141, 152, 350, 358 enactive approach 114, 133 Entscheidung 43, 46–47, 53, 65, 186, 234, 239–240, 250–255, 259, 263, 266, 270–271, 274, 302, 316, 327, 331–332, 354, 356 Enttäuschung 206, 292–294, 331 ¥pagwgffi 174–176, 179, 189, 191 Epoché 24, 107, 131, 133, 142, 234 Ereignis 43–45, 196, 232, 253, 274, 347, 350 Erfüllung 66, 198, 206, 218–219, 226, 280–281, 291–292 Erklärung 43, 96, 118–120, 236–237, 256, 270 Ethik 53, 83, 231, 233, 246, 253, 258, 268–269, 274, 276, 278–286, 289– 290, 292, 295–304, 306–307, 310, 312–315, 317, 320–326, 328–330, 333–336, 341, 347, 351, 354–360 Evidenz 49, 176–177, 225, 252, 301– 302, 307, 314, 317, 320, 323 Existenzialismus 299, 332, 334 explanatorische Lücke 129, 134 Externalismus 59, 106, 194, 220, 256, 258–259
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ALBER PHILOSOPHIE
Form 23–24, 30–31, 59, 62, 68, 70, 72– 74, 76, 78–80, 147, 165–167, 172– 173, 175, 179–180, 186–189, 200, 226, 251, 295, 304, 309–310, 320, 323, 325, 346, 354 Formalismus 276, 278, 280, 297–298, 315, 334 Freiheit 38, 42, 128, 154, 219, 255, 262–263, 271, 274, 297, 306, 324, 326, 332–333 Freude 248, 325, 337, 349–350 Fühlen 247, 279, 287–288, 301, 314, 343, 350, 353–354, 357–358 Fundierung 71, 78, 102, 217, 245, 247, 301, 346–347, 351 Funktion 70, 89, 99, 125, 129, 131, 158–164, 166–170, 183, 194, 196– 197, 224, 233, 247, 250, 263, 265, 274, 282, 289, 327, 338, 340, 354, 357 Funktionalismus 31 Ganzes 70, 73, 218, 226 Gedanke 33, 46, 65, 187, 204, 229, 239, 247, 259, 267, 274, 282, 306 Gefallen 248, 337, 344, 349, 351 Gefühle 26, 63, 66, 115, 118, 123–124, 126–127, 144, 176, 271, 279, 286– 288, 295, 307–308, 316–317, 321, 329, 341–344, 348–350, 353–360 Gefühlsakte 341, 344, 349 Gefühlsempfindung 349–350, 353, 360 Gefühlslehre 348 Gefühlsmoralisten 279–280, 286–287, 289, 295 Gehirn 22, 38, 115–116, 118–121, 126, 129, 131, 136–139, 141–142, 276 Gemüt 309, 335, 342–343, 357, 360 Gemütsakte 71, 247, 249, 287, 299, 301, 309–311, 314, 318, 344, 354 Genuss 337, 353, 358 Geschichte 37, 84, 127, 171, 280, 282, 291, 295, 341, 359 Gesetz vom ausgeschlossenen Vierten 283 Gewissen 251, 312 Glück 291–292, 294
Verena Mayer / Christopher Erhard / Marisa Scherini (Hg.)
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Sach- und Personenregister Grenze 80, 142 Grenzwert 292 Grund/Gründe 44–45, 49, 53, 56, 62, 66, 111, 139–140, 232, 236–237, 244, 248–249, 251, 256–261, 266, 274–275, 305, 318–319, 336, 339
69–70, 74–75, 78, 80–82, 104, 108, 114, 137, 139, 182, 192–193, 221– 222, 250, 266, 268, 296, 300–301, 303, 318, 352 Krisis 57, 89, 103, 110, 119, 135–136, 184, 302, 306, 333, 340
Handlungstheorie 57–58, 231–240, 243, 248–249, 268–269, 274–276, 299, 345, 360 hermeneutisch 235, 270 Horizont 61, 69, 75, 79, 105, 112, 114, 120, 182–184, 206, 218–219, 226, 228, 329
Leben –, ethisches 295 –, personales 43, 72 Lebenswelt 56, 61, 67, 77, 80–82, 84, 92, 103, 108, 110, 112, 114, 119–121, 274, 303–304, 307 Leib 29, 38, 55, 103, 107–108, 129, 137, 140–142, 226, 238, 242, 274, 345, 358 linguistic turn 122 Lust 63, 127, 129, 271, 274, 337, 349– 350, 354–355, 357
Idealismus 60, 117, 122, 141, 224, 229–230, 241, 283 Ideation 163–165, 170, 172–173, 185, 207, 230 Identität –, personale 41, 269 –, praktische 252, 259, 269–270 Immanenz 104, 359 Imperativ 284–285, 295, 315, 322 Induktion 174–175, 178 informed consent 268 Instinkt 323, 326, 328–329, 337, 355 Intentionalität 42, 47, 57–63, 65–66, 68–75, 78–82, 84, 102, 105–106, 110, 176, 192, 195–196, 213, 218, 221, 229, 232–234, 240, 242–243, 245, 249, 264, 272–273, 276, 300, 305–307, 336–337, 343–348, 352– 354 Internalismus 58–59, 193, 213, 220, 256, 258–259 Intersubjektivität 57, 59, 61–62, 67, 69, 73, 76, 80–81, 83–85, 121, 222, 233, 328 Intuition 27, 82, 145, 171–172, 319, 329
Materialismus 26, 41 Materie 28, 30, 99, 102–104, 106, 140, 209, 224, 278, 315 Mathematisierung 119, 121, 136 metabasis 242 Möglichkeit –, leere 25–26 –, logische 262 –, motivierte 79 –, praktische 261, 330 Moment 91–92, 106, 180, 195, 219, 239, 254, 291, 315 Motiv 44–45, 50, 135, 235, 244, 250, 256, 258–259, 262–267, 270, 276, 354 Motivation 43–44, 54, 84, 137–143, 197, 233, 235, 238, 243, 245, 247, 249, 252–253, 255–256, 258–259, 262–267, 270, 274–276, 293, 300, 305, 334, 354–355, 359 Mythos des Gegebenen 118
Kausalität 30, 88, 97, 135–139, 141, 226–227, 240, 257, 263, 308 Kognitionswissenschaften 114–115, 130, 133, 176 Kohärenz 65, 79, 295–296 Konstitution 29, 34, 59, 61–62, 66–67,
Natur 24–26, 28, 37–39, 43–44, 53, 57–59, 61, 64, 66, 68–69, 75, 80, 82– 83, 116, 120–122, 126, 131, 136– 137, 140, 146, 148–150, 154, 157, 163, 183, 192, 195, 200, 207, 227, 230, 232, 238, 241–242, 245, 249– A
Die Aktualität Husserls
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Sach- und Personenregister 250, 266, 269, 273, 286, 291, 303– 305, 315, 347 Naturalisierung 22, 29, 117, 133–134, 136, 142 Naturalismus 25, 27–28, 41, 55, 60, 75, 98, 122, 131–133, 137, 238, 243, 299, 303–304 Noema 194, 221, 230, 241 Objektivismus 122, 131, 283 Objektivität 36, 80, 84, 117, 131, 177, 199, 204, 260, 275, 280, 296, 310, 315 okkasionell 103, 171, 192, 202–204, 206–207, 223 Ontologie 22, 44–45, 58, 73, 81, 85, 170, 191, 202, 205, 216, 276, 286, 291, 322 Operation 46, 187–188 Organismus 28, 40, 42, 49, 264 Parallelismus 53, 141, 221, 281 Passivität 51–52, 63, 66–69, 273, 332– 333 Person 39–42, 45, 49–51, 53–54, 62– 64, 70, 72, 78, 83, 91, 107, 114, 131– 133, 139, 184, 195, 197, 203, 212, 233, 235, 238–239, 245, 249, 252– 254, 258, 262, 265–267, 269–270, 273, 276, 286, 290–291, 293–295, 302–304, 312–313, 317, 323–325, 329, 331–332, 356, 358 Personalität höherer Ordnung 56, 61, 66, 70–73 Perspektive –, der dritten Person 131–132 –, der ersten Person 40, 54, 91, 107, 114, 131, 133, 249, 276 –, des Beobachters/Akteurs 251 –, phänomenologische 58 Phänomenologie –, realistische 64, 300 –, transzendentale 110, 306, 327 Phantasie 49, 98, 182, 185–186, 190, 198, 214–219, 290 philosophy of mind 28, 123 platonistisch 96–99, 193 Pluralisierung 297
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ALBER PHILOSOPHIE
Positionalität 39, 47–49, 215 praktisch 39, 248, 250, 260, 271, 282, 284–285, 287, 301–302, 306–307, 315–316, 321–322, 324–325, 341 Qualia 116, 121, 129, 131–133, 142, 230 Reales 30–32, 37, 205, 345 Realismus 125, 228, 230, 299 Realität 25, 29–32, 36–38, 49–50, 106, 120, 125, 129, 131, 224, 229, 242, 311, 329 Rechtfertigung 49, 94, 111–112, 198, 256, 280, 286, 290, 293, 295–296, 302, 305, 313, 316–318, 320, 323– 325, 331, 333 Reduktion 24, 41, 47, 57, 59, 61, 66, 68–69, 73, 75–78, 83, 106, 131, 133, 142, 234, 236, 241–242, 249, 260– 261, 303–304, 308, 317, 341, 358 Referenz 117, 121–123, 125–126, 129, 193, 195, 237 Regel 23–24, 27, 32, 103, 166, 175, 177, 184, 186, 201, 248, 346 Repräsentation 58, 89, 100–101, 120 Repräsentationalismus 100–101 Retention 140–141 Ruf 27, 121, 312–313, 323–324, 326, 329, 331, 333, 336, 355–356 Sachverhalt 47–48, 69, 84, 153, 166– 169, 196, 316 Sachverhaltsfunktion 168–170, 230 Seele 22–23, 27–38, 55, 129, 137, 238, 245, 254 Selbstregelung 294, 307 Sinn 24, 26–31, 33, 35–40, 51, 57, 60, 65, 70, 83, 85, 93, 96, 98, 103, 105– 106, 109, 127, 138–140, 154–155, 159–160, 163, 165, 169–170, 173, 184, 186, 192–193, 195–197, 206, 210, 216, 219, 224–227, 229, 235– 236, 239–241, 243, 247–251, 253– 262, 264, 266, 271, 274–275, 304, 307–308, 312–315, 317, 319, 325, 338, 346, 352, 354 Sinnlichkeit 69, 151, 191, 273
Verena Mayer / Christopher Erhard / Marisa Scherini (Hg.)
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Sach- und Personenregister Skeptizismus 279–280, 283 Solipsismus 76, 107, 220 Sozialontologie 57–60, 62, 66, 74–75, 77, 79, 82, 85 Soziologie 56–57, 59, 73, 76, 80–84, 238, 276, 357, 359 Spezies 95, 97–98, 178, 180, 193–195, 200–204, 207, 209, 211, 214–217, 219, 221 Spielraum 186–189, 257, 262, 270 Standpunkt –, der ersten Person 195 –, des Subjekts 193 –, naturalistischer 122 –, objektivistischer 283 –, phänomenologischer 127, 137 Stellungnahme 39, 43, 47, 56, 62–66, 70–71, 73, 79, 137, 257, 259, 262, 266, 270–271, 273, 305, 322, 355 Stimmung 337 Streben 72, 264–265, 282, 291–293, 325–326, 331 Subjektivismus 241, 278–280, 289– 290, 296–297 Subjektivität 36, 54, 60–61, 66, 73–76, 79, 81, 84, 126, 129, 131, 142, 191, 230, 235, 250, 276, 294 Substantialität 29–30, 37 Teleologie 326, 330 Tendenz 126, 226, 291, 325, 339, 354– 355 transzendental 29, 105, 279, 336, 340 Transzendenz 104–105 Trieb 261, 271, 274, 327–328, 337, 355, 357 Twin Earth 192, 194, 211, 220, 223 Typus 56, 95, 155, 182–183, 256, 303 Umfang 92, 97, 154, 156–157, 161, 164, 178, 294, 338 Umwelt 61, 63, 66–67, 69, 77, 108– 110, 114, 213, 238, 242, 251, 256, 305, 307, 317, 325, 332 Undsoweiter 172, 187 Ursache 31, 44–45, 139, 237, 239–240, 243, 253, 257, 263–264, 316 Urteil 98, 126, 139, 151, 155, 169, 172–
173, 176, 178–179, 181, 184, 187, 190, 197, 202, 211, 222, 309, 319, 328, 338–339, 343, 351, 358 Variation 98, 155–156, 165–167, 170, 188–190, 230, 252, 318 Verantwortung 53–54, 65, 268–269, 274, 302, 329, 332, 354 Vermögenslehre 34 Vernunft –, praktische 247, 318–319 –, theoretische 320 Verpflichtung 52, 65, 239 Versprechen 46, 52–53, 64 Wahrheitswert 159, 162 Wahrnehmung 48, 94, 98, 103, 107, 115, 124, 127, 167, 173, 177–179, 182–183, 193, 196–197, 208, 214– 219, 222, 225, 237–238, 241, 290, 296, 309, 311, 327, 346–351 Wert 45, 50, 83, 109, 159–162, 168– 169, 181, 204, 250, 253, 265, 279, 281, 283–288, 297, 301–302, 307– 318, 321–327, 331, 333, 337, 344, 346, 349–351, 353–356, 358, 360 Werten 248, 279, 282–285, 296, 301, 310–311, 313–314, 349 Wertgebiet 286 Wesen 26, 32, 36–37, 42, 53, 60, 83, 97, 123, 146, 150, 153–155, 162–163, 168–169, 171, 173, 177, 181, 183, 185–191, 193, 202, 204, 207–208, 215–216, 218, 228–229, 241, 249, 273, 287, 291, 293–294, 311, 324, 328, 345, 347, 349–350, 352, 356 Wesensanschauung 98, 145–146, 162– 163, 170, 230 Wesensgesetz 116, 136, 166–167 Wesensschau 172–173, 175–181, 185– 186, 189–191, 200, 202, 301, 316, 318 Wille 62, 72, 255, 276, 319, 322, 335, 337, 342–345, 355 Willensakt 345–346 Willensfreiheit 128, 238, 254–255, 262, 274 Wollen 72, 137, 234, 246–248, 253– A
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Sach- und Personenregister 255, 263, 282–285, 287, 309, 313– 314, 320, 343, 345, 350, 357–358 Wünschen 42, 246–247, 259, 345 Zahl 93, 156–157, 162, 189, 232
Zeichen 93–94, 162, 186–187, 192– 193, 195–198, 331 Zustand 26, 31–36, 41–52, 54, 58–59, 88, 97, 101, 111, 129, 194, 220, 223, 225, 244, 247, 257, 291, 308
Personenregister Aristoteles 145–151, 155–156, 158, 160, 170–171, 174–175, 191, 268– 269 Arp, K. 221, 228–229 Baker, L. R. 40, 54–55 Beckermann, A. 22, 38, 192, 230, 236, 274–275 Berger, P. L. 56–57, 77, 83 Bergson, H. 172 Bernet, R. 263, 274, 300, 333, 336, 350, 357–358 Beyer, Ch. 88, 99, 113, 192, 194, 229 Bolzano, B. 97–100, 113, 192, 201, 229 Brentano, F. 35, 47, 93–94, 100, 127, 283, 297, 314–315, 320, 322, 341, 343, 349, 357–358 Burge, T. 88 Caminada, E. 56, 222 Chalmers, D. 122, 128–131, 133, 141 Churchland, P. & Pa. 116, 126 Crane, T. 227, 229 Damasio, A. 115, 127 Davidson, D. 143, 236, 249, 274, 337, 359 De Monticelli, R. 39–40, 58, 83, 195 Dennett, D. 34, 38 Dummett, M. 210, 229 Edwards, R. B. 271, 274 Ehrenfels, Ch. von 91, 113, 345, 357 Erhard, Ch. 112, 126, 192, 246, 275, 288, 297, 335 Fichte, J. G. 291, 297, 333 Fodor, J. 88–90, 96, 98, 100–101, 113
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Føllesdal, D. 90, 113, 193–194, 213, 229 Frege, G. 90, 92, 94, 97, 113, 122, 158– 162, 168, 170, 193, 198, 204, 229 Fritz, K. v. 173–175, 190–191 Fuchs, Th. 255, 274 Gallagher, S. 115, 133, 143 Garfinkel, H. 56, 83 Geach, P. 46, 55 Geiger, M. 322, 337, 341, 352, 357, 359 Gilbert, M. 33, 46, 65–66, 68, 83, 254 Griffiths, P. 123–125, 127, 143 Hampshire, St. 239, 274 Hart, L. A. 57, 83, 238–239, 274, 291, 297, 300, 333, 358 Hartmann, N. 238, 274, 300 Heidegger, M. 61, 143, 339–340, 358 Herbart, J. F. 35 Hering, J. 71, 83 Hume, D. 100, 279, 287 Hutcheson, F. 279 Ingarden, R. 193, 229, 352 Kant, I. 123, 143, 147, 151, 170, 174, 210, 274, 278, 284–285, 297–298, 301, 320, 326, 329, 334, 354 Keil, G. 118, 125, 143–144, 229, 236– 238, 242, 264, 275 Keller, W. 263, 267, 275 Korsgaard, Ch. 260, 270, 275 Kripke, S. 123–124, 143 Künne, W. 149–150, 156, 158, 170, 201, 229
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Sach- und Personenregister Landgrebe, L. 173, 337–339 Levinas, E. 331 Lipps, T. 337, 345, 357–359 Loidolt, S. 299, 302, 310, 313, 316– 318, 322, 331–333 Lotze, R. H. 97–98, 113, 152–153, 170, 201 Mayer, V. 41, 55, 114, 122, 143, 172, 221, 246, 275, 288, 297, 335 McDowell, J. 299, 333 Meggle, G. 236, 274–275, 277 Meixner, U. 22, 168, 170, 224, 228, 230, 245 Melden, A. 236, 239, 275 Mele, A. 256 Melle, U. 246, 254, 275, 281–283, 285, 287–288, 297, 302, 307–313, 315, 322, 324, 330, 333, 335–336, 344– 346, 351, 356, 358 Metzinger, Th. 115, 143, 276 Mill, J. St. 98, 149, 158, 170, 174, 191 Mohanty, J. N. 91, 113, 193–194, 199, 230 Nagel, Th. 259, 261, 275 Natorp, P. 125–126, 143 Noë, A. 143 Pachoud, B. 134, 143 Parfit, D. 258, 275 Patzig, G. 90, 113, 170, 229 Perry, J. 104, 113 Petitot, J. 134–135 Petrus Hispanus 150, 158, 170 Peucker, H. 278, 298, 300, 334 Pfänder, A. 264, 275, 337, 345, 357, 359 Platon 159 Putnam, H. 106, 123, 143, 194–195, 198, 207, 210–213, 220, 222–223, 228–230 Rang, B. 79, 84, 131, 194, 230, 249, 275 Reichenbach, H. 170 Ridder, L. 172, 191
Rinofner-Kreidl, S. 232–233, 235–236, 238, 255, 257, 276, 278, 284, 298, 305–306, 334 Rorty, R. 118, 143 Roy, J.-M. 134, 143, 236, 256, 276 Runggaldier, E. 44, 55 Russell, B. 94, 113 Ryle, G. 33–35, 38, 46, 55, 254, 276 Sartre, J.-P. 219, 230, 267, 276, 332, 334 Scheler, M. 264, 276, 278, 285, 298, 300–301, 334, 349, 351, 358–360 Scherini, M. 335 Schlick, M. 122, 172, 191 Schmitz, H. 360 Schuhmann, K. 57, 74, 76, 84, 289, 298, 303, 310, 334, 336, 346, 360 Schütz, A. 56–57, 60–61, 77, 84–85, 240, 276 Searle, J. R. 43, 47, 53, 55, 57, 84, 115, 122 Sellars, W. 49, 143 Shaftesbury, A. 279 Smith, A. 279 Smith, A. D. 220–221, 224, 230 Soffer, G. 118, 143, 222, 230 Soldati, G. 90, 113, 195, 230 Sowa, R. 145, 163–164, 168, 170, 193, 218, 230 Speer, A. 80, 85 Stein, E. 42, 51, 55, 71, 85, 343, 357 Stirner, M. 279 Stumpf, C. 91, 93, 345, 349, 360 Thagard, P. 115, 118, 120–121, 129, 133, 143 Twardowski, K. 100, 192 Van Inwagen, P. 55 Varela, F. J. 114–115, 122, 128, 131, 133–134, 143–144 Vongehr, Th. 335–336, 360 Waismann, F. 267, 276 Waldenfels, B. 57, 85 A
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Sach- und Personenregister Wallace, R. J. 258–259, 270, 276 Weber, M. 56 Willard, D. 91, 113, 194, 230 Wittgenstein, L. 34, 92, 111, 113, 153, 156, 171, 174, 184, 187–189, 191
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Wright, G. H. v. 236, 277 Zahavi, D. 59, 69, 76, 81, 85, 115, 133, 143, 220, 228, 230, 358–359
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Hinweise zu den Autoren (in der Reihenfolge der Aufsätze)
Uwe Meixner ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Regensburg und lehrt Philosophie an der Universität Augsburg. Seine philosophischen Forschungsinteressen richten sich insbesondere auf die Metaphysik (die allgemeine und die spezielle, einschließlich der Philosophie des Geistes und der Philosophie der Kausalität), die Geschichte der Philosophie, die Logik und die Naturphilosophie. Gegenwärtig arbeitet er im Rahmen seines eigenen DFG-Projekts an einer vergleichenden Studie über die Philosophien der Psychologie von Husserl und Wittgenstein. Er ist Autor mehrerer Monographien; zu den deutschsprachigen darunter zählen u. a.: Theorie der Kausalität (2001), Einführung in die Ontologie (2004), David Lewis (2006), Modalität. Möglichkeit, Notwendigkeit, Essenzialismus (2008). Seine Veröffentlichungen zur Philosophie Edmund Husserls sind die Aufsätze »Die Aktualität Husserls für die moderne Philosophie des Geistes« (2003), »Classical Intentionality« (2006), »Husserls Dualismus« (2007) und »Husserls transzendentaler Idealismus als Supervenienzthese – ein interner Realismus« (2010). Mail: [email protected] Roberta De Monticelli ist ordentliche Professorin für Philosophie des Geistes und der Person an der San Raffaele Universität in Mailand. Von 1989 bis 2003 war sie ordentliche Professorin für Moderne und Gegenwärtige Philosophie an der Universität Genf. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Dottrine dell’intelligenza – Saggio su Frege e Wittgenstein, De Donato, Bari 1982, mit einer Einführung von Michael Dummett; L’ascesi filosofica, Feltrinelli, Milano 1995, franz. Übersetzung Vrin, Paris 1997; L’avenir de la phénoménologie – Méditations sur la connaissance personnelle, Aubier-Flammarion, Paris, 2000; span. Übersetzung Catedra, Madrid 2002; La persona: apparenza e realtà. Testi fenomenologici 1911–1933, Cortina, Milano 2000; Dal vivo, Rizzoli, Milano 2001; L’ordine del cuore – Etica e teoria del sentire, GarA
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Hinweise zu den Autoren
zanti, Milano 2003; L’allegria della mente, Bruno Mondadori, Milano 2004; La novità di ognuno. Persona e libertà, Garzanti, Milano 2009. Mail: [email protected] Emanuele Caminada ist Stipendiat der a.r.t.e.s. Forschungsschule der Universität zu Köln. Seine Forschungsinteressen kreisen um Phänomenologie, Sozialontologie, Theorien des Gemeinsinnes, Ästhetik, Religionsphilosophie und Politik. Nach seiner Bachelor-Arbeit über die Metaphysik von Max Scheler schloss er 2008 das Master-Studium unter der Betreuung von Professor Roberta De Monticelli (Mailand) mit einer Arbeit über den Relevanz-Begriff ab. Der Forschungsschwerpunkt seines Promotionsvorhabens betrifft den Begriff des Habitus in Husserls Philosophie und die Einordnung sozialontologischer Ansätze im Rahmen der genetischen Phänomenologie. Seine Dissertation wird von der a.r.t.e.s. Forschungsschule unterstützt und von Andreas Speer (Köln), Roberta De Monticelli (Mailand) und Dieter Lohmar (Köln) gemeinsam betreut. Seit 2008 forscht er am Husserl-Archiv zu Köln und arbeitet an Phenomenologylab.eu mit. Veröffentlichungen: »Higher order Persons: an ontological Challenge«, in: Phenomenology and Mind. The Online Journal of the Center in Phenomenology and Sciences of the Person 2011, 152–157; (Hg.) Max Scheler (2011), Modelli e capi. Per un personalismo etico in sociologia e filosofia della storia, Milano. Mail: [email protected] Christian Beyer ist seit 2008 Professor für Theoretische Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen. Zuvor hatte er ein Heisenberg-Stipendium der DFG inne. Er studierte in Hamburg und Bielefeld und promovierte in Hamburg. Er forschte bzw. lehrte in Stanford, Oslo, Sheffield und Erfurt, wo er sich auch habilitierte. Schwerpunkte: Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes und der Person, Erkenntnistheorie, Husserl im Kontext der analytischen Philosophie. Monographien: Von Bolzano zu Husserl (Dordrecht 1996), Intentionalität und Referenz (Paderborn 2000), Subjektivität, Intersubjektivität, Personalität (Berlin/New York 2006). Mail: [email protected] Verena Mayer ist Professorin für Philosophie an der Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Frege, Husserl, Wittgenstein, Spinoza und die Philosophie der Emotionen. Wichtige Veröffent370
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Hinweise zu den Autoren
lichungen: Gottlob Frege, München, 1996; Semantischer Holismus, Berlin, 1997; Edmund Husserl, München, 2009. Herausgeberin: Die Moralität der Gefühle (gemeinsam mit Sabine Döring 2002), Berlin; Gender Feelings. Gefühle im Geschlechterdiskurs (gemeinsam mit Daniela Rippl 2008); Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Berlin, 2008; Ethics, Emotions and Authenticity (gemeinsam mit Mikko Salmela, 2009. Zahlreiche Aufsätze über Husserl, Kant und Wittgenstein. Mail: [email protected] Dr. Rochus Sowa, Doktorassistent am Husserl-Archiv Leuven (Belgien), studierte zunächst Malerei an der Folkwang Hochschule in Essen, dann Philosophie, Psychologie und Allgemeine Sprachwissenschaft in Bochum, Düsseldorf und Köln. 1993 erhielt er für seine Magisterarbeit den Edmund Husserl Preis der Universität Freiburg. 2006 wurde er an der Universität Leuven mit einer Arbeit zur Methode der Apriori-Forschung bei Husserl promoviert. Er ist Herausgeber von Husserliana XXXIX und Mitherausgeber von Husserliana XXXVI; er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze und Lexikonartikel zur Husserlschen Phänomenologie und insbesondere zur Husserl’schen Eidetik, z. B. »Wesen und Wesensgesetze in der deskriptiven Eidetik Edmund Husserls«, in: Phänomenologische Forschungen 2007, 5–37. Mail: [email protected] Christopher Erhard ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU München und promoviert bei Prof. Thomas Buchheim und Prof. Verena Mayer zum Problem nicht-existenter Gegenstände bei Husserl. Arbeitssschwerpunkte sind Phänomenologie (Husserl, früher Heidegger, Sartre) und Philosophie des Geistes. Publikationen: (2008), zusammen mit Verena Mayer, »Die Bedeutung objektivierender Akte«, in: Mayer, V. (Hg.), Edmund Husserl: Logische Untersuchungen (= Reihe Klassiker Auslegen Bd. 35), Berlin, 159–189; (2009), »Typische Merkmale intentionaler Zustände und Husserls V. Logische Untersuchung«, in: Philosophisches Jahrbuch 116/1, 59–89. Website: www.cmerhard.de Sonja Rinofner-Kreidl ist Professorin für Philosophie an der Universität Graz, European Editor der Husserl Studies, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie und Mitglied des Ethikkomitees des Grazer Universitätsklinikums. Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologie, Ethik, Handlungstheorie, Philosophy of Mind. AusA
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Hinweise zu den Autoren
gewählte Publikationen: Edmund Husserl. Zeitlichkeit und Intentionalität (2000); Mediane Phänomenologie. Subjektivität im Spannungsfeld von Naturalität und Kulturalität (2003); »Das ›Gehirn-Selbst‹. Ist die Erste-Person-Perspektive naturalisierbar?«, in: Phänomenologische Forschungen 2004, 219–252; »What is Wrong with Naturalizing Epistemology? A Phenomenologist’s Reply«, in: Feist, R. (Hg.), Husserl and the Sciences. Selected Perspectives, Ottawa 2004, 41–68; »Husserl’s Categorical Imperative and his Related Critique of Kant«, in: Vandevelde, P./ Luft, S. (Hgg.), Phenomenology, Archeology, Ethics: Current Investigations of Husserl’s Corpus, London/New York 2010, 188–210. Mail: [email protected] Dr. Henning Peucker arbeitet seit 2006 im Fachbereich Philosophie der Universität Paderborn. Er studierte in Wien, Freiburg, Köln und Boston. Er hat an der Universität Köln promoviert und am dortigen Husserl-Archiv den Husserliana-Band XXXVII ediert. Buchveröffentlichungen: Von der Psychologe zur Phänomenologie. Husserls Weg zur Phänomenologie der »Logischen Untersuchungen«, Hamburg, 2002; (Hg.), Edmund Husserl: Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, Husserliana XXXVII, Dordrecht/Boston/ London, 2004. Mail: [email protected] Dr. Sophie Loidolt ist APART-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und arbeitet als Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Wien. Promotion 2007, Forschungsaufenthalte in Leuven, Paris und New York. WS 2010/11 Visiting Scholar an der New School for Social Reserach in New York. Buchpublikationen: Anspruch und Rechtfertigung. Eine Theorie des rechtlichen Denkens im Anschluss an die Phänomenologie Edmund Husserls, Dordrecht, 2009); Einführung in die Rechtsphänomenologie. Eine historisch-systematische Darstellung, Tübingen, 2010. Mail: [email protected] Dr. Thomas Vongehr hat Philosophie, Theater- und Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studiert und dort bei Prof. Henckmann mit einer Arbeit über den Begriff des Noema in der Phänomenologie Husserls promoviert. Von 1997 bis 2002 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Husserl-Archivs in Freiburg. Dort hat er zusammen mit Regula Giuliani an der 372
ALBER PHILOSOPHIE
Verena Mayer / Christopher Erhard / Marisa Scherini (Hg.)
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Hinweise zu den Autoren
Herausgabe von Nachlasstexten Husserls zum Thema »Wahrnehmung und Aufmerksamkeit« gearbeitet (erschienen als Husserliana Band XXXVIII) und verschiedene Lehraufträge zu phänomenologischen Themen übernommen. Seit 2002 arbeitet er am Husserl-Archiv der Katholischen Universität Leuven in Belgien. Seine aktuellen Editionsprojekte betreffen Husserls Nachlasstexte zu den intentionalen Strukturen des Bewusstseins und zu den Grenzproblemen in der Phänomenologie (Geburt, Leben, Tod, Theologie, Teleologie, Metaphysik). Daneben hält er seinem Forschungsinteresse folgend Seminare zu Husserls Phänomenologie. Mail: [email protected]
A
Die Aktualität Husserls
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