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German Pages 278 [288] Year 1983
HENNING PEUCKER Von der Psychologie zur Phänomenologie
HENNING PEUCKER
Von der Psychologie zur Phänomenologie Husserls Weg in die Phänomenologie der »Logischen Untersuchungen«
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
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I N H A LT
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
I. Psychologie als Grundlagenwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
A. Ansätze von Phänomenologie in »Über den Begriff der Zahl« (1887) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
1. Mathematische Sachinteressen und psychologische Methode im Ausgangspunkt von Husserls Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die psychologische Ursprungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die psychologische Ursprungsanalyse in »Über den Begriff der Zahl« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Problem der Objektivität in der psychologischen Ursprungserklärung der Zahlbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der psychologische Konstitutionsbegriff und das Motiv für seine spätere Neuinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Psychologische Analysen in der »Philosophie der Arithmetik« (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8 13 16 22 25 30 32
1. Aufgabenstellung und Kontext der »Philosophie der Arithmetik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Problem des psychologischen Ursprungs großer Zahlen 3. Die symbolischen Zahlvorstellungen und ihr psychologisches Fundament in den figuralen Momenten . . . . 4. Voraussetzung und Weiterentwicklung von Husserls Theorie der figuralen Momente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42 46
C. Von der Anzahlenarithmetik zur Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
1. Das Interesse an der Logik der Mathematik in der »Philosophie der Arithmetik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Logik der Zeichenverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47 50
32 35 37
VI
Inhalt
3. Die Rechenoperationen in der Anzahlenarithmetik . . . . . . . . 4. Das Erweiterungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Mannigfaltigkeitslehre und die Auseinandersetzung mit der mathematischen Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64 70
II. Die Psychologismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
A. Die Idee einer reinen Logik als Wissenschaftslehre . . . . . . . . . .
74
1. Die Logik als Kunstlehre und die Frage nach ihren theoretischen Fundamenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Thema der reinen Logik oder die Frage nach dem Wesen der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wissenschaft und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wissenschaft und Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wissenschaft und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55 59
74 79 80 83 86
3. Aufbau und Aufgaben der reinen Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Gliederung der reinen Logik als universaler Theorienlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Erweiterung der logischen Analytik durch formale Ontologie und Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . .
88
4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
B. Der Psychologismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
1. Was ist Psychologismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Psychologismus im Kontext der neuzeitlichen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der logische Psychologismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Psychologismus beim frühen Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
89 94
101 105 108 112
C. Die Psychologismuskritik der »Prolegomena« . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Die ›Widerlegung‹ des Psychologismus durch den Aufweis seiner skeptisch-relativistischen Konsequenzen . . . . . . . . . . . 117 2. Die Kritik der Vorurteile des Psychologismus . . . . . . . . . . . . . 124 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
Inhalt
VII
D. Die Voraussetzungen der Psychologismuskritik der »Prolegomena« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Bolzanos Wahrheiten an sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lotzes Platonismus der Geltungseinheiten . . . . . . . . . . . . . . 3. Freges Psychologismuskritik und die Frage nach ihrem Einfluß auf Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135 141 147 157
III. Der Durchbruch zur Phänomenologie in den »Logischen Untersuchungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 A. Aufgabe und Aufbau der »Logischen Untersuchungen« . . . . . 160 1. Aufgabe und Sinn der phänomenologischen Erkenntnistheorie in den »Logischen Untersuchungen« . . . . . . . . . . . . 2. Das methodische Selbstverständnis der Phänomenologie der »Logischen Untersuchungen« im Wandel ihrer beiden Auflagen – von der deskriptiven Psychologie zur eidetischen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die erste Auflage der »Logischen Untersuchungen« – Phänomenologie als deskriptive Psychologie . . . . . . . . . . b) Die Korrektur im Selbstverständnis – Phänomenologie als eidetische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160
168 169 174
3. Die Doppelseitigkeit im Aufbau der »Logischen Untersuchungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 B. Intentionalität und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Bewußtsein als intentionales Erlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 a) Die Differenzierung des »Inhalts« intentionaler Erlebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Die grundlegende Funktion der objektivierenden Akte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Erkenntnis als erfüllter objektivierender Akt . . . . . . . . . . . . . 206 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 C. Kategoriale Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 1. Begriff und Funktion der kategorialen Anschauung . . . . . . . 217
Inhalt
VIII
2. Die kategoriale Anschauung im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . 225 a) Die Analyse einiger Haupttypen von kategorialer Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 b) Das Problem der kategorialen Repräsentation . . . . . . . . . . 232 3. Die allgemeine Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 a) Allgemeine Anschauung als ideierende Abstraktion . . . . . . 245 b) Allgemeine Anschauung als eidetische Variation . . . . . . . . . 249 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Personenregister
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
alle diese Unklarheiten klarstellen, alles klarstellen, den kürzesten Weg in die Klarheit einschlagen, nicht mehr von diesem kürzesten Weg in die Klarheit abgehen Thomas Bernhard: In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn.
EINLEITUNG
Schon von Husserl und seinen direkten Schülern ist die Kontinuität in der Entwicklung seines Denkens beschrieben worden, die sich in einem beharrlichen Streben nach Klarheit und Deutlichkeit bekundet1. Durchzogen ist diese Entwicklung dabei von Anfang an von dem Bemühen um eine radikale Neubegründung von Wissenschaft und Philosophie, wobei sich dieses Motiv bis in Husserls späte Krisisschrift ungebrochen erhält. Die Entfaltung dieses ursprünglichen Motivs verbindet die im Entwicklungsgang von Husserls Werk unterscheidbaren Phasen. Unterschiedliche periodisierende Gliederungen dieses Verlaufes sind vorgeschlagen worden und dienen alle einer zweckmäßigen Systematisierung des gesamten Œuvres2. Dabei ergeben sich naturgemäß Schwierigkeiten bei der Festlegung einzelner Abschnitte, die jedoch mit Hilfe der weit auseinanderliegenden Publikationstermine der Husserlschen Schriften überwindbar sind. So gilt es als eine ausgemachte Sache, daß es bei Husserl eine vortranszendentale Phase gibt, die ihrerseits gerne weiter in eine psychologische Frühphase und eine von den »Logischen Untersuchungen« bestimmte phänomenologische Phase untergliedert wird. Zwischen diesen beiden vortranszendentalen Entwicklungsabschnitten setzt die Psychologismuskritik der »Prolegomena« eine Zäsur, in deren Folge sich erst die originäre Husserlsche Philosophie als Phänomenologie entfalten kann. Erst mit der an die transzendentale Reduktion gebundenen transzendentalen Phänomenologie vollziehe sich schließlich die endgültige Überwindung des noch von der Psychologie geprägten Frühwerks, da sich Husserl erst durch die Entdeckung der transzendentalen Subjektivität ein eigenständiges Forschungsfeld eröffne. Auffallend ist aber, daß Husserl noch bis in sein Spätwerk permanent mit dem Problem der klaren Abgrenzung von der Psychologie ringt, ja dieses Problem gerade dort wieder besonders dringend wird, weil darin die transzendentale Subjektivität als Monade und geschichtlich verfaßtes Subjekt mit Habitualitäten und Aktregungen derart konkret 1
Vgl. etwa Fink (1939) und den von ihm verfaßten Lexikonartikel »Husserl« (XXVII, 245ff.), Becker (1930), 131 und Landgrebe, der feststellt, daß »das Werk Husserls sich völlig kontinuierlich entwickelt, so daß auch seine in den veröffentlichten Schriften noch keineswegs sichtbar gewordene Endgestalt als die konsequente Entfaltung eines Grundmotivs angesehen werden muß, das bereits in den frühesten Schriften wirksam ist« (1949), 57. 2 Vgl. z.B. Biemel (1959), Mohanty (1995).
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Einleitung
gefaßt wird, daß sie beinahe wie ein von der hermeneutischen Psychologie thematisiertes Subjekt erscheint. Zur Klärung dieser Problematik im Spätwerk trägt die vorliegende Arbeit indes nur indirekt bei. Sie beschäftigt sich nicht mit der transzendentalen Phänomenologie, sondern zeigt auf, wie die Herausbildung der Phänomenologie in der Frühphase des Husserlschen Denkens vor dem Hintergrund der zeitgenössischen deskriptiven Psychologie erfolgt. Angesichts der Kontinuität in der Problementwicklung der Husserlschen Philosophie verdient das Studium dieses Anfangs mehr Bedeutung als ihm bisher zuteil wurde. Von der Problemkonstellation dieses Anfangs her ist nämlich die Ausbildung der Husserlschen Phänomenologie motiviert, so daß sie nur von hier aus ursprünglich verständlich gemacht werden kann. Husserl selbst schreibt, »daß die radikalen Probleme einer Klärung der logischen und mathematischen Grundbegriffe und damit einer wirklich radikalen Begründung einer Logik und Mathematik den Anfang der Phänomenologie motiviert hatten« (IX,366), und weist damit auf die maßgebliche Bedeutung seiner mathematischen und logischen Forschungen für die Entstehung seiner späteren Phänomenologie hin. Die Beschäftigung mit diesen frühen Texten steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit; ihr Ziel ist es, in systematischer Perspektive den Husserlschen Denkweg darzustellen, der zur Phänomenologie in den »Logischen Untersuchungen« geführt hat. Dabei gilt es, neben der methodischen Entwicklung von Husserls frühem Denken, dessen sachliches Fortschreiten nachzuzeichnen. In methodischer Hinsicht verläuft diese Entwicklung von der Psychologie zur Phänomenologie der »Logischen Untersuchungen«, während sich in sachlicher Hinsicht eine Verlagerung des Forschungsschwerpunktes von der Arithmetik zur reinen Logik als universaler Wissenschaftslehre vollzieht. Erst die gemeinsame Berücksichtigung dieser beiden Hinsichten vermag das Werden der Phänomenologie von Grund auf zu erhellen, da nur so die immanente Motivation offengelegt werden kann, die zu ihr führt und nachhaltig ihren Sinn bestimmt. Die Phänomenologie tritt als nichtempirische Methode zur Klärung von Bewußtseinserlebnissen an die Stelle der deskriptiven Psychologie, weil diese für die Lösung der Probleme, die Husserl in sachlicher Hinsicht entstanden, nicht mehr geeignet ist. Diese Probleme ergeben sich ihrerseits aus der sachlich geforderten Weiterentwicklung des Husserlschen Forschungsschwerpunkts, die in dieser Arbeit gleichfalls dargestellt wird. Geht es Husserl nämlich zu Beginn nur um eine vom Anzahlbegriff ausgehende Begründung der Arithmetik, so weitet sich sein thematisches Interesse in dem Moment aus, als ihm dabei die innermathematischen Grenzen der Anzahlenarithmetik deutlich werden, woraufhin er genötigt ist, seinen Forschungsschwerpunkt von der Mathematik zur mathematischen Logik hin zu verla-
Einleitung
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gern. Die begründungstheoretische Leistungsfähigkeit der Logik ermöglicht es Husserl dann, die mathematische Logik nochmals zur Idee der reinen Logik als Wissenschaftslehre zu erweitern, und damit eine universale und streng objektive Begründungsmethode für Wissenschaft überhaupt zu entwerfen. Das gewissermaßen »objektiv« orientierte Begründungsinteresse auf den thematischen Feldern von Mathematik und Wissenschaft ist bei Husserl allerdings von Anfang an mit dem Interesse an den Bewußtseinsleistungen verbunden, die mit allen mathematischen und logischen Sinngebilden subjektiv korrelieren. Eine wirklich umfassende Grundlegung von Mathematik, Logik und Wissenschaft überhaupt kann es für Husserl daher erst geben, wenn auch deren subjektive Grundlagen erkenntnistheoretisch geklärt sind. Hierzu bedient er sich zunächst der von Brentano übernommenen »psychologischen Analyse«, die er für die Klärung des Zahlbegriffs fruchtbar macht. Die Grenzen einer solchen psychologischen Grundlegung werden ihm erst deutlich, als er im Zuge der Ausbildung der reinen Logik bemerkt, daß eine Einzelwissenschaft wie die Psychologie, die noch dazu eine empirische Wissenschaft ist, für die Begründung einer universalen Wissenschaftslehre niemals geeignet ist. Zur subjektiv orientierten Klärung der rein-logischen Grundlagen von Wissenschaften radikalisiert Husserl daher die Psychologie zu einer eidetischen und nichtempirischen Methode, die er dann nicht mehr »deskriptive Psychologie«, sondern »Phänomenologie« nennt. Der systematische Ort der Entstehung der Phänomenologie liegt also dort, wo sich die Psychologie als subjektiv orientierte Grundlagenwissenschaft angesichts der sachlichen Interessen von Husserl im Gebiet der reinen Logik als ungenügend erweist. Entsprechend dieser skizzierten Entwicklung, die den Gegenstand dieser Arbeit bildet, gliedert sich das vorliegende Buch folgendermaßen: Im ersten Abschnitt geht es vor allem darum, das sachliche Fortschreiten von Husserls Denken von der Anzahlenarithmetik zur Logik herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund stellt der zweite Abschnitt Husserls Konzeption der reinen Logik und die mit ihr zusammenhängende Psychologismuskritik vor. Schließlich wird im dritten Abschnitt gezeigt, wie Husserl seine Phänomenologie von der deskriptiven Psychologie abgrenzt und versucht, die subjektiven Grundlagen der reinen Logik neu zu klären. Hier ist es schließlich seine Theorie der kategorialen Anschauung, mit der er den spezifisch phänomenologischen Ursprung des Logischen aufklären will. Die vorliegende Arbeit wurde 1997 in einer kürzeren Fassung von der Philosophischen Fakultät der Universität Köln als Dissertation angenommen (Rigorosum 21.11.). Die Referenten waren die Professoren Klaus Erich Kaehler
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Einleitung
und Klaus Düsing. Gern nutze ich an dieser Stelle die Gelegenheit, ihnen für die Unterstützung meiner Arbeit zu danken. Insbesondere Klaus Erich Kaehler hat durch viele Gespräche und sein Vertrauen meine Arbeit stets gefördert. Zum Entstehen dieses Buches haben in besonderem Maße außerdem die Diskussionen mit Dieter Lohmar im Kölner Husserl-Archiv beigetragen. Ihm gilt daher ebenso mein Dank, wie weiteren Freunden und Kollegen, die mir auf unterschiedliche Weise halfen und hier zumindest namentlich erwähnt seien: Michael Esfeld, Frank Esken, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Martin Knauber, Yeong-Gyeong Lee, Thane Naberhaus, Martin Pickavé, Rainer Schäfer und Reinhold Nikolaus Smid. Schließlich geht mein Dank an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die den Druck dieses Buches mit einer Druckbeihilfe unterstützte.
I. PSYCHOLOGIE ALS GRUNDLAGENWISSENSCHAFT
»Eigentlich war mir mein Weg schon durch die Philosophie der Arithmetik vorgezeichnet, und ich konnte nicht anders als weiterzugehen.«1
Wer die Entwicklung des Husserlschen Denkens verstehen will, muß nachvollziehen können, warum ein promovierter Mathematiker letztlich Transzendentalphilosoph wird. Die Beantwortung dieser Frage wird bei der Untersuchung der mathematischen Frühschriften Husserls ansetzen müssen, da sie den Ausgangspunkt seines faszinierenden Denkwegs bilden. In diesen vorphänomenologischen Schriften ist, wie im diesem Abschnitt I gezeigt wird, bereits das Potential für die Entstehung der Phänomenologie der »Logischen Untersuchungen« angelegt und dies in einer doppelten, nämlich sachlichen und methodischen Hinsicht: Seinen methodischen Denkansatz übernimmt Husserl anfänglich aus der zeitgenössischen Psychologie, deren Verfahren einer »psychologischen Analyse« er bei seinen Lehrern Franz Brentano und Carl Stumpf kennenlernt. Husserl wendet es in seiner Habilitation von 1887 auf mathematischem Gebiet an, indem er eine psychologische Analyse des Zahlbegriffs vornimmt. Dieser Schrift wenden wir uns zuerst (Kapitel A) zu, um die psychologische Analyse vorzustellen und bereits auf die Schwächen dieser Methode hinzuweisen. Die Entwicklung von Husserls Denken ist nach seiner Habilitation dann aber zunächst rein sachlich motiviert, denn Husserl muß für die von ihm beabsichtigte Grundlegung der Arithmetik außer dem Zahlbegriff auch die arithmetischen Operationen untersuchen. Dies geschieht in seiner »Philosophie der Arithmetik« von 1891, in der er nun neben der psychologischen Analyse des Zahlbegriffs auch die logischen Grundlagen arithmetischer Operationen in den Blick nimmt (Kapitel B). Diese Beschäftigung mit der Logik, die in sachlich konsequenter Weiterentwicklung des Vorangegangenen einen Mittelpunkt von Husserls Arbeiten nach 1891 bildet, erweist sich als überaus folgenreich. Wie zu zeigen ist (Kapitel C), führt sie ihn nämlich einerseits von der Mathematik über die mathematische Logik zur Beschäftigung mit einer allgemeinen Kalkül1
Husserl in einem Brief an M. Farber vom 18.6.1937 (Hua. Dok. III/IV, 85).
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Psychologie als Grundlagenwissenschaft
lehre, also auf ein rein logisches Terrain. Diese thematische Entwicklungslinie findet ihren vorläufigen Kulminationspunkt in der Idee der reinen Logik, die Husserl im Schlußkapitel seiner »Prolegomena« (1900) erstmals skizziert. Andererseits motiviert diese sachliche Entwicklung Husserl später zur Korrektur seines methodischen Ansatzes, denn um der Gefahr des Psychologismus in der Logik zu entgehen, muß er die psychologische Analyse zur reinen Phänomenologie radikalisieren (vgl. Abschnitt II).
A. Ansätze von Phänomenologie in »Über den Begriff der Zahl« (1887) 1. Mathematisches Sachinteresse und psychologische Methode im Ausgangspunkt von Husserls Denken Im Anfang der Entwicklung eines eigenständigen philosophischen Denkers liegt oft ein keimhafter Ausgangspunkt, dessen Kenntnis dazu beiträgt, auch die spätere, gereifte Position besser zu verstehen. In ihm kann der Interpret bestenfalls schon Ansätze finden, die mit einer gewissen Notwendigkeit auf die kommende Grundposition des Denkers vorausweisen. Zeigen sich nämlich im ursprünglichen Denkansatz immanente Defizite und systematisch ungelöste Probleme, so prägt das Bemühen um deren Überwindung die später folgende Position, so daß diese zugleich einsichtiger wird, wenn ihre Herkunft bekannt ist. In der Entwicklung des Denkens von Husserl gibt es, trotz mancher Brüche und Phasen, eine Kontinutiät, die dem gesetzten Anfang im Hinblick auf das Kommende besondere Bedeutung verleiht. Dies gilt insbesondere, da die Diskontinuitäten des Entwicklungsgangs von Husserl in einem Prozeß stetiger Selbstexplikation der ursprünglichen Positionen stehen. Daher soll hier der Anfangspunkt des Husserlschen Denkens betrachtet werden, um zu zeigen, daß in und mit ihm bereits Grundlagen des späteren Husserlschen Denkens gelegt werden. Es liegt in Husserls Denken von Anfang an eine problemgeschichtliche Kontinuität, die es mit sich bringt, daß Grundbegriffe der späteren transzendentalen Phänomenologie ansatzweise schon in Husserls deskriptiv-psychologisch ausgerichteter Frühphase vorhanden sind. Für ein gründliches Verständnis von Husserls Philosophie ist daher die Kenntnis ihres Ausgangspunkts überaus hilfreich. Dieser eigenständige Anfang des Husserlschen Denkens liegt mit seiner Habilitationsschrift »Über den Begriff der Zahl« (1887) vor. Vorausgegangen war bereits die Dissertation »Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung« (1882), aber diese »schulmathematische Arbeit« ist der Sache nach
Ansätze von Phänomenologie
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durch die folgenden Theorieentwicklungen in der Mathematik überholt, philosophisch »irrelevant«, und sie enthält auch sonst »keinen Ansatz zu späteren Entwicklungen«2. Die Dissertation steht am Ende von Husserls Zeit als Student der Mathematik, deren wichtigste Phase die Berliner Semester vom Sommer 1878 bis zum Winter 1880/81 waren. In Berlin, dem damaligen »Weltzentrum der Mathematik«3, studierte Husserl bei Leopold Kronecker und Karl Weierstraß, der durch seine Vorlesungen das Promotionsthema seines Schülers anregte und auf ihn auch persönlich »den tiefsten Eindruck übte«4. Weierstraß und Kronecker gehörten seinerzeit mit zu den Protagonisten des sogenannten Arithmetisierungsprogramms der Mathematik. Demgemäß sollte eine einheitliche Zahlentheorie von den natürlichen Zahlen, also den positiven ganzen Zahlen ausgehen, und von dort aus die Einführung und Interpretation der rationalen und reellen Zahlen möglich werden. Innerhalb dieses keineswegs einheitlichen Programms vertraten die beiden ersten Lehrer Husserls aber bezüglich der Interpretation der Grundlagen und der von ihnen aus rekonstruierten Zahlensysteme ganz verschiedene Standpunkte5. So kam Husserl schon in seiner frühen Studienzeit in Kontakt mit Diskussionen um die Grundlagen der Mathematik, die im Vorfeld der späteren, eigentlichen »Grundlagenkrise« der Mathematik standen6. Der erste Anlaß für diese Krise, die erst nach der Jahrhundertwende durch die Zermelo-Russellschen Antinomien voll ausbrach, lag darin, daß sich ein Grundbegriff der Mathematik als wenig gesichert und bestimmt erwies – der Begriff der Zahl. Seine Klärung mußte insbesondere in den Theorien, die einen einheitlich systematischen Aufbau der Arithmetik von den natürlichen Zahlen ausgehen ließen, ein dringendes philosophisches Problem darstellen. Da nun Husserls Lehrer Weierstraß und Kronecker solche Theorien vertraten, wurde Husserl schon zu Studienzeiten an die Grundlagenfragen der Mathematik herangeführt, zu denen dann später seine Habilitationsschrift einen Beitrag leistete. 2
Vgl. Strohmeyer: Einleitung der Herausgeberin zu Hua. XXI, S. LXXI. Husserls Dissertation in Mathematik ist außerhalb der Husserliana-Ausgabe veröffentlicht von Scrimieri (1979), 39–60. 3 Volkert (1987), 218. 4 Vgl. Hua. Dok. I,7 und Hua. Dok. III/III, 499 f. 5 Vgl. zu den Differenzen zwischen Weierstraß, Cantor und Kronecker bei der Interpretation des Aufbaus der Arithmetik im Ausgang von den natürlichen Zahlen, Martin (1956), 121 und Schmit (1981), 24 f., 34 f. 6 Vgl. zur mathematikgeschichtlichen Situation der Grundlagendiskussion im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Lohmar (1989), 11–33, Thiel (1972), 72–96 und zum »Arithmetisierungsprogramm« ebd., 83 ff., Martin (1956), 122, Peckhaus (1997), 9 f. sowie die ausführliche, mathematisch anspruchsvollere Darstellung bei Volkert (1987), 194–226.
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Psychologie als Grundlagenwissenschaft
Blieben Husserls thematische Interessen auch nach der Promotion in Mathematik für einige Jahre noch Grundlagenfragen der Mathematik, so war seine Methodik zu dieser Zeit jedoch eindeutig durch die Psychologie seiner Zeit bestimmt. Ganz wesentlichen Einfluß auf die Grundüberzeugung seines philosophischen Denkens hatte dabei Franz Brentano. Bei ihm studierte er nach seiner Promotion von 1884 bis 1886 in Wien »zuerst aus bloßer Neugierde« (XXV,305), schon bald aber als »sein begeisterter Schüler« (XXV,313). Brentano war es, der Husserl erst zur Philosophie brachte, da er ihm durch seine Vorlesungen »den Mut gab, die Philosophie als Lebensberuf zu wählen« (XXV,305). Brentanos Philosophie steht unter dem allgemeinen Einfluß der das Denken des späten 19. Jahrhunderts kennzeichnenden Hochachtung vor den Erfolgen der Naturwissenschaften. Diese Hochachtung bewirkte in Brentanos Philosophie die Übernahme empirischer Methoden sowie einen damit verbundenen Anspruch auf »wissenschaftliche Strenge«7. Indem Brentano diese forderte, konnte er den von der Mathematik kommenden, also schon früh an wissenschaftlicher Exaktheit geschulten Husserl überzeugen, »daß auch Philosophie ein Feld ernster Arbeit sei, daß auch sie im Geiste strengster Wissenschaft behandelt werden könne« (XXV,305, vgl. 309). Das Ideal einer Philosophie als strenger Wissenschaft, das sich für Brentano aus der Vorbildfunktion der Naturwissenschaften für die Philosophie ergab, sollte als Zielsetzung auch für Husserls Idee von Philosophie zeitlebens maßgeblich werden. Für Brentano war es die Voraussetzung der von ihm erstrebten Reform der Philosophie, die er mit geradezu messianischem Eifer forderte8. Die große Zeit der Philosophie sollte nicht in den vorangegangenen Systemen des deutschen Idealismus, sondern in einer zukünftigen, auf empirischen Fundamenten errichteten Philosophie liegen. Die neue, reformierte Philosophie sollte dem Leben der Menschheit sowie ihrem Fortschritt dienen9. 7
Brentano (1874), 3; vgl. ders. (1982), 1–5. Der Vorbildcharakter der Naturwissenschaften für Brentanos Philosophieverständnis kommt bereits unmißverständlich in der vierten These seines Habilitationsverfahrens (1866) zum Ausdruck: »Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaften« (ders. (1968), 137). Von dieser Überzeugung rückt Brentano auch in seinen späteren Schriften nie ab: »Die Philosophie ist eine Wissenschaft wie andere Wissenschaften und muß darum, richtig betrieben, auch eine mit der Methode anderer Wissenschaften wesentlich identische Methode haben. Die naturwissenschaftliche Methode […] ist, das ist heute ausgemacht, auch für die Philosophie die einzig wahre.« (1895), 32 8 Vgl. Spiegelberg (1982), 28 f., Stumpf (1919), 90 sowie Hua. XXV,305 9 Vgl. Brentano (1874), 5f., 34 ff. Ähnlich wie der späte Husserl diagnostiziert hier Brentano die sozialen und kulturellen Übelstände seiner Zeit als tiefe Krise. Dagegen setzt er seine Philosophie als helfende »Wissenschaft der Zukunft«, die die »Grundbe-
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Diese neue Philosophie ist für Brentano nun in Gestalt einer auf innerer Wahrnehmung basierenden Psychologie zu errichten. Ihre aufeinander aufbauenden Aufgaben sind zuerst die getreue Deskription der psychischen Erscheinungen, sodann die Klassifikation der Phänomene sowie die Feststellung von ihren Gesetzmäßigkeiten und schließlich ihre hieran anknüpfende Erklärung in einem experimentell-kausalen Rahmen. Angesichts dieser Aufgabenbereiche unterscheidet Brentano eine deskriptive Psychologie von der genetisch-erklärenden, wobei jene die Grundlage von dieser ist. Terminologisch wird die deskriptive Psychologie von ihm auch als »reine Psychologie« oder »Psychognosie« bezeichnet und von der »physiologischen Psychologie« als der genetisch-erklärenden unterschieden10. Die Psychologie ist also in zwei Bereiche gegliedert, wobei das Verhältnis der beiden Wissenschaftsrichtungen etwa analog zu dem von Anatomie und Physiologie sei11: Während die deskriptive Psychologie mehr vorbereitenden und beschreibenden Charakter hat, soll die genetische Psychologie exakte, kausale Erklärungen der zuvor beschriebenen psychischen Phänomene liefern. Deskriptiv psychologische Untersuchungen sind für Brentano aber nicht nur die Voraussetzung für die genetische Psychologie und ihre physiologischen oder kausalen Erklärungen, sondern sie bilden auch die Basis von normativen Wissenschaften wie Logik, Ethik und Ästhetik und sogar praktisch orientierten Disziplinen wie Nationalökonomie, Politik und Soziologie12. Somit erhält die deskriptive Psychologie bei Brentano den Status der eigentlichen Grundlagenwissenschaft, von deren Ergebnissen andere wissenschaftliche Erkenntnisse ihren Ausgang nehmen sollen. Genau dieses Grundverständnis von Philosophie als einer deskriptiv psychologisch ausgerichteten Grundlagenwissenschaft wird auch Husserls Idee der Phänomenologie ganz entscheidend prägen. Zuerst bestimmt es aber den Ansatz in seiner Habilitationsschrift, die Husserl ein Jahr nach seiner Studienzeit bei Brentano schrieb13. Ganz im dingung des Fortschritts der Menschheit« (ebd., 30) sein soll. Vgl. auch de Boer (1978), 102–105. 10 Brentano (1982), 1–5, 129 f., (1895), 34. Vgl. zur Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Psychologie bei Brentano und Husserl auch de Boer (1978), 52–61, 203–222 und Rollinger (1999), 24 f. Diesselbe Unterscheidung macht übrigens auch der Münchener Lippsschüler Alexander Pfänder in der Einleitung zu seiner »Phänomenologie der Wollens« (1900), 9 f. 11 Vgl. Brentano (1988), 36 sowie (1982), 129. 12 Vgl. Brentano (1874), 30 f., (1982), 76 und (1988), 36 sowie Kamitz (1989). 13 Der Einfluß Brentanos auf die Ausgangssituation von Husserls Denken ist kaum zu überschätzen; er wurde von Brück (1933), de Boer (1978) und Hedwig (1979) ausführlich herausgestellt, aber auch bereits von Spiegelberg (1982) betont. Gemäß Spiegelberg beginnt deswegen die Geschichte der phänomenologischen Bewegung bei Brentano.
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Sinne der Brentanoschen Wissenschaftskonzeption versucht Husserl nämlich in ihr die Klärung des Begriffs der Zahl von der Psychologie aus vorzunehmen. In Husserls Habilitationsschrift »Über den Begriff der Zahl« finden sich in einer eigentümlichen Konstellation sowohl mathematische als auch psychologische Elemente. Der Sache nach geht es Husserl darin um eine Analyse des Begriffs der Zahl. Er gilt als Grundbegriff der Mathematik, mit dem sich die Philosophie der Mathematik zuerst beschäftigen muß (vgl. XII,295). Von den Zahlen gelten Husserl nun die Anzahlen oder Kardinalzahlen – formal betrachtet also die positiven ganzen Zahlen – als die ursprünglichsten Gegenstände der Mathematik, bei denen seine Untersuchung einsetzt. Genau genommen untersucht er von diesen zunächst nur die Zahlen, die von uns »eigentlich« vorgestellt werden können. Das sind solche, die nicht kleiner als 2 und nicht größer als 12 sind – eine Beschränkung, deren Bedeutung uns unten (Kapitel B.2) noch beschäftigen wird, da Husserl sie in der »Philosophie der Arithmetik«14 aufheben wird. Die Anzahlen stehen nicht willkürlich am Beginn der Mathematik, denn von ihnen aus glaubt Husserl später die Einführung von ›komplizierteren‹ Zahlen leisten zu können, so daß Anzahlen den Status von »Grundzahlen« haben (XII,10, 294). Husserls Auffassung stimmt damit grundsätzlich mit der seiner Lehrer Weierstraß und Kronecker überein15. Methodisch geht seine Untersuchung der Anzahlen in einer für ihn selbstverständlichen Weise von der Psychologie aus: »In Wahrheit ist nicht nur die Psychologie für die Analyse des Zahlbegriffes unerläßlich, sondern diese Analyse gehört auch in die Psychologie hinein« (XII,295). Mit dieser Auffassung ist Husserl ein Kind seiner Zeit, denn nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Mathematik war es üblich, den Zahlbegriff psychologisch einzuführen16. 14
Die »Philosophie der Arithmetik« (1891) wird im folgenden durch das Kürzel »PA« bezeichnet. 15 Vgl. XII,12 Anm., 374 sowie Martin (1956), 117–123. Kronecker glaubte, »dass es dereinst gelingen wird, den gesammten Inhalt aller dieser mathematischen Disziplinen zu ›arithmetisieren‹, d.h. einzig und allein auf den im engsten Sinne genommenen Zahlbegriff zu günden […]« Kronecker (1887), 253, vgl. Becker (1964), 327. 16 Auch Husserls Lehrer Weierstraß führte die Zahlen auf psychologische Weise ein, und Husserl selbst bestätigt später in einem Rückblick auf seine Anfangsjahre den selbstverständlichen Einfluß psychologischer Methoden auf sein damaliges Denken: »Bei meiner ganzen Vorbildung war mir selbstverständlich, daß einer Philosophie der Mathematik auf eine radikale Analyse des ›psychologischen Ursprungs‹ der mathematischen Grundbegriffe ankomme.« XX/1,294. Vgl. Eley: Einleitung des Herausgebers zu Hua. XII, S. XXIII f.
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So treffen in Husserls erster eigenständiger Schrift also seine mathematischen Fachkenntnisse und seine psychologisch-methodischen Grundüberzeugungen in einer eigentümlichen Konstellation aufeinander. Wohlgemerkt findet hier kein stimmiges Zusammenkommen statt; vielmehr stehen das sachliche Interesse an der wegen ihrer Exaktheit und Objektivität philosophisch vorbildlichen Mathematik und die subjektiv-psychologisch ausgerichtete Untersuchungsart von Anfang an in einer Spannung zueinander, die eine Weiterentwicklung des Husserlschen Denkens geradezu fordern wird. Konflikte, die in der späteren Phänomenologie ausgetragen werden, sind hier bereits vorgezeichnet. Denn da, wo Husserl an mathematischer Objektivität interessiert bleiben wird, wird ihm eine psychologische Methode nicht genügen können, während umgekehrt das Bemühen um die Aufklärung des psychischen Ursprungs von objektiver Erkenntnis diese nur dann erreichen kann, wenn »psychisch« nicht »subjektiv« im Sinne von »individuell« heißt. Bei dieser Ausgangssituation des Husserlschen Denkens zeichnet es sich bereits ab, daß hier ein Ausgleich erst dann geschaffen werden kann, wenn sowohl der Status der Objektivität als auch das Verständnis des Psychischen später neu bestimmt wird17.
2. Die psychologische Ursprungsanalyse Das Gemenge aus Psychologie und Mathematik bildet nicht nur den allgemeinen Nährboden der späteren Phänomenologie Husserls. In ihm stecken auch im einzelnen die Keime einiger Grundbegriffe der Phänomenologie. Daher kann die sorgfältige Betrachtung der Habilitationsschrift das Verständnis der späteren Phänomenologie erleichtern. Ein erster solcher Grundzug, der Husserls Denken von Anfang an kennzeichnet, ist der der subjektiv gerichteten Ursprungsforschung. In »Über den Begriff der Zahl« geht es Husserl darum, den Begriff der Zahl aufzuklären, indem sein »psychologischer Ursprung« aufgewiesen wird (XII,292, vgl. 298 ff., 327 f.). Schon hier geht Husserl also hinter die Oberfläche von Gegebenheiten auf deren subjektiven Ursprung zurück und bewegt sich damit in einer Untersuchungsrichtung, die er auch später noch bei seinem radikali-
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Es ist für die Weiterentwicklung des Husserlschen Denkens eine wichtige Vorbedingung, daß Husserl zuerst mit mathematischen Gegenständen vertraut war, da deren Objektivität per se nicht im gewöhnlichen Sinne in der Welt liegt; sie ist vielmehr ideal, und der Mathematiker hat es immer schon mit einer Objektivität zu tun, die von der empirischen Tatsächlichkeit zu unterscheiden ist.
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sierten transzendentalen Rückgang »zu den Müttern« von Sinngebilden beibehalten wird18. Husserls Fragen sind also immer solche nach Ursprüngen; dies gilt unabhängig davon, ob die Ursprünge anfangs psychologisch oder später transzendental verstanden werden19. Der Begriff des Ursprungs ist selbst nämlich aufgrund seiner verschiedenen Sinnaspekte von Anfang an für mehrere Deutungen offen20. So kann der »Ursprung« der Ausgangspunkt der Entstehung von Begriffen in psychologisch-genetischer, intentionalhistorischer oder transzendental-logischer Hinsicht sein. Diese letzte Hinsicht wird als Frage nach den ursprünglichen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung im weitesten Sinne bei Husserl später den Platz seiner frühen Fragen nach den psychologischen Ursprüngen von Begriffen einnehmen. Worin besteht aber der spezifische Charakter der psychologischen Analyse des Ursprungs von Begriffen? Wie ist die Arbeit einer Psychologie zu kennzeichnen, die mit ihren Analysen sogar Fundamente normativer Wissenschaften klären will? Mit ihr soll, wie bei jeder Art von Analyse, eine Zerlegung von Ganzheiten in Teile vollzogen werden. Entsprechend vergleicht Brentano seine psychologische Analyse psychischer Phänomene mit der Arbeit des Chemikers bei der Analyse von Stoffen. Wie der Chemiker die Bestandteile eines Stoffproduktes naturwissenschaftlich trennt, also die konstitutiven Teile eines Ganzen bestimmt, so geht es dem Psychologen um die Analyse psychischer Phänomene in ihre letzten, einfachen Elemente21. Psychische Phänomene, wie Urteile oder Wünsche, haben nach Brentano einen komplexen Aufbau, da sie in Vorstellungen fundiert sind, die ihrerseits Empfindungen als ihre letzten psychischen Elemente ursprünglich voraussetzen. Mit der psychologischen Klärung von komplexen psychischen Phänomenen soll versucht werden, deren psychischen Gehalt in seinem Aufbau zu beschreiben und dessen Elemente »in der Reinheit und Einfachheit«, in wel18
Vgl. XXIV,233, 237; XXX,335; IX,193; VI,156 Bis in die Begrifflichkeit hinein wird die das Husserlsche Denken von Beginn an kennzeichnende Forschungsrichtung ihre Spuren hinterlassen, wenn es später um Urimpression, Urstiftung, Ursprungssinn, Urkonstitution usw. geht. 20 Verschiedene Bedeutungen von »Ursprung« unterscheiden auch de Boer (1978), 71f. und Miller (1982), 35 f. Vgl. auch XXI,301 ff.; XIII,346 ff.; XXVII,129–142. 21 Vgl. Brentano (1874), 64 f. Auch Brentanos Schüler Carl Stumpf, bei dem sich Husserl habilitierte, wendete in seinem Frühwerk »Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung« (1873) eine psychologische Analyse beim Begriff des Raumes an und verglich dabei sein Tun mit der chemischen Analyse, weil beide Verfahrensweisen ihre Untersuchungsgegenstände in ihre ursprünglichen Elemente auflösen, um ihren Inhalt zu bestimmen (vgl. ebd., 5). An diesem Verständnis der psychologischen Analyse knüpfen später auch Meinongs »Beiträge zur Theorie der psychischen Analyse« (1894) an. Vgl. auch Pfänder (1900), 9 f. 19
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cher sie ursprünglich auftraten, mittels innerer Erfahrung »wieder in sich zu erneuern«22. Psychische Phänomene sollen mittels dieser Analyse hinsichtlich ihres psychologischen Gehalts bestimmt und geklärt werden23. Genau dieses Brentanosche Programm der deskriptiven Analyse macht Husserl sich in seiner Habilitationsschrift zu eigen, wenn er eine Klärung des Begriffs der Zahl mit psychologischen Methoden anstrebt. In seiner psychologischen Ursprungsanalyse des Begriffs setzt er somit voraus, daß Begriffe trotz ihrer logischen Einfachheit in psychologischer Hinsicht komplexe Gebilde sind, die in schlichten Erlebnissen ihr Fundament haben. Wie wir sehen werden, wird Husserl dieses letzte Fundament von Begriffen in der Anschauung ausmachen und die Klärung von Begriffen dann entsprechend als deren Rückführung auf Anschauung verstehen. Eine derartige Begriffsklärung vermag auch elementare Begriffe, die »einer formal-logischen Definition gänzlich unfähig sind«, noch zu analysieren24. Die psychologische Ursprungsanalyse untersucht also »unerläßliche psychologische Vorbedingungen« (XII,334, 307) des Fundierungsgefüges, ohne die wir keine Begriffe haben würden. Sie beschreibt die Prozesse und Bedingungen, die dazu führen, daß wir Begriffe haben. Demgemäß fragt der Psychologe, der mathematische Grundbegriffe untersucht, »nach den letzten psychischen Elementen, aus denen diese Begriffe bestehen, er fragt, woher sie kommen, unter welchen Umständen und durch welche psychischen Kräfte sie entstehen«25. Dabei ist sein Ziel – die Begriffsklärung – dann erreicht, wenn wir »jene psychischen Prozesse, welche zur Bildung des Begriffes erforderlich sind, in uns nacherzeugen können« (XII,119). Diese zu einem vertieften Begriffsverständnis führende Nacherzeugung ursprünglich begriffsbildender Prozesse stützt sich auf deren genaue Beschreibung aufgrund der inneren Erfahrung. Die von Husserl im Anschluß an Brentano praktizierte Psychologie als Me22
Brentano (1874), 65 Zur Geschichte der Methode der psychologischen Ursprungsanalyse in der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts vgl. Willard (1984), 27–34. Einen philosophiehistorischen Vorgänger der psychologischen Analyse bildet Lockes Erkenntnistheorie, die Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« treffend als »Physiologie des menschlichen Verstandes« (ebd., A X) charakterisierte – zu ihr hat die Phänomenologie Husserls fortwährend enge Beziehungen. 24 XII,119. Husserl wendet sich explizit gegen den logizistischen Ansatz Freges, demgemäß Grundbegriffe, wie z.B. Einheit, Vielheit, Ganzes und Teil, ihre letzte Klärung nur durch logische Definitionen erfahren können. 25 XXI,230. Eine ganz ähnliche Bestimmung der psychologischen Ursprungsanalyse einer Vorstellung findet sich bei Stumpf, der darunter »die Aufsuchung der Vorstellungen, aus welchen dieselbe sich gebildet hat, und der Art und Weise, wie sie sich daraus gebildet [hat]«, versteht. Stumpf (1873), 4. 23
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thode der Begriffsklärung ist somit eine deskriptiv-genetisch orientierte, aber keineswegs schon eine im heutigen Sinne naturwissenschaftlich-erklärende Disziplin26. Wie sie bei Husserl im einzelnen vorgeht, zeigt seine psychologische Analyse des Zahlbegriffs.
3. Die psychologische Ursprungsanalyse in »Über den Begriff der Zahl« Zwecks Klärung des mathematischen Grundbegriffs der Zahl analysiert Husserl dessen psychologischen Ursprung, indem er zunächst eine auf Euklid zurückgehende Definition der Zahl aufnimmt, die auch sein Lehrer Weierstraß gebrauchte: »Die Zahl ist eine Vielheit von Einheiten«27. Diese Definition bringt die Analyse des Zahlbegriffs jedoch erst dann weiter, wenn geklärt wird, was mit den für den Zahlbegriff elementaren Begiffen »Vielheit« und »Einheit« gemeint ist. Deswegen konzentriert sich die Husserlsche Untersuchung auf die »psychologische Charakteristik« (XII,301) dieser beiden Begriffe, die ihm formallogisch als nicht weiter analysierbar gelten. Mithin besteht die Aufgabe von Husserls Schrift nicht in der Suche nach Definitionen, sondern darin, diese Begriffe psychologisch zu analysieren, um so den Begriff der Zahl zu klären. Dafür setzt Husserl zuerst beim Begriff der Vielheit an, und versucht, »eine psychologische Charakteristik der Phänomene, auf welchen die Abstraktion dieses Begriffes beruht« zu geben (XII,301). Den psychologischen Ursprung des der Bildung des Zahlbegriffs noch vorausliegenden Begriffs der Vielheit findet Husserl zuerst in konkreten Verbindungen einzelner Elemente, wie sie in der schlichten Gegebenheit von Gruppen oder Mengen von Dingen vorliegen. Husserl will von derart anschaulichen oder »konkreten Vielheiten« (XII,298, 307) ausgehen, weil sie der abstraktiven Gewinnung des Begriffs zugrunde liegen. Er sucht also den Ursprung von Begriffen, wie hier dem der Vielheit, in anschaulich konkreten Gegebenheiten, da er diese als Basis für die formalisierende Abstraktion der Begriffe versteht. Daher wird der weitere Gang der Analyse von »Vielheit« die Phänomene konkret gegebener Verbindungen oder Mengen genauer untersuchen.
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Daß zur Begriffsklärung eine psychologische Analyse neben semantischen und pragmatischen Analysen durchaus leistungsfähig sein kann, hat zuletzt Soldati gezeigt. Vgl. Soldati (1994), Kap. 1. 27 XII,297, vgl. hierzu auch Eley: Einleitung des Herausgebers zu Hua. XII, S. XXIV.
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Bevor dieser nächste Untersuchungsschritt von Husserls Analyse des Zahlbegriffs hier weiter dargestellt wird, treten wir noch einmal einen Schritt zurück. Bemerkenswert ist nämlich, daß in Husserls Vorgehen in der Habilitationsschrift bereits jetzt ein weiteres wesentliches Kennzeichen seiner späteren Philosophie gefunden ist. Mit der Rückführung der Gegenstände des philosophischen Nachdenkens auf deren anschauliche Wurzeln bzw. deren Ursprünge in konkreten Gegebenheiten wird schon hier ein Grundzug der Phänomenologie deutlich: Phänomenologie wird in letzter Instanz immer die konkrete, anschauliche Erfahrung der rein begrifflichen Analyse als Erkenntnismedium vorziehen. In der aus der Habilitationsschrift drei Jahre später hervorgegangenen »Philosophie der Arithmetik« wird dies dann unmißverständlich ausgesprochen: »Kein Begriff kann gedacht werden ohne Fundierung in einer konkreten Anschauung«28. Dieser Satz stellt auf paradigmatische Weise bereits die Bedeutung der Anschauung für die gesamte Phänomenologie heraus, so daß er geradezu als Schlüssel zu ihrem Verständnis gelesen werden kann. Die Anschauung bzw. die konkreten Phänomene gelten Husserl gewissermaßen als Sinnkriterium und Ausgangsbasis für das Verständnis von Begriffen. Eine phänomenologische – oder in dieser Phase doch zumindest eine psychologische Begriffsklärung ist keine Explikation des logischen oder semantischen Gehalts von Begriffen, sondern die Zurückführung der Begriffe auf die ihrer Bildung notwendig vorausliegende Anschauung. Dieser Aufweis des Anschauungsgehalts logisch nicht weiter zerlegbarer Begiffe macht die spezifisch phänomenologische Begriffsklärung aus. Die Grundauffassung späteren phänomenologischen Philosophierens, nach der ein sinnerfülltes Begriffsverständnis nur von der Anschauung her möglich ist, ist somit bereits in Husserls psychologischen Anfangsjahren bei der Analyse der Grundlagen des Zahlbegriffes nachweisbar. Weil dies so ist, ist es jetzt wichtig zu sehen, was für ein Verständnis er zu dieser Zeit von der konkreten Anschauung als letztgültigem Erkenntnisboden hatte, bevor er sie später als Feld der reinen Phänomene deutet. In der Analyse des Zahlbegriffes findet der Rückgang auf die Anschauung dort statt, wo Husserl das im Zahlbegriff liegende Moment der Vielheit genauer charakterisieren will. Er führt die Vielheit nämlich auf anschaulich gegebene Verbindungen zurück, wie sie in »konkreten Phänomenen« (XII,298, 327) von schlicht erfahrbaren Gruppen oder Mengen verschiedener Gegen28
XII,79, vgl. 119: »Sobald wir auf die letzten, elementaren Begriffe stoßen, hat
alles Definieren ein Ende […; w]as man in solchen Fällen tun kann, besteht nur darin, daß man die konkreten Phänomene aufweist, aus oder an denen sie abstrahiert sind, und die Art dieses Abstraktionsvorgangs klarlegt.« Vgl. auch Hua. Mat. I,52.
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stände vorliegen. Solche anschaulich konkreten Phänomene bilden als »konkrete Vielheiten« (vgl. XII,318, 79, 222) die Grundlage für die formalisierende Gewinnung des Vielheitsbegriffs – sie sind dessen psychologische Basis. Aber worin genau besteht nun das psychologische Fundament des Vielheitsbegriffs? Unabhängig von den spezifischen Elementen oder Inhalten der konkreten Vielheiten, die ja in jedem Fall von »Vielheit« ganz verschiedene sein können, macht Husserl es in einem allen Vielheiten gemeinsamen Formmoment aus. Dies liegt in der allen Vielheiten gemeinsamen charakteristischen Verbindungsweise der Einzelelemente in dem Vielheitsphänomen – einer Verbindungsweise, die Husserl als »kollektive Verbindung« bezeichnet. Sie ist die allen konkreten Vielheitsphänomenen gemeinsame Invariante und daher die Grundlage des Vielheitsbegriffs. Als Fundament des Vielheitsbegriffs bzw. damit auch des Zahlbegriffs kann sie aber nicht direkt von den konkreten Vielheitsphänomenen abgezogen werden, sondern sie wird nur reflexiv bewußt. Der Vielheitsbegriff, und mit ihm der Zahlbegriff, ist mithin zwar in der Anschauung von Empirisch-Konkretem fundiert, aber keineswegs eine bloße Eigenschaft von Aggregaten oder Mengen, wie die Empiristen J. St. Mill und C. Sigwart glaubten (vgl. XII,161f.). Vielmehr wird die kollektive Verbindung erst reflexiv bewußt, da sie nicht schon dann als solche bewußt ist, wenn sich unsere Aufmerksamkeit thematisch unmittelbar auf das jeweils Verbundene selbst richtet. Ist hiernach die kollektive Verbindung die letzte Grundlage für die Abstraktion des Vielheitsbegriffs, so muß nun diese bei der Ursprungsanalyse der Zahlbegriffe genauer untersucht werden. Bei der sorgfältigen »psychologischen Charakteristik« (XII,301, 71) der dem Zahlbegriff zuletzt zugrundeliegenden kollektiven Verbindung stellt Husserl zunächst fest, daß sie nur dadurch zustande kommt, daß verschiedene Inhalte gleichzeitig zusammengedacht werden, wobei es keine Rolle spielt, um was für Inhalte es sich dabei im einzelnen handelt29. Es kommt für die dem Zahlbegriff zugrundeliegende kollektive Verbindung nicht darauf an, welche bestimmten Inhalte in ihr kolligiert sind, denn formal ist die kollektive Verbindung – und mit ihr die Vielheit – dadurch bestimmt, daß in ihr »irgend etwas und irgend etwas und irgend etwas usf. oder: irgend eines und irgend eines und irgend eines usf., oder kürzer: eins und eins und eins usf.« vereinigt ist30. In einer kollektiven Verbindung kann also »jedes Vorstel29
In einer kollektiven Verbindung kann nach Husserls Beispiel so Heterogenes wie »ein Gefühl, ein Engel, der Mond und Italien« (XII,298 f.) verbunden sein. »Auf die Natur der einzelnen Inhalte kommt es also in keiner Weise an« (ebd.), wenn hier eine konkrete Vielheit als Abstraktionsfundament des Vielheitsbegriffs fungiert (vgl. auch Hua. Mat. I,101f.). 30 XII,335, 80. Es ist kritisiert worden, daß Husserl mit dieser Bestimmung des Viel-
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lungsobjekt […] zusammen mit einem jeden und beliebig vielen anderen in einem Inbegriffe vereinigt werden« (XII,298). Wenn die inhaltliche Bestimmtheit der Elemente der dem Vielheitsbegriff zugrundeliegenden kollektiven Verbindung derart gleichgültig ist, stellt sich die Frage nach den gemeinsamen Voraussetzungen, die hier überhaupt noch eine Verbindung ermöglichen. Offenbar ist die Verbindung der Elemente zum konkreten Ganzen recht lose und den geeinigten Inhalten gegenüber äußerlich (vgl. XII,301; Hua. Mat. I,102). Entscheidend für das Entstehen der Verbindungsrelation, auf die bei der abstrahierenden Bildung des Zahlbegriffes reflektiert wird, ist lediglich, daß im Denken etwas vereinigt wird und so ein Inbegriff bzw. eine Vielheit gebildet wird. Die genauere Bestimmung der kollektiven Verbindung nimmt Husserl anhand der Relationstheorie von J. St. Mill vor. Danach stehen »Objekte […] in Relation zueinander vermöge eines komplexen Bewußtseinszustandes, in den sie beide eintreten, auch für den Fall, daß der komplexe Zustand in nichts weiter bestände als im Denken an beide zusammen«31. Husserl stimmt J. St. Mill ausdrücklich darin zu, daß »Objekte […] schon dann in Relation zueinander [ständen], wenn wir auch nur zusammen an sie dächten. Sie bilden eben mit Rücksicht auf den sie zusammendenkenden psychischen Akt Teile eines psychischen Ganzen und können durch Reflexion darauf jederzeit auch heitsbegriffs den für den Aufbau des Zahlensystems wichtigen Zahlbegiff »Eins« nur aufgrund einer Unachtsamkeit gewonnen habe. Dies geschehe durch eine unbemerkt gebliebene Bedeutungsverschiebung bei der Verwendung des unbestimmten Artikels »ein« oder »eines« zum Zahlwort »eins«. In der allgemeinen Wendung »irgend etwas« oder auch »irgendeins« liege aber eigentlich gar kein Bezug auf die Zahl Eins, die Husserl hier einführt – so die Kritik. Vgl. Grote (1983), 42 ff., Lohmar (1989), 75 f. und Münch (1993), 257. Brisant ist diese Äquivokation deswegen, weil Husserl die Anzahlen auf der Basis von Verbindungen klären will, so daß die Einführung der Zahl Eins in seiner Anzahlenarithmetik ein besonderes Problem darstellt. Husserl ist sich besagter Äquivokation in der PA jedoch vollkommen bewußt und weist selbst ausdrücklich auf sie hin: »Der Begriff der Zahl Eins ist […] wohl zu unterscheiden von dem Begriffe der Einheit oder der Eins, von welchem in unseren früheren Untersuchungen stets die Rede war. Eins als mögliche Antwort auf die Frage ›wieviel‹ deckt sich dem Begriffe nach nicht mit Eins als Korrelativum der Vielheit.« (XII,134 f.). Weder unterläuft ihm also eine »Verwechslung« der sprachlichen Bedeutung noch will er mit seiner oben zitierten Charakterisierung der kollektiven Verbindung den Zahlbegriff Eins eingeführt wissen, denn dieser ist in seinem Aufbau der Arithmetik »erst ein späteres Kunstprodukt« (XII,134, vgl. dazu unten Kapitel I. C. 4 sowie Miller (1982), 123 f.). 31 XII,328 f. Husserl zitiert mit Hinweis auf Übersetzungen von A. Meinong (1882), 38 aus J. Mill: Analysis of the phenomena of the human mind, ed. by J. St. Mill, London 1879, Bd. II, 7 ff.
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als verbundene erkannt werden; dies macht ihre ›Relation‹ aus« (XII,332 Anm.). Indem Husserl Mill so eindeutig folgt, ist bereits klar, daß das Abstraktionsfundament der Zahlen für ihn allein im psychischen Akt des Zusammendenkens irgendwelcher Inhalte liegt: Die kollektive Verbindung ist dadurch gekennzeichnet, daß beliebige Inhalte gleichzeitig zusammengedacht werden – ihr Grund besteht nicht in den geeinigten Inhalten selbst, sondern nur in einem sie vereinigenden Akt. Diese bedeutsame Situierung des Fundamentes der Zahl bzw. ihrer letzten Grundlage, der kollektiven Verbindung, im Psychischen wird ganz deutlich, wenn Husserl das Phänomen der kollektiven Verbindung mit den Kategorien seines Lehrers Brentano charakterisiert. Brentano hatte im ersten Band seiner »Psychologie vom empirischen Standpunkt« (1874) eine für Husserl äußerst folgenreiche Klassifikation aller Phänomene vorgenommen, in die Husserl nun die Relation der kollektiven Verbindung eingliedert: »Die gesamte Welt unserer Erscheinungen zerfällt in zwei große Klassen, in die Klasse der physischen und in die der psychischen Phänomene«32. Nach dieser für Husserl »unerläßlichen Unterscheidung« (XII,329 Anm. 1) gibt es auch zwei Hauptklassen von Relationen, nämlich die zu den psychischen und die zu den physischen Phänomenen gehörenden. Die Elemente der kollektiven Verbindung können, wie gesagt, von ganz beliebiger Art sein und trotzdem kann eine Relation zwischen ihnen bestehen. Mithin hat die kollektive Verbindung ihren Grund nicht direkt in den in ihr geeinigten Inhalten selbst, sondern nur im sie einigenden Akt. Folglich charakterisiert Husserl sie gemäß der Brentanoschen Klassifikation als ein »psychisches Phänomen«. Demgegenüber bestehen Relationen als »Inhaltsrelationen« oder »physische Phänomene« z. B. bei Gleichheits- oder Ähnlichkeitsrelationen, da hier die Verbindung bereits von der Bestimmtheit der Relata selbst her begründbar ist (vgl. XII,329–333). Die Abwesenheit einer solchen Inhaltsrelation sorgt schließlich dafür, daß das psychische Phänomen der kollektiven Verbindung im Gegensatz zu den physischen Phänomenen nicht direkt, sondern nur reflexiv gegeben ist: »Es kann also die kollektive Verbindung auch nur bemerkt werden durch Reflexion auf den psychischen Akt, durch welchen der Inbegriff zustande kommt« (XII,333). Dasjenige, worauf für die abstrahierende Gewinnung des Begriffs der Vielheit hierbei reflektiert wird, ist, wie dieses 32
Brentano (1874), 109. Das Kapitel, in dem Brentano diese beiden Phänomenklassen unterscheidet, legt wesentliche Elemente der Brentanoschen Psychologie dar. Von besonderer Bedeutung sind davon für Husserls spätere Philosophie Brentanos Lehre von der Intentionalität, die Lehre von den zugrundeliegenden Vorstellungen sowie die Selbstbewußtseinstheorie.
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Zitat erneut betont, der verbindende Akt als psychisches Phänomen, da nur in ihm die Verbindung überhaupt besteht. Die psychologische Ursprungsanalyse des Zahlbegriffes bzw. die Analyse seines psychischen Gehalts ist mit diesen Charakterisierungen des anschaulichen Fundamentes für die Abstraktion des Zahlbegriffes im wesentlichen geleistet: Die Zahl ist elementar aus den Momenten der Vielheit und der Einheit aufgebaut, mittels derer sie traditionell definiert wurde. Diese Begriffe haben ihren psychologischen Ursprung in konkreten anschaulichen Gegebenheiten, ohne die ihre abstraktive Bildung unmöglich wäre. Für den Begriff der Vielheit haben wir gesehen, daß er in der kollektiven Verbindung fundiert ist, die ihre »unerläßliche psychologische Vorbedingung« (XII,334) im psychischen Akt des Kolligierens beliebiger Inhalte hat. Auf diesen Akt und damit auf die in ihm gegebene kollektive Verbindung ist zu reflektieren, wenn es ursprünglich zur Bildung von Zahlen kommt. Der genauere Zusammenhang des Zahlbegriffes mit dem Vielheitsbegriff besteht dann nach Husserl darin, daß dieser lediglich unbestimmter als jener ist. Die Zahlen entstehen geradezu mit der Aufhebung der dem Vielheitsbegriff eigenen Unbestimmtheit, indem sie nämlich »das scharf bestimmte Wieviel« einer Vielheit angeben (XII,83, 336). Entsprechend kommt jeder »konkreten Vielheit« auch jeweils eine bestimmte Zahl zu (ebd.). Beispielsweise steht für die konkrete Vielheit aus »etwas und etwas und etwas« die Zahl 3. Die psychologische Analyse des Vielheitsbegriffs ist damit abgeschlossen. Gemäß der Euklidschen Definition des Zahlbegriffs enthält dieser aber noch den Begriff des Etwas bzw. der Einheit. Dessen Analyse erscheint Husserl ganz »leicht« (XII,335): Als »Formbegriff« (vgl. XII,84) bezieht er sich auf die beliebigen Inhalte einer kollektiven Verbindung, also auf das inhaltsleere »Irgendetwas« oder »Irgendeins«. Gewonnen wird der Begriff des Etwas, »welcher auf jeden beliebigen Inhalt paßt« (ebd.), in »der Reflexion auf den psychischen Akt des Vorstellens, als dessen Inhalt eben jedes bestimmte Objekt gegeben ist« (XII,336, vgl. 337, 80). »Etwas« ist mithin ein beliebiger Vorstellungsinhalt, der in derart formal abstrakter Weise reflexiv bewußt gemacht ist. Wie der zum Begriff des Etwas führende Formalisierungsprozeß, der in der Reflexion vonstatten gehen soll, genauer zu verstehen ist, bleibt in Husserls Analyse jedoch ungeklärt. Festzuhalten ist aber, daß für Husserl auch der Begriff des Etwas in der Reflexion auf einen beliebigen psychischen Akt des Vorstellens seinen Ursprung hat, so daß er also ebenso wie der Begriff der Vielheit nur im Rekurs auf Psychisches gewonnen werden kann33. 33
Vgl. XII,337: »Was die Subsumtion irgendeines Inhaltes unter den Begriff des
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4. Das Problem der Objektivität in der psychologischen Ursprungserklärung der Zahlbegriffe Werfen wir einen resümierenden Blick auf dieses Ergebnis von Husserls psychologischer Elementaranalyse des Zahlbegriffs, so fällt sofort auf, daß diese regressive Analyse psychologischer Begriffsgrundlagen ein ausgezeichnetes Kennzeichen mathematischer Gegenstände verfehlt – ihre Objektivität. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen verdanken sich die Zahlbegriffe gemäß Husserl einer introspektiven Reflexion auf psychische Akte und somit zuletzt nur der »inneren Erfahrung«, auf die sich seine frühen Analysen stützen (XII,304, 333). Husserl verwurzelt den Ursprung des Grundbegriffs der Mathematik einseitig im Psychischen, wenn das Resultat seiner Analysen ist, daß Zahlen in einer innerpsychischen Reflexion ihre ursprüngliche Basis haben. Zum anderen ist aber auch das Korrelat des Reflexionsaktes – die kollektive Verbindung – selbst ein psychisches Phänomen, das nur im verbindenden Akt besteht34. Wenn aber diese kollektive Verbindung nur im kolligierenden Akt besteht und dieser das Abstraktionsfundament für den Zahlbegriff bildet, muß dessen objektive Bedeutung in der psychologischen Charakterisierung des Begriffsursprungs ein Rätsel bleiben. Wenn Husserl die kollektive Verbindung im Gefolge der Brentanoschen Klassifikation selbst als »psychisches Phänomen« oder sogar direkt als »psychische Verbindung« charakterisiert35, versäumt er es damit, ihr eine Kennzeichnung zu geben, die sie vom sie ermöglichenden Akt klar unterscheidet. Husserl unterscheidet also nicht deutlich zwischen dem Akt und seinem Korrelat, was zur Folge hat, daß das Kollektivum als Abstraktionsfundament ebenso wie der kolligierende Akt ins Psychische gezogen wird. Diesen Mangel an Differenzierung und die sich damit ergebende Psychologisierung des Grundbegriffs der Mathematik wiederholt Husserl auch in der PA. Genau dies hat Frege in seiner Rezension dieses Werkes in aller Schärfe kritisiert. Frege, der schon in seinen »Grundlagen der Arithmetik« (1884) eine klare Trennung des Psychologischen vom Logischen sowie des Etwas anbelangt, so erfordert sie die Reflexion auf den Akt, welcher diesen Inhalt vorstellt.« 34 Husserl dazu ganz deutlich: »Die Verbindung besteht nämlich einzig und allein in dem einigenden Akte selbst und somit auch die Vorstellung der Verbindung in der Vorstellung des Aktes.« (XII,43) 35 Diese eindeutig psychologische Bestimmung der Abstraktionsgrundlage des Zahlbegriffs findet sich in parallelen Formulierungen mehrfach im Husserlschen Frühwerk: XII,332 Anm., 73 Anm., 196; vgl. 69, 330, 333; XXI,106, 115.
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Subjektiven vom Objektiven forderte36, sah bei Husserl all dies in einem »psychologischen Waschkessel« vermischt, in dem alles zur »Vorstellung« werde37. Da Husserl Subjektives und Objektives bzw. Akt und Korrelat des Aktes nicht deutlich unterscheide, verschwimme hier im »undurchdringlichen Nebel«38 der Psychologie eine fundamentale Grenze und alles werde »ins Subjektive herübergespielt«39. Freges Kritik trifft Husserls von der Habilitationsschrift in die PA übernommene Darlegung des Ursprungs der Zahlen an einer ihrer schwächsten Stellen, denn es bleibt festzuhalten, daß mit ihr eine einseitig psychologische Interpretation des Zahlbegriffes vorliegt. Wenn wir nach dem Grund der psychologischen Einseitigkeit beim frühen Husserl fragen, wird einmal mehr der übergroße Einfluß von Brentano deutlich. Wie bereits dargestellt, hatte sich Husserl in seiner Frühschrift der Brentanoschen Einteilung aller Phänomene in psychische und physische angeschlossen und sich diese bei seiner Charakterisierung der kollektiven Verbindung zu eigen gemacht. Diese ausschließliche Alternative ließ Husserl gar keine andere Möglichkeit, als das Kollektivum, das als Abstraktionsfundament der Bildung des Zahlbegriffs vorausgeht, als psychisches Phänomen zu interpretieren, da es den Inhaltsrelationen als physischen Phänomenen, die in den erscheinenden Gegenständen selbst ihren Grund haben, offensichtlich nicht zuzuordnen ist. Daß Husserls Ursprungsanalyse des Zahlbegriffs in einem psychologischen Selbstverständnis verbleibt, ist somit eine Folge von Brentanos Klassifikation der Phänomene, der sich Husserl anschließt. Da Brentano seine Phänomenklassifikation für vollständig hielt, kam die Anerkennung eines eigenständigen Bereichs von abstrakten oder idealen Gegenständen für ihn niemals in Frage40. So hätte Husserl diese Klassifikation es selbst dann nicht ermöglicht, dem Ursprung der Zahlen einen objektiven Status zuzuerkennen, wenn er hinsichtlich der Differenz von Akt und Gegenstand des Aktes aufmerksamer gewesen wäre, da sie nur die Alternative zwischen einer Verdinglichung und einer Subjektivierung des Ursprungsphänomens der Zahlen ließ. Angesichts dieser für Husserl maßgeblichen Al36
Vgl. Frege (1884), S. IX f. Frege (1894), 316 und 326 38 Ebd., 329 39 Ebd., 317. Zur Bedeutung und Reichweite dieser Kritik Freges siehe unten Kapitel II. D. 3. 40 Zu den ontologischen Restriktionen bei Brentano vgl. Brück (1933), 99 ff., Rosen (1977), 78–84 und Kamitz (1983), 175–185. Auch in seinen Briefen an Husserl äußert Brentano mehrfach seine Ablehnung von Wesensentitäten, an sich seienden Wahrheiten oder generell »apriorischen Fictionen« (Hua. Dok. III/I, 40, vgl. ebd., 22–52). 37
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ternative erklärt sich Husserls psychologische Interpretation des Ursprungs der Zahl zuletzt als ein Erbe Brentanos. In einer späteren kritischen Selbstinterpretation sagt Husserl 1913, daß sich die Phänomencharakterisierung in seinen frühen Arbeiten in einer schulmäßig »vorgegebenen Schablone, [nach der] alles entweder ›Physisches‹ oder ›Psychisches‹ ist«, bewegt habe41. Er kritisiert damit rückblikkend die in seinen Frühschriften von Brentano übernommene Klassifikation der Phänomene, mittels derer er das Abstraktionsfundament der Zahlbegriffe als ein psychisches charakterisiert hatte. Bereits vor dieser Selbstkritik, nämlich in den »Logischen Untersuchungen«42, kritisierte er seine frühe These, nach der der Akt des Kolligierens, also nicht das Kollektivum selbst, daß entscheidende Abstraktionsfundament bei der Bildung des Zahlbegriffs ist43. Husserl hat also die beiden wesentlichen Elemente seiner Theorie der Grundlagen der Arithmetik selbstkritisch revidiert, die zu deren psychologischer Einseitigkeit führten. Diese Selbstkritik erfolgt auf der Basis einer erst in den LU entwickelten Theorie der kategorialen Anschauung. Mit ihr versucht Husserl eine Analyse des Ursprungs der Zahlen zu geben, die weder zu subjektiv-psychologischen noch zu empirisch-verdinglichenden Konsequenzen führen muß, denn danach sind die Zahlen, ebenso wie kategoriale Bestimmtheiten, als eigenständige kategoriale oder ideale Gegenstände zu verstehen. Sie kommen in fundierten Akten zur Gegebenheit und werden wegen des sie ermöglichenden Fundierungsverhältnisses von Husserl auch als »Gegenstände höherer Ordnung« bezeichnet. Kategoriale Gegenstände sind also nicht in schlichter Wahrnehmung gegeben, können aber doch in sie thematisierenden Akten (z. B. bei der nominalisierenden Thematisierung von Sachverhalten oder Satzbedeutungen) als Gegenstände selbst gegeben sein und d.h. für Husserl, daß sie darin angeschaut werden44. Die kategoriale An41
XX/1,295. Der hier zitierte Husserltext von 1913 »Entwurf zu einer ›Vorrede‹ zu
den ›Logischen Untersuchungen‹«, aus dem im folgenden öfter zitiert wird, wurde zuerst von Fink (1939) ediert. Vgl. dazu auch die informative »Forschungsnotiz« von Schuhmann (1972), die über Vorbereitung und historisches Umfeld des Textes berichtet. 42 Im folgenden durch das Kürzel »LU« bezeichnet. 43 XIX/2,670: »nicht in diesen Akten als Gegenständen, sondern in den Gegenständen dieser Akte finden wir das Abstraktionsfundament für die Realisierung der besagten Begriffe; […] der Begriff des Inbegriffs erwächst nicht durch Reflexion auf diesen Akt; statt auf den gebenden Akt haben wir vielmehr auf das, was er gibt, auf den Inbegriff, den er in concreto zur Erscheinung bringt, zu achten und seine allgemeine Form ins allgemeinbegriffliche Bewußtsein zu erheben.« Vgl. XIX/1,323 44 Ein Gegenstand ist für Husserl in den LU all das, was als Subjekt möglicher Prädikationen fungieren kann (Vgl. XIX/1,179). Da über Zahlen wahre Aussagen gemacht werden können, sind sie in diesem weiten Sinne entsprechend als Gegenstände und
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schauung bezieht sich dabei jedoch weder auf subjektive, bloß innerpsychische Gebilde noch auf äußere Gegenstände, sondern auf in ihr ursprünglich gegebene Idealitäten. Mithin sind Zahlen als kategoriale Gegenstände solche, die in der »Schablone« der Brentanoschen Klassifikation der Phänomene gar nicht vorkommen und einer psychologischen Deutung auch entzogen sind. Indem Husserl in den LU die Zahlen also als ideale Gegenstände der kategorialen Anschauung begreift, schlägt er eine Lösung des Problems des Ursprungs der Zahlen vor, bei der deren Subjektivierung, die seine psychologische Analyse mit sich brachte, nicht mehr droht45.
5. Der psychologische Konstitutionsbegriff und das Motiv für seine spätere Neuinterpretation Hätten wir hier nicht bereits Husserls Theorie der kategorialen Gegenstände aus den LU in aller Kürze vorweggenommen, bliebe angesichts der psychologischen Interpretation des Ursprungs der Zahlen in der Habilitationsschrift vor allem deren begründungstheoretisches Defizit festzuhalten. So damit nicht bloß nominalistisch begreifbar. Vgl. XIX/1,130: »Sehe ich ein, daß 4 eine gerade Zahl ist, daß das ausgesagte Prädikat dem idealen Gegenstand 4 wirklich zukommt, so kann auch dieser Gegenstand nicht bloße Fiktion sein, eine bloße façon de parler, in Wahrheit ein Nichts.« 45 Daß Husserls Theorie der kategorialen Anschauung in der Tat ein methodisch befriedigendes Instrument zur Klärung des Ursprungs der Zahlbegriffe ist, soll an dieser Stelle nicht behauptet werden. Die Theorie der kategorialen oder idealen Gegenstände ist ein zentraler Bestandteil der LU, mit der Husserl den eigenständigen Status der Logik als Wissenschaft sichern will. Diese Theorie steckt aber voller Schwierigkeiten, die hier nicht erörtert werden müssen. Weil sich aber auch in ihr noch das Erbe der psychologischen Anfangsjahre verheerend auswirkt, kann zumindest eine dieser Schwierigkeiten nicht ganz übergangen werden: Husserl hat sich in den ersten vier gegenständlich orientierten LU um den Nachweis dafür bemüht, daß es eine Sphäre von weder empirisch noch nominalistisch erklärbaren idealen Gebilden gibt, zu denen außer den Bedeutungen auch die Zahlen gehören. In den beiden letzten Untersuchungen des Werkes fragt Husserl dann, wie uns diese idealen Gegenstände überhaupt gegenständlich werden. Dabei bestimmt er im 6. Kapitel der VI. LU das Gegebenheitsbewußtsein kategorialer Gegenstände deswegen als Anschauung, weil es Leerintentionen erfüllt und insofern Analogien zu Husserls Charakterisierung der schlichten Anschauung aufweist – u.a. auch eine mehr oder minder große »Fülle« des in ihm Intendierten. Die Analogie der kategorialen- mit der schlichten Wahrnehmung gibt Husserl im 7. Kapitel der VI. LU Anlaß, einen eigenen Repräsentanten für kategoriale Gegenstände zu suchen. (Beim sinnlichen Wahrnehmen fungiert als solcher Repräsentant das im Akt aufgefaßte Empfindungsmaterial, das den intendierten Gegenstand mehr oder weniger originär repräsentieren kann.) Für die
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aber läßt sich gerade das Scheitern am Problem der Objektivität der Zahlen in der Habilitationsschrift auch als Motivationsgrundlage für eine ganz konsequente Umbildung von Husserls Verständnis der Zahlen verstehen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß in Husserls psychologisch orientierter Frühphase schon Grundlagen seiner späteren transzendentalen Phänomenologie angelegt sind. In der Entwicklung der Ursprungsanalyse der Zahlbegriffe kann nun genau gezeigt werden, wie die durch das psychologische Verständnis entstehenden Probleme eine gewichtige Neuinterpretation von Ursprungsphänomenen motivieren. Hiervon ist Husserls Ansatz der subjektiv gerichteten Untersuchungsweise von Begriffen zwar nicht betroffen, aber es wandelt sich das Verständnis des eigentlichen Ursprungs dieser Begriffe. Als Defizit der psychologischen Ursprungsanalyse haben wir das Problem begrifflicher Objektivität bestimmt: Hätten die Zahlen in der Tat nur in kontingenten, psychischen Prozessen ihren Ursprung, so wäre die Dignität mathematischer Erkenntnisse und damit auch ihre Vorbildfunktion für philosophische Erkenntnis unerklärlich. Sollen mathematische Aussagen nämlich eine streng objektive Gültigkeit haben, dann reicht es nicht aus, die Zahlen als Gegenstände solcher Aussagen in einer introspektiven Reflexion auf psychische Prozesse begründet zu sehen. Sieht sich Husserl hingegen aber dazu »ganz berechtigt, Mengen und Zahlen als Resultate von Prozessen und […] als Resultate von Tätigkeiten, von ›Operationen‹ des Kolligierens […] zu bezeichnen« (XII,307), dann bleibt rätselhaft, wie derartig subjektiv-psychologische Vorbedingungen zur Klärung der objektiven Geltung von Begriffen kategorialen Gegenstände, wie etwa Inbegriffe, Kollektiva oder Vielheiten, kommt Husserl dann dazu, als Repräsentanten das »psychische Band« anzunehmen, das ein Bewußtsein der Vielheit erstellt. Das Korrelat des die Zahl aus dem Anschauungsfundament abstraktiv gewinnenden Reflexionsaktes ist damit der erlebte Akt, der die Inhalte der Verbindung zusammenhält. Diese Ansetzung von psychischen Repräsentanten als Ursprüngen von Zahlbegriffen wiederholt die Fehler von Husserls früheren Analysen, die hier überdeutlich nachwirken. Denn trotz selbstkritischer Ansätze dazu, den Repräsentanten in dem im Kolligieren gegenständlich Erlebten zu suchen, verlegt Husserl mit seiner Annahme sinnlicher Repräsentanten für die kategoriale Form einer Vielheit den Ursprung der Zahl ins Psychische. Husserl ist dieser Rückfall in die Psychologie nicht entgangen und er hat sich im Vorwort zur 2. Auflage der VI. LU deswegen von seiner Lehre der kategorialen Repräsentation distanziert (vgl. XIX/2,535). Als Grund für die Nachwirkungen seiner psychologischen Anfangsjahre in den LU macht Husserl an anderer Stelle selbstkritisch seine »Denkgewohnheiten« verantwortlich, die »noch als anerzogene Dispositionen wirksam sind – als Dispositionen zu Rückfällen« (XX/1,294). Zu weiteren Problemen in Husserls Theorie der kategorialen Anschauung vgl. unten Kapitel III. C sowie Tugendhat (1970), 111–149; Sokolowski (1970), 65–73; Grünewald (1977), 130 ff.; Lohmar (1989), 44–61, ders. (1990) sowie (1998), 189–203.
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etwas beitragen können. In der Habilitationsschrift sieht Husserl von derartigen Geltungsproblemen ab und untersucht nur die subjektiv-psychologische Seite des Ursprungs der Zahlen. Die Subjektabhängigkeit der Zahlen wird dabei in zwei Hinsichten deutlich: Erstens hat das anschauliche Fundament, auf dem nach Husserl die Bildung der Zahlbegriffe gründet – die kollektive Verbindung von Inhalten – »nur in gewissen psychischen Akten, welche die Inhalte einigend umschließen, ihren Bestand« (XII,333). Die Inhalte der kollektiven Verbindung sind also nur »verbunden durch den sie zusammenhaltenden psychischen Akt« (XII,332, vgl. 330), ohne den es gar keine Basis für die Bildung der Zahlen gäbe. Für diese Bildung ist zweitens der weitere subjektive Akt introspektiver Reflexion gefordert, der angesichts der kollektiven Verbindung das darin liegende formale Moment der Vielheit von Einheiten abstraktiv gewinnen soll. Diese subjektiven Tätigkeiten sind in der formalisierenden Bildung des Zahlbegriffs beschlossen. Sie werden in der psychologischen Analyse lediglich als gesonderte bewußt und verdeutlichen dann die Subjektabhängigkeit des hier psychologisch verstandenen Bildungsprozesses der Zahlen. Allesamt stehen diese subjektiven Prozeßmomente in der Einheit eines Gefüges, das mit Recht als Konstitutionsprozeß verstanden werden kann46. Husserl spricht in der Habilitationsschrift zwar nur einmal explizit vom Prozeß der »Konstitution«47, aber seine Beschreibung des zur Zahl führenden psychischen Geschehens entspricht der Sache nach bereits der Bestimmung eines Konstitutionsgeschehens48. Konstituiert wird nämlich in der Gesamtheit des subjektiven Prozesses, den Husserl hier als psychologischen begreift, ein subjektabhängiges Sinngebilde, das nur in und durch dessen Konstitution überhaupt »ist«. Man kann Husserls Ursprungsanalyse der Zahlen sogar als exemplarischen Fall eines Konstitutionsprozesses begreifen, wenn er schreibt: »Gewiß ist es richtig, daß es sich bei der Bildung von Zahlen wie auch von Vielheiten in concreto nicht um ein passives Aufnehmen oder ein bloß heraushebendes Bemerken eines Inhaltes handelt; wenn irgendwo, so
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Sokolowski (1970), 8–15, unterscheidet in seiner Untersuchung von Husserls Analyse der Zahlbegriffe insgesamt fünf solcher Prozeßmomente, wobei diese jedoch eher solche der in Husserls Schrift unterscheidbaren Argumentationsschritte sind als im psychischen Bildungsprozeß der Zahlen selbst ausweisbare Stufen. 47 Vgl. XII,13. Dort spricht Husserl von der komplexen »psychologischen Konstitution« mathematischer Begriffe, dessen »Aufhellung« eine Sache der Psychologie sei. 48 Bereits Becker (1930), 130, Biemel (1959), S. 194 ff. und Landgrebe (1949), 63 ff., (1963), 14 haben darauf hingewiesen, daß der Keim von Husserls Begriff der Konstitution schon in der Habilitationsschrift liegt. Sokolowski (1970) folgt ihnen darin bei seiner Analyse von Husserls mathematischen Schriften. Vgl. auch XVII,90 f.
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liegen hier spontane Tätigkeiten vor, die wir an die Inhalte knüpfen« (XII,316). Zahlen werden in subjektiven Leistungen aktiv erzeugt, wobei der Prozeß ihrer Erzeugung in der Tätigkeit des Bewußtseins gründet. Eine weitere, bemerkenswerte Textstelle macht dies noch deutlicher: »Geistige Schöpfungen sind die Zahlen, sofern sie Resultate von Tätigkeiten bilden, die wir an konkreten Inhalten üben; aber was diese Tätigkeiten schaffen, das sind nicht neue absolute Inhalte, die wir dann irgendwo im Raume oder in der ›Außenwelt‹ wiederfinden könnten, sondern es sind eigentümliche Relationsbegriffe, die immer wieder nur erzeugt, aber keineswegs irgendwo fertig vorgefunden werden können« (XII,317). Wenn Husserl hier von »geistigen« Schöpfungen spricht, überschreitet er jedoch auch schon den Rahmen des psychologischen Ansatzes der Habilitationsschrift. In deren zuletzt nur auf Introspektion beruhender Perspektive bleibt die Ausweisung von nicht bloß subjektiv-individuellem Geschehen immer problematisch, so daß in ihr der Hinweis auf ein nicht bloß individuelles ›Geistiges‹ kaum gerechtfertigt ist. Wenn Husserl in der Habilitationsschrift die »psychologische Konstitution« von Zahlen untersucht (vgl. XII,13), fehlen ihm noch die Rechtfertigungsmittel, um im strengen Sinne von subjektiv-allgemeinen Prozessen zu sprechen, denn die genetischen Voraussetzungen der Begriffsbildung werden in der psychologischen Analyse lediglich in der inneren Erfahrung aufgefunden. Ein im Rahmen einer psychologischen Untersuchung begriffenes subjektives Konstitutionsgeschehen vermag mit diesem methodischen Instrument mit dem Problem der Objektivität jedoch nicht zurechtzukommen. Um die strenge Allgemeingültigkeit gerade mathematischer Erkenntnisgehalte angemessen zu rechtfertigen, reicht nämlich die induktive Verallgemeinerung empirisch-psychologischer Befunde nie aus. Ein erster Schritt über die noch empiristische Abstraktionstheorie aus »Über den Begriff der Zahl« gelingt Husserl erst später mit der Wesensphänomenologie der LU. Letztlich kann er aber erst im Ausgang von einem transzendental verstandenen Subjekt die Allgemeingültigkeit von Resultaten subjektiver Konstitutionsprozesse legitimieren. Als Husserl eine Theorie transzendentaler Subjektivität entwickelt hatte, hat er in »Formale und Transzendentale Logik« rückblickend behauptet, daß seine frühe Ursprungsuntersuchung der Zahlen keine bloß psychologische, sondern »eine phänomenologisch-konstitutive Untersuchung« von »kategorialen Gegenständlichkeiten« sei (XVII,91). Diese späte Selbstexplikation des eigenen Anliegens von Husserl betrifft direkt seine psychologische Analyse der Habilitationsschrift. Sie erfährt hier eine Selbstinterpretation, die allerdings nicht allein auf der Basis der Frühschrift selbst beruht. Vielmehr wird das, was in dem psychologisch orientierten Frühwerk nur im Keim angelegt
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ist, im Licht dessen gesehen, als was es sich später entpuppte, nämlich als eine transzendentalphilosophische Konstitutionstheorie49. Die Weiterentwicklung der Husserlschen Philosophie geht also einher mit einer Neuinterpretation der psychologischen Frühschriften. Dies ist möglich, weil die Weiterentwicklung durch die ungelösten Probleme im Frühwerk motiviert ist und zu ihnen später eine problemgeschichtliche Kontinuität erhalten bleibt. Eine problemgeschichtliche Kontinuität besteht hier, insofern Früh- und Spätwerk den Ursprung von Sinngebilden in »spontanen Tätigkeiten«, also subjektiven Prozessen der Konstitution, ausfindig machen. Völlig verändert ist freilich das Verständnis dieser Subjektabhängigkeit der Erkenntnisgebilde, weil die psychologische Deutung der subjektiven Leistungen im Frühwerk von Husserl später überwunden wird und die konstituierende Subjektivität dann als eine transzendentale begriffen wird. Dennnoch bleibt der Konstitutionsbegriff aber auch später ein Problemtitel. Die Subjektabhängigkeit von Erkenntnis, mithin das Verhältnis zwischen der Subjektivität des Erkennens und der Objektivität der Erkenntnisgehalte, welches die psychologisch ausgerichtete Habilitationsschrift zu keinem befriedigenden Ausgleich bringen kann, bleibt unter dem Titel der Konstitution auch beim späten Husserl als Problem aufbewahrt, ja als Problem mit dem Konstitutionsbegriff geradezu unlösbar verbunden. Denn auch der spätere, »idealistische« Husserl führt den Ursprung von Sinngebilden auf aktive Konstitutionsleistungen des Subjekts zurück. Problematisch bleibt dabei, wie diese Konstitution zu verstehen ist. Ist sie, sofern sie die Quelle jeden Sinns ist, nicht zugleich Gegenstands-, ja Weltkonstitution, da alle Gegenständlichkeit eo ipso ein Sinngebilde ist? Besteht also bereits eine Doppeldeutigkeit des Konstitutionsbegriffs zwischen den Polen von aktivem Erzeugen und Sinnstiften50? Oder ist 49
Auch wenn sich in Husserls frühen mathematischen Schriften der Konstitutionsbegriff dem Worte nach nur einmal findet, ist Husserls spätere, transzendentalphilosophische Neuinterpretation des dort beschriebenen psychischen Prozesses der Sache nach berechtigt. Der Einwand von de Boer, wonach der frühe Husserl noch nicht über ein Korrelationsapriori verfüge und deswegen dem Reflexionsakt, der abstraktiv die Zahlbildung ermöglichen soll, kein Korrelat zukomme, folglich hier auch nicht von Konstitution gesprochen werden könne, ist nicht zutreffend. Vielmehr ist der Reflexionsakt durchaus auf etwas als Korrelat bezogen, nämlich auf den psychischen Akt des Zusammendenkens von irgendwelchen Inhalten, angesichts derer der formale Begriff der Zahl gebildet wird. Vgl. de Boer (1978), 24 f., 31, 119, 255, 285 sowie Miller (1982), 38 f., wo ebenfalls de Boers Interpretation zurückgewiesen wird. 50 Vgl. zu der im Konstitutionsbegriff liegenden Doppelsinnigkeit von Sinnbildung und Erzeugung exemplarisch Fink (1933), 139 ff.; Landgrebe (1974); Tugendhat (1970), 175 ff.; de Boer (1978), 166 ff.; Ströker (1984), 197–200; Gadamer (1987), 135; Zahavi
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Konstitution für Husserl lediglich der Prozeß des Zur-Gegebenheit-Bringens von Sinngebilden, wobei dieser Prozeß in verschiedenen Schichtungen verläuft, wie wir dies im Fall der psychologischen Zahlkonstitution gesehen haben? Dann aber drängt sich als nachfolgendes Problem die Frage nach dem ontologischen Status der Zahlen auf: Gibt es sie nur in ihrem aktiven Erzeugen oder müssen sie nicht doch auch als subjektunabhängige Gebilde bestehen, damit sie überhaupt vorstellig werden können? All das sind am Anfang von Husserls Denken noch kaum gestellte Fragen, mit denen er erst im Fortgang seines Denkens und zuerst in der PA ringt. Sie ergeben sich im Ausgang von Husserls Habilitationschrift, da er in ihr die Stufen der subjektiv-psychologischen Genesis des Grundbegriffs einer Wissenschaft untersucht, deren strenge Wissenschaftlichkeit so unumstritten gilt, daß Husserl ihr eine für die Philosophie vorbildliche Stellung einräumt.
6. Zusammenfassung Nach seiner Promotion in Mathematik ist Husserl thematisch zunächst an Grundlagenproblemen der Mathematik interessiert, die ihm u.a. durch seine Lehrer Weierstraß und Kronecker nahegebracht wurden. Methodisch stützt er sich dabei auf die Psychologie, die als Hilfswissenschaft der Arithmetik eine Klärung von deren Grundbegriffen ermöglichen soll. Husserls Verständnis der Psychologie als grundlagenklärender Wissenschaft ist dabei entscheidend von Brentano geprägt, bei dem er nach seiner Promotion studierte. Für Brentano ist die Psychologie die auf innerer Wahrnehmung beruhende Wissenschaft von allen psychischen Phänomenen, die sie in ihrem deskriptiven oder reinen Zweig zunächst möglichst umfassend zu bestimmen und zu klassifizieren versucht, bevor sie sie anschließend durch naturwissenschaftliche, z. B. physiologische Methoden erklärt. In diesem Sinne ist die deskriptive Psychologie systematisch jeder anderen Wissenschaft vorgeordnet, da sie deren Grundbegriffe analysiert, die, wie alle Begriffe, zu den psychischen Phänomenen gehören. In seiner Habilitationsschrift »Über den Begriff der Zahl« wendet Husserl diese Brentanosche Wissenschaftskonzeption im Bereich der Mathematik auf den Begriff der Zahl an. Husserl analysiert den Zahlbegriff, indem er die psychologischen Ursprünge der im Zahlbegriff liegenden Momente der Vielheit und der Einheit untersucht. Diese Untersu(1992), 139–143 und Trappe (1996), 138. Sehr ausführlich behandelt auch Rapic (1991) die zwischen »schaffen« und »bekunden« bzw. »darstellen« liegende innere Spannung dieses transzendentalphänomenologischen Grundbegriffs.
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chung, und damit die Klärung des Zahlbegriffs, leistet er durch einen Rückgang auf konkrete anschauliche Phänomene, die ihm als Basis für die abstrahierende Gewinnung des Begriffs gelten. Für die Vielheit ist das Ursprungsphänomen die sogenannte kollektive Verbindung – eine nur im psychischen Akt liegende Einigung beliebiger Inhalte. Diese Verbindung wird als solche nur durch einen eigenen Reflexionsakt auf das Kolligieren erkannt. Die kolligierten Einheiten in dieser Verbindung spielen dabei nur in der formal allgemeinen Bedeutung eines »Etwas überhaupt« eine Rolle, das Husserl als solches durch Reflexion auf beliebige Vorstellungsakte glaubt gewinnen zu können. Mit dieser psychologischen Analyse der Ursprünge des Zahlbegriffs zieht Husserl dessen Grundlagen in doppelter Weise in den Bereich des Psychischen: Zum einen bestimmt er das Abstraktionsfundament der Zahlbegriffsbildung – die kollektive Verbindung – selbst als psychisches Phänomen, ja als »psychische Verbindung« (XII,73 Anm., 196, 332 Anm.). Zum anderen verdankt sich nach Husserl der Ursprung der Zahlbegriffe dem höherstufigen psychischen Akt der Reflexion auf die niederen Akte, in denen Vielheit und Einheit ihre konkrete Basis haben. Die Reflexion vollzieht sich dabei als innere Erfahrung. Kritisch muß gegen die psychologische Untersuchung der Grundlagen des Zahlbegriffs deshalb eingewandt werden, daß mit ihr in unakzeptabler Weise der Zahlbegiff von psychischen Akten empirischer Subjekte abhängig wird, so daß die Objektivität des Begriffs rätselhaft bleiben muß. In einer problemgeschichtlichen Hinsicht ist allerdings festzuhalten, daß in der mit der Habilitationsschrift dargelegten Subjektabhängigkeit der Zahlen, nach der diese aus »spontanen Tätigkeiten« hervorgehen, bereits Ansätze zur späteren phänomenologischen Konstitutionsforschung liegen. Da aber das gesamte Verständnis der subjektiven Akte noch vollkommen psychologisch geprägt ist, bleibt die Ursprungsanalyse des Zahlbegriffs lediglich eine Darstellung seiner psychologischen Genesis. Bemerkenswert ist, daß in Husserls erster Schrift bereits Grundüberzeugungen der späteren Phänomenologie vorgeprägt sind. Neben der Problematik der Konstitution sind hier stichwortartig noch vier weitere Elemente zu nennen: Die Bedeutung der Anschauung als letztem begriffsklärenden Medium; das Selbstverständnis von Husserls Untersuchung als subjektiv gerichteter Ursprungsforschung, mithin die subjektimmanent orientierte Forschungsrichtung; die Stellung der Reflexion als höherstufigem Akt, in dem Ursprungsphänomene erst thematisch werden; und damit schließlich der Aufweis von schichtenweisen Sinnstiftungen, die jeweils in elementaren Akten fundiert sind.
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B. Psychologische Analysen in der »Philosophie der Arithmetik« (1891) 1. Aufgabenstellung und Kontext der »Philosophie der Arithmetik« Die vorangegangene Beschäftigung mit der psychologischen Analyse des Zahlbegriffs in »Über den Begriff der Zahl« (1887) führt zugleich mitten in Husserls erste Buchveröffentlichung, die »Philosophie der Arithmetik« (1891), denn der Text der unveröffentlicht gebliebenen Habilitationsschrift wird in dieses Werk vollständig und ohne wesentliche Veränderungen übernommen. Diese Textübernahme ist möglich, weil Husserls philosophische Grundüberzeugungen vier Jahre nach der Habilitation unverändert sind. Nach wie vor vertritt er hier die von Brentano geprägt Auffassung, dergemäß die deskriptive Psychologie als begriffsklärende Wissenschaft allen anderen Wissenschaften methodisch vorgeordnet ist, weil sie deren Grundlagen untersucht. In Husserls Verhältnis zur Psychologie läßt sich daher zwischen 1887 und 1891 keinerlei Veränderung feststellen. Außerdem bleibt er in der PA auch in sachlicher Hinsicht noch seiner älteren Überzeugung treu, gemäß der »die Anzahlen die eigentlichen und einzigen Fundamentalbegriffe der Arithmetik bilden« (XII,12), so daß die philosophische Untersuchung der Arithmetik von ihnen ausgehen muß. Es sei hier jedoch bereits darauf hingewiesen, daß eine aufmerksame Lektüre der Einleitung der PA in diesem Punkt eine gewisse Unsicherheit Husserls zu erkennen gibt, denn er will die Position der Anzahlenarithmetik hier nur noch »vorläufig« (XII,12) einnehmen und hier keiner »endgültigen Entscheidung« (ebd.) vorgreifen. Wir werden später sehen, daß Husserls fortgesetzte Beschäftigung mit den Grundlagen der Mathematik aus sachlichen Gründen eine Korrektur seines frühen Standpunkts der Anzahlenarithmetik nach sich zieht und er daraufhin einen sehr formalen Zahlbegriff bevorzugen wird (vgl. unten I. C. 4). Zunächst setzen die Arbeiten der PA jedoch das Progamm der Habilitationsschrift fort. Lediglich in thematischer Hinsicht erweitert sich nun der Rahmen von Husserls Forschungsbereich, denn jetzt geht es nicht mehr nur um den Ursprung der Zahlen, sondern darüber hinaus um die Fundamente der gesamten Wissenschaft der Arithmetik. Durch diese Aufgabenstellung eröffnet sich gegenüber der Habilitationsschrift eine viel umfangreichere Problemstellung. Diese thematische Erweiterung von Husserls Forschungen ist durch zwei entscheidende Gründe motiviert: Erstens liegen die Fundamente der Arithmetik nicht nur in den in direkten Anschauung von Vielheiten gegründeten »eigentlich« vorstellbaren Zahlen, die die Habilitationsschrift untersucht hatte, sondern im gesamten Zahlenbereich, so daß Husserl
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nun dessen psychologischen Ursprung untersuchen muß. Entsprechend ergibt sich mit der PA die Aufgabe, die psychologischen Grundlagen aller Zahlen überhaupt zu bestimmen. Mit dieser Aufgabe und ihrer Lösung werden wir uns in diesem Kapitel (B) vorwiegend befassen. Zweitens »operiert« die Arithmetik mit diesen Zahlen, so daß eine Klärung der Fundamente der Arithmetik den Sinn dieser Operationen bestimmen muß. Da es in der Arithmetik weniger um die Zahlen selbst als vielmehr um die durch mathematische Operationen gestifteten Beziehungen zwischen ihnen geht, muß sich jede Philosophie der Arithmetik der Untersuchung dieser Operationen widmen. Husserl kommt dieser Aufgabe durch die verstärkte Berücksichtigung der Logik der Arithmetik nach, ja er kündigt in Vorrede und Selbstanzeige der PA hierzu einen die Arbeiten des ersten Bandes erweiternden zweiten Band an, der das Thema der Logik in der Arithmetik behandeln soll. Dieser zweite Band erschien jedoch nicht, was seinen Grund wohl darin hat, daß sich Husserl im Zuge seiner Beschäftigung mit der Logik von dem speziellen Feld der Mathematik immer mehr entfernte. In Folge davon gerieten logische Fragestellungen so sehr in den Mittelpunkt seines Interesses, daß die Belange der Arithmetik dahinter zurücktraten bzw. in der Logik aufgingen. Die Bedeutung der Logik für die Klärung der Grundlagen arithmetischer Operationen zeichnet sich jedoch bereits im erschienenen ersten Band der PA – vor allem im Schlußkapitel – deutlich ab. Äußerlich sichtbar wird dies zuerst im Untertitel der PA – »Psychologische und logische Untersuchungen«51. Dieser Untertitel indiziert bereits die Denkentwicklung, die Husserl seit seiner Habilitationsschrift – die den Untertitel »Psychologische Analysen« trägt – gemacht hat. Husserl hat den Untertitel der PA mit Bedacht gewählt, denn dieser zeigt, daß das Werk einerseits – wie »Über den Begriff der Zahl« – die psychologische Ursprungsklärung von Grundbegriffen der arithmetischen Wissenschaft behandelt, darin aber andererseits auch die »Logik« arithmetisch-formaler Operationen in den Blick kommt. Gleichzeitig markiert der Untertitel der PA jedoch auch schon die Spannung, die sich in Husserls Denken mehr und mehr abzeichnet. Was hat nämlich eine Analyse des formalen und logischen Baus der Wissenschaft Arithmetik noch mit Psychologie zu tun? In der Selbstanzeige der PA spricht Husserl davon, daß sein Werk die Klärung der Fundamente der Arithmetik in 51
In der Husserliana-Ausgabe der PA wurde die Reihenfolge der Attribute »psychologische« und »logische« im Untertitel der PA fälschlicherweise vertauscht. Daß dies ohne Angabe von Gründen geschah, kann wohl als Ausdruck des uns heute selbstverständlichen Primats der Logik vor der Psychologie verstanden werden. Vgl. XII,287; E. Holenstein: Einleitung des Herausgebers zu Hua. XVIII, S. XX sowie Hua. Dok. I,30.
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einer »doppelten Hinsicht« leisten soll (XII,287); er meint damit einerseits die psychologische Analyse von mathematischen Grundbegriffen und andererseits die logische-erkenntnistheoretische Aufklärung der Operationen der Arithmetik, die er durch eine Untersuchung der Symbolverwendung in der Mathematik leistet. Die beiden Betrachtungshinsichten der Grundlagen der Arithmetik – die psychologische und die logische – vermag Husserl aber in der PA letztlich nicht zu vermitteln: »Ich wußte nicht, sie in eins zu setzen«, sagt er 1906 in einem Rückblick auf die PA und spricht damit die Spannung, die zwischen Psychologie und Logik als philosophischen Grundlagendisziplinen besteht, deutlich aus52. Kündigt sich in dieser Spannung vielleicht die notwendig werdende Veränderung von Husserls Psychologieverständnis bereits im Untertitel der PA an, denn als universale Fundamentalwissenschaft im Brentanoschen Sinne tritt die Psychologie jetzt nicht mehr allein auf, wenn die Logik ihr hier zumindest nominell zur Seite gestellt ist? Zunächst stellt aber die Kombination von psychologischen und logischen Untersuchungen in der PA für Husserl noch gar kein spannungsreiches Verhältnis zweier Grundlagenwissenschaften dar, da sein eigenes Verständnis der Logik noch zu vage und vielschichtig ist, um der Psychologie gegenüberzustehen. Zwar befaßt sich, wie wir sehen werden, Husserls »Logik« schon 1890 mit Fragen der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung und sie ist insofern von deskriptiv- oder genetisch-psychologischen Untersuchungen unabhängig, aber andererseits ist Husserl noch bis mindestens 1894 der Auffassung, daß deskriptiv-psychologische Studien ihrerseits für die Klärung der Grundlagen der Logik von »fundamentaler Bedeutung« sind, so daß er am Status der Psychologie als Grundlagenwissenschaft auch gegenüber der Logik festhält53. Wir werden im folgenden sehen, wie sich – durch die Aufgabenstellung in der PA veranlaßt – in den neunziger Jahren ein Wandel von Husserls Psychologieverständnis ergibt. Vorher wollen wir aber noch zeigen, wie Husserl an seiner Methode der psychologischen Ursprungsanalyse in der PA festhält und sie auf ein in der Habilitationsschrift noch offen gebliebenes Grundlagenproblem der Mathematik hin anwendet (2.) – nämlich die Aufweisung des psychologischen Ursprungs großer Zahlen (3.). Dabei wird sich erneut zei52
Im unmittelbar vorangehenden Zusammenhang der zitierten Stelle schreibt Husserl: »[…] während ich mich mit den Entwürfen zur Logik des mathematischen Denkens und insbesondere des mathematischen Kalküls abmühte, peinigten mich die unbegreiflich fremden Welten: die Welt des rein Logischen und die Welt des aktuellen Bewußtseins, wie ich heute sagen würde, des Phänomenologischen und des Psychologischen.« (XXIV,442 f.) 53 XXII,120, 122; vgl. XXI,263, 266, 302 f.
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gen, daß Elemente der transzendentalen Phänomenologie im psychologisch ausgerichteten Frühwerk schon so angelegt sind, daß sie nach einer transzendentalen Neuinterpretation noch Gehalte der späteren Phänomenologie bleiben können (4.). Anschließend wenden wir uns dann dem prima vista weniger psychologischen Teil der PA zu, um zu sehen, wie Husserls Verständnis von arithmetischen Operationen und ihrer Logik beschaffen ist (C.). In der Entwicklung von Husserls Verständis der Logik liegt nämlich der Schlüssel zu seiner Neubewertung der Leistungsfähigkeit der Psychologie, also zum Wandel seines Verhältnisses zur Psychologie in den neunziger Jahren.
2. Das Problem des psychologischen Ursprungs großer Zahlen Ein wesentliches Ergebnis von Husserls Habilitationsschrift ist die Einsicht, daß Zahlen in ihrem begrifflichen Gehalt anschaulich fundiert sind, weil das definitionsgemäß in ihnen liegende Vielheitsmoment in anschaulich konkreten Vielheiten seinen Grund hat. Zahlen basieren danach auf der psychischen Leistung des Verbindens beliebiger Einheiten zu einer Vielheit – der kollektiven Verbindung – die das letzte Abstraktionsfundament formaler Zahlbegriffe ist. Nun ist aber unsere psychische Leistungsfähigkeit derart beschaffen, daß wir nur in beschränktem Maße fähig sind, umfangreiche konkrete Vielheiten in einem Blick genau zu erfassen. Unsere Grenze im Kolligieren einzelner Glieder zu einer anschaulichen Vielheit liegt gemäß Husserl bei etwa 12 solcher Glieder (vgl. XII,192). Mehr einzelne Einheiten in einem Blick als Elemente einer Vielheit zu fassen, so behauptet er in Übereinstimmung mit Untersuchungen von Wilhelm Wundt, gelingt uns faktisch nicht (vgl. XII,192 Anm.). Wäre also die Zahlbildung in der Tat an anschaulich konkrete Vielheitsvorstellungen in kollektiven Verbindungen gebunden, so folgert Husserl, »dann endete die Zahlenreihe bestenfalls mit der Zwölf, und darüber hinaus hätten wir auch nicht den Begriff einer Fortsetzung« (XII,222). Anzahlen, die größer als 12 sind, wären der anschaulichen Sinnerfüllung unzugänglich, ja mehr noch, wir könnten sie nicht einmal bilden, weil für die Begriffsbildung das Fundament der kollektiven Verbindung fehlen würde. Somit ergibt sich in Husserls Philosophie der Arithmetik ein Problem, das in der auf die Klärung niedriger Zahlbegriffe konzentrierten Habilitationsschrift nirgends behandelt wurde: Wie können wir große Zahlen bilden und was bedeuten diese? Das Problem ergibt sich, weil für Husserl die Anschauung der Schlüssel zur Begriffsklärung ist, unsere Fähigkeit zur anschaulichen Erkenntnis aber faktisch beschränkt ist. Deshalb muß es zweifelhaft werden, wie über die an-
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schaulichen Fähigkeiten hinausgehende begriffliche Repräsentationen überhaupt noch sinnvoll möglich sind. In Frage steht damit, wie und ob begriffliche oder symbolische Repräsentationen (Zahlzeichen) überhaupt einen sinnhaften Gegenstand haben können. Es ist also im Grunde ein prinzipielles systematisches Problem, auf das Husserl hier im Bereich der Mathematik trifft. Darüber sollte die von Husserl angesetzte Grenze direkt anschaulich fundierbarer Zahlbegriffe bei 12 nicht hinwegtäuschen, denn daß dies eine ganz und gar kontingent bestimmte Zahl ist, zeigt bereits Husserls Unsicherheit bei ihrer Festlegung an. Mit Übung hält er es nämlich durchaus für möglich, eine Menge von mehr als 12 Gliedern auf einen Blick zu kolligieren und zu bestimmen, aber andererseits behauptete er zur Zeit seiner Habilitationsschrift noch, daß diese Grenze etwa bei der Zahl drei liege: »Im eigentlichen Sinne kann man kaum über drei hinauszählen«54. Vermutlich ist Husserls Kenntnis des Forschungsstandes der Psychologie entscheidend für seine genaue Festlegung der maximalen Größe eigentlicher Zahlbegriffe, denn diese faktisch kontingente Größe wird in psychologischen Untersuchungen bestimmt55. Als Grund für unsere eingeschränkte Fähigkeit, in einem Blick Einheiten zu kolligieren und ihre Anzahl zu bestimmen, gaben die Psychologen seinerzeit die »Enge des Bewußtseins« an – eine Metapher, die in der zeitgenössischen Psychologie eine große Rolle spielt und von Husserl wiederholt übernommen wird56. Diese »Enge« erlaube es uns nur in sehr be54
XII,339. Sommer (1985) nimmt an, daß Husserl hier die Zahl drei in Anlehnung an Herbarts seinerzeit allgemein bekannte Psychologie bestimmt hat, denn Herbart hielt es kaum für möglich, »daß mehr als drei Vorstellungen im Bewußtsein zusammen bestehen könnten«. J. F. Herbart: Psychologie als Wissenschaft. Erster Teil 1824, Sämtliche Werke Bd. V, Leipzig 1850, 347, zitiert nach Sommer (1985), 139. Den Einfluß von Herbarts Psychologie auf Husserl bestätigt in anderem Zusammenhang auch Rang: Einleitung des Hrsg. zu Hua. XXII, S. LIII. 55 Wie kontingent die Menge der auf einen Blick bestimmbaren Einheitenanzahl einer Vielheit in der Tat ist, belegen Beobachtungen, die Sacks bei autistischen Zwillingen gemacht hat. Ohne jede Fähigkeit zum algorithmischen Operieren waren diese sogar dazu fähig, dreistellige Mengen von dargebotenen Streichhölzern sofort exakt anzugeben. Diese »Zahlenwunder« antworteten auf die Frage, »Wie konntet ihr die Hölzer so schnell zählen?«, »Wir haben die Hundertelf gesehen«. Sacks (1990), 261. Spezielle empirische Untersuchungen zu den Grenzen visueller Mengenbestimmungen sowie zur Psychologie der Zahlbegriffsbildung finden sich auch bei Riess (1973). 56 XII,26, 240, 305; XXII,301; XIX/1,15(A). In einer detailreichen Studie hat Port (1933) in seiner gleichnamigen Monographie die Forschungen zur »Enge des Bewußtseins« unter historischem und systematischem Aspekt zusammengetragen. Die »Engeforschung«, die in der Folge der Herbartschen Aufmerksamkeitspsychologie nach der Jahrhundertwende fast eine ganze Generation von Experimentalpsychologen mehr oder minder beschäftigte, führt er geschichtlich bis zu Platon zurück und behandelt dabei auch kurz Husserls Phänomenologie sowie u.a. die Beiträge von Alexander Pfän-
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schränktem Maße, Einzelvorstellungen in einem Zuge zusammenzudenken und dadurch kollektive Verbindungen zu bilden. Allgemein gesagt, besteht sie darin, daß wir pro Zeitpunkt nur einer sehr geringen Zahl von Vorstellungen oder Gegenständen aufmerksam zugewandt sein können. Aus diesem psychologischen Tatbestand folgt für Husserl, daß ein unmittelbar anschauliches Fundament für die Zahlbegriffe über 12 nicht mehr bestehen kann. Hieraus ergibt sich dann das Problem des Ursprungs größerer Anzahlen, denn es muß gefragt werden, wie deren Vorstellung für uns überhaupt möglich ist. Diesem Problem geht Husserl in der PA in einer psychologischen Ursprungsanalyse nach, wodurch er seine alte Forschungsmethode im neuen Gegenstandsgebiet erneut anwendet.
3. Die symbolischen Zahlvorstellungen und ihr psychologisches Fundament in den figuralen Momenten Für Husserl stellt sich die Frage des psychologischen Ursprungs großer Anzahlbegriffe am Anfang des zweiten Teils der PA. Der erste Teil befaßt sich nämlich – wie die Habilitationsschrift – mit dem »eigentlichen«, d.h. direkt anschauungserfüllten Vorstellen, der zweite aber mit dem »symbolischen«, d.h. zeichenhaft vermittelten Vorstellen57, das u.a. auch den Umgang mit großen Anzahlen einschließt. Diese wichtige Unterscheidung von Vorstellungsweisen, an der sich zugleich die Hauptgliederung des veröffentlichten ersten Bandes der PA orientiert, übernimmt Husserl von Brentano. Dessen Unterscheidung zwischen »eigentlichen« und »uneigentlichen« oder »symbolischen« Vorstellungen prägt somit den Aufbau der PA und gibt darüber hinaus auch den ersten Ansatz zur Lösung unserer Frage, denn große Zahlen werden eben nicht »eigentlich«, sondern nur »symbolisch« vorgestellt. Wir müssen nun zunächst fragen, was dies heißt und dabei insbesondere klären, ob der Anschauungsbezug hierbei gar keine Rolle mehr spielt, so daß eine gänzlich formalistische oder nominalistische Mathematikauffassung die der, Moritz Geiger und Max Scheler. In systematischer Hinsicht versucht der experimentalpsychologische Teil von Ports 1933 am Münchener Institut für Psychologie entstandenen Habilitationsarbeit mittels eines eigens konstruierten »Engeapparats« dem sogenannten »Engeproblem« empirisch näher zu kommen. Schließlich indiziert bereits das umfangreiche Literaturverzeichnis dieser Arbeit, wie breit die heute wohl nur noch wissenschaftshistorisch bemerkenswerte Fragestellung damals diskutiert wurde. 57 Den in der Philosophie sonst gemachten Unterschied zwischen Symbol und Zeichen berücksichtigt der frühe Husserl nicht; dies ändert sich erst mit den »Logischen Untersuchungen« (vgl. z.B. XIX/2, 567 Anm.).
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Folge wäre. Zuerst ist dafür zu klären, was Brentano und Husserl mit ihrer Unterscheidung der Vorstellungsweisen meinen: Husserl bestimmt das symbolische Vorstellen in der PA wie folgt: »Eine symbolische oder uneigentliche Vorstellung ist, wie schon der Name besagt, eine Vorstellung durch Zeichen. Ist uns ein Inhalt nicht direkt gegeben als das, was er ist, sondern nur indirekt durch Zeichen, die ihn eindeutig charakterisieren, dann haben wir von ihm statt einer eigentlichen eine symbolische Vorstellung« (XII,193). Sinnliche oder uneigentliche Vorstellungen sind mithin all jene, die ihren Gegenstandsbezug nicht durch anschauliche Präsenz, sondern durch zeichenhafte Vermittlung gewinnen. Dieser Bestimmung folgt eine Anmerkung Husserls, in der er die »eminente Bedeutung« des uneigentlichen oder symbolischen Vorstellens »für unser ganzes psychisches Leben« betont (XII,193 Anm.). Im Bereich der Mathematik liegt diese Bedeutung zunächst darin, daß Husserl in der PA glaubt, mittels der Untersuchung des »uneigentlichen« Vorstellens auch eine psychologische Analyse großer Anzahlen leisten zu können. In der Anmerkung verweist er gleichzeitig auf Brentanos Wiener Vorlesungen, in denen er die Unterscheidung der beiden Weisen des Vorstellens kennengelernt hatte: Brentano hatte 1885/86 ein für Husserl »unvergeßliches Kolleg« über »Ausgewählte psychologische und ästhetische Fragen« gehalten58, wobei er im Zusammenhang mit Fragen nach der Art des Phantasievorstellens das »uneigentliche« Vorstellen behandelt hatte59. Bereits in seinen Logikvorlesungen trug Brentano diese für Husserl äußerst folgenreiche Unterscheidung vor, um die direkt anschauungserfüllten, »eigentlichen« Vorstellungen von allen Formen bloß repräsentativer, »uneigentlicher« Gegebenheit abzuheben, zu der auch für Brentano die Vorstellungsweise großer Zahlen gehörte60. Folgenreich ist diese Unterscheidung für Husserl, weil sie zum einen in seinen späteren Studien über das Phantasiebewußtsein weitergeführt und ständig ausdifferenziert wird61, zum anderen aber vor allem auch deswegen, 58
Vgl. Boehm: Einleitung des Hrsg. zu Hua. X, S. XV, Hua. Dok. I,15 und Rollinger (1999), 16 f. 59 In Auszügen sind diese Vorlesungen Brentanos in dem Band »F. Brentano: Grundzüge der Ästhetik« (1988) erschienen. Zum »uneigentlichen Vorstellen« vgl. ebd., 82 ff. 60 Vgl. Brentano (1956), 64; ders. (1962), 155. Diese Gegenüberstellung von Vorstellungsweisen findet sich bereits am Anfang von Leibniz’ »Meditationes de cognitione, veritate et ideis« (1684), worin »blinde« oder »symbolische« Vorstellungen von »intuitiven« unterschieden werden, und ebenfalls den letzteren eine bevorzugte Erkenntnisbedeutung zukommt. Vgl. hierzu auch Tugendhat (1970), 49 f. und Künne (1983), 168. 61 Vgl. dazu Marbach: Einleitung des Hrsg. zu Hua. XXIII. Die Weiterentwicklung
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weil Husserl sie bereits zwei Jahre nach der PA zum Gegenstand deskriptivpsychologischer Untersuchungen mit dem Titel »Anschauung und Repräsentation« macht, und er dabei durch Analysen des Zeichenbewußtseins zum Begriff der Intentionalität kommt (vgl. XXII,269–302). Uneigentlich Vorgestelltes bezeichnet Husserl nämlich in diesen Studien von 1893 als »bloß Intendiertes« oder »Repräsentation«, wobei er als Charakteristikum der Repräsentation den mangelnden direkten Anschauungsbezug und ein diesem Mangel »anhaftendes« »Streben nach Verdeutlichung« (XXII,277) des repräsentativ Vermeinten, ja »eine gewisse Intention« (ebd.) ausmacht. Eine Aufhebung des mit der Repräsentation einhergehenden »Gefühls des Mangels« (vgl. XXII,292 f.) wird hier als »Erlösung von der Hemmung« (XXII,296) oder als »Befriedigung« (XXII,297) beschrieben, die durch eine eigentlich anschauliche Gegenwärtigung ermöglicht wird. Es überrascht somit nicht, daß man in diesem frühen, psychologisch orientierten Arbeitstext Husserls schon seine spätere Konzeption von Intention und Erfüllung gewissermaßen in statu nascendi betrachtet hat62. Die Gegebenheitsweise großer Anzahlen im uneigentlichen Vorstellen – so können wir vorerst feststellen – erfolgt indirekt und über Zeichen vermittelt; nicht mehr »eigentlich«, d.h. in direkter Korrelation mit anschaulichen Vielheiten, sind uns große Zahlen zugänglich, sondern eben nur noch sekundär über Zeichen vermittelt. Die Zahlzeichen nehmen dabei eine Stellvertreterrolle für den für uns faktisch nicht mehr selbstgegebenen Gehalt der Zahlen ein, so daß wir es bei großen Zahlen nur noch mit »Surrogaten« zu tun haben. Das symbolische Vorstellen hebt so die durch unsere psychische Verfassung bedingte Beschränkung der eigentlichen Vorstellungsfähigkeit wieder auf, denn die Zeichen ermöglichen einen Gegenstandsbezug auch dort, wo er via Anschauung unmöglich ist. Ist damit aber zugleich behauptet, daß uneigentliches oder symbolisches Vorstellen in sinnvoller Weise auch gänzlich anschauungsfrei möglich ist, daß also der Schlüsselbegriff des Husdieser Unterscheidung zeigt sich in den »Logischen Untersuchungen« nominell schon darin, daß Husserl hier statt »eigentlich« meist »intuitiv«, und statt »symbolisch« oder »uneigentlich« zumeist »signitiv« sagt. Dort wird dann die Wahrheit oder Bedeutsamkeit des bloß signitiv Intendierten durch dessen intuitive Selbstgegenwart erwiesen. Vgl. dazu z.B. XIX/2,722 f. 62 Zur Entwicklung des Husserlschen Intentionalitätsbegriffs ist Rangs Einleitung zu Hua. XXII, S. XLIX–LV sehr instruktiv. Vgl. hierzu auch Hedwig (1979), Münch (1993), 143 ff., Willard (1994), S. XXXVII ff. sowie Schuhmann (1990/91). Daß eine Wurzel des Begriffspaares Intention – Erfüllung in deskriptiv-psychologischen Studien zum Verhältnis von Interesse (Spannung) und Befriedigung (Lösung) liegt, die Husserl zur Klärung des bloß repräsentierenden, also uneigentlichen Vorstellens geschrieben hat, zeigt auch die Beilage V in Hua. XXII (ebd., 411ff., vgl. auch XXIV,443).
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serlschen Denkens in diesem Bereich gar keine Rolle mehr spielt? Eine solche Konsequenz, die die frei vollzogenen Formalisierungen in der Mathematik ohne irgendeine mögliche anschauliche Fundierung hinnehmen müßte, folgt aus der Gegenüberstellung von eigentlichem und uneigentlichem Vorstellen für Husserl keineswegs. Statt dessen fragt Husserl in seiner psychologischen Analyse weiter zurück nach dem Ursprung und der psychischen Genesis der uneigentlichen, symbolischen Zahlvorstellungen. Dabei beabsichtigt er, auch das »eigentliche«, nämlich anschauliche Fundament des symbolischen Vorstellens aufzuweisen. Er will so das sachferne symbolische Vorstellen klären, indem er auf dessen »eigentlichen« Ursprung zurückgeht. Damit soll, um es mittels Husserls späterer Terminologie zu sagen, die intuitive Leere der symbolischen Zahlvorstellungen durch den Rekurs auf eine anschauliche Gegebenheit ihre Sinnerfüllung und Sachbezogenheit erhalten, oder m.a.W. das höherstufige Bewußtsein durch Rückgang auf seine anschaulichen Fundamente geklärt werden. Den psychologischen Ursprung der uneigentlichen, symbolischen Zahlvorstellungen macht Husserl nun in den »sinnlichen Mengen« aus (XII,195). Sinnliche Mengen sind Vielheitsvorstellungen, in denen aus vielen selbständigen Gliedern bestehende komplexe Ganzheiten in einem Blick erfaßt werden. Die Ganzheit – eben die Menge –, die hier unmittelbar auffällt, kann anschließend als aus einzelnen Teilen zusammengefügte analysiert werden; primär ist jedoch der einheitliche Charakter einer Gesamtanschauung. Für solche sinnlichen Mengen gibt es deutliche Beispiele: »Wir treten in einen Saal voll Menschen; ein Blick genügt, und wir urteilen: eine Menge Menschen. Wir schauen zum Sternenhimmel auf, und in einem Blicke urteilen wir: viele Sterne« (XII,196). Derartige Mengenvorstellungen sind die psychologische Voraussetzung uneigentlicher Zahlvorstellungen, wobei zu beachten ist, daß sie selbst keine »eigentlichen« Mengenvorstellungen sind, da solche für Husserl nur dann bestehen, wenn jedes einzelne Glied der Menge im Verbund mit den anderen noch für sich beachtet wird, also eine kollektive Verbindung besteht. Sind die sinnlichen Mengenvorstellungen als psychologischer Ursprung der symbolischen Zahlvorstellungen aufgrund unserer beschränkten psychischen Leisungsfähigkeit aber nur uneigentliche, nicht »wirkliche« Mengenvorstellungen, dann kann Husserls psychische Ursprungsuntersuchung hier nochmals weiter nach dem eigentlichen, also anschaulichen Grund dieser Mengenauffassungen zurückfragen. Die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von sinnlichen Mengenauffassungen, kann nicht mehr so wie bei der kollektiven Verbindung durch eine an vielen Einzelinhalten ausgeübte psychische Verbindungsleistung be-
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antwortet werden, weil hierfür unsere psychische Verfassung zu beschränkt ist. Der Eindruck einer erscheinenden Menge ergibt sich m.a.W. nicht erst auf Grundlage einer Synthesis von ihren anschaulich gegebenen Einzelelementen. Als eine die Anschauung an dieser Stelle dennoch berücksichtigende Lösung des Ursprungsproblems sinnlicher Mengen schlägt Husserl dagegen folgendes vor: »Es müssen in der Anschauung der sinnlichen Menge unmittelbar zu erfassende Anzeichen liegen, an welchen der Mengencharakter erkannt werden kann« (XII,201). Im Blick auf eine sinnliche Menge sollen also anschaulich aufgefaßte Anzeichen liegen, an die sich die Erscheinung einer Menge assoziativ direkt anknüpft. Diese »Anzeichen« oder »Kennzeichen« (ebd.) sind in der Menge liegende sinnliche Momente, die die sofortige Auffassung einer Menge ermöglichen, also deren ursprüngliche Basis sind. Ihrerseits entstehen diese »Anzeichen« durch die Verschmelzung von Mengengliedern und den zwischen diesen bestehenden Relationen zu Konfigurationen oder mengenhaften Gruppierungen. Sprachlich kennzeichnen wir die verschiedenen Formen solcher Mengenphänomene dann beispielsweise als Reihen, Haufen, Ketten oder Schwärme von einzelnen Elementen (vgl. XII,203 f.). Husserl nennt diese durch ursprüngliches, assoziatives Geschehen entstehenden Verschmelzungsphänomene »figurale Momente«. Sie sind der letzte psychische Grund der sinnlichen Mengenvorstellungen und damit auch der symbolischen Zahlvorstellungen. Da diese figuralen Momente für uns fast so wie andere sinnliche Qualitäten in der Anschauung einfach da sind, sie aber doch erst durch Verschmelzung elementarer Gegebenheiten ermöglicht sind, bestimmt er sie auch als »sinnliche Qualitäten zweiter Ordnung« oder als »quasi-qualitative Charaktere« (vgl. XII, 201f.). Sie bilden also das psychologische Fundament für die an sie gebundene Auffassung größerer sinnlicher Mengen, da diese über sie vermittelt erfolgt. Es kann somit festgehalten werden, daß gemäß Husserls »Theorie der uneigentlichen Mengenauffassungen« (XII,212 Anm.) auch das bloß symbolische Zahlvorstellen eine notwendige Voraussetzung im eigentlichen, anschauungserfüllten Vorstellen hat. Wie allerdings dieses ursprüngliche Fundament der höherstufigen, abstrakten Zahlbegriffe im einzelnen bestimmte Zahlen ermöglicht, bleibt in Husserls regessiv psychologischer Ursprungsanalyse eine offene Frage. Grundsätzlich gilt aber, daß auch die komplexen symbolischen Zahlvorstellungen in eigentlichen Vorstellungen ihren psychischen Ursprung haben, so daß auch sie zuletzt ein anschauliches Fundament haben. Diese Einsicht bleibt auch für alle späteren phänomenologischen Arbeiten an der Sinnklärung symbolischer Verfahren und mithin der Logik selbst bestimmend. Deswegen wird jede Analyse höherstufiger Sinnbildun-
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gen stets bis zu den elementaren Vorgängen in der Sinnlichkeit oder im Anschauungsbewußtsein zurückgeführt werden müssen63.
4. Voraussetzung und Weiterentwicklung von Husserls Theorie der figuralen Momente Husserls Problem in der PA war, wie uns die Bildung höherer Zahlen psychisch gelingen kann, wenn wir ihr anschauliches Fundament – eine Vielheit von Einheiten – doch gar nicht mehr in voller Konkretion anschaulich erfassen können. Zur Problemlösung analysierte er unsere Anschauungen von größeren erscheinenden Mengen regressiv auf ihre psychologische Basis hin und stellte fest, daß in solchen Erscheinungen figurale Momente als QuasiQualitäten die Mengenauffassung fundieren. Die figuralen Momente gehen ihrerseits auf sich bei uns unmittelbar einstellende Verschmelzungen von Einzelelementen zurück. Diese Lösung des Problems muß im Kontext der Arbeiten aus der Brentanoschule gesehen werden, von denen Husserl hier namentlich Carl Stumpf (1848–1936) entscheidende Hilfe verdankt, weil er auf dessen Verschmelzungsbegriff zurückgreifen kann. Da Stumpf darüber hinaus auf den Werdegang von Husserls Denken neben Brentano mit am meisten Einfluß hatte, lohnt es, an dieser Stelle kurz auf ihn einzugehen. Carl Stumpf war sowohl der älteste Schüler Brentanos als auch derjenige, der auf akademischem Feld die steilste Karriere machte. Er war bereits mit 25 Jahren Professor in Würzburg, wurde später nacheinander an die Universitäten Prag, Halle und München sowie schließlich nach Berlin berufen, wo er durch seine Lehrtätigkeit zum wohl einflußreichsten Psychologen für eine phänomenologische Psychologie im weiteren Sinne wurde64. Zeitlebens 63
Noch Husserls spätere Arbeiten zur genetischen Logik sind von der Überzeugung geleitet, daß die letzten Grundlagen der Logik im Bereich der Sinnlichkeit liegen, so daß dieser Bereich mit in das Untersuchungsgebiet einer philosophischen Analyse der Grundlagen der Logik gehört. Vgl. hierzu exemplarisch XI,319 Anm.: »Die Wahrnehmung und ihre parallelen Bewußtseinsweisen der Anschauung sind aber die ersten Grundgestalten des Bewußtseins, die für den Aufbau des spezifisch logischen Bewußtseins in Frage kommen, sie sind erste Grundlagen im logischen Bau, die gelegt und verstanden werden müssen.« Auch hier erfolgt die Klärung des hochstufigen logischen Bewußtseins durch den Rückgang auf dessen anschauliche Fundierung. 64 Vgl. Spiegelberg (1982), 51–62, ders. (1972), 5 f., Herzog (1992), 82–86 sowie Schuhmann (1996). Zu den Schülern und Mitarbeitern von Stumpf gehörten eine Generation deutscher Psychologen, u.a. Wolfgang Köhler, Max Wertheimer, Kurt Koffka, Kurt Lewin – die sogenannte »Berliner Schule«, aus der im wesentlichen die Gestaltpsychologie hervorging.
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stand er in Verbindung zu Brentano65 und anderen prominenten Wissenschaftlern seiner Zeit, wobei er zu wissenschaftlichen und weltanschaulichen Strömungen häufig Stellung bezog66. Dabei war er nicht nur ein Pionier der neuen Experimentalpsychologie in Deutschland, sondern zugleich auch Phänomenologe. Zwar spricht er terminologisch von der Phänomenologie erst nach 1905, doch begriff er seine bedeutende Arbeit »Über den Ursprung der Raumvorstellung« (1873) rückblickend auch als phänomenologische Vorarbeit für weitergehende psychologische Erklärungen67. »Phänomenologie« ist für ihn dabei eine deskriptive Wissenschaft von den »Erscheinungen«, welche er ihrerseits von den psychischen »Funktionen« – gewissermaßen den Akten – unterschied. Diese Funktionen gehen stets mit den Erscheinungen einher und machen bei Stumpf das eigentliche Forschungsgebiet der Psychologie aus. Für die Untersuchung der Erscheinungen etablierte Stumpf dagegen die Phänomenologie als eine jeder weiteren wissenschaftlichen Analyse vorangehende »Vorwissenschaft«. Diese stellt eine unentbehrliche Grundlage der Wissenschaften vom Geistigen und Physischen dar, da das Feld der Phänomene oder Erscheinungen noch vor dieser Unterscheidung liegt und sich zu ihr neutral verhält68. In diesem Sinne liegt Stumpfs neutrale Vorwissenschaft der Erscheinungen (Phänomenologie) vor allen Einzelwissenschaften und auch diesseits von Brentanos Klassifikation der Phänomene. Zwar kritisiert Husserl Stumpfs Phänomenologiebegriff in den »Ideen 69 I« , doch geschieht dies zu einem Zeitpunkt, an dem er sich längst aus der Brentanoschule herausgelöst hat. Das ist hingegen zur Zeit der PA ganz und gar nicht der Fall: Husserl hat seine Habilitation 1887 auf Anraten von Brentano bei Carl Stumpf in Halle geschrieben und stand anschließend in engem Kontakt zu seinem Hallenser Kollegen. Er hörte Stumpfs Logik- und Psychologievorlesung, in denen er wichtige Impulse für seine eigene Arbeit 65
Vgl. Stumpf (1919). Vgl. Kaiser-El-Safti (1997); ihr Beitrag liefert einen ersten Versuch zur Entflechtung der unübersichtlichen Diskussionslinien zwischen den Stumpfs Psychologie steht. 67 Vgl. Spiegelberg (1982), 54. 68 Vgl. hierzu Stumpf (1906) sowie zu Stumpfs Phänomenologiebegriff auch Rath (1994), 210 ff. 69 Vgl. III/1,199. Husserl kommentiert hier Stumpfs Unterscheidung von Funktionen und Erscheinungen sowie dessen Phänomenologiebegriff. Er unterscheidet ihn von seiner eigenen, auch die Akte mitumfassenden transzendentalen Phänomenologie und bestimmt darin Stumpfs Phänomenologie als eine psychologische Hyletik. Stumpf seinerseits reagiert auf die »Ideen I« mit Unverständnis, wegen deren Konzept einer »reinen« und »transzendentalen« Phänomenologie. Das Verhältnis von Husserl und Stumpf ist erstmals sehr umsichtig bei Rollinger (1999), 83–123 dargestellt. 66
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erhielt70. Wie eng Husserl in seiner Hallenser Zeit mit Stumpf verbunden war, deutet sich bereits darin an, daß er ihm seine »Logischen Untersuchungen« »in Verehrung und Freundschaft« gewidmet hat. Der sachliche Einfluß von Stumpfs Arbeiten auf Husserl zeigt sich nun deutlich in Husserls Lösung des Problems der Zahlbereichserweiterung bei der Erklärung der Mengenauffassung. Hier erhielt Husserl entscheidende Anregungen für seine Theorie der figuralen Momente von den psychologischen Studien seines Lehrers. Stumpf hatte Verschmelzungsphänomene als fundamentale Assoziationsformen im Rahmen seiner »Tonpsychologie« (1883 u. 1890) untersucht. Darin hatte er festgestellt, daß Tonverschmelzungen durch Einheitsbildungen zwischen Einzelempfindungen – den sog. »primären Inhalten« – zustande kommen und hierfür nicht etwa Aufmerksamkeitsleistungen oder Verschmelzungen von Akten die Grundlage seien, wie Herbart dies behauptet hatte71. Die Verschmelzung der einzelnen Elemente hat – wie bereits Stumpf betonte – keine bloße Summierung derselben zur Folge, sondern stiftet neuartige Ganzheiten, die auf ihre Teile nicht reduzierbar sind. Es verhält sich mit ihnen hier also ebenso wie mit Husserls quasiqualitativen Momenten, die die sich über den Einzelgliedern erhebende Mengenauffassung ermöglichen. Husserl selbst weist denn auch darauf hin, daß die Stumpfschen Untersuchungen der Verschmelzung zu seiner Theorie der figuralen Momente »das genaue Analogon« bilden72: So wie Stumpf in seiner »Tonpsychologie« den einheitlichen akustischen Eindruck von Harmonien wie Akkorden oder Melodiesequenzen psychologisch durch die Verschmelzung von Einzeltönen zu neuen Ganzheiten erklärt, so erklärt Husserl die sinnliche Mengenauffassung bei visuellen Erscheinungen wie Schwärmen oder Haufen ebenfalls durch die unmittelbare Verschmelzung ihrer Einzelelemente73. 70
So forderte Stumpf beispielsweise von der Psychologie »die Untersuchung des Ursprungs der Begriffe«, also genau das, was Husserl in seiner Habilitationsschrift praktizierte. Vgl. Carl Stumpf: Psychologie und Erkenntnistheorie, München 1892, 501, zitiert nach Rath (1994), 203. Husserl hat aus der Zeit seiner Habilitation bei Stumpf von dessen Psychologievorlesungen in Halle (Wintersemester 1886/87) übrigens umfangreiche Mitschriften hinterlassen, die sich im Leuvener Husserl-Archiv unter der Signatur Q 11 finden. 71 Vgl. Holenstein (1972), 118 ff. Neben den Beziehungen die zwischen Husserls und Stumpfs Begriff der Verschmelzung bestehen, hebt Holenstein hier auch dessen Verwendung bei Herbart und Wundt hervor. 72 XII,206. Vgl. auch die LU III »Zur Lehre von den Ganzen und den Teilen«, §§ 8–9, worin Husserl sich erneut sehr eng an Stumpf orientiert. 73 Zu den zwischen Husserl und Stumpf gleichwohl bestehenden Differenzen bei der Verwendung des Verschmelzungsbegriffs vgl. Holenstein (1972), 124 und Rollinger (1999), 108 f.
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Wie sehr Husserls eigene Forschungen zur Mathematik in der Psychologie seiner Zeit verwurzelt sind, belegt außerdem, daß Husserl auf die sachliche Nähe seiner Theorie der figuralen Momente zu dem frühen gestaltpsychologischen Aufsatz von Christian von Ehrenfels »Über Gestaltqualitäten« (1890) hinweist. Dieser einflußreiche Aufsatz war Anlaß für eine Vielzahl von Arbeiten, die sich gegen den damals verbreiteten elementenpsychologischen Forschungsansatz und die Konstanzannahme richteten74. Zu der Tatsache, daß in diesen Diskussionen zwischen den sog. Elementenpsychologen und den ersten Gestalttheoretikern Husserls psychologische Untersuchungen aus der PA kaum Berücksichtigung fanden, obwohl sie doch in sachlicher Hinsicht ganz in diesen Kreis gehören, äußert Husserl noch später sein Bedauern75. An seiner Theorie der figuralen Momente hält er nämlich auch noch fest, als er im Rahmen der transzendentalen Phänomenologie eine ganz andere Einstellung zu den Ergebnissen seiner frühen psychologischen Ursprungsanalysen gewonnen hat. Sie werden dann in modifizierter und transformierter Weise in transzendentaler Perspektive betrachtet. Verschmelzungen, wie sie sich etwa bei der Wahrnehmung von entfernt gelegenen, regelmäßig angeordneten Lichtern als Lichterketten ereignen, werden dann in radikalisierter Form als im ursprünglichen Zeitbewußtsein verlaufende »passive Synthesen« analysiert76. Derartige im bloßen Anschauungsbewußtsein stattfindende elementare Einheitsbildungen als Fundament höherstufiger Sinnstiftungen, spielen für Husserl eine zentrale Rolle bei der Aufklärung der ursprünglichen, vorprädikativen Basis von Logik und Mathematik. Daher kann Husserl in seiner späteren Analyse höherstufiger, kategorialer Gegenständlichkeiten in »Formale und Transzendentale Logik« (1927) daran erinnern, daß seine erste Beschäftigung hiermit schon bei der psychologischen Ursprungsklärung symbolischer Mengenauffassungen erfolgte (vgl. XVII,90 f.). Es kann mithin festgestellt werden, daß Husserls psychologische Ursprungsanalyse großer, nur symbolisch vorgestellter Zahlen keineswegs ein 74
Vgl. XII,210 f. Anm. Als mögliche gemeinsame Wurzel der unabhängig voneinander entstandenen ähnlichen Entdeckungen der figuralen Momente Husserls und der Gestaltqualitäten Ehrenfels’ vermutet Husserl Ernst Machs »Beiträge zur Analyse der Empfindung« (1886). Vgl. dazu auch Holenstein (1972), 278 f. sowie Hua. Dok. I,15. Anzumerken ist dabei auch, daß Ehrenfels ebenso wie Husserl Schüler von Brentano war und im übrigen im Umkreis der Brentanoschule die Frage nach der psychischen Fundierung von komplexen Ganzheiten auch von A. Meinong und A. Höfler diskutiert wurde. 75 Vgl. LU III, § 23 Anm. zur zweiten Auflage (1913); XIX/2,689 f. sowie XX/1,295. Zum Verhältnis Husserls zur Gestaltpsychologie vgl. Holenstein (1972), 277 ff. 76 Vgl. XI,154, 160 f. und 399 sowie »Erfahrung und Urteil«, 76 ff.
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später gänzlich zurückgelassenes Theoriestück darstellt. Vielmehr werden Ergebnisse aus Husserls psychologisch orientiertem Frühwerk später transzendentalphänomenologisch transformiert bzw. neugedeutet, so daß die frühen Theoriestücke noch den Gehalt der transzendentalen Phänomenologie mitbestimmen77. Deswegen ist es Husserl selbst im Spätwerk immer wieder möglich, auf die psychologischen Untersuchungen der PA zurückzugreifen. Fassen wir darum Husserls psychologische Theorie des Ursprungs symbolischer Zahlvorstellungen nochmals kurz zusammen.
5. Zusammenfassung Nach »Über den Begriff der Zahl« ergibt sich für Husserl in der PA die Aufgabe, auch den Ursprung großer Zahlen zu untersuchen, um so den gesamten Bereich der natürlichen Zahlen als Gegenstandsgebiet der Anzahlenarithmetik psychologisch aufzuklären. Den Ansatz zur Lösung dieser Aufgabe findet Husserl in Brentanos Einteilung des Vorstellens in »eigentliches« und »uneigentliches« oder »symbolisches«. Im Gegensatz zu den niedrigen Zahlen werden große Zahlen nämlich nicht auf der Basis der kollektiven Verbindung bzw. des direkt anschauungserfüllten, »eigentlichen« Vorstellens gewonnen, in dem Husserl in seiner Habilitationsschrift den psychologischen Ursprung der Zahlen ausmacht. Sie müssen einen anderen psychologischen Ursprung haben, da unsere psychische Fähigkeit angesichts von Mengen mit sehr vielen Elementen damit überfordert ist, diese Elemente einzeln als gesonderte aufzufassen und sie in einer anschaulichen Einheit zu verbinden. Statt dessen sind große Zahlen nur noch indirekt über symbolische Vermittlung, also »uneigentlich« vorstellbar, d.h., die Gehalte dieser Zahlbegriffe, also die umfangreichen Vielheiten, lassen sich nur über Zahlzeichen vermittelt repräsentieren. Die symbolisch vorgestellten Zahlbegriffe bezieht Husserl aber ihrerseits zurück auf ihre anschaulichen Fundamente, nämlich die »sinnlichen Mengen«, die der Begriffsbildung als anschauliche Basis vorausgehen. Auch diese Voraussetzung der Zahlbegriffe untersucht Husserl weiter, wobei er ihren letzten psychologischen Ermöglichungsgrund bestimmt. Dieser liegt in Verschmelzungsphänomenen, die 77
In diesem Sinne meinen auch Bernet, Kern, Marbach (1989), 12, »daß die PA trotz unleugbarer Mängel entscheidende Ergebnisse nicht nur der »Logischen Untersuchungen«, sondern auch der späteren Werke von Husserl vorwegnimmt. […] Auch wenn sich Husserl später von der PA distanziert, so betrifft dies im wesentlichen bloß das darin wirksame methodologische Selbstverständnis der subjektiv gerichteten Aufklärung der Arithmetik, nicht aber deren Ergebnisse.«
Von der Anzahlenarithmetik zur Logik
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Husserl als »figurale Momente« bezeichnet. Sie stellen sich in der Sinnlichkeit unmittelbar assoziativ ein und ermöglichen so zuletzt die Auffassung sinnlicher Mengen. In Hinsicht auf die Entwicklung der Theorie der figuralen Momente ist zum einen bemerkenswert, daß Husserl zu ihr ein Analogon in den tonpsychologischen Untersuchungen seines Lehrers Carl Stumpf vorfand. Außerdem kann festgehalten werden, daß sich Gehalte von Husserls psychologischer Theorie der figuralen Momente noch in seinen späten Untersuchungen vorprädikativer Wahrnehmung finden, wobei sie dann allerdings nicht mehr in psychologischer, sondern in einer radikalisierten transzendentalen Perspektive thematisiert werden. Als sich in urassoziativer Weise in der Sinnlichkeit vollziehende einheitsbildende Prozesse gelten sie ihm auch dort als elementare Fundamente höherstufiger Sinngebilde, wie etwa mathematischer oder logischer Abstrakta.
C. Von der Anzahlenarithmetik zur Logik 1. Das Interesse an der Logik der Mathematik Mit dem Aufweis des anschaulichen Fundaments großer, nur symbolisch vorstellbarer Zahlen in sinnlichen Mengenvorstellungen bzw. zuletzt in den gestaltpsychologischen figuralen Momenten hat Husserl auch eine psychologische Analyse großer Anzahlen geleistet und damit das gesamte Gebiet der Anzahlen auf seinen psychologischen Ursprung hin untersucht. Die PA führt damit das in der Habilitationsschrift begonnene Programm der psychologischen Ursprungserforschung von Zahlbegriffen von den eigentlich vorgestellten zu den symbolischen hin weiter. Indem Husserl auf diese Weise die Grundbegriffe der Mathematik mittels psychologischer Methoden klären will, zeigt sich in der PA erneut seine Anerkennung der Psychologie als Grundlagenwissenschaft und mithin die methodische Verwurzelung seiner Frühphase in der Psychologie seiner Zeit. Allerdings deutet sich in diesem Werk schon stärker als zuvor Husserls Interesse an der »Logik« der Arithmetik an, denn er kündigt mit seinem Werk »eine logische Aufklärung ihrer symbolischen Methoden« an (XII, 287). In der Arithmetik wird mit Symbolen umgegangen, da sie ohne Zahlbzw. Operationszeichen gänzlich unmöglich wäre. Bei der beabsichtigten Aufklärung dieser Symbolverwendung stößt Husserl nun offensichtlich an die methodischen Grenzen der psychologischen Ursprungsforschung. Husserl will mit seinem Werk nämlich einen von ihm wiederholt beklagten Man-
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gel der zeitgenössischen Logik beheben. Diesen sieht er darin, daß die Logik zwar ständig mit Symbolen umgehe, sie dabei aber gar kein tieferes Verständnis symbolischer Methoden bzw. der Symbolverwendung habe, so daß gar keine letzte Klarheit über die Logik der Arithmetik besteht78. Husserls Interesse an der Arithmetik führt daher dazu, daß er durch Fragen nach den Bedingungen der Zeichenverwendung auch grundlegende Probleme der Logik thematisieren muß79. Mit diesem thematischen Interesse an der Logik sind die methodischen Grenzen seiner psychologischen Forschung in der PA jedoch nicht sogleich deutlich. Zwar betont Husserl, daß seine Theorien der figuralen Momente und der sinnlichen Mengenauffassung nur den psychologischen Gehalt der Zahlvorstellung, aber »nicht ihren logischen Gehalt betreffen«80; er unterscheidet auch die psychologische Ursprungsanalyse von Phänomenen von deren Bedeutungsanalyse, aber es wird noch nicht recht klar, in welchem Sinne er von »logischer Aufklärung«, »logischer Bedeutung«, oder überhaupt »Logik« spricht. Fragen wir daher, was Husserl in seiner Frühphase unter »Logik« eigentlich versteht: Zunächst fällt auf, daß die Logik für Husserl zu Anfang der neunziger Jahre keine per se von der Psychologie unabhängige Disziplin ist, sondern in ihren Methoden selbst von dieser her aufgeklärt werden soll (vgl. XXI,263, 302 f.). Das liegt daran, daß Husserl in der Logik im wesentlichen eine praktische Disziplin sieht, die zum richtigen Denken führende Verfahren lehren soll (vgl. XII,291; XXI,229, 248). Logik ist für ihn, wie für seine Lehrer Stumpf und Brentano, eine Kunstlehre; sie ist die »Kunstlehre des richtigen Urteilens«81. Bei Brentano hatte Husserl in Wien die Logikvorlesung gehört, in der Brentano seine Auffassung von der Logik als einer Kunstlehre 78
Vgl. XII,6, 190, 257, 287; XXII,394 Wie wichtig Husserls frühe Studien zur Zeichentheorie darüber hinaus auch zur Formierung seines Intentionalitätskonzepts sind, betonen Rang (1976) und Münch (1993), 152 ff., 218 ff. 80 XII,218, vgl. 217, 31. Bereits in der Habilitationsschrift ist Husserl klar, daß eine psychologische Beschreibung von Phänomenen nicht deren Bedeutungsanalyse ersetzen kann; er hatte in den bloß »psychologischen Analysen« dieser Schrift daraus jedoch keinerlei Konsequenzen gezogen. Vgl. XII,309. 81 XII,291 und Brentano: Die Lehre vom richtigen Urteil (1956), §§ 1–3, sowie C. Stumpf: »Unter der Logik verstehen wir die praktische Erkenntnislehre oder die Anweisung zum richtigen Urteilen. Zur Philosophie wird sie gerechnet, weil sie ihre Voraussetzungen zum größten Teile einer philosophischen Wissenschaft, der Psychologie, entnimmt.« (Stumpf: Logik-Diktate 1888, Husserl-Archiv-Signatur Q 13, S. 1, zitiert nach Holenstein: Einleitung des Herausgebers zu Hua. XVIII, S. XVIII.) Stumpfs Logik-Diktat ist in einer englischen Übersetzung von Rollinger zugänglich. Vgl. Rollinger (1999), 311–337. 79
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vorgetragen hatte. Ein Ziel der Logik sah Brentano in der Aufstellung von Regeln und Hilfsmitteln zum Zweck des richtigen Urteilens82. Logik ist hier also als Methodologie von Wissenschaften viel mehr als eine bloß formale Logik. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, wenn Husserl – im Gefolge dieses praktisch ausgerichteten Logikverständnis seiner Lehrer – in seine eigene »logische Aufklärung« symbolischer Methoden auch denkökonomische Gesichtspunkte als logisch relevante aufnimmt, obwohl diese einen psychologischen Charakter haben. Diese Auffassung von einer in der Psychologie fundierten Logik als technisch-praktischer Kunstlehre ist mithin keinesfalls geeignet, der Psychologie ihren Status als Grundlagenwissenschaft streitig zu machen, sondern genau den Einwänden ausgesetzt, die Husserl später in den »Prolegomena zu einer reinen Logik« (1900) selbstkritisch gegen den »logischen Psychologismus« vorbringen wird. Dennoch liegt in Husserls Interesse an der »Logik« der Arithmetik ein Ansatzpunkt für seine spätere Zurückweisung der Stellung der Psychologie als Grundlagenwissenschaft. Immerhin geht es nämlich in der Logik als Kunstlehre um »richtiges« Urteilen und Schließen. Logik befaßt sich mit Regeln, deren Befolgung zur wahren Erkenntnis leiten; sie muß somit auch Probleme erkenntnistheoretischer Rechtfertigung behandeln, die in der Psychologie offen bleiben. Diese Fragen nach Geltungsvoraussetzungen von Begriffen und Symbolverwendungen in der Arithmetik sind es aber, die Husserl in der PA auch stellt und in dieser Hinsicht sucht er mit der »logischen Klärung« der Arithmetik »logische Rechtfertigung«. Da das ursprungserforschende psychologische Rückfragen nach anschaulichen Fundierungsbeziehungen von Begriffen im allgemeinen und Zahlbegriffen im besonderen keine im strikten Sinne begründenden Resultate erzielt, weist das Husserlsche Interesse an der Logik im Sinne der logischen Rechtfertigung in der PA also über die Psychologie hinaus. Diese zur Logik gehörenden Begründungsund Rechtfertigungsfragen motivieren später auch Husserls Kritik an der Logikauffassung seiner Lehrer Brentano und Stumpf, die die Logik ausschließlich als praktisch orientierte Kunstlehre verstehen. Zuletzt ist es hier wieder die Frage der Objektivität oder Begründung, die Husserl mit seiner deskriptiv-psychologischen Ursprungsforschung nicht in den Griff bekommt und für ihn ein Anlaß für die im Titel angekündigte »Logische Untersuchungen« der Fundamente der Arithmetik ist. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß sich aus der »doppelten Hinsicht« (XII,287) der Betrachtung der Fundamente der Arithmetik – der psy-
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Vgl. Brentano (1956), 17 f. und auch de Boer (1978), 91 ff.
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chologischen und der logischen – in Husserls Denken Spannungen ergeben, die schließlich zu einem Wandel seines ursprünglichen Psychologieverständnisses führen werden. Im folgenden soll dieser thematisch von mathematischen Fragen ausgehende Wandel in concreto untersucht werden. Dabei sind es zunächst die speziell mathematischen Probleme der Zahlzeichenverwendung und des Sinns arithmetischer Operationen, die den Wandel veranlassen. Allgemein gesagt, gilt nämlich auch hier, daß Husserls Entwicklung von der psychologischen zur phänomenologischen Methode von konkreten Sachfragen gefordert wird – die Methode ihren Gegenständen also nicht äußerlich ist. Greifen wir darum zuerst nochmals das bisherige Ergebnis der psychologischen Ursprungserklärung der Zahlbegriffe auf:
2. Die Logik der Zeichenverwendung Husserl ist in der PA zu der Einsicht gekommen, daß Mengenvorstellungen die psychologische Voraussetzung der nicht mehr »eigentlich« vorstellbaren Zahlbegriffe bilden. Als Vielheiten von Einheiten sind große Zahlen nicht mehr wie eigentliche Zahlbegriffe in konkreten Vielheiten, sondern in sinnlichen Mengenauffassungen fundiert. Grundsätzlich kann aber angesichts jeder Vielheit ein ihr zukommender Zahlbegriff gewonnen werden, der die genaue Anzahl der Einheiten einer Vielheit bestimmt: »Die Zahlen sind die unterschiedenen Spezies des allgemeinen Begriffs der Vielheit. Jeder konkreten Vielheit entspricht, möge sie nun eigentlich oder symbolisch vorgestellt sein, eine bestimmte Vielheit von Einheiten, eine Anzahl« (XII,222). Die Erklärung eben dieser Korrelation von Zahlbegriff und Menge verbleibt nach dem bisher Dargestellten aber noch in einer »vagen Allgemeinheit« (XII, 223), wenn lediglich festgestellt wird, daß sinnliche Mengenauffassungen als ganz unspezifische Vielheitsanschauungen die Begriffsbildung der Zahlen psychologisch fundieren. Das Problem, das die bisher dargestellte psychologische Analyse nicht mehr lösen kann, besteht nun darin, statt des allgemeinen Korrelationsverhältnisses von Vielheit und Zahl, die Bedingungen anzugeben, die die konkrete Zahlverwendung in einzelnen rechtfertigen. Jeder Zahl entspricht nämlich jeweils eine ganz bestimmte Vielheit und nicht eine allgemein und unspezifisch sinnlich erscheinende Vielheit überhaupt. Zwar kann bereits die grundsätzliche Korrelation der Mannigfaltigkeit der Zahlzeichen mit einer Mannigfaltigkeit von Mengen festgehalten werden, jedoch bedarf es für die Zwecke des Rechnens und Zählens der exakten Bestimmung des je spezifischen Gehalts eines Zahlzeichens, da nur so ein gesicherter Umgang mit der mittels der Zeichen symbolisierten Mengenmannigfaltigkeit
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gewährleistet ist. Dieser gesicherte Umgang mit umfänglichen Vielheiten ist aber auf sinnliche Weise nicht mehr möglich, da wir große Mengen anschaulich nicht mehr genau voneinander unterscheiden können (z. B. eine Menge von 83 Elementen von einer ähnlichen mit 88). Sinnliche Mengen sind als Korrelate genau bestimmter Zahlbegriffe deshalb für uns zu unspezifisch; sie können wegen der psychisch begrenzten Kapazität unseres Anschauungsvermögens nicht exakt genug bestimmt werden. Zur Lösung dieses Problems der genauen Repräsentation von Mengenumfängen durch die Zahlen, trägt nun Husserls Theorie der Logik der Zeichen bei, wonach Zeichen im wesentlichen eine Stellvertreterfunktion haben. So fungieren Zahlzeichen als »Stellvertreter« oder »Surrogate« für die von uns auf eigentliche Weise nicht mehr exakt vorstellbaren Vielheiten. Diese Funktion können sie aber nur dann erfüllen, wenn jedem spezifischen Zeichen auf eindeutige Weise jeweils genau eine Klasse von Vielheiten oder Mengen gleichen Umfangs zugeordnet ist, die das Zeichen dann bezeichnet. Umfangreiche Mengen, die für uns als faktisch beschränkte Wesen nicht mehr ohne erheblichen technischen Aufwand exakt bestimmbar sind, können so durch symbolische Repräsentanten – die Zahlzeichen – vertreten werden, so daß damit ein Umgang mit ihnen möglich wird. Diese Funktion der Zahlzeichen ist ein Spezialfall in Husserls früher Theorie der Zeichenverwendung überhaupt: Zeichen ersparen uns danach den »eigentlichen« Umgang mit dem Repräsentierten und befähigen uns durch dessen zeichenhafte Ersetzung zu geistigen Leistungen, die direkt, d.h. »in eigentlicher Erkenntnisarbeit«, für uns nie möglich wären (XII,349 f.). Die Zeichen sind somit große »Hilfsmittel«, weil ihre Verwendung einen »Bequemlichkeitsersatz«, eine »Entlastung« des eigentlichen Denkens bedeutet, wodurch wir zu höheren, abstrakteren psychischen Tätigkeiten erst befähigt werden (XII,351f., vgl. 240). Zeichen als Surrogate des nicht mehr anschaulich Vorstellbaren vertreten also die anschauungserfüllten eigentlichen Begriffe; sie stellen eine »Krücke« (XII,224) dar, die uns die Erweiterung unseres anschaulichen Erkennens ermöglicht. Im Gebiet der Arithmetik ersetzen und vertreten Zahlzeichen eigentliche, aber eben als solche für uns nicht mehr vorstellbare Vielheiten, die der begriffliche Gehalt der Zahlzeichen sind. Diese Ersetzung der eigentlichen Zahlvorstellungen durch Zahlzeichen bestimmt in entscheidender Weise den Charakter der Arithmetik, ja ermöglicht erst deren Entwicklung, da sie sich erst mit der Ausdifferenzierung der Symbolverwendung bei gleichzeitiger Ablösung von den eigentlichen, begrifflichen Methoden ergibt. Die Surrogatfunktion ist den Zeichen auch ohne explizites Bewußtsein von ihr eigen, da die Zeichenverwendung zumeist ohne Einsicht in ihre
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Grundlagen vollzogen wird83. In psychologischer Hinsicht sind diese Grundlagen der Zeichenverwendung unbemerkt geschehende Prozesse, die eine Untersuchung der Grundlagen der Arithmetik natürlich ans Licht bringen muß. Gerade weil symbolische Methoden für die Arithmetik nämlich konstitutiv sind, hält Husserl die Aufklärung ihrer Logik für dringend notwendig, zumal er in der fehlenden Beachtung dieses Umstands den Mangel der Logik seiner Zeit sieht84. Genau diesen Mangel sollen seine Untersuchungen zur Aufklärung der »Logik der Zeichen« beheben. Die Aufgabe der »Logik« ist dabei vielschichtig, denn sie wird zum einen psychologische und entwicklungsgeschichtliche Gesichtpunkte berücksichtigen, muß aber zum anderen auch die begründungstheoretischen Fragen nach der Rechtmäßigkeit des Zeichengebrauchs und seiner Surrogatfunktion beantworten. So ist Husserls Logik der Zeichen einerseits ganz psychologisch orientiert, da sie von Gesetzen der Denkökonomie bestimmt ist. In der denkökonomischen Funktion, durch die Husserl die Zeichen und ihre Verwendung charakterisiert, liegt auch der Grund dafür, daß sich ein ausdifferenziertes Zeichensystem überhaupt bilden und entwickeln konnte, denn durch die Entlastung des eigentlichen Denkens wird vermittels der Zeichen »eine enorme Erweiterung der intellektuellen Leistungsfähigkeit überhaupt« möglich (XII,240, vgl. 349 f.), die nicht nur in den Wissenschaften, sondern im Leben insgesamt, zu Erleichterungen führt. Husserl geht in der Abhandlung »Zur Logik der Zeichen (Semiotik)« (1890) soweit, die Entstehung der Zeichen und Zeichensysteme auf »naturwüchsige mechanische Prozesse« (XII, 361f.) oder »blinde psychologische Gesetze« (XII,357) zurückzuführen. Daß sich die bestehenden Zeichensysteme im Laufe der Zeit herausgebildet haben, ist Ergebnis einer »Art natürlicher Auslese« mit Darwinistischem Charakter (XII,371, vgl. Hua. Mat. III,235), wobei die Zweckmäßigkeit im Sinne der Denkökonomie das leitende Prinzip der Entwicklung ist85. Mit diesen psychologisch-genetischen Überlegungen, die der »Naturwüchsig83
Die nach psychologischen Mechanismen unbemerkt, aber richtig ablaufenden Prozesse der Zeichenverwendung bezeichnet Husserl als »vorlogisch« (vgl. XII, 369–373). 84 Vgl. XII,6, 190, 257, 287; XXI,11; XXII,394 85 Die denkökonomische Funktion der Zeichen, also ihre Eignung zur Abkürzung von Denkleistungen, wurde seinerzeit vor allem von Ernst Mach betont, dessen Werke Husserl kannte und schätzte. Mit Ernst Machs und Richard Avenarius’ Prinzip der Denkökonomie setzt Husserl sich ausdrücklich aber erst 1900 im 9. Kapitel des ersten Bandes der »Logischen Untersuchungen« auseinander, wobei er den Wert des Prinzips für die Einzelwissenschaften lobend hervorhebt, aber zugleich seine Bedeutungslosigkeit in Begründungsfragen betont. Vgl. hierzu auch Düsing (1972), Kusch (1994), 73 f. sowie ders. (1995), 87 f.
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keit« in der Entstehung von Zeichen und Zeichensystemen nachgehen, argumentiert Husserl ganz und gar naturalistisch. Unabhängig von diesen psychologischen Bedingungen stellt Husserl aber andererseits in der Abhandlung »Zur Logik der Zeichen« auch die Frage nach der Rechtfertigung und der Wahrheit des Umgangs mit Zeichen86. Geklärt werden muß nämlich, mit welchem Recht ein Zeichen überhaupt einen anschauungserfüllten Umgang mit dem von ihm Bezeichneten ersetzen kann. In diesem Sinne weist nun die Frage nach der Logik der Zeichenverwendung über psychologisch orientierte Überlegungen hinaus, denn eine triftige Begründung wird von Untersuchung zur psychologischen Genesis nicht geleistet. Damit eine begründete, und von daher ja auch erst zweckmäßige Ersatzfunktion der Zahlzeichen gewährleistet ist, müssen vielmehr die Zuordnungsbeziehungen zwischen den Zahlzeichen und dem von ihnen Bezeichnetem als ihrem Gehalt, der von Husserl »Zahlbegriff« oder »wirkliche Zahl« genannt wird, eindeutig geregelt sein. Nur dann kann nämlich die Rechtmäßigkeit der Ersetzung der wirklichen Zahlen durch Zeichen als begründet gelten. Husserl löst diese Aufgabe, indem er die systematische Benennung und Bildung der Zahlzeichen mit der Bestimmung der Klassen umfangsgleicher Vielheiten gedanklich verkoppelt: So wie die Zahlen in der natürlichen Zahlenreihe hintereinander jeweils durch verschieden lange Additionen von Einsen geordnet sind, lassen sich auch die Vielheitsklassen durch jeweils unterschiedlich lange Verkettungen von Und-Verbindungen charakterisieren und ordnen. Beide Korrelate in der Bezeichnungsfunktion unterliegen hierbei dem gleichen Ordnungsprinzip, so daß die Reihe der Zahlzeichen genau einher geht mit der Ordnung der ihnen zugeordneten »wirklichen Zahlen« als den Gehalten der Zahlzeichen. Genau genommen geht die systematische Bildung der Reihe der Zahlzeichen von einer eigentlich vorstellbaren Zahl aus, zu der durch wiederholte Addition von jeweils einer Eins neue Zeichen definiert und eingeführt werden (vgl. XII,226 f.). Dieses übersichtliche Verfahren erfüllt die für die Arithmetik zentralen Kriterien der regelhaften Eindeutigkeit und prinzipiell unbegrenzten Fortsetzbarkeit, wodurch es zur Bildung und Definition der natürlichen Zahlenreihe führt. Korrelativ zur Zahlzeichenbenennung ist eine Ordnung der Mengen – dem begrifflichen Gehalt der Zahlzeichen – in genau entsprechender Weise möglich, indem von den 86
XII,358: »[…] an der Aufklärung des psychologischen Tatbestandes dürfen wir es
uns nicht genügen lassen. Bei den Urteilen kommt ein Gesichtspunkt in Betracht, der bei den Vorstellungen fehlt, nämlich die Doppelfrage nach der Berechtigung und nach der Wahrheit.« Vgl. XII,360; Hua. Mat. I,247; Hua. Mat. II,41f.
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eigentlichen Mengen – den kollektiven Verbindungen – ausgehend neue Mengen schrittweise durch Hinzufügung von jeweils einer Einheit gebildet werden. Zwar können wir aufgrund faktischer Beschränkungen diese Mengenbildung nicht wirklich sehr weit führen, aber unter idealisierendem Absehen von unseren beschränkten Fähigkeiten erhalten wir im symbolischen Sinne so doch exakt bestimmte Begriffe der Zahlen in einer systematischen Ordnung (vgl. XII,223). Da somit die »Konstruktion« (XII,229, 234, 238) oder Bildung einer Mannigfaltigkeit von Zahlzeichen und wirklichen Zahlen nach dem gleichen Prinzip verläuft, sind beide gleichförmig und gleichmäßig strukturiert; es herrscht das, was Husserl einen strengen »Parallelismus« beider Reihen nennt, von denen die eine in der anderen »gespiegelt« wird. Husserl schreibt: »Die Systematik […] bietet […] zwei Seiten: Auf der einen liefert sie für jede Zahl eine systematische Bildungsart (als symbolische Vertretung für den fehlenden eigentlichen Zahlbegriff) […], auf der anderen Seite eine systematische Bildungsart des einer jeden Zahl zugehörigen Zahlnamens […]. Ein strenger Parallelismus waltet hier zwischen der Methode der Fortsetzung der Reihe der Zahlbegriffe und der Methode der Fortsetzung der Reihe der Zahlzeichen, und dies nicht bloß im allgemeinen, sondern nach allen einzelnen Schritten«87. Es ist diese vollständige und eindeutige »Doppelseitigkeit der Systematik« (XII,239) von Zahlzeichen und Zahlbegriffen, die die Surrogatfunktion der Zeichen in der Anzahlenarithmetik gewährleistet und rechtfertigt. Da jeder Zahl ein Zeichen entspricht, findet eine restlose »Gegenspiegelung des Reiches der Zahlen an sich, d.i. der uns im allgemeinen unzugänglichen wirklichen Zahlen« statt; die Mannigfaltigkeit der »Zahlen an sich« als der eigentlichen Zahlbegriffe wird von den Zahlzeichen perfekt repräsentiert88. 87
XII,237; vgl. XXI,28 f., 62, 246; Hua. Mat. II,232; XXII,391f. XII,260, 223. Die Interpretation des ontologischen Status des Husserlschen Reiches der »Zahlen an sich« hat seit Freges Rezension der PA zu ganz gegensätzlichen 88
Standpunkten geführt. Zuletzt hat Sommer (1985) in Husserls Rede von den wirklichen, uns aber unzugänglichen und an sich seienden Zahlen »Platonismus bis in die Spiegel-Metaphorik hinein« gesehen (ebd., 125). Damit wendet er sich gegen Schmit (1981), der die konstruktivistischen und psychologischen Züge der PA betont, mit denen er eine begriffsrealistische Deutung der »Zahlen an sich« nicht für verträglich hält (vgl. ebd., 31ff.). Nach unseren Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, daß Husserl in der PA den Sinn der Zahlbegriffe von ihrer anschaulichen Fundierung aus klären will und eine Idealisierung der Zahlen bei ihm allenfalls insofern vorliegt, als unsere faktische Fähigkeit zur Vorstellung der eigentlich vorstellbaren Zahlen entschränkt gedacht werden muß, um die Möglichkeit höherer Zahlen zu erklären. Innerhalb unserer Grenzen des eigentlichen Zahlvorstellens haben wir es deswegen bei niedrigen Zahlbegriffen bereits mit »wirklichen« Zahlen zu tun. Unzugänglich werden diese erst dort, wo unsere psychische Fähigkeit zur Bildung kollektiver Verbindungen aufhört.
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Diese im gleichen Bildungsprinzip begründete »Spiegelung« des Zahlenreiches in der Reihe der natürlichen Zahlen führt dazu, daß jedes Zeichen als »ein absolut verläßlicher Vertreter seines Begriffs« fungieren kann (XII,265). Die Begründung bzw. die logische Rechtfertigung der Zahlzeichenverwendung verdankt sich diesem eindeutigen Parallelismus von Zahlzeichen und Zahlbegriffen. Er ist es, der den Umgang mit der Mannigfaltigkeit der Begriffe in der Sphäre der Zeichen, als der für uns zweckmäßigen Darstellungsform, auf gesicherte Weise ermöglicht. Die Repräsentationsleistung der Zeichen ermöglicht ein geradezu mechanisches Operieren mit der Mannigfaltigkeit der Begriffe und macht diese so für uns erst beherrschbar. Der gesicherte Umgang mit den eigentlichen Zahlen kann ohne Rekurs auf deren begrifflichen Gehalt so allein anhand der Zahlzeichen geschehen, so daß mittels der Zahlsymbole ein Ersatz wirklichen Urteilens und mithin sogar ein bloß mechanisches Operieren möglich wird.
3. Die Rechenoperationen in der Anzahlenarithmetik Mit seiner Logik der Zeichenverwendung hat Husserl seine Untersuchungen zum Begriff der Anzahl abgeschlossen und unseren Umgang mit dem gesamten Anzahlbereich auf seine psychologischen und logischen Grundlagen hin analysiert. Sofern der Zahlbegriff der wesentliche Grundbegriff der Arithmetik ist, scheint die philosophische Grundlegung der Arithmetik somit vollendet zu sein. Daß dies indes nicht der Fall ist, liegt daran, daß die Arithmetik für Husserl nicht nur als »Wissenschaft von den Zahlen« definiert ist, sondern darüber hinaus auch als »Wissenschaft von den Zahlbeziehungen« (XII,256). Solche Zahlbeziehungen liegen im elementarsten Fall in schlichten Additionen vor; darüber hinaus stellen z.B. alle vier Grundrechenarten Zahlbeziehungen dar. Zahlbeziehungen, also Rechenoperationen, wie etwa die Additionen, sind Bewußtseinsleistungen, in denen mehrere Vielheitsvorstellungen zugleich bewußt und ihrerseits kollektivisch vereint werden, wodurch nochmals höherstufige Vielheiten aus Vielheiten gebildet werden. Solches Rechnen gehört als »Herleitungsweise von gesuchten Zahlen aus gegeHieraus folgt jedoch kein wesentlicher ontologischer Unterschied zwischen den eigentlichen und den nur zeichenhaft vermittelt vorgestellten Zahlen. Was schließlich die »Wirklichkeit« von Zahlen in diesem oder jenen Sinne angeht, so ist Husserl selbst um Neutralität gegenüber ontologischen Fragen bemüht (vgl. v.a. XXII,323 sowie oben die Anm. 17), womit er diese natürlich weder abzuweisen noch zu beantworten vermag, ja, diese drängen sich insbesondere angesichts von Husserls späterer Denkentwicklung auch immer wieder auf.
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benen« (ebd.) zur Arithmetik, so daß sie es also sowohl mit den Zahlen selbst als auch mit den Operationen mit Zahlen zu tun hat. Die Aufgabe einer Philosophie der Arithmetik muß deshalb neben der Klärung des Zahlbegriffs auch darin liegen, den Sinn solcher Operationen zu bestimmen. Husserl bewältigt diese Aufgabe, indem er sich zunächst den noch überschaubaren Verhältnissen zwischen eigentlichen Mengenvorstellungen zuwendet. Dabei bestätigt sich erneut, daß in der Arithmetik nicht mit solch anschaulich gegebenen Mengen operiert wird, sondern das Rechnen gerade im Umgang mit Zeichen besteht. Die erforderliche Sinnklärung von arithmetischen Operationen verlangt daher – wie bei der Analyse der Logik der Zeichen – die Untersuchung ihrer Ökonomie und ihren Rechtfertigungsmöglichkeiten. Damit führen Husserl seine Forschungen zu den philosophischen Grundlagen der Arithmetik in dieser Hinsicht thematisch von der Psychologie zur Logik. In der PA muß Husserl den symbolischen Charakter der Operationen mit Zahlen betonen, da wir nur in äußerst beschränktem Maße diese Operationen anhand von eigentlichen Zahlen vollziehen können. Der Versuch, das Rechnen als direkt sinnerfülltes Tun zu beschreiben, stößt nämlich sehr früh an Grenzen. Statt dessen versteht Husserl unter den Operationen keine »wirkliche[n] Betätigungen mit und an den Zahlen selbst« (XII,190), sondern »nur ein symbolisches Operieren mit symbolischen Vorstellungen« (XII,191). Rechnen als selbst symbolisches Operieren mit Zahlsymbolen ersetzt das »eigentliche«, d.h. das anschauungserfüllte Herleiten von Zahlen aus Zahlen; es ist die Kunst, die uns durch unsere begrenzte psychische Fähigkeit auferlegte Unvollkommenheit zu überwinden. Arithmetik als Wissenschaft von den Zahlbeziehungen ist demgemäß »nichts anderes als eine Summe kunstmäßiger Mittel« (XII,192), mit denen wir unsere Möglichkeiten zur Beherrschung des Zahlengebietes ausweiten89. So gehen wir etwa bei Multiplikationsaufgaben wie 7x12 nicht daran, eine Menge mit 12 Einheiten wirklich 7 mal zueinander zu addieren, um dann die Summe des Verfahrens als Ergebnis zu ermitteln, sondern wir folgen dazu nur Multiplikationsalgo89
Ein unendlicher Verstand bedürfte, gemäß Husserl, gar keiner Arithmetik, da er einen unbeschränkten, also »eigentlichen« Blick auf das gesamte Zahlenreich hätte, so daß er Operationen mit Zahlen direkt übersehen könnte. Arithmetik entsteht mithin nur in Folge der Beschränkung des menschlichen Verstandes, zwecks Überwindung von dessen Endlichkeit. Für einen unbeschränkten, schauenden Intellekt wäre jegliches Rechnen »überflüssig« (XII,191), da er über eine unbeschränkte, direkte Vorstellungsfähigkeit aller Zahlen und Zahlbeziehungen verfügen würde: »Ein Gott bedarf nicht der symbolischen Mittel, er erschaut alles, und so braucht er nicht sinnlicher Zeichen als Merkzeichen und Stützen des Denkens.« (Hua. Mat. III,173)
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rithmen, die einen vollständigen Ersatz aufwendiger begrifflicher Leistungen bieten. Symbolische Methoden treten hier also an die Stelle des »eigentlichen«, anschauungserfüllten Umgangs mit Zahlen. So erlauben uns die symbolischen Methoden auch hier, die Grenzen unserer sehr beschränkten anschaulichen Erfahrungsmöglichkeiten zu überschreiten. In denkökonomischer Hinsicht ermöglicht »das blindmechanische Rechnen« damit eine »ungeheure Ersparung psychischer Arbeit« (XII,267), weil es die »begriffliche Methode ganz überflüssig« macht (XII,257). Der Arithmetiker leistet also im Husserlschen Sinne keine eigentliche Denkarbeit, sondern er operiert bloß mit Zahlsymbolen nach gewissen Regeln (vgl. XXII,7; XXIV,30 f.). Indem Husserl so die Technik des Rechnens von dem eigentlich denkenden Umgang mit Zahlbegriffen unterscheidet, unterscheidet er zugleich die Arithmetik als Rechenkunst von der Kunst arithmetischer Erkenntnis (vgl. XII,259, 377 f.). Sofern Arithmetik rein mechanisch gemäß einem Kalkül zu vollziehen ist, ist sie zwar ein höchst erfolgreiches und kunstvolles Verfahren, aber sie stellt in dieser Hinsicht kein System von Erkenntnisleistungen dar, da bei ihren Operationen mit den Zahlen keine eigentlichen, anschaulich erfüllt gegebenen Beziehungen zwischen Mengen mehr bedacht werden. In der Mechanik des Rechnens laufen die Rechenschritte gemäß den Operationsregeln auch ohne die Konkretisierung an jeweiligen Mengen oder Größen ab, ja, in der Loslösung von dem eigentlichen Bezug auf den Gehalt des Operierens liegt gerade der Charakter des Rechnens mit den Zeichen: Rechnen löst sich als »blindmechanisches« Regelfolgen (vgl. XII,267; Hua. Mat. I,247) von seinem sinnhaften Fundament und kann als Technik zur Beherrschung des Zahlgebietes vollzogen werden. Solch mechanischen Vollzug des Rechnens vergleicht Husserl mit maschinellen Arbeitsleistungen, so daß das System der Arithmetik der »wunderbarsten geistigen Maschine« gleichkommt (XII,350). Dennoch wird das Rechnen als symbolisch-technisches Verfahren von Husserl in der PA nicht als ein sinnentleertes Tun verstanden. Wie die Zahlzeichen, sind nämlich auch die Operationszeichen grundsätzlich Symbolisierungen von ursprünglich anschaulichen Vorgängen als Gehalten, in denen sie mithin sinnvoll fundiert sind. Da die Zahl- und Operationszeichen Surrogate für eigentliche Begriffsinhalte sind, ist die »begriffliche Deutung« des Rechnens und seiner Resultate in der Anzahlenarithmetik immer möglich90. Die 90
XII,239, vgl. 241; XXI,28 f.; Hua. Mat. II,232 sowie Hua. Mat. I,248: »Jeder re-
gelrechten Herleitung entspricht dann ein Resultat, das begrifflich interpretiert einen richtigen Satz ergeben muss. Es liegt das an dem genauen Parallelismus zwischen gedanklichen Operationen und Zeichenoperationen.«
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Deutbarkeit der Rechenprozesse und Rechenergebnisse hat ihren Grund im vollkommenen Parallelismus von Zahlzeichen und Zahlbegriffen, demgemäß die Zeichen auf ihren Gehalt hin immer rückbeziehbar bleiben. Diesem Parallelismus gemäß, haben auch die Operationszeichen ein fundamentum in re, von dem her die symbolischen Methoden in der Anzahlenarithmetik ihre logische Rechtfertigung erfahren. In diesem Umstand gründet auch Husserls Nominalismuskritik in der PA, denn die nominalistische Mathematikauffassung übersieht genau dieses Moment der Sinnhaftigkeit der Zahlzeichen und bleibt deshalb oberflächlich (vgl. XII,170 ff.). Das nominalistische Vergessen des Sinns der Zeichen ist allerdings insofern naheliegend, als die arithmetische Technik im Laufe ihrer Entwicklung zu immer komplexeren Bildungen führte und der technische Umgang mit den Zeichen damit für sinnhafte Deutungen immer weniger zugänglich wurde. So geht mit dem Gewinn an technischer Beherrschung der Zahlen ein Verlust an anschaulicher Einsicht und Nachvollziehbarkeit einher91. Gleichwohl sind die Vorzüge einer richtig verstandenen Formalisierung beachtlich: Wir haben zunächst gesehen, wie es für uns dank der Symbolisierungsleistung überhaupt erst möglich ist, große Anzahlen vorzustellen. Außerdem ist ein sicherer und schneller Umgang mit der gesamten Mannigfaltigkeit der Zahlen nur aufgrund zeichenhafter Vermittlung möglich, ohne die es gar nicht zu einer ausdifferenzierten Arithmetik gekommen wäre. Die Arithmetik ist als Wissenschaft dadurch bestimmt, daß sie eine Kunst des zweckmäßigen Umgangs mit der Mannigfaltigkeit der Zahlen ist. Sie stellt eine sichere und ökonomische Methode der lückenlosen Beherrschung ihres Gegenstandsgebietes dar und gilt deswegen als »der Prototyp wissenschaftlicher Methode überhaupt«92. Ihre paradigmatische Vorbildfunktion für jeg91
Husserl hat zuletzt noch in der Krisisschrift darauf hingewiesen, daß ein von der anschaulichen Wirklichkeit gänzlich losgelöstes Denken von Zahlen und Zahlverhältnissen leicht zu einem Verlust von dessen »Ursprungssinn« führt. Die Ausschaltung des »ursprünglichen Denkens« in symbolisch-technischen Verfahren, zieht dann eine Sinnentleerung nach sich, wenn verselbständigte mathematisch-naturwissenschaftliche Denkweisen ihren durch den Formalisierungsprozeß überdeckten und verwandelten Ursprungssinn völlig vergessen. Ist hingegen der Ursprungssinn symbolischer Methoden noch lebendig, so »genügt eine bloße thematische Blickwendung auf diesen Sinn«, um deren Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit anzuerkennen. Husserls frühe Analysen über die Logik der symbolischen Methoden weisen auf diese Überlegungen des Spätwerks voraus (vgl. VI,42–48). Vgl. auch de Boer (1978), 68, der in Husserls Kritik an gänzlich nominalistischen Mathematikauffassungen in der PA bereits eine Andeutung der späteren Kritik an der Sinnentleerung der neuzeitlichen Naturwissenschaften gesehen hat. 92 XXI,227, vgl. 216; XXII,121; Hua. Mat. II,228
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liche wissenschaftliche Theoriebildung betont Husserl immer wieder, denn sie ist eine Wissenschaft, die ihr Gebiet auf begründete Weise exakt und vollkommen beherrscht. Auch dort, wo komplexe Operationen mit Anzahlen vorgenommen werden, geschieht dies dank gesicherter zeichenhafter Vermittlung stets ohne völligen Verlust der sinnhaften Basis der Operationsvollzüge, da diese aufgrund des Parallelismus von Zahl- bzw. Operationszeichen und Bezeichnetem von diesem selbst her gerechtfertigt bleiben.
4. Das Erweiterungsproblem Nach Husserls psychologischer und logische Analyse von Anzahlen, arithmetischen Operationen und Zeichenverwendungen scheinen die Aufgaben einer Philosophie der Arithmetik vollständig gelöst zu sein. Indes ist der Anzahlenarithmetik, die Husserl im hier bisher behandelten ersten Band der PA untersucht, eine entscheidende Beschränkung eigen, die die anschauliche Fundiertheit der Zahlen mit sich bringt: Anzahlen haben als Voraussetzung ihrer Bildung jeweils konkret anschauliche Mengen, die der Gehalt der Zahlzeichen sind, auf den hin diese durch Deutung jederzeit wieder rückbeziehbar sind. Eben diese Sinndeutung ist jedoch nur im beschränkten Zahlenbereich der Anzahlen möglich und nicht in allen übrigen Zahlenbereichen. Husserls Bemühungen um die Rekonstruktion der anschaulichen Sinnfundamente arithmetischer Begriffe werden angesichts komplexerer mathematischer Begriffe damit prinzipiell problematisch. Bereits bei den negativen ganzen Zahlen bereitet die anschauliche Sinnerfüllung nämlich Schwierigkeiten, erst recht jedoch bei den rationalen und den irrationalen Zahlen93. Hier muß sich daher die Frage aufdrängen, ob und wie diese Zahlenbereiche auf der Basis von Husserls früher Zahlentheorie überhaupt in die Mathematik einführbar sind, m.a.W. wie die Arithmetik sinnvoll so erweitert werden kann, daß sie nicht auf das Gebiet der Anzahlen beschränkt bleibt. Da auch hier die Frage nach der Rechtfertigung des Umgangs mit diesen Zahlenbereichen im Rahmen der Psychologie letztlich nicht lösbar ist, ist es die Beschäftigung mit diesem Problem, die Husserls Interesse an der »Logik« der Mathematik verstärkt und das Zurücktreten »psychologischer Untersuchungen« beschleunigt. Gleichzeitig erweitern sich dadurch Husserls anfänglich thematisch auf die Arithmetik restringierte Studien zur 93
Rationale Zahlen sind beispielsweise alle Bruchzahlen, irrationale etwa Wurzelzahlen, die sich nicht mehr als Bruch darstellen lassen, wie z.B. die Quadratwurzel aus 2, oder die Zahl π.
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Logik zu universalen wissenschaftstheoretischen. Wir werden im folgenden sehen, wie die Schwierigkeiten mit dem Erweiterungsproblem Husserls Studien von der Mathematik schließlich gänzlich in die Logik führen werden. Im veröffentlichten ersten Band der PA ist davon aber noch nichts zu bemerken, da die Logik dort nur den Nachweis von Ökonomie und Berechtigung der Zeichenverwendung in der Arithmetik der Anzahlen gibt. Dieser Nachweis gelingt, da die Zeichen in »uneigentlicher« Vorstellungsweise exakte Vertreter der eigentlichen Zahlbegriffe sind, die für Menschen als psychisch begrenzte Wesen aber nur in geringem Maße adäquat vorstellbar sind. Der sinnklärende Rekurs auf anschaulich erfüllt gegebene Zahlbegiffe ist jedoch nur im Gebiet der Anzahlen vollziehbar, und es ist höchst fraglich, wie von hier aus eine sinnvolle Erweiterung zu den übrigen Zahlenbereichen gelingen soll. Husserl hat die Brisanz dieses Problems für seinen von Weierstraß übernommenen Ansatz in der PA bereits vor deren Veröffentlichung gesehen; er weist noch in der letzten Anmerkung des Werkes auf dessen beschränkten Geltungsbereich in der Anzahlenarithmetik hin (vgl. XII,282 Anm.). Von diesem Bereich aus gesehen, können negative, gebrochene und irrationale Zahlen nur noch als »sinnlose«, »unmögliche« oder als »Quasizahlen« erscheinen, da ihre Sinnhaftigkeit nicht ausgewiesen ist94. In den Einleitungen zu seinen beiden Frühschriften äußert Husserl jedoch noch die Hoffnung, von den Anzahlen als Fundamentalbegriffen ausgehend, dereinst »alle die komplizierteren und künstlicheren Bildungen, die man gleichfalls Zahlen nennt«, einführen zu können (XII,294, vgl. 11f.). Die intensive Auseinandersetzung mit dem damals viel diskutierten »Erweiterungsproblem«95 und die gleichzeitige Beschäftigung mit der neuen mathematischen Logik führen dann aber dazu, daß Husserl die Bedeutung der Anzahlenarithmetik für die Mathematik neu beurteilt. Angesichts seiner Forschungen zum Erweiterungsproblem kritisiert er bereits Anfang 1890 in einem aufschlußreichen Brief an Carl Stumpf seine ursprüngliche Auffassung über die Bedeutung der Anzahlen in der gesamten Arithmetik: »Die Meinung, von der ich noch bei der Ausarbeitung der Habilitationsschrift geleitet wurde, daß der Anzahlbegriff das Fundament der allgemeinen Arithmetik bilde, erwies sich bald als 94 95
XII,7; vgl. XXI,40, 247; Hua. Mat. I,317
Vgl. zur historischen Entwicklung der damaligen Diskussion des Erweiterungsproblems Thiel (1972), 72 ff., 82 ff. und Lohmar (1989), 18 ff. Die verschiedenen Lösungsversuche des Problems, die Husserl diskutierte, sind in der Einleitung der Herausgeberin zu Hua. XXI, S. XVIII ff. von Strohmeyer sehr kundig zusammengestellt. Eine gut verständliche Erörterung des Erweiterungsproblems findet sich auch bei Waismann (1936).
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falsch. […] Durch keinerlei Kunststücke, durch kein ›uneigentliches Vorstellen‹ kann man die negativen, rationalen, irrationalen und die mannigfachen komplexen Zahlen aus dem Anzahlbegriff herleiten.«96 Anzahlen repräsentieren eben bestimmte Vielheiten von Einheiten, was hinsichtlich der nun in Frage stehenden Zahlbereiche nicht mehr zutrifft. Im Zusammenhang mit diesem Problem verlagern sich im unmittelbaren Anschluß an die Publikation der PA in den frühen neunziger Jahren Husserls mathematisch-philosophische Interessen von Fragen des Ursprungs mathematischer Begriffe zu Forschungen über den formalen und logischen Aufbau mathematischer Theorien. Im formalen Theorieaufbau und nicht in den besonderen Quantitäten, sieht er nämlich immer mehr das die verschiedenen Begriffs- und Fachgebiete der Mathematik einigende Gemeinsame, also das für die Mathematik überhaupt Wesentliche97. Zu dieser Einsicht, und damit zunehmend zu weiteren logischen Problemstellungen, gelangt Husserl zuerst durch die Erkenntnis, daß in verschiedenen arithmetischen Begriffsgebieten mit denselben Operationsformen umgegangen wird. Wenn es aber »identisch derselbe Algorithmus« ist98, der in unterschiedlichen Begriffsgebieten der Arithmetik Anwendung findet, tritt die Bedeutung der Frage nach dem ursprünglich fundamentalen Begriffsgebiet – also die seinerzeit diskutierte Frage, ob für den systematischen Aufbau der Arithmetik von den Anzahlen, den Strecken- oder Reihenzahlen (Ordinalzahlen), oder sonstigen Größen auszugehen ist – zurück. Für den erstrebten Aufbau einer allgemeinen Arithmetik ist statt dessen die Ausbildung einer allgemeinen Operationslehre entscheidend, die dann selbst den Sinn der allgemeinen Arithmetik erhält. 96
(XXI,245) Hinsichtlich der Datierung dieser systematisch so wichtigen Selbstkritik aus Husserls Brief an Stumpf besteht in der Forschung einige Irritation: Biemel (1959), 195, der aus dem Brief zuerst zitierte, datiert exakt auf den 13.II.1890. Willard (1980), 52 und (1984), 130, liest dies Datum fälschlicherweise als 13.11.1890 und datiert selbst auf Februar 1891 (1984), 115, vgl. ders. auch (1994), S. XIII, S. 12, wobei er sich auch auf Einschätzungen von Schuhmann bezieht. Als Herausgeber der »HusserlChronik« entnimmt dieser dem besagten Brief sowohl Hinweise für 1889 (vgl. Hua. Dok. I,24) als auch für 1891 (vgl. ebd., 29), entscheidet sich in der Briefedition dann aber endgültig für die Datierung »ca. Februar 1890« (Hua. Dok. III/I,157, 211). Damit folgt er Strohmeyer, die den Brief in Hua. XXI erstmals vollständig edierte und ihn auf »wohl Februar 1890« datierte (XXI,244, 459). 97 Vgl. XVIII, 5 f., 254; Hua. Mat. II,37, 231; XXIV,56 und 80, wo es heißt: »Das Wesentliche der Mathematik liegt nicht in den Gegenständen, sondern in der Art ihrer Methodik, die naturgemäß in ein rein symbolisches, also schließlich rechnerisches Verfahren ausläuft. Das rechnerische Verfahren ist aber keineswegs an Größe und Zahl irgend gebunden, es hat seine natürliche Heimatstätte in jeder Sphäre rein logischer Begründung, also in jeder rein deduktiven Disziplin.« 98 XII,7, vgl. 288; XXI,60 ff.; Hua. Mat. I,312.
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Entsprechend fordert Husserl noch ganz am Ende des ersten Bandes der PA die »Ausbildung einer allgemeinen Arithmetik in dem Sinne einer allgemeinen Operationslehre« (XII,283, vgl. 280, 282). Auf dieses Thema konzentrieren sich dann größtenteils die Vorstudien für den geplanten zweiten Band des Werkes. Darin wird deutlich, daß die Idee einer allgemeinen Operationslehre nicht nur über das Gebiet der Anzahlenarithmetik hinausführt, sondern ein umfassendes Modell der rechnerischen-algorithmischen Beherrschung von ganz verschiedenen Begriffsgebieten wird, worunter auch das der Geometrie fällt99. Die zunächst durch die Verallgemeinerung des anzahlarithmetischen Kalküls gewonnene Betrachtung des gleichförmigen Aufbaus verschiedener Bereiche der Mathematik, gelingt Husserl durch die Hervorhebung der technisch-formalen Seite der Mathematik. Sie führt dazu, daß in der »allgemeinen Arithmetik« auch der Sinn der Zahlen einen gänzlich formalen Charakter annimmt. So kann der urspüngliche Anzahlbegriff durch den formalen Begriff der positiven ganzen Zahl ersetzt werden, der durch das rein formale System der für Anzahlen geltenden Definitionen und Operationen bestimmt ist (vgl. XII,435; Hua. Mat. I,314 ff.). Innerhalb einer derart bloß formal verstandenen Mathematik läßt sich dann durch die systematische Setzung neuer Definitionen und Operationsformen dieser formale Zahlbegriff erweitern. Während Husserl bereits Anfang 1890 die Erweiterung des Anzahlbegriffs selbst für ausgeschlossen hält, ist sein verstärktes Interesse an einer mathematischen Kalküllehre darauf zurückzuführen, daß er das Problem der Erweiterung der Anzahlenarithmetik nur über die Erweiterung des arithmetischen Kalküls für lösbar hält100. Die gesuchte allgemeine- oder universale Arithmetik ist daher vor allem ein möglichst umfassender Kalkül, der aufgrund seines rein formalen Charakters in verschiedenen mathematischen Begriffsgebieten anwendbar ist. Da die einzelnen mathematischen Gebiete formal analog beherrscht werden können, schließt der deutungsinvariante universale Kalkül in einer formalen Arithmetik natürlich auch den Bereich der 99
In Husserls gänzlich unvollendeten Arbeiten zur Geometrie aus den neunziger Jahren hat seine rein formale Behandlung mathematischer Probleme die Konsequenz, daß er zeitweise auch einen rein axiomatischen Aufbau der Geometrie erwägt, bei dem der Umgang mit n-dimensionalen Räumen dann gleichberechtigt neben der euklidischen Geometrie steht. Vgl. hierzu XXI,41f., 399, 411f. und die Einleitung der Herausgeberin zu Hua. XXI von Strohmeyer, S. XLVIII–LXIV sowie XXX,265 ff. 100 »Der Anzahlbegriff läßt keinerlei Erweiterungen zu; was erweitert wird und Erweiterung zuläßt, ist nur die arithmetische Technik. Sie kennt und bildet aus negative, imaginäre, irrationale und gebrochene Zeichen, welche den Zwecken der Vervollkommnung des Kalküls dienen und in dieser Hinsicht eine große logische Bedeutung haben.« (XXI,42 f., vgl. XII,435)
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Anzahlenarithmetik ein (vgl. XXI,35). Der an keinerlei Quantitäten gebundene, gewissermaßen »rein« mathematische Umgang mit Gegenständlichkeiten ist auf alle Begriffsbereiche beziehbar, also universal. Husserls Studien zu einer allgemeinen Arithmetik bzw. seine »Versuche zur Philosophie des Kalküls«101 haben mit Psychologie thematisch nicht das Geringste zu tun. Zusammen mit Husserls Auseinandersetzung mit der mathematischen Logik wächst mit ihnen statt dessen Husserls Interesse an logischen Problemen und dies ist schließlich Anlaß für seine spätere Neueinschätzung der Leisungsfähigkeit der Psychologie102. Es sind also im Ansatz mathematische Probleme, die Husserls Forschungen zur Logik hinführen und die dann von der Sache her auch die spätere kritische Stellungnahme gegenüber der psychologischen Methode veranlassen. Deutlicher wird dies vor allem, wenn weiter verfolgt wird, zu welch umfassender Theorie der Logik Husserl im Anschluß an seine Arbeiten zur formalen Mathematik gelangt. Beeinflußt durch das Studium Leibniz’103 kommt Husserl nämlich in den neunziger Jahren über seine Studien zur formalen Mathematik zur Idee einer »mathesis universalis« und zu seiner in Anlehnung daran entwickelten sogenannten »Mannigfaltigkeitslehre«104. Da Husserl an diesen zuerst in den »Logischen Untersuchungen« vorgestellten Theorien bis in sein Spätwerk hinein festhält und weiterarbeitet, sie darüber hinaus die höchste Stufe in seiner Idee der reinen Logik bilden, die ihrerseits den Hintergrund der Psychologismuskritik darstellt, müssen die Ursprünge davon im folgenden wenigstens skizziert werden. 101
Unter diesem Titel stellt Strohmeyer die von ihr in Hua. XXI herausgegebenen Husserlschen Studien zur Arithmetik von 1887–1895 zusammen. 102 Im Rückblick auf die Bedeutung seiner eigenen Arbeiten zur allgemeinen Arithmetik für sein Verhältnis zur Psychologie schreibt Husserl 1913: »[… es] bewegten sich die Studien des Verfassers in diesen Jahren von 1886–1895 vorzugsweise in den zwar sehr umfassenden, aber begrenzten Gebieten der formalen Mathematik und formalen Logik. Die Ablösung vom Psychologismus vollzieht sich zunächst auf diesem Grund […]«. (XX/1,297) 103 Zahlreiche Zitate und Äußerungen Husserls sowie eine Arbeit von van Breda (1971) belegen, daß Husserls erste Phase intensiven Leibnizstudiums bereits in den frühen neunziger Jahren stattfand. Die besondere Bedeutung von Leibniz’ Idee einer scientia universalis für Husserls Wissenschaftstheorie wurde von Ha (1997) untersucht. Vgl. ebd., 24 ff., 84 f., 185 f. Ein umfassenderer Beitrag zur Bedeutung von Leibniz für die Entwicklung der Logik im 19. Jahrhundert liegt in der Studie von Peckhaus (1997) vor. 104 Vgl. die Schlußanmerkung zum § 72 der »Ideen I«, in der Husserl die in den §§ 69 und 70 der »Prolegomena« skizzierte Mannigfaltigkeitslehre rückblickend als »Fortsetzung« der PA bezeichnet, die der Lösung des Erweiterungsproblems dienen sollte.
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Hinsichtlich des Erweiterungsproblems sei hier noch gesagt, daß Husserl die bezüglich der Wirklichkeit und Wahrheit ihrer »Gegenstände« unbekümmert rechnende formale Mathematik spätestens ab 1902/03 in seine umfassende Theorie der Logik integriert. Darin verortet er die formale Mathematik im Rahmen einer Analytik der Widerspruchslosigkeit – der sog. »Konsequenzlogik« – die er von einer weitergehenden »Wahrheitslogik« unterscheidet105.
5. Die Mannigfaltigkeitslehre und die Auseinandersetzung mit der mathematischen Logik In Folge von Husserls technisch-formaler Bewältigung des Problems der Erweiterung der Anzahlenarithmetik gewinnt für ihn die Frage nach der »arithmetischen Technik« gegenüber der nach dem Urspung mathematischer Gegenstände so sehr an Bedeutung, daß innerhalb der gesuchten allgemeinen Arithmetik die Operationen eindeutig das Primäre sind. Von den im Kalkül zugelassenen Operationen her werden die mathematischen »Objekte« nämlich nicht nur relationell eindeutig bestimmt, sondern konstruktiv auch erst »geschaffen« (XXI,21; vgl. XII,428, 493 ff.). Dabei werden die Objekte allerdings durch die Operationen nur hinsichtlich ihrer formalen Eigenschaften bestimmt, so daß in der allgemeinen Arithmetik auch der Begriff der Zahl eine wichtige Bedeutungsveränderung erfährt: »Der Begriff der formalen Zahl ist der bloße Begriff eines Irgendetwas« (XXI,66). Ein solches Irgendetwas ist jeglicher inhaltlichen Bestimmtheit beraubt, weil es allein durch seine formalen Beziehungen im Kalkül charakterisiert wird. Dementsprechend läßt sich auch die Bezeichnung dieser rein formalen Objekte von den Zahlzeichen lösen und durch eine allgemeinere Notation mit Buchstabensymbolen ersetzen. Die vorrangige Bedeutung des mathematischen Kalküls bei der Ausbildung einer allgemeinen, weil formalen Arithmetik, wird noch deutlicher, als sich Husserls Bemühungen um einen universalen Kalkül einer axiomatischen
105
Die Einordnung der rein mathematischen Theorien in die Logik legt Husserl bereits in seinen Vorlesungen von 1902/03 dar (vgl. Hua. Mat. II,32, 36 ff., 49, 230, 249; Hua. Mat. III,55 f.). Zum Verhältnis von formaler Mathematik und Logik in der Göttinger Logik- und Erkenntnistheorievorlesung von 1906/7 siehe Hua XXIV,50–59, 64, 91–95. Zur späteren Untersuchung dieses Verhältnisses im ersten Abschnitt von »Formale und transzendentale Logik« vgl. Sokolowski (1974), 271–289; Miller (1982), 125–129; Lohmar (1989), 169–181; Bernet, Kern, Marbach (1989), 42–48.
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Auffassung der Mathematik zuwenden106. Als Husserl sich 1901 in einem Doppelvortrag in Göttingen noch einmal mit dem Problem der »Imaginären« Zahlen befaßt107, vertritt er einen solchen axiomatischen Standpunkt, nach dem die mathematischen Objektgebiete von Axiomen aus definiert bzw. deduktiv abgeleitet werden. Das durch ein Axiomensystem derart rein formal determinierte Gebiet nennt Husserl dabei eine Mannigfaltigkeit108; sie bildet den Gesamtbestand der innerhalb eines Axiomensystems widerspruchsfrei ableitbaren, rein formalen Denkobjekte. Die Mannigfaltigkeit ist m.a.W. das gegenständliche Korrelat einer durch axiomatische Relationsformen und Gesetze ermöglichten Theorieform, so daß die Lehre von den Mannigfaltigkeiten eine Theorie all der möglichen Theorieformen ist, denen die Mannigfaltigkeiten unterstehen. So ist die Mannigfaltigkeitslehre die Wissenschaft von a priori möglichen, nämlich widerspruchsfrei konstruierbaren, deduktiv aufgebauten Theorieformen. In diesem Sinne entwickelt dann Husserl innerhalb seiner Konzeption der reinen Logik in den §§ 69 und 70 der »Prolegomena« (1900) erstmals die großartige Idee der Mannigfaltigkeitslehre als Theorie möglicher deduktiver Theorieformen, deren Grundgedanke – wie Husserl selbst bestätigt – »ganz und gar aus den älteren logisch-mathematischen Studien stammt, an denen ich seit dem Jahre 1894 nicht fortgearbeitet habe« (XX/1,297). An dieser Idee der Mannigfaltigkeitslehre hält Husserl über »Formale und transzendentale Logik« hinaus bis zur Krisisschrift im wesentlichen unverändert fest109. 106
In der Einleitung zu Hua. XXI hat Strohmeyer Husserls Entwicklung von einer kalkültheoretischen zu einer axiomatischen Mathematikauffassung sehr informativ dargestellt. Motivierend hat auf diese Entwicklung wahrscheinlich Husserl Auseinandersetzung mit Hilbert gewirkt. Vgl. dazu Rosado-Haddock (1973), 17 ff., 77 ff.; Schmit (1981), 72 ff.; Lohmar (1989), 184 f., 189 ff. 107 Vgl. XII,430–444. Die »imaginären Zahlen« faßt Husserl hierbei so weit, daß darunter auch Negativ-, Bruch- und Irrationalzahlen fallen. Der Göttinger Doppelvortrag von 1901 liegt jetzt übrigens in einer verbesserten Neuedition von Schuhmann (2000) vor. Eine spätere, systematisch aber nicht mehr weiterentwickelte Stellungnahme hierzu trägt Husserl in seinen Logikvorlesungen ab 1910 vor. Vgl. XXX,261 ff. 108 Der Begriff der Mannigfaltigkeit war im 19. Jahrhundert in der Mengenlehre geläufig. Für das Husserlsche Verständnis diese Begriffs dürfte neben diesem mit dem Namen Cantors verbundenen Hintergrund vor allem das in der Nichteuklidischen Geometrie praktzierte Rechen mit n-dimensionalen Raumgebilden – den sog. n-fachen Mannigfaltigkeiten – prägend gewesen sein, das Husserl z.B. von Riemann her kannte. Vgl. XVIII,252; XXIV,79; XVII,97 f., sowie zum Einfluß Riemanns Rosado-Haddock (1973), 141 und Miller (1982), 116 ff. 109 Es ist anzumerken, daß mit Husserls axiomatischer Fassung der Idee der Mannigfaltigkeitslehre verschiedene ungelöste Probleme verbunden sind, die dazu geführt haben, daß dieses Theoriestück von den meisten Interpreten nach den Entdeckungen Gödels von 1931 als überholt betrachtet wird. Vgl. Rosado-Haddock (1973), 77 ff.,
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Da Husserl zu einer solch umfassenden Idee einer Theorie möglicher Theorieformen durch seine Studien über die formale Mathematik »gedrängt wurde«110, wundert es nicht, wenn er diese Idee in der Mathematik nicht nur ansatzweise für verwirklicht hält, sondern ihm die Mathematik selbst – und nicht etwa die Logik – zeitweise als die allgemeinste Wissenschaft von den Formen möglicher wissenschaftlicher Theorien gilt111. In der formalen Mathematik werden die »Gegenstände« nur in der Weise des »Etwas überhaupt«, also als bloße »Denkobjekte« gefaßt. Da diese durch einen von Husserl ebenfalls so weit gefaßten Operationsbegriff konstituierbar sind, daß darin logische Operationen eingeschlossen sind (vgl. XII,487, 499), weist schließlich die Mathematik hinaus auf eine Theorie deduktiver Theoriesysteme überhaupt, also auf eine formale Wissenschaftslehre. »Daher gibt es keine Wissenschaft, in der prinzipiell die Möglichkeit der Anwendung der Mathematik ausgeschlossen wäre, mag die Besonderheit des Gebietes es auch mit sich bringen, dass in der einen die Mathematik eine große, in der anderen eine geringe Rolle spielt« (Hua. Mat. II,32). Damit gleicht Husserls Idee einer universalen Mathematik, die selbst die Gestalt einer universalen Theorielehre bzw. der Mannigfaltigkeitslehre annimmt, wegen ihres formalen Charakters der Logik so sehr, daß das Verhältnis von Logik und Mathematik neu zu klären ist (vgl. XVIII,203; XXIV, § 19b; XVII, § 34). Weil in der formalen Mathematik die algorithmische Methode nämlich »wenigstens der Idee nach allumfassend ist« (XXI,42), ist es vom rechnerischen Verfahren aus betrachtet gleichgültig, ob es auf formalisierte mathematische Gegenstände oder auf Begriffe und Sätze angewandt wird (vgl. XXIV,81; Hua. Mat. II,32). Den Sinn algorithmischer Operationen bzw. der algorithmischen Technik versteht Husserl jedenfalls in so formaler Allgemeinheit, daß er auch den logischen Kalkül mit umfaßt, so daß die Logik formal als eine rechnend operierende Disziplin betrachtet werden kann (vgl. XII,487, 499; Hua. Mat. II,36 ff.). Husserl hat sich mit den Versuchen, die Logik wie eine mathematische Disziplin zu behandeln – also mit der mathematischen Logik – bereits sehr 103 ff.; Janssen (1976), 103; Schmit (1981), 72–81; Miller (1982), 128; Melle (1983), 481 f.; Mohanty (1991), 102 f. Eine kritische Diskussion dieser verbreiteten Beurteilung findet sich bei Lohmar (1989), 183–197. 110 V,57. Vgl. die weiteren biographischen Zeugnisse, in denen Husserl die Kontinuität seiner systematischen Entwicklung bestätigt, die vom Erweiterungsproblem über die Arbeiten zur formalen Mathematik zur Idee der Mannigfaltigkeitslehre in den »Logischen Untersuchungen« führt; III/1,153 Anm.; XVII,101 f.; XX/1,296 f. 111 »Mathematik ist also ihrer höchsten Idee nach Theorienlehre, die allgemeinste Wissenschaft von möglichen deduktiven Systemen überhaupt.« (XII,431, vgl. 430)
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früh auseinandergesetzt. Wie seine zahlreichen Rezensionen zur Literatur der Logik um die Jahrhundertwende dokumentieren, war er über die neueren Forschungen in der Logik bestens orientiert112. Im Sommersemester 1895 war er mit der neueren englischen Logik längst soweit vertraut, daß er sie in seinen Vorlesungen »Über die neueren Forschungen zur deduktiven Logik« seinen Hallenser Studenten vorstellen konnte (vgl. Hua. Mat. I,267– 328). Er kannte und schätzte die entscheidenden Arbeiten des »geniale[n] englische[n] Mathematiker[s]« (Hua. Mat. II,34) George Boole zur algebraischen Logik (Mathematical Analysis of Logic, 1847; An Investigation of the Laws of Thought, 1854) und rezensierte selber den ersten Band von Ernst Schröders »Vorlesungen über die Algebra der Logik« (1890) gleich nach seinem Erscheinen113. Darin greift Schröder die neueren englischen Entwicklungen in der axiomatisierten symbolischen Logik auf und entwickelt sie weiter. Schröders Bemühungen gingen in Anlehnung an die Arbeiten Booles dahin, eine an der Form mathematischer Theorien orientierte deduktive Logik zu entwickeln. Die Logik wird dabei wie ein rein formaler Kalkül begriffen, mit dem Schröder letztlich den Aufbau einer wissenschaftlichen Universalsprache anstrebt114. Husserl würdigt die Bedeutung dieser neuen Forschungen für die Logik. Da er durch seine eigenen Arbeiten zum geplanten zweiten Band der PA mit einer der Logik eng verwandten formalen Mathematikauffassung vertraut war, ist er der neuen mathematischen Logik grundsätzlich nicht abgeneigt. An Schröders Deutung des formalen Kalküls übt er jedoch an entscheidender Stelle Kritik115. Statt nämlich, wie Schröder es tut, den Kalkül selbst schon als Logik zu begreifen und ihn an ihre Stelle zu setzen, verlangt Husserl zusätzlich eine »Logik des Kalküls«, die diesen als symbolisches Verfah-
112
Vgl. XXII,124–259. Außer den bereits in der Husserliana edierten frühen Texten zur Logik, liegen in der sog. K I Gruppe des Husserlschen Nachlasses weitere Forschungs- und Vorlesungsmanuskripte zur Logik aus den neunziger Jahren, die teilweise noch nicht transkribiert sind. 113 Vgl. XXII,3–43. Die Rezeption der mathematischen Logik verlief in Deutschland anfänglich zumeist ohne Offenheit und geschärftes Problembewußtsein (Vgl. hierzu Buhl (1966)). Husserls Auseinandersetzungen mit der neuen Logik sind hier eine Ausnahme, denn seine Rezeption des Schröderschen Werkes stellt »den fundiertesten Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von ›alter‹ und ›neuer‹ Logik dar, der sich in der deutschen Philosophie vor 1900 findet« (ebd., 371). 114 Leben und Werk von Schröder hat Peckhaus (1997), 233–292 in einer äußerst materialreichen Studie berücksichtigt. 115 Vgl. XXII,7 ff. Husserls vielschichtige Kritik an Schröder findet sich gut dargestellt bei Farber (1943), 61–72, in Rangs Einleitung des Hrsg. zu Hua. XXII, S. XI ff. sowie ausführlich bei Ha (1997), 100–111.
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renssystem auch zu rechtfertigen vermag. Der bloß formale Kalkül der Logik ist für Husserl nämlich keineswegs schon die Logik selbst, für die Schröder ihn irrtümlicherweise hält, sondern sein symbolisches Verfahren bedarf selber der »logischen Rechtfertigung« (XXII,23) durch eine »Logik«, die umfassender und grundlegender als der Kalkül ist. Da bei Schröder dieser Aspekt der Logik unberücksichtigt bleibt, wirft Husserl ihm vor, »ein bloßes Teilgebiet der deduktiven Logik mit dieser selbst verwechselt« zu haben (XXII,5). Husserl lehnt somit die symbolische Verfassung der neuen Logik nicht ab, aber er stellt hinsichtlich der »Triftigkeit« des algorithmischen Verfahrens die Frage »quid juris« (XXII,31, vgl. 394) und fordert in dieser Hinsicht eine »Logik des algebraischen Kalküls« (vgl. XXII,8). Solange die symbolische Logik nämlich die Fragen nach Rechtfertigung bzw. Triftigkeit ihrer fruchtbaren Anwendung nicht zu beantworten vermag, hat sie für Husserl den Namen der Logik noch gar nicht verdient (vgl. XXII,394). Anstatt also die Logistik schon für die Logik zu halten, stellt Husserl die philosophischen Grundlagenfragen nach den Voraussetzungen und dem Rechtfertigungsgrund an die mathematische Logik und fordert in diesem Sinne eine umfassende Logik des Kalküls. Zu dieser umfassenden Logik gehören für ihn dann auch subjektiv gerichtete, erkenntnistheoretische Forschungen116. Husserls Unterscheidung zwischen dem Kalkül der mathematischen Logik und einer Logik des Kalküls überrascht nach unserer vorangegangenen Beschäftigung mit seinem Logikverständnis nicht: Die bloße Technik des Umgangs mit Symbolen erfüllt zwar einen anerkennenswert hohen denkökonomischen Zweck, sie macht aber solange nicht allein die »Logik« aus, wie ihr keine Theorie der Symbolverwendung zur Seite gestellt wird, die deren erkenntnistheoretische Rechtmäßigkeit begründet. Diesbezüglich »eine wesentliche Lücke der bisherigen Logik« seiner Zeit konstatierend117, – »sie läßt uns hier ganz im Stich« (XXII,122; vgl. XVIII,7) – finden sich beim frühen Husserl Ansätze zu einer Klärung der Logik, die diesen Mangel beseitigen sollen. Diese Ansätze sind neben den bereits besprochenen zur Semiotik (vgl. Kapitel I. C. 2) allerdings solange noch psychologisch geprägt, wie Husserl an der Psychologie als Grundlagenwissenschaft auch gegenüber der Logik festhält, wie etwa in den »Psychologischen Studien zur elementaren Logik« von 1894 (vgl. v.a. XXII,120 ff.). In der Kritik an Schröders Verständnis des Logikkalküls zeigt sich Husserls metakritische Betrachtung des algorithmischen Kalküls vom übergeordneten Gesichtspunkt eines umfassenderen Logikbegriffs im wesentlichen an 116
Zur Reichweite des Husserlschen Logikbegriffs vgl. unten Kapitel II. A. 3. b.
117
XII,6, vgl. 190, 257, 287; XXII,393 f.
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zwei Punkten. Zum einen gibt Husserl dem Kalkül eine inhaltslogische Interpretation, denn nur durch Rekurs auf Begriffsinhalte läßt sich die Angemessenheit des mechanischen Umgangs mit Zeichen, die ja die Funktion von Surrogaten haben, rechtfertigen118. Außerdem zeigt sich Husserls umfassende Logikkonzeption daran, daß er in seine Forderung nach einer rechtfertigenden Theorie des logischen Kalküls auch die Forderung nach einer Theorie jener »Geistesbetätigungen« aufnimmt, auf denen der Kalkül und seine Anwendung letztlich beruhen (vgl. hierzu XXII,6–9). Die symbolisch-mechanische Rechentechnik des Kalküls, die eigentliche Schluß- und Denkprozesse denkökonomisch ersetzen soll, bedarf zu ihrer Begründung einer Theorie jener »Geistesoperationen«, von denen sie letztlich nur ein Surrogat ist. Da in der symbolischen Logik diese fundierenden Grundlagen des Kalküls jedoch nicht mehr reflektiert werden, kann Husserl den logischen Kalkül bestenfalls als ein Teilgebiet der Logik, nicht aber als diese selbst ansehen. Zu einer umfassenden Logik des Kalküls gehört vielmehr die Berücksichtigung jener subjektiven Prozesse, wie etwa das eigentliche Schließen, das in den formal-rechnerischen Ableitungsbeziehungen des Kalküls denkökonomisch ersetzt wird, sowie das Formalisieren von Gehalten und das Interpretieren von Ableitungsresultaten, welches eine sinnvolle Anwendung des Kalküls erst ermöglicht (vgl. ebd.). Im Rahmen seines Logikbegriffs fordert Husserl daher eine »Theorie aller dieser Geistesbetätigungen« (XXII,7), die den logischen Kalkül erkenntnistheoretisch fundieren und ihm daher gerade nicht äußerlich sind. Mithin verlangt Husserl für eine philosophische Logik nicht nur die technische Konstruktion von formalen Theoriesystemen, sondern auch die Bestimmung der dazu korrelativen subjektiven Bewußtseinsleistungen. Diese geforderte Ergänzung der mathematisch-technischen Ausrichtung der Logik durch eine subjektiverkenntnistheoretische Fundierung zeigt erneut, daß Husserl hier, wie schon in der PA, seine Grundlagenforschung von Anfang an in einer »doppelten Hinsicht« betreibt (XII,287). Es dürfte klar sein, daß für den frühen Husserl die erkenntnistheoretische Grundlagentheorie der fundierenden Geistesbetätigungen des logisch formalen Kalküls ihren Ort nur in der Psychologie haben kann, da er die ursprünglich subjektiven Leistungen, die selbst die Logik als Bedingung der Möglichkeit voraussetzt, noch als die bloß empirischer Subjekte, und nicht etwa schon als die einer transzendentalen Subjektivität versteht. 118
Auf die von Husserl im Anschluß an die Schröder-Rezension mit einigen zeitgenössischen Logikern geführte Debatte über Inhalts- und Umfangslogik ist hier nicht weiter einzugehen; sie wurde von Hamacher-Hermes (1994) untersucht. Vgl. ebd., v.a. 125–165.
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Psychologie als Grundlagenwissenschaft
6. Zusammenfassung Da Zeichenverwendungen für die Arithmetik konstitutiv sind, die zeitgenössische Logik zu ihrer Analyse, gemäß Husserls Auffassung, aber nichts Wesentliches beitragen kann, stellt sich für Husserls Theorie der Arithmetik die Aufgabe, über die psychologische Klärung der Grundbegriffe der Arithmetik hinaus, auch die »Logik« der Zeichenverwendung zu untersuchen. Husserls frühes Logikverständnis ist dabei ambivalent, was bei der Untersuchung der Symbolverwendung – der Logik der Zeichen – ganz unterschiedliche Konsequenzen hat: Während der denkökonomische Grund der Zeichenverwendung in der entwicklungsgeschichtlich vorteilhaften Ersparung von »eigentlicher Denkarbeit« liegt, ist der erkenntnistheoretische Grund der Rechtmäßigkeit der Symbolverwendung ein »vollkommener Parallelismus« von Zahlzeichen und eigentlichen, aber aufgrund psychologisch-faktischer Begrenzung uns als solchen nicht mehr gegebenen Begriffsinhalten. Die Logik der symbolischen Methoden geht also in denkökonomischer Hinsicht auf psychologische oder biologische Gesetze der Zweckmäßigkeit zurück, ihre erkenntnistheoretische Rechtfertigung beruht hingegen auf dem zumindest prinzipiell möglichen Rekurs auf die anschauungsfundierten Gehalte der Zeichen. Daß diese sinnerfüllende Deutung der Zeichen in der Arithmetik gelingt, hat Husserl in der PA aber nur im Bereich der darin untersuchten Anzahlenarithmetik gezeigt. Dabei war er von der Auffassung geleitet, daß der Aufbau der Arithmetik von den Anzahlen ausgehen müsse. Diese Auffassung, die er von seinen mathematischen Lehrern übernommen hatte, kritisiert er jedoch angesichts des Problems der Erweiterung der Anzahlenarithmetik, da er durch seine Studien zum geplanten zweiten Band der PA zu der Erkenntnis kommt, daß es nicht durch eine Erweiterung des Anzahlbegriffs, sondern nur durch die Erweiterung der arithmetisch-algorithmischen Methode lösbar wird. Damit bildet das Erweiterungsproblem das »Abschlußthema« (XVII, 102) von Husserls frühen Studien zur Mathematik im engeren Sinne, denn auf dem Weg zu seiner Lösung beschäftigt er sich vermehrt mit Problemen des mathematischen und, aufgrund von dessen formaler Allgemeinheit, auch logischen Kalküls. In diesen frühen Arbeiten zur formalen Mathematik liegt der Ursprung von Husserls Idee der »mathesis universalis« bzw. der Konzeption der »reinen Logik«. Das Interesse an Fragen des Kalküls und der formalen Mathematik führt Husserl in eine Auseinandersetzung mit der mathematischen Logik, die zuerst in der Schröder-Rezension deutlich wird. Husserl kritisiert darin u.a. das Logikverständnis von Schröder, der den logischen Kalkül bereits selbst
Von der Anzahlenarithmetik zur Logik
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für die Logik hält, obwohl die Probleme von dessen erkenntnistheoretischer Rechtfertigung darin gar nicht mit bedacht sind. Dagegen fordert Husserl eine umfassende »Logik des Kalküls«, die neben dessen denkökonomischtechnischer Seite auch die ursprünglichen psychologischen Möglichkeitsbedingungen des Kalküls und seiner Anwendung berücksichtigt. Letztere, von der mathematischen Logik vernachlässigte, eigentlich logische, weil rechtfertigende Seite des Kalküls, bedarf zu ihrer Klärung einer »Theorie der Geistesbetätigungen«, in denen der Kalkül und seine Sinnhaftigkeit gründen. Eine solche, die subjektiven Ursprünge der Logik untersuchende Theorie, gehört für den frühen Husserl noch in die Psychologie, da sie für ihn zu dieser Zeit die entscheidende Grundlagenwissenschaft ist. In ihrer subjektorientierten Fragerichtung knüpft sie einerseits an die früheren psychologischen Studien an, führt jedoch andererseits schon auf die Phänomenologie der »Logischen Untersuchungen« hin.
II. DIE PSYCHOLOGISMUSKRITIK
»Gott geb’s, dass sich aus den Anfängen was Rechtes entwickle und wir endlich weiterkommen, hinaus über die skeptische Qual des Humeschen Empirism.«1
Im Mittelpunkt dieses Abschnitts II steht jene Wandlung in Husserls Verhältnis zur Psychologie, die durch die berühmte Psychologismuskritik der »Prolegomena zur reinen Logik« (1900) vollzogen wurde. Seit dieses Buch vorliegt, hat es die Husserlforschung so nachhaltig geprägt, daß der Einfluß von Husserls frühen, psychologisch bestimmten Arbeiten auf die Entwicklung seines späteren Denkens leicht unterschätzt oder gar übersehen wurde. Die wirkungsgeschichtliche Bedeutung der Psychologismuskritik, deren systematische Prägnanz und vielleicht auch die Schwierigkeiten der editorischen Erschließung von Husserls frühen Forschungen haben dazu geführt, daß Husserl als philosophischer Kritiker der Reichweite der Psychologie viel bekannter ist denn als ein methodisch von der Psychologie des 19. Jahrhunderts her kommender Denker. Bevor in diesem Abschnitt jedoch Husserls Psychologismuskritik im engeren Sinne untersucht wird (Kapitel C.), soll der dabei im Zentrum stehende Begriff des Psychologismus erläutert und in einem übergreifenden Zusammenhang mit der neuzeitlichen Philosophie betrachtet werden (Kapitel B.). Zuallererst gilt es aber zu zeigen, daß der mit der Kritik des Psychologismus verbundene Wandel in Husserls Einschätzung der Leistungsfähigkeit der psychologischen Methode in sachlicher Hinsicht von der thematisch konsequenten Weiterführung seiner frühen mathematischen und logischen Forschungen bedingt ist. Diese führen nämlich zur Idee der »reinen Logik« hin und geben damit den sachlichen Hintergrund für Husserls neues Verhältnis zur Psychologie ab. Als inhaltliche Weiterführung des Frühwerks muß daher hier zuerst die Idee der reinen Logik vorgestellt werden (Kapitel A.), weil in ihr jene motivierenden Voraussetzungen der Psychologismuskritik liegen, die erst die Reichweite und die Zielsetzung dieser Kritik verständ1
Husserl in einem Brief an W. E. Hocking vom 25.1.1903 (Hua. Dok. III/III, 132).
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Die Psychologismuskritik
lich machen. Abgeschlossen wird der Abschnitt mit einem Blick auf die systematischen Voraussetzungen der Husserlschen Psychologismuskritik (Kapitel D.), die zu einer knappen Beschäftigung mit Bolzano, Lotze und Frege führen. A. Die Idee einer reinen Logik als Wissenschaftslehre 1. Die Logik als Kunstlehre und die Frage nach ihren theoretischen Fundamenten In der Rekonstruktion der problemgeschichtlichen Entwicklung von Husserls frühen Forschungen ist oben deutlich geworden, wie sich sein ursprünglich mathematisches Forschungsinteresse immer mehr auf das Gebiet der Logik hin verlagert hat. Diese Entwicklung ist von Husserls ausgeprägtem Interesse an Grundlagenfragen motiviert und sie erweist sich von daher als konsequent und folgerichtig: Husserls studienbedingter Ansatz seiner Forschungen zu Grundlagenfragen der Anzahlenarithmetik führte zunächst über Schwierigkeiten mit dem »Erweiterungsproblem« zum Themenschwerpunkt der allgemeinen oder universalen Arithmetik, was dann Studien im Bereich der formalen Arithmetik erforderlich machte. Die hierbei gewonnene Einsicht, »daß das Quantitative gar nicht zum allgemeinsten Wesen des Mathematischen […] gehöre«2, sowie die intensive Auseinandersetzung mit Fragen des mathematischen Kalküls und der neuen mathematischen Logik veranlassen Husserl schließlich schwerpunktmäßig zur Beschäftigung mit rein logischen Grundlagenproblemen3. Soweit diese Entwicklung im Abschnitt I rekonstruiert wurde, blieb dabei der nun ins thematische Zentrum rückende Begriff der Logik aber bisher noch zu unbestimmt. Die Vielschichtigkeit des Logikbegriffs und die damit verbundene Gefahr der verwirrenden »Gebietsvermengung« machen hier klärende Analysen erforderlich (XVIII,22, vgl. XXIV,5; XXX,26). Dies gilt umso mehr, als 1. die im Logikbegriff liegenden Unklarheiten direkt Grund 2 3
XVIII,6, vgl. 254; Hua. Mat. II,231; XXIV,80, 434
In diesem Sinne bemerkt auch Biemel (1959), 196: »Das Interesse für die Logik, der Übergang zur Logik ist also keineswegs willkürlich, sondern das Resultat einer kohärenten Entwicklung.« Rückblickend schreibt Husserl selbst in einem Brief an Marvin Farber 1937 entsprechend: »Eigentlich war mir mein Weg schon durch die Philosophie der Arithmetik vorgezeichnet, und ich konnte nicht anders als weiterzugehen.« (Hua. Dok. III/IV, 85) »Vorgezeichnet« war der Weg insofern, als Husserls tiefes Interesse an den Grundlagen der Arithmetik eine Überwindung der der PA eigenen Beschränkung auf das Anzahlengebiet verlangte, so daß ihn dann die Forschungen zur allgemeinen Arithmetik auf ein rein logisches Terrain führten.
Idee einer reinen Logik als Wissenschaftslehre
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für den Psychologismus sind; 2. Husserls Theorie der reinen Logik den notwendigen Hintergrund für seine Psychologismuskritik bildet und diese Theorie 3. essentiell für jenes Bemühen um die Fundierung der Wissenschaften ist, das Husserls gesamtes Philosophieren nachhaltig motiviert. Schließlich ist es 4. die erkenntnistheoretische Klärung der Logik, von der her die Phänomenologie in den LU als »Phänomenologie des Logischen« (XIX/2,533) ihren Ausgang nimmt. Sowohl das Verständis der Psychologismuskritik als auch das der ursprünglichen Zielsetzung der Phänomenologie setzt also eine genaue Klärung des Husserlschen Logikbegriffs voraus. Husserl erreicht diese Klärung indem er eine Reihe von »Streitfragen« bezüglich des Logikverständnisses diskutiert und dadurch am Ende seine eigene Bestimmung des Begriffs der Logik gewinnt. Diese Fragen betreffen z. B. Probleme der Abgrenzung der Logik gegenüber Psychologie und Erkenntnistheorie sowie die theoretische oder praktische Ausrichtung der Logik4. In ihrer voll entwickelten Gestalt ist die Logik als eine Wissenschaftstheorie bei Husserl keineswegs nur eine Lehre von Begriffen, Sätzen und Theorienformen, sondern – korrelativ dazu auf Gegenstandsseite – umfassende Lehre von den allgemeinen Regionen des Seienden, also Ontologie. Der Logos oder die Vernunft als ihr Thema beschränkt sich dabei nicht auf theoretische Bereiche. Vielmehr gehören die Erforschung der praktischen und ästhetischen Vernunft sowie die dazugehörigen Wertsphären in Form einer praktischen und ästhetischen Axiologie letztlich mit in die umfassende Idee der Logik5. 4
Siehe hierzu Einleitung und Anfangskapitel der »Prolegomena« sowie Hua. Mat. II, 6 ff. Wie weitsichtig Husserls Idee der Logik als Wissenschaftslehre letztlich angelegt ist, zeigen die kürzlich herausgegebenen Vorlesungen zur Logik und allgemeinen Wissenschaftstheorie von 1910/11 und 1917/18 (vgl. insbesondere XXX, § 65). Hier, aber spätestens schon ab 1906 (vgl. XXIV,445), arbeitet Husserl an einer überraschend traditionell konzipierten Logik als Theorie und Kritik der Vernunft, von deren Verwirklichung er sich zuletzt auch Orientierung für die freie und vernünftige Praxis des Menschen als Vernunftwesen verspricht. Hiermit geht es ihm um »die höchsten Interessen der Menschheit« (XXX,304), denn nur eine nicht auf die theoretische und wertfreie Vernunft beschränkte Logik und wissenschaftliche Philosophie könne die in der Herrschaft der einseitig theoretisch entwickelten Vernunft gründenden Konflikte überwinden helfen, die »die Unseligkeit der Neuzeit ausmachen« (ebd.): Damit das Leben des Einzelnen ebenso wie das der Gattung Mensch »in seiner gesamten Einheit den Charakter eines Vernunftwerkes annehmen« könne (XXX,305), dürfe der Vernunftbegriff nicht auf die theoretische Sphäre beschränkt werden, sondern müsse sich eine »strenge Wissenschaft« die Klärung einer umfassenden Vernunftidee zum Ziel setzen. Somit zeigt sich bereits in diesen Vorlesungen Husserls zur Logik als Wissenschaftslehre jener ethische Impetus, der später in den KaizoArtikeln, der Ethik-Vorlesung von 1920/24 und schließlich im Krisiswerk immer deutlicher hervortreten wird. 5
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Die Psychologismuskritik
In den »Prolegomena zur reinen Logik« (1900) spielt ein derart umfassender Vernunft- und Logikbegriff aber noch keine Rolle. Hier ist die Logik in ihrer weitesten Bestimmung eine Theorie der Erkenntnisgewinnung bzw. eine Methodologie und Theorie der Wissenschaften, also Wissenschaftslehre. Dieses Verständnis von der Logik als einer die apriorischen Prinzipien der Wissenschaften klärenden Lehre behält Husserl von den »Prolegomena« an bis zur »Formalen und transzendentalen Logik« bei (vgl. XVII,30 ff., 351ff.). Als Lehre von dem auf Wahrheit zielenden Denken hat die Logik diese Nähe zu den Wissenschaften, weil solches Denken sich darin am ausgestaltetsten findet. Im Sinne einer Wissenschaftslehre hat die Logik die Methoden wissenschaftlicher Wahrheitsfindung systematisch zu untersuchen und gegebenenfalls kritisch zu prüfen. Sie hat somit durchaus eine Funktion für die Wissenschaften und wird in ihrem weitesten Umfang von Husserl dementsprechend als »Kunstlehre von der wissenschaftlichen Erkenntnis« verstanden6. Mit dieser Bestimmung weiß Husserl sich mit den meisten Logikern seiner Zeit einig. Er steht damit in einer aristotelisch-scholastischen Tradition, dergemäß die Logik als Methodologie oder Organon Grundlage der Wissenschaften ist7. Mit der Bestimmung der Logik als Kunstlehre der wissenschaftlichen Erkenntnis ist verbunden, daß in der Logik nicht nur die formalen und daher allgemeinen Grundprinzipien und Methoden von Wissenschaften fixiert werden, sondern hierin auch ein Regelwerk zur Beurteilung und Prüfung der formalen Richtigkeit von Erkenntnissen und Theorien gewonnen wird. Logik als Kunstlehre kann demnach für die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung in der Hinsicht hilfreiche Anweisungen geben, daß sie lehrt, wie formal richtig zu denken ist. Diesbezüglich ist die Logik in ihrer umfassenden Bestimmung als Kunstlehre eine wesentlich normative Disziplin. Sie gibt normierende Richtlinien zur logischen Beurteilung von Erkenntnissen, wobei ihre Normen aufgrund ihrer formalen Allgemeinheit für alle Wissen6
Vgl. XVIII,42 ff., 261f.; XXIV,29 ff.; Hua. Mat. I,36; Hua. Mat. III,11f.; XXVIII,4;
XXX,8. 7
Wenn hier und im folgenden von »Wissenschaftslehre« die Rede ist, so darf darin natürlich keineswegs eine versteckte Anknüpfung an Fichte gesehen werden, denn Husserl geht es dabei nicht um eine spekulative oder dialektische Ableitung von logischen Grundbegriffen der Wissenschaften aus dem Selbstbewußtsein. Vielmehr knüpft er an eine über Trendelenburg und Bolzano vermittelte aristotelische Tradition an. Die Bedeutung einer solchen Wissenschaftslehre wächst im 19. Jahrhundert angesichts der zunehmenden Vervielfältigung des empirischen Wissens. Zur Ausbildung der Logik als »Wissenschaftskunde« oder Wissenschaftslehre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Köhnke (1986), 35–48, der hier besonders die Rolle von Trendelenburg untersucht. Trendelenburg war übrigens einer der Lehrer von Husserls Mentor Brentano.
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schaften verbindlich sind. Darüber hinaus lehrt und entwickelt die Logik auch praktisch anwendbare Methoden zur Wahrheitsfindung, wie z. B. komplexe Schluß- und Beweisformen, die sie zur praktischen Methodenlehre werden lassen. Hierin liegt eine ganz entscheidende Zweckbestimmung der Logik für die Wissenschaften, denn die Normen der Kunstlehre können als leitende Regeln zur Gewinnung von wissenschaftlicher Erkenntnis der Wahrheit fungieren. Die Kunstlehre prüft mithin die logische Zuverlässigkeit von Wissenschaften anhand der normativ fungierenden logischen Grundgesetze. Als normative Beurteilungskunst dient sie so in ganz grundlegender Weise jeglicher wissenschaftlichen Wahrheitsfindung, indem sie logisch richtige von logisch falschen Theorien zu scheiden erlaubt8. Somit ist die Logik für Husserl zunächst einmal eine für alle Wissenschaften normativ gültige und grundlegende Wissenschaftslehre, also »eine Disziplin, welche unser Denken, sofern es Wahrheit suchendes Denken sei, normieren und uns in der Erreichung des Zieles der Wahrheit auch praktisch fördern« soll (XXX,8). Dieses Verständnis der Logik als einer Kunstlehre von der Erkenntnis, näher als einer Kunstlehre der Wissenschaft, ist für Husserl immer sinnvoll und rechtmäßig gewesen9. Angesichts der normativen und praktischen Konsequenzen dieser Wissenschaftslehre ist es dann allerdings um so wichtiger, sie ihrerseits in einem absolut gesicherten Fundament zu verankern. Dazu ist es erforderlich, ihr als wissenschaftlicher Methodenlehre gewissermaßen eine solide Elementarlehre vorzuordnen; und genau dabei stellt sich dann die Frage, ob mit der weiten Bestimmung der Logik als Kunstlehre auch schon ihr »wesentlicher Charakter« erfaßt ist (vgl. XVIII,46; Hua. Mat. III,12 ff.). Würde das Wesen der Logik nämlich durch ihren praktischen bzw. anwendungsorientierten Charakter als einer Kunstlehre vollständig bestimmt, so spräche nichts dagegen, ihr theoretisches Fundament in einer anderen Wissenschaft zu suchen, also z. B. in der Psychologie. Genau diese Auffassung, nach der die theoretischen Fundamente der normierenden Logik in der Psychologie liegen, ist jedoch die des logischen Psychologismus, den Husserl entschieden bekämpft. Der Streit mit dem Psychologismus gründet mithin genau in der unterschiedlichen Auffassung über den »wesentlichen Charakter« der Logik. Statt 8
Vgl. XVIII,40 ff.; XVII,352 ff., 370 f.; XXIV,29 f.; XXVIII,4 f.; Hua. Mat. III,12. Vgl. XVII,34 f.; XXIV,31; Hua. Mat. I, 36; Hua. Mat. III,11f. und XVIII,41: »Was den wahrhaften, den gültigen Wissenschaften als solchen zukommt, m.a.W. was die Idee der Wissenschaft konstituiert, will die Logik erforschen, damit wir daran messen können, ob die empirisch vorliegenden Wissenschaften ihrer Idee entsprechen, oder inwieweit sie sich ihr nähern, und worin sie gegen sie verstoßen. Dadurch bekundet sich die Logik als normative Wissenschaft […].« 9
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Die Psychologismuskritik
nämlich, wie es im logischen Psychologismus geschieht, die theoretischen Fundamente der Kunstlehre für solche zu halten, die der Logik eigentlich äußerlich und mithin unwesentlich sind, weil das Wesen der Logik allein durch ihren praktisch orientierten Charakter als Kunstlehre bestimmt wird, betont Husserl die Notwendigkeit einer der Logik wesentlich eigenen, rein theoretischen Elementarlehre. Es ist also die Auseinandersetzung mit der Frage nach den entscheidenden theoretischen Fundamenten der Logik als normativer Wissenschaftslehre, die Husserl in negativer Hinsicht zur Abgrenzung vom Psychologismus bewegt und ihn dagegen andererseits seine Idee einer reinen Logik darstellen läßt. Denn die reine Logik soll jene formalen Begründungsgesetze, die wegen ihrer normativen Wendung in der Kunstlehre eine gewichtige praktische Bedeutung für die Wissenschaften gewinnen, apodiktisch begründen und damit den sicheren »theoretischen Kerngehalt« der Wissenschaftslehre bilden (XVIII,61). So ist es die Frage nach dem eigentlichen Wesen der Logik als Wissenschaftslehre, bzw. näher die nach den wesentlichen theoretischen Grundlagen der umfassenden Wissenschaftslehre, die Husserl in den »Prolegomena« beantworten will, und die den systematischen Hintergrund für seine Kritik am Psychologismus bildet10. Husserls Frage nach den theoretischen Grundlagen der Logik als normativer Wissenschaftstheorie ist ihrerseits von der einfachen Überlegung her motiviert, daß jede normativ leitende Disziplin ihre Ansprüche nur dann rechtmäßig und allgemeingültig erheben kann, wenn diese einsichtig begründet sind. Deswegen bedarf jede normativ-praktische Disziplin eines apodiktischen theoretischen Fundaments (vgl. XVIII, § 14). Dementsprechend muß von der ersten, weiten Bestimmung der Logik als normativer Kunstlehre eine engere unterschieden werden. Logik im engeren Sinne ist nämlich nur jene rein theoretische Disziplin, die all die logischen Gesetze bestimmt, die dann in der Kunstlehre eine »normative Wendung« erfahren und die daher für die gesamte Logik eine fundamentale Bedeutung haben. Bei der Charakterisierung dieser logischen Grundgesetze kommt es dann zu 10
Vgl. XVIII,62 ff. Im Anschluß an das verbreitete Verständnis der Logik als Kunstlehre fand bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Forschungen zur Logik eine Debatte darüber statt, ob die Logik Kunst oder Wissenschaft sei. Bolzano stellt diese Frage im § 11 seiner »Wissenschaftslehre«, und Brentano (1956) greift sie im § 2 seiner Wiener Logikvorlesung auf. Husserl nimmt mit seiner Idee der reinen Logik zu dieser bis auf Aristoteles zurückreichenden Fragestellung eine Mittelstellung ein: Zwar liegen für ihn die wesentlichen Fundamente der Logik in einer rein theoretischen und apriorischen Sphäre, gleichwohl ist aber eine erkenntnispraktische und normative Anwendung der apriorisch (also nicht mehr psychologisch) gegründeten Logik in den Wissenschaften möglich.
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dem in den »Prolegomena« ausgetragenen Streit zwischen dem zeitgenössischen logischen Psychologismus und der reinen Logik – einem Streit, den Husserl durch einen »Rückgang auf die Prinzipienfragen« (XVIII,20) in der Logik endgültig zugunsten der reinen Logik entscheiden will. Denn die für die Begründung der Logik als Kunstlehre elementaren Grundgesetze sind von allem Psychologischen und Empirischen unabhängig, also nur »rein« logisch bestimmt. Husserls Rückgang auf die theoretischen Grundlagen der Logik als Kunstlehre sowie die damit einhergehende Bestimmung des eigentlichen Wesens der Logik setzt nun mit einer näheren Untersuchung der Wissenschaften ein. Die nähere Charakterisierung des eigentlich Logischen erfolgt im Ausgang von den Wissenschaften, weil sich in ihnen eine viel reichhaltigere Ausgestaltung und Verwendung der logischen Formen finden läßt als im »natürlichen« Denken, das ja auch gar nicht immer in dem Sinne logisch ist, daß es auf eine Erkenntnis von Wahrheit abzielt11. So erfordert hier die zur Psychologismuskritik führende Frage nach den theoretischen Grundlagen der Logik als Kunstlehre eine nähere Analyse der Wissenschaften.
2. Das Thema der reinen Logik oder die Frage nach dem Wesen der Wissenschaften Als Wissenschaftslehre soll es die Logik letztlich erlauben, echte Wissenschaft von falscher – als Beispiel nennt Husserl die Astrologie (vgl. XXX,30) – zu unterscheiden, um so den Wissenschaften mit ihren normativ fungierenden Regeln dienen zu können. Dieses Ziel kann die Logik jedoch nur dann erreichen, wenn sie eindeutig fixieren kann, was »Wissenschaft« eigentlich ausmacht und konstitutive Bedingung ihrer Möglichkeit ist. Dementsprechend hat die Logik zu erforschen, »was die Idee der Wissenschaft konstituiert« (XVIII,41; vgl. Hua. Mat. III,41f.). Denn nur wenn die konstitutiven Grundlagen der Wissenschaften klar bestimmt sind, vermag die Logik in normativer Wendung auch zu prüfen, welche Theorien ihnen gemäß sind, und welche nicht. So ist die Frage, »was Wissenschaften überhaupt zu Wissenschaften macht« (XVIII,27, vgl. 230) eine Leitfrage in den »Prolego-
11
Husserls Bestimmung eines engeren Begriffs der Logik im Ausgang von einer Analyse der Wissenschaften zeigt sich jeweils in den einleitenden Vorlesungen zu seinen Logikvorlesungen von 1896 (Hua. Mat. I) und 1902/03 (Hua. Mat. II) sowie jeweils in den Anfangsparagraphen der ersten Kapitel der »Prolegomena« und der Vorlesungen zur Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie von 1906/07 (Hua. XXIV).
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mena«, die Husserl mit seiner Theorie der reinen Logik im Schlußkapitel des Werkes beantwortet. Seine These ist dabei, daß die grundlegende Wesensbestimmung der Wissenschaften nur mittels der reinen Logik gelingt, während dagegen die Versuche der Psychologisten, die die Logik als Wissenschaftslehre von der Psychologie aus begründen wollen, nur in einen selbstwidersprüchlichen Skeptizismus führen. Im Rahmen des Psychologismusstreits geht es mithin um die Frage, wie eine sichere logische Begründung von Wissenschaften gelingen kann und damit letztlich sogar darum, ob wissenschaftliche Erkenntnis von Wahrheit möglich ist, bzw. unter welcher Art von Bedingungen diese steht. Diese Bedingungen, die konstitutiv für Wissenschaften sind, genauer zu bestimmen, muß das vordringliche Ziel jeder Logik sein, die in einer Wissenschaftslehre auch normativ anwendbar sein soll.
a) Wissenschaft und Wahrheit Die Leitfrage der »Prolegomena« nach dem Wesen der Wissenschaften gerät von Anfang an von der Logik her in den Blick, so daß Husserl sich hier nicht dafür interessiert, wie Wissenschaften etwa als soziologische, historische oder psychologische Gebilde verfaßt sind. Entscheidend ist allein, daß Wissenschaften Sinngebilde sind, in denen es um die Erkenntnis von Wahrheit geht: »Wissenschaftliches Denken zielt auf Wahrheit«, heißt es bei Husserl, und dieser wird es im Wissen inne12. Nun liegt Wissen im strengen Sinne aber unmittelbar nur da vor, wo wir auch unmittelbare Evidenz von Sachverhalten haben. Leitend ist hierbei in den »Prolegomena« die Idee einer direkten apodiktischen Evidenz, die sich beispielsweise bei der Einsicht in logische oder geometrische Grundsätze einstellt. Nur dabei wird etwas nicht bloß vermeint oder für wahrscheinlich gehalten, sondern direkt selbst gegeben. Derart unmittelbares Wissen bzw. unmittelbare Evidenz haben wir jedoch nur bei sehr wenigen Erkenntnissen und »in der unvergleichlichen Mehrheit der Fälle entbehren wir dieser absoluten Erkenntnis der Wahrheit« (XVIII,29). Gerade weil wir die Wahrheit aber nur in seltenen Fällen direkt und unmittelbar erkennen, bedarf es der Ausbildung von Methoden und Verfahrensweisen, die uns über die Einsicht in das unmittelbar Evidente und daher »Triviale« hinausführen13. Und eben darum gibt es auch überhaupt nur Wissenschaften, denn wäre alles unmittelbar evident, wären weder 12 13
XXIV,35, vgl. 3 sowie XVIII,28 f.; Hua. Mat. I,6; Hua. Mat. II,21f.; XXII,344 f. Vgl. XVIII,32; Hua. Mat. I,10 f.; Hua. Mat. II,250; XXIV,14 ff.
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Theorien noch Beweise oder sonstige wissenschaftliche Mittel zur Erkenntnisgewinnung nötig14. Wissenschaft ist mithin von dem Anliegen geleitet, Evidenzen auch dort zu gewinnen, wo sie nicht schon unmittelbar gegeben sind; sie »will das Mittel sein, unserem Wissen das Reich der Wahrheit, und zwar in größtmöglichem Umfange, zu erobern« (XVIII,31). Die Rede von der Wahrheit als einem zu »erobernden« oder zu »entdekkenden« Reich, das wir – von einer »höchst beschränkten Gruppe primitiver Sachverhalte« (XVIII,31) einmal abgesehen – nur mit methodischen, nämlich wissenschaftlichen Verfahren zu erkennen vermögen, findet sich in den »Prolegomena« an verschiedenen Stellen15. Dieses Reich sei so geordnet, daß es sich in Gebiete als »natürliche Provinzen« gliedere (vgl. XVIII,21, 30, 40). Wahrheiten bestehen, so Husserl weiter, in unzeitlicher und idealer Weise, d.h. auch unabhängig davon, ob wir sie einsehen oder nicht16. Vielmehr sei umgekehrt gültige Erkenntnis überhaupt nur möglich, weil wir in ihr der an sich seienden Wahrheit »teilhaftig« würden (XVIII,31). Gäbe es m.a.W. keine Wahrheit, dann gäbe es weder Erkenntnis noch Wissenschaft. Somit ist hier die Wahrheit selbst die erste ideale Bedingung der Möglichkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis (XVIII,240). – Eine solche Auffassung von einer »Wahrheit an sich«, wie Husserl sie in den »Prolegomena« vertritt, erregt natürlich sofort den Verdacht einer metaphysisch naiven, ja geradezu dogmatischen Befangenheit. Dieser Verdacht festigt sich, wenn Husserl Wahrheit direkt »als Objekt eines richtigen Urteils« begreift (XVIII,28), womit er sie zu einem Gegenstand hypostasiert und in der Folge davon dann »wahr« nicht als Urteilsprädikat, sondern als Sachverhaltsprädikat verwendet. Im Vorwort zur zweiten Auflage der LU hat Husserl selbst »wesentliche Unzulänglichkeiten« (XVIII,12) seiner Ansetzung einer »Wahrheit an sich« in den »Prolegomena« eingestanden. Als »unvollkommen« (XVIII,13) ist diese Lehre vor allem deswegen zu bezeichnen, weil sie in den »Prolegomena« erkenntnistheoretisch gänzlich unausgewiesen und insofern unphä-
14
Vgl. XXIV,15 f.; XVIII,31 f. Diese Erklärung der Wissenschaften entspricht derjenigen, die Husserl früher schon hinsichtlich der Mathematik gegeben hat: Nur weil wir als psychisch begrenzte, endliche Wesen »eigentlich«, d.h. anschaulich erfüllt, den Zahlenbereich nur höchstens bis zur 12 übersehen können, bedarf es der Ausbildung von Methoden zur Erweiterung unseres Erkenntnisbereichs, also der Entwicklung der Arithmetik als Wissenschaft. 15 Vgl. XVIII,21, 30, 40, 71, 189, 231, 240 sowie Hua. Mat. I,9; Hua. Mat. II,80. Husserls Lehre von einer »Wahrheit an sich« ist im wesentlichen an Bolzano orientiert. Vgl. dazu unten II. D. 1. 16 Vgl. XVIII,136, 240; Hua. Mat. I,220; XXIV,37, 142; XXVIII,149.
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Die Psychologismuskritik
nomenologisch vorgebracht wird17. Dennoch ist bereits hier zu betonen, daß in dieser Voraussetzung ein entscheidender systematischer Hintergrund für die Psychologismuskritik der »Prolegomena« liegt. Hinsichtlich der philosophischen Herkunft dieser Voraussetzungen war für Husserl zum einen das Studium von Bolzano und Lotze maßgeblich18. Außerdem ist der unkritische Umgang mit einer »Wahrheit an sich« auch durch die mathematische Herkunft von Husserls Denken begünstigt, denn vielen Mathematikern ist die Annahme von ewigen, situations- und subjektunabhängigen Wahrheiten durchaus vertraut. Unausdrücklich unterstellen Mathematiker dann beispielsweise, daß Zahlenreihen auch dort fortgesetzt weiterlaufen, wo sie sich dessen noch nicht im einzelnen vergewissert haben; oder sie präsupponieren, daß es Lösungen für Rechenaufgaben »an sich« auch dann schon gibt, wenn sie noch gar nicht errechnet sind. Gekoppelt ist Husserls Annahme einer »Wahrheit an sich« mit dem Gedanken an deren strenge Verbindung mit einer ihr wechselseitig immer zugehörigen Gegenständlichkeit. Wahrheit und Sein sind danach Korrelate, so daß Husserl »Wahrheit« in manchen Zusammenhängen so verwendet, daß damit der erkannte Gegenstand gemeint ist. »Wahrheit« ist dann selbst das Objekt des Wissens, weil Husserl den gewußten, selbstgegebenen Gegenstand »in naheliegender Äquivokation«19 schlicht als »die Wahrheit« bezeichnet. Von »Wahrheit« ist dann im Sinne von »Wirklichkeit« die Rede (vgl. XVII,133). So stellt er Wahrheit korrelativ zum Sein, bzw. »Wahrheit an sich« zu »Sein an sich«20. In dieser Ansetzung eines »Seins an sich« zeigt sich 17
An dieser Stelle ist anzumerken, daß die »Prolegomena« im wesentlichen Ausarbeitungen von Logikvorlesungen von 1886 sind (vgl. Hua. Mat. I). Druckfertig waren sie bereits Ende 1899, aber sie erschienen »infolge zufälliger Umstände« erst 1900 (XVIII,262, vgl. 12; XXIV, 57; Hua. Dok. I,46 f. sowie zur Entstehungsgeschichte der »Prolegomena« Holensteins Einleitung des Hrsg. zu Hua XVIII und Schuhmanns Einleitung der Herausgeberin zu Hua. Mat. I). Der Hinweis auf die frühe Herkunft des Buches macht dessen vorphänomenologische Elemente, die sich vor allem im Zusammenhang des Wahrheitsbegriffs nachweisen lassen, verständlich. Eine Aufklärung und Differenzierung des Wahrheitsbegriffs bringt erst die LU VI. Vgl. hierzu auch Grünewald (1977), 149 f. Anm. 5. 18 Vgl. dazu unten Kapitel II. D. 19 XVIII,193, vgl. 233 sowie Hua. Mat. I,6, 48, 220. 20 Die traditionelle, geradezu identifizierende Verbindung von Wahrheit und Sein wird bei Husserl auch im § 39 f. der LU VI deutlich. Dort exponiert er vier von ihm verwendete Nuancierungen des Wahrheitsbegriffs, wobei er das »Sein im Sinne der Wahrheit« oder »die Wahrheit als Korrelat eines identifizierenden Aktes« (XIX/2,651, 655) als ersten und den selbstgegebenen Gegenstand als dritten Sinn von Wahrheit bestimmt. Diese gegenständliche Deutung im dritten Wahrheitsbegriff, wonach der selbstgegebene Gegenstand als »das Wahre« verstanden wird, weil er als Intentionen erfüllender, also »wahrmachender« erlebt wird (XIX/2,652), hält Tugendhat (1970), 94 f. für die systematisch primäre, da
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eine realistische Tendenz von Husserls früher Philosophie, denn er geht damit davon aus, das es ein unabhängig von uns bestehendes, ausdifferenziertes Sein gibt, daß in sich durchgängig und fest bestimmt ist: »Es kann nichts sein, ohne so oder so bestimmt zu sein; und daß es ist und so oder so bestimmt ist, dies ist eben die Wahrheit an sich, welche das notwendige Korrelat des Seins an sich bildet«21. Um dessen Erkenntnis geht es in den Wissenschaften22. Sie sind nötig, weil die Wahrheit bzw. das Sein für uns eben nur zu einem geringen Teil im Wissen unmittelbar evident gegeben ist. Wissenschaft ist für Husserl m.a.W. das Bemühen, Wahrheit und Sein auch dort zur Gegebenheit zu bringen, wo sie ursprünglich verborgen ist. Hierzu bedarf es wissenschaftlicher Methoden, mittels derer ein über das unmittelbar Evidente hinausgehendes, erweitertes Wissen gewonnen werden kann (vgl. XVIII,31; Hua. Mat. I,10 f.; XXIV,15).
b) Wissenschaft und Begründung Für die Wesensbestimmung der Wissenschaften durch die Logik ist der hier bisher untersuchte Hinweis auf deren Streben nach Wahrheit nur ein erster Schritt. Ein ganz entscheidendes Charakteristikum für die Wissenschaften ist Husserl an sie in späteren Arbeiten anknüpft (vgl. dazu auch Rosen (1977), 51ff. und Mertens (1996), 195 ff.). Die beiden übrigen Wahrheitsbegriffe der LU fassen Wahrheit hingegen eher als eine Idee, die nicht in direkter Weise gegeben ist, sondern erst in reflexiven, höherstufigen Akten. In den »Prolegomena« überwiegt zwar die direkt vergegenständlichende Bestimmung von Wahrheit, jedoch versteht Husserl daneben auch hier die Wahrheit schon im Sinne einer Idee, die im Wissen zwar erlebt, aber nicht gleichzeitig auch so thematisch ist, wie der darin gewußte Gegenstand oder Sachverhalt (vgl. XVIII,135, 193, 232). Spezielle Analysen des komplexen Wahrheitsbegriffs in den »Prolegomena« finden sich bei Tugendhat (1970), 91ff., 101f., 230; Patzig (1977); Grünewald (1977), 12 ff., 82 ff.; Heffernan (1983), 64 ff.; Heuer (1989), 123 ff.; Dahlstrom (1994), 64 ff. und Lohmar (1998), 158–165. 21 XVIII,231, vgl. XIX/1,95. Auf diese Textstellen beruft sich auch Ingarden (1975), 6 ff., bei seiner Herausarbeitung des Realismus in Husserls frühen Werken. Die Korrelation von Wahrheit und Sein betont Husserl auch an anderen Stellen; vgl. XVIII,232; XXVI,146; XI,105; XXIII,523; XVII,133. 22 In den Vorlesungen über Grundprobleme der Ethik von 1908/09 führt Husserl den korrelativen Bezug von Wissenschaft und Sein bzw. Wirklichkeit noch weiter: Denn wenn Wissenschaft auf Wahrheit oder eben Sein geht, dann kulminiert sie der Idee nach in der Erkenntnis einer »Wirklichkeit an sich«, von der Husserl hier ohne jedes erkenntnistheoretische Bedenken ebenso spricht, wie früher bereits von dem »Sein an sich«: »Wissenschaft, strenge und echte Wissenschaft, in höchster Vollendung gedachte, und Wirklichkeit an sich, das sind also Korrelativa« (XXVIII,246).
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nämlich darüber hinaus der systematische, theoretische Zusammenhang des Wissens in ihnen, der einzig und allein durch einen Begründungszusammenhang gewährleistet wird (vgl. XVIII,30, 233 ff.). »Wissenschaft begründet« (Hua. Mat. II,22; XXIV,3), und im Bau von mittelbaren Begründungen besteht somit ihr eigentliches Geschäft (vgl. XXIV,14 f.). Gleichzeitig sind es die Begründungszusammenhänge, die überhaupt erst die Einheit der Wissenschaften ermöglichen (vgl. XVIII,233; Hua. Mat. II,26 ff.). Wissen wird in ihnen nämlich weder bloß nach sachlichen Verwandtschaften zusammensortiert noch sonstwie agglomeriert. Die für die Einheit der Wissenschaften konstitutiven Begründungszusammenhänge begreift Husserl in den »Prolegomena« nun im sehr strengen Sinne eines deduktiv nomologischen Systems. Wissenschaftliche Erkenntnis ist für ihn daher hier in systematischer Vollendung immer eine Zurückführung von Begründungszusammenhängen auf evidente Grundgesetze oder Grundsachverhalte. Entsprechend gehört es zum Wesen jeder Wissenschaft in dieser Weise erklärend vorzugehen. Beschreibende Wissenschaften, wie z. B. Biologie, Geologie oder Geographie, verdienen nach diesem Verständis den Namen der Wissenschaft nur deshalb, weil sie nicht ausschließlich beschreibend sind, sondern auch erklärende und begründende Formelemente mit enthalten. So sind die streng theoretischen Wissenschaften für Husserl die eigentlichen Grundwissenschaften, aus denen alle anderen dasjenige schöpfen, was sie erst zu Wissenschaften macht23. Da der geforderte deduktive Aufbau von Wissenschaften in vorbild23
Vgl. XVIII,237 f. Weil sich die Einheit der Wissenschaften für den frühen Husserl eigentlich nur durch ihren theoretischen Begründungszusammenhang sichern läßt (vgl. XVIII, § 63f), gehört es für ihn »zum Wesen jeder Wissenschaft als solcher […] zu erklären« (XVIII,236(A)). Dieser Wissenschaftsbegriff ist eindeutig am Vorbild der »wundervollen Methoden der Mathematik« (XVIII,26; vgl. Hua. Mat. II,228) orientiert, denn nur mit ihnen gelingt der geforderte Aufbau von systematisch vollendeten Theorien im strengen, deduktiven Sinne (vgl. XVIII,234). In den »Prolegomena« führt dies sogar dazu, daß Husserl »die mathematische Form« für »die einzig wissenschaftliche« hält (XVIII,254). Diese verengende Bestimmung des Theorie- und Wissenschaftsbegriffs hat Husserl in »Formale und Transzendentale Logik« deulich zurückgenommen: »Korrekterweise hätte dort [ – in den »Prolegomena« – ] jede vorausgehende Anknüpfung an das Ideal der ›theoretischen‹, der ›nomologisch erklärenden‹ Wissenschaften, das keineswegs für alle Wissenschaften als Ideal gelten kann, unterbleiben müssen« (XVII,107; vgl. auch XXX,256, 337 ff.). Husserls früher Theoriebegriff bildet übrigens den Ausgangspunkt von Horkheimers schulbildendem Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« (1937). In ihm sieht Horkheimer zu Recht den »repräsentativen Ausdruck« eines letztlich auf Euklid zurückgehenden Wissenschaftsideals, dem er eine fatale Abstraktion der Wissenschaft aus der gesellschaftlichen Praxis vorwirft (ders. (1988), 164 f.). In der neueren Kritischen Theorie findet sich eine Weiterführung dieser Kritik in Habermas’ Antrittsvorlesung »Erkenntis
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licher Weise in der Mathematik realisiert ist, ist Husserls Wissenschaftsbegriff hier noch von der Überzeugung geleitet, daß »die Mathematik als Prototyp der Wissenschaft überhaupt« zu gelten habe (XXI,221, vgl. 227, 216; XXII,121). Gehört ein systematisch begründendes Vorgehen für Husserl konstitutiv zu dem, was Wissenschaften zu Wissenschaften macht, dann muß die Aufgabe der reinen Logik als Wissenschaftslehre genau darin liegen, eben diese Begründungszusammenhänge auf ihre Gesetzmäßigkeiten hin genauer zu untersuchen (vgl. XVIII,40). Denn nur wenn es ihr damit gelingt, das Wesen der Wissenschaften eindeutig zu fixieren, gewinnt sie hierin auch das gesuchte normativ anwendbare Regelwerk zur Scheidung von echter und bloß irrtümlich prätendierter Wissenschaft. Eine solche Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, und damit die Logik als Wissenschaftslehre, ist nun ihrerseits deswegen möglich, weil die in ihr zu thematisierenden wissenschaftskonstitutiven Begründungszusammenhänge der verschiedenen Wissenschaften formal gleich strukturiert sind. Außerdem lassen sich die Begündungsformen von ihren jeweiligen Anwendungen in konkreten Sachzusammenhängen reflexiv lösen und als Abstrakta eigens vergegenständlichen24. Den logischen Formen ist mithin gegenüber ihren einzelnen Anwendungsfällen eine Identität eigen, in der die Möglichkeit gründet, sie in der Logik gesondert zu thematisieren. Diese gegenständliche Identität der logischen Formen wird von Husserl in ontologischer Hinsicht weiter charakterisiert: Die logischen Formen als Gegenstände der reinen Logik sind nichtempirische, ideale Gegenstände. Ihnen ist nämlich eine Identität eigen, die allein aus einzelnen sachbezogenen Anwendungen nicht erklärt werden kann, weil sie jederzeit auch in völlig heterogenen Sachzusammenhängen verwendet werden können. Mithin können diese idealen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft auch nicht von gewöhnlichen Einzelwissenschaften her geklärt werden, da diese nur jeweils begrenzte Tatsachengebiete erforschen, während die Logik eben die universalen Formen jeder möglichen Wissenschaft untersucht. Das theoretische Fundament der Logik als Kunstlehre wird auch aus diesem Grund nie von der Psychologie gelegt werden können.
und Interesse« von 1965. Dort versteht es Habermas allerdings, die Konsequenzen von Husserls spätem Lebensweltbegriff für die Wissenschaften für seine eigene Weiterführung einer Kritischen Theorie fruchtbar zu machen (vgl. ders. 1970). 24 Vgl. XVIII,34, 37; Hua. Mat. I,17; Hua. Mat. II,28; XXIV,23, 64, 109 ff.
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c) Wissenschaft und Bedeutung Die Gesetzmäßigkeiten der wissenschaftskonstitutiven Begründungsformen stellen nur einen Teil des eigentümlichen Gegenstandsgebiets der Logik als Wissenschaftslehre dar. Mit ihm hängt nämlich außerdem zusammen, daß das Thema des Logikers immer Urteilszusammenhänge, bzw. in ganz elementarer Weise zuerst die Urteile und ihre konstitutiven Formen selbst sind. Dies gilt zum einen, weil die logischen Begründungsformen immer in Urteilszuammenhänge eingeschlossen sind, die sie herstellen, und zum anderen, weil sich die in den Wissenschaften zu erforschende Wahrheit in Urteilen und Urteilszusammenhängen ausspricht25. Urteile kommen dabei in der Logik nicht von einer sprachwissenschaftlichen oder psychologischen Perspektive her in den Blick, sondern als logische Sinneinheiten, d.h. als »Sätze« oder Propositionen26. Der Logiker interessiert sich für sie nur als Sinngebilde, die wahr oder falsch sein können. Diese Eigenschaft kommt den Urteilen aber nicht als Urteilserlebnissen zu, die von der Psychologie erforscht werden können, sondern sie ist nur möglich, weil Urteile einen Bedeutungsgehalt haben, genauer gesagt eine »propositionale Materie«27. Auf die Erforschung dieser Bedeutungen und der im Bedeutungsgebiet herrschenden Gesetzmäßigkeiten muß sich das Interesse des Logikers letztlich konzentrieren, da es ihm als Wissenschaftstheoretiker ja um die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft und Wahrheit geht, die in objektiv-idealer Hinsicht im Bedeutungsgebiet gründen. Die Urteilsbedeutungen sind für Husserl das »Was« des Urteils, d.h. das darin Vermeinte als solches, im Unterschied zum vermeinten Gegenstand, der niemals selbst die Bedeutung des Urteils ist (vgl. XIX/1,52; XXIV,53). Anders gesagt, sind Bedeutungen nicht selbst die Referenzobjekte der Urteile, sondern Referenz, bzw. damit mögliche Wahrheit, wird nur mittels ihrer ermöglicht. Auf Husserls Bedeutungstheorie der LU soll an dieser Stelle nur insofern eingegangen werden, als sie einen wesentlichen Bestandteil seiner Psychologismuskritik bildet. Darin spielt sie eine zentrale Rolle, weil Bedeutungen 25
Vgl. XVIII,164; XXIV,35, 74; XIX/1,7 Unter »Sätzen« versteht Husserl in seinen Texten zur Logik durchwegs ideale Bedeutungsgebilde, und zwar unabhängig von deren empirisch-sprachlicher Fassung in beliebigen Schriftzeichen oder Sprachlauten. Husserls »Sätze« weisen insofern ähnliche Züge wie Freges »Gedanken« und Bolzanos »Sätze an sich« auf. 27 Im Unterschied zur Setzungs- oder Urteilsqualität – sozusagen der propositionalen Einstellung – wird die Bedeutung von Urteilen letztlich durch ihre »propositionale Materie« bestimmt (vgl. XXX,58 ff.). 26
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sich in der Logik zwar reflexiv vergegenständlichen lassen, sie aber keine gewöhnlichen, naturwissenschaftlich erfaßbaren Gegenstände mit einer RaumZeit-Stelle sind, sondern ideale Gegenstände. Diesen besonderen ontologischen Status, mit dem für Husserl ihre Überzeitlichkeit verbunden ist, haben sie aus einsichtigen Gründen: – Sie sind als ideale Einheiten unabhängig von der Besonderheit ihres individuellen sprachlichen Ausdrucks, wofür ihre sprachliche Übersetzbarkeit bzw. die Möglichkeit des Sinnverstehens von verschiedenen Sprachen klare Indizien sind. – Sie sind in dem Sinne subjektunabhängig, daß verschiedene Subjekte dasselbe meinen können – ohne dies wäre keine gelingende Kommunikation möglich. – Sie überdauern die einzelnen Fälle in denen wir sie jeweils denken und sind insofern allzeitlich, als verschiedene Subjekte sie als dieselben prinzipiell immer wiederholt denken können. M.a.W. sind sie sprach- und kontextunabhängig, daher übersetzbar und kommunizierbar, sowie allzeitlich geltend und daher jederzeit wiederholbar28. Genau im Sinne dieser Bestimmungen sind sie intersubjektiv und objektiv, wobei ihre Objektivität letztlich in ihrer Idealität gründet29. Husserl begreift in den LU Bedeutungen aus diesen Gründen als ideale Spezies, d.h. als abstrakte, allgemeine Gegenstände30. Mit dieser Charakterisierung der Bedeutungen als dem Gegenstandsbereich der reinen Logik ist dann auch verbunden, daß die Logik keine Wissenschaft von empirischen Gegenständen sein kann. Vielmehr thematisiert sie ganz universale, ideale und daher streng objektive Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, wozu sie als empirische Wissenschaft gar nicht in der Lage wäre.
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Zu diesen »Eigenschaften« von Bedeutungen vgl. exemplarisch auch Mohanty (1977), Bernet (1979), 39 f., Willard (1984), 180 f. und Rohs (1985). 29 Vgl. XVIII,194: »Die Idealität der Wahrheit macht […] ihre Objektivität aus«, oder: »Objektivität liegt ausschließlich in der Idealität« (XXIV,323) sowie XXIV,142 f.; Hua. Mat. III,51, 139, 200, 206. 30 Vgl. z.B.: »Die Bedeutungen bilden, so können wir auch sagen, eine Klasse von Begriffen im Sinne von ›allgemeinen Gegenständen‹.« (XIX/1,106). Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund dieser sogenannten Speziestheorie der Bedeutung vgl. unten II. D. 2. In Husserls früher Logikvorlesung von 1896 wird diese Konzeption der Bedeutungen als idealer Gegenstände noch nicht vertreten. In seinen späteren Schriften hat Husserl sie dann allerdings wieder zurückgenommen, was v. a. in »Erfahrung und Urteil« § 64d ersichtlich ist. Einen früheren Hinweis dieser Revision gibt ein Brief an Ingarden vom 5.4.1918 (vgl. Hua. Dok. III/III, 182).
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Vergegenwärtigen wir uns nun die bis hierher gewonnenen Einsichten in das Wesen der Wissenschaften, so wird klar, daß für die reine Logik als Wissenschaftslehre die Bedeutungen die primären Untersuchungsgegenstände bilden müssen: Wissenschaft zielt in dem Sinne auf Wahrheit, daß sie wirkliche, selbstgegebene Gegenständlichkeit erkennen will. Dies gelingt nur zu einem geringen Teil unmittelbar, so daß sie auf den Bau von mittelbaren Begründungszusammenhängen angewiesen ist, die sich in allen Wissenschaften in streng fixierten logischen Formen vollziehen. Da nun zum einen Begründungen an Sätze als Bedeutungskomplexionen gebunden sind und Bedeutungen zum anderen überhaupt erst Gegenstandsbezug, also Referenz und mithin mögliche Wahrheit vermitteln, müssen die Bedeutungen die ganz elementaren Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft und damit das zentrale Thema der reinen Logik als Wissenschaftslehre sein: »In der Tat hat es die reine Logik […] ausschließlich mit diesen idealen Einheiten, die wir hier Bedeutungen nennen, zu tun«31. Ihre Aufgabe wird es sein, die im Gebiet der Bedeutungen herrschenden Gesetzmäßigkeiten genau zu bestimmen, um in ihnen die für Wissenschaft überhaupt gültigen Bedingungen der Möglichkeit festzustellen.
3. Aufbau und Aufgaben der reinen Logik In ihrer umfassenden Bedeutung ist die Logik für Husserl und die meisten seiner Zeitgenossen formale und universale Wissenschaftslehre, also »die Wissenschaft der Wissenschaften« (XVIII,244). Als solche muß sie bestimmen, was für Wissenschaften konstitutiv ist, so daß sie an der Frage orientiert ist, »was Wissenschaft zur Wissenschaft macht« (XVIII,230, vgl. 27). In diesem Sinne fragt sie m.a.W. nach dem Wesen von Wissenschaft überhaupt. Sie bezweckt mit der Beantwortung dieser Frage zum einen den Gewinn von Kriterien zur Prüfung von Theorien, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, und damit zum anderen auch den von methodologisch-praktischen Regeln zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung. Insofern verfolgt die Logik im weiten Sinne immer auch normative und praktische Ziele, so daß sie zuletzt durchaus eine Wissenschaftsmethodologie oder Kunstlehre ist. Hinsichtlich der Frage, wie diese Ziele erreicht werden können, tritt 31
XIX/1,97, vgl. Hua. Mat. II,61: »Die ganze Wissenschaft ist durch und durch aus
diesem selben idealen Stoff gebaut, aus dem Stoff, den wir da Bedeutungen nennen. Daher das große Gewicht, das ich hier auf die völlige Schärfe der Herausarbeitung der Idee Bedeutung lege. Es handelt sich eben um das Fundament der Logik.«
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Husserl aber in Opposition zur zeitgenössischen, psychologisch ausgerichteten Logik, denn mit seiner Idee der reinen Logik will er eine nichtempirische und apriorische Begründung der normativ-praktischen Logik vorstellen. Sie soll als Logik im engeren Sinne den eigentlichen »Kerngehalt«, d.h. das Fundament der Logik überhaupt bilden. Dazu muß sie die konstitutiven Bedingungen der Idee von Wissenschaft überhaupt, also das »Apriori« von Wissenschaft, so bestimmen, daß damit eindeutig festgelegt ist, was als Wissenschaft gelten kann. Diese Bestimmung der konstitutiven logischen Möglichkeitsbedingungen von wissenschaftlichen Theorien will Husserl, wie wir im folgenden (A. 3.a) sehen werden, mit seiner dreistufig gegliederten reinen Logik leisten. Darüber hinaus gehört zu den Aufgaben seiner Idee der reinen Logik die nochmalige Erweiterung dieser Logik durch eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung von deren Begriffen und Gesetzen mittels eines Rekurses auf das Subjekt, das sich zu all den logischen Kategorien erkennend verhält (vgl. A. 3. b).
a) Die Gliederung der reinen Logik als universaler Theorienlehre Im vorangehenden ist bereits herausgestellt worden, daß Wissenschaften für Husserl im wesentlichen durch ihren Begründungszusammenhang bestimmt sind, den er nach dem Vorbild der Mathematik als streng deduktiv-nomologischen versteht. Dieser theoretische Begründungszusammenhang ist der einheitsstiftende Grund jeglicher Wissenschaft. Insofern also dieser theoretische Zusammenhang, mithin überhaupt die formale Struktur von Theorie in diesem strengen Sinne, wissenschaftskonstitutive Bedeutung hat, muß sich die Arbeit der reinen Logik darauf konzentrieren, diesen Theoriezusammenhang genauer zu erforschen. Deshalb fragt Husserl innerhalb der reinen Logik als Wissenschaftslehre »nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie überhaupt« (XVIII,239, vgl. 243). Ein »letztes und höchstes Ziel« (XVIII,249) der reinen Logik muß dann darin liegen, in der Weise Einsicht in das Wesen von Theorien zu gewinnen, daß sie jeden möglichen formalen Aufbau einer solchen nicht nur kritisch prüfen kann, sondern ihn aus Grundprinzipien heraus prinzipiell auch antizipativ konstruieren kann (vgl. XXIV, 89 f.). In ihrer Zielsetzung ist die reine Logik damit eine Lehre von den idealiter überhaupt möglichen Theorienformen. In diesem Sinne ist sie zuletzt »die Theorie der Theorien« (XVIII,244) oder eine mathesis universalis. Doch ist dieses letzte Ziel weder ad hoc erreichbar noch ist es hier überhaupt schon hinreichend umgrenzt. Die Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit von Theorie überhaupt« ist nämlich auf doppelte Weise beant-
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wortbar, denn Husserl unterscheidet von den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit, die objektiven, die ihn in den »Prolegomena« besonders interessieren (vgl. XVIII, § 65, § 32). Die beiden sich hieran anschließenden Untersuchungshinsichten sind Bestandteile der umfassenden Idee der reinen Logik, so daß diese immer »doppelseitig« verfaßt ist (vgl. XVII,36 ff., 179, 371). In subjektiver oder noetischer Hinsicht müßte sich die Untersuchung genau genommen auf die »Bedingungen der Möglichkeit theoretischer Erkenntnis überhaupt« richten (XVIII,239), wobei nun nicht die Psychologie, sondern die »Idee der Erkenntnis als solcher« (XVIII,240) untersucht werden soll. Wohlgemerkt gehört diese erkenntnistheoretische Fragestellung für Husserl durchaus mit zur Logik als Wissenschaftslehre, ja sie wird sich, wie unten noch deutlich werden wird, sogar gewissermaßen als Achillesferse der gesamten Idee der reinen Logik erweisen. Husserl geht ihr aber in den »Prolegomena« noch nicht nach, sondern stellt sie bis zu den letzten beiden, erkenntnisphänomenologisch orientierten »Logischen Untersuchungen« zurück. In den »Prolegomena« ist er nämlich sozusagen »objektiv«, d.h. auf die logischen Grundbegriffe und Prinzipien von Theorien selbst eingestellt und will diese direkt fixieren. Diese idealen und objektiven Bedingungen der Möglichkeit von Theorien sind Grundkategorien jeder Theorie, aus denen sich das, was je Theorie sein kann, erst aufbaut, wie etwa Begriff, Satz oder Schluß32. Die objektiv orientierte Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit von Theorien überhaupt, die in der Theorienlehre geleistet werden muß, hat sich mithin zuallererst auf diese logischen Grundkategorien zu richten, um von ihnen aus die Konstitution von möglichen Theorien begreiflich zu machen. Hierbei ist nun erneut zu betonen, daß Begriffe, Sätze und Schlüsse in der reinen Logik nicht als Erlebnisse oder psychische Ereignisse, sondern als nichtempirische Gegenstände oder als Bedeutungseinheiten thematisiert werden. So hat die Logik ein ganz anderes Untersuchungsgebiet als die empirischen Wissenschaften, weil sie sich in ihrem »Kerngehalt« (XVIII,61) ausschließlich mit idealen Einheiten, nämlich den Bedeutungen befaßt. Wo immer sich Husserl mit der Logik beschäftigt, hebt er daher hervor, daß es der Logiker im Gegensatz zu jedem Empiriker immer mit nichtempirischen, idealen Gegenständen zu tun hat33. Und nur weil ihre Welt »eine Welt von 32
Am traditionellen Aufbau der Logik gemäß den Kategorien »Begriff«, »Satz« und »Schluß« ist auch Husserls Logikvorlesung von 1896 orientiert, die für die Ausarbeitung der »Prolegomena« eine Grundlage bildete (vgl. Hua. Mat. I). 33 Außer in den »Prolegomena«, wo diese Bestimmung der reinen Logik als einer »Idealwissenschaft« durchgängig betont wird, vgl. beispielsweise XIX/1,8; XXIV,37 ff., 50 f., 144 f.; XXVIII,6 ff.; XXX,16, 22 f., 42 ff., 51; XVII,162 f.
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idealen Gegenständen [ist]« (XXIV,50), bekommt die Logik von Husserl überhaupt den Titel der »reinen« Logik, denn sie ist eben eine nichtempirische Wissenschaft. Ihr zentrales Thema sind nämlich die Bedeutungen von Urteilen, also die »Sätze« oder Propositionen, und zwar ausschließlich als komplexe Bedeutungseinheiten und Elemente von Theorien. Der Logiker bewegt sich in dieser »Welt der Sätze«, zu der auch falsche Sätze gehören können, sofern sie nicht völlig ohne Sinn sind (XXX,47, 51; Hua. Mat. I,142). Er untersucht die Sätze auf ihren formalen Bau hin, der in logischen Prinzipien sowie in elementaren Gesetzmäßigkeiten des Bedeutungsgebiets – den »Bedeutungskategorien« – seinen Ursprung hat. Daß eine solche direkte Thematisierung dieser »objektiven« Konstituentien von Theorien möglich ist, sie also »abgesondert von aller Beziehung zum denkenden Subjekt und zur Idee der Subjektivität überhaupt betrachtet und erforscht werden können« (XVIII,240), verdankt sich der ontologischen Selbständigkeit der Bedeutungen: Bedeutungen »gibt« es für den frühen Husserl als ideale Gegenstände subjektunabhängig, also »an sich« – ihnen selbst ist das Gedachtwerden bzw. der Bezug zum denkenden Subjekt außerwesentlich34. Husserls Idee der reine Logik geht nun davon aus, daß die objektiven Bedingungen der Möglichkeit von Theorien letztlich in elementaren Gesetzmäßigkeiten des Bedeutungsgebietes gründen. Diese idealen Gesetzmäßigkeiten legen erstens fest, wie überhaupt eine vollständige Bedeutung bzw. ein Satz formal komponiert sein muß, zweitens, wie diese Sätze sinnvoll verknüpft werden können und schließlich drittens, was sich hieraus für mögliche Theoriengebäude ergeben können. Die durchgängig am Bedeutungsbegriff orientierte reine Logik gliedert sich entsprechend in drei aufeinander aufbauenden Stufen, in deren letzter erst das Ideal der »allumfassenden Theorienlehre« erreicht werden kann35: Die fundamentale erste Aufgabe der reinen Logik (vgl. XVIII, § 67) besteht zunächst darin, jene primitiven Begriffe oder Bedeutungselemente festzustellen, die für den Bau von Sinneinheiten konstitutiv sind. Husserl nennt diese grundlegende Stufe der reinen Logik auch »Formenlehre der Bedeu34
Vgl. z.B. XXII,158; XVIII,135 f., 189; XIX/1,110 Der dreistufige Aufbau der reinen Logik wird im Schlußkapitel der »Prolegomena« erstmals vorgestellt. In seinen Grundzügen wurde er von Husserls später beibehalten, jedoch weiter ausdifferenziert. Hier soll er nur er sehr knapp behandelt werden. Weitergehende Erläuterungen finden sich bei Farber (1943), 139–146; Rosado-Haddock (1973), 23–42; Grünewald (1977), 11ff., 27–38; Schmit (1981), 87–92; Bernet, Kern, Marbach (1989), 41–49; Lohmar (1989), 174–182 und Ha (1997), 155–163. Einen guten Einblick in diese Idee der Logik geben Hua. XXIV, § 18 f. und die ersten drei Kapitel aus »Formale und transzendentale Logik«. 35
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tungen«, womit er ausdrücken will, daß es in ihr um die formalen Kategorien und Verknüpfungsformen geht, die für die Bildung von Bedeutungseinheiten, wie etwa elementaren Sätzen, wesentlich sind. Er geht dabei davon aus, daß Bedeutungseinheiten Ganzheiten sind, in denen in verschiedenen Formen gesetzmäßiger Verknüpfung niedere, teilweise unselbständige Bedeutungselemente geeint sind. Unselbständige Bedeutungen sind etwa Synkategoremata. Sie können nur zusammen mit anderen Bedeutungselementen in gesetzmäßigem Zusammenhang eine Bedeutungseinheit – z. B. einen elementaren Satz – fundieren36. Die Erforschung der hierbei herrschenden Kompositionsgesetze von Bedeutungseinheiten, in denen letztlich begründet ist, welche Art von Wortverbindung oder Bedeutungskomplexion überhaupt sinnvoll sein kann, gehört zur fundamentalen Aufgabe der reinen Logik. Ihre Sphäre liegt noch vor den üblichen logischen Gesetzen und sie gipfelt in der Idee einer reinen Grammatik, die Husserl in der IV. »Logischen Untersuchung« näher ausführt37. Diese soll eine apriorische, universale Morphologie oder Syntax möglicher Sätze erstellen und es von den im Bedeutungsgebiet herrschenden Kompositionsgesetzen aus erlauben, formale Sinnkritierien für mögliche Bedeutungsverknüpfungen zu gewinnen, um so auch zur Vermeidung von Unsinn normativ dienen zu können38. Das zweite Aufgabengebiet der reinen Logik bezieht sich auf die möglichen sinnvollen Verbindungsformen von Sätzen (vgl. XVIII, § 68; XXIV,73). Hierin werden Schlußformen, wie z. B. Syllogismen behandelt, so daß zur zweiten Stufe der reinen Logik ein traditionelles Pendant in der Lehre von den Schlüssen gefunden werden kann. Dabei herrschen in dieser Sphäre die genuin logischen Gesetze, die die formalanalytischen Bedingungen von 36
Schmit (1992) hat verdeutlicht, wie Husserls Idee der Fundierungsgesetzlichkeiten, bzw. sein Fundierungsbegriff in der III. und IV. »Logischen Untersuchung« auf der Grundlage von Begriffen entwickelt ist, die ihren Ursprung in der deskriptiven Psychologie von Brentano und seinen Schülern haben. 37 Vgl. ebd., v.a. die Einleitung, die §§ 10, 12 und 13 sowie Hua. Mat. II,80 f. 38 Aus den hohen Zielen einerseits und der fundamentalen Bedeutung für die auf ihr weiter aufbauende reine Logik andererseits ergibt sich, daß Husserls Idee der reinen Logik auf ihrer elementaren Stufe am verwundbarsten ist. Hier sind ja nicht nur die skizzierten Aufgaben zu erfüllen, sondern es muß auch sichergestellt werden, daß die festzuhaltenden Begriffe und Gesetze sich nicht nur zufälligen Besonderheiten spezieller empirischer Sprachtypen verdanken. M.a.W. ist hier die erkenntnistheoretische Ausweisung der beanspruchten universalen Gesetzmäßigkeiten besonders dringend, weil diese strikt »a priori« sein sollen, bzw. sie im »Wesen« des Bedeutungsgebietes oder der Sätze gründen sollen. Husserl mag solche Zweifel im Blick gehabt haben, wenn er schreibt: »Man kann die Bedeutung der Probleme dieser ersten Gruppe kaum zu hoch anschlagen, und es ist fraglich, ob nicht gerade bei ihnen die größten Schwierigkeiten der ganzen Disziplin liegen« (XVIII,246).
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möglicher Wahrheit festlegen, wie etwa der Satz vom Widerspruch. Diese Stufe soll einen allgemeinen Fonds von logischen Gesetzmäßigkeiten bereitstellen und durchforschen, der für jede mögliche gültige Theorie als umfassende Satzkomplexion notwendig bindend ist. Schließlich erreicht Husserl das angestrebte Ziel seiner Wissenschaftslehre – die »allumfassende Theorienlehre« (XXIV,90) – erst auf einer weiteren Stufe der reinen Logik (vgl. XVIII, § 69). Diese integriert die vorangehenden Stufen und baut auf ihnen auf, wenn sie nun nicht mehr bloß die für jede Theorie konstitutiven Formbedingungen thematisiert, sondern ganze Theoriengebäude. Sie ist jene Theorie aller möglichen Theorienformen, die Husserl schon im Vorwort der »Prolegomena« als »allgemeine Theorie der formalen deduktiven Systeme« kurz erwähnt (vgl. XVIII,5). Ihr Thema sind also all jene kompletten »Systeme« oder Theorien, die Husserls strengem, deduktiv-nomologischem Wissenschaftsbegriff entsprechen. Von wissenschaftstheoretischer Bedeutung ist diese Theorienlehre, weil sie es erlaubt, jeden formalen Aufbau von überhaupt möglichen Wissenschaften im strengen Sinne zu bestimmen und a priori zu konstruieren. Eine »partielle Realisierung« (XVIII,250; XVII,96) eines derartigen Ideals einer »Theorie der Theorien« (XVIII,244) erkennt Husserl in der universalen Arithmetik – jener Theorielehre, die in formaler Allgemeinheit die a priori möglichen Konstruktionen verschiedener, spezieller Arithmetiken, wie etwa Reihen-, Strecken-, oder Anzahlenarithmetik untersucht. So ist es denn nicht nur eine terminologische Anknüpfung, die Husserl dazu bringt, jene höchste Stufe seiner reinen Logik als »Mannigfaltigkeitslehre« zu bezeichnen. Vielmehr ist die sachliche Nähe der höchsten Stufe der reinen Logik zu den von uns schon behandelten Husserlschen Studien zur universalen Arithmetik offenkundig, denn hier wie dort formuliert Husserl das Ideal einer rein logischen, universalen Theorienlehre. Die universale Theorienlehre als Zielbestimmung der reinen Logik als Wissenschaftslehre erweist sich also als konsequente Fortführung und Erweiterung von Husserls frühen Arbeiten zur Mathematik39.
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Vgl. XII,431 ; XVIII,5, 249 ff.; XXIV,87 ff.; XXX, Kapitel 11. Hier wird deutlich, daß der »Gedankengehalt« des Schlußkapitels der »Prolegomena« erst vor dem Hintergrund der oben behandelten arithmetischen Arbeiten von Husserl verstanden werden kann, da er »ganz und gar aus den älteren logisch-mathematischen Studien stammt, an denen ich seit dem Jahre 1894 nicht fortgearbeitet habe.« – so Husserl im »Entwurf zu einer ›Vorrede‹ zu den ›Logischen Untersuchungen‹« von 1913 (XX/1,297). Vgl. parallel dazu die Anmerkung zum § 72 der »Ideen I«.
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b) Die Erweiterung der logischen Analytik durch formale Ontologie und Erkenntnistheorie In der universalen Theorienlehre als letzter Stufe der reinen Logik kulminiert Husserls Idee der Logik als formaler Wissenschaftslehre. In ihr werden in formaler Allgemeinheit notwendig bindende Gesetzmäßigkeiten bestimmt, denen sich jede wahrhaft wissenschaftliche Theorie fügen muß. Doch findet Husserls Wissenschaftstheorie hiermit ihren Abschluß nur als Apophantik, d.h. als eine an der Kategorie des aussagenden Satzes bzw. darauf aufbauender Theorieformen orientierte logische Analytik. Diese Analytik, und das ist ein Spezifikum der Husserlschen Idee der Logik als Wissenschaftslehre, weist jedoch über sich hinaus auf eine formal gegenständliche Disziplin. Als derart gegenständlich ausgerichtete Lehre ist die Logik dann eine universale und formale Ontologie. Der Grundgedanke, auf dem diese bemerkenswerte Erweiterung der reinen Logik zur formalen Ontologie basiert, ist die Annahme einer durchgängigen Korrelation von Bedeutung und Gegenstand: So wie es zu jeder Bedeutung unabtrennbar gehört, sich auf irgendeine Gegenständlichkeit zu richten, so korrespondiert der formalen Bedeutungslehre (Apophantik) eine formale Gegenstandslehre (Formale Ontologie)40. Diese Gegenstandsseite kann die formale Ontologie dabei natürlich nicht in ihrer faktischen Konkretion behandeln, aber sie kann das bestimmen, was überhaupt ein möglicher Gegenstand oder ein Gegenstandsgebiet sein kann, oder was zur Idee des Gegenstands in formaler Hinsicht gehört. Obwohl die formale Ontologie nur »allerinhaltsleerste Gegenstandsbegriffe« berücksichtigen kann (XXIV,54), vermag Husserl so in Korrelation zur elementaren Stufe seiner reinen Logik immerhin seinen weiten Gegenstandsbegriff von den Gesetzmäßigkeiten des Bedeutungsgebiets aus zu begründen: »Gegenstand« ist für Husserl danach all das, was »Subjekt möglicher wahrer Prädikationen« sein kann und mithin in Korrelation zur rein logischen Idee des Satzes steht41. Außerdem korreliert der die Analytik abschließenden universalen Lehre von den Theorienformen dann formal-ontologisch in entsprechender Weise die Mannigfaltigkeitslehre, also jene oben bereits vorgestellte Disziplin, die die möglichen Verbindungen von sogenannten bloßen »Denkobjekten« eines Gegenstandsgebiets als gegenständli-
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Vgl. XXIV, § 14; XVII, § 27, §§ 37 ff.; Hua. Mat. III,46 Vgl. III/1,15, 47; XIX/1,130f., 179; XXIV,53 f., 100; XXX,31, 403; XXVIII,9; IX,22. Fruchtbare Aufnahme hat Husserls formalontologischer Gegenstandsbegriff übrigens in Tugendhats »Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie« (1976), 37, 146, gefunden. 41
Idee einer reinen Logik als Wissenschaftslehre
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che Korrelate von Theorienformen rein logisch bestimmt. Natürlich sind mit solchen Erweiterungen der apophantischen Logik ins Formal-Ontologische erhebliche Probleme verbunden, die hier, wo es nur darum geht, die Tragweite von Husserls Idee der reinen Logik als Wissenschaftslehre abrundend vorzustellen, nicht zu behandeln sind. Wichtiger ist es hier hingegen eine andere, nun tatsächlich das gesamte Gebiet der Logik überschreitende Erweiterung desselben anzukündigen: In systematischer Anknüpfung an die bereits erwähnte Frage nach den »subjektiven« Bedingungen der Möglichkeit von Theorien (vgl. XVIII, § 32, § 65), fordert Husserl nämlich am Ende der »Prolegomena« zunächst in der Erforschung der Logik eine »Arbeitsteilung«: Die apriorische Konstruktion von Theorienformen ist vorwiegend Sache der Mathematiker oder der mathematischen Logiker, während hingegen der Philosophie die Aufgabe einer noetisch-erkenntnistheoretischen Reflexion auf Sinn und Wesen von deren Leistungen zufällt42. Hiermit sind ganz verschiedene Richtungen der Untersuchung der letzten Gründe der Wissenschaften angezeigt, denn im Unterschied zum objektiv orientierten Logiker, interessiert sich der erkenntnistheoretisch eingestellte Philosoph im Rahmen einer »Noetik« für die letzten subjektiven Quellen von Theorie und Wissenschaft. Seine Bemühungen müssen sich darauf richten, die festgestellten ideal-objektiven Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaften nochmals erkenntnistheoretisch zu prüfen, d.h. zu fragen, wie sie eigentlich gewußt bzw. subjektiv gegeben sein können. Anhand dieser Fragen stellen sich die Probleme des Rechts und der Objektivität von Wissenschaften noch einmal auf eine gänzlich neue und radikale Weise. Dies gilt insbesondere dann, wenn man – wie es der frühe Husserl tut – die Gültigkeit der Wissenschaften von einer erklärtermaßen subjektunabhängigen, weil an sich seienden Sphäre von idealen Bedeutungen abhängig macht. Die noetisch naive, weil einseitig objektiv orientierte Logik, muß hier also durch eine subjektgerichtete, erkenntnistheoretische Reflexion ergänzt werden, um erst danach tatsächlich als Fundament der Wissenschaften gelten zu dürfen. Die erkenntnistheoretische Prüfung der reinen Logik weist über den Rahmen der formalen Logik hinaus, weil ihre Frage nach einer Rechtfertigung der logischen Kategorien und Gesetze völlig neue Studien in der Logik erforderlich macht. Diese Untersuchungen liefert der zweite Band der LU, denn in ihm geht es eben darum, »die logischen Ideen, die Begriffe und Gesetze, zu erkenntnistheoretischer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen« (XIX/1,9, vgl. Hua. Mat. III,19). Die damit verfolgte subjektiv orientierte Er42
XVIII, § 71, vgl. hierzu auch unten Kapitel III. A. 3.
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forschung der Logik ist indes für Husserl keineswegs neu. Vielmehr stellt sie ihrem Ansatz gemäß eine Fortsetzung der »psychologischen Untersuchungen« dar, die Husserl schon in der PA mit den eigentlich »logischen Untersuchungen« kombinierte, was dort ja bereits der Blick auf den Untertitel des Buches offenkundig machte. Und nur weil für Husserl zur Logik essentiell auch die subjektive Klärung ihrer Begriffe gehört, kann er die bloß technischen Konstruktionen in der formalen oder mathematischen Logik als letztlich einseitige und naive kritisieren (vgl. auch XXIV,140, 163; XVIII,254 f.), und so etwa Schröder vorwerfen, daß dessen »Kalkül der Logik« noch lange keine »Logik des Kalküls« darstelle, da hierzu eben auch eine Theorie der konstitutiven Bewußtseinsleistungen gehört43. Die »Doppelseitigkeit« in der Erforschung von Logik und Mathematik kennzeichnet Husserls Arbeiten also von Anfang an. Dennoch kann Husserl in den LU keineswegs bruchlos die »psychologische Analyse« im Bereich der reinen Logik weiterverwenden, denn hier geht es nicht mehr nur um die Sinnklärung von »psychischen Phänomenen«, sondern um die von rein logischen, idealen Begriffen. Im Unterschied zur PA ist Husserl in den »Prolegomena« der nichtempirische Charakter der logisch-mathematischen Begriffe und Gesetze vollends deutlich, so daß die geforderte erkenntnistheoretische Aufklärung der reinen Logik nun dieser Einsicht auch methodisch anzumessen ist. Die hier zu klärende Sache der reinen Logik verlangt m.a.W. eine ihr gerecht werdende erkenntnistheoretische Methode. Diese Methode soll zwar die subjektiven Grundlagen der reinen Logik bestimmen, keineswegs darf sie aber die Idealität ihres Gegenstandes einseitig subjektivieren. Angesichts dieser Herausforderung vollzieht sich mit dem zweiten Band der LU die Verwandlung der früheren »psychologischen Analyse« in die »Phänomenologie des Logischen« (XIX/2,533). Nur so kann Husserl grundsätzlich an seiner subjektiv orientierten Grundlagenuntersuchung von Logik und Wissenschaft festhalten und dabei gleichzeitig hoffen, einer mit dieser Untersuchungsweise verbundenen Gefahr trotzdem zu entgehen – dem Psychologismus.
4. Zusammenfassung Die Logik, die Husserl im Anschluß an seine Arbeiten zur formalen Mathematik entwirft, soll als universale Wissenschaftslehre die grundlegenden Konstituentien von Wissenschaft überhaupt bestimmen, um in ihnen letztlich ein auf jede Wissenschaft anwendbares, normatives Regelwerk zu gewin43
Vgl. oben Kap. I. C. 5.
Psychologismus
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nen. In diesem Sinne ist die Logik im weitesten Sinne eine Kunstlehre wissenschaftlicher Erkenntnis. Im engeren Sinne der reinen Logik muß sie dafür aber zuvor den Begriff oder das Wesen der Wissenschaft fixieren. Dieser Aufgabe versucht Husserls reine Logik gerecht zu werden, indem sie die logischen Sinnbedingungen von jeder nur möglichen Theorie zuletzt aus elementaren, im Bedeutungsgebiet herrschenden Gesetzmäßigkeiten gewinnt. Hier bestimmen sogenannte Bedeutungskategorien die in Sätzen, Schlüssen und schließlich auch Theorien überhaupt sinnvoll möglichen Bedeutungskomplexionen. Das Gebiet der Bedeutungen ist damit der grundlegende Gegenstandsbereich der reinen Logik; von ihm her wird eine streng objektive Grundlegung der Wissenschaften ermöglicht, weil Bedeutungen für Husserl nichtempirische, ideale Gegenstände sind, die sprach-, kontext-, subjekt- und zeitunabhängig sind. Außerdem ergibt sich von den Bedeutungen aus die von Husserl konzipierte Erweiterung der reinen Logik zu einer formalen Ontologie, da jede Bedeutung korrelativ auf eine Gegenständlichkeit bezogen ist. Schließlich gehört für Husserl in den Rahmen seiner umfassenden Logik als Wissenschaftstheorie auch die Berücksichtigung der subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, die eine Noetik oder Erkenntnistheorie untersucht. Diese subjektiv orientierte Begründung von Wissenschaften darf die zuvor gewonnenen idealen, objektiven Grundlagen von Wissenschaften aber nicht wieder relativieren und muß sie daher gleichfalls von einem nichtempirischen oder reinen Bereich aus klären. Deswegen wird die Klärung der idealen, subjektiven Bedingungen der Möglichkeit nicht von der Psychologie, sondern erst von der reinen Phänomenologie aus gelingen können.
B. Der Psychologismus 1. Was ist Psychologismus? Jede um die grundlegende Klärung der Wissenschaften bemühte Theorie hat außer dem Aufweis der Fundamente der Wissenschaften auch noch die negative oder kritische Funktion der Abweisung fehlgehender Deutungen dieser Fundamente. Eine solche Fehlinterpretation erkennt Husserl im Psychologismus, und zwar insbesondere in einem in der zeitgenössischen Logik verbreiteten Psychologismus44. Deswegen ist bei Husserl vom Psychologismus 44
Die Verbreitung des Psychologismus und seine unterschiedlichen Ausprägungen in der Philosophie des 19. Jahrhunderts sind durch die Arbeiten von Rath (1994) und Kusch
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durchgängig in abwertender und polemischer Weise die Rede, wie etwa dort, wo er vom »Schreckbild des Psychologismus« (XVII,159) spricht. Welche Auffassung ist es jedoch, die als »Psychologismus« bezeichnet wird und in der Philosophie spätestens seit Husserls »Prolegomena« derartig kritisiert wird? Vorab ist dazu zweierlei zu sagen. Einerseits gibt es »den« Psychologismus gar nicht, denn weder hat er ein einheitliches Erscheinungsbild, noch hat kaum jemand seine eigenen Theorien so betitelt45. Andererseits läßt aber bereits der Wortsinn »Psychologismus« eine Annäherung zu, dergemäß es sich hier – wie bei allen »Ismen« – um eine einseitige und daher unberechtigte Verabsolutierung eines spezifischen Erklärungsaspekts unserer Welt zum universell herrschenden handelt. Der Psychologismus ist danach eine weltanschauliche Ausweitung der Methoden oder Ergebnisse der Psychologie auf nichtpsychologische Bereiche46. Er kommt dann zustande, wenn von Seiten der Psychologie ein auf nichtpsychologische Gegenstandsbereiche bezogener Begründungsanspruch erhoben wird. In diesem Sinne kann der Psychologismus vorläufig als »der Versuch, außerpsychologische Probleme mit psychologischen Mitteln zu lösen«, oder – noch allgemeiner – als »Vertauschung von Außerpsychologischem mit Psychologischem« charakterisiert werden47. (1994 u. 1995) untersucht worden. Darin findet sich auch eine Aufarbeitung des aktuellen Forschungsstands zum Psychologismus als Thema der Wissenschaftsgeschichte. Auch Rinofner-Kreidl (1997) behandelt Husserls Psychologismuskritik vor dem Hintergrund der epochenspezifischen Problemlage des Verhältnisses von Philosophie und Psychologie im 19. Jahrhundert. 45 Einzig Wilhelm Jerusalem (1905) bezeichnet seine Philosophie in dezidierter Auseinandersetzung mit Husserls »Logischen Untersuchungen« als Psychologismus (vgl. ebd., 95, 98, 102). Er vertritt eine Position, in der er Kants Erkenntnistheorie einer biologischen Deutung unterwirft. 46 Vgl. Moog (1919), 27 und Rinofner-Kreidl (1997), 21. 47 Diese Definitionen stammen aus einer Arbeit von Hans Pfeil aus dem Jahr 1934, 2, 10. Pfeil stellt sie an den Anfang seiner Unterscheidung von speziellen Formen des Psychologismus, der er eine Untersuchung des Psychologismus bei Bacon, Locke, Berkeley und Hume folgen läßt. Ein Referat von Pfeils systematischer Differenzierung des Psychologismus findet sich bei Rath (1994), 48–51. Eine andere, ebenfalls allgemeine Definition des Psychologismus gibt Wild (1940), 20. Er bringt Husserls Kritik am Psychologismus in Verbindung mit Platons Kritik an den Sophisten, und sieht im Psychologismus die Tendenz, Vernunft zu relativieren, indem sie von etwas abhängig gemacht wird, was sie nicht selbst ist: »Husserl adopted the name psychologism for the tendency to relativize reason, or to make it dependent upon somthing not itself« und »To assert the dependence of reason upon such non-rational entity is to be guilty of psychologism in Husserls sence.« – Viel differenziertere Bestimmungen des Psychologismus arbeiten de Boer (1978), 116 ff., 300 f. und Seebohm (1991) heraus.
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In diesen Bestimmungen liegt wegen des impliziten Hinweises auf Nichtoder Außerpsychologisches aber bereits eine kritische Tendenz, die wir hier noch zurückstellen wollen, um erst einmal den prima facie plausiblen Argumenten, die zum Psychologismus führen, unvoreingenommen nachzugehen: Hatte nämlich nicht bereits Aristoteles gesagt, »daß die Seele gewissermaßen alles ist« (De anima 431b21ff.), und notierte nicht sogar Kant, daß in der Seele »beziehungsweise das All der Realität aller möglichen Erscheinungen [liegt]«48? Sollte daher nicht von der Untersuchung der Seele aus versucht werden, Aufschluß über jede uns zugängliche Realität zu gewinnen, und somit nicht die Psychologie zu Recht einen bevorzugten Rang unter den Wissenschaften erhalten? Schließlich ist alles, was wir wissen oder erfahren können, notwendig durch psychische Vorgänge vermittelt, so daß die Kenntnis dieser Prozesse eine Voraussetzung für die Rechtfertigung von jeglichem Wissen zu sein scheint. Daher scheint die Psychologie die Grundlagen zum Verständnis der Welt und aller Einzelwissenschaften von der Welt zu thematisieren, weil eben alle unsere Erkenntnisse an das Medium des Psychischen gebunden sind, das die Psychologie erforscht. Aus diesem Grund müßte der Psychologie der Status einer echten Grundlagenwissenschaft eingeräumt werden, in der die wirklichen Voraussetzungen jeglichen Wissens erklärt werden. Diese Überzeugung des Psychologismus kann differenzierend abgewandelt werden, indem erstens verschiedene Reichweiten des Psychologismus unterscheiden werden und zweitens der Charakter der Psychologie als Grundlagenwissenschaft näher bestimmt wird. So kann zuerst zwischen einem starken und einem schwachen Psychologismus unterschieden werden, wobei der starke behaupten würde, daß psychologische Untersuchungen des menschlichen Denkens notwendige und hinreichende Bedingung für die Erklärung der Fundamente und Strukturen unseres Wissens bzw. der Wissenschaften liefern. Ein starker Psychologismus würde somit beanspruchen, alle erkenntnistheoretischen Probleme allein mittels der Psychologie lösen zu können. Der schwache Psychologismus würde hingegen die Psychologie dafür nur als eine notwendige Bedingung anerkennen49. 48
Kant, Akademieausgabe Bd. XVIII, S. 90 f., Reflexion 5109. Eine solche Unterscheidung findet sich bereits bei Moog (1919), 3f. Explizit zwischen starkem und schwachem Psychologismus hat Sukale hinsichtlich des logischen Psychologismus unterschieden (vgl. Sukale (1976), 24, (1988), 141f., Mohanty (1982b), 20, (1984) und Seebohm (1991), 159 ff.). Dieser Einteilung entspricht auch die von Schmidt (1995), die einen »reduktionistischen« Psychologismus von einem »führungswissenschaftlichen« abhebt, der die Eigenständigkeit philosophischer Disziplinen nicht bestreitet. Vgl. ebd., 89 f. 49
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Zweitens kann der Charakter der im Psychologismus als Grundlagenwissenschaft geforderten Psychologie unterschiedlich begriffen werden – je nach dem, ob sie als genetische, d.h. als erklärende Naturwissenschaft, oder als deskriptive Psychologie verstanden wird. Dieser Einteilung liegt die Unterscheidung eines erklärenden von einem verstehenden Denkstil in der Psychologie zugrunde. Für eine Beurteilung der Bedeutung, die die Psychologie im Denken Husserls gespielt hat, ist dies eine überaus wichtige Unterscheidung. Sie wird bereits in der zeitgenössischen Psychologie gemacht und findet sich auch in den Schriften Brentanos aus den späten achziger Jahren50. Danach untersucht die genetische Psychologie psychische Vorgänge und Ereignisse auf ihre naturgesetzlichen, kausalen Vorbedingungen hin, wobei sie auf die Physiologie zurückgreift. Sie ist also eine Naturwissenschaft, die sich auch methodisch durchaus experimenteller Verfahren bedient. Letztlich haben ihre Erklärungen des psychischen Geschehens einen materialistischen Charakter. Würde ein starker Psychologismus mithin zusammen mit einer naturwissenschaftlichen Psychologismusauffassung vertreten, so wäre der Naturalismus eine unvermeidliche Folge. Die deskriptive Psychologie beschreibt dagegen lediglich die psychischen Phänomene, wobei sie eine möglichst phänomenorientierte Begrifflichkeit und keine theoretisch konstruierten Terme verwendet. Sie hat kein Interesse an strengen Kausalerklärungen, bedarf daher keines Rückgriffs auf Physiologie, Chemie oder Physik, weshalb bereits Brentano sie auch als »reine Psychologie« bezeichnete51. Methodisch gründet sie vor allem in der inneren Wahrnehmung. Ihre Funktion besteht zum einen in der getreuen Darstellung und Analyse der psychischen Phänomene. Daneben sind die Untersuchungen der deskriptiven Psychologie allerdings auch als Vorstufe für die Kausalerklärungen der genetischen Psychologie gedacht. So bezeichnet auch der frühe Husserl die deskriptive Psychologie als »Fundament« der genetischen Psychologie (XXI,267). Wir haben oben bereits darauf hingewiesen, daß für Brentano auch Urteile und Begriffe zu den psychischen Phänomenen gehören müssen, so daß die psychologische Analyse von Begriffen, die etwa Husserl in seiner Habilitationsschrift am Zahlbegriff oder Carl Stumpf am Begriff des Raumes vornahm, ein Beispiel deskriptiver Psychologie sind. Es dürfte klar sein, daß diese beiden Auffassungen von Psychologie ganz verschiedene Formen des Psychologismus zur Folge haben, und daß Bren50
Vgl. hierzu Brentano (1982), 1–10, 129–132 und de Boer (1978), 52 ff., 203 ff. sowie oben Kapitel I. A. 1, S. 10 f.. 51 Brentano (1982), 1–5.
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tano oder der frühe Husserl die genetische Psychologie niemals als Grundlagenwissenschaft aller anderen Wissenschaften verstanden haben. Nach diesen Unterscheidungen kann nun die Grundthese des Psychologismus formuliert werden, die diesen trotz aller skizzierten Differenzierungen allgemein kennzeichnet: Psychologische Untersuchungen sind die unstrittige Vorbedingung für die Erklärung menschlichen Erkennens und Wissens sowie aller darin gründenden Wissenschaften, weil alle diese Leistungen in psychologischen Prozessen ihren Ursprung haben.
2. Der Psychologismus im Kontext der neuzeitlichen Philosophie Gemäß dieser Grundthese liegt dem Psychologismus keineswegs eine abwegige oder gar widersinnige Überzeugung zugrunde. Die Grundauffassung des Psychologismus ist vielmehr im großen und ganzen dem Ansatz der neuzeitlichen Philosophie verwandt, demgemäß sich jegliches thematisch sachangemessenes Philosophieren zuerst als Untersuchung der subjektiven Erkenntnisbedingungen dieser Themen vollzieht. Statt über das Sein und seine Strukturen direkt nachzudenken, wird nach der neuzeitlichen »Revolution der Denkart« zuallererst erkenntniskritisch danach gefragt, wo und inwieweit Wissen für uns überhaupt möglich ist. Es war bekanntlich Descartes, der in der Selbstgewißheit des denkenden Subjekts hierfür ein unbezweifelbares Fundament und ein erstes allgemeines Wahrheitskriterium jeglichen Wissens fand. In radikaler Weise artikulierte er mit der Gewißheit des »Cogito, ergo sum« den Anspruch der natürlichen Vernunft, die nur das als wahr anerkennt, was sie erkenntniskritisch selbst geprüft hat. Somit im Subjekt das Prinzip der neuzeitlichen Philosophie entdeckend, verdeckte Descartes es aber auch wieder, da er es – unter dem Einfluß der herkömmlichen Metaphysik – als denkende Substanz und als Ausgangspunkt für Kausalschlüsse bestimmte. Obwohl er so den Ansatz zu einem von der Subjektivität ausgehenden Philosophieren freilegte, verblieb er letztlich in einer objektivierenden Grundhaltung, die ein konsequent erkenntniskritisches Philosophieren ausschließt. In Anschluß an den Cartesischen Anfang verspricht hier Lockes »Essay concerning human understanding« wegen seiner Ablehnung der traditionellen Substanzmetaphysik und der rationalistischen Lehre von den eingeborenen Ideen erkenntniskritisch konsequenter zu sein. Ganz dem Ansatz der neuzeitlichen Philosophie verpflichtet, will Locke zuerst die Reichweite der menschlichen Erkenntnisse untersuchen, indem er sie auf ihre subjektiven Grundlagen hin analysiert. Seine konsequente Rückführung von Grundbe-
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griffen der Erkenntnis auf das erkennende Subjekt und dessen elementarste Vorstellungen bringt ihn dahin, dieses Subjekt und die Entstehungsgeschichte seines Erkenntnis- und Seelenlebens in den Blick zu nehmen. Aber Lockes erkenntnistheoretischer Ansatz deckt sich nicht nur in dieser Hinsicht mit der eben formulierten Grundthese des Psychologismus. Er bedient sich darüber hinaus auch methodisch derselben Mittel wie die Psychologie, wenn er das Subjekt im Rahmen der inneren Erfahrung thematisiert. Locke versucht nämlich, eine Theorie des Verstandes als Erkenntnisvermögen auf der Basis der Psychologie zu begründen, wenn er unsere Vorstellungen auf ihre genetisch-psychologischen Ursprünge hin analysiert, er also untersucht, wie wir zu ihnen kommen52. Dadurch, daß Locke in seinen erkenntnistheoretischen Analysen die erkenntnisfundierende Funktion des neuzeitlichen Prinzips der Philosophie mit den psychologischen Methoden der inneren Erfahrung begreifen will, wird er für Husserl zum »Begründer des Psychologismus« (IX,287, 330, XXIV,206 f.) bzw. sein »Essay« zu einem »Grundwerk des erkenntnistheoretischen Psychologismus«53. Der sachliche Grund für die Verwurzelung des Psychologismus im Ansatz der neuzeitlichen Philosophie – auf dessen philosophiehistorische Folgen hier nicht weiter eingegangen werden kann – liegt indes bereits in der Mißverständlichkeit, ja Doppeldeutigkeit dieses Ansatzes beim Subjekt, die dann bei Locke erstmals zu psychologistischen Konsequenzen führt. Denn schon bei Descartes fungiert das Prinzip des »ego cogito« zum einen als Geltungsgrund im Sinne eines ersten wahren Grundsatzes, zum anderen aber auch als erste wahrhafte Wirklichkeit und somit als Grundtatsache. In seiner konsequenten Auslegung ist das Subjekt m.a.W. zugleich dem Begriff und dem Sein nach das Erste zu allem; mit der unbezweifelbaren Gewißheit des Cogito ist die erste methodisch gesicherte Wahrheit fixiert, die auch als Maßstab bzw. als Kriterium aller weiteren Wahrheiten dient, und daneben zugleich die Existenz des denkenden Subjekts als erstem wirklich Seiendem erkannt. Diese beiden Bedeutungen des »Subjekts« sind in der Metaphysik 52
Vgl. zum Psychologismus bei John Locke die bündige Darstellung von Pfeil (1934), 48–79. 53 VII,75. Husserls Verhältnis zu Locke ist bezeichnenderweise sehr ambivalent: Einerseits kritisiert Husserl ihn wegen seines Psychologismus und seiner letztlich inkonsequenten Erkenntnistheorie. Andererseits schätzt er sein erkenntniskritisches Motiv und die daraus folgenden Deskriptionen des Bewußtseinslebens, weil die Phänomenologie diesen viel verdankt, denn in Lockes Arbeiten sieht Husserl bereits »eine Vorahnung des echten Intuitionismus, der zum Wesen der transzendentalen Erkenntnisbegründung gehört« (VII,99, vgl. XXIV,442). Ohne die sensualistischen und naturalistischen Mißdeutungen in Lockes Untersuchungen, können sie erkenntnisphänomenologisch nämlich durchaus fruchtbar sein. (Vgl. VII,78 ff., 102 ff.)
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noch ununterschieden konfundiert. Dementsprechend wird auch bei Descartes die Funktion des Subjekts als Prinzip philosophischen Wissens nicht von seiner Stellung als erkannter Wirklichkeit unterschieden. Vielmehr geht er stellenweise bereits soweit, den existenzbehauptenden Charakter des ersten Grundsatzes dahingehend zu deuten, daß er die mit der Selbstgewißheit der Existenz des denkenden Subjekts erkannte Wirklichkeit als Sein der menschlichen Seele versteht54. Er leistet damit der empiristischen Uminterpretation des neuzeitlichen Fundaments der Cartesischen Philosophie Vorschub, die mit der substanzmetaphysischen Tradition bricht und als ihren Ausgangspunkt nurmehr das empirische Subjekt anerkennt. Dabei wird dann die gedoppelte Bedeutung des Subjekts einseitig ausgelegt und versucht, ausgehend von der Psyche des faktisch existierenden Subjekts, Begründungsfragen zu lösen. Das Subjekt als erkenntnisbegründendes Prinzip kommt bloß noch als empirisch-reales in den Blick, weil es nur auf dem Boden der letztlich unkritisch in Geltung bleibenden Faktizität thematisiert wird. Diese empiristische Fehldeutung des neuzeitlichen Prinzips der Philosophie ist dann nicht nur für die Philosophie des englischen Empirismus charakteristisch, sondern auch für einflußreiche Strömungen im 19. Jahrhundert. Sie führen nach dem Niedergang der Bedeutung der Hegelschen Philosophie und dem wachsenden Einfluß der Naturwissenschaften schließlich zu dem von Husserl kritisierten Psychologismus. Der methodische Neuansatz der neueren Philosophie beim Subjekt läßt also grundverschiedene Interpretationen des Subjektbegriffs zu, die in ihm von Anfang an angelegt sind, weil er schon bei Descartes doppeldeutig fungiert. Ob das Subjekt, das den Grund der Gültigkeit von Erkenntnis bilden soll, als allgemeines oder individuelles, als intellektuelles oder sinnliches, als formales oder reales, als transzendentales oder empirisches, schließlich bloß als geltendes oder aber als seiendes gedacht wird, das macht fundamentale Differenzen innerhalb der neuzeitlichen Philosophie aus, in der der Subjektbegriff daher schlechthin ein Zentralproblem ist. Grob gesagt, können in der Funktion des neuzeitlichen Subjekts eine geltungslogische und eine faktische Hinsicht voneinander unterschieden werden. Eben diese Differenzierung mißachtet der Psychologismus nicht nur, sondern er konfundiert die Bedeutung des begründungstheoretischen Ausgangspunktes »Subjekt« mit der des faktischen Subjekts als einem Gegenstand der Psychologie55. Er versucht, 54
Vgl. Descartes: Discours de la Méthode, IV, Absatz 2 = A\T 6,33, Röd (1971), 108 f. und Kaehler (1996). Freilich ist anzumerken, daß auch dort, wo Descartes das ego als Seele bestimmt, damit bei ihm gerade noch keine räumlich-empirische Entität gemeint ist. 55 Der Doppeldeutigkeit des neuzeitlichen »Subjekts« als Geltungsgrund und existie-
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von dem in empirischer und innerer Wahrnehmung zugänglichen faktischen Subjekt her, Fragen der Begründung von Erkenntnis überhaupt zu lösen. Dabei übersieht er die sich hiermit ergebende Widersinnigkeit seines Ansatzes. In dieser Verwechselung von Begründungsproblemen mit Fragen, die empirisch-faktische Verhältnisse betreffen, liegt denn auch ein konkreter Fall jener »Vertauschung von Außerpsychologischem mit Psychologischem« vor, die den Psychologismus im allgemeinen kennzeichnet56. Husserl kann eine solche Konfundierung von Prinzip und Faktum freilich erst diagnostizieren, als er mittels der ausdrücklich methodischen Verwendung der Epoché den Zugang zum transzendentalen Subjekt gefunden hat und mithin über seine ausdifferenzierte Subjektivitätstheorie verfügt. Erst mit ihr vermag er für eine subjektiv orientierte Neubegründung von Logik und Wissenschaft zu argumentieren ohne dabei noch Anleihen beim Platonismus oder Psychologismus machen zu müssen. Und erst mit seiner Anerkennung einer transzendental verstandenen Subjektivität kann er dann auch einen sogenannten »transzendentalen Psychologismus« überall da kritisieren, wo das Subjekt als reales Objekt der Psychologie nicht vom transzendentalen Bewußtsein als Gegenstand der Transzendentalphilosophie unterschieden wird, bzw. die transzendentale Subjektivität als eine empirische mißdeutet wird. Der transzendentale Psychologismus vermengt also psychologische und transzendentale Subjektivität und psychologisiert letztere, wenn er versucht, Probleme ihres Bereiches mit den Methoden der Psychologie zu klären57. Nach der bewußten Einführung der Epoché als Methode der Phänomenologie kann Husserl mithin die Naturalisierung des Bewußtseins kritisieren, weil er so erst den Zugang zu der Transzendentalität als des eigentlichen Kerns der Subjektivität findet. Im Frühwerk, und auch in den LU, hat er selber noch nicht zu der notwendigen Klarheit hinsichtlich des Subjektbegriffs gefunden. Hier wendet er sich nur gegen eine spezifische Form des
rendem Subjekt entspricht die der »Reflexion« als der Zugangsweise zu ihm. »Reflexion« kann nämlich sowohl als introspektive Selbstbeobachtung des eigenen Seelenlebens als auch als Nachdenken über prinzipielle Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt verstanden werden. Während sie so im Empirismus als innere Wahrnehmung auf das psychologisch-empirische Subjekt geht, kommt in der Transzendentalphilosophie alles auf den Vollzug einer radikalen, transzendentalen Reflexion an, in der Subjektivität als spontanes, transzendentales Leistungsgefüge begriffen wird. Entsprechend hebt Husserl später von der natürlichen Reflexion die transzendentale ab. Vgl. zur Doppeldeutigkeit von Subjekt- und Reflexionsbegriff auch Arlt (1984). 56 Vgl. Pfeil (1934), 2, 10. 57 Zum transzendentalen Psychologismus bei Husserl vgl. I,70 f., 118 f., 170 f.; V,147 f.; IX,290 ff., 346; XVII,258 ff.; XXVII,254.
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Psychologismus – den »logischen Psychologismus«58. Darin geht es nicht um eine Psychologisierung oder Naturalisierung des Subjekts, sondern um die der Gesetze der Logik59.
3. Der logische Psychologismus Im Unterschied zum psychologistischen Forschungsansatz in der Erkenntnis- und Subjektivitätstheorie, geht es beim logischen Psychologismus um eine psychologische Beschäftigung mit Grundlagenfragen der Logik. Nun wurde oben bereits betont, daß Husserls Ziel in den LU die Erforschung der Fundamente der Logik als umfassender Wissenschaftslehre ist, und daß hierbei seine Idee der reinen Logik den Ansprüchen der Psychologie als Grundlagenwissenschaft gegenübersteht. Husserls Interesse an den Fundamenten der Logik mußte hier zu einem Streit mit dem zeitgenössischen logischen Psychologismus führen, da beide um die richtige Lösung von Begründungsfragen in der Logik konkurrieren. Der logische Psychologismus war seinerzeit weit verbreitet und trat in unterschiedlichen Varianten auf 60. Alle haben ihren Grund in der scheinbar 58
Vgl. XVIII,12; XXIV,145; XVII,160 ff. Auch Heidegger hat sich in seiner Dissertation (1914) mit dem logischen Psychologismus auseinandergesetzt und ihn folgendermaßen charakterisiert: »Der Psychologismus wäre also, wie der Name sagt, eine psychologische Fragestellung gegenüber dem logischen Gegenstand. Der Psychologismus ist aber nicht nur ein falscher Ansatz zur Frage gegenüber dem Gegenstand der Logik –, er kennt die logische ›Wirklichkeit‹ überhaupt nicht, sie ist selbst nichts ›neben‹ dem Psychischen, sondern fällt mit der psychischen Wirklichkeit zusammen.« (ebd., 161) Und: »[…] das eigentliche Wesen des Psychologismus ist aber dahin zu bestimmen, daß er die Eigentümlichkeit des Logischen gegenüber dem Psychischen, die Eigenwirklichkeit des logischen Gegenstandes gegenüber einer psychischen Realität verkennt« (ebd., 122). 59 Neben dem »logischen Psychologismus« und dem »transzendentalen Psychologismus«, den Husserl erst nach der Ausbildung seiner transzendentalen Phänomenologie kritisieren kann, richtet er sich in seinen Ethikvorlesungen auch gegen einen »ethischen Psychologismus« (XXVIII,29 f., 32). In Analogie zum »logischen Psychologismus« kennzeichnet diesen eine psychologische und letztlich relativistische Auffassung ethischer Vernunftnormen (vgl. dazu XXVIII, § 2–4 und die Einleitung des Herausgebers zu diesem Band von U. Melle sowie XXX,290 ff.). Schließlich kennt Husserl außerdem noch einen »erkenntnistheoretischen Psychologismus«. Dieser psychologisiert zwar die Gegenstände der Philosophie, wie z.B. Bedeutungseinheiten in der Logik oder Werte in Ethik und Ästhetik, nicht mehr direkt, glaubt sie aber mittels einer psychologischen Erkenntnistheorie vollständig analysieren zu können. Vgl. hierzu unten Kapitel III. A. 2. a. 60 Eine erste, noch exemplarische Übersicht über unterschiedliche Formen des logischen Psychologismus brachte die Dissertation von Heidegger (1914). Inzwischen wurde die Vielgestaltigkeit des logischen Psychologismus durch die Arbeiten von Rath (1994) und
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überzeugenden Plausibilität der Argumente, die für einen logischen Psychologismus sprechen. Diese Argumente sind zunächst denen, die für den Psychologismus im allgemeinen sprechen, ähnlich, nur eben spezieller, da es dem logischen Psychologismus nicht um die psychologische Erklärung des Denkens und Erkennens überhaupt geht, sondern um die der Gesetze der Logik61. Diese werden vom logischen Psychologismus als Ausdruck der Gesetzmäßigkeiten des empirisch-faktischen Denkens interpretiert, d.h. durch die psychische Organisation des Menschen erklärt: Da in der Logik Urteilsgesetze fixiert werden, das Urteilen sich aber in psychischen Vollzügen ereignet, soll die Logik in der Psychologie des Urteils fundiert werden. So wird etwa der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, nach dem kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile nicht zusammen wahr sein können, von der psychisch realen Unmöglichkeit, solche Urteile zugleich zusammen denken zu können, her erklärt62. Es sei uns aufgrund der faktischen Beschaffenheit unseres Bewußtseins eben einfach nicht möglich, uns vorzustellen, daß zwei kontradiktorische Urteile beide wahr seien. Das logische Gesetz als formal notwendige Bedingung möglicher Wahrheit, wird also von den psychisch realen Verhältnissen der Natur des menschlichen Denkens aus interpretiert, in denen es seinen tatsächlichen Grund haben soll. Logische Gesetze drücken mithin nur die Tatsachen des faktischen menschlichen Seelenlebens aus (vgl. XXIV,147; XVII,162). Das Beispiel zeigt, wie der logische Psychologismus die Logik in der Psychologie begründen will, wenn er die logischen Gesetze als faktische Gesetze darüber, wie Menschen tatsächlich denken, begreift und er das Psychische bzw. psychologische Bedingungen somit als Ursprung der Logik faßt. In den extremsten Ausprägungen des logischen Psychologismus führt dies bei J. St. Mill dazu, daß die Logik als »ein Teil oder Zweig der Psychologie« verstanden wird, der sich zur Psychologie wie ein Teil zum Ganzen verhalte63. Kusch (1994 u. 1995) deutlich. Kusch zeigte, daß sich Husserls Psychologismuskritik der »Prolegomena« gegen mehr als fünfzig zeitgenössische Texte wenden läßt. Vgl. zu der Arbeit von Kusch allerdings die Kritik von Lorenz (1998). 61 Noch bevor er sie kritisiert, befaßt sich Husserl mit den zentralen Argumenten des logischen Psychologismus im dritten Kapitel der »Prolegomena«. Eine unpolemische Auseinandersetzung mit der psychologistischen Auffassung findet sich auch bei Sukale (1976), 22–49 und (1988), 139 ff. 62 Exemplarisch dazu J. St. Mill: »Any proposition, for instance, which asserts a contradiction, though it were on a subject wholly removed from the sphere of our experience, is to us unbelievable. The belief in such a proposition is, in the present constitution of nature, impossible as mental fact.« J. St. Mill: An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy. 5. Aufl. London 1878, S. 491, vgl. XVIII,90 f. Hua. Mat. III,30 f. 63 Ebd. 461 f., vgl. XVIII,64 sowie Hua. Mat. I,24 f.
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Der frühe Th. Lipps hält die logischen Gesetze sogar für »identisch mit den Naturgesetzen des Denkens« und behauptet: »Die Logik ist Physik des Denkens«64. Gemäß der oben getroffenen Unterscheidung liegt in diesen Logikverständnissen ein »starker«, weil »reduktionistischer« Psychologismus vor. Sicher überrascht eine derart radikale Einordnung der Logik in die Psychologie, da sie doch letztlich eine Reduzierung der logischen Gesetze auf empirische Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Denkens bedeutet. Dennoch war ein mehr oder weniger ausdrücklicher Psychologismus im späten 19. Jahrhundert durchaus verbreitet. Der Grund für diese weithin anerkannte Einbeziehung der Logik in die Psychologie ergibt sich aus dem damaligen Verständis der Logik als Kunstlehre des richtigen Denkens: Logik – so die scheinbar lückenlose Argumentation im logischen Psychologismus – bestimme und erforsche Regeln und Gesetze des Denkens. Dafür müsse sie auf die Psychologie zurückgreifen, denn diese gewinne jene Gesetze aus dem Studium des faktischen Denkverlaufs, also der psychischen Wirklichkeit. Die Bestimmung der Denkgesetze als Aufgabe der Logik gehört danach in die Psychologie, weil die logischen Gesetze als solche des faktischen Denkens interpretiert werden. Darüber hinaus schule die Logik als Kunstlehre lediglich die zweckmäßige Anwendung der Denkgesetze, indem sie methodische Anweisungen zum richtigen Denken gibt. Logik ist also eine Theorie der Erkenntnisgewinnung; sie ist eine Lehre, die Hilfen dafür gibt, wie gedacht werden soll, um zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Somit ist die Logik als Kunstlehre eine normative und praktische Disziplin, die ihr theoretisches Fundament jedoch in der Psychologie hat. Gemäß dieser Auffassung ist die Logik dann gerade auch als Wissenschaftslehre eine angewandte, technische Disziplin, die ihre theoretische Selbständigkeit verliert, weil sie ein bloßer Zweig der sie fundierenden Psychologie ist65. 64
Th. Lipps: Die Aufgabe der Erkenntnistheorie, in: Philosophische Monatshefte, XVI, 1880, S. 530 f., vgl. XVIII,67 sowie Hua. Mat. I,24 f. 65 Vgl. J. St. Mill: An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy. 5. Aufl. London 1878, S. 461: »Die Logik ist nicht eine von der Psychologie gesonderte und mit ihr koordinierte Wissenschaft. Sofern sie überhaupt Wissenschaft ist, ist sie ein Teil oder Zweig der Psychologie, sich von ihr einerseits unterscheidend wie der Teil vom Ganzen und andererseits wie die Kunst von der Wissenschaft. Ihre theoretischen Grundlagen verdankt sie sämtlich der Psychologie, und sie schließt soviel von dieser Wissenschaft ein, als nötig ist, die Regeln der Kunst zu begründen.« (vgl. XVIII,64) Mills Logikverständnis stellt keineswegs eine Ausnahme dar. Daß die Bestimmung der Logik als in der Psychologie gegründeter Kunstlehre vielmehr allgemein anerkannt war, zeigen bereits die umfassenden Angriffe Husserls dagegen, die namentlich gegen J. St. Mill, Th. Lipps, Fr. E. Benecke, Ch. Sigwart, W. Wundt, B. Erdmann, aber auch gegen H.
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Es ist genau dieses Verständnis der Logik als psychologisch begründeter Kunstlehre, und mithin der logische Psychologismus, gegen den sich Husserl in den »Prolegomena« richtet. Dabei betont er, daß der »wesentliche Charakter« (XVIII,46) der Logik gerade nicht in ihrem anwendungsorientierten Teil als Kunstlehre, sondern in ihrem rein theoretischen Teil besteht. Diese reine Logik vermag als Fundament der umfassenderen Logik den Konsequenzen des Psychologismus zu entgehen, weil sie auf einem nichtempirischen, idealen Bereich basiert, von dem aus eine apodiktische Begründung der umfassenden Logik als Kunstlehre gelingt. Erst mit dieser Anerkennung der Idealität des Logischen gelingt Husserl so seine deutlich Überwindung des logischen Psychologismus.
4. Psychologismus beim frühen Husserl Bevor wir uns Husserls antipsychologistischer Argumentation im folgenden genauer zuwenden, sei gezeigt, daß dessen Psychologismuskritik keineswegs nur gegen psychologistische Theorien anderer Denker gerichtet ist. Husserls eigene frühe Forschungen sind nämlich selbst durchdrungen vom zeitgenössischen Psychologismus. Denn wie wir oben im I. Abschnitt gesehen haben, war er erstens der Überzeugung, daß die Psychologie – insbesondere die deskriptive Psychologie – die entscheidende Grundlagenwissenschaft sei, und er vertrat zweitens die Auffassung von der Logik als Kunstlehre. Dementsprechend hat der Psychologismus beim frühen Husserl unterschiedliche Gründe, so daß er auch hier kein einheitliches Phänomen ist. Fragen wir zunächst nach Husserls frühem Logikverständnis: Hier teilte er die seinerzeit paradigmatische Auffassung von der Logik als Kunstlehre (vgl. XII,291; XXI,229, 248), womit er seinen Lehrern Brentano und Stumpf folgt66. Die Logik ist auch für ihn eine praktisch ausgerichtete Lehre, die ihre theoretischen Fundamente in der Psychologie hat. Ihre Sätze geben technische Anweisungen zum Erreichen von Erkenntniszielen. Sofern Husserl dieser Logikauffassung folgt, muß seine Haltung in dieser Hinsicht bis zur Psychologismuskritik der »Prolegomena« als psychologistisch bezeichnet werden. Tatsächlich finden sich für diese Beurteilung eindeutige Belege in seinen Manuskripten von 1892/93: Spencer, Fr. A. Lange und A. Höfler gerichtet sind. – Eine sehr klare Darstellung der psychologistischen Auffassung von der Logik als Kunstlehre findet sich übrigens in Heideggers Marburger Logikvorlesung. Vgl. ders. (1976), 37–43. 66 Vgl. Brentano (1956), 1–4 sowie zu Stumpf oben Kapitel I. C. 1, Anm. 81 und Holenstein: Einleitung des Hrsg. zu Hua. XVIII, S. XVIII f.
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»Die Logik ist nach ihren theoretischen Bestandteilen nichts als eine von gewissen Zwecken geleitete Umgruppierung der Psychologie des Urteils.« (XXI,263) Oder: »Ich brauche kaum zu sagen, daß auch die Forschung des Metaphysikers und Logikers eine psychologische Forschung ist.«67 Zweifellos votiert Husserl hier im Sinne des Psychologismus dafür, der Logik als Kunstlehre klärende psychologische Analysen voranzustellen. Allerdings fordert er damit noch keine empirisch psychologische Auflösung der Logik durch kausale Erklärungen des Denkens im Sinne der genetischen, naturwissenschaftlichen Psychologie oder des »starken« Psychologismus. Wie seine Lehrer Brentano und Stumpf glaubt er aber, die theoretischen Fundamente der Logik als Kunstlehre von der deskriptiven Psychologie her klären zu können. Die Begründung der Wissenschaften erfolgt hier mithin letztlich auf psychologischem Wege und noch nicht von der Idealität des rein Logischen aus. Erst nach dessen Anerkennung gewinnt Husserl den Blick auf eine Gegenständlichkeit, die als solche den Methoden der Tatsachenwissenschaften prinzipiell entzogen ist und die theoretische Eigenständigkeit der Logik gewährleistet bzw. der Logik als Kunstlehre eine apodiktische Begründung sichert. Daneben findet sich in Husserls frühen Arbeiten zu den Grundlagen der Mathematik ein anderer Grund seines Psychologismus68. Husserl war in sei67
XXI,302, parallel dazu: »Die Bedeutung der psychologischen Untersuchungen für die Metaphysik hat man allerdings leugnen wollen; aber da man die der logischen Untersuchungen nicht leugnen kann und diese ohne psychologische Forschung nicht durchzuführen sind, so wird man der Psychologie ihre metaphysische Hilfeleistung wohl gönnen müssen.« (XXI,265 f.) » […] kurz alles, was in das Gebiet der heutzutage oft unvernünftig unterschätzten subjektiven Psychologie gehört, [hat] eine fundamentale Bedeutung für die Erkenntnistheorie.« (XXI,266) Ein unmißverständlicher Beleg dafür, daß Husserl mit der Psychologismuskritik der »Prolegomena« auch seine eigene frühe Auffassung von der Logik kritisiert, findet sich in seinem Brief vom 21.1.1897 an Natorp. Dort scheibt er über seine Arbeit an den späteren »Prolegomena«: »Ich arbeite an einer größeren Schrift, welche gegen die subjectivistischpsychologisirende Logik unserer Zeit gerichtet ist (also gegen den Standpunkt, den ich als Brentanos Schüler früher selbst vertreten habe).« (Hua. Dok. III/V, 43) 68 Nach der Interpretation der Husserlschen Frühschriften von Miller (1982), liegt der einzige Grund für Husserls Psychologismus in seiner Übernahme des Verständnisses der Logik als Kunstlehre. Sofern dann seine Psychologismuskritik auch Selbstkritik ist, wende sie sich daher ausschließlich gegen diese Auffassung und nicht gegen seine Studien zum psychologischen Ursprung der Zahl (vgl. ebd., 20–23), da sich diese bereits auf »intentional structures« bezögen und sie somit essentiell für die Phänomenologie der Mathematik seien. So sehr dieser Einschätzung der Bedeutung der psychologischen Analysen für die sie methodisch radikalisierende Phänomenologie zuzustimmen ist, ist Millers Interpretation der Gründe des Husserlschen Psychologismus wegen ihrer Einseitigkeit abzulehnen.
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nen mathematischen Frühschriften der Meinung, daß die Analyse des Anzahlbegriffs als elementarem Begriff der Mathematik in die Psychologie hineingehöre, daß also die Psychologie für die Mathematik »unerläßlich« sei (vgl. XII,295). Die Konsequenzen dieser Auffassung von Psychologie als Grundlagenwissenschaft in Husserls Theorie der Zahlbegriffe haben wir im ersten Abschnitt kennengelernt. In Kürze seien hier dennoch entscheidende psychologistische Theorieelemente aus Husserls Analyse des Anzahlbegriffs vergegenwärtigt, um den systematischen Zusammenhang zwischen der Husserlschen Philosophie der Mathematik und seiner Psychologismuskritik zu verdeutlichen: Die allgemeine These des frühen Husserl ist, daß »die Zahlen auf psychischen Tätigkeiten beruhen« (XII,45, vgl. 28, 163) bzw. ihr Ursprung in psychischen Prozessen liegt. Die Richtung seiner »psychologischen Analysen« geht daher dahin, die »unerläßlichen psychologischen Vorbedingungen« (vgl. XII,75, 334) des Anzahlbegriffs genauer zu charakterisieren, um so den Begriff zu klären. Dies geschieht, indem er den fundamentalen Zahlbegriff zuerst auf die in ihm liegenden Momente der Vielheit und der Einheit hin analysiert und er dann die diesen zugrundeliegenden, anschaulich konkreten Phänomene untersucht. Beide sind nun psychischer Natur. Die Vielheit verdankt sich nämlich der »kollektiven Verbindung«, die keine sachliche, in den verbundenen Inhalten selbst gründende Einheit ist, sondern »nur in gewissen Akten, welche die Inhalte einigend umschließen, ihren Bestand hat« (XII,73, 333, vgl. 45, 69). Als »psychisches Phänomen«, ja sogar als »psychische Verbindung«69 bestimmt Husserl diese Grundlage des Anzahlbegriffs auch deshalb, weil er sie nach Brentanos Vorgabe klassifiziert, dergemäß es nur entweder physische oder psychische Phänomene gibt. Damit situiert er die Abstraktionsgrundlage des Zahlbegriffs eindeutig im Psychischen. Aber der psychologische Charakter des Zahlbegriffs besteht nicht nur darin, daß zu seiner ursprünglichen Gewinnung auf den psychischen Akt des Kolligierens reflektiert wird, sondern auch darin, daß es sich hierbei um einen Voll-
Bliebe nämlich in Husserls Methode der psychologischen Analyse von Begriffen nicht auch das Problem der Objektivität ungelöst – worin ja eine Folge von Husserls frühem Psychologismus liegt – wäre gänzlich unverständlich, warum diese Methode »ins Schwanken geriet« (XVIII,7) und sie schließlich in die Phänomenologie transformiert werden mußte. Außerdem berücksichtigt Miller nicht, daß Husserl mit seiner Psychologismuskritik die Auffassung von der Logik als Kunstlehre auch gar nicht pauschal kritisiert, sondern er nur das psychologische Fundament von dieser durch seine reine Logik ersetzt wissen will. Vgl. dazu auch die folgenden Ausführungen sowie de Boer (1978), 91 ff., 270 ff. und Melle (1983). 69 XII,73 Anm. 75, 196, 334; XXI,106, 115.
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zug der inneren Wahrnehmung des verbindenden Aktes handelt. Gleiches gilt auch für die zum Begriff der Einheit führende Reflexion, die auf einen Akt mit beliebigen Vorstellungsinhalten (Etwas) bezogen ist (vgl. XII,80, 337). Somit unterläuft Husserl eine Psychologisierung des Zahlbegriffs, weil er dessen Ursprung in einer psychischen Abstraktionsbasis liegen sieht und er ihn daneben durch einen empirischen Abstraktionsvorgang gewinnen will70. Wenn der Zahlbegriff aber in der inneren Wahrnehmung von psychischen Akten geformt wird, dann werden die Grundlagen der Arithmetik mit der Psychologie untrennbar verknüpft. Gegen den hier gegen Husserl erhobenen Vorwurf der »Psychologisierung« des Zahlbegriffs könnte man einwenden, daß Husserl mit seinen psychologischen Analysen den Zusammenhang von Psychologie und Arithmetik in seinen frühen Schriften ja gerade habe untersuchen wollen. Deswegen – so der Einwand – sei ihm sein Aufweis der spezifischen Abhängigkeit des Zahlbegriffs von psychischen Prozessen doch eher als das Verdienst einer gelungenen psychologischen Arbeit anzurechnen, denn als Fehler vorzuwerfen. Schließlich ist das Ziel seiner psychologischen Analysen – die Klärung des psychologischen Ursprungs des Zahlbewußtseins – in einer detaillierten Theorie von ihm doch erreicht worden. Dagegen ist zu sagen, daß hier die Ergebnisse von Husserls Analysen auch insofern gar nicht bestritten werden, als es Husserl mit ihnen nur darum geht, einen Beitrag zur Psychologie des Zahlbewußtseins zu leisten, also zu untersuchen, mittels welcher psychischen Operationen wir zu Vorstellungen von Zahlen gelangen. Gewiß soll die Psychologismuskritik niemals das Recht einer psychologischen Erforschung der faktischen Bedingungen unseres Vorstellens von etwas und mithin das Recht der Wissenschaft Psychologie in Frage stellen. – Derartige Forschungen tragen aber weder etwas zur Lösung von Fragen der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Mathematik bei, noch sind sie für die Arithmetik selbst von Belang oder gar »unerläßlich«, sondern ihr statt dessen völlig äußerlich. Arithmetik hat es als Wissenschaft mit den Zahlen und den Beziehungen zwischen ihnen, also mit ihr eigentümlichen Gegenständlichkeiten zu tun, die als Sinneinheiten gegenüber den empirisch-psychologischen Erlebnissen einzelner Personen eigenständig sind. Diese Eigenständigkeit des Sinns mathematischer Gegenstände berücksichtigen Husserls frühe psychologische Analysen noch nicht oder zumindest 70
Diese beiden Gründe des Husserlschen Psychologismus werden in den LU dadurch korrigiert, daß er Zahlen dort als »ideale Gegenstände« faßt und er ihre ursprüngliche Erfassung als »Ideation« oder »ideierende Abstraktion« bestimmt.
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nur unvollkommen71, denn sie erwecken den Eindruck, daß die Analyse der psychologischen Entstehung unserer Zahlvorstellungen bereits die der Zahlen selbst sei. Damit lägen aber die Grundlagen der Mathematik tatsächlich in der Psychologie bzw. im Psychischen. In der mangelnden Beachtung des eigentümlichen Status mathematischer Gegenstände zugunsten der empirisch-psychologischen Erlebnisse, in denen diese gebildet oder gedacht werden, liegt somit der Grund der dem frühen Husserl vorzuwerfenden »Psychologisierung« der Zahlen72. So unterläuft Husserl mangels deutlicher Unterscheidung von Zahlen und Zahlvorstellungen in seiner frühen Theorie der Zahl eine nun spezifische »Vertauschung von Außerpsychologischem und Psychologischem«, die für den Psychologismus im allgemeinen charakteristisch ist73. Hier wird die Psychologismuskritik denn auch die entscheidenden Differenzierungen nachtragen und auf Äquivokationen aufmerksam machen, die dem Psychologismus zugrundeliegen. Auch in ihrer Form als Selbstkritik wird sie jedoch die Ergebnisse von Husserls frühen psychologischen Analysen nicht soweit desavouieren, daß Husserl sie nicht im Lichte der Phänomenologie als Vorstufen zu einer »phänomenologisch-konstitutiven Untersuchung« neu interpretieren könnte (XVII,91). Dazu bedarf es neben der Psychologismuskritik aber erst einer Transformation der Methoden der psychologischen Analyse in die einer phänomenologischen Analyse.
5. Zusammenfassung Psychologismus ist ein vieldeutiger Begriff, der zumeist in kritisch-polemischer Weise gegen eine Grundauffassung gerichtet wird, nach der psychologische Untersuchungen eine begründende Funktion für alles Wissen haben, 71
Es ist hier daran erinnern, daß Husserl den für die Psychologismuskritik ganz entscheidenden Unterschied zwischen den psychischen Vorbedingungen von Begriffen und deren Bedeutung zwar kennt, er daraus in seinen frühen Arbeiten allerdings keinerlei Konsequenzen zieht (vgl. XII,31, 309). So ist ihm auch die Unterscheidung von Zahl und Zahlvorstellung vertraut, doch kommt sie in der PA nicht konsequent zur Anwendung, weil Husserl damals »doch nichts damit anzufangen« wußte (XX/1,295). Auf die Äquivokationen des Vorstellungsbegriffs (Vorstellen – Vorgestelltes) hat im übrigen bereits Brentano mehrfach hingewiesen (vgl. Brentano (1874), 112, 119, 249 f.). 72 Gegenständlichkeit wird gemäß »Formale und transzendentale Logik« § 65 dann »psychologisiert«, wenn »ihr gegenständlicher Sinn, ihr Sinn als eine Art von Gegenständen eigentümlichen Wesens negiert [wird] zugunsten der subjektiven Erlebnisse, der Daten in der immanenten bzw. psychologischen Zeitlichkeit.« 73 Pfeil (1934), 2, 10.
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weil sich dieses letztlich psychologischen Bedingungen verdankt. Diese Auffassung ist verwandt mit dem erkenntniskritischen Ansatz der neuzeitlichen Philosophie, die ebenfalls die Bedingungen jeglichen Wissens von der Erkenntnissubjektivität aus begründen will. Die psychologistische Grundauffassung bleibt jedoch hinter der Radikalität des philosophischen Ansatzes zurück, weil der Psychologismus die Bedeutung des Subjekts als Begründungsprinzip mit der des empirisch-faktischen Subjekts verwechselt. Beim logischen Psychologismus, der beim frühen Husserl eine besonders wichtige Rolle spielt, führt dies dazu, daß logische Gesetze an faktisch kontingente Bedingungen der psychischen Organisation des Menschen rückgebunden werden. Die Logik verliert dadurch ihre apodiktische Dignität, weil sie bloß von Naturgesetzen des Denkens abhängig gemacht wird. Insofern damit gemäß dem Psychologismus die Begründung der Logik von der Psychologie zu leisten ist, ist diese auch die Grundlage der umfassenden Logik als Kunstlehre. Auch für den frühen Husserl ist die Logik in diesem Sinne solange noch eine psychologisch fundierte Disziplin, wie er seine Idee der reinen Logik nicht entwickelt hat. Daneben läßt sich in Husserls frühen mathematischen Texten eine psychologistische Tendenz nachweisen, weil darin nicht immer konsequent die Bedeutung der Zahlbegriffe von den psychologischen Ursprüngen der Begriffe unterschieden wird. Die sich deswegen abzeichnende Psychologisierung von Bedeutungen vermeidet Husserl ebenfalls erst mit seiner reinen Logik, weil in ihr der nichtempirische, ideale Charakter der Bedeutungen erkannt und betont wird.
C. Die Psychologismuskritik der »Prolegomena« Husserls kritische Auseinandersetzung mit dem Psychologismus vollzieht sich auf der Basis seiner Idee der reinen Logik und des in ihr gründenden Theorie- und Wissenschaftsbegriffs. Die reine Logik bildet den Hintergrund der Psychologismuskritik, da der logische Psychologismus, ebenso wie sie, die logischen Grundlagen der Wissenschaften zu klären beansprucht und er so in direkte Konkurrenz zu ihr tritt. Sowohl die reine Logik als auch die Psychologie wollen nämlich das Fundament der Logik im umfassenden Sinne einer Kunstlehre der Wissenschaften legen, so daß mit der Psychologismuskritik ein Grundlagenstreit entfacht wird. Die Streitfrage ist dabei zuletzt die, ob die Grundlagen der Wissenschaften in der Psychologie oder in einer eigenständigen nichtempirischen Logik liegen. Die Gegenüberstellung von reiner Logik und Psychologismus ist in den »Prolegomena« allgegenwärtig, zumal diese neben der negativen, kritischen
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Funktion zugleich die Funktion haben, in positiver Hinsicht erstmals die Idee der reinen Logik vorzustellen. Rückblickend sagt Husserl sogar, daß der Kampf gegen den Psychologismus dort nur den Zweck gehabt habe, die reine Logik als Wissenschaftslehre in unverstellter Deutlichkeit hervortreten zu lassen (vgl. IX,22 f.; XVII,181). Von der Erkenntnis der Idealität und Apriorität der logischen Gesetze her ergibt sich dann auch das Hauptargument der Psychologismuskritik fast von selbst. Denn Husserl behauptet, daß die Logik als Wissenschaftslehre verfehlt wird, wenn sie in einer empirischen Wissenschaft verankert wird. So betont er, daß der eigentliche Sinn von Mathematik und Logik verkannt werden muß, wenn versucht wird, sie – und vermittels ihrer die Wissenschaften überhaupt – im Psychischen bzw. in der empirischen Psychologie zu begründen. Husserl macht dagegen geltend, daß der apodiktische Charakter der Logik nur von der Einsicht in die Idealität der nichtempirischen, reinen Logik aus verständlich werden könne, während dagegen jede psychologische Fundierung nur zu skeptisch-relativistischen Ergebnissen führe, die letztlich eine widersinnige Selbstaufgabe von Wissenschaft überhaupt bedeute. Um dies zu zeigen, läuft »Husserls ganze Argumentation […] darauf hinaus, den Leser von der Notwendigkeit nichtpsychologischer, rein-logischer Gesetze möglichen Denkens zu überzeugen.«74 Husserls Kritik liegt neben seinem strengen Theorie und Wissenschaftsbegriff seine Einsicht in die begründungstheoretischen Mängel aller empirisch psychologischen Grundlegungsversuche von Wissenschaften zugrunde. Diese Defizite mußten Husserl angesichts seiner eigenen Arbeiten auf dem Feld der Mathematik offenbar werden, denn der Anspruch auf strenge Objektivität und Gültigkeit in der Mathematik kann von einem empirischen Fundament aus nicht hinreichend erklärt werden. Dieses Problem trat bereits in Husserls frühen Arbeiten zur psychologischen Klärung von erkenntnistheoretischen Grundlagenproblemen auf: Wenn die Grundlagen der Arithmetik in einem in der innerpsychischen Reflexion auf kolligierende Akte fundierten Zahlbegriff liegen, wird weder die apriorische Gültigkeit der Mathematik überhaupt noch der besondere, nichtempirische Charakter der Zahlen verständlich. Rückblickend bringt Husserl 1913 dieses Problem der Objektivität selbstkritisch folgendermaßen auf den Punkt: »wie das im Medium des Psychischen gegebene Mathematische an sich Gültiges sein könne, blieb rätselhaft.«75 Es bleibt m.a.W. in Husserls mathematischen Frühschriften, in 74
Bernet, Kern, Marbach (1989), 34, vgl. XX/1,277. XX/1,296, vgl. auch XVIII,112: »Für derartige Fragen [der schlechthinnigen Begründung von Gedanken] hat die psychologistische Lehre keine annehmbare Antwort; es 75
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denen noch die Psychologie als Grundlagenwissenschaft fungiert, die Frage ungelöst, wie die Psychologie als empirische Wissenschaft den nichtempirischen und streng allgemeingültigen Charakter der Mathematik erklären kann. Wenn es Husserl nun in der sachlich konsequenten Weiterentwicklung seiner Forschungen nach der Anzahlenarithmetik mit der formalen Mathematik und schließlich mit den logischen Grundlagen von Wissenschaften überhaupt zu tun hat, überträgt sich dies Problem in die Logik. Ebenso wie die Mathematik, ist diese nämlich eine apriorische und nichtempirische Disziplin, der die psychologische Erörterung ihrer subjektiven Ursprünge äußerlich ist, so daß die von der Psychologie beanspruchte Grundlegung auch in der Logik dort ihre prinzipielle Grenze hat, wo es um Begründungsfragen geht. Das Problem verschärft sich hier jedoch noch, da es in der Logik nicht nur um die Fundamente einer einzigen Wissenschaft geht – wie voher in der Mathematik –, sondern sie in ihrer Gestalt als Wissenschaftslehre ja gerade die allgemeinen Grundgesetze und Grundbegriffe von Wissenschaft überhaupt thematisiert; und wenn diese logischen Grundlagen der Wissenschaften nicht apodiktisch gesichert sind, dann steht für Husserl der Sinn von Theorie und Wissenschaft überhaupt in Frage. Das Vorwort der »Prolegomena« gibt Auskunft von dieser neuen Situation, die Husserl zu einer Korrektur seines früheren Verständnisses von der Psychologie als Grundlagenwissenschaft und schließlich zu seiner Psychologismuskritik »nötigte« (XVIII,5). Husserl berichtet darin, daß ihm die psychologische Begriffsanalyse »nie recht genügen« wollte und ihn vor allem »prinzipielle Zweifel, wie sich die Objektivität der Mathematik und aller Wissenschaften überhaupt mit einer psychologischen Begründung des Logischen vertrage«, beunruhigten (XVIII,6 f.). Angesichts dieser prinzipiellen Zweifel und der »Erkenntnis der unlösbaren Schwierigkeiten« (XVIII,215 Anm.) muß seine bisherige Forschungsmethode der psychologischen Analyse »ins Schwanken« geraten (XVIII,7). Wenn die Begründung der Logik als Wissenschaftslehre nämlich nur von der Idealität einer reinen Logik aus erfolgen kann, dann muß es zu einer Neueinschätzung der erkenntnistheoretischen Leistungsfähigkeit der Psychologie für die logisch-mathematischen Disziplinen kommen. Vehement richtet sich Husserl daher in den »Prolegomena« gegen die These, daß die Untersuchung der Fundamente von Logik und Mathematik von der Psychologie aus erfolgen müsse und somit die Psychologie als Fundamentalwissenschaft hier noch grundlegend sei. fehlt ihr hier wie überall die Möglichkeit, den objektiven Gültigkeitsanspruch der logischen Wahrheiten, und damit auch ihre Funktion als absolute Normen des richtigen und falschen Urteilens, zum Verständis zu bringen.«
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Mit der Kritik am Psychologismus dokumentieren die »Prolegomena« den Beginn der methodischen Radikalisierung von Husserls Forschungen. Die Einsicht in die »unabweisbaren Probleme« und Grenzen (vgl. XVIII,5) der Methode der psychologischen Ursprungsanalyse für die Aufklärung der erkenntnistheoretischen Grundlagen von Logik und Wissenschaft ist nämlich von da an zwingend, wo Husserl die Nichtempirizität dieser Grundlagen erkennt. Solange Husserl an dem Bemühen um die strenge Grundlegung von Wissenschaften festhalten wird, kann ihm eine psychologische oder, allgemeiner, jede empirische Fundierung hier gar nicht mehr genügen. Statt dessen erfordert die thematische Entdeckung der Idealität der rein-logischen Grundlagen der Wissenschaftslehre methodisch eine radikalere Aufklärung als sie von einer empirischen Wissenschaft aus überhaupt möglich ist. Diese radikalere Aufklärung der Grundlagen von Logik und Wissenschaften soll fortan nicht mehr von der Psychologie, sondern von der »Phänomenologie« aus erfolgen, zu der die LU ein erster »Durchbruch« sind76. Weil nun die LU in methodischer Hinsicht zunächst nur »einen ersten Anfang« darstellen, verwundert es nicht, darin noch »innere Unausgeglichenheit und Lückenhaftigkeit« anzutreffen (vgl. XX/1,273). Überdies unternimmt Husserl im ersten Band der LU ja eine schroffe Selbstkritik an den psychologistischen Elementen seiner eigenen Frühschriften, was zu Konsequenzen hinsichtlich des Engagements führt, mit der diese Kritik vorgetragen wird77. Husserls Kritik am Psychologismus in der Logik ist als emphatisch und »wuchtig«78 zu bezeichnen. Ihre bemerkenswerte »Affektbesetztheit«79, die sehr aufwendige Argumentation und die exemplarische Auseinandersetzung mit einzelnen psychologistischen Theorien führen zuweilen dazu, daß Argumente wiederholt vorgebracht werden, so daß nicht immer eine wohlgeord76
XVIII,8; XX/1,293, 294, 324. Daß die Etablierung der Phänomenologie in histori-
scher und systematischer Hinsicht von der direkten Kritik am Psychologismus aus erfolgt, zeigt auch die wiederholte Auseinandersetzung mit ihm in Husserls späteren Vorlesungen und Einleitungsschriften in die Phänomenologie. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Psychologismus ist also für Husserl mit den »Prolegomena« keineswegs ein für allemal erledigt, sondern erfüllt auch in der Folgezeit immer wieder die Funktion, die Phänomenologie als eigenständige Erkenntnistheorie gegenüber der Psychologie zu profilieren. 77 Vgl. dazu etwa das vielzitierte Goethewort am Schluß des Vorworts der »Prolegomena«: »Man ist gegen nichts strenger als gegen erst abgelegte Irrtümer.« (XVIII,7) 78 Vgl. Natorp (1901), 3. 79 Orth (1967), 240. Das geradezu religiöse Pathos, mit dem Husserls zeitlebens gegen die Vermengung von Erkenntnistheorie und Psychologie kämpft, wird überdeutlich, wenn er den Psychologismus etwa als »die Sünde gegen den Heiligen Geist der Philosophie« bezeichnet (XXIV,176).
Psychologismuskritik der »Prolegomena«
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nete Darstellung der differenzierten Kritik gelingt. Dennoch lassen sich deutlich zwei verschiedene Wege in der Psychologismuskritik der »Prolegomena« unterscheiden: Der eine soll zuerst die Konsequenzen des Psychologismus in der Logik aufzeigen und damit seine Widersinnigkeit vorführen, da der Psychologismus in einen für Husserl gänzlich unakzeptablen skeptischen Relativismus einmündet (Kapitel IV–VII). Der andere zeigt die den Psychologismus leitenden Vorurteile auf und kritisiert diese direkt (Kapitel VIII)80. Diesen beiden Wegen entsprechend wird im folgenden zuerst Husserls Analyse der Konsequenzen des Psychologismus verfolgt und gezeigt, warum diese für Husserl schlechthin unannehmbar sind, indem ihnen seine Idee der reinen Logik und sein früher, statischer Wahrheitsbegriff gegenübergestellt wird (C. 1.). Danach erfolgt eine Auseinandersetzung mit Husserls Darstellung und Kritik der Vorurteile des Psychologismus (C. 2.). Es sind dabei jeweils drei skeptische Konsequenzen und falsche Voraussetzungen des Psychologismus zu berücksichtigen.
1. Die ›Widerlegung‹ des Psychologismus durch den Aufweis seiner skeptisch-relativistischen Konsequenzen »Eine Theorie hebt sich […] auf, wenn sie in ihrem Inhalt gegen die Gesetze verstößt, ohne welche Theorie überhaupt keinen ›vernünftigen‹ (konsistenten) Sinn hätte.« (XVIII,119 f.) Selbstwidersprüchlichkeit und damit logische Widersinnigkeit wirft Husserl dem Psychologismus vor, indem er die unausweichlichen Konsequenzen einer Begründung der Logik durch die empirische Psychologie aufzeigt. Da Husserl glaubt, daß der Psychologismus nur besteht, weil seine Konsequenzen übersehen werden, führt er diese vor, indem er dessen Thesen aufnimmt und sie konsequent zu Ende denkt. Da diese Konsequenzen unannehmbar seien, werde so der Psychologismus durch sich selbst widerlegt. Diese reductio ad absurdum stützt sich auf die intrinsischen Bedingungen des Begriffs von Theorie überhaupt, die für Husserl in der reinen Logik fixiert sind – wird gegen sie verstoßen, so hebe sich eine Theorie selbst auf81. Husserl arbeitet im vierten Kapitel der »Prolegomena« 80
Reiner (1959) hat einen Eigenbericht Husserls herausgegeben, in dem Husserl selbst diese beiden Wege der Psychologismuskritik der »Prolegomena« in einem Vortrag in Halle von 1900 voneinander unterscheidet. 81 Vgl. XVIII,118: »Der schwerste Vorwurf, den man gegen eine Theorie, und zumal gegen eine Theorie der Logik, erheben kann, besteht darin, daß sie gegen die evidenten Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie überhaupt verstoße. Eine Theorie aufstellen
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drei derartige Konsequenzen des Psychologismus heraus, die alle in einen für ihn unannehmbaren skeptischen Relativismus einmünden82: Zuerst (vgl. XVIII,73; Hua. Mat. III,20) ergibt sich schon aus dem Status der Psychologie als empirischer Wissenschaft, daß sie es gerade als Erfahrungswissenschaft niemals mit uneingeschränkt gültigen, exakten Gesetzen zu tun hat, sondern ihre Gesetze immer »mit empirischen Vagheiten behaftet sind« (XVIII,73). Empirische Gesetze sind immer von mehr oder minder bekannten Umständen abhängig und genau in diesem Sinne unexakt, d. h. vage. Wären nun die logischen Gesetze in der Psychologie begründet, so wären sie ebenso vage wie die der Psychologie. Auch ihre Geltung würde empirischen Unbestimmtheiten unterliegen, da sie umstandsabhängig wären. Wenn beispielsweise der Satz vom Widerspruch oder die Gesetze der Syllogistik empirisch begründet werden sollten, so müßte man sich dafür interessieren, wie viele Menschen tatsächlich ihnen gemäß denken, und ihre Gültigkeit dann dahingehend einschränken, daß sie nur für irgendwie »normal« verfaßte Menschen gelten. Eine derartige empiristische Interpretation der logischen Gesetze mißachtet für Husserl ganz einfach deren strikt universalen Geltungssinn. Er gibt daher an dieser Stelle gar keine weiteren Argumente dafür, warum diese für ihn schlechthin gültig und exakt sind, weil er ihre psychologistische Deutung für völlig absurd und schlicht unakzeptabel hält. Logische Gesetze sind im Gegensatz zu empirischen »von absoluter Exaktheit« (ebd.) und dies zu leugnen, hieße somit ihren Sinn zu verändern, was eben widersinnig ist. Zweitens (vgl. XVIII,73 ff.; Hua. Mat. III,21ff.) wendet sich Husserl allgemein gegen jede empiristische Auffassung der Logik und ihrer Gesetze. Er erinnert daran, daß die psychologischen Gesetze, wie alle Naturgesetze, induktiv durch Erfahrungstatsachen gerechtfertigt werden, via Induktion aber so nur die mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit solcher Gesetze gesichert werden kann. Sollten nun die logischen Gesetze von der naturwissenschaftlichen Psychologie aus begründet werden, so würde ihre Geltung ebenfalls bloß den Charakter von empirischer Allgemeinheit haben, weil mit den Methoden der empirischen Wissenschaften nicht mehr erreicht und in ihrem Inhalt, sei es ausdrücklich oder einschließlich, den Sätzen widerstreiten, welche den Sinn und Rechtsanspruch aller Theorie überhaupt begründen – das ist nicht bloß falsch, sondern von Grund aus verkehrt.« (Vgl. auch Hua. Mat. III,152.) 82 Vgl. dazu Moog (1919), 7–32, Farber (1943), 111ff., Heidegger (1976), 43–53 und Willard (1984), 150 ff., 163 ff. Eine thesenhafte und daher sehr komprimierte Aufstellung aller psychologiekritischen Argumente von Husserl geben Soldati (1994), 117–120 und Kusch (1995), 41–58. Hingegen folgt Fröhlich (2000), 15–80, Husserls Psychologismuskritik der »Prolegomena« in Form eines langen, textnahen Referats.
Psychologismuskritik der »Prolegomena«
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werden kann. Der Geltung der logischen Grundgesetze käme dann konsequenterweise ebenso wie der der Naturgesetze bestenfalls ein sehr hoher Wahrscheinlichkeitsgrad zu. Das ist aber nicht der Fall: Für Husserl sind logische Gesetze a priori, unabhängig von aller Faktizität gültig, was durch apodiktische Evidenz einsichtig begründet ist. Da wir diese Einsicht in ihre apriorische Gültigkeit haben, ist der »Probabilismus« (XVIII,76) der Psychologisten und Empiristen einfach absurd. Es hat zwar hinsichtlich der Naturgesetze einen guten Sinn, davon zu sprechen, daß sie sich einer uns unerreichbaren Wahrheit nur annähern, aber in der Evidenz, mit der wir die logischen Gesetz einsehen, ist »die Wahrheit selbst« erfasst (XVIII,75). Gemäß Husserls Verständnis von Evidenz in den »Prolegomena«, ist nämlich die Wahrheit im Evidenzerlebnis unbezweifelbar selbstgegeben83. Da wir mit der apodiktisch evidenten Gegebenheit der logischen Grundgesetze die Wahrheit selbst einsichtig erfassen, ist die empiristische Erklärung des logischen Psychologismus, bei der es nur induktiv gewonnene, wahrscheinlich geltende Gesetze geben kann, schlicht falsch. In Anknüpfung an die beiden obigen Konsequenzen des logischen Psychologismus argumentiert Husserl gegen diesen schließlich drittens (vgl. XVIII,80 ff.; Hua. Mat. III,24 ff.), indem er hervorhebt, daß alle Gesetze empirischer Wissenschaften auf Tatsachen bezogen sind; sie implizieren einen Tatsachengehalt und sind Gesetze für tatsächliche, reale Verhältnisse. So haben psychologische Gesetze einen psychischen Gehalt, an dessen Existenz sie gebunden sind, und sie sind Gesetze für die Vorgänge des psychischen Lebens. Sollte die Logik in ihnen fundiert sein, so müßte auch sie auf faktische Voraussetzungen angewiesen und notwendig bezogen sein. Als formale und rein begriffliche sind die logischen Gesetze aber in ihrer Geltung völlig unabhängig von jedem Tatsachengehalt. Sie bestehen nicht aufgrund von irgendwelchen faktisch-psychologischen Voraussetzungen, sondern sind mit ihrem rein logischen Gehalt tatsachenfrei und daher gewissermaßen in allen möglichen Welten gültig. Somit ist es »ihrem wahren Sinn von Grund aus fremd« (XVIII,81), sie mit den empirischen Naturgesetzen auf eine Stufe zu stellen. Wegen ihres rein begrifflichen, idealen Gehalts sind sie weder vom raum-zeitlichen Geschehen her hinreichend erklärbar noch führt ihr rein logischer Gehalt dieses irgendwie mit oder setzt es voraus84. Wie schon gesagt,
83
Vgl. oben Kapitel II. A. 2. Trotz der von Husserl betonten Nichtempirizität der Logik, kann er es ohne weiteres zugestehen, daß hinsichtlich unserer Erkenntnis von logischen Gesetzen psychologische Vorbedingungen erfüllt sein müssen, da dieser Erkenntnis empirische Erfahrungen der Zeit nach immer vorausgehen. In Erinnerung an den Beginn der Einleitung von Kants 84
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Die Psychologismuskritik
ist der letzte Zugang zur reinen Logik nicht die Induktion, sondern die apodiktische Evidenz und mithin die Präsenz der Wahrheit in ihr. Die Wahrheit ist aber keine raum-zeitliche Tatsache unter anderen, sondern »über alle Zeitlichkeit erhaben, d.h. es hat keinen Sinn, ihr zeitliches Sein, Entstehen oder Vergehen zuzuschreiben« (XVIII,87). Es kommt daher einer fehlerhaften Metabasis gleich, wenn empirisch versucht wird, die rein logischen Gesetze und Schlußformen von den raum-zeitlichen Tatsachen her erklären zu wollen. Für Husserl sind alle drei Konsequenzen des Psychologismus vollkommen unakzeptabel und widersinnig. Er nimmt daher an, daß diejenigen, die den Psychologismus aufmerksam zu Ende denken, ihn angesichts dieser Konsequenzen aufgeben müssen, so daß der Psychologismus eigentlich nur durch Inkonsequenz lebe (vgl. XVIII,88). Alle diese Konsequenzen des Empirismus im allgemeinen und des Psychologismus im besonderen kennzeichnet nämlich eine eklatante Mißdeutung des Sinns der Logik und ihrer Gesetze. Logische Gesetze sind (I.) weder wegen irgendwelcher empirischer Umstandsabhängigkeiten vage wie empirische Gesetze noch kommt ihnen (II.) die bloße Wahrscheinlichkeitsgültigkeit empirischer Allgemeinheit zu, noch sind sie (III.) in ontologischer Hinsicht überhaupt irgendwie tatsachenabhängig oder notwendig tatsachenbezogen. Statt dessen sind sie absolut exakte Gesetze, die ausnahmslos und a priori gültig sind. Werden die Konsequenzen einer empiristischen Theorie der Logik diesen Merkmalen nicht gerecht, dann ist sie deswegen für Husserl unannehmbar und falsch; sie mißachtet den Sinn der Logik als der Grundlage von Wissenschaft überhaupt. Wie Husserl selbst den Charakter der Logik im Gegensatz zu dem aller Tatsachenwissenschaften versteht, geht aus den Gegenüberstellungen hervor, mittels derer er reine Logik und Psychologie in den »Prolegomena« voneinander abgrenzt. Diese verdeutlichen sein Logikverständnis und erklären damit, warum er die empirisch-psychologische Deutung der Logik so engagiert bekämpfte. So können aus den antipsychologistischen Argumenten der »Prolegomena« Begriffspaare mit den folgenden Gegenüberstellungen der Charakteristika von empirischen und rein logischen Gesetzen entnommen werden: vage vs. exakt, a posteriori vs. a priori, empirisch vs. nichtempirisch (Husserl spricht statt dessen von »überempirisch«), zufällig oder wahrscheinlich vs. notwendig, assertorisch vs. apodiktisch, eingeschränkt vs. generell, d.h. ausnahmlos gültig, induktiv und statistisch vs. rein begifflich evi»Kritik der reinen Vernunft« bemerkt er, daß alle Erkenntnis zwar mit der Erfahrung anfängt, sie aber darum nicht immer schon auch aus ihr entspringt (Vgl. XVIII,86 und Kant (1781), B 1).
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dent. Diese Begriffspaare überschneiden sich in ihrer Bedeutung teilweise. Zusammengenommen entsprechen sie der traditionellen Unterscheidung von Tatsachen- und Vernunftwahrheiten, auf die Husserl zur Verdeutlichung seiner Argumente auch zurückgreift, wobei er sich auf Leibniz bezieht: Die Tatsachenwahrheiten gelten für reale und individuelle oder allenfalls verallgemeinerte Verhältnisse, die Vernunftwahrheiten hingegen im Bereich des Idealen, rein in Begriffen Gründenden und von daher streng Notwendigen (vgl. XVIII,140 ff., 191). Zwischen Idealem und Realem bzw. zwischen Idealund Realgesetzen besteht für Husserl in den »Prolegomena« ein prinzipieller, »ewig unüberbrückbarer Unterschied« und »keine denkbare Abstufung vermag zwischen Idealem und Realem Vermittlungen herzustellen.« (vgl. XVIII,79 f., 87, 139, 181) Daher muß es überall dort zu widersinnigen Verwechselungen kommen, wo der Empirismus oder Psychologismus versucht, vom Empirischen her das nichtempirische Gebiet des Logischen zu erklären. Solange sich Husserls Logikverständnis im Rahmen dieser rigorosen Trennung des Realen vom Idealen bewegt, ist völlig klar, daß für ihn jede empirische oder psychologische Herangehensweise an die Logik von vornherein mangelhaft bleiben muß. Sie kann nur zu skeptisch-relativistischen Konsequenzen in der Logik führen, weil für Husserl der Sinn des Relativismus gerade darin liegt, logische Prinzipien irgendwie aus Tatsachen abzuleiten (vgl. XVIII,129). Auf diesem Wege kann der von Husserl behauptete Sinn der Logik dann nur verfehlt werden. Mithin ist auch jeder empiristische Versuch der Begründung von Wissenschaften zum Scheitern verurteilt, weil diese ihre theoretischen Grundlagen in der reinen Logik haben. Wird so in der Bereichstrennung des Idealen vom Realen der Hintergrund der Husserlschen Psychologismuskritik offenbar, dann liegt es nahe, darin eine unausgewiesene petitio principii zu sehen. Die Psychologismuskritik wäre an ein festgesetztes Verständis von Logik gebunden, das zwar einleuchtend und plausibel, aber als Voraussetzung seinerseits nicht begründet ist85. Sofern dieser Vorwurf berechtigt ist, erzielt Husserl mit seinem Aufweis der Konsequenzen des Psychologismus nicht eigentlich auch dessen »Widerlegung«, wie er behauptet. Vielmehr stellt er letztlich nur seine eigene Idee der reinen Logik in Kontrast zur psychologistischen Logikauffassung und hebt sie von jener ganz deutlich ab. Unbestritten liegt hierin auch ein Hauptzweck der Psychologismuskritik der »Prolegomena« (vgl. XVII,181; IX,22 f.).
85
Diesen Vorwurf erheben u.a. Sukale (1976, 1988) und Føllesdal (1958), 36 ff., 50 gegenüber Freges und Husserls Kritik des Psychologismus. Vgl. hierzu Rinofner-Kreidl (1997), 12 ff.
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Die Psychologismuskritik
Jedoch bezweckt Husserl mit der Darstellung des Psychologismus als skeptischem Relativismus durchaus mehr als dessen Gegenüberstellung zur reinen Logik. In der Tat will er vielmehr die immanente Widersinnigkeit des Psychologismus als theoretischer Position offenlegen und ihn so ad absurdum führen. Die damit beabsichtigte »Widerlegung« des Psychologismus geschieht mittels eines Inkonsistenznachweises auf indirektem Wege: Widersinnig ist er Psychologismus angesichts seiner skeptischen Konsquenzen, weil diese genau das in Frage stellen, was für jede sinnvolle theoretische Position überhaupt konstitutiv ist. Zu den impliziten Bedingungen einer jeden sinnvollen Theorie gehört nun einmal neben der Erhebung eines Anspruchs auf Wahrheit noch die Befolgung von zumindest elementaren logischen Prinzipien. Wenn der Psychologist diese Prinzipien irgendwie auf zufällige Tatsachen zurückführen will, und er so ihre Relativität behauptet, erhebt er damit einen Geltungsanspruch, der dem Inhalt seiner Aussagen widerspricht. Wenn er nämlich logische Prinzipien und Schlußgesetze, wie z. B. den Satz vom Widerspruch oder den modus ponens, konsequent auf irgendwelche zeitlich wandelbaren Fakten zurückzuführt, käme auch jenen nur temporäre Geltung zu. Indem der Psychologist als Relativist diese Konsequenz aber anerkennen muß, widerspricht er sich in dem Moment, wo er ausdrücklich für sie eintritt, weil er dann seinerseits einen Wahrheitsanspruch erhebt, der gleichzeitig sein Gegenteil ein für alle Mal ausschließen soll. Als immanent widersinnig erweist sich somit die Skepsis des Psychologisten, wenn ihre inhaltliche Konsequenz auf den Wahrheitsanspruch des Psychologisten selbst rückbezogen wird. Widersinnig ist es nämlich, das zu bezweifeln, was Implikation jeglichen sinnvollen Behauptens ist86. Mithin kann die Gültigkeit logischer Prinzipien nicht auf irgendwelche Tatsachen zurückgeführt werden; selbst wenn dies solche wären, die in der Gattungsnatur des Menschen gründen würden. Insbesondere anhand des Satzes vom Widerspruch läßt sich zeigen, daß sich seine Gültigkeit nicht sinnvoll relativieren läßt, denn daß derselbe Urteilsinhalt nicht gleichzeitig 86
Husserl ist auf diese schon bei Platon vorkommende Argumentation der »Prolegomena« gegen jeglichen Empirismus und Skeptizismus immer wieder zurückgekommen (vgl. Hua. Mat. III,152; III/1,43 f.; XXVIII,22 f., 30; XXV,9 ff.; VI,90; XXX,11ff.). Mertens (1996) hat dazu noch einmal betont, daß deren Inkonsistenznachweis durch die Selbstanwendung der Lehren des Skeptikers auf die Implikationen von seiner eigenen Position nur dann erfolgreich sein kann, wenn unterstellt wird, daß der Skeptiker seine Skepsis auch explizit behauptet. Nur dann ergibt sich nämlich der immanente, performative Widerspruch zwischen dem, was er in Frage stellt und dem, was er dabei implizit voraussetzen muß (Geltung), um überhaupt eine sinnvolle Position darzustellen. Ob sich demgegenüber auch widerspruchsresistente und zugleich sinnvolle Formen der Skepsis denken lassen, ist an dieser Stelle nicht weiter zu verfolgen. Vgl. auch dazu Mertens (1996), 67 ff.
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wahr und falsch sein kann, ist ganz einfach eine Grundbedingung sinnvollen Argumentierens. Es widerspräche letztlich dem Wahrheitsbegriff, wenn dies in Frage gestellt würde87. Dies gilt für den frühen Husserl um so mehr, als für ihn Wahrheit auch ein an sich bestehendes, in bestimmte Gebiete gegliedertes ideales Reich darstellt88. Wegen der wechselseitigen Korrelation von Sein und Wahrheit zieht für Husserl daher die skeptische Relativierung von Wahrheit auch »die Relativität der Weltexistenz nach sich« (XVIII,128). Im Hintergrund von Husserls »Widerlegung« des Psychologismus steht so letztlich dieser statische Wahrheitsbegriff der LU: Was wahr ist, ist dies für alle Zeiten, denn Wahrheit ist als Idee »überzeitlich«89. Dieser Wahrheitsbegriff ist angesichts des Themas der LU – eben der Logik – auch allzu verständlich; zum Sinn der Wahrheit und der logischen Gesetze gehört eine »überempirische Idealität« (vgl. XVIII,134) und diese kommt im Rahmen der sich ständig wandelnden Empirie nirgends vor. Aus dieser Einsicht leitet sich ein weiteres kritisches Argument gegen den logischen Psychologismus ab, das im Aufzeigen von dessen prinzipiellen Grenzen besteht: Es ergibt sich aus der Tatsache, daß es die Psychologie als Naturwissenschaft mit empirischen Gegenständen und Ereignissen zu tun hat, daß sie damit noch gar kein Kritierium der Unterscheidung des logisch Relevanten vom logisch Irrelevanten, d.h. nicht wahrheitsfähigen Denken hat. Denn empirisch oder psychologisch betrachtet, gibt es gar keinen markanten Unterschied zwischen sinnvollem und sinnlosem, bzw. dann wahrem und falschem Urteilen, sondern diese stellen für die Psychologie der Wahrheitsdifferenz gegenüber sozusagen neutrale, bloß materiale Geschehnisse dar. An ihnen selbst haben die empirischen Wissenschaften kein Unterscheidungskriterium, ja nicht einmal eine Zugangsmethode zum Verständnis der Wahr-falsch-Differenz (vgl. XVIII,68, 112; XXX,11). Das Bestehen der Sinnund Wahrheitsdifferenz liegt ihnen vielmehr immer schon voraus, und sie haben im Rahmen ihrer Methoden keine Möglichkeit, dies begreiflich zu machen, weil das Wahr- oder Falschsein von Urteilen selbst keine empirische Eigenschaft ist. Aus dem Gegenstandsbereich der empirischen Psychologie ergibt sich weiterhin, daß sie zwar die kausale Genesis von Erkenntnissen erklären kann, 87
Vgl. dazu XVIII,125: »Was wahr ist, ist absolut, ist ›an sich‹ wahr; die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind.« 88 Vgl. oben Kapitel II. A. 2. 89 Vgl. XVIII,134, 136; Hua. Mat. II,57; Hua. Mat. III,26.
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nicht aber deren erkenntnistheoretisch entscheidende Geltung (vgl. XVIII, 95, 208). Auch aus diesem Grund wird die Psychologie für die Logik und Erkenntnistheorie niemals eine Grundlagenwissenschaft sein können. Diese rigorose Trennung von genetischen (kausalen) und geltungstheoretischen (argumentationslogischen) Problemen liegt bei der Untersuchung der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Logik nahe, da logische Grundgesetze vom Wandel des konkreten Geschehens in der Welt unbetroffen sind, ihre Geltung mithin keinen zeitlich begrenzten Sinn hat. Husserls früher, statischer Wahrheitsbegriff wird sich aber in dem Moment gewissermaßen aufweichen, als sich später sein thematisches Forschungsgebiet von der Logik auf Fragestellungen hinsichtlich konkreter empirischer Gegenstände erweitert. Dann ist nämlich den Veränderungen unserer Erfahrungen in der Welt Rechnung zu tragen und der Wahrheitsbegriff zu dynamisieren. In der späteren phänomenologischen Erkenntnistheorie kann deshalb die strikte Trennung von Genesis und Geltung, und mithin die von Psychologie und Erkenntnistheorie, nicht mehr aufrecht erhalten bleiben. Die Psychologismuskritik der »Prolegomena« bleibt hingegen noch eindeutig gebunden an das Festhalten an einer absolut und »an sich« bestehenden Wahrheit. Qua Idealität ist diese invariant gegenüber allen Veränderungen der Realität und es besteht keine Möglichkeit, von der empirischen Psychologie aus die behauptete absolute Notwendigkeit der logischen Gesetze zu begründen.
2. Die Kritik der Vorurteile des Psychologismus Die Psychologismuskritik schließt im 8. Kapitel der »Prolegomena« damit ab, daß Husserl nun nicht mehr auf dem Wege des Nachweises der widersinnigen Konsequenzen des logischen Psychologismus gegen diesen vorgeht, sondern die ihm zugrundeliegenden Grundannahmen direkt kritisiert. Er enthüllt diese Grundannahmen als Vorurteile und flankiert so seine hier bisher verfolgte Psychologismuskritik durch die Kritik dieser psychologistischen Vorurteile. Dabei richtet er sich gegen drei solcher Vorurteile: 1. Das erste Vorurteil besagt (vgl. XVIII,159), daß alle logischen Vorschriften zur Regelung des Denkens psychologisch fundiert seien. Dementsprechend gründeten die normativen Regeln der Logik in der Psychologie. Dieses Vorurteil ist eng mit der Auffassung der Logik als Kunstlehre verbunden, denn gerade für diese stellt die Psychologie regelnde Vorschriften darüber bereit, wie zu denken ist, um wissenschaftliche Erkenntnisziele oder die Wahrheit im allgemeinen zu erreichen. Die das Denken zu diesem Zweck
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leitenden Regeln sind dann z. B. solche der Denkpsychologie oder der Denkökonomie, die in der Logik als Kunstlehre Verwendung finden. Demgegenüber macht Husserl deutlich, daß der primäre Gehalt logischer Gesetze gar kein praktischer oder normativer ist, sondern ein rein theoretischer. Er unterscheidet hier also zunächst die rein logischen Gesetze im eigentlichen Sinne von ihrer normativ-methodischen Verwendung in einer Kunstlehre. Zwar ist es jederzeit möglich, den rein theoretischen Gehalt der logischen Gesetze normativ umzuwenden, aber an sich haben diese Gesetze gar keinen normativen Charakter. Vielmehr wird ihnen dieser in der Kunstlehre nur sekundär unterlegt. Diese normative Wendung der logischen Gesetze in der Kunstlehre setzt für Husserl aber bereits den »objektiven oder idealen Gehalt« als »theoretischen Kerngehalt« (XVIII,61) rein logischer Gesetze voraus. Ausschließlich in diesem, und nicht in der Psychologie, hat dann auch die Logik als Kunstlehre ihr entscheidendes theoretisches Fundament, denn den wesentlichen Charakter der Logik bestimmen für Husserl eben diese Idealgesetze der reinen Logik. Darüber hinaus mag die Logik im weiteren Sinne einer Kunstlehre dann noch andere – auch psychologische – Fundamente haben90, aber diese sind nicht durch apodiktische Evidenz verbürgt und somit begründungstheoretisch nicht auf eine Stufe mit den rein logischen Fundamenten zu stellen. Husserls Kritik an diesem Vorurteil gründet in seiner Unterscheidung eines engeren, rein-theoretischen Logikbegriffs, von dem der Logik als Kunstlehre. Der Psychologismus übersieht hingegen diese Differenz, da ihm der Blick auf die Idealität rein logischer Gesetze fremd ist (vgl. XXIV,32 f.; XXX,25) und er die Grundlagen der Kunstlehre allein in der Psychologie finden will. 2. Die Kritik des zweiten Vorurteils (vgl. XVIII,170ff.) ist systematisch für Husserls gesamte Psychologismuskritik überaus bedeutsam, denn das Vorurteil basiert auf der von uns oben formulierten allgemeinen Grundthese des Psychologismus91: Logik habe es mit Urteilen, Schlüssen und Beweisen zu tun, die alle zweifellos psychische Phänomene darstellen. Daher gehöre die Logik zur Psychologie, oder sie müsse doch zumindest von ihr aus untersucht werden. Gegen diese Grundannahme des logischen Psychologismus geht Husserl nun auf zwei Wegen vor. Zuerst weist er noch einmal auf ihre unakzeptablen 90
Daß die Logik im weiteren Sinne einer Kunstlehre auch einen psychologischen Gehalt hat, steht für Husserl außer Zweifel. Vgl. XVIII,165, 176, 205; Hua. Mat. I,42, 275; Hua. Mat. II,46; Hua. Mat. III,15; XXII,205; XXIV,112; XXX,24; XXVIII,5. 91 Vgl. oben Kapitel II. B. 1.
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Konsequenzen hin. Er macht darauf aufmerksam, daß in der Folge des Psychologismus auch die Mathematik zur Psychologie gehören müßte, da Zahlen nur im Zählen gegeben seien und im übrigen alle Rechenarten psychische Prozesse seien. Summen, Produkte, Differenzen oder Quotienten wären folglich nur psychologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegende psychische Produkte (vgl. XVIII,172). Genau gegen diese absurde Konsequenz richtet sich aber die ganze Psychologismuskritik der »Prolegomena«, so daß wir sie in Husserls Kritik hieran in nuce wiederfinden können: Mathematik (und Logik) hat es trotz ihres »psychologischen Ursprungs« im Gegensatz zur Psychologie nicht mit psychischen, d.h. empirischen Tatsachen zu tun. Statt dessen sind die Gegenstände der Mathematik ideale Bedeutungseinheiten, wie z. B. in der Arithmetik die idealen Spezies 1, 2, 3 usw. und deren idealgesetzliche Verknüpfungsweisen. Die idealen Spezies sind von der tatsächlichen Einzelheit und Zeitlichkeit der psychischen Akte unabhängig, sofern sie »in abstrakter Reinheit und Idealität« gedacht werden (XVIII,175). Sie lassen sich auch nicht auf empirische Sätze von größter Allgemeinheit reduzieren und sind deswegen den Methoden der empirischen Wissenschaften prinzipiell entzogen. Dasselbe gilt für die reine Logik. Auch ihre Gehalte sind Begriffe, Urteile und Schlüsse nicht als Denkvorgänge oder psychische Akte, sondern als Sinngehalte oder rein ideale Einheiten. Mithin sind die apriorischen Idealwissenschaften Mathematik und Logik von den empirischen Realwissenschaften, wie z. B. der Psychologie, deutlich zu trennen. Es ist eine widersinnige Metabasis, wenn der logische Psychologismus jene in dieser fundieren will. Obwohl diese Argumentation mit ihrem Hinweis auf die Trennung des Idealen vom Realen in ihrer kritischen Ausrichtung gegen den Psychologismus hier nicht neu ist, stellt Husserl in ihrem Zusammenhang doch erstmals seine neue Theorie des abstraktiven Ursprungs mathematischer Begriffe vor (vgl. XVIII,174). Damit findet zugleich ein wesentliches Stück von Husserls Selbstkritik statt. Entscheidend ist dabei, daß Zahlen nun ganz eindeutig von der kollektiven Verbindung als psychischem Phänomen unterschiedene ideale Spezies darstellen, die ihren Ursprung nicht mehr in der innerpsychischen Reflexion auf psychische Akte haben; als Bedeutungseinheiten gewinnen wir sie nicht in einem Vollzug der empirischen Abstraktion, sondern in der »ideierenden Abstraktion«. Husserls neuartige Theorie der Abstraktion wird später in der II. »Logischen Untersuchung« ausfühlicher erläutert92. Erst mit ihr gewinnt er die angemessene Methode zur Überwindung seiner früheren psychologischen Theorie des Ursprungs der Zahl, 92
Vgl. dazu unten Kapitel III. C. 3.
Psychologismuskritik der »Prolegomena«
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denn sie stellt klar, daß Zahlen als ideale Einheiten gefaßt werden und nicht als »psychische Phänomene« aus einer empirischen Abstraktionsleistung93. Damit ist dann auch die in der psychologischen Analyse drohende »Psychologisierung« von Zahlen und Begriffen eindeutig vermieden. Weil Husserl die Gegenstände der Mathematik (und Logik) im Idealen liegen sieht, will er sie in den »Prolegomena« von der Psychologie gänzlich getrennt wissen – »das Mathematische und das Psychologische sind so fremde Welten, daß schon der Gedanke ihrer Vermittlung absurd wäre« (XVIII,172). Mit dieser rigorosen Trennung von Idealwissenschaften und Psychologie als Tatsachenwissenschaft erreicht Husserl mit der Psychologismuskritik der »Prolegomena« die größte Distanz zur Psychologie, die er je haben wird, denn schon in den sechs LU werden sich diese klaren Grenzlinien wieder verwischen. Nach dieser Kritik hebt Husserl nun auf dem Wege der direkten Kritik den eigentlichen Grund des zweiten Vorurteils des Psychologismus hervor (vgl. XVIII,176 f.). Die scheinbare Plausibilität der psychologistischen Grundthese beruht nämlich nur auf einer undurchschauten Äquivokation, die leicht in die Irre führt: Vom Psychologismus werden Vorstellungen, Begriffe, Urteile und Schlüsse einfach nur als psychische Ereignisse verstanden, was angesichts dieser Termini ja auch nicht ganz falsch ist. Übersehen wird dabei aber, daß dieselben Worte für sinnhafte Inhalte stehen, die keineswegs psychischer Natur sind. Der Logiker interessiert sich jedoch für Begriffe, Urteile und Schlüsse gerade als diese Sinngebilde, also nicht für raumzeitliche Ereignisse der empirischen Wissenschaften. Der logische Psychologismus gründet in dieser undurchschauten Äquivokation. Er mißdeutet oder negiert den Sinngehalt der Logik, wenn er ihn »psychologisiert« und damit die Logik in der Psychologie aufgehen lassen will. Diese Psychologisierung, die eine Negation des Sinns als einer Art von Gegenständlichkeit zugunsten der subjektiven Erlebnisse bedeutet, ist das allgemeine Charakteristikum des Psychologismus (vgl. XVII,177 f.). Er hat seinen tieferen Grund in der mangelnden Differenzierung zwischen Akt und Aktinhalt bzw. Urteil und Urteilsinhalt, also in den fehlleitenden Äquivokationen solcher Termini wie Vorstellung, Begriff, Urteil usf. Daher kommt dem Hinweis auf diese Äqui93
Vgl. dazu XIX/2,669 f. aus dem § 44 der LU VI, der die Kritik bereits im Titel anzeigt »Der Ursprung des Begriffes Sein und der übrigen Kategorien liegt nicht im Gebiete der inneren Wahrnehmung«: »Nicht in der Reflexion auf Urteile oder vielmehr auf Urteilserfüllungen, sondern in den Urteilserfüllungen selbst liegt wahrhaft der Ursprung der Begriffe Sachverhalt und Sein […], nicht in diesen Akten als Gegenständen, sondern in den Gegenständen dieser Akte finden wir das Abstraktionsfundament für die Realisierung der besagten Begriffe«.
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vokationen und mithin der Durchführung einer hier nötigen Differenzierung eine zentrale Bedeutung für die gesamte Psychologismuskritik zu. 3. Gemäß dem dritten Vorurteil des Psychologismus gehört die Logik in die Psychologie, weil sie auf Evidenzen beruhe, die Gefühle und damit Psychisches seien94. Logische Gesetze, oder überhaupt die Wahrheit von Urteilen, werde durch subjektive Evidenzen verbürgt. Da nun aber die Logik die Erkenntnis der Wahrheit fördern soll, müsse sie jene psychologischen Gesetzmäßigkeiten ermitteln, die das Evidenzgefühl, bzw. hiermit die Wahrheit, bedingen. Da Wahrheit m.a.W. von Evidenz abhänge, diese aber ein reales psychisches Geschehen sei, das die Psychologie erforscht, müßten die Regeln zur Wahrheitsfindung von der Psychologie bereitgestellt werden. Logik wird nach diesem Vorurteil als Theorie der Evidenz verstanden, die zur Psychologie gehört, weil Evidenz eben ein subjektives Gefühl sei – »so sind die logischen Sätze selbstverständlich Sätze der Psychologie«95. In der Folge dieses Vorurteils würden die logischen Gesetze ihren apriorischen und streng notwendigen Status verlieren, da sie an die empirisch-realen Bedingungen des psychologischen Faktums des Evidenzgefühls gebunden wären, das ihre Wahrheit verbürgen soll. Mithin würde die Logik auf empirischen Verhältnissen basieren, was zu den bereits dargestellten skeptischen Konsequenzen führen muß. Husserls Kritik an diesem Vorurteil ist interessanter als die an den beiden anderen. Sie stellt zuerst klar, daß es in der Logik gar nicht darum geht, evidente Sätze oder zu diesen hinleitende Denkregeln zu finden. Logische Gesetze besagen nämlich inhaltlich oder für sich betrachtet keineswegs dasselbe wie mit Evidenz erlebte Sätze, so daß Husserl bestreitet, »daß die rein logischen Sätze selbst über die Evidenz und ihre Bedingungen das Geringste aussagen« (XVIII,186). Statt dessen fragt die Logik nach idealen und formalen Wahrheitsbedingungen von Sätzen oder nach Gesetzen des Wahrseins von Urteilen. Wahre Sätze lassen dann allerdings auch eine Umformung zu, weshalb beispielsweise eine Äquivalenz zwischen den Sätzen »A ist wahr« und »es ist möglich, daß irgend jemand mit Evidenz urteilt, es sei A« besteht (vgl. XVIII,187). An sich besagt der elementare erste, für die reine Logik allein relevante Satz, aber nicht dasselbe wie seine Umwendung im Evidenzsatz. Vollends deutlich wird dieser Unterschied zwischen der reinen Logik und
94
Vgl. hierzu XVIII,183 ff. sowie Moog (1919), 30 ff.; Tugendhat (1970), 101ff.; Patzig (1977); Rosen (1977), 44 ff.; Heuer (1989), 200–207. 95 XVIII,183. Daß diese Formulierung von Husserl keineswegs überspitzt gewählt ist, belegen seine zahlreichen Zitate aus den Werken seiner psychologistischen Kontrahenten J. St. Mill, Chr. Sigwart, W. Wundt und A. Höfler.
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der Logik als Theorie der Evidenz dann angesichts mathematischer Wahrheiten: Hier gibt es zweifellos Wahrheiten, die so komplex und hochstufig sind, daß das beschränkte Vermögen der menschlichen Erkenntnis diese gar nicht mehr evident fassen kann. Mithin will Husserl in den »Prolegomena« die Logik nicht an psychologischen Evidenzerlebnissen ausrichten, sondern an den idealen Wahrheiten selbst. Logik hängt also keineswegs von subjektiven Gefühlen ab und es ist nicht ihre Aufgabe, diese irgendwie zu berücksichtigen. Nun will Husserl aber nicht leugnen, daß Wahrheit »eine gewisse Beziehung« (XVIII,185) zum Evidenzerlebnis hat und Wahrheit dies insofern auch mit bedingt. Wahrheit wird nämlich tatsächlich durch Evidenz offenkundig, und es besteht ohne Zweifel eine enge Verbindung von Wahrheit und Evidenz. Interessant wird daher die Kritik am dritten psychologistischen Vorurteil erst dort, wo Husserl mit ihr den Charakter der Evidenz neu deutet. Er muß Evidenz schon deshalb anders interpretieren als der Psychologismus, weil er einerseits ihre erkenntnismäßige Beziehung zur Wahrheit betont, aber andererseits diese Beziehung nicht als realen, psychologischen Vorgang fassen darf, da sonst Wahrheit für uns doch wieder durch psychische Ereignisse bedingt und verbürgt wäre. Angesichts dieser Situation erfolgt Husserls nicht-psychologische Deutung der Evidenz. Diese geschieht in den »Prolegomena« noch gewissermaßen »von oben«, nämlich von den logischen Wahrheiten ausgehend, von denen her die Möglichkeit der Evidenzerlebnisse eine ideale und keine psychologische ist96. Die Wahrheit ist dabei das Primäre, von dem aus sich erst die Möglichkeit von Evidenzerlebnissen eröffnet (vgl. XVIII,194 f.). Die Beziehung zwischen Wahrheit und Evidenz faßt Husserl hier als »eine rein ideale und indirekte« (XVIII,186) bzw. als »ideale Möglichkeit« (ebd.), denn sie vollzieht sich vor dem Hintergrund der logischen Wahrheiten selbst. Von daher ist Evidenz überall dort ein prinzipiell mögliches psychisches Erlebnis, wo die idealen, logischen Gesetze und Verhältnisse erkannt werden. Steht Evidenz somit nicht unter realen, sondern unter rein logischen Bedingungen, dann sind mit allen logischen Wahrheiten zugleich auch ideale Möglichkeiten für Evidenzerlebnisse gegeben. Diese Möglichkeiten »als idealgesetzliche, gelten überhaupt für jedes mögliche Bewußtsein« (XVIII,190), also 96
Dieser Evidenzbegriff der »Prolegomena« unterscheidet sich damit deutlich von der phänomenologischen Klärung der Evidenz, wie sie in der VI. LU und in Husserls späteren Arbeiten geschieht. Darin wird Evidenz sozusagen »von unten«, nämlich von der sie bildenden subjektiven Aktivität aus erforscht und als Erfüllung von Intentionen beschreiben. Vgl. zu der doppelseitigen Thematisierung der Evidenz auch § 69 aus »Formale und transzendentale Logik«.
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nicht nur für ein beschränktes menschliches, das sie ja gar nicht alle zu verwirklichen vermag. Dies gilt z. B. wieder im Bereich komplexer mathematischer Aufgaben, deren Lösung zwar nicht für uns, aber eben für ein denkbares »Bewußtsein überhaupt« evident erlebt werden kann: »Die Evidenz ist hier psychologisch unmöglich, und doch ist sie, ideal zu reden, ganz gewiß ein mögliches psychisches Erlebnis« (XVIII,188). Aus dieser Deutung des Evidenzerlebnisses ergibt sich in der Konsequenz dann die eigenartige Möglichkeit einer »apriorischen Psychologie«, die in den »Prolegomena« nur erst angedeutet ist: Denn wenn das Evidenzerlebnis somit unter idealen Möglichkeitsbedingungen betrachtet wird, dann sind die logischen Wahrheiten auch »psychologisch nutzbar zu machen« (XVIII,189). Sie prädeterminieren nämlich einen Bereich von prinzipiell möglichen psychischen Erlebnissen, in denen sie evident erlebt werden können. Der idealen Wahrheit des Logischen korreliert ja die Möglichkeit ihrer Gegebenheit in der Evidenz, so daß das subjektive Evidenzerlebnis jeweils dort zustande kommen muß, wo eine Wahrheit in adäquater Weise vorgestellt wird, d.h. gegeben ist. So »belehrt uns auch jeder rein mathematische Satz über mögliche und unmögliche Vorkommnisse im Gebiet des Psychischen.«97 Husserl antizipiert mit diesem Gedanken der »psychologischen Nutzbarkeit« (vgl. XVIII,188 f.) der Idealgesetze für die Psychologie seine später im Rahmen der eidetischen Phänomenologie konzipierte »apriorische Psychologie«. Diese soll es durch die Feststellung von apriorischen Wesenssachverhalten erlauben, zu diesen korrelativ mögliche Erlebnisweisen ebenfalls a priori zu bestimmen. So korreliere den apriorischen Wahrheiten der reinen Logik und Mathematik ein »ideale[s] Wesen einer mathematisierenden und allgemeiner einer erkennenden Subjektivität überhaupt«, die der Gegenstand der apriorischen Psychologie sei98. Ist die Beziehung von Wahrheit und Evidenz für Husserl also in erster Linie keine reale oder kausale, sondern eine ideale, dann kann das Evidenzerlebnis auch nicht in seiner psychologischen Charakterisierung erschöpfend
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XVIII,189 sowie XXII,159; Hua. Mat. III,191f., vgl. auch den § 64 aus der LU VI, in dem Husserl den Gedanken der »psychologischen Bedeutung« von rein logischen Gesetzen aufgreift, der in der Folge dazu führt, daß Husserl aus der Einsicht in Wesensgesetzlichkeiten glaubt prinzipiell mögliche Erfahungen antizipieren zu können. 98 IX,39. Die einzigartige Idee einer apriorischen Psychologie bei Husserl beruht auf einem Blick »von idealen Gegenständlichkeiten zurück auf das sie subjektiv bildende Bewußtsein« (IX,37). Die phänomenologisch gesicherten Wesenswahrheiten sollen dabei für eine neuartige, weil apriorische Psychologie ebenso »nutzbar« werden können, wie die Gesetze der reinen Logik in Husserls Deutung der idealen Bedingtheit von Evidenzerlebnissen in den »Prolegomena«. Vgl. dazu IX,37 ff.; XXV,198
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begriffen werden. Statt es psychologisch als »Gefühl der Notwendigkeit« zu verstehen, gibt Husserl ihm einen neuen Sinn99: Bestimmt er Evidenz bereits im § 6 der »Prolegomena« »als unmittelbares Innewerden der Wahrheit selbst«, die das Wissen im strikten Sinne ermöglicht (XVIII,29), so nennt er sie nun »nichts anderes als das ›Erlebnis‹ der Wahrheit« (XVIII,193, vgl. Hua. Mat. III,133 f.). Evidenz wird so mit Wahrheit untrennbar verbunden, da diese im Evidenzerleben »selbst gegenwärtig« ist100. Gibt es im Evidenzerlebnis m.a.W. ein Wissen von den rein logischen Gesetzen, so ist damit zugleich auch Wahrheit gegeben, denn Husserl begreift diese in Korrelation zum Gewußten, da eine unproblematische und »naheliegende Äquivokation« (XVIII,193) von selbstgegebenem Sachverhalt und der Wahrheit selbst besteht. Das Evidenzerlebnis im strengen Sinne der »Prolegomena« wird damit ganz eindeutig vom Idealen, nämlich der Wahrheit des rein Logischen her bedingt. Es kann »keine andere wesentliche Vorbedingung haben […] als die Wahrheit des bezüglichen Urteilsinhalts«, so »daß es, wo keine Wahrheit ist, auch kein als wahr Einsehen geben kann, m.a.W. keine Evidenz« (XVIII, 194 f., vgl. 240). Betont Husserl hiermit erneut die Idealität der Wahrheit als entscheidende Vorbedingung der Evidenz, so ergibt sich daraus, daß deren bloß psychologische oder tatsachenwissenschaftliche Beschreibung zu kurz grei99
Eine antipsychologistische, gegen Sigwart gerichtete Interpretation der Evidenz findet sich schon in Brentanos Schrift »Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis« (1889), die Husserl gut kannte: »Die Eigentümlichkeit der Einsicht, die Klarheit, Evidenz gewisser Urteile, von der ihre Wahrheit untrennbar ist, hat wenig oder nichts mit einem Gefühle der Nötigung zu tun.« (ebd., 66 sowie Brentano (1962) 63, 142, vgl. zu Brentanos Theorie der Evidenz auch Tugendhat (1970), 31f.) 100 XVIII,193. Zum Verständnis dieser intrikaten Bestimmungen der Evidenz in den »Prolegomena« wäre eine ausführlichere Untersuchung des Husserlschen Wahrheitsbegriffs erforderlich, als sie hier geleistet werden kann. Es sei jedoch zumindest der Hinweis darauf gegeben, daß die in der Evidenz erlebte »Wahrheit« hier in dem vierfach differenzierten Sinne des § 39 der LU VI interpretiert werden kann. Dannach ist Wahrheit: 1. das Erlebnis der Übereinstimmung oder Deckungssynthesis von Intention und Erfüllung. Darin ist das intendierte Gegenständliche selbst genau so gegeben, wie es gemeint ist; 2. das höherstufige Bewußtsein der Idee der Adäquation, die im einzelnen Fall von Erkenntnis realisiert und erlebt ist. In diesem Sinne von Wahrheit, der in den »Prolegomena« eine wichtige Rolle spielt, wird die Idee der Übereinstimmung im Evidenzerlebnis vereinzelt, was allerdings erst in der höherstufigen Reflexion auf die Evidenz auch bewußt wird; 3. das in der Evidenz selbstgegebene Gegenständliche selbst, das als »wahrmachendes« erlebt wird, und 4. die Richtigkeit des Wesens der Intention (der Meinung), sofern sie als solche abstraktiv von der sie erfüllenden Selbstgegebenheit ihres Intentums unterschieden wird. Vgl. dazu ausführlicher Tugendhat (1970), 91–96; Grünewald (1977), 82–86; Patzig (1977); Rosen (1977), 50–54; Ströker (1978); Heuer (1989), 151–178; Dahlstrom (1994), 63–73 und Lohmar (1998), 162 ff.
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fen muß und auf einem verengenden Vorurteil beruht. Mit seinem Verständnis der Evidenz leugnet Husserl aber keineswegs ihren subjektiven Erlebnisaspekt. Da er sie aber von der Selbstgegebenheit der gegebenen Sache, die hier das Rein-Logische ist, her begreift, kann er ihre bloß psychologische Interpretation zurückweisen101.
3. Zusammenfassung Die Psychologismuskritik der »Prolegomena« richtet sich gegen den logischen Psychologismus, also jene Theorie, die die Grundlagen der umfassenden Logik als Wissenschaftslehre von der Psychologie aus begründen will. Husserl weist die begründungstheoretischen Defizite dieses Ansatzes auf und argumentiert gegen ihn von seiner reinen Logik her, die für ihn das wesentliche theoretische Fundament der umfassenden Logik bildet. Seine Kritik geht dabei zwei unterschiedliche Wege: Zuerst kritisiert Husserl die skeptisch-relativistischen Konsequenzen jeder empirischen Begründung der Logik. Er weist nach, daß die Unterordnung der Logik unter eine empirische Basis zum Verlust der notwendigen und apodiktischen Geltung logischer Gesetze führt. Diese Konsequenz bedeutet die implizite Selbstwidersprüchlichkeit des Psychologismus als theoretischer Position, weil er damit die immanenten Sinnbedingungen von Theorien überhaupt einerseits relativiert, andererseits aber in Anspruch nimmt. So verkennt der Psychologismus für Husserl das Wesen der Theorie und hebt sich aufgrund seiner Konsequenzen letztlich selbst auf. Außerdem kritisiert Husserl drei Grundannahmen des psychologistischen Forschungsprogramms, indem er sie als Vorurteile enthüllt: Der wesentliche Charakter der Logik als Wissenschaftslehre liegt nicht in psychologischen Gesetzen, sondern in der reinen Logik. Logik hat es mit Urteilen, Schlüssen oder Beweisen nicht als psychischen Geschehnissen, sondern als idealen Be101
Wird Evidenz in den »Prolegomena« letztlich als ein vom idealen Reich der Wahrheit rein logischer Bedeutungen her bedingtes Erlebnis begriffen, so liegt hierzu ein Vergleich mit Kants Gefühl der Achtung nahe. Trotz aller Schwierigkeiten, die sich einem Vergleich von so verschiedenen Theorien wie Kants praktischer Philosophie und Husserls früher Evidenztheorie entgegenstellen, fällt auf, daß hier wie dort eine unmittelbare Erlebnisgewißheit zumindest als Indiz für eine darin gegebene Allgemeinheit in Anspruch genommen wird. Von dieser Allgemeinheit (dem Sittengesetz bzw. der idealen Wahrheit an sich) aus soll das Erlebnis jeweils »gewirkt« sein, bzw. stellt dies eine Zugangsweise zu ihr dar. Husserls Evidenz und Kants Achtung sind sich darin ähnlich, daß sie zwar eminent subjektive Erlebnisse sind, sie ihren Grund jedoch nicht in einer zufälligen Sinnlichkeit, sondern in der Präsenz einer überindividuellen, nichtempirischen Allgemeinheit haben.
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deutungseinheiten zu tun. Schließlich ist die Logik keine Theorie der Evidenz als subjektivem Gefühl. Evidenz wird in den »Prolegomena« vielmehr von der Idealität der logischen Wahrheiten her interpretiert. Innerhalb der Entwicklung von Husserls Denken setzt mit der Psychologismuskritik eine erkenntnistheoretische Neuorientierung ein: Indem für Husserl die Probleme, die die psychologische Analyse mit der Begründung der Objektivität mathematischer und logischer Sätze hat, unabweisbar werden, gerät diese Methode »ins Schwanken« (XVIII,7). Sie muß zu einer Methode radikalisiert werden, die der Idealität und Objektivität des Logischen gerecht wird und dies erkenntnistheoretisch auf eine nichtempirische Weise klärt. Angesichts dieser Aufgabenstellung vollzieht sich Husserls »Durchbruch« zur Phänomenologie.
D. Die Voraussetzungen der Psychologismuskritik der »Prolegomena« Es ist Husserls Frage nach den Grundlagen von Mathematik, Logik und schließlich von Wissenschaft überhaupt, die ihn zu seiner Kritik am Psychologismus bringt, denn in diesem können jene Grundlagen letztlich nur unbefriedigend, nämlich nur in subjektiv-psychologischer Hinsicht erörtert werden. Um demgegenüber die skeptischen Konsequenzen des Psychologismus zurückzuweisen und eine objektiv gültige Begründung von Wissenschaften zu ermöglichen, bedarf es für die Psychologismuskritik der »Prolegomena« zweier wichtiger systematischer Unterscheidungen, die in Husserls früheren Schriften noch nicht so deutlich waren: Zuerst muß ständig die Mehrdeutigkeit solcher Ausdrücke wie »Urteil«, »Schluß« oder »Vorstellung« im Auge behalten werden, d.h. die objektive von der subjektiven Bedeutung klar unterschieden bleiben. Sonst kommt es zu jener bloß scheinbaren Plausibilität des Psychologismus, bei der diese logischen Grundbegriffe nur als psychische Geschehnisse verstanden werden, die die Psychologie zu untersuchen hat. Hierbei wird dann der für die Logik einzig relevante Bedeutungsgehalt von Urteilen und Sätzen aufgrund von Äquivokationen übersehen oder gar psychologisiert. Zum anderen muß der in den Sätzen der Wissenschaften liegende Bedeutungs- und Wahrheitsgehalt als etwas prinzipiell Nichtempirisches vom Empirischen unterschieden werden, welches in den Tatsachenwissenschaften thematisiert wird. Husserl betont in den »Prolegomena« wiederholt, daß dem fundamentalen Unterschied zwischen dem Bereich des Idealen und dem des Realen für die Lösung des Streits um die wesentlichen Grundlagen der Logik die entscheidende Rolle zukommt (vgl. z. B. XVIII,79 f., 87, 181). Um
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Wissenschaft streng begründen zu können, wird daher von Husserl »alle Mühe […] daran gewendet, den Leser zur Anerkenntnis dieser idealen Seinsund Wissenschaftssphäre zu bestimmen« (XX/1,277). Die Bedeutungen als Thema der reinen Logik sind also ebensowenig reale Tatsachen oder deren Eigenschaften, wie die in ihnen gründenden Bedeutungsgesetze oder logischen Gesetze, und sie können daher ihrerseits auch nicht in einer Tatsachenwissenschaft angemessen untersucht werden. Zu unterscheiden sind mithin die in der Sphäre der Bedeutungen herrschenden logischen Gesetzmäßigkeiten von den empirischen Naturgesetzen als Kausalgesetzen. Diese Unterscheidung findet in den LU dadurch eine besonders drastische Ausprägung, daß hier der für die reine Logik als Wissenschaftslehre allein relevante Bereich ein idealer, an sich bestehender ist. Der Logiker untersucht somit die logischen Gesetze und die möglichen Gliederungsformen von Sätzen, in denen Wahrheit auftreten kann, wobei er sich in einer idealen »Welt der Sätze« (XXX,47, 51; Hua. Mat. I,142; vgl. XVII,267) bewegt. Dieser Bereich ist in einem derart »starken« Sinne objektiv, daß er invariant gegenüber dem Wandel der Zeit sowie natürlichen Sprachen und Personen ist102. Hierin findet Husserl seinen »archimedischen Punkt«, von dem aus er sowohl den Psychologismus widerlegen als auch insgesamt »die Welt der Unvernunft und des Zweifels aus den Angeln […] heben« will (XVIII,148). Strenge Objektivität der Wissenschaften ist für Husserl in den »Prolegomena« letztlich nur vor dem Hintergrund dieser Idealität der Bedeutungen und der »Wahrheit an sich« gesichert103. Da es ihm in den »Prolegomena« aber gerade um eine skeptizismusresistente Bestimmung der logischen Grundlagen der Wissenschaften geht, betont er diese Idealität in ihrer Unabhängigkeit von jeglichen konkreten Realisierungen zuweilen übermäßig, was zu einer schroffen Gegenüberstellung von Idealem und Realem führt. Insoweit die Psychologismuskritik damit in Abhängigkeit von dieser vorausgesetzten idealen Sphäre gerät, liegt es nahe, ihr eine »dogmatische Befangenheit« vorzuwerfen104. Sie wäre dann keine rein immanente Kritik 102
Vgl. z.B. XVIII,166: »Dieser objektive Gehalt der Wissenschaft ist, soweit sie ihrer Intention wirklich genügt, von der Subjektivität der Forschenden, von den Eigenheiten der menschlichen Natur überhaupt völlig unabhängig, er ist eben objektive Wahrheit.« 103 Vgl. auch XXIV,142 f.: »An der Idealität der Bedeutungen, dieser logischen Einheiten, an ihren Formen und Formgesetzen hängt die Objektivität der Geltung der Wissenschaft.« Und XXIV,323: »Objektivität liegt ausschließlich in der Idealität.« Vgl. ebd., 39 und 340; Hua. Mat. III,51, 139, 200, 206; XVIII,194. 104 Sommer (1985), 176. Auch Tugendhat (1970), 233 ist der Auffassung, daß in der Psychologismuskritik der »Prolegomena« ein »unbemerkter dogmatischer Rest« steckt. Moog (1919), 26, 34, geht so weit, von einer »Metaphysizierung der Logik« in Husserls »Prolegomena« zu sprechen.
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mehr, sondern setzte etwas voraus, was seinerseits noch begründungsbedürftig wäre. Man darf daher gespannt sein, ob der von der Psychologie her kommende Husserl das nötige methodische Rüstzeug dafür hat, seine Idee der reinen Logik in den sechs LU erkenntnistheoretisch auszuweisen und zu rechtfertigen. Nur wenn dies gelingt, kann der Dogmatismusvorwurf entkräftet werden und die Psychologismuskritik hinsichtlich ihrer Voraussetzungen entlastet werden. Bevor diese Aufgabe der LU im folgenden Abschnitt III verdeutlicht werden soll, sind hier zunächst jene philosophischen Positionen zu skizzieren, die auf Husserls Idee der reinen Logik und die sich aus ihr ergebende Psychologismuskritik grundlegenden Einfluß hatten. Einzugehen ist dabei insbesondere auf Bolzano (D. 1) und Lotze (D. 2). Außerdem soll geprüft werden, ob auch Freges Psychologismuskritik für Husserl richtungsweisend war, weil dies in der Forschung immer wieder kolportiert wird (D. 3). Von Bolzanos Begriff der »Wahrheit an sich« kann ohne weiteres gesagt werden, daß er für Husserls Wissenschaftsauffassung und die damit zusammenhängende Psychologismuskritik zentrale Bedeutung hat. Husserl hat ihn aus Bolzanos »Wissenschaftslehre« übernommen und in einer über Lotze vermittelten Interpretation für seine Psychologismuskritik fruchtbar gemacht. Da dieser Hintergrund für Husserls Psychologismuskritik und mithin für die Fortentwicklung seiner eigenen Position eine wesentliche Voraussetzung bildet, ist er an dieser Stelle genauer zu berücksichtigen. Dies ist um so wichtiger, als Husserl selbst wiederholt darauf hingewiesen hat, daß Bolzanos Lehre von den Wahrheiten an sich für seine eigene Entwicklung »von unschätzbarem Wert« war (V,57), ja hierzu Bolzano und Lotze »die entscheidenden Einflüsse« zu verdanken seien (XXII,156; XVIII,229).
1. Bolzanos Wahrheiten an sich Bernhard Bolzano (1781-1848) geht in seiner »Wissenschaftslehre« (1837) unbekümmert davon aus, »daß es in der That objective Wahrheiten gebe, daß diese in einer gewissen, von unserer Erkenntniß ganz unabhängigen Verbindung als Gründe und Folgen untereinander stehen, daß endlich auch wir Menschen im Stande sind, wenigstens einige dieser Wahrheiten […] zu erkennen« (WL I, 61f.)105. Die Aufgabe der Wissenschaft bestimmt er dann ähnlich wie Husserl dahingehend, daß sie aus »dem ganz unermeß105
Bolzanos »Wissenschaftslehre« (1837) zitiere ich mit dem Kürzel »WL« nach der von W. Schulz herausgegebenen Ausgabe von 1929 ff. jeweils mit Band- und Seitenangabe.
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lichen Gebiete aller Wahrheiten, die es an sich gibt« (WL I, 3) kleine Mengen systematisch fassen soll. Wissenschaften stellen somit regelhaft verbundene »Inbegriff[e] von Wahrheiten« oder geordnete Teilmengen aus dem »gesammte[n] Gebiet […] der Wahrheit überhaupt« (WL I, 4) in Lehrbüchern dar, um dieses Gebiet so zweckmäßig zu erschließen106. Genau diese Bestimmung des Wissenschafts- und Wahrheitsbegriffs spiegelt sich in Husserls »Prolegomena«, wenn dort davon ausgegangen wird, daß die Aufgabe der Wissenschaften darin besteht, ein in sich gegliedertes und unabhängig von uns bestehendes »Reich der Wahrheit« zu erobern107. Wie aber kennzeichnet Bolzano seine »Wahrheit an sich« genau, an der Husserl hier noch orientiert ist? Bolzano antwortet: »Ich verstehe […] unter einer Wahrheit an sich jeden beliebigen Satz, der etwas so, wie es ist, aussagt, wobei ich unbestimmt lasse, ob dieser Satz von irgend Jemand wirklich gedacht und ausgesprochen worden sey oder nicht.« (WL I, 112) Mit dieser Antwort verweist Bolzano seine Leser zurück auf die von ihm vorher gegebene Bestimmung der Klasse der Sätze an sich, von denen die Wahrheiten an sich eine echte Teilklasse bilden: Wahrheiten an sich sind genau die Sätze an sich, die die Eigenschaft haben, wahr zu sein. Was aber versteht Bolzano dann unter »Sätzen an sich«? Auch hier gibt die »Wissenschaftslehre« eine klare Antwort: »unter einem Satze an sich verstehe ich nur irgend eine Aussage, daß etwas ist oder nicht ist; gleichviel, ob diese Aussage wahr oder falsch ist, ob sie von irgend Jemand in Worte gefaßt oder nicht gefaßt, ja auch im Geiste nur gedacht oder nicht gedacht worden ist.« (WL I, 77) Sätze an sich sind also sprach- und denkunabhängige Entitäten, die wahrheitsdifferent sind. Außerdem haben sie einen satzförmigen Aufbau, d.h. eine Subjekt-Prädikat-Struktur (vgl. WL II, 77 ff.). Schließlich sind sie aus Bestandteilen aufgebaut, die, sofern sie nicht selber Sätze an sich sind, »Vorstellungen an sich« heißen. Auch die Vorstellungen an sich dürfen als Bedeutungspartikel der Sätze an sich weder mit den Wörten der Sätze verwechselt werden noch setzen sie wirklich »gehabte oder subjective Vorstellungen« oder auch nur denkende Subjekte, die sie auffassen, voraus (WL I, 215 ff.). Mit den Sätzen an sich bzw. Wahrheiten an sich und den Vorstellungen an sich ist das Spektrum der denkunabhängig bestehenden, rein logischen Gegenstände, von dem Bolzano in der »Wissenschaftslehre« ausgeht, benannt108. Da Husserl es in
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Scholz (1961), 224ff. spricht in seiner Erläuterung des Bolzanoschen Wissenschaftsbegriffs davon, daß jede Wissenschaft einen bestimmten »Komplex« von Wahrheiten darstelle. 107 Vgl. XVIII,21, 31, 40, 166, 241 sowie oben Kapitel II.A.2.a. 108 Morscher (1972), 69 f. weist darauf hin, daß sich Bolzanos logischer Realismus dar-
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seiner Wissenschafts- und Bedeutungstheorie der LU, wenn auch modifiziert, so doch komplett übernommen hat, lohnt es sich, noch einen Moment bei Bolzanos logischem Realismus zu verweilen, um ihn näher zu erläutern. Wichtig ist in unserem Zusammenhang besonders die »ontologische« Charakterisierung von Bolzanos logischen Gegenständen, also sozusagen die Frage nach ihrer Seinsweise. Daß sie gegenüber sprachlichen Ausdrücken und dem erkennenden Bewußtsein einen eigenen, unabhängigen Bereich ausmachen, wurde bereits betont – sie bestehen eben losgelöst hiervon »an sich«. Gleichwohl können sie zu den beiden anderen Bereichen in Beziehung treten. So können Sätze an sich in sprachlichen Sätzen und Vorstellungen an sich in Worten ausgesprochen werden bzw. im »Urteil« und in »subjektiven Vorstellungen« »erscheinen«, wenn sie vom Gemüt darin »aufgefaßt« werden. Sie bilden in diesen Fällen jeweils den Inhalt der sprachlichen Ausdrücke bzw. den »Stoff« der psychischen Phänomene. Dieser Bezug des Ansich-Seienden, Nichtwirklichen der Logik zum Wirklichen von wird von Bolzano aber nur unzureichend und formal erläutert. Was es genau heißt, daß ein Satz an sich im »Urteil« oder eine Vorstellung an sich in der »subjektiven Vorstellung« »erscheint« oder »aufgefaßt« wird, bleibt im dunkeln109. Klar ist nur, daß »Urteile« und »subjektive Vorstellungen« für Bolzano wirkliche Ereignisse im Gemüt von denkenden Wesen sind, d.h., daß sie in der Zeit geschehen und kausal wirksam sind, während die logischen Gegenstände, die den »Stoff« hiervon stellen, dies gerade nicht sind. Sie haben »kein Dasein (keine Existenz oder Wirklichkeit)« (WL I, 78, vgl. WL II, 4) und mithin ist für sie der Bezug zur Sprache oder zum auffassenden Gemüt auch ncht wesentlich. Aus der Gegenüberstellung der nichtwirklichen logischen Gegenstände zur Wirklichkeit des Psychischen und Sprachlichen läßt sich aber auch eine wichtige positive Bestimmung des Logischen gewinnen, die dann auch für Husserl entscheidend werden wird. Sofern Sätze an sich und Vorstellungen an sich nämlich mögliche »Stoffe« von Urteilen und subjektiven Vorstellungen, bzw. mögliche Inhalte von sprachlichen Ausdrücken werden können, sind sie nichts anderes als deren Bedeutungsgehalt. Die Sätze an sich und Vorstellungen an sich sind m.a.W. der gesamte Bereich der Bedeutungen, der
über hinaus noch auf eine weitere Art von logischen Gegenständen erstreckt, nämlich die »Wissenschaften an sich«, auf die hier aber nicht weiter eingegangen werden muß. 109 Zu dieser Bewertung kommt auch Beyer (1996), 101, 110. Da Bolzanos Wendung von der »Auffassung« eines logischen Gegenstands angesichts der erkenntnistheoretischen Problematik bestenfalls so etwas wie eine Ersatzfunktion erfüllt, hält er sie für einen begrifflichen »Dummy«.
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überhaupt je einer psychischen Erfassung zur Verfügung stehen kann110. Wohlgemerkt »können« die logischen Gegenstände als Bedeutungen diesen Bezug zum Sprachlichen oder Psychischen gewinnen, »an sich« haben sie ihn nicht und bedürfen seiner auch nicht. Vielmehr bilden sie in sich einen Bereich reiner Inhalte, der ontologisch von allem Empirischen strikt unterschieden ist. Daher bestehen für Bolzano z. B. »Wahrheiten an sich« auch dann, wenn niemand jemals von ihnen erfährt. Genau diese Konzeption wird für Husserls Psychologismuskritik richtungsweisend111. Denn gerade indem Bolzano für Husserl »der eigentliche Entdecker der Welt der reinen Denkbedeutungen« ist, weiß Husserl sich in Hinsicht auf seine eigene Ablösung vom Psychologismus gegenüber Bolzanos »bewunderungswürdiger Wissenschaftslehre« (vgl. XVII,88) zu Dank verpflichtet112. Bolzanos Sätze an sich interpretiert Husserl nämlich als die Bedeutung propositionaler Akte und die Vorstellungen an sich als selbständige oder unselbständige Teilbedeutungen, die in nominalen Akten subjektiv realisiert werden können113. Wie bei Bolzano findet sich denn auch noch in Husserls II. »Logischer Untersuchung« die begriffsrealistische Auffassung von einer an sich bestehenden Welt der Bedeutungen: Begriffe, Sätze und Wahrheiten, kurz die »logischen Bedeutungen […] bilden einen ideal geschlossenen Inbegriff von generellen Gegenständen, denen das Gedachtund Ausgedrücktwerden zufällig ist. Es gibt also unzählige Bedeutungen, die im gewöhnlichen relativen Sinne des Wortes bloß mögliche Bedeutungen sind, während sie niemals zum Ausdruck kommen und vermöge der Schranken menschlicher Erkenntniskräfte niemals zum Ausdruck kommen können« (XIX/1, 110, vgl. 99; Hua. Mat. II,57). Dieser ideale Gegenstandsbereich stellt das eigentümliche Terrain von Husserls reiner Logik als Wissenschaftslehre dar, denn einzig aus ihm rekrutiert sich der theoretische Gehalt von Wissenschaften: »Wissenschaft ist ihrem objektiven Gehalt nach […] eine 110
Die These, gemäß der in der »Wissenschaftslehre« die logischen Gegenstände als »Stoffe« von psychischen Phänomenen und sprachlichen Äußerungen auch als deren Sinn oder Bedeutung angesprochen werden dürfen, wurde zuletzt auch von Beyer (1996), 110, 123 vertreten. Er hat sie gleichzeitig gegen einen Modifikationsvorschlag von Dähnhardt (1992), 70 ff. verteidigt (vgl. Beyer (1996), 65 f.). 111 Die Orientierung der Husserlschen Logik an Bolzano und die sich daraus ergebende Psychologismuskritik ist bereits in Husserls Logikvorlesung von 1896, die die Grundlage für die Ausarbeitung der »Prolegomena« bildete, allgegenwärtig (vgl. Hua. Mat. I). 112 XXX,115; vgl. V,57 f.; XVIII,227 f.; XX/1,308 ff. Der sonst eher nüchterne Husserl rühmt Bolzano hier als einen »der größten Logiker aller Zeiten«, in dessen Wissenschaftslehre »wahre Schätze« stecken. 113 Vgl. z.B. XIX/1,311 Anm., 526; XXVI,33.
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ideale Komplexion von Bedeutungen«, nämlich von wahren Sätzen, also letztlich von Wahrheiten an sich114. Indem Husserl so Bolzanos Realismus des Logischen übernimmt, ist für seine Psychologismuskritik eine empirisch nie erreichbare Basis gegeben, von der aus eine strenge Wissenschaftsbegründung erfolgen kann. Husserls Übernahme von Bolzanos Reich der logischen Gegenstände ist jedoch nicht direkt und problemlos erfolgt. Zum einen bemängelt Husserl bei Bolzano nämlich das Fehlen einer den logischen Realismus rechtfertigenden Erkenntnistheorie und zum anderen hat er zunächst erhebliche Schwierigkeiten mit dem ontologischen Status der logischen Gegenstände. Diese beiden Hindernisse in Husserls Bolzanorezeption sind leicht verständlich: Zu wenig Aufschluß geben die über 2000 Seiten der »Wissenschaftslehre« nämlich über die Fragen des Bezuges zwischen dem logischen »An sich« und dessen konkreter Realisierung oder Instantiierung in den psychischen Phänomenen des Vorstellens und Urteilens. Die »Wissenschaftslehre« enthält in ihrem dritten Teil zwar eine »Erkenntnislehre«, die sich diesen Fragen widmen müßte, doch gibt Bolzano hierin nur subtile Begriffsbestimmungen von »subjektiver Vorstellung« oder »Urteil«, während die Probleme des Bezuges dieser psychischen Phänomene zum Logischen als ihrem »Stoff« offen bleiben, oder doch nur mit der nicht weiter erläuterten Formel verdeckt werden, dergemäß die psychischen Phänomen eine »Auffassung« oder »Erscheinung« des logischen »Stoffes« sind (vgl. z. B. WL III, 6, 9, 12, 109). Zurecht bemängelt Husserl daher immer wieder die Naivität der Bolzanoschen Erkenntnistheorie, der die phänomenologische Fragestellung völlig fremd bleibt115. Gerade weil jegliche Bindung an denkende Subjekte für den Bereich des »an sich« seienden Logischen laut Bolzano nämlich so unwesentlich ist, daß es ihn auch unabhängig davon gibt, bleibt ein Erklärungsdefizit angesichts dieser Behauptung eines logischen Bereichs offensichtlich. Später 114
XIX/I,100, vgl. 97; Hua. Mat. II,60 f. und XVIII,166: »Dieser objektive Gehalt der
Wissenschaft ist, soweit sie ihrer Intention wirklich genügt, von der Subjektivität der Forschenden, von den Eigenheiten der menschlichen Natur überhaupt völlig unabhängig, er ist eben objektive Wahrheit.« 115 Vgl. III/1,219 f. Anm.; V,58; XXII,156 f.; XVIII,228: »[Bei Bolzano] sind besonders empfindlich die Mängel in erkenntnistheoretischer Richtung. Es fehlen (oder es sind ganz unzureichend) die Untersuchungen, welche die eigentlich philosophische Verständlichmachung der logischen Denkleistungen, und damit die philosophische Schätzung der logischen Disziplin selbst, betreffen.« Parallel dazu auch Husserls Brief an Brentano vom 27.3.1905, worin Husserl konstatiert, daß bei Bolzano »feinste Begriffsanalysen« neben »einer geradezu naiven Erkenntnistheorie« stehen (Hua. Dok. III/I,39). Aufgrund dieser Mängel ist es verfehlt, den Begründer der Phänomenologie in Bolzano, statt in Husserl zu sehen, wie es Fels (1926), 416 f. tut.
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wird Husserl daher die Logik im allgemeinen und Bolzanos Wissenschaftslehre im besonderen wegen ihrer erkenntnistheoretischen Naivität mit zu den positiven Wissenschaften zählen, denen jede Reflexion auf ihre subjektiven Ursprünge fremd ist (vgl. z. B. XVII,232 ff.). »Besonders empfindlich« (XVIII,228) ist dieser Mangel an erkenntnistheoretischem Problembewußtsein gerade auch angesichts der Schwierigkeiten, die mit dem ontologischen Status der behaupteten logischen Gegenstände ohnehin schon verbunden sind. Unklar bleibt nämlich nicht nur, wie wir von ihnen wissen, sondern auch, was sie überhaupt sind. Bolzano charakterisiert sie nur negativ: Sie sind nichts Sprachliches oder Psychisches, nichts Zeitliches oder gar Räumliches und mithin kommt ihnen keine kausale Wirksamkeit, überhaupt kein Dasein, keine Existenz oder Wirklichkeit zu. Dennoch »gibt« es sie, wobei sich Bolzano der Problematik, die hier die Redeweise von einem »Geben« nach sich zieht, durchaus bewußt ist (vgl. WL I, 144). Aber es gibt z. B. Wahrheiten an sich eben so, wie es etwa den mathematischen Satz des Pythagoras gibt116. Was es aber heißt, daß es einen logischen Bereich einerseits »geben« soll, über dessen Existenzweise andererseits jedoch keinerlei positive Bestimmungen zulässig sind, bleibt bei Bolzano rätselhaft117. Husserl, der mit mathematischen Objekten ja durchaus vertraut ist, können Bolzanos Angaben über das Bestehen der logischen Gegenstände somit keineswegs befriedigen. Für ihn sind die logischen Gegenstände zunächst einmal nur »metaphysische Abstrusitäten« (XX/1,298 Anm.) oder »mythische zwischen Sein und Nichtsein schwebende Entitäten« (XXII,156), mit denen er nichts anzufangen weiß. Das ändert sich erst, als Husserl via Lotze den Zugang zu einer Interpretation des logischen »An sich« gewinnt, die ihm eine fruchtbare Verwendung hiervon erlaubt.
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Bolzanos Beispiel für das, was eine Wahrheit an sich ist, ist origineller: »So ist z.B. die Menge der Blüthen, die ein gewisser, an einem bestimmten Orte stehender Baum im verflossenen Frühlinge getragen, eine angebliche Zahl [– im Sinne von »angebbare« Zahl], auch wenn sie Niemand weiß; ein Satz also, der diese Zahl angibt, heißt mir eine objective Wahrheit, auch wenn ihn Niemand kennt usw.« (WL I, 112) 117 Daß die Frage nach der Existenzweise des »An sich« von Bolzano nicht gelöst wird, bemerken auch Morscher (1972), 83 f. und Maxsein (1933), die sie in das Zentrum ihrer Beschäftigung mit Bolzano stellt.
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2. Lotzes Platonismus der Geltungseinheiten Für die Anregungen zu seiner Entwicklung von der Psychologie zur Phänomenologie dankt Husserl wiederholt Rudolf Hermann Lotze (1817– 1881)118. Vermittels Lotzes an Platons Ideenlehre orientiertem Geltungsbegriff gewinnt Husserl nämlich erst jene antipsychologistische Fassung des Bedeutungsbegriffs, die die LU beherrscht; sie stellt eine eigenständige Synthese Bolzanoscher und Lotzescher Theorieelemente dar. Synthetisiert wird in Husserls Bedeutungstheorie Bolzanos logischer Realismus mit Lotzes geltungstheoretischer Platondeutung, indem in dieser sogenannten Speziestheorie der Bedeutung Bolzanos logische Gegenstände als ideale Geltungseinheiten interpretiert werden, die sich wie Ideen (Spezies) in Einzelfällen (Akten bzw. Aktmomenten) besondern können. Indem Husserl so Lotzes Philosophie entscheidende Anregungen verdankt, steht auch seine Philosophie unter dem Einfluß jener »Schlüsselfigur« der Philosophiegeschichte des späten 19. Jahrhunderts119. Aus dem vielseitigen Schrifttum von Lotze ist dabei allerdings nur ein äußerst begrenzter Ausschnitt für Husserl besonders hilfreich, nämlich »seine geniale Interpretation der platonischen Ideenlehre«, die laut Husserl zugleich »sein größtes, unvergeßliches Verdienst« ist (V,58; vgl. XX/1,297). Dieses Textstück findet sich im 2. Kapitel des III. Buches von Lotzes »Logik« und trägt den Titel »Die Ideenlehre«. Für Husserl war es so wichtig, daß er es gelegentlich auch in seinen Seminaren behandelte. Worum also geht es hier120? 118
Vgl. XVIII,221, 229; XIX/1,138 Anm.; XXII,156; XX/1,297 f., 305; Hua. Dok.
III/VI, 460. 119
Schnädelbach (1983), 206. Auch Orth (1986), 9 ff. und Dahlstrom (1994), 43 f. heben hervor, daß Lotze eine allgemein unterschätzte Schlüsselfigur am Übergang der Philosophie des 19. zum 20. Jahrhundert ist, die aber von der philosophischen Forschung der Gegenwart vergessen worden sei. Obwohl kein Schulbildner, war Lotze doch bis in die Jahre des Ersten Weltkriegs einer der meistdiskutierten und einflußreichsten deutschen Philosophen. Unter seinem Einfluß steht nicht nur der Neukantianismus und die von seinem Schüler Windelband aus entstandene »Wertphilosophie«, die ihrerseits auch auf die Phänomenologie gewirkt hat, sondern u.a. auch der frühe Heidegger. Bevor Heidegger den Wert- und Geltungsbegriff in den zwanziger Jahren zurückwies, folgte er in Dissertation und Habilitation noch den Lotzeschen Begriffen (vgl. Heidegger (1914), 94, 96 und (1976), 64). Zur Bedeutung Lotzes für Frege vgl. Gabriel (1986), (1989), (1989b). Am ausführlichsten hat Pester (1997) Leben und Werk von Lotze in einer überaus kenntnisreichen wissenschaftshistorischen Arbeit untersucht und dabei Lotzes Wirken stets in Beziehung zu seinen Zeitgenossen gestellt. 120 Ich werde den Gedankengang von Lotzes Kapitel über die Ideenlehre im folgenden recht knapp fassen, weil er bereits an anderer Stelle gut rekonstruiert wurde. Vgl. Beyer (1996), 131–151, Heidegger (1976), 62–82 und, mit Bezug auf Heidegger, Dahlstrom (1994), 43–52.
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Schon der Blick ins Inhaltsverzeichnis des III. Buches der »Logik« (Vom Erkennen) genügt, um den für Husserl relevanten Kontext zu bemerken, in dem das 2. Kapitel steht. Voran geht nämlich im 1. Kapitel Lotzes Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus. Insbesondere beschäftigt Lotze hier der erkenntnistheoretische Skeptizismus, der seine Skepsis gegen die Möglichkeit der Erkenntnis einer zugestandenen bewußtseinstranszendenten Welt richtet. Gegen ihn argumentiert er in der uns schon von Husserls Psychologismuskritik her bekannten Weise, durch den Nachweis der performativen Selbstwidersprüchlichkeit und die Kritik an den unsinnigen Voraussetzungen dieses Skeptizismus. Trotz dieser Entkräftung des Skeptizismus ergibt der Gedankengang am Kapitelende in Lotzes Erkenntnistheorie aber eine vorübergehende Gemeinsamkeit mit der skeptischen Position. Denn Lotze meint, daß der Gewinn aller Erkenntnis letztlich nur von uns unmittelbar gegebenen Vorstellungen ausgeht und eigentlich ausschließlich diese gewiß sind (vgl. Lotze (1880), 493, 504, 579). Da sie aber permanent kommen und gehen, stellt sich für ihn die Aufgabe, ein über dieses panta rhei der Vorstellungswelt hinausgehendes Wissen zu sichern. Angesichts dieser Aufgabe erfolgt dann Lotzes Rückgang auf Platons Ideenlehre im 2. Kapitel. Darin stellt Lotze zunächst fest, daß sich zwar die uns gegebenen Vorstellungen in einem kontinuierlichen Wechsel befinden, hingegen aber die ihnen nach einer objektivierenden Auffassung zukommenden Bestimmtheiten als solche »ewig sich selbst gleich bleibend« sind (ebd., 507). So kann zwar z. B. das Schwarze weiß und das Süße sauer werden, aber es ändert sich damit nicht die Schwärze oder die Süße selbst. Im Gegensatz zu den sich ständig wandelnden Sinnesqualitäten, bleiben also die Begriffe, durch die wir jene denken, gänzlich unverändert. Indem Lotze dies mit ständigem Seitenblick auf Platon festhält, hat er gegenüber dem Skeptizismus einen »würdigen und festen Gegenstand einer unwandelbaren Erkenntniß« gewonnen (ebd., 508). Erst von hier aus gelangt Lotze dann zu seiner wirkungsmächtigen Einführung des Geltungsbegriffs. Dies geschieht, indem er seine vorher gewonnene Einsicht noch einmal kritisch prüft und sie mit einer Schwierigkeit konfrontiert: Wie denken wir die begrifflichen Bestimmtheiten, wenn sie aktual gar nicht auf etwas angewandt werden, worin sie sich vereinzeln? Sind sie dann überhaupt etwas oder nicht vielmehr nichts? Und, wenn sie etwas sind, welche Form des Seins oder der Wirklichkeit kommt ihnen dann zu? Daß diese Inhalte in irgendeiner Weise auch dann sind, wenn wir sie gerade nicht denken, erkennt Lotze an. Sodann aber stellt sich die Frage um so dringender, was sie denn sind, oder, konkreter, was es heißen soll, daß z. B. die Bestimmtheit eines Tones auch besteht, wenn er von niemand gehört wird (vgl. ebd., 510). Lotze sucht also ein Prädikat für die ihnen zukommende Art
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von Wirklichkeit, wobei er unter »Wirklichkeit« den weitesten und formalallgemeinsten Begriff von allem versteht, was überhaupt sein kann. Durch eine vierfache Differenzierung dieses allumfassenden Wirklichkeitsbegriffs kommt er dann zu seinem Begriff der Geltung. Während nämlich ein Ding »ist«, ein Ereignis »geschieht«, und ein Verhältnis »besteht«, »gilt« ein wahrer Satz121. Die Wirklichkeitsform wahrer Sätze ist also die Geltung – dies ist gewissermaßen ihre Seinsweise. Dabei ist eine Zurückführung dieser Wirklichkeitsform auf eine der anderen ausgeschlossen, da sie alle nicht mehr weiter aufeinander reduzierbare Grundtypen von »Wirklichkeit« sind. So ist für Lotze ein Bestehen begrifflicher Bestimmtheiten oder Inhalte gesichert und deren Hypostasierung doch verhindert, da wahre Sätze eben etwas grundsätzlich anderes sind als Dinge, Ereignisse oder Verhältnisse in der Welt. Genau diese Weise der Wirklichkeit, so Lotze weiter, habe Platon gemeint, als er von den Ideen sprach, denn deren Wirklichkeit sei eben die der Geltung. Der griechischen Sprache habe nur die treffende Bezeichnung für die Seinsart der Ideen gefehlt, weshalb bisher immer die Gefahr von deren Hypostasierung bestanden habe. Es mögen hier Zweifel an der sicher verzerrten Platondeutung von Lotze sehr berechtigt sein, doch können sie in unserem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Entscheidend ist vielmehr, daß Lotze die Wirklichkeit von Wahrheiten als Geltung bestimmt und er diese Geltung zugleich nach der Art von platonischen Ideen denkt. D. h., daß der Inhalt wahrer Sätze den Charakter eines idealen Allgemeinen hat, das sich in den Fällen seiner konkreten Realisierung vereinzelt. Indem Geltung wie eine platonische Idee verstanden wird, ist sie zugleich vom ständigen Wechsel des Sinnlichen unterschieden und als »ewig sich selbst gleich bleibend« über diesen Heraklitischen Fluß erhaben122. Und wie die Ideen ewig 121
»Denn wirklich nennen wir Ding, welches ist, im Gegensatz zu einem andern, welches nicht ist; wirklich auch ein Ereigniß, welches geschieht oder geschehen ist, im Gegensatz zu dem, welches nicht geschieht; wirklich ein Verhältniß, welches besteht, im Gegensatz zu dem, welches nicht besteht; endlich wirklich wahr nennen wir einen Satz, welcher gilt, im Gegensatz zu dem, dessen Geltung noch fraglich ist. Dieser Sprachgebrauch ist verständlich; er zeigt, daß wir unter Wirklichkeit immer eine Bejahung denken, deren Sinn sich aber sehr verschieden gestaltet, je nach einer dieser verschiedenen Formen, die sie annimmt, deren eine sie annehmen muß, und deren keine auf die andere zurückführbar oder in ihr enthalten ist.« Lotze (1880), 511f. 122 Lotze (1880), 507, vgl. 514: »[…] die Wirklichkeit der Geltung aber, welche ihre eigne Weise der Wirklichkeit ist, bleibt unberührt von diesem Wechsel; diese Unabhängigkeit von aller Zeit, in Vergleichung gebracht mit dem, was in der Zeit entsteht und vergeht, konnte nicht wohl anders als durch das zeitliche und doch die Macht der Zeit negirende Prädicat der Ewigkeit ausgesprochen werden […] .«
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auch dann das bleiben, was sie sind, wenn an ihnen nichts teilhat oder gar nicht an sie gedacht wird, so ist auch die Geltung als Wirklichkeitsform wahrer Sätze zeitlos und bewußtseinsunabhängig. Zwar können die Wahrheiten erkannt werden, aber sie gelten auch unabhängig hiervon. Die Bestimmtheit einer Wahrheit wird folglich keineswegs erkenntnismäßig konstituiert, sondern bloß »anerkannt«, weil sie ja ohnehin immer schon gilt123. Geltungseinheiten als Bestimmtheiten wahrer Sätze kommt eben jene Denkunabhängigkeit, Selbigkeit und Ewigkeit zu, die (gemäß Lotzes Interpretation) auch Charakteristikum von platonischen Ideen ist. Dennoch glaubt Lotze jeglicher Hypostasierung der Geltung entgehen zu können, weil diese etwas von allem Empirischen grundverschiedenes Wirkliches ist. Genau diese Konzeption von idealen Gegenständen erweist sich für die Lösung von Husserls Problemen mit dem ontologischen Status von Bolzanos logischen Gegenständen als äußerst fruchtbar, da er sie auf dessen Reich des logischen »An sich« anwendet. Bevor wir auf diese für Husserls Bedeutungstheorie richtungsweisende Synthese von Lotzes Theorie der Geltung mit Bolzanos logischem Realismus eingehen, muß noch ein Bedenken gegenüber Lotzes Theorie nachgetragen werden. Strenggenommen bezieht sich Lotzes Entdeckung der Wirklichkeit des Geltens nämlich nur auf wahre Sätze und nicht auf Begriffe. Nur in der Invarianz begrifflicher Bestimmtheiten gegenüber dem Wechsel des Sinnlichen hat Lotze aber zuvor seine Argumentationsbasis gegen den Skeptizismus gefunden. Um hier keine Inkonsistenz aufkommen zu lassen, muß Lotze daher seinen Geltungsbegriff so erweitern, daß er auch für Begriffe zutrifft, so daß auch diese dann gelten. Lotze sieht, daß dies »nur mit halber Deutlichkeit« möglich ist (ebd., 521, vgl. 512), weil Begriffe für sich ja weder wahr noch falsch sein können. Indes besteht für ihn letztlich doch kein Zweifel an der Zulässigkeit dieser Übertragung des Geltungsbegriffs von den wahren Sätzen auf einzelne Begriffe, so daß schließlich sowohl dem Gehalt von wahren Urteilen als auch dem der Vorstellungen die Seinsweise der Geltung zukommt. Die so von den wahren Sätzen auch auf Begriffe erweiterte Theorie der Geltung hat auf Husserl »tief eingewirkt« (XXII,156) und sich als äußerst 123
Ebd., 515: »[…] wir alle sind überzeugt, in diesem Augenblicke, in welchem wir den Inhalt einer Wahrheit denken, ihn nicht erst geschaffen, sondern nur ihn anerkannt zu haben; auch wenn wir ihn nicht dachten, galt er und wird gelten, abgetrennt von allem Seienden, von allen Dingen sowohl als von uns, und gleichviel, ob er je in der Wirklichkeit des Seins eine erscheinende Anwendung findet oder in der Wirklichkeit des Gedachtwerdens zum Gegenstand einer Erkenntniß wird; so denken wir alle von der Wahrheit […]«. Vgl. ebd., 513
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hilfreich für die Lösung der Schwierigkeiten mit dem ontologischen Status von Bolzanos Bereich des logischen »An sich« erwiesen. Lotzes Theorie gibt Husserl den »Schlüssel« (ebd.) zu einer Neuinterpretation von Bolzanos logischem Realismus, nach der dann Bolzanos logische Gegenstände als ideale Geltungseinheiten gefaßt werden. Husserls offene Fragen bezüglich der Seinsweise des logischen »An sich« von Bolzano werden also mittels Lotzes Platonismus der Geltungen beantwortet. In den »Prolegomena« wird dies vor allem angesichts von Husserls Bestimmung der »Wahrheit an sich« deutlich, die er dort als eine Idee faßt, die an sich besteht und die Möglichkeiten ihrer Erfassung im Evidenzerlebnis, in dem sie sich vereinzelt, vorzeichnet124. Wie bei Bolzano »gibt« es für Husserl hier Wahrheit an sich, aber sie wird im Unterschied zu Bolzano bzw. im Anschluß an Lotze ontologisch näher als ideale Geltung bestimmt: »[…] jede Wahrheit an sich bleibt, was sie ist, sie behält ihr ideales Sein. Sie ist nicht ›irgendwo im Leeren‹ [ – wie bei Bolzano], sondern ist eine Geltungseinheit im unzeitlichen Reiche der Ideen. Sie gehört zum Bereich des absolut Geltenden […]«125. Diese Konzeption der Wahrheit an sich bleibt ihrem Gehalt nach unverständlich, ohne die Kenntnis ihrer begrifflichen Präfiguration bei Bolzano und Lotze. Mein Rückgang auf die Voraussetzungen der Psychologismuskritik folgt deswegen an dieser Stelle keineswegs bloß historischen Interessen. Über die Wahrheit an sich hinaus, wendet Husserl Lotzes Theorie der Geltung auch auf die übrigen abstrakten logischen Gegenstände der Bolzanoschen »Wissenschaftslehre« an. Erst dadurch wird gewährleistet, daß der im Rahmen der reinen Logik letztlich angestrebte Aufbau einer mathesis universalis gänzlich von einem nichtempirischen Bereich aus erfolgen kann. So wird zunächst die Bedeutung von Sätzen, dann aber auch die von einzelnen Begriffen als idealer und allgemeiner Gegenstand, d.h. als ideale Spezies verstanden. Das Spektrum der Bolzanoschen logischen Gegenstände wird also platonisch konzipiert und zu einem Reich von idealen Gegenständen, die sich in einzelnen Akten – propositionalen und nominalen – vereinzeln können. Bedeutungen als Gegenstände der reinen Logik bilden hiermit bei Husserl ein von allem Wandel des Empirischen unterschiedenes Reich von identischen, idealen Gegenständen. Deren Vereinzelung oder Instantiierung 124
Siehe hierzu XVIII,135, 190, 193 sowie oben Kapitel II. C. 2. XVIII,136, vgl. 240: »Nach der anderen Seite [ – der nicht noetisch-subjektiven Seite der Erkenntnisbegründung – ] ist es aber auch evident, daß Wahrheiten selbst und speziell Gesetze, Gründe, Prinzipien sind, was sie sind, ob wir sie einsehen oder nicht. Da sie aber nicht gelten, sofern wir sie einsehen können, sondern da wir sie nur einsehen können, sofern sie gelten, so müssen sie als objektive oder ideale Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnis angesehen werden.« 125
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in Aktmomenten denkt Husserl in den LU gemäß dem Schema, nach dem sich eine denkunabhängige Idee als Allgemeines im Sinnlichen besondert. Husserl führt zu dieser Speziestheorie der Bedeutung aus: »Der Satz verhält sich also zu jedem der Urteilsakte, denen er als ihre identische Bedeutung zugehört, wie z. B. die Spezies der Röte zu den Einzelfällen ›desselben‹ Rot. Legt man diese Auffassung zugrunde, so gewinnt Bolzanos Lehre, daß Sätze Gegenstände sind, aber doch keine ›Existenz‹ haben, die leicht verständliche Bedeutung, daß ihnen das ›ideale‹ Sein oder Gelten ›allgemeiner Gegenstände‹ zukomme […], nicht aber das reale Sein von Dingen oder unselbständigen dinglichen Momenten, von zeitlichen Einzelheiten überhaupt.«126 Bedeutungen, so kann die Husserlsche Spezieskonzeption der Bedeutung zusammengefaßt werden, sind allgemeine, ideale und identische Gegenstände, die die nichtempirische Seinsweise der Geltung haben. »Allgemein« sind sie gegenüber ihren Besonderungen in Momenten des deskriptiven Gehalts von Akten, »ideal« gegenüber allem Realen als dem Thema der Tatsachenwissenschaften, und »identisch« oder »statisch« im Gegensatz zum zeitlichen Wandel von allem Empirischen127. Natürlich stellt die bis hierher geleistete Aufdeckung der Voraussetzungen von Husserls Bedeutungstheorie bzw. der darauf letztlich basierenden Psychologismuskritik noch keinen Ersatz für deren kritische Prüfung dar. Erste Zweifel müssen sich schon darauf richten, was mit Lotzes Geltungsbegriff und seiner Anwendung auf das Bolzanosche Reich der Bedeutungen hinsichtlich der Lösung der ontologischen Schwierigkeiten mit dem logischen »An sich« eigentlich wirklich gewonnen ist. Lotze selbst betont, daß die durch den Namen der Geltung bestimmte Sache durch diese neue Bezeichnung »nichts von der Wunderbarkeit verloren« hat, die ihr ursprünglich zukam (Lotze (1880), 519) – hier bleibe »ein Abgrund von Wunderbarkeit« (ebd., 520), den schon die Griechen bestaunt hätten. Besteht Lotzes Verdienst also weniger in einer sachlichen Klärung der ontologischen Schwierigkeiten, als vielmehr nur in deren terminologischer Neufassung?128 Sicher gewann Lotze mit seinem Geltungsbegriff einen philosophiegeschichtlich sehr folgenreichen Terminus, der für die Zurückweisung von Na-
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XXII,157, vgl. parallel dazu XIX/1,106 und die §§ 29–35 der LU I, in denen Husserl seine Speziestheorie der Bedeutungen sehr deutlich zum Ausdruck bringt. 127 Zur Kritik an dieser frühen Bedeutungstheorie sei hier auf einige wichtige Kommentare verwiesen: Moog (1919), 26 f., 34; Thyssen (1959); Volkmann-Schluck (1959); Mohanty (1977); Bernet (1979); Heffernan (1983), 83–102; Heuer (1989), 79–106; Bernet, Kern, Marbach (1989), 38–41, 160–162 und Vongehr (1995), 51–57. 128 Dieser Auffassung ist Morscher (1972), 73.
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turalismus oder Psychologismus zwar eine zentrale systematische Bedeutung hat129, gleichwohl in sich selbst aber nicht vollends geklärt ist. Husserl jedoch ging durch Lotzes Interpretation der platonischen Ideenlehre und mithin den Geltungsbegriff »ein erstes helles Licht auf«, das »alle weiteren Studien« bestimmte (XX/1,297). Er gelangt durch Lotzes Vermittlung zur Einbeziehung einer Sphäre von idealen Gegenständen in sein Denken und überwindet so jeglichen Psychologismus, weil diese idealen Gegenstände naturgemäß von allem psychischen Geschehen strikt unterschieden sind. Vor dem Hintergrund seines Lehrers Brentano, der die Annahme idealer Gegenstände stets zurückwies, wird klar, daß erst dadurch die Neuorientierung von Husserls Denken möglich ist. Gelöst ist damit das alte Problem, »wie das im Medium des Psychischen gegebene Mathematische [und Logische] an sich Gültiges sein könne« (XX/1,296). Gleichzeitig ergeben sich aber viel schwierigere neue Probleme: Sofern die Psychologismuskritik nicht doch von einer metaphysischen oder dogmatischen Voraussetzung abhängen soll (Platonismusvorwurf), muß geklärt werden, wie die subjektive Gegebenheit der idealen Gegenstände erkenntnistheoretisch ausweisbar ist. Erst auf dem Wege zur Lösung dieser Aufgabe gelangt Husserl über die Grenzen der deskriptiven Psychologie hinaus zur eidetischen Phänomenologie.
3. Freges Psychologismuskritik und die Frage nach ihrem Einfluß auf Husserl In bestechend klarer Diktion und Argumentation hat Gottlob Frege (1848– 1925) den Psychologismus schon früher als Husserl entschieden bekämpft und sich dann zeitlebens in besonderer Schärfe gegen ihn gerichtet. Als promovierter Mathematiker und Philosoph ist er – wie der frühe Husserl – besonders an Grundlagenfragen der Mathematik interessiert und er versucht bereits 1879 in seiner »Begriffsschrift«, Arithmetik und Analysis in der Logik zu begründen. Der nächste Schritt auf dem Weg seines logizistischen Programms zu einer strengen Begründung der Mathematik sind die »Grundlagen der Arithmetik« (1884). Hierin geht es ihm um die rein logische Bestimmung des Zahlbegriffs, wobei der Antipsychologismus schon im Vorwort unmißverständlich zum Ausdruck kommt: »die Psychologie bilde sich nicht ein, zur Begründung der Arithmetik irgendetwas beitragen zu können« (Frege 129
Dementsprechend verfügt bereits Lotze in seiner »Logik« über jene Psychologismuskritik, die auf der Gegenüberstellung von Genesis und Geltung basiert und später bei Husserl, Frege und im Neukantianismus wieder auftaucht. Vgl. ebd., 11f., 33 f., 543, 547.
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(1884), S. VI); ferner wird sogleich Freges rigorose Trennung von Psychologie und Logik in einem Grundsatz deutlich, der der Untersuchung vorangestellt ist: »es ist das Psychologische von dem Logischen, das Subjective von dem Objectiven scharf zu trennen« (ebd., S. X). Was genau versteht Frege nun unter diesen beiden Sphären, deren Unterscheidung den systematischen Hintergrund seiner Psychologismuskritik bildet? Das Subjektive ist für Frege der gesamte Bereich der Vorstellungen, in dem uns im ständigen Wechsel des psychischen Geschehens, in je und je individuellen »Färbungen und Beleuchtungen« (Frege (1892), 45, vgl. (1918), 36 f.) Gegenständlichkeit gegeben ist; er kann nicht »gemeinsames Eigentum von vielen sein« (Frege (1892), 44), weil »jeder doch seine eigene Vorstellung« hat (ebd., vgl. Frege (1893), S. XVIII). Das Medium der Vorstellungen ist also im strikten Sinne ein subjektives, ja ein privates, nur der individuellen »Innenwelt« zugehöriges (Frege (1918), 40 ff.). Seine Erforschung fällt der Psychologie zu, die eben aufgrund der Eigenarten dieses Gegenstandsbereiches von Logik und Mathematik radikal zu trennen ist. Denn diese beschäftigen sich ausschließlich mit dem Objektiven, genauer gesagt mit dem »objectiven Nichtwirklichen« (Frege (1893), S. XVIII). Dies unterscheidet Frege nämlich noch von dem »Objektiven« im Sinne des Empirischen der »Außenwelt«, d.h. »dem Handgreiflichen, Räumlichen, Wirklichen« (Frege (1884), 35). In den so von subjektiver »Innenwelt« und empirischer »Außenwelt« unterschiedenen dritten Bereich des Objektiven, aber nichtempirischen gehören die Zahlen sowie auch der »Sinn« von Namen, Sätzen und Aussagen, d.h. die »Gedanken« (vgl. Frege (1918)) als Themen der Logik. All dies unterliegt im deutlichen Gegensatz zum subjektiven Bereich der Vorstellungen weder einem zeitlichen Wandel noch ist es überhaupt von irgendwelchen empirischen Tatsachen und Ereignissen abhängig. Statt dessen orientiert sich die Logik ausschließlich an der Wahrheit bzw. den Gesetzen des Wahrseins, deren Entdeckung ihr Ziel ist (vgl. Frege (1918), 30 ff. und (1969), 137 ff.). Wie für Husserl in den »Prolegomena« ist auch für Frege »Wahrheit« in einem derart »starken« Sinne »objektiv«, daß sie »ort- und zeitlos« (Frege (1893), S. XVII) und personenunabhängig ist, so daß es ein »Wahrsein« unabhängig von seinem Gedachtwerden gibt. Gedanken oder Sätze, die allein wahr oder falsch sein können, sind dies also unabhängig davon, ob sie als solche von uns anerkannt werden130. Dies gilt natür130
Vgl. z.B. Frege (1969), 2 f., 144 f. und 271: »Ein wahrer Gedanke war schon wahr, ehe er von einem Menschen gefasst wurde. Der Gedanke bedarf nicht eines Menschen als eines Trägers.« sowie (1893), S. XVI: »Kann man ärger den Sinn des Wortes ›wahr‹ fälschen, als wenn man eine Beziehung auf den Urtheilenden einschliessen will!«
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lich auch für die Gesetze des Wahrseins, die in der Logik erfaßt werden – sie sind »Grenzsteine in einem ewigen Grunde befestigt, von unserm Denken überfluthbar zwar, doch nicht verrückbar« (Frege (1893), S. XVI). Aus dieser Grundposition heraus ergibt sich nun Freges Psychologismuskritik. Der Psychologismus ist nämlich im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß er keinen Bereich des »objektiven Nichtwirklichen« anerkennt, sondern diesen entweder in die innersubjektive Sphäre der Vorstellungen oder in empirische Verhältnisse der »Außenwelt« aufzulösen versucht. Das geschieht etwa dort, wo, ohne Berücksichtigung des Unterschieds, statt der logischen Gesetze des Wahrseins die psychologischen Gesetze des Fürwahrhaltens bestimmt werden. Dann wird das Objektive der Logik zum Subjektiven der Vorstellungen erklärt und »schliesslich Alles in d[en] Bereich der Psychologie hineingezogen; die Grenze zwischen Objectivem und Subjectivem verschwindet mehr und mehr, und selbst wirkliche Gegenstände werden als Vorstellungen psychologisch behandelt« (Frege (1893), S. XIX). Dagegen betont Frege, daß die objektiven Gesetze des Wahrseins nicht mit den Gesetzen des subjektiven Fürwahrhaltens verwechselt werden dürfen (vgl. ebd., S. XV und (1969), 157), weil diese bestenfalls für den »Durchschnitt« denkender Menschen gelten, während hingegen das Wahrsein und seine Gesetze überhaupt unabhängig davon sind, daß sie von irgend jemandem anerkannt werden131. Wie Husserls Psychologismuskritik basiert also auch diejenige Freges auf der Annahme einer unüberwindbaren Differenz zwischen apodiktisch gültigen Gesetzen der Logik und den allenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit gültigen Tatsachengesetzen der empirischen Wissenschaften. Da Frege nun im Unterschied zu Husserl den Bereich der Vorstellungen gänzlich für einen bloß subjektiv-privaten hält, mündet für ihn der Psychologismus sogar »bei grösster Folgerichtigkeit in den Solipsismus ein« (Frege (1893), S. XIX): Schon jeder Streit um Wahrheit wird gegenstandslos und darum müssig, weil der Psychologist ja nur Vorstellungen untersucht, von denen jeder ohnehin bloß seine eigenen hat, so daß es zu gar keinem ernsten Disput um Objektivität mehr kommen kann (vgl. ebd.) – »diese Auffassung [des Psychologismus] zieht Alles ins Subjective und hebt, bis ans Ende verfolgt, die Wahrheit auf.« (Frege (1884), S. VII) Die radikale Unterscheidung des Subjektiven der Vorstellung vom Objektiven des Vorgestellten sowie die Anerkennung nichtempirischer Sinngehalte bzw. ewig gültiger logischer Gesetze, stellen in Freges Psychologismuskritik ähnliche Vorbedingungen dar, wie in derjenigen Husserls die idealen Bedeutungseinheiten und die »Wahrheit an sich«. Festzuhalten ist hier ferner, daß 131
Vgl. Frege (1893), S. XVI und (1969), 2, 144 f.
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beide Psychologismuskritiken nicht nur strukturell vergleichbare Argumentationen aufweisen, sondern auch gewissermaßen gleiche Folgelasten haben132: Da beide Kritiken auf ein psychologisch, oder überhaupt empirisch nicht reduzierbares Wissen von apodiktisch Gültigem zurückgreifen, können sie Skeptiker letztlich nur dann überzeugen, wenn dieses Wissen nicht bloß in Form einer Voraussetzung angenommen wird, sondern seinerseits erkenntnistheoretisch irgendwie ausgewiesen wird. In dieser Hinsicht ist leicht zu sehen, daß Husserl einiges mehr aufzubieten hat als Frege. Die darüber hinausgehende Frage danach, ob trotzdem anzunehmen ist, daß Freges Psychologismuskritik für diejenige Husserls richtungsweisend war, soll hier erst beantwortet werden nachdem zunächst Freges Stellung zu den erkenntnistheoretischen Folgeproblemen seiner Psychologismuskritik untersucht ist. Deutlich wurde bereits, daß Frege die klare Grenze zwischen Logik und Psychologie nur markieren kann, weil er die Erforschung der Gesetze des Wahrseins strikt von der der Gesetze des Fürwahrhaltens, d.h. den Bereich des objektiv Nichtwirklichen von dem des Subjektiven trennt. Ausgehend von dieser Trennung kann Frege jeden »verderbliche[n] Einbruch der Psychologie in die Logik« (Frege (1893), S. XIV) zurückweisen, denn beide Bereiche sind voneinander unabhängig: die Gesetze der Logik gelten, bzw. die »Gedanken« sind unabhängig von den sie denkenden Subjekten wahr oder falsch: »Was wahr ist, ist wahr unabängig von unserer Anerkennung« (Frege (1969), 2, vgl. 271); »Wir entnehmen hieraus, dass Gedanken nicht nur, falls sie wahr sind, unabhängig von unserer Anerkennung wahr sind, sondern, dass sie überhaupt unabhängig von unserem Denken sind« (Frege (1969), 144 f.). Diese Auffassung bezieht sich bei Frege auf des gesamten Bereich des objektiv Nichtwirklichen, also nicht nur auf Gedanken, sondern ebenso auf Sinngebilde die Teile der Gedanken sind sowie auf weitere abstrakte Entitäten, wie Zahlen und logische Gesetze. Die hierfür von Frege reklamierte Subjekt- und Erkenntnisunabhängigkeit wird von ihm allerdings ebensowenig wie seine Annahme eines »Wahrseins« und seiner Gesetze gerechtfertigt. Sie stellt für ihn eher eine Grundbedingung vernünftigen Argumentierens dar133. 132
Ein ausführlicherer Vergleich der Psychologismuskritiken von Frege und Husserl als er hier zu leisten ist findet sich bei Mohanty (1982b und 1984), dessen Arbeiten ich wichtige Einsichten verdanke. 133 »Die Frage nun, warum und mit welchem Rechte wir ein logisches Gesetz als wahr anerkennen, kann die Logik nur dadurch beantworten, dass sie es auf andere logische Gesetze zurückführt. Wo das nicht möglich ist, muss sie die Antwort schuldig bleiben.« (Frege (1893), S. XVII) Die Wahrheit logischer Gesetze ist für Frege also »eines Beweises
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Doch nicht nur das Problem der Rechtfertigung des Fregeschen Platonismus der Entitäten des »dritten Reichs« bleibt hier ungelöst134. Unklar bleibt ferner, wie uns Zahlen oder Gedanken überhaupt gegeben sind. Solange dies aber nicht geklärt ist, bleiben Aussagen über dasjenige, was uns damit gegeben ist, ohnehin grundlos. Frege hat die Schwierigkeiten dieses Problems durchaus gesehen: »das Zeitlose muß irgendwie mit der Zeitlichkeit verflochten sein, wenn es uns etwas sein soll. Was wäre ein Gedanke für mich, der nie von mir gefaßt würde!« (Frege (1918), 52). Das »Irgendwie« der Bezugnahme auf Gedanken bestimmt Frege dann näher als ein »Fassen« von ihnen, was er ausdrücklich von einem spontanen »Erzeugen« unterscheidet. »Gefaßt« werden Gedanken als dem Denkenden immer schon fix und fertig vorausliegende, denn wenn sie subjektiv erzeugt würden, dann hätte laut Frege ja wieder jeder seinen eigenen, innerweltlich gebildeten Gedanken, was gerade das Ende der Objektivität bedeuten würde135. Gedanken werden also in keiner Weise konstituiert, sondern nur gefaßt oder »ergriffen«. Frege meint, daß »das Bild des Ergreifens recht geeignet ist, die Sache weder fähig noch bedürftig« (Frege (1884), 4) – eine Auffassung die sich im übrigen fast wörtlich auch bei Lotze findet (vgl. Lotze (1880), § 200, § 316). Eine »Widerlegung« des logischen Psychologismus strebt er daher im Unterschied zu Husserl auch nicht an, denn diese müßte ja ihre dabei zur Anwendung kommende eigene Logik- und Wahrheitsauffassung selbst noch begründen, was nach Frege unmöglich ist. So würde er diejenigen Wesen, die nicht den logischen Gesetzen gemäß denken, nicht widerlegen wollen, sondern hier nur »eine bisher unbekannte Art der Verrücktheit« diagnostizieren (Frege (1893), S. XVI). Vgl. zu diesem Unterschied zwischen den Psychologismuskritiken Freges und Husserls auch Føllesdal (1958), 40, 49 und dagegen Mohanty (1982b), 31f. 134 Obwohl Frege die Entitäten seines »dritten Reiches« (vgl. Frege (1918), 43) für »ewig« (ebd, 52) sowie für subjekt- und sprachunabhängig hält (allerdings nicht für unabhängig von der »Vernunft« – was auch immer das bei Frege heißen mag – (vgl. Frege (1884), 36)), gibt es in der Forschung doch erhebliche Diskrepanzen darüber, ob hier von einem »Platonismus« gesprochen werden kann. Diese Beurteilung hängt natürlich vor allem von dem ihr zugrundeliegenden Platonismusverständnis ab. Daneben ist auffällig, daß insbesondere diejenigen Interpreten, die Frege vorwiegend von seinen mathematischen und logischen Forschungen aus betrachten, ihn von allen ontologisierenden und platonisierenden Deutungen freihalten wollen (vgl. z.B. Kutschera (1989), 172–182, Mayer (1989), 131–140, Mayer (1996), 158 f. und Mendonça & Stekeler-Weithofer (1987)), während hingegen diejenigen, die mehr die erkenntnistheoretische Problematik herausstellen, seinen Platonismus als Bestandteil des starken Antipsychologismus betonen (vgl. z.B. Gabriel (1986), Graeser (1995), Prauss (1976) und Soldati (1994), 120 ff., und allgemein zur Frage des Platonismus bei Frege Thiel (1965), 146 ff.). 135 Vgl. Frege (1918), 44 Anm.: »Wenn man einen Gedanken faßt oder denkt, so schafft man ihn nicht, sondern tritt nur zu ihm, der schon vorher bestand, in eine gewisse Beziehung […]« und »Die Gedanken sind nicht seelische Gebilde, und das Denken ist nicht ein inneres Erzeugen und Bilden, sondern ein Fassen von Gedanken, die schon objektiv vorhanden sind.« (Frege (1980), 41, vgl. (1918), 49 f.)
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[des Erkennens] zu erläutern« (vgl. Frege (1893), S. XXIV), weil es den Hinweis auf die eigentliche Erkenntnisunabhängigkeit der Gedanken impliziert: »Das Gefasste, Begriffene ist schon da, und man bemächtigt sich nur seiner« (Frege (1969), 149). Das Problem der Erkenntnis kommt in einer derart platonistisch konzipierten Theorie so aber nicht nur um die ganze Dimension seines ja immer auch möglichen Mißlingens im Irrtumsfall verkürzt in den Blick, denn der läßt sich nur dann erklären, wenn der konstruktiv-spontane Charakter der Erkenntnis berücksichtigt wird136. Frege ist hier darüber hinaus deswegen allzu schnell mit der Erkenntnistheorie fertig, weil er ihre Fragen vor dem Hintergrund seiner schablonenhaften Trennung von Logik und Psychologie nur der Psychologie zuordnen kann. So überrascht es nicht, daß sich bei ihm keine reflektierte Betrachtung des »Fassens« und mithin der Probleme der Erkenntnistheorie finden lassen; dies liefe für ihn auf eine nähere Beschäftigung mit »psychologischen« Problemen des »Fürwahrhaltens« hinaus, vor der er als Logiker zurückschreckt. Dort, wo er in seinem Werk den Fragen der Erkenntnistheorie einmal unausweichlich nah kommt, zeigt sich sein Perhorreszieren daran, daß er sich dann sogleich seine antipsychologistische Maxime ins Gedächnis ruft: »nicht auf das Fürwahrhalten kommt es uns an, sondern auf die Gesetze des Wahrseins« (Frege (1969), 157). Dabei hatte er sich direkt vor dieser Stelle den Schwierigkeiten der Bezugnahme auf solche Gesetze noch sehr offen gegenübergesehen und sogar zugestanden, daß Erkenntnis von der Psychologie aus gar nicht erschöpfend erklärt werden kann: »Aber das Erfassen dieses Gesetzes ist doch ein seelischer Vorgang! Ja! aber ein Vorgang, der schon an der Grenze des Seelischen liegt und der deshalb vom rein psychologischen Standpunkte aus nicht vollkommen wird verstanden werden können, weil etwas wesentlich dabei in Betracht kommt, was nicht mehr im eigentlichen Sinne seelisch ist: der Gedanke; und vielleicht ist dieser Vorgang der geheimnisvollste von allen« (ebd.). Unmittelbar auf dieses Staunen erfolgt dann jedoch wieder Freges Eingeständnis des Desinteresses an diesem Geheimnis: »Aber eben weil er seelischer Art ist, brauchen wir uns in der Logik nicht darum zu kümmern. Uns genügt, dass wir Gedanken fassen und als wahr erkennen können; wie das zugeht, ist eine Frage für sich« (ebd.).
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Vgl. hierzu Prauss (1976). Zur Erklärung des Erkenntnisirrtums mag im übrigen Freges Unterscheidung des primären »Fassens« eines Gedankens von der sekundären Anerkennung der Wahrheit des Gedankens im Urteil einen Ansatz bieten (vgl. Frege (1918), 35; (1969), 150 f.). Leider enthalten Freges Texte jedoch kaum Hinweise darauf, wie dieser anerkennende Charakter des Urteilens seinerseits genau zu verstehen ist.
Voraussetzungen der Psychologismuskritik der »Prolegomena«
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Hier ein berechtigtes und eigenständiges Feld der Erkenntnistheorie anzuerkennen, ist Frege aufgrund seines rigiden Antipsychologismus nicht möglich137. So ist er weit entfernt davon, hier – wie später Husserl angesichts ähnlicher Probleme mit seiner Psychologismuskritik – in einer nicht psychologisch, sondern transzendental zu verstehenden Intentionalität den Schlüssel zur Lösung des Problems der Bezugnahme zu sehen. Zwar sieht Frege die Schwierigkeiten, die in der Erkenntnisproblematik beschlossen sind, doch kann er letztlich nicht anders, als sie der Psychologie zu überantworten: »Sowohl das Fassen eines Gedankens, als auch das Urteilen ist Tat des Erkennenden, ist der Psychologie zuzuweisen« (Frege (1969), 273). Die im Erkennen fungierende Subjektivität wird so bei Frege eindeutig auf eine bloß psychologische reduziert. So verhindert die Rigorosität seines Antipsychologismus nicht nur eine differenzierte Untersuchung des Erkenntnisprozesses, sondern eben darum bleibt sein Antipsychologismus letztlich auch selbst bodenlos, da die ihm zugrundeliegende realistische Annahme eines objektiv Nichtwirklichen ohne jede erkenntnistheoretische Rechtfertigung eine bloß unausgewiesene Behauptung bleiben muß. Dagegen wird in Husserls LU die Psychologismuskritik im Zusammenhang mit einer ausführlichen Theorie der Erkenntnis in Ansatz gebracht und versucht, die in den »Prolegomena« zunächst ähnlich unbegründet wie bei Frege vorgebrachte Idee der reinen Logik in einer »Phänomenologie des Logischen« (XIX/2,533) zu fundieren. Kommen wir hier nun auf die andere oben gestellte Frage zurück: Wenn Frege schon nicht Husserls Bemühungen um die Ausbildung der Phänomenologie als Erkenntnistheorie beeinflußt haben kann, so muß doch erwogen werden, ob er nicht auf die Entwicklung von Husserls Psychologismuskritik gewirkt hat. Immerhin lag diejenige Freges vor der von Husserl vor und es ist nachweisbar, daß Husserl fast alle Schriften von Frege kannte. Beide standen zudem zeitweise in Briefkontakt, so daß sie über ihre Forschungen zu den 137
Daß Frege dazu neigt, die Aufgaben der Erkenntnistheorie »vorschnell der Psychologie zuzuweisen«, ist auch die Auffassung von Gabriel (1986), 101. Wenn es dennoch bei Frege Ansätze zu einer Erkenntnistheorie gibt, dann stammen sie laut Gabriel aus dem Umfeld des Neukantianismus (vgl. ebd.). Eine gewisse Nähe zu Kantischen Ideen beim späten Frege sehen auch Kaulbach (1969) und Prauss (1976). Kaulbach spricht sogar von einer »Wendung von der Logik zur ›Erkenntnistheorie‹« (1969, S. XXX) in den letzten Überlegungen Freges. Diese Wende sieht er vor allem durch die Tatsache eingeleitet, daß Frege sein logizistisches Programm am Ende für gescheitert hielt und er insbesondere auf dem Feld der Geometrie eine »geometrische Erkenntnisquelle« für grundlegend hielt, die auffallende Ähnlichkeit zu Kants rein apriorischer Anschauung aufweist. Zu neueren Versuchen, Frege auch als Erkenntnistheoretiker zu lesen, vgl. die kritische Beurteilung von Kober (1997).
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Die Psychologismuskritik
Grundlagen der Mathematik gegenseitig unterrichtet waren. Schließlich fällt in Husserls PA die ausführliche Beschäftigung mit Freges »Grundlagen der Arithmetik« auf. Husserl war also frühzeitig über Freges Psychologismuskritik und sein logizistisches Programm informiert. Freges Ziel, den Zahlbegriff und die gesamte Arithmetik in der Logik zu begründen, wird in der PA aber noch als ein »chimärisches« zurückgewiesen (XII,120). Diese Kritik nimmt Husserl allerdings nach seiner eigenen Entwicklung einer umfassenden Logik als mathesis universalis in den »Prolegomena« zurück (vgl. XVIII,172 Anm.). Sollte er hier von Frege gelernt haben? Die Frage des Fregeschen Einflusses auf Husserl stellt sich vor allem anläßlich der mutmaßlichen Wirkung von Freges sehr kritischer Rezension der PA von 1894. Hierin bezichtigt Frege Husserl jener Verwechselung des Objektiven der Zahl mit dem Subjektiven der Vorstellung, die für den Psychologismus charakteristisch ist. Frege resümiert dort: »Beim Lesen dieses Werkes habe ich den Umfang der Verwüstungen ermessen können, die der Einbruch der Psychologie in die Logik angerichtet hat, und ich habe es hier für meine Aufgabe gehalten, den Schaden recht ans Licht zu stellen. Die Fehler, die ich geglaubt habe aufzeigen zu müssen, fallen weniger dem Verfasser zur Last, als einer weitverbreiteten philosophischen Krankheit« (Frege (1894), 332). Frege wirft Husserl das Hauptgebrechen des Psychologismus im allgemeinen vor: Durch die unkritische Verwendung des äquivoken Vorstellungsbegriffs werde die Grenze zwischen Objektivem und Subjektivem verwischt, die Zahlen als »Vorstellungen, Ergebnisse seelischer Vorgänge oder Tätigkeiten« betrachtet (ebd., 329) und in einer »Vermischung von Psychologie und Logik« (ebd., 331) schließlich »Alles […] ins Subjektive herübergespielt« (ebd., 317). Husserl mißachte also die fundamentale Differenz zwischen subjektivem Vorstellen und objektiv Vorgestelltem. Im besonderen kritisiert Frege Husserls Rekonstruktion der abstraktiven Bildung des Zahlbegriffs angesichts der Vielheit in einer kollektiven Verbindung, die ja von Husserl – unter dem Einfluß Brentanos – in der PA als »psychisches Phänomen« betrachtet wurde. Hier kritisiert Frege die oben (im Kapitel I. A. 4) bereits herausgestellte Problematik in Husserls Theorie, nach der auf der Basis eines psychischen Abstraktionsfundamentes ( – der kollektiven Verbindung, die nur im kolligierenden Akt besteht) der dem Zahlbegriff zugrundeliegende Vielheitsbegriff gewonnen werden soll. Genau hier, so Frege, komme es zur »Vermengung des Subjektiven mit dem Objektiven« (ebd., 329), durch die der Zahlbegriff letztlich psychologisiert werde. Husserl korrigiert seine frühe Abstraktionstheorie in den LU und kritisiert bei der Gelegenheit selbst die empiristischen Abstraktionstheorien, nach denen Begriffe im Rekurs auf psychische Akte in der inneren Wahrnehmung gewon-
Voraussetzungen der Psychologismuskritik der »Prolegomena«
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nen werden (vgl. XIX/2, 669 f. und die LU II). In der PA fehlen ihm tatsächlich die hierzu nötigen Einsichten und die Methode der kategorialen oder ideierenden Abstraktion. Gleichwohl war ihm in der PA bereits vollkommen klar, daß die Zahlen im Unterschied zu empirischen Begriffen »Formbegriffe oder Kategorien« sind (XII,84) – es fehlte ihm aber noch eine adäquate Methode um dies auszuweisen. Außerdem war Husserl in der PA noch nicht bereit, die Konzeption eines Reiches von idealen Gegenständen anzuerkennen. Sollte also hier Freges Kritik an der PA den Anlaß zu Husserls Korrekturen gegeben haben? Daß Husserl wesentliche Anregungen für seine Psychologismuskritik durch Freges Rezension der PA und den anderen frühen Schriften von Frege erfahren hat, ist eine These, die Føllesdal (1958) durch eine eigenwillige Untersuchung gründlich zu belegen versuchte und die seitdem diskutiert und kolportiert wird: Danach hätte erst nach 1894 – dem Erscheinungsjahr der Fregeschen Rezension – Husserls Wandel vom Psychologisten der PA zum Psychologismuskritiker der »Prolegomena« eingesetzt. Es gäbe nach 1894 einen »plötzlichen und entscheidenden Umschlag in Husserls philosophischer Grundhaltung«138, der durch Freges Rezension motiviert sei. Erst durch Freges Hinweis auf die Unterscheidung von Vorstellung, Sinn und Bedeutung, die er Husserl 1891 noch vor ihrer Publikation in dem Aufsatz »Über Sinn und Bedeutung« (1892) brieflich mitgeteilt hat, habe Husserl nämlich die systematischen Mittel zur Psychologismuskritik erhalten und fortan selbst auf die Äquivokationen des Vorstellungsbegriffs hinweisen können. So wäre auch die in Husserls Logikvorlesung von 1896 allgegenwärtige Unterscheidung des subjektiven Vorstellens und Denkens von dessen objektiven Gehalten durch den Einfluß Freges erklärbar, auf den sich Husserl in dieser Vorlesung zwar nur einmal direkt (vgl. Hua. Mat. I,134), aber indirekt doch öfter bezieht (vgl. ebd., 48 f., 220, 222). Letztlich, so kann etwas überspitzt resümiert werden, habe der Vater der modernen Sprachphilosophie Husserl von seinem Psychologismus kuriert und so auch erst die Phänomenologie auf den Weg gebracht. Diese Sicht der Dinge ist von Mohanty überzeugend zurückgewiesen worden139. Entscheidend ist dabei zunächst der Hinweis darauf, daß Husserl 1891 selbst in seiner Rezension von Schröders »Vorlesungen über die Algebra der Logik« die Unterscheidung von Vorstellung, Bedeutung ( – Freges 138
Føllesdal (1958), 48. Mohanty (1982; 1982b, 1–42; 1984). Føllesdals Antwort darauf findet sich in: Føllesdal (1982). Hierzu auch Pietersma (1967); Rosado Haddock (1973), 135–143; Willard (1984), 118–124; Drummond (1985); Sommer (1985), 97–104; Sokolowski (1987) und McIntyre (1987). 139
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Die Psychologismuskritik
»Sinn«) und Gegenstand ( – Freges »Bedeutung«) gegenüber Schröders unscharfer Terminologie anmahnt (vgl. XXII,11f.). Husserl verfügte also 1891 bereits selbst über diese Unterscheidung und entwickelte sie nicht erst auf Freges Anstoß hin. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da bereits Husserls Lehrer Brentano in der »Psychologie vom empirischen Standpunkt« (1874) wiederholt die Mehrdeutigkeit des Vorstellungsbegriffs angesprochen hatte140. Sofern Husserl in der PA Zahl und Zahlvorstellung zuweilen nicht sorgsam auseinanderhält, ist dieser Grund für den Psychologismusvorwurf eher auf Unachtsamkeit als auf einen tatsächlich vertretenen Psychologismus zurückzuführen. Insofern ist die PA auch gar kein psychologistisches Buch. Daß es Frege aber als solches erscheinen mußte, liegt an seinem gänzlich anderen Verständnis der Aufgaben einer Philosophie der Arithmetik: Während nämlich Frege ausschließlich an einer logischen Begründung der Arithmetik interessiert ist, bei der alle das subjektive »Fürwahrhalten« betreffenden Fragen der Erkenntnistheorie pauschal der Psychologie zugewiesen werden, läßt sich Husserl in der PA daneben von Anfang an auch »vom Interesse einer erkenntnistheoretischen Erforschung der Arithmetik leiten« (XII,6). Ihm geht es um den subjektiven Ursprung mathematischer und logischer Grundbegriffe, d.h. um die Klärung der Art und Weise wie wir zu ihnen kommen und wie sie uns gegeben sind. Im Gegensatz zu Frege ist er der Auffassung, daß auch logisch nicht weiter analysierbare Begriffe noch durch den Rückgang auf ihre Fundierung in Anschauungen von konkreten Phänomenen geklärt werden können (vgl. XII,79, 118 f.). Diese Interessenrichtung kennzeichnet noch seine gesamte Phänomenologie, so daß es nicht wundert, wenn Husserl in »Formale und Transzendentale Logik« nachträglich die Ansätze zu einer »phänomenologisch-konstitutiven Untersuchung« aus der PA betont (XVII,91). Diese Konstitution der Zahlen wird im Frühwerk allerdings mit den Methoden untersucht, die Husserl seinerzeit zur Verfügung standen – denen der psychologischen Analyse141. Wenn Husserl 140
Vgl. ebd., 112, 119 f., 249 f. sowie Stumpf (1919), 106 f. Vgl. auch Husserls Rückblick auf die Entstehungszeit der PA; demgemäß kannte er zwar die besagte Unterscheidung, aber er »wusste doch nichts damit anzufangen« (XX/1,295). In den 1893 fertiggestellten (vgl. ebd., 296 Anm.) und 1894 veröffentlichten »Psychologischen Studien zur elementaren Logik« warnt Husserl dann selbst explizit vor der unbedachten Verwendung des Vorstellungsbegriffs (vgl. XXII,99, 119 f.). Hierbei steht seine Beschäftigung mit dem damals vieldiskutierten Problem der »gegestandslosen Vorstellungen« im Hintergrund. 141 Vgl. Husserls Rückblick im »Entwurf zu einer ›Vorrede‹ zu den ›Logischen Untersuchungen‹« von 1913: »Bei meiner ganzen Vorbildung war mir selbstverständlich, dass einer Philosophie der Mathematik auf eine radikale Analyse des ›psychologischen Ursprungs‹ der mathematischen Grundbegriffe ankomme.« (XX/1,294), sowie das Vorwort der »Prolegomena«: »Ich war von der herrschenden Überzeugung ausgegangen, daß
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die Zahlen damit sowohl an psychologische Prozesse als auch an Anschauungen von konkreten Phänomenen rückbindet, in denen sie als Formbegriffe fundiert sind (vgl. XII,28, 46, 73 ff., 163 f.), so muß in der Tat unklar bleiben, wie auf dieser Basis ihre strenge Objektivität gesichert ist; denn zum einen wird das hierin konstitutiv fungierende Subjekt noch durch und durch als ein bloß empirisches verstanden und zum anderen fehlt noch die Betonung der Idealität der Zahlen. Frege, für den Zahlenangaben Aussagen von einem Begriff enthalten142, der seinerseits subjektunabhängig ist, mußte daher angesichts dieses Problems besonders heftig reagieren und den Eindruck gewinnen, daß bei Husserl die Zahlen selbst »Ergebnisse seelischer Vorgänge oder Tätigkeiten sind« (Frege (1894), 329). Husserl hätte diesem Vorwurf gegenüber schon seine alte Unterscheidung von psychologischer Phänomenbeschreibung und Bedeutungsanalyse geltend machen können, die sich auch in der PA findet143. Aber er ist hier hinsichtlich der Unterscheidung von Vorstellung und Vorgestelltem zu nachlässig und provoziert daher Freges Kritik. Der Sache nach verfügte Husserl aber schon vor deren Publikation von 1894 über ein klares Bewußtsein der von Frege angemahnten Unterscheidungen. So gibt es also gar keinen »plötzlichen […] Umschlag«144 in Husserls Denkentwicklung nach 1894, für den Freges Rezension verantwortlich sein könnte, sondern nur ein kontinuierlich wachsendes Problembewußtsein. Husserl hat dabei durch Freges Rezension eher Bestätigung erfahren, als daß er von ihm hätte lernen können. Auf einen weitergehenden Einfluß Freges auf Husserl, hinsichtlich dessen Abkehr von der »psychologischen Analyse« als Methode, geben daher weder Husserls mathematisch-logische Studien (vgl. XXI, S. XLI) noch seine zahlreichen späteren Rückblicke irgendeinen Hinweis. 4. Zusammenfassung Die Psychologismuskritik der »Prolegomena« ist mit der Ansetzung eines eigenständigen, nichtempirischen Gegenstandsbereichs der reinen Logik verbunden – der Sphäre der idealen Bedeutungen. Bedeutungen faßt Husserl es die Psychologie sei, von der, wie die Logik überhaupt, so die Logik der deduktiven Wissenschaften ihre philosophische Aufklärung erhoffen müsse. Demgemäß nehmen psychologische Untersuchungen im ersten (und allein veröffentlichten) Bande meiner ›Philosophie der Arithmetik‹ einen sehr breiten Raum ein.« (XVIII,6) 142 Vgl. Frege (1884), 59 und (1894), 315, 324. 143 Vgl. XII,31, 309: »Das Phänomen ist die Grundlage für die Bedeutung, nicht aber sie selbst.« 144 Føllesdal (1958), 48.
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Die Psychologismuskritik
dabei in den LU als allgemeine, ideale Gegenstände (Spezies), die sich in subjektiven Akten vereinzeln können. Diese Speziestheorie der Bedeutung entwickelt Husserl durch eine Verbindung von Theorieelementen aus Bolzanos »Wissenschaftslehre« mit Lotzes Interpretation der platonischen Ideen als idealen Geltungseinheiten: Bolzano bestimmt als Gegenstandsbereich der Logik als Wissenschaftslehre sprach-, denk- und zeitunabhängige logische Entitäten – die Sätze-, Wahrheiten- und Vorstellungen an sich, aus denen Wissenschaften letztlich aufgebaut sind. Diese »Welt der reinen Denkbedeutungen« (XXX,115) nimmt Husserl in seine Idee der reinen Logik auf, nachdem er die Verständnisschwierigkeiten mit ihrem ontologischen Status in einer über Lotze vermittelten Rezeption überwindet. In Lotzes Interpretation der Wirklichkeitsform von platonischen Ideen als Geltungseinheiten findet Husserl nämlich eine Bestimmung logischer Gegenstände vor, die diese weder verdinglicht noch hypostasiert. Danach sind diese in einem derart »starken« Sinne objektiv, daß sie bewußtseins- und zeitunabhängig »an sich« gelten. Ihr Bezug zum denkenden Subjekt wird in der Weise der Vereinzelung von platonischen Ideen in konkreten Realisierungen konzipiert. In den LU haben demgemäß Bedeutungen den Status der Allgemeinheit von Ideen, die sich in Denkakten besondern können. Auch Frege kennt bereits lange vor Husserl ein eigenständiges, nichtempirisches Gegenstandsgebiet der Logik, das er dem Empirischen der Außenwelt und dem Psychologischen der Innenwelt gegenüberstellt. So ist die Logik, die allein ort- und zeitlose Gesetze des Wahrseins erforscht, von der Psychologie, die sich mit dem subjektiven Fürwahrhalten beschäftigt, scharf abgegrenzt und entsprechend das objektiv Vorgestellte vom subjektiv-privaten Vorstellen immer zu unterscheiden. Frege kritisiert den Psychologismus, da er diese Bereichstrennungen mißachtet, so daß infolgedessen Wahrheit am Ende in einem Solipsismus verschwindet. Diese Kritik richtet er 1894 in einer Rezension auch gegen Husserls PA. Die Auswirkungen dieser Kritik auf Husserls eigene Abkehr vom Psychologismus sind aber gering, da Husserl bereits 1891 selber über die von Frege angemahnten Unterscheidungen verfügt. Festzuhalten sind hingegen bei Frege aufgrund seines rigiden Antipsychologismus ähnliche erkenntnistheoretische Defizite wie bei Bolzano. Ungeklärt bleibt nämlich bei beiden Denkern letztlich, wie der ideale, logische Gegenstandsbereich überhaupt gewußt wird. Um diesen Vorgang, der für Frege »der geheimnisvollste von allen« ist (Frege (1969), 157), zu analysieren und mithin die Psychologismuskritik auch erkenntnistheoretisch abzusichern, wird Husserl in seinen LU die psychologische Analyse zur Phänomenologie der Erkenntnisakte weiterentwickeln.
III. DER DURCHBRUCH ZUR PHÄNOMENOLOGIE DER »LOGISCHEN UNTERSUCHUNGEN«
»[…] aus der Anschauung Evidenz schöpfendes Denken ist das Ziel, ist wahres Erkennen.« (XIX/1,173)
Nach der Verschiebung des Husserlschen Forschungsschwerpunktes von der Anzahlenarithmetik über die allgemeine Arithmetik zur Thematik der reinen Logik, die wir oben im Abschnitt I verfolgt haben, wurden Husserl in methodischer Hinsicht die begründungstheoretischen Defizite der psychologischen Analyse offenkundig. Sie wurden in der Psychologismuskritik der »Prolegomena« anschließend systematisch dargelegt (Abschnitt II). Zur erkenntnistheoretischen Begründung der reinen Logik wird damit die Herausbildung einer wegweisenden neuen Methode erforderlich, die Husserl in den LU mit der Phänomenologie konzipiert. Sie muß die subjektive Gegebenheit von rein logischen Gegenständlichkeiten in einer Weise begründen, die ihrerseits nicht empirisch oder gar psychologistisch ist. In diesem Abschnitt wird diese Aufgabe der Phänomenologie der LU vorgestellt und genauer bestimmt (A.1). Dabei zeigt sich, daß Husserls Verständnis der Phänomenologie auch in den LU zunächst noch von der deskriptiven Psychologie geprägt ist, was nun ihr gegenüber zu Psychologismusvorwürfen führt. Erst durch eine spätere Betonung des eidetischen Anspruchs der Phänomenologie vermag Husserl deren nichtempirischen Charakter deutlich herauszustellen und das »Wie der Gegebenheit« des Logischen methodisch angemessen zu klären (A. 2). Diese Klärung setzt zunächst bei der sprachlichen Gegebenheit der Bedeutungen an, führt dann aber auf deren ursprünglich intentionale Gegebenheit zurück. Da alle Gegenständlichkeit Korrelat von Intentionen ist, wird hier eine allgemeine Charakterisierung der Intentionalität und ihrer Erfüllung nötig (B.). Erst darauf aufbauend kann dann auch die besondere Gegebenheitsweise rein logischer Gegenstände verdeutlicht werden, die für Husserl in der kategorialen Anschauung erfolgt (C.).
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Durchbruch zur Phänomenologie
A. Aufgabe und Aufbau der »Logischen Untersuchungen« 1. Aufgabe und Sinn der phänomenologischen Erkenntnistheorie in den »Logischen Untersuchungen« Das Resultat der Psychologismuskritik, die Zurückweisung jeglicher vom Empirischen ausgehenden Begründungsversuche der Logik als Wissenschaftslehre, ist in den »Prolegomena« mit der einseitigen Betonung des Bestehens von idealen, an sich seienden logischen Prinzipien und Bedeutungsgesetzen verbunden. Die reine Logik bewegt sich als Fundament der Wissenschaftslehre ausschließlich in diesem eigenständigen, nichtempirischen Gegenstandsbereich und gewährleistet von ihm aus jene strenge Objektivität und Begründung von Wissenschaften, die im Gefolge des Psychologismus skeptisch relativiert wird. Sofern die Psychologismuskritik damit in Abhängigkeit von einer Sphäre idealer Gegenstände zu geraten droht, wäre sie gewissermaßen mit einer ontologischen Hypothek belastet, die Zweifel an der Kraft ihrer Argumente aufkommen ließe, da diese nicht wirklich immanent kritisieren würden. Schnell erhebt sich deswegen ein allgemeiner Platonismusvorwurf gegen Husserls Psychologismuskritik, der in ähnlicher Weise auch Bolzano, Lotze und Frege entgegengebracht werden kann: Die Psychologismuskritik verdanke sich lediglich einer petitio principii, die in der Hypostasierung eines ewig bestehenden An-sich-Seins von logischen Gesetzen liege; sie sei ein leerer Prinzipienstreit, also keine echte, gleichberechtigte Auseinandersetzung mit dem Psychologismus. Wir haben in der Auseinandersetzung mit Husserls Psychologismuskritik oben bereits gesehen, daß Husserls Kritik am Psychologismus als skeptischem Relativismus durchaus auch immanent operiert, so daß ihr gegenüber ein pauschaler Platonismusvorwurf unberechtigt ist. Gleichwohl ist Husserl sich der Einseitigkeit des ersten Bandes seiner LU, nämlich dessen schroffer Gegenüberstellung von logischer Idealität und psychischer Realität bewußt. In voller Klarheit sieht er auch, daß die beabsichtigte Neubegründung der Logik nur dann erfolgreich sein kann, wenn ihr nichtempirischer Gegenstandsbereich kein bloß behaupteter ist, sondern deutlich gemacht wird, wie wir von ihm überhaupt wissen können: »Es ist aussichtslos, die Eigengeltung der Rede von allgemeinen Gegenständen überzeugungskräftig dartun zu wollen, wenn man nicht den Zweifel behebt, wie solche Gegenstände vorstellig werden können« (XIX/1,128). Nicht nur für das Gelingen der Psychologismuskritik, sondern für die reine Logik selbst ist es also nötig, darzulegen, in welcher Weise wir zu den in ihr thematischen idealen Gegenständen Zugang haben. Solange dies nicht gezeigt ist, bleibt die reine Logik mit all
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ihren Konsequenzen erkenntnistheoretisch unbegründet und damit letztlich ohne Überzeugungskraft. Um genau dies zu vermeiden, »muß zu klarem Verständis kommen, was denn das Ideale in sich und in seinem Verhältnis zum Realen ist, wie das Ideale auf Reales bezogen, wie es ihm einwohnen und so zur Erkenntnis kommen kann« (XVIII,191). M.a.W. ist das Ideale, das als die spezifische Allgemeinheit von Bedeutungen das eigentliche Thema der reinen Logik bildet und dem Realen, d.h. hier den einzelnen psychischen Akten als Themen der Psychologie, gegenübersteht, in seinem Bezug zum Realen zu untersuchen. Die Leitfrage muß daher lauten, »wie denn das ›an sich‹ der Objektivität zur Vorstellung kommen, also gewissermaßen doch wieder subjektiv werden mag«1. Bliebe sie unbeantwortet, so könnte Husserl dem Vorwurf, daß er mit seiner reinen Logik nur einen unbegründeten und hypostasierenden logischen Absolutismus vertrete, nichts entgegensetzen. Die erkenntnistheoretische Problematik hat Husserl nach der Veröffentlichung der LU immer wieder beschäftigt2. Schon bald nach den LU, nämlich in den Vorlesungen zur »Idee der Phänomenologie« (1907), radikalisiert sie sich zum ganz allgemeinen und grundsätzlichen »Transzendenzproblem«, das Husserl nun nicht mehr nur im speziellen Bereich der logisch-idealen Gegenstände für klärungsbedürftig hält, sondern – in Folge von einer thematischen Ausweitung seiner Forschungssphäre im Anschluß an die LU – bezüglich jeder Art von Gegenständlichkeit, also auch der von empirischen Objekten. Dabei betont er die »gewaltigen Schwierigkeiten« (XXIV,141; vgl. II,19), die mit dieser Frage gerade im Bereich der Logik zusammenhängen, weil dort die Differenz zwischen der Objektivität der Bedeutungseinheiten und der Subjektivität der Erkenntnisakte nicht verwischt werden soll: »Aber 1
XIX/1,12 f.(A). Die zentrale Frage ist m.a.W., »wie die Idealität des Allgemeinen als Begriff oder Gesetz in den Fluß der realen psychischen Erlebnisse eingehen und zum Erkenntnisbesitz des Denkenden werden kann«. (XIX/1,13) Dementsprechend formuliert Landgrebe »das Hauptproblem der Logischen Untersuchungen« folgendermaßen, »nämlich die ideale Einheit des Logischen mit der Mannigfaltigkeit seiner subjektiven Gegebenheitsweisen in Einklang zu bringen«. Landgrebe (1949), 67. 2 Vgl. etwa Vorlesung über Erkenntnistheorie von 1902/03 (Hua. Mat. III,18, 54, 56 f., 64) und die Vorlesungen zur Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie (1906/07), wo die Fragen der Erkenntnistheorie mehrfach zum Ausdruck kommen, z.B. (XXIV,174): »Wie [die] Idealität der Bedeutungseinheit und wie das An-sich-Sein der bedeuteten und angeblich erkannten Gegenständlichkeit sich in der Subjektivität der Erkenntnisakte, der Akte des Vorstellens, Urteilens, Vermutens usw. bekunden, wie die Leistung der Erkenntnis zu verstehen sei, was korrelativ dazu das Für-sich-Sein erkannter Gegenständlichkeit bedeute und das An-sich-Gelten der Wahrheit, das [sind …] die Probleme«, oder (XXIV,149): »[…] nun ist das Problem, zu verstehen, wie Bedeutungen in das aktuelle Denken hineinkommen und was sie darin sind, wenn sie, wie das Wort sagt, ›Inhalte‹ sind.« Vgl. auch ebd., 172, 176, 366 f., 401.
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Durchbruch zur Phänomenologie
steckt hier nicht ein großes Problem? Der Satz, speziell z.B. die Wahrheit ein Übersubjektives, ein Überzeitliches, ein Ideales, [dagegen] der Denkakt ein Subjektives, ein Zeitliches, ein psychologisch Reales. Wie kommt das Ideale in das Reale, das Übersubjektive in den subjektiven Akt hinein?« (XXIV,142; vgl. Hua. Mat. III,18) Husserl sah in diesen Fragen der Erkenntnistheorie »die schwierigsten aller wissenschaftlichen Probleme überhaupt« (XXIV, 139; vgl. Hua. Mat. III,51); sein Leben lang hat er mit ihnen gerungen. Das Hauptziel seiner philosophischen Arbeit, die strenge Begründung von Wissenschaften, muß nämlich solange unerreicht bleiben, wie die Fragen der Erkenntnistheorie offen bleiben. Deswegen ist die Lösung des sogenannten Erkenntnisproblems eine Aufgabe mit absolut herausragender Bedeutung für Husserls Philosophie, ja man kann sagen, daß seine ganze Phänomenologie auch die Ausbildung und Darstellung einer neuen Erkenntnistheorie ist. Sie muß »das Verhältnis zwischen der Subjektivität des Erkennens und der Objektivität des Erkenntnisinhaltes« (XVIII,7) klären, um damit der beabsichtigten Neubegründung von Wissenschaften den Weg zu ebnen. Allein die Tatsache, daß Husserl an dieser Aufgabe bis an sein Lebensende arbeitet, indiziert bereits, daß er in den LU für sie noch keine vollends befriedigende Lösung findet. Um nun von Anfang an ein angemessenes Verständnis des Sinns der phänomenologischen Erkenntnistheorie zu gewinnen, ist es wichtig, das Spannungsfeld, in dem sie steht, klar zu erkennen. In Husserls Philosophie der Logik wird nämlich zum einen der absolute Charakter eines spezifisch logischen Gegenstandsbereichs betont, nun aber zum anderen auch die Notwendigkeit gesehen, unseren erkenntnismäßigen Bezug zu ihm zu erklären, um hierdurch die Rede von jener logischen Objektivität zu rechtfertigen. Die Forderungen, die sich hieraus für Husserls Erkenntnistheorie ergeben, sind vielfältig: Zunächst soll sie jeglichen Platonismusvorwurf entkräften. Gleichzeitig muß sie aber die psychologistisch-empiristische Relativierung des Logischen vermeiden und schließlich auch dessen nominalistische Leugnung zurückweisen. Platonismus, Empirismus und der ihnen gegenüberstehende Nominalismus stellen für Husserl allesamt sinnverfehlende Mißdeutungen des Logischen dar, die zurückzuweisen sind3. Solche »Ismen« verhindern nur die fruchtbare Untersuchung der Erkenntnisproblematik, da sie jede konkrete Sachanalyse durch bereits im voraus bindende Standpunkte verschatten. Husserl will also seine Idee der reinen Logik mit ihren idealen Gegenständen erkenntnistheoretisch ausweisen ohne dabei von irgendwelchen vorweg geltenden theoretischen Grundannahmen auszugehen. 3
Vgl. hierzu v.a. LU II, § 7.
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Die Zielsetzung von Husserls erkenntnistheoretischer Grundlegung der reinen Logik ist außerdem keinesfalls so zu verstehen, daß mit ihr die idealen Gegenständlichkeiten der Logik deduktiv begründet werden sollen, was im Fall der Logik ohnehin unmöglich wäre4. Deswegen ist die phänomenologische Erkenntnistheorie strenggenommen auch gar keine »Theorie«, weil eine solche im Sinne der »Prolegomena« immer von einer deduktiv erklärenden Argumentationsstruktur geprägt ist, die zuletzt auf Grundgesetzen basiert (vgl. XIX/1,26; Hua. Mat. III,59 f.). All dies fehlt in der Erkenntnistheorie, die von Husserl daher in der Einleitung zum zweiten Band der LU recht bescheiden als »philosophische Ergänzung der reinen Mathesis« bestimmt wird (XIX/1,27;). Ursprünglich versteht Husserl die Erkenntnistheorie nur »als eine die formale Logik ergänzende Diszipin« (Hua. Mat. III,59, vgl. 17 f.; Hua. Mat. II,43). Sie soll die reine Logik ergänzen, indem sie die darin zuvor direkt oder sozusagen naiv verwendete Begrifflichkeit, die als hochstufige und abstrakte nicht unmittelbar verständlich ist, philosophisch klärt5. Dieses »Klären« von Begriffen wird als eigentliche Aufgabe einer phänomenologischen Erkenntnisanalyse von Husserl ausdrücklich vom »Erklären« unterschieden. »Erklären« ist nur im argumentativen Rahmen von bereits bestehenden Theorien möglich und vollzieht sich darin als ein Subsumieren von Einzelfällen unter allgemeine Sätze und Gesetze6. Begriffe und Erkenntnisse »klären« oder »aufklären« heißt hingegen, auf die Situationen und Anschauungen zurückzugehen, die jenen ursprünglich vorausliegen, um von hieraus Einsicht in den eigentlichen Sinn jener Gebilde zu gewinnen – in diesem Sinne versteht sich Phänomenologie als »Theorie von unten«7. Bekannt ist uns dieser begriffsklärende Ansatz im Grunde bereits aus der psychologischen Analyse des Anzahlbegriffs, den Husserl auf die in ihm liegenden Momente der Vielheit und der Einheit, bzw. auf die diese wiederum fundierenden konkreten anschaulichen Phänomene hin analysierte. Dement4
Vgl. XVIII,139, 170. Daß sich die letzten Wahrheiten der Logik nicht nochmals »beweisen« oder »begründen« lassen, weil alles Beweisen und Begründen sie schon voraussetzen muß, versteht sich für Husserl von selbst. Begründungsprinzipien und Axiome sind, um mit Lotze zu sprechen, »eines Beweises weder bedürftig noch fähig« (Lotze (1880), § 200), sondern unmittelbar evident – in dieser Hinsicht verhält es sich mit ihnen genauso wie mit Leibniz’ Vernunftwahrheiten. 5 In diesem Sinne spricht Husserl in den Vorlesungen zur Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie von 1906/07 auch davon, daß der Phänomenologie in bezug auf logische und axiologische Theorien nur eine »dienende Stellung« zukommt (XXIV,217). 6 Vgl. zum Unterschied zwischen phänomenologischem Aufklären und theoretischem Erklären XIX/1,26 f., 125(A); XIX/2,729; Hua. Mat. II,50; Hua. Mat. III,60; V,3, 103; XXIV, 190. 7 XXII,147; XXV,41; Hua. Dok. III/III, 160.
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Durchbruch zur Phänomenologie
sprechend vollzieht sich die erkenntnistheoretische Ergänzung der Logik durch die Phänomenologie als Begriffsklärung rein logischer Begriffe im Rekurs auf deren ursprünglich gebende Anschauungen. Die phänomenologische Sinnklärung rein logischer Begriffe geht also auf die ursprünglichen Anschauungen und Konstitutionsleistungen, die sie ermöglichen, zurück, und erreicht so zweierlei: Zunächst zeigt sie auf, was in höherstufigen Begriffs- und Erkenntnisgebilden liegt, d.h. welche Anschauungen und Konstitutionsgefüge sie wesenhaft implizieren8. Diese verborgenen Implikationen weist sie analytisch auf und zeigt damit, dank welcher konstitutiven Leistungen und Schichtungen Begriffe und Erkenntnisgebilde überhaupt erst möglich sind, bzw. welche Fundierungszusammenhänge ihnen zugrunde liegen. Gerade bei den mehrfach fundierten kategorialen und logischen Gegenständlichkeiten vermag die phänomenologische Intentionalanalyse hierdurch deren gemeinhin übergangene ursprüngliche Sinndimension freizulegen. Im Sinne der in der III. »Logischen Untersuchung« entworfenen Mereologie besagt dieser Aspekt der Erkenntnistheorie, daß die jeweiligen Einzelerlebnisse analysiert werden, indem sie als Ganzheiten auf ihre impliziten »Teile« hin untersucht werden. Daneben untersucht die phänomenologische Erkenntnisanalyse wie Erkenntnisgebilde ursprünglich, d.h. in anschaulicher Fülle gegeben sind. Diese erst in reflexiver Einstellung mögliche Frage nach dem »Wie der Gegebenheit« von etwas ist bekanntlich das Hauptcharakteristikum einer spezifisch phänomenologischen Erkenntnistheorie. Die Frage danach, wie etwas ursprünglich gegeben ist, dient dazu, es möglichst unverstellt von seinen Deutungen als solches festzuhalten und es von darüber hinausgehenden Interpretationen freizuhalten, welche für Husserl in der Logik etwa mit platonisierenden oder allgemein metaphysischen Theorien verbunden sind. Erst wenn sowohl deutlich geworden ist, wie Erkenntnisgebilde ursprünglich gegeben sind, als auch geklärt ist, was in ihnen liegt, erreicht die phänomenologische Analyse die beabsichtigte Klärung von Erkenntnissen und Begriffen. Sie beantwortet so die Frage, wie Erkenntnis überhaupt möglich ist 8
Daß die phänomenologische Erkenntnistheorie nicht Theorien konstruieren oder gar aus solchen deduzieren will, sondern statt dessen Erkenntnis und ihre Gegenständlichkeit klären will, indem sie aufweist, was »in ihnen liegt«, betont Husserl überall, wo er die Spezifika seiner Phänomenologie vorstellt (siehe z.B. II,55; XVI,141; XXIV,399; XXVI,5; XIII,182; III/1,209; X,345 f.). Bei diesen Enthüllungen der verborgenen Implikationen von Erkenntnissen geht es, wie der frühe Husserl wiederholt betont, nicht darum, ihre genetischen Voraussetzungen zu bestimmen, da dies eine Aufgabe der Psychologie ist. Die genetischen Konstitutionszusammenhänge berücksichtigt Husserl erst später im Rahmen der genetischen Phänomenologie, wobei er sie dann allerdings transzendental verstanden wissen will.
Aufgabe und Aufbau der »Logischen Untersuchungen«
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und gewinnt ein grundlegendes Verständnis des Sinns von Erkenntnisgebilden und den Bedingungen ihrer Möglichkeit9. Für die Logik bedeutet dies dann in concreto, daß auch deren ideale Gegenständlichkeit mit ihrem Transzendenzsinn, also ihrem An-sich-Charakter verstanden werden muß vor dem ermöglichenden Hintergrund eines gemeinhin verborgenen Fundierungsgefüges sowie synthetisierenden und idealisierenden Konstitutionsleistungen des Bewußtseins. Später wird es bei Husserl deshalb heißen, daß »Transzendenz […] ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter« ist (I,32). Von dem transzendenten An-sich-Charakter aller Gegenstände, der vor der sinnklärenden erkenntnisphänomenologischen Analyse direkt und ungeprüft Bestand hatte, wird durch diese Analyse also ein tieferes und gewandeltes Verständnis gewonnen, weil sein anschaulicher Grund ausgelotet wurde. Die zunächst in erkenntnistheoretischer Naivität angesetzte Logik soll so durch die reflexive Erhellung ihrer Grundlagen zu einer letztbegründeten Wissenschaft werden – eine Zielvorgabe, mit der Husserl alle Wissenschaften konfrontiert, um sie zu einem radikalen Sichselbst-Verstehen zu bringen, sie also zu »echten«, d.h. letztlich zu philosophischen Wissenschaften zu machen. Dieses Bemühen um die Begründung von strenger Wissenschaft, dem bereits Husserls Idee der reinen Logik folgt, zieht in der Erkenntnistheorie die Forderung nach sich, in ihr nur das als gültig in Anspruch zu nehmen, was absolut gewiß ist. Auszuschließen ist aus ihr daher alles, was nicht wirklich einsichtig gegeben oder phänomenologisch geprüft ist, d.h., alle Annahmen, Theorien und Vorurteile über die Welt und unseren Erkenntnisbezug zu ihr müssen von Anfang an radikal überwunden werden, damit phänomenologische Analysen überhaupt einsetzen können. Diese Forderung trifft natürlich zunächst alle psychologischen Erkenntnistheorien, die die beabsichtigte Radikalität niemals erreichen, weil in sie als empirische Theorien ständig ungeklärte Grundannahmen über die erfahrbare Wirklichkeit mit eingehen. Darüber hinaus hat die Forderung aber eine so grundlegende und allgemeine Bedeutung für Husserls Erkenntnistheorie, daß sie den Rang eines methodi9
Sofern Husserl so das »Aufklären« und »Verstehen« von Sinn als Ziel seiner Analysen deutlich vom »Erklären« absetzt (vgl. XIX/1,27), kann die phänomenologische Erkenntnistheorie durchaus auch als eine Hermeneutik gefaßt werden, obgleich sie sich natürlich nicht mit der Auslegung von Texten befaßt. Husserl selbst bestimmt jedenfalls später einmal seine Bewußtseinsanalysen als »Hermeneutik des Bewußtseinslebens« (XXVII, 177). Dabei ist dann allerdings zu beachten, daß zu ihr – wie zu jeder fruchtbaren Hermeneutik – auch das Element der Kritik gehört. Phänomenologie untersucht also nicht bloß vorgegebene Sinngebilde nachträglich auf ihren Ursprung hin, sondern sie deckt deren normalerweise verborgenen Implikate auch auf, um die Sinngebilde von gegebenenfalls verdeckenden oder gar verfälschenden Deutungen zu befreien.
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Durchbruch zur Phänomenologie
schen Prinzips erhält – des Prinzips der Voraussetzungslosigkeit erkenntnistheoretischer Untersuchungen, das Husserl erstmals im § 7 der Einleitung zum zweiten Band der LU formuliert10. Möglichst voraussetzungslos muß eine erfolgversprechende Lösung des Transzendenz- und Erkenntnisproblems vorgehen, da für dessen wirkliche Lösung nichts von dem in Anspruch genommen werden darf, was selber erst noch klärungsbedürftig ist. Der Sache nach ist damit das methodische Grundprinzip phänomenologischen Forschens – die phänomenologische Reduktion – antizipiert, denn gefordert ist bereits hier der konsequente Ausschluß von all dem, was nicht voll einsichtig und absolut zweifelsfrei gegeben ist11. Dies ist für Husserl, der hier im weiteren Sinne einem Cartesischen Ansatz in der Erkenntnistheorie schon unausdrücklich folgt, der gesamte Bereich bewußtseinstranszendenter Gegenstände, die niemals in so vollständiger Weise gegeben sind, daß sie nicht noch über Aspekte und Seiten verfügen, die über ihre adäquate Gegebenheit hinausweisen12. Den Ausgangspunkt für die Husserlsche Klärung des Sinns aller erkenntnismäßigen Transzendenz können folglich lediglich bewußtseinsimmanente Gegebenheiten bilden, und dies sind zunächst nur die mannigfaltigen Empfindungen und Akte des Bewußtseinslebens. Angesichts der geforderten Strenge in der erkenntnistheoretischen Klärung der reinen Logik muß diese mithin von einer Analyse der Akte, in denen Logisches gegeben ist, her durchgeführt werden13. In den LU verlangt Husserl mit unnachgiebiger Konsequenz sogar einen äußerst restriktiven Umgang mit dieser Sphäre der seinsgewissen Bewußtseinsimmanenz, da als einzig gewisser »phänomenologischer Inhalt« des Bewußtseins hier nur die »reelle Immanenz« anerkannt wird. »Reell immanent« ist das, was im Akt selbst sinnlich gegeben und nicht bloß mit ihm vermeint ist. Hierzu zählt Husserl nur Empfindungen sowie Teilerlebnisse, die höherstufige Akte mit aufbauen, nicht aber den sinnhaften intentionalen Inhalt, also die vermeinten Gegenstände als solche (vgl. V. LU, § 16). Diese Reduktion des phänomenologischen Erkenntnistheoretikers auf den reellen 10
Vgl. Hua. Mat. III,88, 99. Einen philosophiehistorisch sehr informativen Einblick in die Forderung nach Voraussetzungslosigkeit am Anfang jeder erkenntnistheoretischen Methode gibt Kempski (1951). Vgl. auch Rosen (1977), 138 ff. 11 Eine Entwicklung vom Prinzip der Voraussetzungslosigkeit der LU zur phänomenologischen Reduktion hat u.a. Boehm (1968), 122 ff. sehr gut herausgearbeitet. 12 In seiner Erkenntnistheorievorlesung von 1902/03 tritt Husserls Orientierung an der Cartesischen Suche nach einem absolut sicheren Erkenntnisfundament und der Rückgang auf die zweifellose Gegebenheit der Cogitationes als Bewußtseinserlebnissen offen zutage (vgl. Hua. Mat. III,90–97). 13 Vgl. XIX/1,150(A): »Was in der Erkenntnistheorie interessiert muß ausschließlich im Inhalt des Bedeutungs- und Erfüllungserlebnisses selbst aufgewiesen werden.«
Aufgabe und Aufbau der »Logischen Untersuchungen«
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Bestand des Bewußtseins ist zum einen die äußerst radikale Folge der Maxime der methodischen Voraussetzungslosigkeit und sie ermöglicht in dieser Hinsicht fruchtbare Detailanalysen des Aufbaus von Erkenntnissen. Zum anderen ist sie jedoch auch ein Relikt der psychologischen Analyse, die gleichfalls in strikter Begrenzung bloß auf gegebenes »Inneres« rekurriert und jegliche Mitberücksichtigung von intentionalen Gegenständen aus methodischen Gründen zurückweist (vgl. XIX/1,14(A), 411). Die damit bedingte Nähe der aktphänomenologischen Erkenntnistheorie zur Psychologie ist ein Grund dafür, daß Husserl nach der Psychologismuskritik des ersten Bandes der LU im zweiten Band ein Rückfall in den Psychologismus vorgeworfen wurde. Ein Vorwurf, dessen Berechtigung Husserl später selbst einräumt (vgl. XVII,160), den wir aber erst im folgenden näher beurteilen wollen. Im übrigen trifft dieser Vorwurf nur die gemäß ihrer Programmatik ausschließlich aktphänomenologisch ausgerichtete erste Auflage des Werkes, denn die darin geforderte Restriktion der phänomenologischen Forschungssphäre auf den reellen Bestand von Erlebnissen, also deren noetische Seite und ihre hyletischen Komponenten, wird Husserl in den Vorlesungen zur »Idee der Phänomenologie« 1907 durch eine ergänzende, gegenstandsorientierte Phänomenologie »zweiter« und »dritter Stufe« aufheben, da in ihr dann auch das Erscheinende bzw. das Vermeinte als solches, also das spätere Noema, als phänomenologisch evidenter Bestand anerkannt und berücksichtigt wird (II,7 ff., 43 ff.). Diese Erweiterung der Phänomenologie von der frühen Aktphänomenologie zur Gegenstandsphänomenologie und mithin die Bemühung um eine methodische Abgrenzung von der Psychologie findet ansatzweise in den mit der zweiten Auflage der LU erfolgten Änderungen ihren Niederschlag; ihnen werden wir uns im folgenden Kapitel (A. 2) genauer zuwenden müssen. Hier kann ungeachtet der Differenzen zwischen den beiden Auflagen der LU der spezifisch Husserlsche Sinn der phänomenologischen Erkenntnistheorie folgendermaßen festgehalten werden: Sie muß – speziell im Bereich der idealen Bedeutungen der reinen Logik – in grundsätzlicher Form klarmachen, auf welche Art und Weise Objektivität überhaupt erkannt werden kann, um diese so subjektiv zu rechtfertigen. Damit beabsichtigt sie weder eine deduktive Begründung der logischen Idealitäten noch ein unmögliches Verbinden der beiden zuvor ontologisch gesonderten Bereiche von Objektivität und Subjektivität bzw. Idealität und Realität. Vielmehr soll das Verhältnis dieser Gegenüberstellungen geklärt werden, indem ohne ontologische Vorannahmen untersucht wird, wie Objektives subjektiv gegeben ist. Die so beabsichtigte »Sicherung und Klärung der Begriffe und Gesetze« der reinen Logik (XIX/1,7, vgl. 9) muß dafür von dem ausgehen, was zweifellos evident
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Durchbruch zur Phänomenologie
ist, und das sind nur die Erlebnisse, in denen jene Begriffe und Gesetze gegeben sind, in denen, wie Husserl sagt, das Logische in »subjektiver Realisation« präsent ist (XIX/1,9(A), vgl. ebd., 8; Hua. Mat. III,77). Husserls »Phänomenologie des Logischen« (XIX/2,533) im zweiten Band der LU bemüht sich deswegen um die getreue Deskription von sogenannten Bedeutungserlebnissen, also solchen Erlebnissen, in denen Bedeutungen vermeint und eventuell auch gegeben sind. Vorgeordnet ist dieser spezifischen Untersuchung im Bereich der Logik noch die allgemeine Analyse von Bewußtseinserlebnissen und ihrem wesentlichen Charakteristikum – der Intentionalität.
2. Das methodische Selbstverständnis der Phänomenologie der »Logischen Untersuchungen« im Wandel ihrer beiden Auflagen – von der deskriptiven Psychologie zur eidetischen Phänomenologie Die LU sind in philosophiegeschichtlicher Hinsicht ein bahnbrechendes Werk, von dem her die gesamte phänomenologische Bewegung ihren Ausgang nimmt. Für Husserl selbst stellen sie sich letztlich als entscheidendes »Werk des Durchbruchs«, des Durchbruchs zur Phänomenologie als einer neuartigen philosophischen Methode dar (XVIII,8; XX/1,293 f., 324). Diese Einschätzung verdankt sich jedoch erst einer nachträglichen Klärung und Vergewisserung des Sinns des Werkes und nicht dem ursprünglichen Selbstverständnis der ersten Auflage von 1901. Hier verstand Husserl seine Phänomenologie bekanntlich vielmehr als einen Teil der Psychologie, von der er sich mit den LU also keineswegs so abrupt löst, wie es die Metaphorik des »Durchbruchs« suggeriert. Das methodische Selbstverständnis von Husserl bleibt also zunächst noch traditionsgebundener als es seine Untersuchungen selbst bereits de facto sind. In der zweiten Auflage von 1913 sind die Ablösungsbemühungen von den Methoden der Psychologie dann allerdings ganz deutlich, denn hier verfügt Husserl längst über ein gefestigtes Bewußtsein der Eigentümlichkeit seiner phänomenologischen Methode und mit der phänomenologischen Reduktion auch über ein geeignetes methodisches Instrument zu ihrer Abgrenzung von jeglichen Formen der Psychologie. Den entscheidenden Änderungen zwischen diesen Auflagen, die Husserls Verhältnis zur Psychologie betreffen, muß im folgenden nachgegangen werden, weil von ihnen sowohl das endgültige Gelingen der Psychologismuskritik in den LU als auch ein fruchtbares Verständnis der phänomenologischen Erkenntnistheorie abhängt. Schon als Husserl die sechs LU zu ihrer Publikation aus der Hand gibt, bemerkt er in der »Selbstanzeige« dazu, daß er ein »lückenhaftes und in
Aufgabe und Aufbau der »Logischen Untersuchungen«
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manchen Gedankenreihen nicht vollkommen abgeklärtes Werk der Öffentlichkeit« übergibt14. Ursprünglich waren die Untersuchungen nicht einmal zur Veröffentlichung bestimmt, so daß ihre vorzeitige Publikation gegen erhebliche Bedenken von Husserl erfolgt. Daß es schließlich doch zu ihr kommt, liegt vor allem daran, daß Husserl dadurch seine schlechte universitäre und pekuniäre Stellung nach 14 Jahren Privatdozentenzeit zu verbessern hoffte15. Angesichts dieser Nöte ist verständlich, daß sich hinsichtlich des methodischen Selbstverständnisses der LU noch ein »Nachwirken der anerzogenen Vorurteile« (XXVI,6) bzw. »Denkgewohnheiten« zeigt (XX/1,294), Husserl hier also zum Teil noch älteren Auffassungen verhaftet bleibt. Indem dann mit der zweiten Auflage aber wichtige Veränderungen im Text der LU vorgenommen werden, dokumentieren diese den methodisch entscheidenden Schritt der Loslösung der Phänomenologie von der Psychologie hin zu einer reinen Phänomenologie und damit einen Wandel in Husserls Verhältnis zur Psychologie insgesamt. Worin besteht dieser Wandel und wie ist er motiviert?
a) Die erste Auflage der »Logischen Untersuchungen« – Phänomenologie als deskriptive Psychologie Zur Zeit der Veröffentlichung des zweiten Bandes der LU begreift Husserl seine Arbeit noch als deskriptiv psychologische: »Phänomenologie ist deskriptive Psychologie« (XIX/1,24(A)), heißt es unmißverständlich; sie soll das erkenntnistheoretische Problem des Verhältnisses von Objektivität und Subjektivität mittels einer sorgsamen Analyse der Erlebnisse, in denen Objektives gegeben ist, klären. Diese Analyse verdankt sich Einsichten aus der inneren Erfahrung, in der sie die psychischen Gegebenheiten studiert, so etwa die Intentionalität, die als psychischer Akt gefaßt wird. Die Erlebnisse, die den Hauptgegenstand der erkenntnisphänomenologischen Untersuchung bilden, werden hier also als psychische Entitäten aufgefaßt, so daß der »phänomeno14
XIX/1,783, vgl. XX/1,272 f., 293 f. Schon kurz nach der Drucklegung, am 1. Mai 1901, schreibt Husserl über die LU an Natorp: »Es ist ein unfertiges, unausgeglichenes, nicht voll ausgereiftes Werk. Daß ich trotz so vieler Mühen nur eine Serie von Bruchstükken liefern konnte, daß es mir nicht vergönnt war noch einige Jahre fortzuarbeiten, bis alles gleichmäßig ausgereift und abgeklärt sei, das schmerzt mich tief. […] [I]ch bin mit der Erkenntniskritik nicht fertig, ich fühle mich nun erst recht als Anfänger.« (Hua. Dok. III/V, 77) 15 Die Entstehungsgeschichte der LU ist in der Einleitung des Herausgebers zu Hua. XVIII von Holenstein sehr gut dokumentiert.
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Durchbruch zur Phänomenologie
logische Bestand« zunächst als ein psychologischer verstanden wird. Dasselbe gilt im übrigen auch für das Ich, das für Husserl lediglich die umfassende Komplexion oder Gesamtheit aller dieser Erlebnisse darstellt und als solches vom empirischen Ich noch nicht unterschieden ist16. Indem Husserl seine Phänomenologie also als deskriptive Psychologie versteht, stützt er sich auf Brentanos Einteilung der Psychologie, nach der die deskriptive Psychologie die beschreibende Grundlage für die eigentlich erklärende, naturwissenschaftliche oder genetische Psychologie ist17. Auch für Husserl dient nämlich die Phänomenologie 1901 »zur Vorbereitung der Psychologie als empirischer Wissenschaft« (XIX/1,7(A)). Gemäß der Brentanoschen Konzeption soll die deskriptive Psychologie alias Phänomenologie die Erlebnisse analysierend beschreiben, damit sie dann in der genetischen Psychologie ihre vollständige kausale, naturgesetzliche Erklärung finden. Phänomenologie hat hier also eine Vorbereitungsfunktion, da sie als Vorstufe der genetischen Psychologie fungiert, in der ihre Beschreibungsresultate einer naturwissenschaftlichen Erklärung unterzogen werden können. Dieser propädeutische Charakter zeigt sich bei Husserl darin, daß Phänomenologie im strengen Sinne der »Prolegomena« eigentlich noch keine »Theorie«, d.h. eine erklärende Wissenschaft ist, sondern als erlebnisbeschreibende Disziplin dieser nur zuarbeitet. Auf dieser allgemeinen wissenschaftstheoretischen Differenz von bloß beschreibenden und erklärenden Wissenschaften beruht denn auch Husserls Argument für eine Unterscheidung der Phänomenologie als deskriptiver Psychologie von der naturwissenschaftlichen Psychologie: Phänomenologie »ist bloße Vorstufe für die Theorie, nicht aber Theorie selbst«, wie die Naturwissenschaften (XIX/1,24(A)). Und diese Vorstufe soll dann nicht nur für die empirische oder naturwissenschaftliche Psychologie, sondern eben auch für die reine Logik vorbereitende Funktionen erfüllen, indem sie deren Grundbegriffe beschreibend klärt und auf ihren Ursprung hin analysiert (vgl. XIX/1,7). 16
Neben den bekannten Stellen aus den ersten beiden Kapiteln der V. LU dokumentiert diese Sichtweise auch eine drastische Formulierung aus einem Brief an W. E. Hocking vom 7.9.1903: »Ich ist eine objective Einheit, wie Stiefel und Strumpf, nur kein ›physisches Ding‹, sondern eben ein Ich, eine Person, eine objective Einheit von ganz anderem apperceptiven Gehalt.« (Hua. Dok. III/III, 148) Zur Analyse des Ichbegriffs in den LU vgl. Marbach (1974), 1–22. 17 Zur Brentanoschen Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Psychologie vgl. oben die Kapitel I. A. 1 und II. B. 1. Spiegelberg berichtet, daß bereits in Brentanos unpublizierten Wiener Vorlesungsschriften von 1888/89 zum Titel »Deskriptive Psychologie« als eine Alternativbezeichnung »Phänomenologie« auftaucht. (Spiegelberg (1982), 27, 46. Zur Begriffsgeschichte der »Phänomenologie« ist auch Spiegelberg (1982), 154 f., Schuhmann (1984) und die historische Arbeit von Bokhove (1991) informativ.)
Aufgabe und Aufbau der »Logischen Untersuchungen«
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Angesichts dieses Selbstverständnisses der Phänomenologie in der ersten Auflage der LU liegt der Vorwurf des Rückfalls in den Psychologismus natürlich nahe: Wenn Logisches letztlich doch wieder in psychologisch verstandenen Erlebnissen seinen Erkenntnisgrund haben soll, ist nicht ersichtlich, wie einem Psychologismus in der Erkenntnistheorie zu entkommen ist. Zwar sind die logischen Gegenstände seit den »Prolegomena« jetzt als nichtempirische von allem Psychologischen klar unterschieden, so daß kein logischer Psychologismus mehr droht, aber die erkenntnistheoretische Methode, die dies auch für das Erkenntnissubjekt einsichtig machen soll, bleibt doch eine psychologische. Der Psychologismus, dem Husserl jetzt selbst zu verfallen droht, ist mithin kein logischer, sondern ein erkenntnistheoretischer. Die psychologische Untersuchung der Akte, in denen logische Gegenstände gegeben sind, ist nämlich der Gefahr ausgesetzt, diese Idealitäten nun doch wieder zu naturalisieren, wenn sie sie erkenntnistheoretisch als Gegebenheiten in empirischen Subjekten oder Erlebnissen glaubt ausweisen zu können. Husserl sieht 1901 diesen Vorwurf bereits auf seine Untersuchungen zukommen, glaubt ihn aber durch die strenge Beachtung des Unterschieds von rein deskriptiver Psychologie und naturwissenschaftlicher Psychologie abwehren zu können18. Kritiker könnten dagegen allerdings zu Recht darauf hinweisen, daß diese Beschränkung der Forschungsziele der Phänomenologie auf rein deskriptive Analysen keinen grundsätzlichen Hinderungsgrund gegen eine empirische Interpretation der Ergebnisse der phänomenologischen Erlebnisbeschreibungen bildet, so daß das rein Logische prinzipiell doch wieder im Empirischen fundiert sein könnte. 18
Vgl. XIX/1,24(A). An dieser Stelle wäre es interessant, einen ausführlicheren Seitenblick auf Diltheys Konzeption in den »Ideen über beschreibende und zergliedernde Psychologie« (1894) zu werfen, als es hier möglich ist. Prima vista haben Dilthey und Husserl nämlich trotz ganz unterschiedlicher Ausgangslagen vergleichbare methodische Aufgaben und Probleme. Auch Dilthey sucht nämlich im Bereich der Erkenntnistheorie nach einer selbständigen und einheitlichen philosophischen Grundwissenschaft, die er für die Geisteswissenschaften fruchtbar machen will, und findet diese eben in der beschreibenden Psychologie. Damit gilt er einerseits als Begründer einer neuen, geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie, die sich von der positivistisch naturwissenschaftlichen Psychologie klar abgrenzt. Weil er sich in der Erkenntnistheorie gleichwohl auf die Psychologie und die innere Erfahrung stützt, setzt er sich – wie Husserl 1901 in den LU – aber andererseits dem Vorwurf eines erkenntnistheoretischen Psychologismus aus. Dilthey hat seine Einteilung der Psychologie unabhängig von Brentano entwickelt und Husserl wiederum rezipiert Diltheys »Ideen« wohl erst 1905. Nachdem seine Stellungnahme zu Dilthey in »Philosophie als strenge Wissenschaft« (1910) dann zunächst sehr kritisch ausfällt (Stichwort: Historismusvorwurf), würdigt er 1925 allerdings am Beginn der »Vorlesungen über phänomenologische Psychologie« Diltheys beschreibende Psychologie in ihrer Bedeutung für eine phänomenologische Psychologie.
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Durchbruch zur Phänomenologie
Die aus erkenntnistheoretischen Gründen notwendige Abgrenzung von der Psychologie als Naturwissenschaft will Husserl aber außerdem auch durch die strikte Begrenzung des phänomenologischen Forschungsgebiets auf die Selbstgegebenheit des bloß reell immanenten Erlebnisbestandes sicherstellen: Phänomenologie hat »es auf bloße deskriptive Analyse der Erlebnisse nach ihrem reellen Bestande, in keiner Weise aber auf ihre genetische Analyse nach ihrem kausalen Zusammenhange abgesehen« (XIX/1, 28(A)). Sie muß jegliche Mitberücksichtigung von empirischen Realitäten oder Transzendenzen unterlassen, um die für die erkenntnistheoretische Transzendenzklärung erforderliche Radikalität zu gewinnen. Also ist in der Erkenntnistheorie entgegen der »fast unausrottbare[n] Neigung«, die Erkenntnisanalyse in einer schlicht objektiven Denkhaltung zu betreiben, darauf zu achten, die »primär erscheinenden Gegenstände«, ja »die intentionalen Gegenstände überhaupt« auszuschließen, da diese immer schon über sich hinausweisen und mithin nie adäquat selbstgegeben sind19. Deswegen fordert Husserl, die deskriptiv zu untersuchende immanente Forschungssphäre strikt auf den reellen Erlebnisbestand zu restringieren20. Diese Reduktion auf den reellen Bestand hat in den LU mehrere Folgen: In sachlicher Hinsicht erweist sich die Restriktion als erkenntnistheoretisch durchaus fruchtbar, da sie den Blick auf gemeinhin unbeachtete subjektive Bedingungen jedes Erkennens eröffnet, wie beispielsweise das sinnstiftende Zusammenspiel von Empfindung und Auffassung. Gleichzeitig bedeutet diese Restriktion der Untersuchungssphäre eine erhebliche Radikalisierung von Husserls ehemaliger Methode der psychologischen Analyse, da diese gegenüber den Unterschieden von intentionalen, reellen und realen Erkenntnisinhalten gänzlich indifferent und mithin erkenntnistheoretisch unzureichend blieb. Terminologisch hat sie schließlich zur Folge, daß der »deskriptiv-psychologische« oder »phänomenologische« Gegenstandsbereich 19
XIX/1,14 f.(A); XXII,206 auch XIX/1,427(A): »Für die phänomenologische Betrachtung ist die Gegenständlichkeit selbst nichts; sie ist ja, allgemein zu reden, dem Akte transzendent.« 20 Boehm betont, daß die Reduktion auf den reellen Bestand in den LU im wesentlichen eine Verengung der phänomenologischen Forschungssphäre bedeutet, die phänomenologische Reduktion in diesem Entwicklungsstadium also lediglich einschränkenden Charakter hat. In der »Idee der Phänomenologie« (1907) wird dies als eine »phänomenologische Betrachtung erster Stufe« bezeichnet, der dann zwei weitere, auch intentionale Gehalte berücksichtigende Stufen folgen. Vgl. Boehm (1968), 123 ff., 141ff. sowie II,4 ff. Die Entwicklung des Reduktionsgedankens führt demgemäß von einem restringierenden, ausschließenden, also negativen Verständnis in den LU zu einem positiven, die Sphäre des transzendentalen Bewußtseins erst gewinnenden und erschließenden Charakter in Husserls späteren Werken.
Aufgabe und Aufbau der »Logischen Untersuchungen«
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der Erkenntnistheorie von Husserl gleichlautend auch als »reeller« – aber keineswegs »realer« – bezeichnet werden kann21. Somit gelingt Husserl durch die oben erwähnte Betonung des bloß deskriptiven Charakters der Erkenntnistheorie und durch die Einschränkung ihres Forschungsgebiets auf den reellen Erlebnisbestand die geforderte deutliche Unterscheidung seiner Phänomenologie von allen naturwissenschaftlichen Analysen der Erkenntnis. Dennoch – und dies ist letztlich entscheidend – bleibt diese Abgrenzung erkenntnistheoretisch solange ungenügend, wie trotzdem Erkenntnistheorie oder Phänomenologie noch als psychologische Disziplin verstanden wird. Mindestens zwei Gründe sorgen nämlich für entscheidende Defizite in jeder psychologischen Erkenntnistheorie: Erstens hat es die Psychologie auch in ihrem deskriptiven Zweig immer nur mit einzelnen, kontingenten Vorkommnissen des »Inneren« oder eben Psychischen von Personen zu tun. Ihre Gegebenheiten, wie etwa Empfindungen, sind individueller Natur, und wenn sie als erkenntnistheoretische Grundlagendisziplin darüber hinaus zu allgemeingültigen Einsichten kommen will, bedient sie sich – genau wie die naturwissenschaftliche Psychologie – induktiver und empirisch abstraktiver Methoden. Dadurch erreicht die Gültigkeit ihrer Aussagen aber bestenfalls einen Status von empirischer oder komparativer Allgemeinheit. Eben dies reicht für die von Husserl geforderte Aufklärung und Begründung rein logischer Begriffe und Gesetze aber nicht aus, da so die für die Logik erforderlichen letztgültigen und streng universellen Einsichten nie gewonnen werden. Eine deskriptiv psychologische Analyse der subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis ist niemals eine apriorische; sie kann weder den Skeptizismus verhindern noch an den apriorischen Charakter der reinen Logik heranreichen, geschweige denn ihn begründen und so den Platonismusvorwurf entkräften.
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Vgl. XIX/1,411(A). Hier muß zumindest angemerkt werden, daß den in unserem Zusammenhang erwähnten positiven Konsequenzen der programmatischen Reduktion auf den reellen Bestand insbesondere in der Bedeutungstheorie Defizite der nur noetisch ausgerichteten Analysen der LU gegenüberstehen. Konstatieren und überwinden konnte Husserl die Defizite der noetischen Einseitigkeit der LU allerdings erst nach der Einführung der transzendentalen Reduktion. Denn sie ermöglicht erst eine nichtempirische Einbeziehung der »reinen« Gegenständlichkeit, d.h. des in Erlebnissen jeweils Erscheinenden als solchen, in die phänomenologischen Analysen. Dementsprechend hat Husserl bei der Neuauflage der LU auch die programmatische Begrenzung der Phänomenologie auf den reellen Bestand aufgehoben und ihren Gegenstandsbereich erweitert: »Phänomenologie besagt demnach die Lehre von den Erlebnissen überhaupt und, darin beschlossen, auch von allen in Erlebnissen evident ausweisbaren, nicht nur reellen, sondern auch intentionalen Gegebenheiten.« (XIX/2,765; vgl. Hua. Mat. III,101f.)
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Durchbruch zur Phänomenologie
Zweitens wird die psychologische Erkenntnistheorie die Erlebnisse als ihre Untersuchungsgegenstände immer als Faktizitäten betrachten, die an empirischen Subjekten beobachtbar sind. Sie vollzieht damit beständig empirische Objektivierungen – setzt also Transzendenzen – bevor überhaupt ein grundsätzliches Verständnis des objektivierenden Transzendenzbewußtseins gewonnen ist. Dies bedeutet nicht nur einen deutlichen Mangel an Radikalität in der Erkenntnistheorie, sondern führt in der Logik dazu, daß logische Gegenständlichkeiten nun doch wieder in kontingenten Bedingungen empirischer Subjekte und Erlebnisse gründen müßten. Der von Husserl betonte apriorische Charakter logischer Gesetzmäßigkeiten kann auf diese Weise nicht angemessen ausgewiesen werden. Vielmehr würde jeder Versuch, der das Ideal-Logische vom Realen oder Empirischen aus begründen wollte, im Psychologismus verbleiben. Wenn also die erkenntnistheoretisch verlangte Ausweisung der idealen Gegenständlichkeiten der reinen Logik nicht nur den Empirismus, sondern auch den Platonismus überzeugend zurückweisen will, dann ist eine psychologische Erkenntnistheorie für diese Aufgaben unzureichend22. Erkenntnistheorie oder Phänomenologie darf mithin keine psychologische Disziplin sein, wenn sie zur Erreichung der Husserlschen Zielvorgabe einer erkenntnismäßigen Ausweisung der apriorischen und idealen Gegenstände der reinen Logik einen fruchtbaren Beitrag leisten soll. Solange Husserl daher seine Phänomenologie als deskriptive Psychologie bezeichnet, ist ihr gegenüber der Vorwurf des erkenntnistheoretischen Psychologismus unausweichlich23.
b) Die Korrektur im Selbstverständnis – Phänomenologie als eidetische Phänomenologie An der Bestimmung der Phänomenologie als deskriptiver Psychologie hält Husserl noch bis zu seinen Vorlesungen über Erkenntnistheorie von 1902/03 fest. Hierin bestimmt er die deskriptive Psychologie auch als »das Funda22
Husserl notiert dieses Argument in seiner großen Psychologievorlesung von 1925: »solange diese Analyse [des Erkennens] als empirische gedacht war, konnte dem Einwand der Antipsychologisten nicht begegnet werden, wie denn eine Erkenntnistheorie, eine Wissenschaft von den apriorischen Prinzipien, die die Möglichkeit objektiver Vernunftleistung verständlich machen sollen, auf Psychologie, auf eine empirische Wissenschaft gegründet sein könne.« (IX,42) 23 Den Vorwurf eines erkenntnistheoretischen Psychologismus gegen Husserls Phänomenologie in der ersten Auflage der LU erheben z.B. Jerusalem (1905), 131 und Nelson (1908), 169–177.
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ment der Erkenntnistheorie«24. Die ausdrückliche Korrektur im Selbstverständnis erfolgt erstmals 1903 im Rahmen einer Sammelrezension von neueren logischen Arbeiten (vgl. XXII,152 ff., 205 ff.). Von hier an betont Husserl dann aber geradezu leidenschaftlich, daß das, was den Erkenntnistheoretiker an den Erkenntniserlebnissen interessiert, niemals faktisch-kontingente Bedingungen ihrer Möglichkeit, sondern ausschließlich Wesenszusammenhänge sind. Denn gerade im Bereich der Logik muß es für die Erkenntnistheorie belanglos bleiben, welche individuellen Erlebnisbestimmtheiten in das Denken eingehen bzw. dies faktisch ermöglichen. Gemäß Husserls früher Konzeption logisch idealer Gegenstände als Spezies kann es in der Erkenntnistheorie nur darum gehen, die wesenhaften Bedingungen für die Möglichkeit ihrer Vereinzelung im Denken zu bestimmen. Ganz entscheidend wird daher fortan jegliche Mitberücksichtigung von bloß psychologischen Einsichten aus der phänomenologischen Erkenntnistheorie ausgeschlossen und als »Verirrung« degradiert (vgl. XXII,208). Das zentrale Argument gegen diese Verirrung jeder empirischen Erkenntnistheorie liegt bei Husserls Betonung der eidetischen Ausrichtung der phänomenologischen Analysen darin, daß dadurch die objektivierende, und gegebenenfalls sogar naturalisierende Apperzeption hinsichtlich der im Rahmen der Erkenntnistheorie untersuchten Erlebnisse verhindert werden soll. Derartige Objektivationen bedeuten immer einen Mangel an erkenntnistheoretischer Radikalität, weil sie Transzendenzen setzen bevor überhaupt ein grundsätzliches Verständnis von Transzendenzsetzungen gewonnen ist. Jede Tatsachen setzende, psychologische oder allgemein empirische Erkenntnistheorie bleibt in dem Sinne »vorkritisch« (vgl. XXII,206), daß sie etwas von dem voraussetzt, was allererst klärungsbedürftig ist. Da die Untersuchungsergebnisse der deskriptiven Psychologie – trotz der Restriktion ihrer Forschungssphäre – naturalisierenden Deutungen nicht prinzipiell entzogen sind, kann Husserl dem Psychologismusvorwurf nur dadurch entgehen, daß er die prinzipielle Verschiedenheit seiner Phänomenologie von jeder Tatsachenwissenschaft deutlich hervorhebt: Phänomenologie – das wird Husserl nach der Einsicht in die methodischen Defizite der deskriptiven Psychologie für die Erkenntnistheorie von nun an immer betonen – ist eine Wesenswissenschaft: »Alle phänomenologischen Feststellungen […] sind (auch ohne besondere Betonung) als Wesensfeststellungen zu verstehen.«25 Nur indem dies beachtet wird, vermag Hus24
Hua. Mat. III,69, vgl. 77. Zum Wandel von Husserls Selbstverständnis der Phänomenologie als Erkenntnistheorie vgl. auch die Einleitung des Herausgebers zu Hua. XXIV von U. Melle. 25 XIX/1,383, vgl. XX/1,312: »Die ganze Widerlegung des Psychologismus beruht dar-
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serl einem scheinbar unlösbaren Dilemma zu entgehen: Erkenntnistheorie darf nicht Psychologie sein, wenn skeptisch-relativistische Einwände radikal zurückgewiesen und die reine Logik erkenntnistheoretisch fundiert werden soll. Da sie sich aber mit Erkenntnis, also mit psychischem Geschehen oder subjektiven Akten befaßt, scheint sie doch unausweichlich Sache der Psychologie sein zu müssen26. Statt dessen aber sieht die Phänomenologie von aller Faktizität ab und hat es fortan ausschließlich mit allgemeinen Wesen von Erkenntniserlebnissen bzw. Erlebnissen überhaupt zu tun, denn diese sind in ihrer Idealität gegenüber dem zufälligen, realen oder bloß faktischen Erlebnisgeschehen notwendig und allgemein. Gemäß Husserls Konzeption sind die konkreten Einzelfälle von Erlebnissen lediglich besondere Fälle der Wesenszusammenhänge, die sich darin subjektiv realisieren. Den Phänomenologen interessieren aber im Gegensatz zum Psychologen nicht tatsächliche, empirische Erlebniszusammenhänge; diese berücksichtigt er allenfalls als exemplarische Ausgangspunkte für die ideierende Gewinnung ihres allgemeinen Wesens, das zu bestimmen das Ziel seiner Eidetik ist. Solche Eidetik hält sich von allen empirischen Objektivationen frei und überwindet dadurch die mangelnde Radikalität jeder psychologischen Erkenntnistheorie. Nach dieser Betonung des eidetischen Charakters der Phänomenologie verläuft die Trennlinie zwischen Phänomenologie und Psychologie nun entlang des Unterschieds von Tatsachen und Wesen. Mithin wird die Psychologie jetzt in ihrer Gesamtheit, also mitsamt der deskriptiven Psychologie, als Tatsachenwissenschaft von der Phänomenologie abgeschieden: »Erst durch die Erkenntnis der Natur der Wesen und wesentlichen Eigentümlichkeiten, wesentlichen Zusammenhänge, der Wesensgesetze, im Unterschied von den außerwesentlichen Zusammenhängen […] ist die Unterscheidung zwischen Phänomenologie und Psychologie möglich geworden.« (XXIV,383). Damit ergibt sich ein neues Verhältnis von Husserls Phänomenologie zur Psychologie, da diese nun als Tatsachenwissenschaft jener als Wesenswissenschaft insgesamt gegenübergestellt wird. auf, dass die Analysen [… der Logischen] Untersuchungen als Wesensanalysen, also als apodiktisch evidente Ideenanalysen in Anspruch genommen werden.« 26 Husserl formuliert diese Situation folgendermaßen: »Ein arges Dilemma bedrängt uns. Erkenntnistheorie mit Psychologie und auf Grund der Psychologie: das geht nicht. Das widerstreitet dem Sinn der Erkenntnistheorie. Erkenntnistheorie ohne Psychologie: das geht wieder nicht. Sie ist doch, wie schon der Name besagt, eine gewisse wissenschaftliche Erforschung der Erkenntnis. Der Titel Erkenntnis befaßt aber psychische Tätigkeiten. Psychisches erforschend treiben wir doch eo ipso Psychologie. Sollen wir das Resultat ziehen: eine Erkenntnistheorie kann es überhaupt nicht geben? Die Probleme sind prinzipiell unlösbar? Das wäre doch eine harte Zumutung.« (XXIV,178) Vgl. hierzu auch die Einleitung des Herausgebers dieses Bandes von U. Melle, S. XXXII ff.
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Die Einsicht, daß für den Phänomenologen im Unterschied zum Psychologen nur der Wesensgehalt von Erlebnissen relevant sein kann, bedeutet zugleich eine weitere Radikalisierung von Husserls Forschungsmethode. An die Stelle der deskriptiven Psychologie tritt nun die eidetische Phänomenologie; sie verfährt zwar weiterhin deskriptiv, ist aber eben auf Wesenszusammenhänge hin ausgerichtet. Auch diese Radikalisierung ist nur vor dem Hintergrund der in der deskriptiven Psychologie sachlich ungelösten Probleme verständlich, die zu überwinden sind: Weil die Psychologie auch als bloß deskriptive niemals zu apriorischen, sondern immer nur zu empirischfaktischen Erkenntnissen kommen kann, vermag sie an die reine Logik nicht heranzureichen, bleibt also angesichts der Aufgabe einer erkenntnistheoretischen Ausweisung der logischen, idealen Gegenständlichkeiten methodisch unzureichend. Hingegen glaubt Husserl mit seiner eidetischen, »reinen«, d.h. nichtempirischen Phänomenologie diese Defizite beheben zu können, da hierin der konkrete, individuelle Tatsachengehalt von Erkenntniserlebnissen ideativ auf seinen nichtempirischen Wesensgehalt hin überschritten wird, so daß sich die Phänomenologie thematisch in einer neuen und eigenständigen Dimension bewegt. Die Beschreibungsresultate der deskriptiven Psychologie können hierbei dennoch eine Vorbereitungsfunktion behalten, aber sie dienen nun zur Gewinnung von Wesensfeststellungen und nicht mehr von Erklärungszusammenhängen der naturwissenschaftlichen Psychologie. Es findet also eine methodische »Vertiefung« der Erkenntnisanalyse statt, bei der jetzt alles darauf ankommt, das sich in Erlebnismomenten vereinzelnde Wesen zu bestimmen. Entsprechend dieser wohl 1903 erstmals klar gesehenen Sinnbestimmung der Phänomenologie werden in der zweiten Auflage der LU zahlreiche Änderungen vorgenommen, mit denen nun der wesenswissenschaftliche Anspruch der phänomenologischen Analysen unterstrichen wird: Da ersetzt 1913 beispielsweise »deskriptive Wesensanalyse« (XIX/1,219) oder »intuitive Wesensanalyse« (XIX/1,455) die Rede von der »deskriptiven Analyse« von 1901. Ebenso geht es nun nicht mehr bloß um »Zusammenhänge« oder »Unterscheidungen«, sondern um »Wesenszusammenhänge« (XIX/1,11) oder »Wesensunterscheidungen« (XIX/1,361). Auch wird als Erkenntnismedium kaum noch die »innere Wahrnehmung«, sondern vielmehr die »ideierende phänomenologische Wesenserschauung« (XIX/1,456) bzw. die »immanente Wesenserschauung« (ebd.) genannt. Für derartige Änderungen ließen sich leicht zahlreiche weitere sprechende Beispiele finden27. Damit sie 27
Vgl. hierzu die Einleitung der Herausgeberin zu Hua. XIX von U. Panzer, die einen vorzüglichen Überblick über die bedeutendsten Textkorrekturen der 2. Auflage der LU gibt.
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beim Leser allerdings nicht bloß den Eindruck von Beschwörungsformeln hinterlassen, bedürfte es neben der konkreten Prüfung der einzelnen Sachanalysen auch einer befriedigend ausführlichen Darstellung der Methode der eidetischen Phänomenologie. Das Verfahren der ideierenden Abstraktion oder Wesensschau wird in den LU jedoch nur sehr knapp behandelt. Neben der kontrastierenden Abgrenzung von Husserls Methode gegenüber anderen, insbesondere empiristischen Abstraktionstheorien in der II. »Logischen Untersuchung« gelingt seine systematische Einführung und Entfaltung in den §§ 48 und 52 der VI. »Logischen Untersuchung« deshalb nur im Ansatz28. Auch in den »Ideen I«, in denen Husserl den eidetischen Charakter seiner Phänomenologie von Anfang an stark betont, findet sich noch keine befriedigende Entfaltung dieser Grundmethode phänomenologischen Forschens29. Diese Defizite in der methodischen Darstellung und Selbstbegründung der Phänomenologie sind natürlich besonders bedauerlich, weil in Folge von ihnen bei den Denkern, die die phänomenologische Methode in Anspruch nehmen, die wirklich phänomenologischen Einsichten weder von den bloß prätendierten einer Bilderbuchphänomenologie noch von den letztlich doch nur psychologischen hinreichend abgrenzbar sind. Hier hilft den Phänomenologen daher schließlich nur der appellierende Verweis auf evidente Einsichen und den unersetzbaren phänomenologischen Blick. Indes steht für Husserl der eidetische Charakter der Phänomenologie und mithin deren Unterschied von jeglicher Psychologie spätestens ab 1903 völlig außer Frage. Phänomenologie ist im Gegensatz zur Psychologie keine Tatsachenwissenschaft. Statt dessen hat sie es, ähnlich wie die Geometrie, mit idealen Gegenständen und idealen Möglichkeiten zu tun, die aller konkreten Wirklichkeit immer schon vorausliegen30. Eine noch klarere, nun
28
Vgl. hierzu unten Kapitel III. C. 3 Erst in den späteren Texten aus der Psychologievorlesung (IX,72 ff.), »Formale und transzendentale Logik« (XVII,254 ff.) und den »Cartesianischen Meditationen« (I, § 34) wird das Verfahren der Wesenserkenntnis schrittweise entfaltet und dargestellt, wobei die ideierende Abstraktion dann auch schon sachgemäß zur eidetischen Variation weiterentwickelt ist. Publiziert wurden diese wichtigen Erläuterungen der sogenannten Wesensschau auch in »Erfahrung und Urteil«, §§ 87 ff. Die Manuskriptgrundlagen dieser Veröffentlichung gehen allerdings auf Arbeiten aus den zwanziger Jahren zurück. Vgl. auch XXIV,224–236. 30 Der Vergleich der eidetischen Phänomenologie mit der Geometrie, die ebenfalls eine eidetische Wissenschaft ist, findet sich des öfteren in Husserls Texten. Das Wesensapriori soll die Grenzen möglicher Fakta im voraus so bestimmen, wie die Geometrie die Möglichkeiten aller Raumgestalten festlegt. Vgl. XIX/1,22; III/1,149 ff.; IX,50, 285, 325; »Erfahrung und Urteil«, 427 f. sowie zu dieser Analogie auch de Boer (1978), 452 ff., Bernet, Kern, Marbach (1989), 75 ff., 80–84 und Trappe (1995). 29
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ganz eindeutige Abgrenzung seiner Phänomenologie von aller Psychologie gelingt Husserl schließlich ab 1905 mit der Entdeckung der phänomenologischen Reduktion und der durch sie ermöglichten radikalen Unterscheidung der naiv objektivierenden, mundanen Wissenschaften von der reinen transzendentalen Phänomenologie. Phänomenologie beschäftigt sich dann nur noch mit »reinen«, d.h. allen objektivierenden Apperzeptionen vorangehenden Gegebenheiten. Sie schaltet den für jede Tatsachenwissenschaft konstitutiven Wirklichkeitsglauben aus, um so erst die grundlegenden Bedingungen der Möglichkeit von Wirklichkeit freizulegen. Von der Position der reinen transzendentalen Phänomenologie aus betrachtet, wird die deskriptive Psychologie nur noch als »ein bloßes Durchgangsstadium« (XIX/1,413) oder als propädeutische Vorstufe zur Gewinnung des wahren phänomenologischen Blickpunkts gewürdigt (vgl. III/2, 643; IX,47 f., 270, 340–349). Die frühe Phänomenologie der LU gilt dann rückblickend als ein Stadium des Weges zur transzendentalen Phänomenologie (vgl. XVII,159 ff.; XXIV,425) und Husserl bemerkt mehrfach, daß der Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner späteren Position in der Psychologie gelegen habe (vgl. III/1,296; IV,313; XXV,105). Die systematische Entwicklung zur transzendentalen Phänomenologie läuft mithin parallel zur historischen31. Die bald nach den LU geradezu rasant weitergehende Entwicklung von Husserls Philosophie32 erschwert naturgemäß die Neuveröffentlichung des Werkes. Um es nämlich gemäß allen neuen Einsichten entsprechend umzu-
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Immerhin behält die deskriptive Psychologie neben ihrer entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung für die Herausbildung der transzendentalen Phänomenologie für diese einen, wenn auch beschränkten, systematischen Stellenwert. Die Gehalte aus der deskriptiven Psychologie seien nämlich für die transzendentale Phänomenologie insofern fruchtbar, als sie nach der Ausschaltung der objektivierenden Apperzeption – transzendentalphänomenologisch gewissermaßen »verwandelt« – durchaus in die transzendentale Phänomenologie eingehen können. Auf diesem Gedanken der Umwendung der Resultate der deskriptiven Psychologie in transzendentalphänomenologische beruht Husserls spätere Feststellung einer »durchgängigen Parallelität« von deskriptiver Psychologie und transzendentaler Phänomenologie (vgl. V,146; IX,294, 342 ff.; I,159; XVII,262). Hierin gründet auch der »wundersame Parallelismus des Psychologischen und Transzendentalen« (IX, 275; vgl. I,70, 76, 99, 102), da beide eben nur durch die »Nuance« eines Einstellungswechsels voneinander geschieden sind (V,147 f.; XXIV,381ff., 442). Der Vollzug dieser Wendung der deskriptiven Psychologie in transzendentale Phänomenologie ist zugleich auch Bestandteil des in der Krisisschrift entworfenen Weges von der Psychologie in die phänomenologische Transzendentalphilosophie. 32 Einen knappen Überblick über die Jahre von 1901/02 bis zu den »Ideen I« gibt Schuhmanns Einleitung des Hrsg. zu Hua. III/1 und Mohanty (1995), 57 ff.
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arbeiten, müßte es, so fürchtet Husserl, »ein völlig neues Werk werden«33. Statt dessen entscheidet sich Husserl bei den Umarbeitungen für die zweite Auflage der LU »schweren Herzens« für einen »Mittelweg«34, bei dem die phänomenologische Reduktion dann selbst ansatzweise kaum eingearbeitet wird35, es daneben aber durchaus zu markanten Textmodifikationen kommt. Diese gibt es auch hinsichtlich des Selbstverständnisses der Phänomenologie, da Husserl nun mit mehr Abstand sein philosophisches Anliegen bestimmt hat und er die ursprüngliche Charakterisierung der Phänomenologie als deskriptive Psychologie emphatisch zurückweisen kann. Von Anfang an, so Husserl, seien die konkreten, analytischen Ausführungen der LU nämlich als eidetische gemeint und vollzogen worden, nur sei das in den programmatischen Erklärungen und dem Selbstverständnis noch nicht deutlich gewesen, weil Husserl sich hier noch an »alten Denkgewohnheiten« (XX/1,312) und der ihm von Brentano her vertrauten deskriptiven Psychologie orientiert habe: »De facto«, so Husserl 1913 rückblickend, »waren die Analysen als Wesensanalysen durchgeführt, aber nicht überall in klarem reflektivem Bewusstsein« (ebd.). Denn als die LU zuerst erschienen, war Husserl noch nicht zum vollen Verständnis dessen gelangt, was er darin geleistet hatte, so daß eine Differenz zwischen faktischer Durchführung und methodologisch-programmatischem Selbstverständnis die Folge sein mußte36. Tatsächlich kann die Berufung auf ideierend gewonnene Wesenseinsichten ebenso unschwer bereits in den etwas älteren »Prolegomena« ausgemacht werden (vgl. XVIII,109, 135, 174) wie in der Erstausgabe des zweiten Bandes der LU, wo es z.B. darum geht, die »Wesensbestimmtheit« (XIX/1,382) der Akte oder das intentionale- und bedeutungsmäßige Wesen der Akte zu ermitteln. Nehmen wir Husserl im Vertrauen auf die Gültigkeit der durch das Verfahren der ideierenden Abstraktion versprochenen Erkenntnisse hier zunächst beim Wort, dann ergibt sich in der Tat die von Husserl später mehrfach beklagte Differenz zwischen Tun und methodischem Selbstverständnis der Phänome33
So Husserl in einem Brief an W. E. Hocking vom 7.7.1912. Hua. Dok. III/III, 160. XVIII,10, vgl. auch hier die Einleitungen der Hrsg. von U. Panzer zu Hua. XIX und von U. Melle zu Hua. XX/1. 35 Vgl. z. B. XIX/1,357, 360 Anm., 382 Anm., 387 Anm., 396, 399, 412 f., XIX/2,765 f. 36 Vgl. IX,366: »In der Einleitung zu dem II. Band der ›Logischen Untersuchungen‹, mit dem die Phänomenologie des neuen Sinnes literarisch zuerst auftrat, sprach ich mich über die Methode aus und nannte sie daselbst (in der ersten Auflage 1901) deskriptivpsychologisch. Diese erste Rechenschaftsabgabe über die phänomenologische Methode war freilich eine sehr unvollkommene. Wo ein geistig Neues wird, da ist immer das Tun das erste und die Selbstauslegung des Getanen ein zweites, das keineswegs eine leichte Sache ist, zumal der Sinn eines noch Fort-Werdenden sich erst in der Vollendung ganz enthüllen kann.« 34
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nologie der LU von 1901, weil diese eben von Anfang an zu eidetischen, und nicht zu psychologischen Einsichten kommt. Der Vorwurf des erkenntnistheoretischen Psychologismus beruht dann auf einem von Husserl selbst evozierten Mißverständnis, das in der Bestimmung der Phänomenologie als deskriptiver Psychologie begründet ist. Da die phänomenologischen Analysen sowohl in eidetischer als auch in transzendentaler Reinheit zu vollziehen sind, ist die Bezeichnung der Phänomenologie als deskriptive Psychologie nämlich irreführend und es ist nur ein von Husserl »selbstverschuldetes Missverständnis, dass man die Phänomenologie als eine bloss deskriptive Psychologie ansah« (XX/1,313; vgl. IX,374; XVIII, 12 f.). Gemäß dieser erst ex post erfolgten Verständigung über den eigentlichen Sinn der Phänomenologie der LU sind diese dann wirklich der Durchbruch zu einer neuen, nichtpsychologischen Methode der Philosophie. Ob diese Methode allerdings in allen Teilen des Werkes bereits zur konsequenten Anwendung gekommen ist, kann nur deren kritische Einzelprüfung erweisen. Den LU als Ganzes gegenüber könnte sich jedenfalls ein pauschaler Vorwurf des Psychologismus nun allenfalls noch deshalb ergeben, weil der zunächst nicht ganz einsichtige doppelseitige Aufbau des Werkes unverstanden bleibt.
3. Die Doppelseitigkeit im Aufbau der »Logischen Untersuchungen« Nach dem Erscheinen des zweiten Bandes der LU sind in der Rezeption dieses Werkes immer wieder Fragen nach dem Zusammenhang seiner beiden Bände aufgekommen, da diese auf den ersten Blick anscheinend wenig miteinander zu tun haben. Kritisieren nämlich die »Prolegomena« den logischen Psychologismus vehement, indem jede Berücksichtigung von erkenntnispsychologischen Aspekten aus der reinen Logik zurückgewiesen wird, so widmen sich insbesondere die beiden letzten und umfangreichsten Untersuchungen des zweiten Bandes dann doch wieder Fragen und Problemen des subjektiven Erkenntnislebens. Diese beiden Untersuchungskomplexe der Teilbände scheinen im Rahmen von »logischen Untersuchungen« nur dann zusammenzupassen, wenn erhebliche Unstimmigkeiten oder sogar Widersprüchlichkeiten in Kauf genommen werden, die nach einer Erklärung verlangen. Klärungsbedürftig ist das Problem des Zusammenhangs der beiden Bände der LU aber vor allem deshalb, weil es zu dem Vorwurf geführt hat, daß Husserl nach seiner Psychologismuskritik im ersten Band mit dem zweiten Band in den Psychologismus zurückgefallen sei37. Um diesem Vorwurf 37
Diesen Vorwurf, auf den Husserl später mehrfach kritisch reagiert (vgl. z.B.
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entgegnen zu können, muß der Gesamtaufbau der LU und mithin das interne Verhältnis der beiden Bände verstanden sein. Wie ist das Werk also gegliedert, bzw. wie hängen seine Teilbände zusammen? Wie Husserls Denken überhaupt, so sind auch die LU vom Motiv der strengen Begründung der Wissenschaften bestimmt. Unter der Leitfrage, was Wissenschaften eigentlich zu Wissenschaften macht, geht es dabei im ersten Band um die Fixierung grundlegender logischer Bedingungen von Theorie überhaupt. Wissenschaft wird hier als einheitlicher Erklärungs- und Begründungszusammenhang verstanden, der als deduktiv-nomologischer in elementaren Grundbegriffen wurzelt. Husserls Idee der reinen Logik zielt zunächst darauf, diese Grundbegriffe aller möglichen Theorien zu bestimmen. Sodann soll sie jene apriorischen Gesetze ermitteln, die die möglichen sinnvollen Komplexionen von Begriffen zu Sätzen, Schlüssen und schließlich zu Theorien überhaupt regeln. Die reine Logik kulminiert schließlich in der im letzten Kapitel der »Prolegomena« skizzierten Idee der Mannigfaltigkeitslehre, also jener universalen Theorie der Theorien, in der alle a priori möglichen konstruierbaren Theorien antizipativ entworfen sind. Wir haben oben gesehen, wie Husserl zu dieser Idee der Logik von der Mathematik aus gekommen ist und wie die Mathematik in den LU noch seinen Wissenschaftsbegriff prägt. Wissenschaft gilt demgemäß als Einheit der Erklärung bzw. als objektiver und idealer Zusammenhang, so daß es die reine Logik ausschließlich mit idealen Gegenständen zu tun hat, die die objektiven Grundbedingungen aller möglichen Wissenschaft festlegen. Diese Idealität des Logischen wird in den »Prolegomena« sehr stark betont und der Realität der psychologischen und faktischen Bedingungen von Wissenschaft deutlich gegenübergestellt38. XX/1,276 ff.; XIX/2,535; XVII,160), erhob zuerst Busse (1903) in einer Rezension der LU.
Vgl. zu Busse auch Farber (1943), 201 Anm. und Smid (1978), 11f. Weitere damalige Kritiker, die diesen Vorwurf erhoben, berücksichtigen Smid (1985) und Kusch (1994), 75 f., bzw. ders. (1995), 63–92. Unverständnis hinsichtlich der Bedeutung des zweiten Bandes der LU für die Vollendung der Psychologismuskritik zeigt hingegen noch immer Fröhlich (2000), 80. 38 Die starke Betonung der Idealität in ihrer Gegenüberstellung zu aller Realität veranlaßte Natorp (1901) in seiner Rezension der »Prolegomena« zu dem Vorwurf, daß Husserl hier lediglich »in schroffer Einseitigkeit« (ebd., 14) argumentiere und er den Zusammenhang der beiden gesonderten Sphären vollends offen lasse: »so bleibt bei Husserl unaufgelöst bestehen der Gegensatz des Formalen und Materialen, des Apriorischen und Empirischen, damit auch des Logischen und Psychologischen, des Objektiven und Subjektiven; oder, um es mit einem Wort und zugleich in seiner eigenen Terminologie zu sagen: des Idealen und Realen. Das Materiale, Empirische, Psychologische, d.h. das ›Reale‹, bleibt stehen als unbegriffener, unvernünftiger Rest; ja dem Verhältnis, der inneren, erkenntnisgemäßen und also logischen Verbindung beider wird überhaupt nicht nachgefragt, son-
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Daß sich nun jedoch Husserls Idee der reinen Logik keineswegs auf die formale Analyse und Konstruktion von Theorien beschränkt, wurde oben bei der Beschäftigung mit seinen ersten Arbeiten zur Logik schon deutlich: Von Anfang an ist Husserls Begriff der Logik viel umfassender als der der bloß formalen Logik und Logistik, da für ihn zur Logik auch eine Theorie jener »Geistesbetätigungen« gehört (XXII,6–9), die allen logischen Operationen und Formalisierungen ursprünglich zugrunde liegen (so Husserl bereits 1891 in seiner Kritik an Schröders »Vorlesung über die Algebra der Logik«). Dieser Gedanke kehrt nach der Psychologismuskritik am Ende der »Prolegomena« wieder, wenn Husserl im Rahmen der universalen Wissenschaftslehre eine »Arbeitsteilung« fordert (XVIII, § 71). Demgemäß obliegt dem Mathematiker als »ingeniösem Techniker« und »Konstrukteur« die formale Analyse und Konstruktion der logischen Theoriezusammenhänge, die im Entwurf einer Mannigfaltigkeitslehre gipfelt (XVIII,254). Für die umfassende Bestimmung der Grundlagen der Wissenschaften wird daneben aber noch eine ganz andere Art von Untersuchung verlangt, die der Philosoph als Erkenntnistheoretiker zu leisten hat. Er soll die Begriffe der reinen Logik erkenntniskritisch rechtfertigen und damit erst deren Sinn verständlich machen. Erst durch diese Sinnklärung der Voraussetzungen wird die Logik nämlich von einer technisch-mathematischen Wissenschaft in eine sich von Grund auf selbstverstehende, philosophische Wissenschaft verwandelt. Für diese Aufgabe ist nun nach Husserl ein Rückgang auf die ursprünglichen Anschauungen und subjektiven Leistungen, die allen formallogischen Sinngebilden vorausliegen, notwendig, also eine subjektiv orientierte Klärung der vormals gleichsam naiv konzipierten reinen Logik. Genau dies aber versucht Husserl mit dem zweiten Band der LU zu leisten, denn er hat es »abgesehen auf eine Sicherung und Klärung der Begriffe und Gesetze, die aller Erkenntnis objektive Bedeutung und theoretische Einheit verschaffen«39. Schon in den »Prolegomena« werden diese beiden unterschiedlichen Aufgaben der radikalen Wissenschaftsbegründung vorgestellt. Als Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft unterscheidet Husserl hier nämlich die dern es soll sein Bewenden haben bei ihrer schroffen und reinlichen Sonderung. Und so bleibt bei aller, ich wage zu sagen, außerordentlichen Luzidität jeder logischen Einzelausführung dem Leser ein gerade logisches Mißbehagen zurück.« (ebd., 13) Husserl lobt später Natorps Rezension, da sie die Argumentationslage nach den »Prolegomena« »in meisterhafter Weise« wiedergebe (XX/1,277). Dem Vorwurf der Einseitigkeit begegnet er dabei durch den Hinweis auf den erst nach dieser Rezension erschienen zweiten Band der LU und dessen inneren Zusammenhang mit den »Prolegomena«. 39 XIX/1,7. Eine parallele Formulierung sieht die Aufgabe des zweiten Bandes darin, »die logischen Ideen, die Begriffe und Gesetze, zu erkenntnistheoretischer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen.« (XIX/1,9)
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objektiv-logischen, rein im Begriff der Theorie gründenden Bedingungen, zu welchen z.B. Kohärenz- und Konsistenzforderungen gehören, von den subjektiven oder noetischen Bedingungen (vgl. XVIII,118 f., 239 ff.). Letztere hebt Husserl nochmals von den realen, empirisch-subjektiven Erkenntnisbedingungen ab, die im Rahmen der grundlegenden Wissenschaftslehre natürlich keine Rolle spielen, da ihre Erforschung in die Psychologie, und damit in eine der Wissenschaftslehre untergeordnete Einzelwissenschaft gehört. Dennoch ist schon in den »Prolegomena« gefordert, daß die Wissenschaftslehre sowohl objektiv-logische als auch subjektive oder noetische Grundlagen von Wissenschaften untersucht. Da diese Forderung von den Kritikern aber nicht ernst genommen wurde, mußten die allein auf die objektive Seite ausgerichteten Studien der »Prolegomena« einseitig erschienen. Hierbei wurde dann übersehen, daß gerade diese Einseitigkeit auf die Ergänzung und Vollendung des Gesamtanliegens der Wissenschaftsbegründung im zweiten Band vorausweist40. Denn erst mit den subjektiv orientierten Untersuchungen des kategorialen Bewußtseins aus dem zweiten Band geht Husserl daran, seine reine Logik auch erkenntnistheoretisch auszuweisen und mithin der Psychologismuskritik das Fundament zu sichern41. Kein Rückfall in den Psychologismus, sondern statt dessen erst seine radikale Kritik geschieht somit durch die Bestimmung des phänomenologischen Ursprungs des Logischen im zweiten Band der LU, eine Kritik also, die gerade wegen ihrer Berücksichtigung des subjektiven Erkenntnislebens weitreichender und fundierter ist als die zwar subtilen, aber erkenntnistheoretisch zu naiven logischen Arbeiten von Frege. Hierbei ist es für das Programm der LU natürlich entscheidend, daß die Klärung der subjektiven Ursprünge der logischen Sinngebilde keine deskriptiv-psychologische, sondern eben eine eidetisch-phänomenologische Klärung der Erlebnisse ist. Wie wir im vorangehenden Kapitel gesehen haben, verfiele Husserl nämlich sonst tatsächlich dem Problem eines Psychologismus innerhalb der Erkenntnistheorie. 40
Spiegelberg (1982) weist auch darauf hin, daß die ein Jahr auseinanderliegenden Erscheinungstermine der beiden Bände der LU die Mißverständnisse in der Rezeption des Werkes begünstigen mußten. »Had the two volumes of the ›Investigations‹ come out simultaneously, there could not have been the surprise effect which their separate appearance produced.« (Ebd., 153, Anm. 47) 41 Offensichtlich ist Husserl bereits um 1900 deutlich, daß die Psychologismuskritik der »Prolegomena« noch unvollkommen ist, weil ihre Grundlage, die Idealität des Logischen, nicht erkenntnistheoretisch ausgewiesen ist. In einem Breif an Meinong vom 27.8. 1900 schreibt er dementsprechend: »Ich hoffe nun doch, daß der II. Theil [der LU] den Beweis liefern wird, daß mein Streit gegen den Psychologismus kein leerer Principienstreit ist, der um die Sachen oberflächlich herumdisputirt, sondern auf einer sehr ernsten Durcharbeitung der Phänomenologie der Erkenntniserlebnisse beruht.« (Hua. Dok. III/I, 137)
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Die doppelseitige Ausrichtung von Husserls Begründung der Wissenschaften wiederholt sich auch in seinen Schriften nach den LU. In den Vorlesungen zur Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie von 1906/07 spricht er die Konzeption der Arbeitsteilung in der Wissenschaftslehre erneut an (vgl. XXIV,163 f.), wobei er seinen Interessenschwerpunkt jedoch auf die erkenntnistheoretische Seite verlegt. Dies verstärkte Bemühen um eine phänomenologische Analyse der Erkenntnis führt dazu, daß Husserl an den zeitgenössischen Forschungen der mathematischen Logik zur Weiterentwicklung formalisierter Theorien weniger Anteil nimmt. Gleichwohl bleibt die formale Analyse von Sätzen und Theorien ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit, was vor allem in den großen Vorlesungen über Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie von 1910/11 und 1917/18 deutlich wird. Hier widmet er sich der formalen Bedeutungs- und Urteilsanalyse so ausgiebig, daß die Erkenntnistheorie als Noetik nur noch im Schlußkapitel angesprochen werden kann (vgl. XXX,311 ff.). Erst im logischen Hauptwerk »Formale und transzendentale Logik« (1929) kommen beide Seiten in annähernd gleichem Maß zur Geltung, indem sie jeweils einen der beiden Hauptabschnitte dieses Werkes bestimmen. Die Doppelseitigkeit der Logik als subjektiv und objektiv gerichteter Wissenschaftslehre fungiert hier mithin als Gliederungsprinzip für den Aufbau des Buches und wird dementsprechend schon in dessen vorbereitendem Abschnitt einführend angesprochen42. Diese Konzeption ist bestimmt von der Einsicht in das Korrelationsapriori, nach dem mit jedem originär gegebenen Typus von Gegenständlichkeit auf subjektiver Seite eine konstituierende Form von intentionaler Aktivität und ein Evidenzstil einhergeht43. Hieraus ergibt sich für die phänomenologische Klärung der Logik die Aufgabe, die gemeinhin verborgenen intentionalen Leistungen und Evidenzstile auf allen Stufen der Logik reflexiv zu analysieren, um dadurch erst die zuvor nur naiv angesetzten logischen Sinngebilde zu rechtfertigen; denn »solange die Me42
XVII,36 f.: »Die Logik als Wissenschaft vom Logischen überhaupt und in der obersten, alle anderen Formen des Logischen umspannenden Gestalt, als Wissenschaft von der Wissenschaft überhaupt, ist zweiseitig gerichtet. Überall handelt es sich um Vernunftleistungen, und zwar in dem doppelten Sinne der leistenden Tätigkeiten und Habitualitäten, andererseits der dadurch geleisteten und hinfort verharrenden Ergebnisse.« Auf die »Doppelseitigkeit« geht Husserl in »Formale und transzendentale Logik« noch an einigen weiteren Stellen ein: XVII,39 f., 159, 179, 270 f., 371. 43 Vgl. z.B. XVII,38: »Jedes in diesem Sinne objektiv Logische für sich hat sein ›subjektives‹ Korrelat in seinen konstituierenden Intentionalitäten, und wesensmäßig entspricht jeder Form der Gebilde ein als subjektive Form anzusprechendes System leistender Intentionalität.« Oder: »Jedem operativen Gesetz der Formenlehre entspricht a priori eine subjektive Gesetzmäßigkeit in Hinsicht auf die konstituierende Subjektivität« (XVII,190).
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thode [der Logik] als naiv geübte anonym bleibt und ihre intentionale Leistung nicht thematisch klargelegt ist, haben wir doch kein Recht, jenes prätendierte Recht gelten zu lassen.« (XVII,194). Im Unterschied zu seinen frühen Schriften versteht Husserl dabei die zu allen Sinngebilden korrelative subjektive Aktivität in »Formale und transzendentale Logik« längst als die einer transzendentalen Subjektivität. Erst durch diese mit der transzendentalen Reduktion ermöglichte methodische Radikalisierung seiner Phänomenologie ist er in der Lage, allen früheren Vorwürfen des erkenntnistheoretischen Psychologismus gegen seine Phänomenologie zu begegnen, weil hierdurch die erkenntnis- und sinnkonstituierenden Tätigkeiten als transzendentale deutlich von psychologischen abgehoben sind. Vor dem Hintergrund der ausgereiften Konzeption transzendentalphänomenologischer Korrelationsforschung hat Husserl ex post auch noch einmal den Zusammenhang der beiden Teilbände der LU verdeutlicht. Demgemäß ist »das eigentliche Thema der ›Logischen Untersuchungen‹ und in entsprechender Erweiterung der ganzen Phänomenologie«, die »eigentümliche Korrelation zwischen idealen Gegenständen der rein logischen Sphäre und subjektiv psychischem Erleben als bildendem Tun« (IX,26), wobei der erste Band die Idealität des Logischen gegenüber psychologisierenden Mißdeutungen sichert und der zweite dann, insbesondere in den beiden letzten Untersuchungen, die Klärung der Logik im Rückgang auf das Wesen des konstituierenden logischen Bewußtseins leistet (vgl. IX,20 f., 24 f., XVII, 180 f.). In der von Fink verfaßten Selbstdarstellung Husserls, die 1937 in dem von E. Hauer, W. Ziegenfuß und G. Jung herausgegebenen »PhilosophenLexikon« erschien, heißt es entsprechend: »Die innere Einheit der beiden Teile [der LU], die der zeitgenössischen Kritik merkwürdigerweise verborgen blieb, liegt in nichts anderem als der Verwirklichung des methodischen Prinzips der korrelativen Betrachtungsart.«44 Das Korrelationsverhältnis ist 44
XXVII,246. Fink vertritt diese Sicht auf den internen Werkaufbau der LU schon in
seiner Abhandlung »Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik« (1933), 89 f., wobei sie hier von Husserl autorisiert wurde. Aufgrund von Husserls eigenen Bekräftigungen hat sie sich in der Forschung auch sonst durchgesetzt. Soweit ich sehe, richtet sich einzig de Boer in diesem Punkt gegen eine Interpretation von Husserls vortranszendentalen Schriften aus der Perspektive der sich daraus erst entwikkelnden transzendentalen Phänomenologie, weil er sie für anachronistisch hält. Die Nutzung des Korrelationsgedankens bei der Interpretation von Husserls frühen Schriften hält er nicht für zulässig, da dessen Anwendung erst nach Entdeckung der transzendentalen Reduktion möglich sei und sie auf noetisch-noematische Korrelationsverhältnisse zu beschränken sei (vgl. de Boer (1982), 293–298). In diesem spezifischen Sinn liegt mit den LU zweifellos noch keine korrelative Untersuchungsmethode vor, und sicher lassen sich in eine Interpretation des Werkaufbaus der LU mittels des Korrelationsgedankens auch nicht
Aufgabe und Aufbau der »Logischen Untersuchungen«
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in den LU aber natürlich noch nicht das zwischen einer konstituierenden transzendentalen Subjektivität und ihren Sinngebilden. Vielmehr ist »das Verhältnis zwischen der Subjektivität des Erkennens und der Objektivität des Erkenntnisinhaltes« (XVIII,7) in den LU noch von der im Anschluß an Bolzano und Lotze entwickelten Speziestheorie der Bedeutungen bestimmt: Die Idealität der Bedeutungen als objektiver logischer Gegenstände vereinzelt sich qua Allgemeinheit in den individuellen Akten des Bedeutens, wodurch sie zu »subjektiver Realisation« kommt (XIX/1,9(A)). Die logische Objektivität hat als Bedeutungseinheit hier also die Gestalt der Allgemeinheit von Ideen, die in Bedeutungsintentionen subjektiv vereinzelt werden. Klärungsbedürftig ist für Husserls Phänomenologie in den LU mithin noch nicht das allgemeine Problem der Korrelation von jedweder transzendenten Gegenständlichkeit und einem transzendentalen Subjekt, sondern nur das zwischen einer idealen, logischen Objektivität und dem Wesen einzelner subjektiver Aktmomente, in denen diese instantiiert wird. Zwecks dieser Klärung unternimmt Husserl dann in der V. Untersuchung zunächst die Analyse von Intentionalität und ihren Inhalten, damit deutlich wird, wie überhaupt Gegenständlichkeit für uns gegeben ist. Erst die in der VI. Untersuchung vorgenommene Bestimmung der kategorialen Akte spezifiziert diese Problematik dann so, daß auch die Gegebenheit von logisch komplexer gefaßten Bedeutungseinheiten, wie Urteilen oder Sätzen untersucht wird.
4. Zusammenfassung Zur vollständigen Neubegründung der Wissenschaften im Rahmen der umfassenden Logik als Wissenschaftslehre gehört für Husserl außer dem Entwurf einer reinen Logik und der Psychologismuskritik auch die Aufgabe, das Verhältnis der idealen, rein-logischen Gegenständlichkeiten zur Subjektivität des Erkennens zu klären. Damit soll der Sinn der spezifisch logischen Idea-
alle Untersuchungen des zweiten Bandes fruchtbar einbeziehen. Gerade wenn es in den beiden letzten, phänomenologischen Untersuchungen des zweiten Bandes jedoch um Intentionalität geht, ist aber tatsächlich nichts anderes als die Bestimmung der subjektiven Gegebenheitsweisen der logischen, idealen Gegenständlichkeiten beabsichtigt, und hier besteht zwischen diesen Bedeutungen und jenen subjektiven Akten natürlich ein Korrelationsverhältnis. Im übrigen datiert Husserl seine erste Entdeckung des allgemeinen Korrelationsgedankens auch nicht erst auf die Zeit der Einführung der transzendentalen Reduktion, sondern auf die Zeit »während der Ausarbeitungen meiner ›Logischen Untersuchungen‹ ungefähr im Jahre 1898« (VI,169 Anm.). Zur Kritik an de Boer vgl. auch oben Abschnitt I, S. 29, Anm. 49.
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lität geklärt bzw. in allgemeinerer Hinsicht der Transzendenzcharakter von Gegenständlichkeit überhaupt verständlich gemacht werden. Diese universale erkenntnistheoretische Problematik versucht Husserl zu lösen, indem er bei seinen phänomenologischen Analysen der Erkenntnis keine ihrerseits noch ungeprüften wissenschaftlichen oder metaphysischen Erkenntnisse in Anspruch nimmt, sondern statt dessen möglichst voraussetzungslos vorgeht und Erkenntniserlebnisse rein immanent untersucht. Er beschränkt deswegen den Untersuchungsbereich der Phänomenologie in den LU programmatisch auf den in der reflexiven Bewußtseinsanalyse evident gegebenen reell-immanenten Bestand von Erlebnissen. Diesen Untersuchungsbereich glaubt er dabei zunächst allein dadurch hinreichend von dem der gewöhnlichen Psychologie unterscheiden zu können, daß er keine Fragestellungen nach genetischen oder kausalen Zusammenhängen zuläßt. Gleichwohl bezeichnet Husserl seine Phänomenologie beim ersten Erscheinen der LU noch als deskriptive Psychologie. Erst 1903 korrigiert er dieses Selbstverständnis, indem er den eidetischen Charakter seiner Arbeit unterstreicht. Er betont, daß die Phänomenologie im Gegensatz zu jeder Psychologie keine Einzel- und Tatsachenwissenschaft ist, sondern ihre Analysen nichtempirische Elemente und Wesensstrukturen von Erlebnissen aufweisen. Die Charakterisierung der Phänomenologie als Wesenswissenschaft ist auch gegen den Vorwurf des Rückfalls in den Psychologismus im mehr erkenntnistheoretisch ausgerichteten zweiten Band der LU geltend zu machen, da die hierin vorgenommenen Analysen von Bewußtseinserlebnissen eben statt auf faktische Bestimmungen, auf Wesensbestimmungen abzielen, so daß die Subjektivität des Erkennens nicht als empirische, sondern als eidetische in den Blick kommt. Nur wenn dies gewährleistet ist, vermag die Phänomenologie auch ihrer radikalen Begründungsaufgabe im Rahmen der universalen Wissenschaftslehre gerecht zu werden. Darin soll sie die zunächst in erkenntnistheoretisch unreflektierter Weise entworfene reine Logik erkenntnistheoretisch absichern. Husserls Idee der Logik als Wissenschaftslehre ist nämlich von Anfang an doppelseitig konzipiert, da in ihr neben der objektiv-logischen Ausrichtung auf logische Grundbegriffe und Gesetze auch eine subjektiv-erkenntnistheoretisch orientierte Analyse dieser logischen Gegenständlichkeiten steht. Diese Doppelseitigkeit spiegelt sich im Aufbau des Gesamtwerks der LU in der thematischen Ausrichtung von dessen beiden Teilbänden, die erst gemeinsam eine systematisch vollständige Einheit bilden.
Intentionalität und Bedeutung
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B. Inentionalität und Bedeutung Seit seiner Wiederentdeckung durch Brentano hat der Begriff der Intentionalität wie kaum ein anderes Thema das Interesse weiter philosophischer Kreise auf sich gezogen. Da Intentionalität als ein wesentliches Charakteristikum des menschlichen Geistes gilt, haben die Forschungen zu diesem Begriff längst die Grenzen der Phänomenologie überschritten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch schnell, daß in der Forschung über die mit dem Ausdruck »Intentionalität« bezeichnete Sache keine Einigkeit herrscht. Vielmehr gelten noch immer die Worte Heideggers, daß »dieser Ausdruck kein Losungswort, sondern der Titel eines zentralen Problems« ist, die er 1928 in der »Vorbemerkung des Herausgebers« Husserls »Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins« voranstellte45. Zwar ist nämlich auch für Husserl, auf den sich Heidegger hier unmittelbar bezieht46, die Intentionalität eine »Wesenseigentümlichkeit« (III/1,187) oder »allgemeine Grundeigenschaft des Bewußtseins«47, aber was damit genau gemeint ist, droht sich selbst bei beharrlichem Studium der ausführlichen und subtilen Intentionalitätsanalysen des Husserlschen Werkes zu entziehen und ändert sich außerdem parallel mit dem Wandel seiner Philosophie48. Wenig hilft da die Formel, gemäß der Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas ist, weil sie, obschon richtig, allzu allgemein und deshalb unzureichend bleibt49. Im Rahmen unserer Untersuchung ist die weitgreifende Problematik der Intentionalität auf einen Punkt hin zu fokussieren, von dem aus sich nur ein kleiner, aber wichtiger Ausschnitt der Husserlschen Arbeiten hierzu erschließen läßt. Zu untersuchen ist, kurz gesagt, der Zusammenhang von Intentionalität und Bedeutung. Dieser Zusammenhang muß für Husserl aus erkenntnisphänomenologischen Gründen von zentralem Interesse sein. Erstens verlangt nämlich die phänomenologische Klärung der rein logischen Begriffe, bzw. der Logik selbst, daß auf jene Erlebnisse zurückgegangen wird, die deren Bildung konstitutionstheoretisch vorausliegen. Logische Begriffe sind als Abstrakta keine schlichten, realen Gegebenheiten, sondern »höherstu45
Vgl. die Einleitung des Herausgebers zu Hua. X, S. XXV f.. Vgl. III/1,337: »Der Problemtitel, der die ganze Phänomenologie umspannt, heißt Intentionalität.« 47 I,72, vgl. 31; IX,31; XVII,170. 48 Ein knapper Überblick über die Entwicklung des Husserlschen Intentionalitätsbegriffes von den LU bis zur Krisisschrift findet sich bei Mohanty (1971). 49 Die Defizite dieser Formel stellt auch Zahavi (1992), 42 f. heraus, wobei er sich auf Husserls eigene Ausführungen aus den »Ideen I« beziehen kann (vgl. III/1,200). 46
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fige«, d.h. im schlichten Erfahren fundierte Sinngebilde, so daß für ihre radikale Sinnklärung zunächst eine Analyse der Gegebenheit der sie fundierenden Erfahrung erforderlich ist. Husserls erkenntnisphänomenologische Klärung beginnt deswegen mit einer Theorie der Erfahrung – eine Eigentümlicheit, die in seinen späteren Arbeiten zur »genetischen Logik« immer deutlicher wird. Da die Erfahrungsgrundlage für die Gewinnung rein logischer Begriffe durch intentionale Vollzüge ermöglicht wird, verlangt die Sinnklärung der Logik eine eingehende Beschäftigung mit der allgemeinen Struktur intentionaler Erlebnisse; in ihnen will Husserl »die konkreten Grundlagen für die Abstraktion der fundamentalen Begriffe […] finden« (XIX/1,379), weshalb er intentionale Erlebnisse in seiner Phänomenologie des Logischen eingehend analysieren muß. Außerdem ist die Analyse der Intentionalität für Husserl unausweichlich, weil die phänomenologische Frage nach der Weise der Gegebenheit der idealen logischen Gesetzmäßigkeiten und Bedeutungen auf intentionale Erlebnisse zurückführt. Wie wir gesehen haben, bilden die Bedeutungen als ideale Gegenstände oder Spezies die nicht psychologisierbare »Domäne der reinen Logik« (XIX/1,112), von der aus in objektiv-idealer Hinsicht die strenge Begründung von Wissenschaften erfolgt. Dabei blieben aber bisher zwei eng zusammenhängende Aspekte noch ungeklärt, nämlich erstens das Verhältnis der Gegebenheit der objektiv-idealen Gegenständlichkeiten zur Subjektivität des Aktvollzugs und zweitens die noch dringendere erkenntnistheoretische Ausweisung jener logischen Gegenstände. Daher ist die reine Logik und mit ihr auch die Psychologismuskritik in subjektiv-erkenntnistheoretischer Hinsicht hier letztlich noch nicht ausreichend begründet. Zur Klärung dieser Problematik ist die Beschäftigung mit dem Intentionalitätsbegriff notwendig, denn er wird bei Husserl von Anfang an im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Fragestellung erörtert. Erkennen wird von ihm ganz allgemein als die Erfüllung von Intentionen gefaßt, und um dies im besonderen Fall der rein-logischen Gegenstände zu verstehen, ist zunächst die grundsätzliche Kenntnis des Husserlschen Intentionalitätsbegriffs eine Voraussetzung. Dessen Analyse muß letztlich dazu dienen, aufzuhellen, wie die idealen logischen Bedeutungen subjektiv gegeben sein können. Bevor Husserl allerdings in den letzten beiden »Logischen Untersuchungen«, den »beiden phänomenologischen Hauptuntersuchungen« (XIX/2, 780), das Verhältnis von Intentionalität und Erkenntnis untersucht, setzt die Klärung der Bedeutungen bei ihrer sprachlichen Gegebenheit an. Bedeutungen sind uns nämlich »zunächst im grammatischen Gewande gegeben« (XIX/1,8), d.h. sie treten in Ausdrücken und deren Formen auf. Deswegen bestimmt bereits die I. »Logische Untersuchung« das Verhältnis von »Aus-
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druck und Bedeutung«50. Dabei zeigt sich, daß Ausdrücke zwar wesenhaft Bedeutung haben, bedeutungslose Ausdrücke mithin überhaupt keine Ausdrücke sind (vgl. XIX/1,55, 59), ihnen diese Bedeutungsfunktion aber nicht schon als bloßen Schrift- oder Lautzeichen eigen ist, sondern erst vermittels einer sinnstiftenden Deutung solcher Zeichen. Ein Ausdruck ist, gemäß Husserls terminologischer Fixierung, ein solcher erst dann, wenn physisch reale Zeichen als bedeutsame aufgefaßt werden, ihnen also eine Bedeutung gegeben wird. Für sich betrachtet sind diese Zeichen hingegen z.B. nur Druckerschwärze oder Lautfolgen. Ausdrücke sind als bedeutsame Zeichen also an eine sinngebende Deutung gebunden, die durch sinnverleihende Akte vollzogen wird. Diese bedeutungsverleihenden Akte, die für das Wesen der Sprache konstitutiv sind, nennt Husserl »Bedeutungsintentionen« (XIX/1, 44 f.). Sie richten sich in der Weise auf das bloße Zeichen, daß dieses dadurch überhaupt erst mehr als bloßes Schrift- oder Lautzeichen wird, nämlich eben bedeutsames, also auf anderes seiner selbst verweisendes. Hiermit hat Husserl die Ausdrucks- und Bedeutungsfunktion, ja das Fungieren von Sprache überhaupt, an intentionale Vollzüge rückgebunden und gezeigt, daß die tiefgreifende Klärung des Bedeutungsbegriffs nicht bei einer Analyse tatsächlich erscheinender Sprachzeichen stehenbleiben kann. Die ursprüngliche Gegebenheit der Bedeutungen ist mithin keine sprachlich-grammatische, sondern die in intentionalen Erlebnissen. Eine phänomenologische Theorie des Logischen beschäftigt sich deswegen im Unterschied zu jeder ausschließlich grammatischen oder sprachanalytischen Untersuchung nicht bloß mit Themen wie Bedeutung, Verwendungs- und Erfüllungsbedingungen von Worten und Sätzen, sondern verlangt zusätzlich ein radikale Intentionalanalyse, in der Bedeutungen von ihrer ursprünglichen Gebundenheit an die Erlebnisse der Bedeutungsintentionen her geklärt werden. Die Sprachanalyse ist, so fordert es die Phänomenologie, weiter zurückzuführen auf eine Analyse der Wesensstrukturen der Denk- und Bewußtseinsaktivitäten, in denen die Sprache und ihre logische Form ihren Ursprung haben. Angesichts dieser Aufgabe hat dann die primär an der Sprache orientierte I. »Logische Untersuchung« »im ganzen nur einen vorbereitenden Charakter« (XIX/2,779, vgl. XVIII,13), denn die ausführliche und systematische Thematisierung der Intentionalität leistet Husserl erst ab der V. »Logischen Unterschung«. Diese V. Untersuchung gibt dabei eine erste Analyse des Aufbaus und des Wesens intentionaler Erlebnisse überhaupt, womit sie ihrerseits die spezifisch phänomenologische Beantwortung der Frage nach der Gegebenheit rein logischer Gegenständlichkeiten, die erst in der VI. Untersuchung erfolgt, vorbereitet. 50
Vgl. parallel dazu auch Hua. Mat. II,51ff.
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In der Einleitung zur V. »Logischen Untersuchung« greift Husserl ein vorläufiges Resultat seiner vorangegangenen Untersuchungen nochmals auf und entwirft im Anschluß daran seine Fragestellungen: Bedeutungen, so Husserl, liegen »in« Bedeutungsintentionen, d.h. »in« Akten des Bedeutens51; ihrem idealen Charakter als Spezies entsprechen gewisse Momente in den einzelnen Akten, so daß »die Beantwortung der Frage nach dem Ursprung des Begriffes Bedeutung« (XIX/1,352) zunächst eine allgemeine Beschäftigung mit diesen Akten verlangt. Zu klären ist (1.), was Akte überhaupt sind, worin also ihr »Wesen« besteht. Darüber hinaus ist zu untersuchen, in welchem Sinne dann von »Inhalten« dieser Akte die Rede sein kann, da ja Bedeutungen in irgendeiner Weise solche Inhalte von Akten sein sollen. In der Phänomenologie des Logischen muß demgemäß den sogenannten Bedeutungsintentionen besondere Aufmerksamkeit zukommen, da sich gerade in ihnen die Idealität des Logischen konkret instantiiert. Erst daran anschließend wird zu klären sein, wie wir mittels Intentionalität zu Erkenntnis (2.) und schließlich auf der Grundlage von fundierenden Einzelakten zur Erkenntnis von höherstufigen formalen und allgemeinen Gegenständen oder Bedeutungsspezies gelangen können. Die Beantwortung dieser letzten Frage bildet gewissermaßen den Schlußstein der phänomenologischen Klärung der reinen Logik, den Husserl mit der Lehre von der kategorialen Anschauung erst in der VI. »Logischen Untersuchung« setzt. Der Untersuchung dieser erkenntnisphänomenologischen Ausweisung des Logischen wende ich mich erst im abschließenden Kapitel C zu.
1. Bewußtsein als intentionales Erlebnis Alle diese Fragen knüpft Husserl in der V. »Logischen Untersuchung« an eine Näherbestimmung des Bewußtseinsbegriffs an. Dies ist sinnvoll, weil alles, was uns überhaupt irgendwie gegeben ist, bewußtseinsmäßig gegeben ist und außerdem die Klasse der intentionalen Erlebnisse nur eine Teilklasse der Bewußtseinserlebnisse überhaupt bildet. Daher ist es zweckmäßig, zunächst allgemein zu klären, in welchem Sinne hier von »Bewußtsein« die Rede ist. Um Äquivokationen vorzubeugen, unterscheidet Husserl drei verschiedene Begriffe von Bewußtsein: Der erste betrifft die interne Verbindung von Erlebnissen zur Einheit eines Bewußtseinsganzen; der zweite die Weise des 51
Den Ausdruck »Akt« gebraucht Husserl synonym mit »intentionales Erlebnis« (vgl.
XIX/1,392, 469).
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immanenten Zugangs zu den Erlebnissen durch ein »inneres Gewahrwerden«52. Erst der dritte Bewußtseinsbegriff bezieht sich dann explizit auf die in unserem Zusammenhang entscheidende Problematik der Intentionalität, denn er betrifft das »Bewußtsein als zusammenfassende Bezeichnung für jederlei ›psychische Akte‹ oder ›intentionale Erlebnisse‹.« (XIX/1,356) Bewußtsein wird hier als Gattungsbegriff für alle Arten von intentionalen Erlebnissen angesprochen, so daß die Klärung dieses Bewußtseinsbegriffs die Analyse von »intentionales Erlebnis« erforderlich macht. Sie erfolgt im zweiten Kapitel der V. »Logischen Untersuchung«. Schon die Überschrift zu diesem Kapitel ist aufschlußreich: Hieß es hier nämlich in der ersten Auflage der LU »Bewußtsein als psychischer Akt«, so ändert Husserl dies bei der zweiten Auflage in »Bewußtsein als intentionales Erlebnis«. Beides kann offenbar nicht gleichbedeutend sein, obwohl dies im § 1 der V. Untersuchung bei der oben zitierten Nennung des nun näher zu untersuchenden dritten Bewußtseinsbegriffs noch so zu sein schien, da dort diese beiden Bestimmungen gleichrangig nebeneinander standen und durch die Konjunktion »oder« verbunden waren. Wenn aber der intentionale Charakter der Erlebnisse ein bloß psychischer ist, dann fällt seine Erforschung auch entsprechend der Psychologie zu und diese wäre folglich für die Untersuchung der erkenntnistheoretischen Grundlagen der reinen Logik zuständig. Dieser Auffassung konnte Husserl nur so lange sein, wie er Phänomenologie noch als deskriptive Psychologie verstand. Nachdem er eingesehen hatte, daß die Tatsachenwissenschaft Psychologie für die erkenntnistheoretische Begründung einer nichtempirischen Wissenschaft immer unzureichend bleiben muß, konnte er die Grundlagen der reinen Logik nicht mehr für bloß psychologische halten. Intentionalität als Gegenstand der Erkenntnistheorie kann m.a.W. keine rein psychologisch oder empirisch vollkommen erklärbare Eigenschaft sein, wenn der erkenntnistheoretische Psychologismus vermieden werden soll. Diese Einsicht spiegelt sich in der Änderung der Überschrift zum zweiten Kapitel in der zweiten Auflage der LU, da nach ihr Bewußtsein als intentionale Grundlage der reinen Logik nicht mehr ohne weiteres als etwas bloß Psychisches bezeichnet werden kann. 52
Vgl. XIX/1,356 sowie zum ersten Bewußtseinsbegriff auch Hua. Mat. III,172: »Bewußtsein ist uns ein Sammelname für gegebene Erlebnisse, wie Anschauungen, Urteile usw.« Die beiden ersten Bewußtseinsbegriffe behandelt ausführlich eine Untersuchung von Marbach, der unter anderem die Schwierigkeiten bei der Konzeption der Bewußtseinseinheit in den LU herausstellt (vgl. Marbach (1974), 1–22). Auf die Defizite der LU hinsichtlich der Erklärung der Konstitution der Bewußtseinseinheit weist auch Cramer (1974), 537–548 hin.
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Die inhaltliche Bestimmung des hier relevanten Bewußtseinsbegriffs gewinnt Husserl dann in einer Auseinandersetzung mit Brentanos Begriff des psychischen Phänomens aus der »Psychologie vom empirischen Standpunkt« (1874). Brentano teilt alle Phänomene in psychische oder physische ein und bemüht sich zwecks Fixierung des Gegenstandsbereichs der Psychologie als der Wissenschaft von den psychischen Phänomenen anschließend um eine genaue Bestimmung der Charakteristika von den psychischen Phänomenen. Von diesen Brentanoschen Charakteristika des Psychischen sind zwei für Husserls Erkenntnisphänomenologie ganz besonders wichtig: Psychische Phänomene sind erstens intentional verfaßt und sie sind zweitens entweder Vorstellungen oder haben solche zur Grundlage. Wie Husserl, werde ich beide Bestimmungen hier nacheinander erläutern und mit der Intentionalität beginnen.
a) Die Differenzierung des »Inhalts« intentionaler Erlebnisse Gemäß Brentanos Wiederentdeckung der Intentionalität besteht der intentionale Charakter psychischer Phänomene darin, daß sie eine »Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit [… haben]. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw.«53 Kurz danach definiert Brentano die psychischen Phänomene dadurch, daß er sagt, »sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten«54 – für Husserl liegt damit »eine essentielle Definition« (XIX/1,382) vor, an die er anknüpft. Die Schwierigkeiten bei diesen Charakterisierungen des Intentionalen bestehen nun aber darin, zu verstehen, was mit diesem »enthalten«, d.h. der immanenten Gegenständlichkeit oder »intentionale[n] Inexistenz«55 genau gemeint ist und wie es hier zu der eigentümlichen Gerichtetheit der psychischen Phänomene kommt. 53
Brentano (1874), 124 f. Diese vielzitierte Bestimmung des intentionalen Charakters von psychischen Phänomenen, bildet den Ausgangspunkt der modernen Beschäftigung mit der Intentionalität. Dementsprechend oft ist sie in der Literatur kommentiert und erläutert worden. Mit besonderem Bezug auf Husserl vgl. hierzu z.B. Brück (1933), 21ff.; Spiegelberg (1936), 85 ff.; (1982), 36 ff.; Morrison (1970); de Boer (1978), 40–46; Hedwig (1979); Stadler (1987); Prechtl (1989); Münch (1986), (1993), 35–80 und Ta˘ na˘sescu (2000). 54 Brentano (1874), 125. 55 Brentano (1874), 124.
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Obwohl Husserl die grundsätzliche Bedeutung von Brentanos Bestimmungen immer wieder betont, beantwortet er die an sie geknüpften Fragen anders und vor allem differenzierter als sein Lehrer: Husserl stellt zunächst klar, daß die immanente Gegenständlichkeit den Erlebnissen nicht so eigen ist, wie reale Teile einem Ganzen; sie gehören also nicht so zu ihnen, wie etwas in eine Schublade gehört56. Das Verhältnis von intentionalem Erlebnis zu seinem »Inhalt« ist nicht das einer realen Ineinanderschachtelung. Auch ist die intentionale Beziehung der Akte kein realer Vorgang zwischen wirklich existierenden Relata, nämlich einem Ich oder Erlebnis auf der einen und einem Objekt auf der anderen Seite. Denn erstens kann sich die Bezugnahme auch auf fiktive oder bloß phantasierte Gegenständlichkeiten richten und zweitens ist die intentionale Eigentümlichkeit von Erlebnissen überhaupt falsch gefaßt, wenn sie verdinglichend als empirische oder reale verstanden wird. Husserl entwickelt dagegen in deutlicher Abgrenzung zu Brentano eine folgenreiche eigene Differenzierung des »Inhalts« von Intentionen, indem er einen »reellen« Inhalt oder Bestand vom »intentionalen« unterscheidet. Diese Unterscheidung haben wir im vorangehenden Kapitel schon kennengelernt, da Husserl sie in der Einleitung zur ersten Auflage der LU anspricht: Um den radikalen erkenntnistheoretischen Anspruch seiner Phänomenologie zu verwirklichen, fordert er dort die Beschränkung ihres Untersuchungsgebiets auf den reellen Bestand der Bewußtseinsimmanenz, da dieser zweifellos in evidenter Weise gegeben ist (vgl. XIX/1,28(A)). Reell immanent sind nämlich die ein Gesamterlebnis aufbauenden Teilerlebnisse, wie etwa fundierende Vorstellungen bei komplexen Erlebnissen oder Empfindungen als unmittelbar sinnlich gegebene Aktmomente. Diese Empfindungen sind für Husserl zwar mental, aber – anders als bei Brentano – nicht selbst intentional. Sie haben von sich selbst her noch keinen Gegenstandsbezug und gewinnen diesen auch nicht durch bloße Verschmelzung oder Assimilation mit anderen Empfindungen. Dies betont Husserl gegen die letztlich atomistisch ausgerichtete Assoziations- und Elementenpsychologie seiner Zeit, die annahm, daß psychische Phänomene, wie z.B. Wahrnehmungen, aus bloßen Komplexionen von Daten erklärbar sein müßten57. Statt dessen bedarf es zur Konstitution des Gegenstandsbezuges einer »objektivierenden« oder »be56
Vgl. XIX/1,385 ff., 169; Hua. Mat. III,114. Daß der Gegenstandsbezug nicht auf irgendeinen bloßen Assoziationsvorgang reduziert werden kann, wendet Husserl explizit gegen »die moderne Apperzeptionslehre« ein (XIX/1,398). Laut Holenstein, der das psychologiehistorische Umfeld von Husserls Wahrnehmungslehre umfassend sondiert hat, richtet sich diese Kritik insbesondere gegen die Herbartsche Schule der Psychologie. Vgl. Holenstein (1972), 139 ff. 57
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seelenden Auffassung« der Empfindungen, die diese deutend auf etwas anderes hin überschreitet. Gegenständlichkeit bildet sich also nicht von selbst, sondern ist an unsere sinnhafte Deutung oder Auffassung von Empfindungen als reell bewußtseinsimmanenten Erlebniskomponenten gebunden. Es gibt m.a.W. keine Gegenständlichkeit ohne diese für sie konstitutive Sinnstiftung. Da »Sinn« und »Bedeutung« in den LU noch nicht unterschieden werden (vgl. XIX/1,58), heißt dies auch, daß sich für uns erst mittels der Bedeutungen bzw. der bedeutungsgebenden Akte Gegenständlichkeit konstituiert: Nur »in der Bedeutung konstituiert sich die Beziehung auf den Gegenstand« (XIX/1, 59) – ohne bedeutungsverleihende Akte gäbe es keine Gegenstände und keine Welt. Innerhalb des umfassenden Sinnstiftungs- oder Auffassungszusammenhangs weist Husserl dem reellen Bestand der intentionalen Erlebnisse die funktionale Rolle eines »darstellenden« oder »präsentierenden« Inhalts zu. Dieser Inhalt ist innerhalb des deutenden Aktes nie selbst gegenständlich bewußt, da das intentionale Bewußtsein sozusagen über sich hinaus gerichtet ist, sich also transzendiert und deswegen thematisch immer bei anderem seiner selbst ist58. Daher können die Empfindungen, bzw. der reelle Bestand überhaupt, erst in einer reflexiv gerichteten Intentionalanalyse selbst gegenständlich werden59. Gleichwohl ist Husserls Annahme eines reellen, bewußtseinsimmanenten Empfindungsbestandes keine reine Konstruktion, da sie sich mit deskriptiven Befunden durchaus stützen läßt. Offensichtlich gibt es nämlich Situationen, in denen wir angesichts derselben sinnlichen Gegebenheiten (derselben Empfindungen) unterschiedliche gegenständliche Auffassungen vollziehen. Als Beispiele hierfür nennt Husserl bekanntlich den sogenannten Panoptikumsscherz, bei dem diesselbe erscheinende Raumgestalt als Puppe oder als leibhaftige Person aufgefaßt wird, und die unterschiedliche Deutung von gewissen Mustern oder Arabesken, die einmal rein ästhetisch wirken, sich außerdem aber auch als bedeutsame Zeichen und Schriftzüge zeigen (vgl. XIX/1,398). Das von den zeichenauffassenden Bedeutungsintentionen her gewonnene sogenannte Inhalts-Auffassungsmodell der Intentionalität soll so auch im Bereich der gegenstandskonstituierenden Wahrnehmung phänomenologisch ausweisbar sein. Wie wir noch sehen werden, 58
Vgl. z.B. Hua. Mat. II,74 oder XIX/1,387: »Ich sehe nicht Farbenempfindungen, sondern gefärbte Dinge, ich höre nicht Tonempfindungen, sondern das Lied der Sängerin usw.« 59 In den »Ideen I« spricht Husserl in diesem Zusammenhang von einer »Empfindungsreflexion« (III/1,226). Sie macht das vorher nur »Erlebte« aber nicht sogleich »Gegenständliche« explizit thematisch. Vgl. auch XIX/2,669: »Erlebtsein ist nicht Gegenständlichsein.«
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versucht Husserl in den LU aber, es auch auf die Konstitution der rein logischen Gegenständlichkeiten zu übertragen. Außer dem reellen Erlebnisinhalt, den wir nun schon im Zusammenhang mit seiner gegenständlichen Auffassung vorgestellt haben, haben die Akte einen »intentionalen Inhalt«. Ihn berücksichtigt in den LU Husserl viel ausführlicher als den reellen Inhalt, weil er, wie seine Benennung schon anzeigt, für die Eigentümlichkeit der intentionalen Erlebnisse überhaupt die entscheidende Rolle spielt. Er kommt für die Bestimmtheit des Gegenstandsbezugs und für den Bedeutungsgehalt der Akte auf. Da sich letztlich ohne Kenntnis dieser Bestimmtheit auch keine fruchtbare Analyse des reellen Aktinhalts führen läßt, es also nicht möglich ist, die meinenden Akte zu beschreiben, ohne die darin gemeinte Sache zu berücksichtigen (vgl. XIX/1,16), kann sich die Phänomenologie de facto gar nicht auf eine Analyse bloß reeller Inhalte beschränken60. Die von Husserl ursprünglich geforderte Beschränkung des phänomenologischen Forschungsfeldes auf den reellen Bestand erweist sich somit als eine programmatische Kautele, die in der Sorge um die erkenntnistheoretische Reinheit der Phänomenologie begründet ist. Husserl fürchtet, durch die Einbeziehung irgendeiner Gegenständlichkeit den methodisch gesicherten reellen Immanenzbereich seiner Aktanalyse verlassen zu müssen und fordert daher – programmatisch – die strikte Reduktion der Analyse auf den aus Empfindungen und fundierenden Teilakten bestehenden reellen Erlebnisbestand. Spätestens nach der Einführung der Epoché und der in ihr gefundenen methodischen Selbstsicherheit der Phänomenologie sind diese Sorgen für Husserl verflogen, da er dann das in den Akten jeweils korrelativ Gemeinte als Noema nicht nur in seine Analysen einbeziehen, sondern sogar gezielt in deren Mittelpunkt stellen kann. Zur immanenten Struktur des Aktes gehören schließlich nicht nur Empfindungen und eine Weise des Meinens, sondern immer auch ein Gemeintes als solches, also ein Noema. Von daher kritisiert Husserl in den »Ideen I« dann die programmatische Zielsetzung der LU als defizitär, weil einseitig noetisch (vgl. III/1,217, 296, 298). Anstelle dieser späteren, noematischen Ausrichtung der Phänomenologie steht in den LU, die ja methodisch aus der Weiterentwicklung der älteren »psychologischen Analyse« entstammen, noch die möglichst vorurteilslose Aktbeschreibung, bei der in der Tat aber gleichfalls schon der inten60
Zu dieser Einsicht, die bereits in der Einleitung der ersten Auflage der LU zum Ausdruck kommt, schreibt Husserl 1909 rückblickend: »In meinen LU habe ich bei der Rede von Phänomenologie immer an die Akte gedacht und sie als Wissenschaft von den Akten in rein immanenter Betrachtung verstanden. Eine Wissenschaft von den Akten führt nun von selbst auf nicht nur reelle, sondern auch intentionale Analysen, also auf Sinnesanalysen.« (X,337, vgl. auch III/1,296)
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tionale Inhalt der Akte berücksichtigt wird. Skizzieren wir daher kurz, woraus dieser intentionale »Inhalt« besteht: Die Rede vom »intentionalen Inhalt« der Akte muß, gemäß Husserl, in drei unterschiedliche Momente gegliedert werden (vgl. XIX/1,413): den intentionalen Gegenstand, die intentionale Materie und das intentionale Wesen. Was ist hierunter zu verstehen? Der erste Begriff intentionalen Inhalts bedarf laut Husserl »keiner umständlichen Vorbereitungen. Er betrifft den intentionalen Gegenstand, z.B. wenn wir ein Haus vorstellen, eben dieses Haus« (XIX/1,414). Hier geht es also um das jeweils thematische Objekt der Akte, das deren Korrelat ist. Dabei kann derselbe intentionale Gegenstand von verschiedenen Akten gemeint sein. Wenn wir etwa um das Haus herumgehen, so ist der Gegenstand welcher intendiert ist, immer derselbe, aber die Weise wie er intendiert ist, immer eine andere (vgl. XIX/1,414, 440). Die Akte verbinden sich hierbei untereinander synthetisch und konstituieren so in einer Deckungssynthesis einen einförmigen, schlichten intentionalen Gegenstand. Ein intentionaler Gegenstand kann aber auch aus verschiedenen Akten mit jeweils unterschiedlichen Gegenständen komplex aufgebaut sein. Dies ist bei Sachverhalten der Fall, denen als intentionalen Gegenständen komplexer gefügte Aktzusammenhänge mit Teilakten und Fundierungsbeziehungen entsprechen. Der intentionale Gegenstand kann also sowohl ein einförmig-schlichter als auch ein komplexer-höherstufiger Gegenstand sein; in beiden Fällen läßt er sich gewissermaßen als der »Zielpunkt« (XIX/1,414) der Intention begreifen61. Auf welchen intentionalen Gegenstand sich ein Akt jeweils bezieht, wird durch das zweite Moment des intentionalen Erlebnisinhalts festgelegt, also durch seine »intentionale Materie«. Sie bestimmt in vollkommener Weise den Gegenstandsbezug, ist also »dasjenige am Akte, was ihm die Richtung gerade auf diesen und keinen anderen Gegenstand erteilt« (XIX/1,428). In einer Aktanalyse von »Materie« zu sprechen ist vielleicht mißverständlich und irreführend, wenn das Wort in seiner gewöhnlichen Verwendung verstanden wird. Husserl denkt hierbei natürlich nicht an irgendwelche realen oder gar materiellen Grundlagen eines intentionalen Erlebnisses, sondern an seinen immanenten gegenständlichen Sachgehalt oder seine gegenständliche Bestimmtheit, also an das, »was ihm allererst die Beziehung auf ein Gegenständliches verleiht« (XIX/1,429). Was Husserl hiermit meint, nennt er treffender auch den »Sinn der gegenständlichen Auffassung« oder den »Auffas61
Vgl. zum »intentionalen Gegenstand« ausführlicher: Grünewald (1977), 43 ff., Rang (1990), 143 ff. und Vongehr (1995), 97–105.
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sungssinn« der Akte62. Zwischen »Sinn« und »Bedeutung« macht Husserl in den LU noch keinen Unterschied, so daß die intentionale Materie hinsichtlich der Bedeutungsfunktion der Akte die entscheidende Rolle spielt. Worauf wir uns nämlich in einer Intention gegenständlich richten, d.h. auf was wir einen reell gegebenen Empfindungsbestand auffassend beziehen, wird voll und ganz durch den Sinn der Akte bestimmt. Deswegen kann auch niemals ein und derselbe Sinn zu einer unterschiedlichen Bezugnahme führen. Gleichwohl kann aber diesselbe Gegenständlichkeit vermittels unterschiedlicher Sinne (Materien) intendiert werden, was Husserl unter anderem an dem Beispiel des gleichseitigen Dreiecks und des gleichwinkligen Dreiecks verdeutlicht (vgl. XIX/1,429). Das Beispiel zeigt, daß durch die intentionale Materie außer dem Gegenstandsbezug auch die Weise der Bezugnahme eindeutig festgelegt wird. Da mithin dasjenige, »was« im Akt vorgestellt wird, d.h. was in ihm gemeint oder »bedeutet« wird, von der intentionalen Materie determiniert wird, neigt Husserl fast dazu, »die Bedeutung geradezu als diese ›Materie‹ zu definieren« (XIX/2,617), womit unsere Ausgangsfrage nach dem Wie der subjektiven Gegebenheit der Bedeutungen bereits kurz vor ihrer Beantwortung stünde: Bedeutungen wären in der Weise mit intentionalen Erlebnissen verbunden, daß sie als deren »Materie« ein internes Moment ihres intentionalen Inhalts wären; sie wären in der Aktmaterie subjektiv instantiiert. Doch liegen die Dinge hier noch komplizierter, weil die Aktmaterie nicht isoliert, sondern immer nur in Einheit mit der sogenannten »Aktqualität« vorkommt: Unter »Aktqualität« versteht Husserl die Modalität, in der etwas von uns vermeint ist. Dies kann fragend, zweifelnd, wünschend, hoffend, behauptend oder in noch vielen anderen Modi geschehen; immer vollzieht sich unsere Stellungnahme zu etwas in irgendeiner dieser Qualitäten. Husserl wird all diese subjektiven Einstellungen in den »Ideen I« als Setzungsqualitäten oder Setzungscharaktere bezeichnen (vgl. III/1,305). Diese Qualität kann angesichts derselben Gegenständlichkeit beliebig variieren, weshalb man denselben Gehalt behaupten, erhoffen, bezweifeln, erfragen usw. kann. Ebenso können mit all diesen subjektiven Einstellungen natürlich beliebig verschiedene Materien kombiniert sein. Wichtig ist, daß alles, was von uns überhaupt gegenständlich gemeint sein kann, immer in irgendeiner Qualität gemeint ist. Es kann damit keine intentionale Materie ohne eine intentionale Qualität geben. Diese Einsicht in die Grundstruktur des intentionalen Inhalts von Akten bringt Husserl endlich dazu, auch das dritte Moment des intentionalen 62
Vgl. XIX/1,430. In den »Ideen I« ersetzt dann die Rede vom Sinn der Akte die von der intentionalen Materie gänzlich (vgl. z.B. III/1,305).
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Inhalts, nämlich das »intentionale Wesen« aller möglichen intentionalen Erlebnisse zu bestimmen. Es liegt in eben jener Einheit von Materie und Qualität, die allen Akten eigen und mithin wesentlich ist. Diese Einheit der sich einander wechselseitig fordernden Momente von Materie und Qualität gehört zur allgemeinen Struktur aller Akte, da »Qualität und Materie als die durchaus wesentlichen und daher nie zu entbehrenden Bestandstücke eines Aktes gelten müssen« (XIX/1,431). In dieser Einheit ist somit die ganz umfassende Eigenheit aller intentionalen Erlebnisse, also deren Wesen gefunden. Allerdings kann dieses wesentliche Charakteristikum nicht gleichzeitig auch den je spezifischen Aufbau einzelner Akte oder etwa den Unterschied zwischen Anschauungen und bloßen Leermeinungen hinreichend erklären. Mit den Komponenten des intentionalen Wesens läßt sich also keine vollständige Analyse aller deskriptiven Aktmomente leisten, so daß, wie wir noch sehen werden, Akte mit demselben intentionalen Wesen sonst durchaus verschieden sein können. Um der näheren Spezifikation der intentionalen Erlebnisse gerecht werden zu können, muß die Intentionalanalyse entsprechend noch weiter geführt werden. Für die Bedeutungsfunktion der Akte ist mit dem intentionalen Wesen jedoch bereits die entscheidende Aktkomponente gefunden. In jenen Akten, die sinngebenden Charakter haben, d.h. bei den sogenannten Bedeutungsintentionen, die den Zeichen und Ausdrücken erst ihren Sinn verleihen, liegt der Bedeutungsanteil nämlich genau in ihrem intentionalen Wesen. Bei den Bedeutungsintentionen nennt Husserl das intentionale Wesen deswegen explizit das »bedeutungsmäßige Wesen« (vgl. XIX/1,431ff.). Es ist der Anteil des deskriptiven Inhalts von Bedeutungsintentionen, der deren Bedeutung festlegt. Das heißt, daß verschiedene Akte, die ein identisches bedeutungsmäßiges Wesen aufweisen, aber sonst durch deskriptive Momente wie Intensität, Fülle des intuitiven Gehalts, Lebendigkeit des Vollzugs und weitere subjektive Färbungen unterschieden sind, dennoch alle denselben Sinn haben. Akte mit identischem bedeutungsmäßigem Wesen, aber sonst differierendem deskriptiven Gehalt haben denselben Wahrheitswert (vgl. XIX/1, 433, XIX/2,617). Für die Erläuterung des Zusammenspiels von Leerintentionen und ihren anschaulichen Erfüllungen in Erkenntnisfällen wird diese Möglichkeit der Unterscheidung von Einzelakten mit gleichwohl identischen wahrheitswertrelevanten Beständen zentral werden. Diese Erklärung der Tatsache, daß einzelne, ja individuell je und je verschiedene Intentionen streng identische Bedeutungsmomente haben können, erfolgt aber zunächst gewissermaßen »von oben«: Ausgehend von der in den »Prolegomena« und den ersten beiden »Logischen Untersuchungen« mehrfach betonten Identität und Idealität der Bedeutungsspezies, faßt Hus-
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serl das bedeutungsmäßige Wesen von einzelnen Intentionen als deren konkretes »phänomenologisches Korrelat« (vgl. XIX/1,435). Husserls Idee ist dabei, daß sich die idealen Bedeutungen als Spezies im Fall ihrer subjektiven Realisation in den bedeutungsmäßigen Wesen der Akte vereinzeln. Gemäß dieser von Lotzes Platonismus beeinflußten Speziestheorie der Bedeutung verhält sich die ideale Bedeutung zum konkreten bedeutungsmäßigen Wesen der Akte so wie der ideale und abstrakte Gegenstand »Röte« zu den einzelnen roten Objekten63. Husserl schreibt: »Der Bedeutung entspricht im konkreten Akt des Bedeutens ein gewisses Moment, das den wesentlichen Charakter dieses Aktes ausmacht, d. i. jedem konkreten Akt, in dem sich diese selbe Bedeutung ›realisiert‹, notwendig zugehört.« (XIX/1,320; vgl. Hua. Mat. II,69) Diese Konzeption der Vereinzelung des Ideal-Allgemeinen im konkret-besonderen bedeutungsmäßigen Wesen des Aktes vermag zwar eine Bestimmung der Gegebenheit der idealen Bedeutungen in Momenten der Akte zu geben, setzt aber immer schon identische Bedeutungsspezies voraus, so daß sie keinen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach der phänomenologischen Begründung der reinen Logik leistet. Die Theorie der Vereinzelung der Bedeutungsspezies in einzelnen Aktmomenten ist eine Theorie »von oben«, die die Beziehung der idealen logischen Gegenständlichkeiten zur konkreten Erlebnissphäre nur einseitig klärt; sie läßt die erkenntnistheoretische Frage nach der phänomenologischen Rechtfertigung der Annahme einer solchen Region von identischen Bedeutungsentitäten unbeantwortet. Allerdings deutet Husserl in der V. »Logischen Untersuchung« bereits an, daß den idealen Bedeutungen nicht nur die konkreten Momente des bedeutungsmäßigen Wesens »entsprechen«, sondern daß jene Bedeutungsspezies »nichts anderes« als diese Momente sind, wenn diese nur »ideal gefaßt« werden (XIX/1,352). Das bedeutungsmäßige Wesen soll mithin den evident gegebenen Ausgangspunkt für die ideierende Abstraktion der idealen Bedeutungen bilden und trägt somit gewissermaßen die Hauptlast bei der erkenntnistheoretischen Ausweisung der Idealität des Logischen (vgl. XIX/1,431). Was es jedoch heißen soll, Aktmomente in einer solchen Abstraktion derart ideal zu fassen, und wie Husserl diese ideierende Abstraktion oder Wesensschau als »von unten« ausgehende Begründungsmethode im einzelnen konzipiert, werden wir erst im folgenden Kapitel (C. 3) betrachten. Hier kann zunächst ein Zwischenresultat in unserer Beschäftigung mit Husserls Bestimmung der Intentionalität und ihrer Inhalte festgehalten werden. Danach sind intentionale Erlebnisse so verfaßt, daß in ihnen vermittels einer Sinngebung (Auffassungssinn) in unterschiedlicher subjektiver Einstel63
Vgl. XIX/1,106; XXII,157 sowie oben Kapitel II. D. 2.
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lung (Qualität) ein reeller Erlebnisinhalt (z.B. Empfindung) auf eine Gegenständlichkeit (intentionaler Gegenstand) hin transzendiert wird. Diese komplexe Bestimmung analysiert Husserl in den ersten beiden Kapiteln der V. »Logischen Untersuchung« im Ausgang von der viel undifferenzierteren Brentanoschen Charakterisierung psychischer Phänomene und ihrer Eigenheit, eine »immanente Gegenständlichkeit« und eine »Richtung auf ein Objekt« zu haben64. Husserls genauere Bestimmung der Intentionalität betrifft alle intentionalen Erlebnisse. Sie ist als Wesensbestimmung daher so allgemein, daß sie die spezifischen Unterschiede verschiedener intentionaler Vollzüge, wie etwa die zwischen Wünschen, Gemütsregungen oder Erkenntnissen, noch nicht im einzelnen berücksichtigen kann. Zur besonderen Charakterisierung von Erkenntnisakten, denen im Rahmen der beabsichtigten erkenntnistheoretischen Ausweisung der reinen Logik natürlich ein bevorzugtes Interesse gelten muß, sind deswegen weitere Schritte in der Intentionalanalyse erforderlich.
b) Die grundlegende Funktion der objektivierenden Akte Den nächsten Schritt der Analyse der Intentionalität macht Husserl in den Kapiteln 3–5 der V. »Logischen Untersuchung«. Hier setzt er sich mit der zweiten (vgl. oben S. 194) für ihn wichtigen Brentanoschen Charakterisierung der psychischen Phänomene auseinander. Dabei geht es um die Frage, ob sich der Gegenstandsbezug von allen intentionalen Erlebnissen einer eigenen Klasse von gegenstandsgebenden Erlebnissen verdankt – den Vorstellungen. Für Brentano ist dies der Fall. Er nimmt an, daß alle psychischen Phänomene entweder selbst Vorstellungen sind oder auf solchen als ihrer Grundlage beruhen. Laut Brentano, für den alle psychischen Erlebnisse intentional, also gegenstandsbezogen sind, kann nur so der Gegenstandsbezug von solchen Akten wie Wertungen, Wünschen, Freuden oder anderen Gemütsbewegungen erklärt werden. Brentano meint, daß derartige Erlebnisse in der Weise komplex verfaßt sind, daß sich ihre eigentümlichen subjektiven Verhaltungen oder emotiven Einstellungen auf zugrundeliegenden Vorstellungen aufbauen, denen sie ihren gegenständlichen Bezug verdanken. Wenn also psychische Phänomene nicht schon von sich aus gegenstandsbezogen sind – wie die Vorstellungen – dann müssen sie als intentionale Erlebnisse zumindest in Vorstellungen fundiert sein. 64
Eine knappe Strukturanalyse der intentionalen Sinngebungen gibt Husserl auch in seiner Erkenntnistheorievorlesung von 1902/03 (vgl. Hua. Mat. III,99 ff.).
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Husserls Erwägungen zu dieser These von Brentano sind umfangreich und verschlungen. Ihre leitende Problematik ist bei dem bisherigen Stand von Husserls Auseinandersetzung mit der Intentionalität aber wichtig, denn bisher hat er mit dem »intentionalen Wesen« ja nur eine sehr allgemeine Bestimmung intentionaler Erlebnisse erarbeitet, bei der diese ungeachtet ihrer spezifischen Verschiedenheit gleichrangig behandelt wurden. So wurde weder die besondere Struktur der Erkenntnisakte eigens qualifiziert noch deren Verhältnis zu anderen Klassen innerhalb der Gattung der intentionalen Erlebnisse, wie etwa denen aus der »Gemüts- und Willenssphäre« behandelt. Eine die umfassende Bestimmung aller intentionalen Erlebnisse spezifizierende Charakterisierung von Bedeutungsintentionen und Erkenntniserlebnissen steht mithin noch aus. Brentanos These bietet angesichts dieser Defizite scheinbar eine Hilfe, weshalb Husserl sie ausführlich diskutiert. Ich werde mich hier aber darauf beschränken, die Resultate dieser Diskussion zusammenzufassen65: Husserls Stellungnahme zu Brentanos These ist ambivalent: Er wirft ihm einerseits eine äquivoke Verwendung des Terminus »Vorstellung« vor (vgl. XIX/1,474 ff.), deren Auflösung ihn seinerseits am Ende der V. »Logischen Untersuchung« dazu bringt, dreizehn verschiedene Bedeutungen von »Vorstellung« minuziös zu unterscheiden. Außerdem kritisiert er Brentanos Annahme einer eigenständigen Klasse von bloßen Vorstellungen, die selbst ohne Setzungscharakter sein sollen, also so etwas wie isolierte Aktmaterien darstellen, und als solche dann Fundierungsaufgaben bei den Gemüts- und Willensakten erfüllen sollen. Statt dessen verteidigt Husserl seine Einsicht in das intentionale Wesen aller intentionalen Erlebnisse auch im Bereich der sogenannten »bloßen Vorstellungen«. Demgemäß findet sich auch bei diesen elementaren gegenstandsgebenden Vorstellungen der wesentliche Unterschied von Aktqualität und Aktmaterie, nämlich als Komplexion eben einer setzenden oder nichtsetzenden Vorstellungsqualität mit irgendeinem vorgestellten Sachgehalt. Im Unterschied zu Brentanos Konzeption der fundierenden Vorstellungen kann es also für Husserl keine letztfundierenden Vorstellungen im Sinne von isolierten Aktmaterien geben. Trotz dieser Kritik an Brentano gilt andererseits aber auch für Husserl, daß die Akte der Gemüts- und Willenssphäre fundierte Akte sind und sie nur dank einer Fundierungsbeziehung überhaupt intentional, also gegenstands65
Die Kapitel 3–5 der V. »Logischen Untersuchung«, in denen Husserl in Auseinandersetzung mit Brentanos These seine Konzeption der objektivierenden Akte gewinnt, sind in der Forschung mehrfach kommentiert worden. Die ausführlichsten Erläuterungen hierzu finden sich bei Heuer (1989), 35–71 und Vongehr (1995), 118–152. Vgl. zu dieser Thematik auch Hua. Mat. III,148 ff.
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bezogen sind. Fundiert sind sie jedoch nicht in setzungsfreien Vorstellungen oder isolierten Materien, sondern in eigenen Akten – den sogenannten »objektivierenden Vorstellungen« oder »objektivierenden Akten« – die jeglichen Gegenstandsbezug vermitteln. Im elementarsten Fall vollzieht sich diese Bezugnahme bei Nennungen von etwas, d.h. in schlichten, nominalen Akten. Die Materie der objektivierenden, vorstellig-machenden Akte kann aber auch eine komplexere Zusammensetzung aufweisen, wie es bei den Urteilen, d.h. den propositionalen Akten geschieht. Das Gemeinsame der objektivierenden Akte liegt unabhängig davon, ob sie nominale oder propositionale sind, darin, daß in ihnen eine Beziehung auf eine Gegenständlichkeit vollzogen wird. Deswegen haben sie innerhalb der erkenntnistheoretischen Problematik der LU gegenüber den in ihnen fundierten, nicht-objektivierenden Akten der »Gemüts-und Willenssphäre« eine besondere Funktion. Diese vorstellig-machende Funktion haben wir oben vorzugsweise in der Aktmaterie vermutet, dann aber gesehen, daß die Materie in allen Akten nur in Kombination mit einer Aktqualität vorkommen kann. Nun ist mit Husserl darüber hinaus festzuhalten, daß die Materie von allen intentionalen Erlebnissen immer die Materie eines objektivierenden Aktes ist (vgl. XIX/1,515). Denn all die Akte, die nicht bereits selbst Vorstellungen im Sinne von objektivierenden Akten sind, wie z.B. Gemütsakte, sind intentional, d.h. gegenstandsbezogen, aufgrund ihrer Fundierung in den Materie und Qualität beinhaltenden objektivierenden Akten. Die Untersuchung des Verhältnisses von Intentionalität und Bedeutung, für die zunächst nur der Begriff der intentionalen Materie zentral schien (vgl. XIX/2,617), konzentriert sich damit auf die Klasse der objektivierenden Akte, da sie die Bedeutungs- und Erkenntnisfunktionen übernehmen. Sehen wir näher zu, wie Husserl die in den objektivierenden Akten gründenden Fundierungsbeziehungen konzipiert, so fallen zwei ganz verschiedene Fundierungsweisen auf (vgl. z.B. XIX/1,519): Erstens fundieren die objektivierenden Akte, wie gesagt, die »höherstufigen« Akte der Gemüts- und Willenssphäre, denen sie die Materie und damit überhaupt die gegenständliche Richtung geben. Gemüts- und Willensakte sind von sich aus nicht-objektivierende Akte, gleichwohl aber immer auf eine Gegenständlichkeit bezogen, die sie der fundierenden, gegenstandsgebenden Leistung eines objektivierenden Aktes verdanken66. Eine Freude oder ein Begehren ist also – für 66
Das Verhältnis der nicht-objektivierenden Akte zu den objektivierenden hat Melle (1990) auch im Hinblick auf seine Weiterentwicklung nach den LU klar dargestellt. Dabei weist er u.a. darauf hin, daß Husserl in den LU zu den nicht-objektivierenden Akten nicht nur die Gemüts- und Willensakte, sondern auch intellektive Akte der nichtapophantischen Rede, also etwa Fragen oder Vermutungen zählt. Vgl. hierzu auch Mohanty (1964), 80–86.
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Husserl ebenso wie für Brentano – nur aufgrund eines fundierenden Moments ein intentionales Erlebnis. Diese in den grundlegenden objektivierenden Akten fundierten »sekundären Intentionen« (XIX/1,515) aus der Gemüts- und Willenssphäre haben im Fortgang der erkenntnistheoretisch orientierten Fragestellung der LU nur noch eine untergeordnete Bedeutung, so daß ich sie von hier an ganz zurückstellen werde. Die zweite, im Blick auf die Logik viel entscheidendere Fundierungsbeziehung gibt es innerhalb der objektivierenden Akte selbst: Deren gegenstandsgebende Leistung kann nämlich intern komplex verfaßt sein, wenn ihr korrelierender Gegenstand kein einförmig schlichter, sondern ein synthetisch gegliederter ist. Dies ist z. B. bei Sachverhaltsmeinungen der Fall, da diese ihrerseits in elementaren gegenstandsgebenden objektivierenden Akten fundiert sind. Sachverhalte weisen hinsichtlich ihrer Materie eine interne Gliederung auf, da in ihnen stets mehrere Komponenten zu einer Einheit synthetisiert sind. Solche Synthesen setzen die Gegebenheit der in ihnen synthetisierten Elemente voraus und sind als einheitliche Gesamtakte in diesem Sinne in den Teilakten und ihren Materien fundiert. Husserl beschreibt diesen Zusammenhang dadurch, daß er von »mehrstrahlig-synthetischen«, auf Sachverhalte gehenden propositionalen Akten spricht, die in »einstrahlig« objektivierenden nominalen Akten fundiert sind, wobei jenen sprachlich im allgemeinen die Urteile und diesen die Namen entsprechen. Sofern also nicht nur die nicht-objektivierenden Akte der Gemüts- und Willenssphäre, sondern auch die objektivierenden propositionalen Akte als »höherstufige« Akte gelten, sind die »letztfundierenden« (XIX/1,519) Akte schließlich nur die einstrahlig und direkt gegenstandsgebenden nominalen Akte, die eine schlicht einförmige Materie haben67. Gleichzeitig gilt, daß die Materien dieser letztfundierenden schlichten Akte noch keine kategorialen Formungen aufweisen. Demgegenüber findet sich in den propositionalen objektivierenden Akten mit ihrer gegliederten Materie immer eine kategoriale oder logische Form, mittels derer die fundierenden Teilmaterien in eine Synthese gebracht sind (vgl. XIX/1,518). Diese synthetische Formung einer Gesamtmaterie vollzieht sich in den fundierten objektivierenden Akten gemäß spezifischen logischen Formen, wie etwa denen der Kollektion, Disjunktion oder Identifikation, mittels derer aus den Teilmaterien eine höherstufige Sachverhaltsmaterie konstituiert wird. Damit ergeben sich auf der sprachlichen Ebene Bedeutungskomplexionen, in denen neben den direkt gegen67
Vgl. XIX/1, 502 f. Die Materie eines einstrahligen, nominalen Aktes muß nicht eo ipso einförmig sein, da auch mehrstrahlig-synthetisch konstituierte Sachverhalte einstrahlig thematisiert werden können, mithin Urteile nominalisiert werden können.
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standsbezogenen Termini der Subjekt- und Prädikatbegriffe syntaktische Formworte wie »und«, »oder«, »ist« auftreten. Innerhalb der Gattung der intentionalen Erlebnisse haben wir nun mit den objektivierenden Akten die Klasse der eigentlich sinngebenden oder vorstellig-machenden Erlebnisse gefunden. Die grundlegende Bedeutung der objektivierenden Akte ergibt sich aus ihrer vorstellig-machenden, gegenstandsgebenden Funktion für alle intentionalen Erlebnisse; sie sind es, die im eigentlichen Sinne wahr oder falsch sein können. Insofern jegliche Gegenstandshabe an sie gebunden ist, kann Husserl Brentanos These von den fundierenden Vorstellungen restituieren, wenn er dessen undifferenzierten Vorstellungsbegriff durch seinen Begriff der objektivierenden Akte ersetzt: Es gilt, daß jedes intentionale Erlebnis entweder selbst ein objektivierender Akt ist oder einen solchen zur Grundlage hat (vgl. XIX/1,514; Hua. Mat. III,149 f.). Im Anschluß an diese Einsicht in die intentionalitätstheoretischen Grundbedingungen jeglicher Gegenstandshabe wird es nun möglich, den bisher unberücksichtigten Unterschied zwischen den wahren und den zu Unrecht vermeinenden objektivierenden Akten in den Blick zu nehmen, und damit den Schritt zu einer phänomenologischen Analyse der Erkenntnis zu machen. 2. Erkenntnis als erfüllter objektivierender Akt Nachdem Husserl in der V. »Logischen Untersuchung« das Wesen intentionaler Erlebnisse überhaupt, die Frage, wie sie einen »Inhalt« haben, und den besonderen Charakter der in Erkenntnisfunktion stehenden Akte geklärt hat, kann er sich in der VI. Untersuchung auf die Struktur der Erkenntniserlebnisse selbst konzentrieren. Mit dieser Analyse der Erkenntnis leistet die VI. »Logische Untersuchung« den entscheidenden Beitrag für die phänomenologische Neubegründung der Logik. Auszugehen ist dafür von den objektivierenden Akten, weil diese als die eigentlich sinngebenden Akte die Konstitution des Gegenstandsbezuges leisten und sie demgemäß von besonderem erkenntnistheoretischem Interesse sind. Da sie ihrerseits in nominale und propositionale Akte untergliedert sind, die propositionalen Akte als synthetische jedoch hinsichtlich ihrer Materie in den nominalen Akten fundiert sind, ist es zweckmäßig, das Erkenntnisproblem im Ausgang von den elementaren nominalen Akten, also z.B. den schlichten Wahrnehmungen her zu klären. Dementsprechend untersucht Husserl im ersten Abschnitt der VI. »Logischen Untersuchung« die Grundzüge des Erkenntnisbewußtseins zunächst bei den nominalen objektivierenden Akten, bevor er im anschließenden zweiten Abschnitt danach fragt, inwieweit auch propositionale oder kategori-
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ale Akte erfüllt werden können. Im Anschluß an diese sich von der Sache her nahelegende Gliederung werde ich mich in diesem Kapitel nur mit den Grundzügen des Erfüllungsgeschehens bei den schlichten nominalen Akten beschäftigen, um damit die Untersuchung von Husserls Theorie der Erkenntnis höherstufiger kategorialer Sinngebilde durch eine kategoriale Anschauung vorzubereiten, die dann im Mittelpunkt des folgenden Kapitels (C.) steht. Im vorangehenden wurde bereits deutlich, daß in den Intentionen eine transzendierende Auffassung des reell bewußtseinsimmanenten Erlebnisbestandes vollzogen wird und ein intentionales Erlebnis insofern immer auf anderes seiner selbst gerichtet ist. Objektivierende Akte weisen mithin über sich hinaus und beziehen sich auf etwas von ihnen Unterschiedenes. Anders gesagt, besteht zwischen Intention und Intentum eine nicht zu tilgende Differenz. Daraus ergibt sich die Frage, ob das Intendierte zu Recht vermeint ist, oder ob es als ein wirkliches nur leer prätendiert ist. Es ist dies die erkenntnistheoretische Frage nach Recht und Geltung der objektivierenden Akte, bzw. des in ihnen Gemeinten. Dieser Problematik begegnet Husserl, indem er bereits in der I. »Logischen Untersuchung« eine »fundamentale Unterscheidung« zwischen auschauungsleeren und erfüllten Intentionen einführt (XIX/1,44). In ihrer Folge beschreibt er die Fälle von Erkenntnis dann grob gesagt als anschauliche Erfüllungen von Intentionen. Dieses Erfüllungsgeschehen, dessen Analyse im Rahmen der in den LU versuchten erkenntnistheoretischen Begründung der reinen Logik von herausragender Bedeutung ist, wird von Husserl in der VI. »Logischen Untersuchung« gebührend ausführlich analysiert68. Den Ausgangspunkt von Husserls Erkenntnisanalyse bildet die grundlegende Differenz zwischen anschauungsleeren und anschaulich erfüllten objektivierenden Intentionen. Dabei wird in den Leerintentionen etwas gemeint, was nicht gleichzeitig auch selbst so gegeben ist, wie es gemeint ist. Solche Intentionen vollziehen wir etwa, wenn wir uns im Reiseführer über unser mögliches Urlaubsziel vorab informieren oder uns jemand sagt, daß gerade ein schönes Morgenrot zu sehen ist, wir aber noch zu müde sind, um aus dem Fenster zu schauen. In solchen Fällen meinen wir etwas, ohne es zugleich zu erkennen. Erkenntnis stellt sich erst ein, wenn sich das Gemeinte anschaulich zeigt, d.h. die anschaulich leeren Intentionen auf etwas durch einen entsprechenden perzeptiven Gehalt erfüllt werden. Hierbei tritt dann 68
Eine verkürzte Darstellung der Grundzüge der Erkenntnis als Erfüllung schlichter nominaler Akte findet sich in Husserls Erkenntnistheorievorlesung von 1902/03 (vgl. Hua. Mat. III,118–132).
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eine »Deckung« von bloß gemeintem und wirklich gegebenem Sachgehalt ein, die für Husserl die phänomenologische Grundlage von Erkenntnis ist (vgl. XIX/2,570f.). Genauer gesagt decken sich hierbei die intentionalen Materien der beiden Akte, so daß sie zu einer Identifikationseinheit verschmelzen können69. Gemäß diesem Grundschema kommt Erkenntnis so zustande, daß sich die Materie eines anschaulich leeren, bloß meinenden Aktes mit der intuitiven Präsenz aus einem objektivierenden Akt mit derselben Materie deckt. Das dabei eintretende Verhältnis der identifizierenden Deckung der Materien kann mehr oder weniger partiell sein, so daß es Steigerungsgrade bis hin zur vollständigen perzeptiven Gegebenheit des Vermeinten aufweisen kann. Husserl beschreibt diese Konstitution von Erkenntnis als »dynamische Einheit zwischen Ausdruck und ausgedrückter Anschauung« (XIX/2,566). »Dynamisch« ist diese Form der Identifikation insofern, als hierbei leere Bedeutungsintention und anschauliche Erfüllung als zeitlich auseinandertretende Momente voneinander unterscheidbar sind: »Zunächst ist dabei die Bedeutungsintention, und zwar für sich gegeben; dann erst tritt entsprechende Anschauung hinzu. Zugleich stellt sich die phänomenologische Einheit her, die sich jetzt als Erfüllungsbewußtsein bekundet. Die Reden von Erkenntnis des Gegenstandes und Erfüllung der Bedeutungsintention drücken also, bloß von verschiedenen Standpunkten, dieselbe Sachlage aus. Die erstere stellt sich auf den Standpunkt des gemeinten Gegenstandes, während die letztere nur die beiderseitigen Akte zu Beziehungspunkten nimmt.« (XIX/2,567) Gemäß dieser Beschreibung des Erkenntnisprozesses als Erfüllung einer Intention lassen sich idealtypisch drei Schritte im Erkenntnisvollzug unterschieden: Am Beginn (»Zunächst«) steht der bloß meinende Bedeutungsakt oder Gedanke, dessen Intentum ohne anschauliche Präsenz leer gemeint wird. Daraufhin (»dann«) stellt sich eine Fülle gebende Anschauung gleicher (»entsprechende[r]«) Materie ein, so daß es schließlich (»zugleich«) zu der für das Erkennen charakteristischen Identifikation von Gemeintem und Gegebenem kommt. Erkenntnis tritt aber nicht nur dann ein, wenn sich eine zuerst verhältnismäßig leere Intention mit anschließend gegebenen anschaulichen Gehalten zu einer Deckungssynthesis vereint. Zumeist baut sich vielmehr aufgrund eines zuerst in der Wahrnehmung Gegebenen ein Bedeutungsakt oder ein Meinen auf, das dann evtl. auch zu sprachlichem Ausdruck kommt. Hier tritt die Bedeutung zur Anschauung erst hinzu, so daß das bereits Gegebene dann 69
Eine detaillierte Erläuterung des Husserlschen Begriffs der Deckung gibt Rang (1990), 132 ff. Er weist dabei auch auf den Ursprung dieses Begriffs hin, der in geometrischen Verhältnissen der Kongruenz von Raumgebilden liegt.
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auch ein Gemeintes bzw. zugleich Erkanntes ist: »Die Wahrnehmung realisiert also die Möglichkeit für die Entfaltung des Dies-Meinens mit seiner bestimmten Beziehung auf den Gegenstand« (XIX/2,554). Die gegenstandsmeinende Intention »›legt sich‹ gleichsam dem wahrgenommenen Gegenstande ›auf‹« (XIX/2,558 f.). Da auch hierin die charakteristische Identifikationssynthesis von Gegebenem und Gemeintem liegt, ergibt sich auch hier ein Fall von Erkenntnis. Erkenntnis ist phänomenologisch mithin in beiden Fällen auf die für sie charakteristische Deckungseinheit zurückzuführen, die sich sowohl einstellen kann, wenn wir vom bloß Gemeinten zum perzeptiv Gegebenen als auch aufgrund eines Gegebenen zu einem Meinen kommen. Anzumerken ist, daß diese Bestimmung von Erkenntnis als Deckungsbewußtsein nicht besagt, daß im Erkennen die Identifikationssynthesis selbst auch schon gegenständlich bewußt oder thematisch ist. Im Erkennen sind wir vielmehr auf den Gegenstand der Erkenntnis bezogen und nicht auf das Erkenntnisbewußtsein selbst. Die Identifizierung wird m.a.W nur vollzogen, aber nicht selbst gemeint (vgl. XIX/2,679). Die Struktur des Identitätsbewußtseins wird erst in der höherstufigen, weil reflexiven phänomenologischen Erkenntnisanalyse thematisch, die das zuvor nur Erlebte eigens vergegenständlicht. Unabhängig davon, ob sich zur Leerintention eine erfüllende Anschauung einstellt, oder sich die Bedeutungsintention auf der Anschauung gleichsam »aufbaut«, ergeben sich aus Husserls Analyse des Erkenntnisgeschehens nun weitere Einblicke in den »Inhalt« von objektivierenden Intentionen. Obwohl sich die beiden objektivierenden Akte einer Erkenntnissynthesis nämlich hinsichtlich ihrer Materie decken, unterscheiden sie sich offensichtlich in bezug auf die »Fülle«, mit der sie ihren Gegenstand vorstellig machen. Objektivierende Akte sind also neben den für alle intentionalen Erlebnisse charakteristischen Momenten der Materie und der Qualität zusätzlich durch das ihnen wesentliche Moment der Fülle der Gegebenheit des in ihnen Gegenständlichen gekennzeichnet; die Fülle ist ein ihnen in unterschiedlichem Maß zukommender intentionaler Inhalt. Dabei verdanken die Leerintentionen ihren Namen dem für sie charakteristischen Mangel an Fülle, d.h. ihr meinender Gegenstandsbezug entbehrt der aktuallen Selbstgegebenheit des Gemeinten. Demgegenüber weisen die sie erfüllenden anschaulichen Vorstellungen einen hohen Grad an Fülle auf, weil ihr Gegenstand mehr oder weniger selbst gegeben ist. So weist z.B. eine imaginative Vorstellung vom Morgenrot eine geringere Fülle auf als eine dasselbe Morgenrot rein perzeptiv gebende Intuition, aber als Anschauungen unterscheiden sich beide erheblich von Leerintentionen derselben Materie, wie sie etwa beim bloßen Lesen des Wortes »Morgenrot« vollzogen werden. Trotz des in diesen drei
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Fällen identischen bedeutungsmäßigen Wesens kann es also innerhalb der Fülle des anschaulichen Gehalts von objektivierenden Akten erhebliche Gradunterschiede geben. Diese bestehen bei den perzeptiven, imaginativen oder bloß leer meinenden Intentionen hinsichtlich Umfang, Lebendigkeit und Sachhaltigkeit der Veranschaulichung des Intendierten (vgl. XIX/2,614). Ein Maximum an Fülle liegt erst bei der vollständigen perzeptiven Selbstgegebenheit eines Erkenntnisobjekts vor. Entsprechend den Vollkommenheitsunterschieden der Fülle gebenden Akte spricht Husserl auch von Unterschieden und Steigerungsreihen der »Erkenntnisfülle« (XIX/2,599). Hochgradige Veranschaulichungen ergeben sich, wenn möglichst viele Merkmale oder Bestandteile der Materie einer Leerintention in ein Verhältnis der identifizierenden Deckung mit den intuitiven Gegebenheiten derselben Materie des erfüllenden Aktes treten. Hier zeigt sich, daß dies intentionale Inhaltsmoment der Fülle neben der Materie, bzw. dem bedeutungsmäßigen Wesen für das Zustandekommen von Erkenntnis eine zentrale Rolle spielt. Im Idealfall der vollkommenen Erfüllung von Leerintentionen ist dann »das Gegenständliche […] genau als das, als welches es intendiert ist, wirklich ›gegenwärtig‹ oder ›gegeben‹; keine Partialintention ist mehr impliziert, die ihrer Erfüllung ermangelte« (XIX/2,647). Diesem, im Bereich der äußeren Wahrnehmung nie zu verwirklichenden Ideal absoluter Inhaltsfülle entspricht in den LU Husserls strenger Begriff von Evidenz, dessen Korrelat die Wahrheit ist70. Alle Evidenz setzt mithin erfüllte Intentionen voraus (vgl. XIX/1,77), wobei die Erfüllung den Charakter einer hochgradigen Veranschaulichung hat. Entsprechend den Vollkommenheitsunterschieden im Erfüllungsgeschehen ist es für Husserl allerdings konsequent, Grade und Stufen von Evidenzen zuzulassen (vgl. XIX/2,651; vgl. Hua. Mat. III,129 ff.). Erst die selbstgebende Anschauung erweist als Erkenntnisziel jedoch letztlich, ob ein intentional bloß Prätendiertes auch zu Recht besteht. Die erkenntnistheoretische Ausgangsfrage nach der wahrhaften Geltung des im objektivierenden Akt Vorgestellten, beantwortet die Husserlsche Phänomenologie somit stets durch den Rekurs auf die originäre anschauliche Selbstgegebenheit des Vermeinten. Dieser Rückgang auf die »Sachen selbst« 70
»Der erkenntniskritisch prägnante Sinn von Evidenz betrifft aber ausschließlich dieses letzte, unüberschreitbare Ziel, den Akt dieser vollkommensten Erfüllungssynthesis, welcher der Intention, z.B. der Urteilsintention, die absolute Inhaltsfülle, die des Gegenstandes selbst, gibt. Der Gegenstand ist nicht bloß gemeint, sondern, so wie er gemeint ist und in eins gesetzt mit dem Meinen, im strengsten Sinn gegeben« (XIX/2,651; vgl. Hua. Mat. III,133). Diesem Begriff der Evidenz entspricht gemäß der von Husserl erst später getroffenen Unterscheidung von »adäquater« und »apodiktischer« Evidenz, der der adäquaten Evidenz (vgl. I,55 f.).
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hat eine erkenntniskritische Funktion, denn er entscheidet darüber, ob Begriffe oder Bedeutungen »möglich« oder »unmöglich« sind, ob sie also überhaupt einen Gegenstandsbezug vermitteln können oder nicht. Ausdrücke haben m.a.W. dann eine Bedeutung, wenn es eine ihnen korrespondierende Anschauung geben kann, die mit der Materie der leeren Bedeutungsintentionen in eine Deckungssynthesis treten kann71. Diese für die Begriffe der reinen Logik erkenntnistheoretisch grundlegende Konzeption versteht Husserl aber keineswegs so, daß hier ein Faktum, nämlich ein tatsächlich gegebener Anschauungsgehalt Begründungsfunktion bekommen würde. Vielmehr denkt er die über Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Bedeutungen entscheidende Bedingung der Veranschaulichung als eine ideale Möglichkeit, weshalb es nicht direkt faktisch, sondern nur prinzipiell möglich sein muß, zu jeder möglichen Bedeutung eine entsprechende Anschauung zu finden (vgl. XIX/1,61). Da also nicht die Leistungsfähigkeit unseres beschränkten und endlichen Anschauungsvermögens über die mögliche Geltung von Bedeutungen entscheidet, muß Husserl dessen Grenzen weitestgehend erweitern. Zur erkenntniskritischen Grundlegung der reinen Logik hat deswegen nicht die anschauliche Perzeption, sondern die Phantasie, die auch eine Form der Anschauung ist, den entscheidenden Beitrag zu leisten: »Als möglich gilt uns dann, was sich – objektiv geredet – in der Weise eines angemessenen Phantasiebildes realisieren läßt, es mag uns selbst, dem empirisch einzelnen Individuum, je gelingen oder nicht.« (XIX/2,645) Was allerdings darüber hinaus aus dem für die reine Logik allein interessanten Bereich der möglichen Bedeutungen dann auch konkret oder empirisch wirklich ist, kann nur die selbstgebende Anschauung mit ihrem hohen Grad an Fülle erweisen. Nach dieser Skizze von Husserls phänomenologischer Analyse der Erkenntnis ist festzuhalten, daß die zuerst gegebene Einsicht in den intentionalen Inhalt von Intentionen mittels der Momente des intentionalen Wesens vertieft werden kann, wenn Erkenntniserlebnisse genauer in den Blick genommen werden. Diese lassen sich durch die Struktur des für alle intentionalen Erlebnisse geltenden intentionalen Wesens nicht vollständig beschreiben, da neben Materie und Qualität zur Erläuterung der für Erkenntnisfälle charakteristischen Deckungssynthesen das intentionale Moment der Fülle zentral ist. Dieses Moment ermangelt den leeren objektivierenden Akten, während es den sich ihnen im Erkenntnisfall gleichsam »auflegenden«, erfüllenden intuitiven Akten in unterschiedlichem Grad zukommt. Erkenntnis 71
XIX/1,61: »Ein Ausdruck hat also in diesem Sinne eine Bedeutung, wenn seiner Intention eine mögliche Erfüllung, mit anderen Worten die Möglichkeit einheitlicher Veranschaulichung entspricht.« (vgl. XIX/2,633)
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kommt aber, wie wir gesehen haben, nicht nur zustande, wenn zuerst leere Intentionen anschließend von entsprechenden anschaulichen Gehalten erfüllt werden. Sie baut sich daneben auch auf bereits gegebenen Anschauungen auf, wenn diese in Bedeutungsintentionen als bedeutsame aufgefaßt oder gedeutet werden. Diesen Auffassungszusammenhang haben wir oben als das allgemeine Charakteristikum von Intentionalität erwähnt, ohne dabei schon auf die speziellen Auffassungen von erkennenden Intentionen eingehen zu können. Erst Husserls Analyse des Auffassungszusammenhangs in Erkenntnisfällen kann nun einen vollständigen Einblick in das Wesen von Erkenntnis gewähren. Denn diese Analyse führt hier nicht nur zur Mitberücksichtigung des intentionalen Moments der Fülle, sondern muß schließlich auch zu der Frage nach dem Zusammenhang insbesondere der Momente von »Fülle« und »Materie« führen. Beide stehen innerhalb des Auffassungsgeschehens offensichtlich in einer innigen Verbindung, denn als was, also durch welchen Auffassungssinn ein reell gegebener Empfindungsbestand aufgefaßt wird, entscheidet bereits darüber, mit welcher Fülle das Intendierte gegeben ist. Fassen wir etwa ROT als sprachliches Zeichen für eine Farbe auf, die im sinnverleihenden Lesen des Wortes nicht anschaulich mitgegeben ist, so wird es der Intention an Fülle ermangeln; fassen wir es aber als Darstellung von drei mit Druckerschwärze kursiv gesetzten Großbuchstaben auf, ist das Gemeinte schon beim Lesen mit einem hohen Grad an anschaulicher Fülle gegeben. Mit welcher Fülle etwas gegeben ist hängt hier mithin vom Sinn einer Auffassung ab, so daß Fülle und Materie zwei wechselseitig voneinander abhängige Aktmomente sind. Husserl bezeichnet diesen Gesamtzusammenhang von aufgefaßtem reellen Inhalt und Auffassungssinn als Repräsentation (vgl. XIX/2,619 ff.), denn in der Intention wird der reell gegebene intuitive Gehalt so von einem Auffassungssinn durchdrungen, daß er als Repräsentant für den intendierten Gegenstand fungiert. Je nach Art der Auffassung bzw. Sinngebung kann hierbei eine signitive Repräsentation von intuitiven Repräsentationen unterschieden werden: In der rein signitiven Repräsentation wird ein sinnlicher Inhalt zeichenhaft aufgefaßt, so daß er auf etwas von ihm völlig Verschiedenes verweist, wie es z. B. jenes Sprachzeichen tut, wenn es auf eine Farbe verweist. Bei der intuitiven Repräsentation verläuft der Auffassungszusammenhang hingegen so, daß das sinnlich Gegebene auf etwas ihm Ähnliches verweist (z. B. ein reell gegebenes Farbdatum auf eine Farbe). Unser Beispiel ROT verdeutlicht darüber hinaus, daß ein und dasselbe Gegebene verschiedenes repräsentieren kann, wenn es unterschiedlich aufgefaßt wird – eine Tatsache, die Husserl dadurch betont, daß er darauf hinweist, wie wir dieselben visuell gegebenen Muster einmal ästhetisch als Arabesken, ein anderes
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Mal signitiv als Worte auffassen können (vgl. XIX/1,395 ff.). In jedem Fall repräsentiert das reell gegebene Sinnliche dank der es durchdringenden Sinngebung eine Gegenständlichkeit, so daß jeglicher Gegenstandsbezug in objektivierenden Akten über aufgefaßte Empfindungen, d.h. über einen Repräsentationszusammenhang geleistet wird. In diesem Zusammenhang lassen sich näherhin Auffassungsform (signitive oder intuitive), Auffassungsmaterie und aufgefaßte Inhalte unterscheiden (vgl. XIX/2,624). Die aufgefaßten Inhalte sind im Fall des Schriftzeichenverstehens irgendwelche materiell realisierten Buchstabensymbole, die empirisch vorliegen. Beim grundlegenden Wahrnehmen werden hingegen reelle, bewußtseinsimmanente Empfindungsgegebenheiten aufgefaßt, die Husserl ab den »Ideen I« als »hyletische Daten« bezeichnen wird72. Das Verständnis von Intentionalität als sinngebendem, intuitive Daten auffassendem und auf bewußtseinstranszendente Gegenständlichkeiten hin überschreitendem Geschehen findet sich dann auch in den späteren transzendentalphänomenologischen Werken von Husserl73. Gleichzeitig weist er wiederholt auf die mit diesem Inhalts-Auffassungsmodell verbundenen Mißverständnisse hin, die sich v.a. in sensualistischen Bewußtseinstheorien finden: Weder läßt sich der Gegenstandsbezug ohne das sinngebende, transzendierende Moment der intentionalen Auffassung allein aus einer Komplexion oder einem Zusammenfluß von Sinnesdaten erklären noch dürfen diese Daten bereits als empirische Objekte verstanden werden, also mit dem durch sie hindurch erscheinenden Dinglichen verwechselt werden. Die reell immanenten hyletischen Daten, die ja als Bedingungen der Möglichkeit von Dinglichkeit oder Gegenständlichkeit konstitutionstheoretisch gerade vor derselben liegen, werden empiristisch mißdeutet, wenn sie als atomisierte Sächelchen konzipiert werden, die eine empirische Bewußtseinspsychologie meint als Fakten feststellen zu können74. Als reelle Bewußtseinsinhalte sind sie hingegen in der phänomenologischen Reduktion auf den reellen Bestand nur reflexiv gegeben. Trotz Husserls Zurückweisung der erkenntnistheoretisch letztlich immer naiv bleibenden Ansetzung elementarer Sinnesdaten im Empirirismus ist 72
Die funktionelle Bestimmung der Intentionalität als Auffassung von hyletischen Daten findet sich in den »Ideen I« v.a. in den §§ 85 und 97. 73 Vgl. IX,162 ff., 166 ff., 172 ff.; XVII,291ff.; »Erfahrung und Urteil«, 100 f., 305 f. All diese Stellen belegen, daß Husserl am Inhalts-Auffassungsmodell auch in seiner genetischen Phänomenologie festhielt, obgleich es in ihr durch die Berücksichtigung von Horizontbewußtsein und Bewußtseinshabitualitäten entscheidend ausdifferenziert wird. Eine Einschränkung des Modells ist lediglich im Bereich der Konstitution des inneren Zeitbewußtseins nachweisbar (vgl. X,7 Anm.). 74 Zur Kritik an der empiristischen Mißdeutung der Empfindungsdaten vgl. z.B. XIX/2,763; XVII,268 ff., 291f.; I,76 f.; VI,234 f.; »Erfahrung und Urteil«, 306 Anm.
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seine Analyse der über einen Repräsentationszusammenhang vermittelten Wahrnehmung phänomenologisch recht fragwürdig. Husserls Darstellung der Wahrnehmung als eines Konstitutionsgeschehens, das über Empfindungen vermittelt ist, die im Auffassungsakt durch Ähnlichkeit eine Gegenständlichkeit repräsentieren, gehört zu den problematischsten und entsprechend meist diskutierten Lehrstücken seiner Phänomenologie75. Die mit dem Inhalts-Auffassungsmodell verbundenen Schwierigkeiten, die hier zumindest kurz angedeutet werden sollen, knüpfen sich insbesondere an die Frage, ob Husserl mit diesem Modell tatsächlich eine phänomenologisch gesicherte Beschreibung der Wahrnehmung gelingt. Werden Wahrnehmungen nämlich nach einer Art »Lesemodell« wie die sinngebenden Bedeutungsintentionen als Auffassungen von etwas als etwas konzipiert, muß auch geklärt werden, was jene konstitutionstheoretisch ursprünglichen Gegebenheiten eigentlich sind, die im Wahrnehmen aufgefaßt werden und dadurch ihre Repräsentationsfunktion bekommen sollen. Als puren, letztlich noch gänzlich sinnleeren Daten (hyletischem Material) kann ihnen strenggenommen noch keinerlei empirische Bestimmtheit zugesprochen werden, da diese ja immer an den Vollzug der objektivierenden und transzendierenden Deutung gebunden ist, von der abzusehen ist, wenn eine Betrachtung der ursprünglichen Gegebenheiten als solcher gelingen soll. Gehört, wie wir gesehen haben, das objektivierende Auffassen aber laut Husserl zum Wesen aller intentionalen Vollzüge, und ist es unhintergehbar für jegliche Gegenstandshabe, so wird prinzipiell fraglich, ob und wie eine Thematisierung von vorgegenständlichen Empfindungsdaten mit der phänomenologischen Methode überhaupt möglich sein soll. Will die Phänomenologie ihrer intuitiv ausgerichteten Forschungsweise treu bleiben, darf sie sich bei der Wahrnehmungsanalyse nicht auf ein affizierendes, vor allen Synthesen liegendes Kantisches »Mannigfaltiges« oder einen jeglicher Bestimmtheit entbehrenden »Anstoß« berufen, wenn dies nicht anschaulich ausweisbar ist. Konzediert man hingegen von Anfang an, daß die Annahme von bloßen Empfindungsdaten »vor« allem Auffassen phänomenologisch nicht ausweisbar ist, und vertritt zwecks einer Klärung des letzten Ursprungs der Erfahrungsbestimmtheit offensiv die Notwendigkeit einer »konstruktiven Phänomenologie«, in der dann die Empfindungsdaten als bloße Konstrukte verstanden werden76, 75
Zum problematischen Begriff der Empfindungsdaten in Husserls Analyse der Wahrnehmung nach dem Schema von affizierenden Daten und intentionaler Auffassung vgl. etwa Fink (1933), 144 f.; Tugendhat (1970), 73 f.; Sokolowski (1970), 60 ff., 88 f.; Holenstein (1972), 86–115; de Almeida (1972), 31–52; Rang (1976); Rosen (1977), 34f.; Melle (1983a), 41–51; Bernet, Kern, Marbach (1989), 112 ff. und Zahavi (1992), 93 ff. 76 In diesem Sinne kommt z.B. Melle (1983a) bei seiner Untersuchung der Wahrneh-
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entstehen neue Probleme. Abgesehen von der methodischen Fragwürdigkeit eines solchen Vorgehens im Rahmen der Phänomenologie, müßte dann nämlich auch geklärt werden, wie der Zusammenhang der uns affizierenden Daten mit unseren intentionalen Erdeutungen von Gegenständlichkeit beschaffen ist. Offenbar können unsere Auffassungen angesichts des jeweils regressiv erschlossenen Gegebenen »nicht ganz frei« sein (XIX/2,623), so daß intentionale Vollzüge in einem stofflich bereits irgendwie Präfigurierten einen Anhalt haben müssen, der ihre Sinngebungen mit motivieren müßte. Husserl versucht später im Rahmen seiner genetischen Phänomenologie einen von passiven, vorprädikativ entstehenden Vorzeichnungen ausgehenden, zu expliziten Wahrnehmungsbestimmtheiten hinführenden Motivationszusammenhang nachzuzeichnen. Hierbei bewegt sich Husserl aber ständig an der Grenze des noch Ausweisbaren, also des phänomenologisch überhaupt Zugänglichen77. In den LU fehlt diese weiterentwickelte Analyse des Auffassungsgeschehens bei Wahrnehmungen, so daß sich der Eindruck einstellt, daß die Beschreibung der Wahrnehmung eher nach dem Muster eines anhand der Untersuchung der zeichenauffassenden Bedeutungsintentionen gewonnenen Schemas von Intentionalität als anhand einer getreuen, phänomennahen Betrachtung der Wahrnehmungen selbst erfolgt. Denn während sich im Fall der Bedeutungsintentionen ein die Sinnsetzung vermittelndes Zeichen als Repräsentant leicht nachweisen läßt, ist ein solcher Repräsentant bei den Wahrnehmungen, die ja als Prototyp einer keinesfalls über Bilder vermittelten direkten Selbstgebung gelten, phänomenologisch nicht leicht aufweisbar. Hier mögen sich einzig bei den Phänomenen der Doppel- oder Mehrfachauffassungen von denselben Gegebenheiten Indizien finden lassen, die die Annahme von vermittelnden Repräsentanten rechtfertigen können. Wie wir sehen werden, prägt Husserls an der Bedeutungsintentionalität gewonnene problematische Repräsentationstheorie jedoch nicht nur seine Analyse der Wahrnehmung als eines elementaren nominalen objektivierenden Aktes, sondern auch seine Bestimmung der Erkenntnis im Falle kategorialer Gegebenheiten in der kategorialen Anschauung, so daß sich die schon in der Wahrnehmung liegenden Schwierigkeiten dort fortsetzen.
mung zu dem Ergebnis, daß die hyletischen Empfindungsdaten Konstrukte sind, die Husserl nicht konkret ausweisen kann (vgl. ebd., 50 f. sowie auch Tugendhat (1970), 73 ff.). 77 Der Bedeutung und dem Fungieren von erkenntnisermöglichenden, aber noch passiven und nichtprädikativen Vorformen von Erkenntnis ist zuletzt Lohmar (1998) im III. Abschnitt seiner ausführlichen Studie zur genetisch-phänomenologischen Erkenntnistheorie nachgegangen.
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3. Zusammenfassung In Anknüpfung an Brentanos Charakterisierung der psychischen Phänomene durch das Merkmal der intentionalen Gerichtetheit, analysiert Husserl den »Problemtitel« Intentionalität, um damit zum einen die subjektive Gegebenheit der idealen, rein logischen Bedeutungen aufzuklären, und zum anderen den behaupteten idealen Geltungscharakter von ihnen erkenntnistheoretisch auszuweisen. Gemäß Husserls Speziestheorie der Bedeutung vereinzeln sich diese in subjektiven Aktmomenten. Die nähere Analyse des »Inhalts« von Intentionen differenziert dann reelle und intentionale Inhaltsmomente, sowie beim intentionalen Inhalt den intentionalen Gegenstand, die intentionale Materie und das intentionale Wesen als Einheit von Aktmaterie und Aktqualität. Eben dieses intentionale Wesen wird von Husserl bei Bedeutungsakten als subjektives Korrelat der idealen Bedeutungsspezies bestimmt. Damit diese »von oben« aus konzipierte Vereinzelungstheorie und ihre Annahme von idealen Bedeutungsspezies erkenntnistheoretisch begründet wird, untersucht Husserl den spezifischen Charakter von gegenstandsgebenden Akten genauer. In kritischer Weiterentwicklung von Brentanos Theorie der fundierenden Vorstellungen werden sie von Husserl als objektivierende Akte beschrieben. Diese geben entweder als schlichte, nominale Akte einförmige Wahrnehmungsgegenstände oder als propositionale Akte höherstufige, kategoriale Gegenstände, zu denen auch die Bedeutungsspezies gehören. Ob das in objektivierenden Akten vermeinte Gegenständliche allerdings auch wahr ist, muß eine genauere Betrachtung des Erkenntnisgeschehens erweisen. Doch kann die Erkenntnistheorie die Gegebenheit der Bedeutungsspezies in den höherstufigen Akten nicht direkt untersuchen, da diese Akte in schlichten Akten fundiert sind. Die Grundzüge seiner Erkenntnistheorie legt Husserl daher zunächst anhand einer Analyse elementarer, schlichter Akte dar. Dabei bestimmt er als phänomenologischen Ursprung des Erkennens die Deckungssynthesis von leeren und perzeptiv erfüllten objektivierenden Akten, so daß außer dem intentionalen Moment der Materie dem der Fülle eine zentrale Funktion für die Ermöglichung von Erkenntnis zukommt. Welchen Grad an Fülle ein Akt aufweist, hängt entscheidend von der Art der sinngebenden Auffassung der in ihm liegenden reellen Aktmomente ab. In diesem Auffassungsgeschehen bezeichnet Husserl den engen Zusammenhang von reellem Inhalt und Auffassungssinn als Repräsentation, und denkt das Erkennen als ein hierdurch ermöglichtes. Diese Annahme von fungierenden Repräsentanten ist bei den zeichenauffassenden Bedeutungsintentionen plausibel, im Fall der schlichten Wahrnehmungen jedoch phänomenologisch sehr problematisch, da sie hier zu einer phänomenologisch
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kaum ausweisbaren theoretischen Ansetzung von vorgegenständlichen Empfindungsdaten führt. C. Kategoriale Anschauung 1. Begriff und Funktion der kategorialen Anschauung Vermag schon die bloße Wortkombination »kategoriale Anschauung« bei einer Vielzahl von Philosophen Irritation oder Befremdung zu erwecken, so wird auf die damit bezeichnete Sache zumeist erst recht mit Verständnislosigkeit und Ablehnung reagiert. Hiermit soll, so der erste Eindruck, durchaus Unvereinbares, nämlich Diskursives und Intuitives, also Gedachtes und Gesehenes auf eine Art und Weise verklammert werden, die schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt zu sein scheint. In der Tat verknüpft die kategoriale Anschauung das rationalistische und das intuitionistische Element der Husserlschen Philosophie auf eine Weise, die in systematischer und philosophiehistorischer Hinsicht zunächst wie eine Zumutung erscheinen muß. Setzt nach diesem Anfangseindruck indes eine erste Besinnung ein, wird deutlich, daß sich die Zielsetzung von Husserls Theorie der kategorialen Anschauung mit dem hehren alten Ziel der Philosophie deckt, die gesamte Verstandessphäre – den Logos selbst – zu klarer und deutlicher Einsicht in sich selbst zu bringen. Insofern gehört Husserls kategoriale Anschauung zu den anspruchsvollsten Theorieelementen seiner Phänomenologie. Folgt man Husserls Ankündigung im Vorwort zur zweiten Auflage der LU, so handelt es sich bei diesem Werk um »eine systematisch verbundene Kette von Untersuchungen«, die »von einem niederen zu einem höheren Niveau« emporsteigen (XVIII,11), so daß in der sechsten und letzten Untersuchung, in deren zweitem Abschnitt die kategoriale Anschauung behandelt wird, der gedankliche Kulminationspunkt des ganzen Werkes erreicht wird. In dieser »wichtigsten« (XVIII,15) Untersuchung zur Erkenntnisphänomenologie steht die Einlösung des Anspruchs »einer erkenntnistheoretischen Aufklärung der Logik« aus (XVIII,262). Hier entscheidet sich, ob Husserl die von Anfang an geforderte, in der Psychologismuskritik bereits implizit als gültig vorausgesetzte nichtpsychologische Neubegründung der Logik tatsächlich gelingt. Denn gerade hier geht es um die mit dem ganzen Werk beabsichtigte Lösung der »große[n] Aufgabe, die logischen Ideen, die Begriffe und Gesetze, zu erkenntnistheoretischer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen« (XIX/1,9). Erkenntnistheoretisch auszuweisen ist dabei nicht nur der besondere ideale Geltungscharakter von logischen Grundbegriffen und Gesetzen, sondern die Rechtmäßigkeit des an sie geknüpften Anspruchs auf eine
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Fixierung elementarer ontologischer Kategorien. Denkt man nämlich an die im Schlußkapitel der »Prolegomena« skizzierte Reichweite der reinen Logik, wird deutlich, daß die kategorialen Formgesetzmäßigkeiten der Bedeutungen einer Umwendung in formale Gegenstandskategorien zulassen, so daß mit der von der kategorialen Anschauung abhängigen Neubegründung der Logik auch die Fundierung einer Ontologie verbunden ist78. Der mit Husserls reiner Logik auf dem Spiel stehende systematische Anspruch muß die Beschäftigung mit der kategorialen Anschauung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, da sie die Methode ist, die diese Logik erkenntnistheoretisch absichern soll. Lassen wir uns bei unserer Untersuchung der Husserlschen kategorialen Anschauung allein vom Wort leiten, so muß diese nach zwei Richtungen hin befragt werden: Was ist erstens das »Kategoriale« und in welchem Sinn bzw. in welcher Weise hängt es zweitens mit »Anschauung« zusammen? Beginnen wir mit einer ersten Klärung dessen, was in diesem Zusammenhang Anschauung besagt. Hierzu gibt uns Husserl zur Ausräumung von Mißverständissen der »kategorialen Anschauung« im sechsten Kapitel (Sinnliche und kategoriale Anschauung) der VI. »Logischen Untersuchung« zunächst zwei negative Bestimmungen79: Die hier in Rede stehende Anschauung ist keine gewöhnliche sinnliche Anschauung, die sich auf Einzeldinge in Raum und Zeit richtet, da Kategoriales nicht zu solchen sinnlichen oder realen Gegenständen gehört und auch kein Stück oder Teil von ihnen ist. Von der schlichten, auf empirisch wahrnehmbare Einzeldinge bezogenen Anschauung ist die kategoriale Anschauung von Beginn an zu unterscheiden, womit von vornherein auch eine Verdinglichung kategorialer Gegenständlichkeiten ausgeschlossen ist. Ebensowenig lassen sich kategoriale Gegenständlichkeiten über einen inneren Sinn oder eine innere Wahrnehmung geben. Bei aller Mehrdeutigkeit der Begriffe der inneren Anschauung oder inneren Wahrnehmung dürfte darüber Einigkeit herrschen, daß hiermit eine Selbstwahrnehmung im Sinne einer Wahrnehmung ichlicher Erlebnisse, Zustände oder Befindlichkeiten gemeint wird80. Da Husserls Ichbegriff in den LU noch em78
Vgl. dazu oben Kapitel II. A. 3. b. Parallel zur Darstellung der kategorialen Anschauung in der VI. »Logischen Untersuchung« vgl. Hua. Mat. III,140 ff. 80 Husserl thematisiert die innere Wahrnehmung außerhalb der VI. Untersuchung in den LU kontextbedingt aus unterschiedlichen Perspektiven: Ablehnend behandelt er sie im § 5 der V. »Logischen Untersuchung« in Auseinandersetzung mit Brentanos Theorie des jede Intention begleitenden Nebenbeibewußtseins vom eigenen Erleben, also als innerem Gewahren oder innerem Bewußtsein vom Bewußtseinsleben selbst (vgl. dazu Zahavi (1998)). In der den LU angehängten Beilage über »Äußere und innere Wahrnehmung. 79
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pirisch-psychologisch geprägt ist, würde ein Verständnis der kategorialen Anschauung als innerer Wahrnehmung bedeuten, daß das Kategoriale im Blick auf psychische Tatbestände gewonnen werden kann. Dies hieße, daß Logik und Ontologie – genau wie es der logische Psychologismus behauptet – einen psychologischen Ursprung hätten, was eine für Husserl »grundirrige Lehre« ist (XIX/2,668). Die Psychologismuskritik hat gezeigt, daß weder der ideale Charakter noch die Allgemeingültigkeit der Logik verständlich würde, wenn sie in der inneren Wahrnehmung von psychischen Tatbeständen gründen würde. In der Klarheit, mit der im § 44 der VI. »Logischen Untersuchung« die innere Wahrnehmung als Zugangsmethode zum Gebiet des Logischen zurückgewiesen wird, spricht sich nun auch Husserls nach der PA gereifte Einsicht in die prinzipiellen methodischen Grenzen einer bloß psychologischen Klärung formaler Wissenschaften aus. Am Beispiel der Begriffe »Sein« und »Inbegriff« stellt er hier unmißverständlich klar, daß kategoriale Begriffe nicht aus der Vergegenständlichung von Akten gewonnen werden können, sondern nur von den Gegenständen dieser Akte her (vgl. XIX/2,669 f.). Husserls Klarstellung kann als direkte Selbstkritik an seiner eigenen Position in der PA gelesen werden, denn dort hatte er noch dafür argumentiert, daß die Grundlagen des Zahlbegriffs in einer innerpsychischen Reflexion auf psychische Bestände ( – die kollektive Verbindung als psychische Verbindung) verdeutlicht werden können81. Nun wird betont, daß kategoriale Begriffe keine Bestandstücke von psychischen Vorkommnissen sind, und aus diesen mittels innerer Wahrnehmung folglich auch nicht gezogen werden können. Wenn Husserl also sowohl die gewöhnliche sinnliche als auch die innere Anschauung von der kategorialen Anschauung abgrenzt, fragt sich, ob ihm dann überhaupt noch eine sprachübliche Verwendung des Anschauungsbegriffs zur Verfügung stehen kann. Erschöpft sich der Anschauungsbegriff nicht in den Verständnissen als entweder schlicht sinnliche oder innere Anschauung? Offensichtlich ist eine Neubestimmung und Erweiterung des üblichen Anschauungsbegriffs erforderlich, wenn Husserl auf ihn im Sinn seiner kategorialen Anschauung nicht verzichten will. Der Grund für Husserls Festhalten am Anschauungsbegriff liegt in der Funktion der Anschauung für unser Erkennen: Wie wir im vorangehenden Kapitel gesehen haben, begreift Husserl Erkenntnis allgemein als anschauliche Erfüllung von Intentionen. Psychische und physische Phänomene« setzt er sich erneut kritisch mit Brentano auseinander. Hier betont er, daß der inneren Wahrnehmung als Wahrnehmung, d.h. als auffassender Deutung reeller Gehalte, zu Unrecht der epistemologisch privilegierte Status einer eo ipso adäquaten Wahrnehmung zugesprochen wird. 81 Vgl. dazu oben die Kapitel I. A. 3. und II. B. 4.
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Anschauung vermag als Fülle gebender Akt die Rechtmäßigkeit des bloß Gedachten zu erweisen, wenn sich dies eben auch anschaulich ausweisen läßt. Auf genau diese mit der Anschaulichkeit verbundene Funktion des Rechtsausweises kann Husserl bei seinem Bemühen um eine erkenntnistheoretisch gesicherte Neubegründung der Logik nicht verzichten, so daß er hierfür am Anschauungsbegriff in einer modifizierten Bedeutung festhalten muß. Die Erfüllungsfunktion eignet der Anschauung gemäß Husserl nämlich nicht nur hinsichtlich der ungegliederten, nominalen objektivierenden Akte, die oben im vorangehenden Kapitel dargestellt wurden, sondern auch in bezug auf die komplexen höherstufigen, kategorial geformten Akte. Auch deren formal auf irgendeine Weise gegliederten propositionalen Materien können wir einerseits leer vermeinen und andererseits in evidenter Selbstgegebenheit, also in anschaulich erfüllter Weise gegeben haben. Da die in der Materie kategorial gegliederter objektivierender Akte liegenden Formmomente einer schlichten sinnlichen Erfüllung unzugänglich sind, diese Materien aber gleichwohl selbstgegeben, mithin erfüllt gegeben sein können, muß hier an die Stelle der schlichen sinnlichen Anschauung eine andere erfüllende Anschauung treten, die dann »kategoriale Anschauung« heißt. Sie erfüllt kategorial geformte objektivierende Akte und wird aufgrund der im Vergleich mit der Erfüllung nominaler objektivierender Akte »wesentliche[n] Gleichartigkeit der Erfüllungsfunktion« (XIX/2,671, vgl. 695) von Husserl ebenfalls als Anschauung bezeichnet. Die Rede von »Anschauung« ergibt sich also allein daraus, daß hiermit in jedem Fall das subjektive Korrelat einer nicht bloß leer angesetzten Gegenständlichkeit bezeichnet wird. Husserls Erweiterung des Anschauungsbegriffs über die schlichte äußere und innere Wahrnehmung hinaus ist vielleicht kein terminologischer Glücksgriff, da er viele Mißverständnisse nach sich zieht; wenn man sich aber die strikt terminologische Verwendung des Anschauungsbegriffs in den LU verdeutlicht, ist die Einführung einer kategorialen Anschauung systematisch konsequent: »Anschauung« meint hier, wie auch sonst, nichts anderes als daß ein Gemeintes zur ursprünglichen Gegebenheit kommt. Die Rechtfertigung der Bezeichung »Anschauung« ergibt sich mithin aus der wesentlichen Erfüllungsleistung, zu der die Anschauung sowohl bei den nominalen als auch bei den propositionalen, d.h. kategorialen objektivierenden Akten fähig ist. Zur Gewinnung eines angemessenen Verständnisses von Husserls erweitertem Anschauungsbegriff gehört außer dem Blick auf dessen allgemeine Bedeutung, die in der Erfüllungsfunktion liegt, die Betonung der spezifischen Differenz im Fall der kategorialen Anschauung. In der Gegenüberstellung der sinnlichen mit der kategorialen Anschauung wird die spezifische Differenz deutlich: Während die schlichte sinnliche Anschauung Gegen-
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stände direkt »in einer Aktstufe« (XIX/1,674; Hua. Mat. III,147) oder »in einem Schlag« (XIX/2,676) gibt, richtet sich die kategoriale Anschauung auf höherstufige, also fundierte Gegenstände. Sie ist das erfüllte subjektive Korrelat der Gegenstände von kategorial objektivierenden Akten, d.h. von Gegenständen höherer Ordnung. Sofern diese Gegenstände Sachverhalte sind, sind sie mehrgliedrige, synthetische Gegenstände, die ihrerseits die schlichte Gegebenheit der in ihnen synthetisierten einzelnen Stoffe voraussetzen und sich darüber aufbauen; und ebenso wie diese kategorialen Gegenstände in der schlichten Sinnlichkeit fundiert sind, ist dies auch die kategoriale Anschauung als Form ihrer ursprünglichen Gegebenheit. In dieser Fundiertheit liegt der wesentliche Unterschied der kategorialen Anschauung gegenüber der gewöhnlichen sinnlichen Anschauung. Da es jedoch sehr verschiedene mögliche Formen der Fundierung, mithin verschiedene Typen von kategorialen Gegenständen gibt, kann ein detailliertes Verständnis der kategorialen Anschauung nur gewonnen werden, wenn diese Fundierungsweisen im einzelnen untersucht werden. Die Suche nach einem angemessenen Verständnis des Spezifischen der »kategorialen« Anschauung führt daher zu der Frage, was diese höherstufigen Gegenstände sind, worin m.a.W. das Eigentümliche des Kategorialen liegt: Statt einer systematisch entwickelten Kategorienlehre oder Logik hat Husserl entgegen möglichen Erwartungen im Anschluß an die »Prolegomena zur reinen Logik« im zweiten Band der LU bekanntlich nur erkenntnistheoretisch »an einer Vorbereitung für jede künftige Darstellung dieser Art« (XIX/1,228) gearbeitet. Kein »System der Logik«, so kündigt es auch die Einleitung zu diesem Band an, wird vorgelegt, »sondern Vorarbeiten zur erkenntnistheoretischen Klärung und zu einem künfigen Aufbau der Logik«82. Demzufolge sieht sich der Leser bei seiner Suche nach einer systematischen Bestimmung und Umgrenzung von Husserls Verständnis des »Kategorialen« zunächst noch einmal auf das Schlußkapitel der »Prolegomena« verwiesen, in dem Husserl einen Überblick über seine Idee einer künftig noch zu entwickelnden Logik gibt: Logik als Wissenschaftslehre soll die wesenhaften Konstituentien der Idee der Wissenschaft bestimmen, die – da Wissenschaft noch als strikt deduktiv-nomologisch begründetes, einheitliches Satz- und Theoriesystem verstanden wird – zuletzt in primitiven Grundbegriffen und darin gründenden elementaren Gesetzen für sinnvoll
82
XIX/1,21f.(A). Den Ansatz zu einem eigenen Logikkalkül hat Husserl immerhin am Ende seiner Logikvorlesungen von 1896 und 1902/03 skizziert (vgl. Hua. Mat. I,254–264; Hua. Mat. II,239–249).
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mögliche Begriffs- und Satzkombinatonen liegen83. Die elementaren Grundbegriffe werden »Bedeutungskategorien« genannt, aus deren ontologischer Umwendung dann die »formal-gegenständlichen Kategorien« entspringen. Als Beispiele aus diesen beiden Kategoriengruppen nennt Husserl dort die Begriffe »Begriff, Satz, Wahrheit usw.« als Bedeutungskategorien, bzw. »Gegenstand, Sachverhalt, Einheit, Vielheit, Anzahl, Beziehung, Verknüpfung usf.« als formale Gegenstandskategorien (XVIII,245). Bedeutungskategorien sind rein formale Begriffe, die die konstitutiven Gesetzmäßigkeiten von Bedeutungseinheiten überhaupt bestimmen, d.h. die zum formalen Wesen von vollständigen Namen, Sätzen, Satzzusammenhängen und schließlich Theorien gehörigen Formstrukturen ausdrücken. Mittels ihrer soll die reine Logik eine »Formenlehre der Bedeutungen« errichten, welche, ausgehend von elementaren syntaktischen Gliedern wie substantivischer oder adjektivischer Form, die Verbindungsformen komplexer Bedeutungseinheiten, wie etwa Konjunktion, Disjunktion oder Identität, und, darauf aufbauend, Schlußformen sowie als Abschluß dieser logischen Analytik in einer mathesis universalis mögliche Theorieformen überhaupt fixiert. Als reine Formbegriffe sind die Bedeutungskategorien nicht nur frei von aller sachhaltigen Materie, sondern auch allen konkreten Geltungsfragen an Sätze und Schlüsse vorgeordnet; sie sind an der Einheit »Bedeutung überhaupt« orientiert und legen lediglich die formalen Bedingungen allen möglichen Sinnes fest. Als solche haben sie jedoch eine universelle Gültigkeit für alle möglichen Welten, so daß ihre erkenntnistheoretische Ausweisung besonders wichtig und herausfordend ist. Dies gilt ebenso für die formal-gegenständlichen Kategorien, die sich, wiederum rein formal, um den Begriff des »Etwas überhaupt« oder des »Gegenstands überhaupt« gruppieren. Aufgrund der Gegenstandsbezüglichkeit von Bedeutungseinheiten, also der strikten Korrelation von Bedeutung und Gegenstand, glaubt Husserl, sie aus der gegenständlichen Wendung der Bedeutungskategorien gewinnen zu können und mit ihnen dann formale Konstituentien jeglicher Gegenständlichkeit a priori festlegen zu können. Demgemäß wird er die formal-gegenständlichen Kategorien später als formal-ontologische bezeichnen84 und somit zusammen mit der formallogischen Bedeutungslehre eine formale Ontologie entwerfen, in der das formale Wesen von möglichen Gegenständen überhaupt bestimmt werden soll. 83
Zum Aufbau von Husserls Idee der Logik vgl. oben II. A. 3. In der ersten Auflage der LU »wagt« Husserl den »aus historischen Gründen anstößigen Ausdruck Ontologie« noch nicht zu verwenden (III/1,28 Anm., vgl. ebd., 342 ff. sowie zur »formalen Ontologie« XXIV,51ff., 77 ff.; XXX,28 f., 232 f.). 84
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Das Feld des durch die kategoriale Anschauung auszuweisenden »Kategorialen« erweitert sich, wenn zu diesen beiden rein formalen Kategoriengruppen noch sachhaltige Wesensbegriffe hinzugezogen werden. Diese wichtige, aber besonders problematische Kategoriengruppe gehört mit zu dem, was Husserls Phänomenologie als apriorischen Bestand in Anspruch nimmt. Die in solchen Wesensbegriffen begründeten materialen Ontologien sollen sachliche Grundlagen einzelner Wissenschaftszweige, wie etwa Natur- und Geisteswissenschaften eruieren, und auch die methodisch so entscheidende Abgrenzung der Phänomenologie von der Psychologie als Tatsachenwissenschaft absichern. Wesensbegriffe sind zwar kategoriale, also nichtempirische und fundierte Begriffe, aber grundsätzlich anderen Typs als die formalen Kategorien, da sie Sachhaltiges voraussetzen, d.h. von möglichen Daseinssetzungen nicht unabhängig, sondern vielmehr darauf bezogen sind. Mit ihnen will Husserl das Wesen von allgemeinen Regionen des Seienden bestimmen, um z.B. Grundbestimmungen des Naturhaften, Geistigen oder Werthaften ontologisch voneinander abzuheben. Wesensallgemeinheiten lassen sich jedoch auf verschiedenen Stufen von Allgemeinheiten ermitteln, so daß Husserl die zunächst auf die obersten Regionen des Seienden bezogenen materialen Ontologien spezifizieren kann85. So stellt er beispielsweise fest, daß Intensität zum Wesen des Tones oder Ausdehnung zum Wesen von Farbe gehört. Weitere Beispiele für materiale Kategorien und Ontologien bezieht Husserl außerdem vorzugsweise aus der eidetischen Wissenschaft Geometrie86. Diese materialen Kategorien begründen insgesamt die synthetischapriorischen Wahrheiten und Disziplinen, die durch ihre Sachhaltigkeit von den Formalwissenschaften radikal unterschieden sind. Die von der umfassen85
Die Stufenfolge der Wesensgattungen und ihre Begründung erläutert Husserl in
XXIV,388 f., III/1,30 ff., IX,81ff. und »Erfahrung und Urteil«, § 92. Meister (1967), 72,
190 spricht diesbezüglich von einer »Ideenpyramide«. Einer zunehmenden Erweiterung des Umfangs der höherstufigen Wesensbegriffe geht hierbei eine Verminderung ihrer inhaltlichen Bestimmheit gegenüber den jeweils »niederen« Ideen einher. 86 Daß die Aufzählung von Beispielen materialer Kategorien zum Verständnis der materialen Ontologien systematisch keinesfalls hinreichend ist, hat Husserl deutlich gesehen. So schreibt er in seiner großen Logikvorlesung: »Allem voran bedürfte es einer radikalen ›Kategorienlehre‹, aber besser sage ich, einer systematischen Erforschung der radikalen Seinsregionen und der zu jeder Region eigentümlich zugehörigen Kategorien« (XXX,279). Die Bemühungen zur Lösung der großen »Aufgabe einer allgemeinen Lehre von den Seinsregionen und ihren Kategorien und den apriorischen Wahrheiten« (edb.) motivierte wohl Husserls Forschungen zur Wesensklärung von »Natur« und »Geist« in den »Ideen II« und den späteren Vorlesungen zu diesem Themenkomplex. Darüber hinaus hoffte Husserl seine Schüler für die ontologische Erforschung einzelner Seinsregionen gewinnen zu können, um so mit der gesamten phänomenologischen Bewegung schließlich seine Idee einer umfassenden Ontologie realisieren zu können.
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den Idee der Logik als Wissenschaftslehre zu bestimmenden Wahrheiten gliedern sich im Anschluß an diese Unterscheidung in die synthetisch-apriorischen Wahrheiten, die letztlich in den materialen Wesensbegriffen gründen, und die formal-analytischen Wahrheiten, die aus den formalen Kategorien des Bedeutungs- und Gegenstandsbegriffs gewonnen werden87. Diese Gliederung des durch kategoriale Anschauungen auszuweisenden »Kategorialen« läßt sich auch durch die unterschiedlichen Zugangs- bzw. Gegebenheitsweisen zu den formalen und materialen apriorischen Grundbegriffen verdeutlichen. Durch diese nun spezifisch phänomenologische Besinnung auf das Wie der Gegebenheit des Kategorialen gelingt es zudem, zwei verschiedene Hauptgruppen von kategorialen Anschauungen zu unterscheiden und damit eine verdeckte Mehrdeutigkeit der Rede von der kategorialen Anschauung aufzulösen. Obwohl nämlich formale und materiale Kategorien immer in fundierten Akten erfüllt gegeben werden, sind die zu ihnen als Gegenständen gehörigen Gegebenheitsweisen grundverschieden: Formale Kategorien werden als »Begriffe zweiter Stufe« (XVIII,244) auf der Grundlage von bereits selbst fundierten propositionalen oder kategorialen Gegebenheiten durch eine »kategoriale Abstraktion« (XIX/2,707, 713; vgl. Hua. Mat. III,160) gegeben, die im wesentlichen einen Formalisierungsprozeß vollzieht. Materiale Wesensbegriffe sollen hingegen angesichts sinnlicher Gegebenheiten durch eine ideierende Abstraktion aktuell gegeben werden, die es in einem Prozeß vermag, aus dem Einzelnen ein Allgemeines herauszuschauen. Diese ideierende Abstraktion gehört nur im weiteren Sinne zur kategorialen Anschauung und wird in den LU genauer als »allgemeine Anschauung« bezeichnet (vgl. XIX/2,690). Sie stellt eine Vorform der späteren »Wesensschau« dar. Den Terminus »kategoriale Anschauung« verwendet Husserl in den LU dagegen vorwiegend in bezug auf die Gegebenheit der Gruppe der formalen Kategorien und hier sogar vorzugsweise nur hinsichtlich jener die kategoriale Abstraktion fundierenden objektivierenden Akte, welche propositionale, oder eben kategoriale Materien aktuell geben. Für eine spezifischere Untersuchung von Husserls Theorie der kategorialen Anschauung ist es demgemäß sinnvoll, im folgenden die mit ihr allgemein bezeichneten Gegebenheitsweisen formaler und materialer Kategorien gesondert zu behandeln. Dazu werde ich zunächst Husserls Theorie der kategorialen Anschauung im engeren Sinne, also die ursprüngliche Gegebenheit 87
Zur bedeutsamen wissenschaftssystematischen Gegenüberstellung von synthetischapriorischen und analytisch-apriorischen Wahrheiten und Disziplinen in den LU vgl. XIX/1,255 ff., 290 f.; XIX/2,712 f. sowie II,51 XXIV,330 ff.; XXX,227 ff., 360 ff.; III/1,25 ff., 36 f. und auch Rosado Haddock (1973), 10 ff. und Lohmar (1989), 128–131.
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formaler Kategorien untersuchen (2.) und mich anschließend der allgemeinen Anschauung zuwenden (3.).
2. Die kategoriale Anschauung im engeren Sinne Der Schritt, der Husserl in der VI. »Logischen Untersuchung« zur kategorialen Anschauung führt, ergibt sich aus einer konsequenten systematischen Weiterentwicklung seiner Theorie der Erkenntnis, die er im ersten Abschnitt dieser Untersuchung vorgestellt hatte. War nämlich dort Erkenntnis als Deckung von leer gemeinten und anschaulich erfüllt gegebenen Materien objektivierender Akte zunächst anhand der nominalen Akte geklärt und erläutert worden, so untersucht Husserl nun im zweiten Abschnitt das Erfüllungs- und Erkenntnisgeschehen im Fall der propositionalen Akte. Die Frage ist daher, ob und wie sich die gegenständlichen Korrelate der Materien dieser Akte gemäß Husserls Theorie der Erkenntnis erkennen, d.h. in Anschauungen erfüllt geben lassen. Diese schlichte Frage hat zum einen herausragende systematische Bedeutung für die Erkenntnistheorie, zum anderen aber auch besondere Schwierigkeiten für Husserl zur Folge: Die Bedeutung der Frage ergibt sich daraus, daß erst mit der Berücksichtigung der propositionalen Akte die eigentliche Sphäre der Erkenntnis betreten wird, da sich Erkenntnis vor allem in Form von erfüllten Aussagen oder Urteilen vollzieht. In solchen Aussagen meinen wir nicht schlicht und eingliedrig Dinge unserer Wahrnehmung – wie in den nominalen Akten –, sondern wir meinen sie immer in einer bestimmten Hinsicht. Wir vermeinen in kategorialen Akten m.a.W. immer etwas als etwas, weshalb sich in den Materien dieser Akte formal Subjekt- und Prädikatstrukturen voneinander unterscheiden lassen, die gleichwohl im Vollzug immer eine aufeinander bezogene Einheit bilden. Solche formal, oder eben kategorial in sich gegliederten Einheiten bilden den Sinn aller Erkenntnisse im prägnanten Sinne. Jede Erkenntnistheorie muß folglich erläutern können, unter welchen Bedingungen solch ein Erkenntnissinn möglich und schließlich wahr sein kann. Auf Husserl bezogen heißt dies, daß vom Erfolg seiner Beantwortung der Frage nach den Bedingungen der Erfüllung kategorial objektivierender Akte letztlich das Gelingen seiner Erkenntnistheorie abhängt. Die besonderen Schwierigkeiten für die Beantwortung der Frage ergeben sich vor dem Hintergrund von Husserls zuvor dargelegter Analyse der Erkenntnis als einer Deckungssynthesis von leeren und anschaulich erfüllt gegebenen Materien. Diese Konzeption scheint an ihre Grenzen zu stoßen, wenn es gilt, die in den Materien der propositional objektivierenden Akte lie-
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genden materiegliedernden kategorialen Formstrukturen anschaulich zu erfüllen. In kategorial gegliederten Materien finden sich neben den oft direkt auf Sinnliches bezogenen Bedeutungselementen, wie etwa dem Subjektausdruck, auch Subjekt und Prädikat in Beziehung setzende Formbestandteile, die selber keinerlei Bezug auf sinnliche Gehalte haben und deshalb gar nicht sinnlich erfüllbar sein können. Ist aber eine vollständige Erfüllung kategorial geformter Materien allein durch sinnliche, oder eben schlichte anschauliche Gehalte unmöglich, so bleibt Husserls bislang entfaltete Theorie der Erkenntnis zwangsläufig ungenügend zur Klärung der Erkenntnis im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Diese systematische »Lücke« (XIX/2,657) vergrößert sich noch, wenn bezweifelt wird, inwiefern es überhaupt rein nominale, d.h. kategorial gänzlich ungeformte Gegenstandsbeziehungen gibt. Wird nämlich berücksichtigt, daß bereits die meisten Nennungen in grammatischer und formaler Hinsicht kategoriale Strukturierungen beinhalten, so handelt es sich dabei gar nicht um rein nomiale Akte. Solche vollziehen wir, wie aus Husserls Text im § 40 der VI. »Logischen Untersuchung« hervorgeht, nur, wenn wir die Eigenbedeutung einzelner Wörter erfassen, welche aber wohl noch nicht einmal Komposita sein dürfen (vgl. XIX/2,658). Der Bereich rein nominaler Gegenstandsbeziehungen schrumpft mithin derart zusammen, daß die im ersten Abschnitt der VI. »Logischen Untersuchung« behandelten nominalen Akte fast als Ergebnisse einer künstlichen Isolation erscheinen. Die gesonderte Betrachtung nominaler Akte läßt sich allerdings als heuristische Maßnahme zur Vorbereitung der echten Erkenntnisanalyse im zweiten Abschnitt rechtfertigen, dem nun um so größeres Gewicht beizumessen ist, da sich eigentliches Erkennen nur als Erfüllung von kategorial gegliederten objektivierenden Akten verstehen läßt. Die Schwierigkeit der anschaulichen Erfüllung der Materien aus kategorial gegliederten Akten spiegelt sich auch auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks von kategorialen Akten. Hier entspricht der Struktur der Materie elementarer kategorialer Akte die Struktur elementarer Aussagen bzw. ebensolcher Urteile, die neben den gegenstandsbezogenen »Termini« immer auch »Formbedeutungen« oder »Formworte« beinhalten, wie z.B. »das, ein, einige, viele, wenige, zwei, ist, nicht, welches, und, oder usw.« (XIX/2,658; vgl. Hua. Mat. II,151). Diese Formworte drücken die kategorialen oder logischen Formungen von Akten aus. Die Frage ist nun, was genau diesen Formworten oder Formbedeutungen Erfüllung verschaffen kann. Sie beziehen sich in keiner Weise auf Sinnliches oder direkt Wahrnehmbares, so daß »die Erfüllungsleistung der schlichten Wahrnehmung […] an solche Formen offenbar nicht hinanreichen« kann (XIX/2,660). Daß die Bedeutung von solchen synkategorematischen Ausdrücken »ganz und gar nicht in der Anschau-
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ung« (XIX/2,662) liegt, ja es »grundverkehrt wäre, in der Wahrnehmung direkt das zu suchen, was ihnen Erfüllung zu geben vermag« (XIX/2,664, vgl. Hua. Mat. III,162), betont Husserl in voller Deutlichkeit. In einem Satz wie »Das Papier ist weiß« mögen sich die Ausdrücke »Papier« und »weiß« auf Wahrnehmbares beziehen, aber für das sie synthetisierende Formwort »ist« gilt dies gewiß nicht88. Das Problem der Erfüllung solcher Formworte läßt sich, wie Husserl ebenfalls betont, auch nicht durch die Erfüllungsleistung einer inneren Wahrnehmung lösen, da diese zwar Begriffe von Erlebnisweisen, wie etwa Wahrnehmen, Erinnern, Imaginieren, Zählen oder Bejahen zur Erfüllung bringen kann, aber keinesfalls die bloß formalen kategorialen Begriffe, die keinen psychologischen Ursprung haben (vgl. XIX/2,668 ff.). Angesichts dieser Problemlage entwickelt Husserl seinen Begriff der kategorialen Anschauung als einen erweiterten Anschauungsbegriff. Eine Motivation hierfür ergibt sich aus der Tatsache, daß wir nicht nur Dinge in der Welt, sondern auch Sachverhalte »sehen«, d.h. in erfüllter Weise selbst gegeben haben können. Sachverhalte sind die gegenständlichen Korrelate des Sinns, also der Materie von Aussagen oder Urteilen, so daß ihre anschauliche Gegebenheit eben die Erfüllung solch kategorial objektivierender Akte bedeutet. Wenn wir z.B. sehen, daß das Papier weiß ist, meinen wir diesen Sachverhalt nicht bloß leer, sondern wir haben eine eindeutige anschauliche Evidenz dafür, daß er tatsächlich besteht. Husserl bezeichnet diese natürlichen Phänomene der anschaulichen Gegebenheit von Sachverhalten als »Sachverhaltwahrnehmungen« oder »Sachverhaltsanschauungen«89. Das alltägliche Vorkommen solcher Phänomene ermöglicht ihm die Erweiterung des gemeinhin nur auf die Gegebenheit von Dingen bezogenen Anschauungsbegriffs, also die Einführung der kategorialen Anschauung. Kategoriale Anschauungen sind mithin Anschauungen dessen, was Urteile vermeinen, also die Erfüllungen von Urteilsmaterien oder Urteilssinnen. Gerade diese geleistete Erfüllung von urteilsmäßig bloß Gemeintem dient Husserl zur Rechtfertigung seiner Erweiterung des Anschauungsbegriffs, der zuvor bereits im wesentlichen durch die Erfüllungfunktion charakterisiert wurde (vgl. XIX/2,671f.). Und wenn es nun tatsächlich eine solche Anschauung von Sachverhalten als Korrelaten der Materien von kategorialen Akten gibt, dann müssen darin auch die kategorialen Formbestandteile dieser Akte in einer Weise erfüllt sein, die von einer Phänomenologie des Logischen genauer analysiert werden kann. 88
In diesem Zusammenhang schließt sich Husserl im § 43 der VI. »Logischen Untersuchung« dem Kantischen Satz »Sein ist kein reales Prädikat« an (vgl. Kant (1781), A 598, B 626). 89 Vgl. XIX/2,669, 722, 723, 736; Hua. Mat. III,141f., 144 f.; XXIV,318, 321.
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Der phänomenologische Nachweis für das Vorkommen von kategorialen Anschauungen in Gestalt der alltäglichen Sachverhaltsanschauungen kann indes nur einen ersten Schritt auf dem Weg zur Lösung der Frage nach der Erfüllung kategorialer Formelemente von komplexen Bedeutungen bilden. Hierzu trägt auch Husserls nähere Charakterisierung der kategorialen Anschauung als einer im Unterschied zur schlichten Anschauung höherstufigen und fundierten Anschauung noch nicht genügend bei. Die kategoriale Anschauung ist in dem Sinne höherstufig, daß sie die Gegebenheit der direkt sinnlich erfüllbaren Materieelemente in den Materien der kategorialen Akte voraussetzt und sie sich »über« diesem Sinnlichen aufbaut (vgl. XIX/2,672). Damit ist gleichzeitig gesagt, daß sie nie ohne Sinnliches, also nie rein intellektuell möglich ist, sondern dessen als Fundierungsbasis notwendig bedarf. Kategoriale Akte vollziehen sich somit wesentlich aufgestuft auf schlichte Objektivationen, so daß auch ihre gegenständlichen Korrelate – die Sachverhalte – Gegenstände höherer Ordnung oder höherstufige Objektivationen sind. Im einfachsten Fall sind es Synthesen der stofflichen Korrelate von Subjekt- und Prädikatbegriff, wobei in die in der Synthesis gemeinten höherstufigen, kategorialen Gegenstände die sie fundierenden Momente als mitgemeinte mit eingehen. Diese fundierenden Momente werden im kategorialen Gegenstand aufgrund eines kategorialen Aktes synthetisiert, also gewissermaßen zusammen-gemeint. Ein solches Zusammenmeinen, das für die kategorialen Akte als höherstufige sachverhaltgebende charakteristisch ist, kann sich nun offensichtlich gemäß sehr unterschiedlichen Formen der Synthesis vollziehen, denen entsprechend ganz verschiedene Typen von kategorialen Formstrukturen in den kategorialen Akten unterschieden werden müssen. Die unterschiedlichen Formworte geben solchen typischen kategorialen Formstrukturen sprachlichen Ausdruck. Die generelle Frage nach den Erfüllungbedingungen kategorialer Aktmaterien, bzw. genauer gesagt nach den kategorialen Formmomenten aus diesen Materien, muß dem Umstand Rechnung tragen, daß diese Formen sehr verschieden sind, denn je nach Formtypus werden spezifische Erfüllungsbedingungen zu unterscheiden sein. Statt also allgemein zu fragen, wie sich kategoriale Formen überhaupt anschaulich erfüllen lassen, wird die phänomenologische Erkenntnisanalyse die den jeweiligen Haupttypen solcher Formen entsprechenden spezifischen Erfüllungsstile gesondert untersuchen müssen. Das heißt gleichzeitig, daß das alltägliche Phänomen der Sachverhaltsanschauung, welches zunächst als Indiz für das Vorkommen von kategorialen Anschauungen genommen werden kann, nun dergestalt phänomenologisch analysiert werden muß, daß gefragt wird, wie solche Sachverhalte gegeben sein können; und diese Frage muß dann je nach Sachverhalts-
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typ verschieden beantwortet werden, da die kategorialen Anschauungen eben sehr verschieden aufgebaut sind. Für die phänomenologische Klärung des Logischen ergibt sich somit die Aufgabe der Errichtung einer den Bedeutungsformen korrelierenden Formenlehre der kategorialen Anschauungen.
a) Die Analyse einiger Haupttypen von kategorialer Anschauung Im sechsten Kapitel der VI. »Logischen Untersuchung« entfaltet Husserl seine Analyse der Erfüllung von kategorial gegliederten synthetischen Aktmaterien nacheinander anhand einer schwerpunktmäßigen Betrachtung einiger Haupttypen kategorialer Anschauungen. Er analysiert die Synthesis der Identifizierung (XIX/2,678 f.), die Synthesis von Teil und Ganzem (XIX/2, 681ff.), einige Synthesen, die äußeren Relationen zugrunde liegen (XIX/2, 683 f.) sowie die Synthesen, die Kollektiva konstituieren (XIX/2,688 ff.). Sprachlich entsprechen diesen intentionalen Synthesen beispielsweise die Formworte aus Bedeutungskomplexionen mit »ist« (Identifikation), »hat«, »ist in«, »im« (Teil-Ganzes), »größer als«, »heller als«, »neben«, »auf«, »rechts von« (äußere Relationen) sowie »und«, »oder«, »beides«, »eins von beiden« (Kollektion und Disjunktion). Indem der anschauliche Ursprung dieser Formworte exemplarisch aufgewiesen wird, wird ein sehr zentrales Spektrum von kategorialen Anschauungsweisen phänomenologisch analysiert und gleichzeitig der Grundstein einer phänomenologischen Urteilsanalyse gelegt. Husserl will damit erkenntnisphänomenologisch aufklären, wie derartige Typen von Sachverhalten ursprünglich anschaulich gegeben sind und was in ihnen liegt, d.h. welchen Fundierungsbeziehungen sie sich verdanken. Diese Klärung von kategorialen Gegenständlichkeiten ist eine Analyse der spezifischen Stile ihrer erfüllten, also evidenten Gegebenheitsweisen. Sofern diese Analyse gelingt, beantwortet sie die Frage, wie die jeweiligen logischen Formstrukturen aus den Materien kategorial gegliederter objektivierender Akte eine anschauliche Erfüllung finden können. Diese Antwort würde gleichzeitig den phänomenologischen Ursprung des Logischen aufweisen sowie zeigen, daß die logischen Formen ihren konstitutiven Ursprung in je spezifischen intentionalen Synthesen haben. Von den verschiedenen im Text der VI. »Logischen Untersuchung« behandelten Typen kategorialer Anschauung sind die Verhältnisse von Teil und Ganzem am ausführlichsten dargestellt, so daß uns für ihre Untersuchung die meisten Anknüpfungspunkte gegben sind. Da der Teil-Ganzes-Relation in Husserls formaler Ontologie außerdem eine Schlüsselrolle zukommt, die Husserl mit der III. »Logischen Untersuchung« besonders unterstreicht, ist
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die exemplarische Beschäftigung mit der ihr entsprechenden kategorialen Anschauung aus sachlichen Gründen naheliegend. Wenn wir, Husserl folgend, das Teil-Ganzes-Verhältnis daher anschließend bevorzugt untersuchen, darf dies allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß den anderen Typen von Sachverhalten bzw. kategorialen Anschauungen gegenüber diesem ausgewählten Typ auch jeweils andere spezifische Erfüllungsstile zukommen. Jeder logischen Form korreliert mithin ihr eigener Erfüllungsstil, den eine Phänomenologie des Logischen im einzelnen aufweisen muß. Der Konstitution eines Teil-Ganzes-Verhältnisses, etwa des Sachverhalts »Das Haus hat eine Tür« bzw. in allgemeinerer sprachlicher Form »A ist (hat) ␣ « und » ␣ ist in A« (vgl. XIX/2,681f.), verdankt sich komplexen intentionalen Vollzügen und Synthesen, die den phänomenologischen Ursprung dieser logischen Form bilden. Husserl analysiert dieses Geschehen als einen dreischrittigen Konstitutionsprozeß90: In einem ersten »anschauliche[n] Gesamtmeinen des Gegenstandes« (ebd.), nehmen wir an es handle sich um das Haus, ist dieser Gegenstand samt der ihm anhaftenden, impliziten Besonderheiten als eine noch ungegliederte Einheit schlicht gegeben. Husserl schreibt: »Ein wahrnehmender Akt erfaßt A als ein Ganzes, in einem Schlage und in schlichter Weise« (ebd.). Daraufhin fallen uns Einzelheiten dieses Hauses, etwa seine Tür, gesondert auf und werden Thema intentionaler Sonderzuwendungen, d.h. explizierender Sonderwahrnehmungen, die ebenfalls noch schlichter Natur sind: »Ein zweiter Wahrnehmungsakt richtet sich auf das ␣, den Teil oder das unselbständige Moment, das dem A konstitutiv zugehört« (ebd.). Dieser Akt, der ein zunächst unthematisches Moment des Gesamtgegenstandes nun eigens heraushebt, steht indes in engem Zusammenhang mit dem vorangehenden, auf das Gegenstandsganze gerichteten Akt. Dieser Zusammenhang besteht insbesondere in einer partiellen Deckung der Materien der Gesamtwahrnehmung und der Sonderwahrnehmung, die als Grundlage für die Sachverhaltskonstitution des Teil-GanzesVerhältnisses fungiert. Der entscheidende dritte, nun kategoriale, also höherstufige Akt besteht in dem Zusammenmeinen der Gehalte der beiden schlichten Akte, wobei als Anhalt für die dadurch geleistete synthetische Sachverhaltskonstitution die Deckungseinheit der intentionalen Materien der fundierenden Akte dient. Sie ergibt sich daraus, daß in der Hauswahrnehmung bereits Materiemomente für die Türwahrnehmung mitfungieren, 90
Die aufschlußreichsten Kommentare zu Husserls Analyse von Teil-Ganzes-Verhältnissen aus dem § 48 der VI. »Logischen Untersuchung« finden sich bei de Almeida (1972), 104–120, Grünewald (1977), 101ff., Becke (1994), 94 ff. und Lohmar (1998), 169–173. Vgl. parallel auch XXIV, 286 ff.
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die in ihr zwar noch nicht expliziert, aber explikationsbereit enthalten sind. Ungeachtet der Verschiedenheit der beiden fundierenden Akte sind diese hinsichtlich ihrer intentionalen Materien somit zum Teil übereinstimmend, weshalb es zu der für die Konstitution eines Teil-Ganzes-Verhältnisses charakteristischen partiellen Deckung ihrer Materien kommt. Eben diese Dekkungseinheit gewinnt in der Auffassung des kategorialen Aktes Repräsentationsfunktion für die eigentliche Sachverhaltswahrnehmung, also für die kategoriale Anschauung: »diese Einheit nimmt nun selbst die Funktion einer Repräsentation an […], sie hilft einen anderen Gegenstand [zu] konstituieren« (XIX/2,682), nämlich den kategorialen Gegenstand »A hat ␣ «. Die Deckungseinheit erfüllt so die kategoriale Intention »Das Haus hat eine Tür«, bzw. baut sich diese Intention auf ihr auf. Ob sich diese Einheit jedoch einstellt und unsere Intention dann erfüllt wird, hängt nicht allein von unseren synthetisierenden Akten ab, sondern ebensosehr von den Sachen selbst, so daß die kategorialen Formen sowohl Formen der Synthesis als auch Formen der Gegenständlichkeit selbst sind91. Der kategoriale Gegenstand wird hier also durch unsere Akte nicht erst gewissermaßen »zusammengeleimt« (vgl. XIX/2,715), sondern kommt lediglich in der spezifischen Weise der kategorialen Anschauung zu seiner ursprünglichen Gegebenheit92. Ähnlich wie der von Husserl detailliert beschriebene Erfüllungsstil von Teil-Ganzes-Sachverhalten in kategorialen Anschauungen verlaufen die Erfüllungen von Identifikationsbeziehungen und äußeren Relationen. Denn hier findet sich ebenfalls sowohl der die Sachverhaltskonstitution leistende charakteristische Dreischritt von zwei fundierenden schlichten Akten und einem zusammenmeinenden höherstufigen, kategorialen Akt als auch eine repräsentierende Deckungseinheit der intentionalen Materien der fundierenden Akte. Diese Deckungseinheit ist bei den Identifikationen, mithin bei den Urteilen mit dem Formwort »ist«, im Unterschied zu den Teil-GanzesVerhältnissen allerdings keine partielle, sondern eine totale. Derselbe Reprä91
»Die kategorialen Formen sind nicht […] bloß subjektive Formen, sondern sie sind zur Idee möglicher Gegenstände überhaupt gehörige Formen, deren Gesetze für Gegenstände überhaupt gelten und die Möglichkeiten ihrer kategorialen Anschauung und kategorialen Wahrnehmung umgrenzen.« (Hua. Mat. III,200, vgl. 155) 92 Heidegger betont in seiner Darstellung der kategorialen Anschauung in seiner Vorlesung »Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs« (1925) besonders diese Seite der Husserlschen Theorie: »Die kategorialen ›Formen‹ sind keine Gemächte der Akte, sondern Gegenstände, die in diesen Akten an ihnen selbst sichtbar werden. Sie sind nichts vom Subjekt Gemachtes und noch weniger etwas an die realen Gegenstände Herangebrachtes, so daß durch diese Formung das reale Seiende selbst modifiziert würde, sondern sie präsentieren [… es] gerade eigentlicher in seinem ›An-sich-sein‹.« Heidegger (1979), 96.
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sentant, der den Subjektausdruck erfüllen kann, erfüllt hierbei also nach einer andersartigen gegenständlichen Auffassung auch den Prädikatausdruck, so daß die sich dabei bildende totale Deckungseinheit der intentionalen Materien der fundierenden Akte auch das kategorial synthetisierende »ist« erfüllen kann (vgl. XIX/2,678; XXIV,279–283). Ein völlig anderer Erfüllungsstil muß allerdings die anschauliche Gegebenheit der Kollektiva ermöglichen, die sprachlich durch ein »und« zum Ausdruck gebracht wird (vgl. XIX/2,688 f., 714 f.; XXIV,306 f.). Da wir Gegenstände kollektivisch vereinigen können, die untereinander keinerlei Gemeinsamkeiten haben, können solchen Synthesen auch keine Deckungseinheiten zwischen ihren Aktmaterien zugrundeliegen. Wir sind bei der Bildung von Und-Verbindungen also nicht an die Sachgehalte der darin verbundenen Glieder gebunden, sondern ganz frei. Dennoch verdankt sich auch die Synthese von Kollektiva einem mehrstufigen Konstitutionsgefüge, in dem zuerst Einzelglieder jeweils für sich gemeint, und diese dann im fundierten Akt zur Sinneinheit eines Kollektivums zusammengemeint werden. Die Synthesis dieses höherstufigen, kategorialen Gegenstandes weist insofern die charakteristischen Konstitutionsstufen von kategorialen Gegenständen überhaupt auf. Das Spezifikum der Kollektiva liegt jedoch darin, daß ihre Bildung in ganz starker Weise in unserer freien Verfügung steht, so daß die Erfüllung unseres Kolligierens auch viel stärker vom Vollzug dieser Synthesis selbst abhängig sein muß als es bei den übrigen kategorialen Anschauungen der Fall ist. Kollektiva sind uns nach Husserl als solche ausschließlich durch den »aktuellen« oder »wirklichen Vollzug« (vgl. XIX/2,717 ff., 724, 727) des die Gehalte der fundierenden Akte synthetisierenden kategorialen Aktes erfüllt gegeben und nicht auf der Basis von Repräsentationsfunktion gewinnenden Deckungssynthesen. Husserl schreibt: »Wollen wir uns die Bedeutung des Wortes und klarmachen, so müssen wir irgendeinen Kollektionsakt wirklich vollziehen und in dem so zu eigentlicher Vorstellung kommenden Inbegriff eine Bedeutung der Form a und b zur Erfüllung bringen« (XIX/1,323). Es sei mithin der aktuelle Vollzug des synthetisierenden kategorialen Aktes, der die Inbegriffsform zur Erfüllung bringt und damit den phänomenologischen Ursprung des Formworts »und« bilde.
b) Das Problem der kategorialen Repräsentation Durch die Berücksichtigung der sehr unterschiedlichen Erfüllungsstile von kategorialen Anschauungstypen sind wir bereits auf die von den Interpreten vieldiskutierte Problematik der kategorialen Repräsentation gestoßen, die
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Husserl im siebten Kapitel der VI. »Logischen Untersuchung« eingehend behandelt. Es geht hier um die Frage, ob es in kategorialen Akten eigene Repräsentanten gibt und welche dies sein können. Will man, wie Husserl es tut, die ursprüngliche Gegebenheit kategorialer Gegenstände in Analogie zur Gegebenheit schlichter Gegenstände als eine Weise der Anschauung begreifen, so ist es erforderlich, alle zuvor bereits aufgewiesenen wesentlichen Momente von Anschauungen nun auch bei den kategorialen Anschauungen wiederzufinden, also auch einen Repräsentanten für die kategorialen Gegenstände. Außerdem ist die Suche nach einem spezifisch kategorialen Repräsentanten auch aus systematischen Gründen unumgänglich, da nur die Beschaffenheit des Repräsentanten die Fülle des Aktes bestimmt, d.h. die Differenz zwischen leeren und erfüllten Akten vom Repräsentanten abhängt: »Die Repräsentanten sind es, welche den Unterschied zwischen ›leerer‹ Signifikation und ›voller‹ Intuition ausmachen, ihnen wird die ›Fülle‹ verdankt« (XIX/2,700), die auch bei den kategorialen Erkenntnisakten unterschiedliche Grade aufweisen kann. Die Suche nach einem Repräsentanten kategorialer Gegenstände – bei den schlichten Wahrnehmungen fungieren im wesentlichen die reellen Empfindungsgegebenheiten als Repräsentanten – bereitet Husserl nun im siebten Kapitel aber so »ernste Schwierigkeiten« (XIX/2, 696), daß er zu keiner nachhaltig zufriedenstellenden Lösung kommt und den Inhalt dieses Kapitels im Vorwort der Neuauflage der VI. »Logischen Untersuchung« von 1920 ersatzlos verwirft93. Bevor man aus dieser Selbstkritik jedoch den Schluß zieht, daß der Husserlschen Erkenntnistheorie damit die Möglichkeit genommen ist, den entscheidenden Unterschied zwischen leeren und erfüllten Erkenntnisakten zu erklären, womit sie ein für eine Erkenntnistheorie geradezu fatales Defizit aufweisen würde, lohnt es, im Text nach den Gründen dieses Scheiterns und nach systematisch aussichtsreichen alternativen Lösungsansätzen für diese Problematik zu suchen. Die Schwierigkeit, eigene Repräsentanten für die kategorialen Gegenstände zu finden, ergibt sich daraus, daß es zunächst so aussieht, als seien die unterschiedlichen Erfüllungsgrade kategorialer Akte nur auf jene der Materien der sie fundierenden schlichten Akte zurückzuführen. Da die kategoriale 93
»Es tut dem Gesagten keinen Eintrag, wenn ich hinzufüge, daß ich heute, nach zwanzigjähriger Fortarbeit, vieles so nicht mehr schreiben würde, daß ich manches, wie z.B. die Lehre von der kategorialen Repräsentation, nicht mehr billige. Dennoch glaube ich sagen zu dürfen, daß auch das Ungereifte und selbst das Verfehlte in diesem Werke eines genauen Nachdenkens wert ist.« (XIX/2,535) Bereits 1903/03 muß Husserl die kategoriale Repräsentation schon so problematisch erschienen sein, daß er sie bei der Behandlung der Theorie der kategorialen Anschauung in seinen ausführlichen Logik- und Erkenntnistheorievorlesungen (Hua. Mat. II und III) gar nicht mehr erwähnt.
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Form, und damit das Spezifikum von kategorialen Gegenständen, nämlich bei jedem Typ von kategorialen Akten unabhängig vom Erfüllungsgrad invariant bleibt, scheinen die Erfüllungsunterschiede kategorialer Akte allein von den unterschiedlichen Materien der sie fundierenden Akte abzuhängen. Die Unterschiedslosigkeit der einzelnen kategorialen Formtypen (»ist«, »hat«, »und« …) bei leeren wie erfüllten kategorialen Akten scheint also dafür zu sprechen, daß es keine eigenen kategorialen Repräsentanten gibt und die Erfüllungsgrade kategorialer Akte ausschließlich durch die Unterschiede der fundierenden Akte begründet sind. Diese negative Antwort auf die Ausgangsfrage kann indes nur vorläufig sein, da klar ist, daß durch die fundierten Akte neue Gegenständlichkeiten vorstellig werden, die durch die Repräsentanten der fundierenden schlichten Akte gar nicht hinreichend repräsentiert werden können94. Da diese neuen, eben kategorialen Gegenstände sowohl leer als auch erfüllt gegeben sein können, bedarf es eigener kategorialer Repräsentanten, die diese Gegebenheitsunterschiede verständlich machen können. Husserl geht angesichts dieser Problematik auf das Eigentümliche der kategorialen Akte, also auf ihre kategorialen Formtypen bzw. ihren Synthesischarakter zurück. Er glaubt, daß dieses Moment der Synthesis vom Gesamtcharakter des kategorialen Aktes derart durchdrungen wird, daß es in seinen Unterschieden, und damit in seiner möglichen Repräsentationsfunktion, lediglich nicht in Erscheinung tritt. Der Synthesischarakter weise aber durchaus die für Repräsentanten spezifischen Differenzierungen auf und werde – analog zu den Empfindungen als reell Gegebenem im schlichten Wahrnehmen – im Auffassungsgeschehen nur deshalb nicht bemerkt, weil wir darin auf das durch es ermöglichte Gegenständliche gerichtet sind. Dies führt Husserl schließlich dazu, als Repräsentanten der kategorialen Gegenstände das »psychische Band, das die Synthesis herstellt«, anzunehmen (XIX/2,701). Dieses psychische Band als »psychische Verbindungsform« (ebd.) gehöre als unselbständiges, aber mitkonstitutives Bestandstück zur kategorialen Gesamtmeinung hinzu, sei außerdem ein Spezifikum kategorialer Akte, das darüber hinaus »mehr oder minder erfüllt« (ebd.) sei, und übernehme mithin die gesuchte Repräsentationsfunktion in diesen Akten. Als Repräsentant kategorialer Gegenstände fungiere somit das psychische Band, das die Verbindung der fundierenden Akte zum kategorialen Akt stifte. Diese von Husserl im siebten Kapitel versuchte, später verworfene Lösung der Frage nach dem kategorialen Repräsentanten ist in der Literatur 94
Husserl schreibt in diesem Sinne: »Die Repräsentation kann aber nicht in den fundierenden Akten allein vollzogen sein, nicht bloß deren Objekte sind vergegenwärtigt, sondern der ganze Sachverhalt, der ganze Inbegriff usw.« (XIX/2,700)
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mit zahlreichen kritischen Einwänden konfrontiert worden, die Husserls Selbstkritik einsichtig machen. Als erster wies Tugendhat darauf hin, daß das psychische Band schon deshalb kein geeigneter Repräsentant kategorialer Gegenstände sein kann, weil es in allen kategorialen Synthesen vorkommt, so daß es den Unterschied zwischen den leeren und den intuitiv erfüllten kategorialen Akten gar nicht erklären kann. Vielmehr wird mit diesem Repräsentanten »die genuine Differenz zwischen Signitivem und Intuitivem verwischt«95. In ähnlicher Weise hat dann Rosen bemängelt, daß diese Konzeption nicht die für Erkenntnis charakteristischen Möglichkeiten der Steigerung an Anschaulichkeit, mithin die Gradation an Fülle verständlich machen kann96. Lohmar97 wandte darüber hinaus ein, daß die Konzeption des psychischen Bandes die psychologistischen Fehler aus der PA wiederholt. Denn hier wie dort klassifiziert Husserl die Grundlage von Inbegriffen oder Kollektiva im Anschluß an Brentanos Klassifikation der Phänomene als etwas Psychisches. Daher ist das psychische Band nur eine terminologische, aber keine sachliche Neufassung der älteren Theorie von der kollektiven Verbindung als der Grundlage des Vielheitsbegriffs. Und wie in der PA die Charakterisierung dieser Verbindung als »psychischer Verbindung« oder »psychisches Phänomen« zum Psychologismus geführt hat, so kann die Neuauflage dieser Theorie im Durchbruchswerk LU nur als Nachwirken alter, von Brentano ererbter Vorurteile verstanden werden, die Husserl erst in der zweiten Auflage des Werkes durchschaut, weshalb er dann auch dort erst dieses Theorieelement verwirft. Schließlich richtet sich ein weiterer Hauptvorwurf von Tugendhat gegen eine mit der Annahme des psychischen Bandes als Repräsentant verbundene Vermengung des Sinnlichen mit dem Kategorialen. Tugendhat meint, daß bei Husserl mit der Synthese von schlichten sinnlichen Akten durch das psychische Band auch eine sinnliche Grundlage als Repräsentant des Kategorialen fungiere. Das widerspricht jedoch der Husserlschen Einsicht, gemäß der Kategoriales prinzipiell nicht durch Sinnliches dargestellt werden kann; nach Tugendhat gilt deshalb, daß die Repräsentation des Kategorialen durch das psychische Band aus systematischen Gründen untauglich und »absurd« ist98. Um trotz Husserls berechtigter Selbstkritik am siebten Kapitel die Theorie einer kategorialen Repräsentation nun aber nicht wie das Kind mit dem Bade auszuschütten, hat Tugendhat eine gut gemeinte Neuinterpretation 95 96 97 98
Tugendhat (1970), 125. Vgl. Rosen (1977), 62, 70. Lohmar (1989), 50 ff.; (1990); (1998), 189–200. Tugendhat (1970), 122, vgl. auch Sokolowski (1970), 70–73.
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dieses Theoriestücks vorgeschlagen, die sehr einflußreich geworden ist99. Unter zusätzlicher Einbeziehung von Husserls Ausführungen im achten Kapitel der VI. »Logischen Untersuchung« erfüllen sich demgemäß leere kategoriale Akte im »aktuellen«, »eigentlichen« oder »wirklichen Vollzug« der in ihnen geleisteten Synthesis. Die Erfüllbarkeit der kategorialen Formen hänge zum einen von der aktuellen anschaulichen Gegebenheit der fundierenden Gegenstände, zum anderen aber entscheidend vom aktuellen Vollzug ihrer kategorialen Synthese selbst ab. Leere kategoriale Akte seien gegenüber erfüllten nicht »wirklich« vollzogene, so daß die Theorie der Repräsentation durch den aktuellen Vollzug den bei Husserl fehlenden Unterschied der Erfüllungscharaktere kategorialer Akte erklärbar mache. Obwohl Husserls Ausführungen Tugendhats Neuinterpretation an einigen Stellen recht zu geben scheinen100, ist diese doch keine tragfähige Alternative zur Bewältigung der Problematik. Die Fruchtlosigkeit des Tugendhatschen Interpretationsversuchs zeigt sich daran, daß es kaum verständlich ist, was ein nicht wirklich vollzogener kategorialer Akt überhaupt für ein Akt sein soll. Denn wenn es überhaupt ein kategorialer Akt ist, dann wird er trivialerweise auch dann »wirklich« vollzogen, wenn er einen Gegenstand bloß leer vermeint. Der Vollzugscharakter kommt mithin allen Akten zu und ist deshalb kein geeignetes Kriterium, um die leeren von den erfüllten kategorialen Akten zu unterscheiden. Insofern treffen die Einwände gegen die Theorie der Repräsentation durch das psychische Band auch die Theorie der Repräsentation durch den »aktuellen Vollzug«101. Von der Theorie der kategorialen Repräsentation als einem Zentralstück der Husserlschen Erkenntnistheorie scheint nach dieser Kritik nur noch ein Scherbenhaufen übrig zu bleiben. Somit wäre zwar Husserls Selbstkritik hieran verständlich, seine Erkenntnistheorie aber gleichzeitig mit einem vernichtenden Makel behaftet, da sie nicht in der Lage zu sein scheint, den Unterschied zwischen leeren und erfüllten kategorialen Akten, und daß heißt letztlich auch, die Wahrheitsdifferenz bei den eigentlichen Erkenntnisakten mit phänomenologischen Mitteln zu erläutern. Um diese Konsequenz zu vermeiden, lohnt ein Rückblick in das sechste Kapitel der VI. »Logischen Untersuchung«. Dort hatte Husserls bereits auf die Unterschiedlichkeit der 99
Vgl. Tugendhat (1970), 123 ff. Tugendhats Neuinterpretation der Theorie der kategorialen Repräsentation wurde beispielweise von Grünewald (1977), 101, 128, 137 ff., Rosen (1977), 68 ff. und Ströker (1978), 18 ff. aufgegriffen. 100 Vgl. z.B. XIX/2,702, 717 ff., 724, 727, 736. 101 Vgl. zur Kritik an Tugendhats Neuinterpretation der kategorialen Repräsentation de Almeida (1972), 113 ff., Rosen (1977), 69 ff., Lohmar (1990), 190, ders. (1998), 172, 189 ff.
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Erfüllungsstile kategorialer Akte hingewiesen und die Erfüllungsverhältnisse im Fall von Identitäts- und Teil-Ganzes-Verhältnissen anders beschrieben als im siebten Kapitel. Wie wir oben gesehen haben, liegen diesen kategorialen Synthesen Deckungseinheiten zwischen den intentionalen Materien der sie fundierenden Akte zugrunde, die ihren Grund keineswegs nur in unseren Aktvollzügen, sondern ebensosehr in den hierzu korrelativen Gegenständlichkeiten haben. Da diese Deckungseinheiten schon dort in ihrer Repräsentationsfunktion für die Sachverhaltsanschauung herausgestellt wurden (vgl. XIX/2,679, 682), wundert es, daß Husserl diese Konzeption im siebten Kapitel nicht in den Mittelpunkt seiner Suche nach einem kategorialen Repräsentanten stellt. Denn Deckungssynthesen können Grade aufweisen, also die Erfüllungsunterschiede von kategorialen Akten verständlich machen, und sie sind aufgrund ihres Fundaments in intentionalen Materien keine bloßen psychischen Phänomene, so daß ihre Repräsentationsfunktion auch dem Vorwurf des Psychologismus entzogen bleibt. Insofern sie also die erforderlichen Eigenschaften für eine gelingende Erklärung der kategorialen Repräsentation aufweisen, ist die Vernachlässigung der Deckungseinheiten im siebten Kapitel wohl nur dadurch verständlich, daß Husserl dort den besonderen Erfüllungsstil von kolligierenden kategorialen Akten unbemerkt als Leitfaden für eine allgemeine Theorie der kategorialen Repräsentation nimmt102. Wie wir oben bereits gesehen haben, kann bei den Kollektiva die Deckung von Materien der fundierenden Akte fehlen, so daß dann die Konstitution dieser besonderen kategorialen Gegenstände in der Tat allein vom Vollzug unserer synthetisierenden Akte abhängt. In diesem speziellen Fall wird die Konstitution eines kategorialen Gegenstandes somit nicht durch eine sich anschaulich zeigende sachliche Konstellation der Materien der fundierenden Akte, sondern durch den kolligierenden Vollzug selbst erfüllt. Aufgrund dieser fehlenden Sachgrundlage der Kollektion spricht Husserl davon, daß sie eigentlich »nicht selbst Sachverhalte« (XIX/2,688) sind, die, wie die anderen kategorialen Gegenstände, in einer kategorialen Anschauung dann in Erscheinung treten können. Haben Kollektiva aber keinen Anhalt in den Gegenständen der sie fundierenden Akte, so bedarf die von Husserl behauptete These, daß das »Und« eine »objektive logische Form« ist (XIX/2,689), die nicht ausschließlich von der subjektiven Tatsache des Kolligierens abhängt – wie es Sigwart behauptet hatte (vgl. XIX/2,689 Anm.) – einer besonderen Begründung; die Suche nach dieser im sechsten Kapitel noch fehlenden Begründung 102
Ich folge in dieser Einschätzung den Ausführungen von Lohmar (1998), 187–209, der die Bedeutung der Deckungseinheiten für die kategoriale Repräsentation deutlich betont und herausgearbeitet hat. Vgl. hierzu auch de Almeida (1972), 110 ff.
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mag Husserl dann im siebten Kapitel veranlaßt haben, in seiner Studie über kategoriale Repräsentation die besondere kategoriale Form der Kollektiva unangemessen zu bevorzugen. Dieser Umstand würde es verständlich machen, daß Husserl seine bereits skizzierte Konzeption der kategorialen Repräsentation durch die Deckungseinheiten der Materien der fundierenden Akte aus dem sechsten Kapitel nicht weiter entfaltet hat, obwohl sie zur Erläuterung der kategorialen Repräsentation systematisch durchaus tragfähig ist. Nimmt man diese Überlegungen auf, läßt sich nun zu Husserls Theorie der kategorialen Anschauung im engeren Sinn folgendes festhalten: Gemäß Husserl konstituiert sich alles Logische in fundierten Akten bzw. deren anschaulichen Erfüllungen, in denen es seinen in der formalen Logik selbst unthematischen phänomenologischen Ursprung hat. Dieses anschauliche Fundament enthüllt die Phänomenologie, um damit eine Sinnklärung der logischen Formen zu erreichen. Als Ausgangspunkt dieser Sinnklärung eignen sich die alltäglichen Phänomene der Sachverhaltsanschauungen, da in ihnen die kategorial gegliederten Materien der kategorialen Akte zur Erfüllung kommen. Wie diese Erfüllung in den höherstufigen kategorialen Anschauungen zustande kommt, ist je nach Sachverhaltstyp gesondert zu untersuchen. Dementsprechend korrelieren den verschiedenen logischen bzw. kategorialen Formen ganz unterschiedliche Erfüllungsstile, die die Phänomenologie des Logischen im einzelnen aufklären muß. Husserl gelingt diese Klärung bei den Identifikations- und den Teil-Ganzes-Formen. Hier kann er zeigen, daß diese logischen Formen ihren letzten konstitutionstheoretischen Ursprung in Deckungssynthesen zwischen den Aktmaterien der die höherstufige Sachverhaltsmaterie fundierenden Akte haben. Demgemäß erfüllt sich der Sinn des Formwortes »ist« in der totalen Deckung der Materien eines einen Gesamtgegenstand wahrnehmenden Aktes mit der Materie eines ein Detail aus diesem Gesamtgegenstand heraushebenden Aktes. Der anschauliche Ursprung des Formwortes »hat« liegt hingegen lediglich in einer partiellen Deckung der fundierenden Materien eines Aktes in dem ein Teil-GanzesSachverhalt gegeben wird. Beide Fälle erweisen, daß und wie der letztfundierende Ort dieser hochstufigen logischen Formen in den Korrelaten der sinnlichen Anschauung liegt, auf der die kategoriale Anschauung aufbaut. Die kategoriale Anschauung ist hier also keine freischwebende Konstruktion, sondern der sachlich fundierte Ursprung von höherstufigen Erkenntnisleistungen.
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3. Die allgemeine Anschauung Mindestens ebenso problematisch wie es der Begriff der kategorialen Anschauung ohnehin schon ist, ist Husserls Inanspruchnahme einer allgemeinen Anschauung. Sie ist jene spezifische Weise kategorialer Anschauung, die die anschauliche Gegebenheit von allgemeinen, idealen Gegenständen ermöglichen, also die Erfüllung unserer Intentionen auf derartige Entitäten leisten soll. Husserl ist sich darüber klar, daß allein der Begriff der allgemeinen Anschauung zunächst nicht besser klingt als der des hölzernen Eisens (vgl. XIX/2,690), denn daß Anschauung, die doch zumeist als repraesentatio singularis verstanden wird, Allgemeinheiten geben können soll, scheint unmöglich zu sein. Hieran ändert sich der Sache nach nichts, wenn Husserl statt wie in den LU von »allgemeiner Anschauung« später nur noch von »Wesensanschauung« spricht und er das darin jeweils liegende Zur-Gegebenheit-Bringen der Allgemeinheiten nicht mehr als »ideierende Abstraktion« oder »Ideation«, sondern als »eidetische Variation« begreift. Immerhin weist diese Begriffsentwicklung bereits auf eine konzeptionelle Wandlung des Verfahrens der Erfassung allgemeiner Gegenständlichkeiten hin, die nicht nötig gewesen wäre, wenn die LU das Problem der Gegebenheit des Allgemeinen im einzelnen Erkenntnisakt vollends zufriedenstellend gelöst hätten. Obwohl die später zur Wesensschau hin weiterentwickelte allgemeine Anschauung in den LU bestenfalls ansatzweise zu finden ist, erfordert es die herausragende systematische Funktion der allgemeinen Anschauung für das Anliegen der LU, ja der phänomenologischen Philosophie überhaupt, in diesem Kapitel den Rahmen der LU zu verlassen, um hier auch noch die Wesensschau hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit kritisch zu überprüfen. Die enorme systematische Bedeutung der allgemeinen Anschauung ergibt sich v.a. aus zwei zentralen Aufgaben, deren Lösung von ihr abhängen: Die erste Aufgabe, die die allgemeine Anschauung lösen muß, ergibt sich aus dem immanenten Anspruch der LU, die Idee der reinen Logik erkenntnistheoretisch abzusichern. Diese reine Logik hat es ausschließlich mit Gegenständen zu tun, die Husserl von Anfang an denen der Psychologie und jeder anderen empirischen Wissenschaft gegenüberstellt, indem er sie als ideale, allzeitliche Entitäten charakterisiert. Denn die reine Logik befaßt sich mit ideal möglichen Theorie-, Schluß- und Satzformen, deren letzte konstitutive Einheit die Bedeutungen sind, welche Husserl als aller Kontingenz entzogene ideale Spezies begreift103. Diese Gegenständlichkeiten psychologisiert der logische Psychologismus, wenn er sie als bloße Resultate unserer 103
Vgl. hierzu oben Kap. II. A. 2. c.
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subjektiven Denktätigkeiten mißdeutet, womit er in der Konsequenz die Wissenschaften einem skeptischen Relativismus überläßt. Husserls hiergegen gerichtete Charakterisierung der Bedeutungen als idealer, allgemeiner Gegenständlichkeiten zog jedoch die Frage nach sich, wie wir von ihnen wissen können, wie wir also diese besondere Gegenstandssphäre der reinen Logik erkennen können. Und da Erkenntnis die anschauliche Erfüllung von Intentionen ist, ist es nun die allgemeine Anschauung, die diese Frage beantworten und damit erweisen soll, daß und wie wir einen evidenten Zugang zu dem Reich der Bedeutungsspezies gewinnen können. Von der Leistungsfähigeit der Theorie der allgemeinen Anschauung hängt daher das Gelingen der erkenntnistheoretischen Begründung der Idee der reinen Logik und der auf sie zurückgehenden Kritik am logischen Psychologismus ab. Insofern die LU also die erkenntnistheoretische Neubegründung der Logik als Wissenschaftslehre beabsichtigen, kann die Relevanz der Funktion der allgemeinen Anschauung für das Anliegen der LU im ganzen kaum überschätzt werden. Die zweite Aufgabe der allgemeinen Anschauung besteht auch unabhängig von der in den LU vertretenen Speziestheorie der Bedeutungen. Sie besteht in nichts geringerem als der Selbstbegründung der Phänomenologie als einer nicht psychologischen, sondern spezifisch philosophischen Wissenschaft. Phänomenologie untersucht aus primär erkenntnistheoretischen Motiven die unterschiedlichsten subjektiven Akte, in denen uns etwas gegeben ist, um von hier aus Einsichten in die allgemeinen konstitutiven Bedingungen von Gegenständen, Sinn und Welt überhaupt zu gewinnen. In den LU ist diese weitgreifende Zielsetzung zwar thematisch noch auf die erkenntnistheoretische Analyse des Bereichs logischer Gegenständlichkeiten restringiert, aber auch hier muß die Methode der Untersuchung der Bewußtseinsakte von der der empirischen Wissenschaften, und insbesondere von der der Psychologie, klar unterschieden werden. Husserl tut dies, indem er seine Phänomenologie als eidetische Wissenschaft von allen Tatsachenwissenschaften unterscheidet; Phänomenologie untersuche weder zufällige, einzelne Fakten noch hieraus bloß induktiv gewonnene Naturgesetzmäßigkeiten, sondern eben Wesen bzw. eidetische Strukturen und Gesetze, wodurch sie sich von der empirischen Psychologie abgrenze. Ohne diese methodische Abgrenzung bliebe die Phänomenologie nur eine deskriptive Bewußtseinspsychologie, d.h. eine empirische Erkenntnistheorie, die in der Logik einen erkenntnistheoretischen Psychologismus zur Folge hätte. Wenn die Phänomenologie statt dessen als eidetische Wissenschaft das Wesen von Bewußtseinsakten untersucht, muß aber verständlich werden, wie dies gelingen kann, wie also Wesenseinsichten überhaupt gewonnen werden können. Ob die Phänomenologie mithin zu Recht den Anspruch erhebt, zu apriorischer
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Erkenntnis von gegenstandskonstituierenden Bewußtseinsleistungen fähig zu sein, hängt von der Leistungsfähigkeit ihrer eigenen Erkenntnismethode ab, die eben die Ideation oder Wesensschau ist. Diese Methode soll sachhaltige apriorische Einsichten ermöglichen und insofern auch die Grundlage jeder materialen Ontologie bilden104. Da der Wesensschau innerhalb der phänomenologischen Methode die Beweislast für die Begründung der behaupteten apriorischen Erkenntnisse und somit eine Schlüsselrolle zufällt, ist ihre Bedeutung für die Erfüllung des Erkenntnisanspruchs der Phänomenologie absolut entscheidend. Husserl muß durch seine Theorie der allgemeinen Anschauung zeigen, auf welche nachvollziehbare, d.h. methodisch geregelte Weise er zu seinen phänomenologischen Einsichten kommt. Angesichts dieser Problemlage ist kaum verständlich, daß Husserl der Darstellung seiner eigenen Forschungsmethode in den LU nur einen einzigen Paragraphen widmet. Dieser § 52 findet sich zudem erst im hinteren Teil der VI. »Logischen Untersuchung«, so daß die Rechtfertigung der zuvor beständig in Anspruch genommenen Wesenserkenntnisse bis dahin weitgehend fehlt. Diese Darstellungsmängel wiederholen sich in den »Ideen I«, die mit der Gegenüberstellung von Tatsachen und Wesen im ersten Kapitel einsetzen, ohne daß sich hier oder später jedoch eine dezidierte Explikation des Verfahrens der Wesenserkenntnis findet. In den von Husserl selbst zur Veröffentlichung gebrachten Schriften wird dieses Defizit erst in »Formale und transzendentale Logik« (1929) und den »Cartesianischen Meditationen« (1931) behoben. Die ergiebigste Quelle zur Wesensschau findet sich dann erst in »Erfahrung und Urteil« (vgl. ebd., 410 ff.), wobei hier großteils ein Text aus der Vorlesung über »Phänomenologische Psychologie« von 1925 die Grundlage bildet (vgl. IX,72 ff.). Dennoch ist schon seit den »Prolegomena« von »Ideation« oder »ideierender Abstraktion« oft mit so großer Selbstverständlichkeit die Rede105, daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, Husserl habe ein derartiges Vertrauen in seine Fähigkeit zur Wesensanschauung, daß er es schlicht nicht für nötig hielt, noch nähere Erläuterungen dieser Methode zu liefern. Wenn solche Methodenklärungen in den LU dann gelegentlich doch skizziert werden, stehen sie zumeist im Zu104
Husserl weist an mehreren Stellen seines Werkes darauf hin, daß sich der von ihm verwendete Begriff des Apriori durch die Methode der Wesensanschauung bestimmt (vgl. II,51; I,27,103; XVII,255). Da die Wesensschau immer zumindest einen exemplarischen Ausgangspunkt in einer Erfahrungsgegebenheit hat, deckt sich das phänomenologische Apriori insofern nicht mit dem Kantischen, als einem von aller Erfahrung gänzlich unabhängigen. Hinsichtlich des mit diesem Begriff verbundenen notwendigen und strikt allgemeinen Geltungsanspruchs stimmen beide Denker allerdings überein. 105 Vgl. XVIII,109, 135, 174, 189, 232.
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sammenhang mit Husserls kritischer Auseinandersetzung mit den Abstraktionstheorien des Empirismus in der II. »Logischen Untersuchung«. Hier verteidigt Husserl sein Verständis der idealen Gegenstände gegen platonistische, empiristische und nominalistische Auffassungen, wobei er indirekt auch darauf hinweist, wie uns diese Gegenständlichkeiten gegeben sind. Es ist an dieser Stelle jedoch sinnvoll, der Kontrastierung mit solchen, von Husserl kritisierten Theorien eine erste orientierende Bestimmung seiner eigenen Konzeption der Anschauung des Allgemeinen voranzustellen: Die allgemeine Anschauung ist, wie jede andere kategoriale Anschauung auch, keine schlichte, sinnliche Wahrnehmung raum-zeitlicher Gegenstände, sondern als höherstufige Leistung hierin lediglich fundiert. Kein Wesen kann daher ohne eine zugrundeliegende Anschauung eines konkreten Exemplars erfaßt werden, in dem sich das Wesenhafte vereinzelt. Das Fundierungsverhältnis bei der allgemeinen Anschauung unterscheidet sich jedoch von dem der übrigen, sachverhaltskonstituierenden, also synthetischen kategorialen Akte. Während bei diesen die den Sachverhalt fundierenden sinnlichen Materien mittels kategorialer Formen gewissermaßen zusammengemeint werden und dabei in den so konstituierten kategorialen Gegenstand mit eingehen, kommt bei der Anschauung des Allgemeinen alles darauf an, eine völlige Loslösung vom zugrundeliegenden zufälligen Konkretum zu vollziehen. Die eigentlich allgemeine Anschauung soll sich auf wahrhaft Allgemeines und Wesentliches richten, so daß sie gar nicht auf bloß konkretes, sinnliches Einzelnes bezogen sein darf. Das Spezifikum dieser kategorialen Anschauung liegt damit darin, daß sie zwar notwendig im Sinnlichen fundiert ist, dieses in die in ihr gegebene höherstufige Gegenständlichkeit aber nicht mit eingehen darf. Für die Abgrenzung von den empiristischen Abstraktionstheorien kommt dieser Eigenheit der allgemeinen Anschauung besondere Bedeutung zu, denn Husserl wirft diesen vor, daß sie letztlich dem Individuell-Faktischen verhaftet bleiben, mithin nie wirklich Allgemeines, sondern immer nur Individuelles begreifen können. Husserls allgemeine Anschauung beansprucht dagegen weder sinnliche Abstraktion noch bloße Induktion zu sein, sondern trotz der Fundiertheit im Sinnlichen den Blick auf eine ganz andere Sphäre von idealen Gegenständlichkeiten zu eröffnen. Aus diesen beiden gegensätzlichen Aspekten, die in der allgemeinen Anschauung zusammenkommen sollen – einerseits der Fundiertheit im Sinnlichen, andererseits der Bezogenheit auf Nichtempirisches – ergeben sich die besonderen Schwierigkeiten von Husserls Konzeption einer allgemeinen Anschauung. Eine solche Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß es – durch die spätere Bezeichnung »Wesensschau« zusätzlich gefördert – naheliegt, den anschaulichen Bezug auf Nichtempirisches mit irgendeinem mystischen Blick zu ver-
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gleichen, der es in einer nicht weiter erläuterungsfähigen, ungegliederten Intuition vermag, die Sphäre der Realität sprunghaft zu verlassen, um daraufhin eine Welt reiner Wesenheiten zu erschauen. Dem ist nicht so. Trotz gelegentlichen Appells an die schiere Intuition106 verwahrt sich Husserl gegen jedes unwissenschaftliche Philosophieren. Insbesondere ist seine Wesensschau keine schlichte Schau mystischer Entitäten, sondern ein fundierter, in sich gegliederter Vollzug, der in einem mehrstufigen Konstitutionsprozeß höherstufige Gegenständlichkeiten zur Gegebenheit bringt107. Zur Erläuterung dieses Verfahrens bedient sich Husserl mit der ideierenden Abstraktion und der späteren eidetischen Variation zweier Modelle, die den methodisch geregelten Weg zur Erkenntnis allgemeiner Gegenstände verdeutlichen sollen. Da beide Modelle die notwendige Fundierung von Wesenseinsichten im Sinnlichen berücksichtigen, kann die allgemeine Anschauung weder eine mystische Intuition noch eine rein intellektuelle Anschauung sein. Für Husserl ist klar, daß jede »Idee eines ›reinen Intellekts‹, interpretiert als ein ›Vermögen‹ reinen Denkens« ohne fundierende Sinnlichkeit, phänomenologisch haltlos und »ein Widersinn« ist (XIX/2,712, vgl. Hua. Mat. III,170 f., 174), da durch die Aufhebung der fundierenden Sinnlichkeit der Konstitution des Kategorialen jegliche Grundlage entzogen wird. Eine andere Schwierigkeit von Husserls Theorie der allgemeinen Gegenstände ist der im Zusammenhang mit seiner Konzeption einer antipsychologistischen reinen Logik mit ihren idealen, allzeitlichen Bedeutungsspezies gelegentlich erhobene Platonismusvorwurf. In den LU fällt Husserls Stellungnahme hierzu wider Erwarten äußerst knapp aus: »Die Mißdeutungen des platonisierenden Realismus können wir, als längst erledigt, auf sich beruhen lassen« (XIX/1,128). Zieht man zu dieser lapidaren Bemerkung Textstellen aus anderen Schriften hinzu, wird Husserls Verhältnis zum Platonismus deutlicher108. So wendet er sich insbesondere gegen eine metaphysische Hypostasierung der allgemeinen Gegenständlichkeiten zu eigentlichen, wahren, die empirische Wirklichkeit grundlegenden Realitäten, die außerdem noch vor und außerhalb des Denkens Bestand haben. Solche »Exzesse des Begriffsrealismus« (XIX/1,115) lehnt Husserl als erfahrungsüberschreitende metaphysische Konstruktionen stets ab; seiner deskriptiven und erfahrungsimmanenten Phänomenologie stand ein Platonismus in diesem metaphysischen Sinn daher zeitlebens fern. Wenn Husserl – aufgrund seiner von Lot106
Vgl. v.a. II,61f.; XX/1,321f. Daß die Gewinnung von Evidenzen bezüglich allgemeiner Gegenstände keine Sache bloßer Kontemplation, sondern eine spezifische Leistung des Bewußtseins ist, hat bereits Ströker (1978) nachdrücklich betont. 108 Vgl. z.B. XX/1,282 ff., 299 f., 304.; III/1,47 f.; VII,127, 139. 107
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zes Platonismus der Geltungseinheiten inspirierten Interpretation von Bolzanos logischen Gegenständen – gleichwohl abstrakte, ideale Gegenstände annimmt, verdankt sich dies zunächst seiner vorurteilslosen Hinnahme von evidenten Gegebenheiten aus Bedeutungsakten. Gerade im primär logischmathematisch ausgerichteten Forschungsbereich der LU ist die Anerkennung von weder psychologisch-subjektiven noch empirisch-objektiven Sinneinheiten plausibel, ohne daß diese gleichzeitig zu idealen Urbildern hypostasiert werden müssen. Als »Gegenstände« sind gemäß Husserls formalem Gegenstandsbegriff dabei außerdem lediglich die Substrate sinnvoller Aussagen, d.h. die Subjekte möglicher wahrer Prädikationen zu verstehen109. Und da problemlos wahre Aussagen z.B. über Zahlen, geometrische Figuren und auch Bedeutungen gemacht werden können, die sich offensichtlich nicht auf empirische Objekte beziehen, ist Husserls Rede von idealen Gegenständen berechtigt. Insofern Husserl darüber hinaus in den LU Bedeutungen als identische, allzeitliche Einheiten konzipiert, die den Status von Spezies, also Allgemeinheiten haben, spricht auch nichts dagegen, in seiner reinen Logik einen Bedeutungsplatonismus zu erkennen. Dieser Bedeutungsplatonismus in der Logik will allerdings metaphysisch zurückhaltend bleiben und möglichst wenig ontologische Aussagen über den Seinscharakter dieser idealen Gegenständlichkeiten machen110. Da diese aber immerhin ideale und allzeitliche Entitäten sein sollen, kann Husserl bei aller Kritik an metaphysischen Hypostasierungen den Platonismus nicht in allen Hinsichten verwerfen111. Nun zieht das Insistieren auf der Berechtigung der Rede von einer eigenen, idealen Gegenstandssphäre natürlich die Forderung eines Rechtsausweises nach sich, d.h. es erfordert eine Klärung der besonderen Gegebenheitsweise solcher Gegenstände. Gerade die erkenntnistheoretischen Defizite eines wie auch immer gearteten Platonismus waren es, die die empiristischen und nominalistischen Gegenreaktionen motivierten. Husserl kennt diese Skepsis und das erkenntnistheoretische Problem in voller Schärfe. In den LU versucht er, es durch eine nach dem Modell der ideierenden Abstraktion konzipierten allgemeinen Anschauung zu lösen. Was leistet 109
Vgl. XIX/1,131, 179; XXIV,53; III/1,15, 47; IX,22. Leider trägt Husserls Zurückhaltung hinsichtlich der Klärung des ontologischen Status ideallogischer Gegenstände hier zur Entstehung traditioneller Mißverständnisse bei. Das phänomenologische Bemühen um ontologische Neutralität allein ermöglicht eben keine Beantwortung weitergehender Fragen nach dem metaphysischen Status der allzeitlichen Bedeutungsspezies. Schon früh wurden daher Fragen nach dem Seinscharakter der logischen Gegenstände gestellt, die mit den Methoden der Phänomenologie selbst allerdings nicht mehr sinnvoll beantwortet werden können. Vgl. etwa Volkmann-Schluck (1959), Thyssen (1959), Grünewald (1977), 113 ff., Becke (1994), 196–206. 111 Vgl. XX/1,282 f., 299 f.; VII,127, 139; IX,73, 76; »Erfahrung und Urteil«, 411. 110
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dieses Modell und wo liegen seine Schwächen, die Husserl später mit einer als eidetischer Variation verstandenen allgemeinen Anschauung zu überwinden hoffte?
a) Die allgemeine Anschauung als ideierende Abstraktion Die nähere Erläuterung der allgemeinen Anschauung basiert in den LU auf einer Abwandlung des aus der Analyse der schlichten Wahrnehmung her bekannten Inhalts-Auffassungsschemas. Die gegenstandskonstituierende Auffassungsleistung ist angesichts eines gegebenen Repräsentanten nun jedoch nicht auf Individuell-Faktisches, sondern auf wesenhaft Allgemeines gerichtet. Das hierfür den Hintergrund bildende phänomenologische Fundament findet Husserl in einem offensichtlichen deskriptiven Unterschied zwischen unserem Vermeinen von Individuellem und spezifisch Allgemeinem: Es gibt ganz einfach nicht zu leugnende subjektive Unterschiede zwischen dem Meinen eines Einzelnen, z.B. diesem singulären Kreidedreieck auf der Tafel, und einem angesichts dieses Musters vollzogenen Meinen von »Dreieck überhaupt«. Husserl betont diese Unterschiede der Bewußtseinsweisen und kämpft gegen ihre Nivellierung im Nominalismus, der Allgemeines nur als Bezeichnung für den Umfang einer Klasse von Einzelgegenständen anerkennen will. Statt dessen weist Husserl zunächst auf die evident verschiedenen Bewußtseinsweisen hin, in denen z.B. ein Dreieck, alle Dreiecke oder das Dreieck überhaupt gegeben sind112, um daraufhin auch auf der Eigenberechtigung der diesen Bewußtseinsweisen korrelierenden Gegenstände zu insistieren. Diesbezügliche Evidenzen will er nicht mißachten oder nominalistisch reduzieren, sondern an den Ausgangspunkt seiner genaueren Erkenntnisanalyse spezifisch allgemeiner Gegenstände stellen. Deren Gegebenheit hängt gemäß Husserl dann davon ab, daß wir angesichts eines gegebenen singulären Ausgangsexempels einen neuen, besonderen, nämlich ideierenden Akt vollziehen, der sich eben auf das Wesenhafte beziehe. Husserl erläutert diesen Vollzug vorwiegend an der Gegebenheit der Spezies »Röte« angesichts eines roten Objekts113: Zunächst richte sich dabei ein Akt auf das für sich unselbständige Rotmoment, also die Farbeigenschaft eines entsprechenden Gegenstandes. Diese werde nun jedoch nicht nur als individuelles Moment des Einzelgegenstandes in den Fokus der Aufmerksamkeit gezogen, sondern so aufgefaßt, daß darin der allgemeine Gegenstand Röte selbst er112 113
Vgl. XIX/1,136 f., 151ff., 176 ff. Vgl. XVIII,135; XIX/1,111f., 225 f.; XIX/2,690 ff.; XXII,425.
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faßt wird. Dasselbe sinnliche Ausgangsdatum, das normalerweise nur eine Farbeigenschaft des Gegenstandes repräsentiert, dient bei dieser universalisierenden Auffassung dann als Repräsentant des Wesens. Husserl legt großen Wert darauf, daß mit dieser ideierenden Abstraktion nicht nur eine pointierende Heraushebung von unselbständigen Momenten von Einzelgegenständen vollzogen wird, weil eine solche bloße Aufmerksamkeitsumstellung stets dem Individuell-Faktischen verhaftet bleibt und nicht zu wahrhaft Allgemeinem führt. Außerdem betont er wiederholt, daß das Allgemeine nicht als Teil bereits »im« Besonderen enthalten ist und dann nur gesondert gehoben werden muß, da sonst die »unüberbrückbare Kluft« des Sinns (XVIII,220) zwischen dem Individuell-Faktischen und dem Wesenhaften mißachtet würde. Die ideierende Abstraktion unterscheidet sich insofern von jeder sinnlichen Abstraktion, die lediglich von gegebenen Teilaspekten eines Faktischen absieht, um statt dessen andere Einzelaspekte gesondert betrachten zu können. Bezogen auf die im Kontext der LU besonders relevante Gegebenheit von Bedeutungsspezies ist die allgemeine Anschauung gemäß dem Modell der ideierenden Abstraktion in einer Hinsicht präzisierungsbedürftig. Denn hierbei geht es ja nicht um die Gegebenheit von Wesen wie Röte oder Dreieck, sondern um die der identischen, idealen Bedeutungseinheiten. Um diese erschauen zu können, setzt die ideierende Abstraktion dementsprechend nicht bei empirischen Objekten oder ihren Eigenschaften an, sondern bei den nur reflexiv thematischen Bedeutungsmomenten objektivierender Akte. Wir haben oben gesehen, daß diese Bedeutungsakte neben unterschiedlichen subjektiven Vollzugsmomenten und Graden der Fülle auch ein aus Qualität und Materie bestehendes intentionales oder bedeutungsmäßiges Wesen beinhalten, das hinsichtlich der Bedeutungsfunktion der Akte die entscheidende Rolle spielt114. Werden nun diese individuellen Bedeutungsmomente Ausgangspunkt einer ideierenden Abstraktion, so fungieren sie nicht als Grundlage für die Auffassung eines empirischen Gegenstandes, sondern werden so aufgefaßt, daß durch sie hindurch die entsprechende Bedeutungsspezies in den Blick kommt. Die Bedeutungsmomente aus dem intentionalen Gehalt konkreter Akte werden in dieser ideierenden Abstraktion »ideal gefaßt« (vgl. XIX/1,352) und bilden damit innerhalb dieser spezifischen Auffassungsweise den phänomenologischen Ursprung der idealen Bedeutungseinheiten. So soll die Bedeutung als Spezies auf der Grundlage eines intentionalen Inhaltsmoments durch die ideierende Abstraktion erwachsen (vgl. XIX/1,112, 431). Um seine Konzeption zu verdeutlichen, analogisiert Husserl das Verhältnis des Bedeutungsmoments zur idealen Bedeutungsspezies 114
Vgl. oben III. B. 1. a.
Kategoriale Anschauung
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mehrfach mit dem leichter nachvollziehbaren Verhältnis des individuellen Rotmoments eines roten Gegenstandes zu dem Wesen Röte, welches ebenfalls in einer ideierenden Auffassung von konkret gegebenen Roteigenschaften gegeben werden soll (vgl. XIX/1,106, 111f.; Hua. Mat. II,69 f.). In beiden Fällen verdanke sich die Gegebenheit der Spezies einer besonderen, irreduziblen Auffassungsweise, die sich angesichts individueller Gegebenheiten auf hiervon radikal verschiedene ideale Gegenstände beziehe. Dieses in den LU vorherrschende Modell der allgemeinen Anschauung ist allerdings einer Reihe von schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt, die an seiner Eignung zur Einlösung der an die Methode der allgemeinen Anschauung geknüpften systematischen Ansprüche erheblich zweifeln lassen. Zunächst ist zu fragen, welches positive Charakteristikum es der ideierenden Abstraktion eigentlich ermöglicht, statt eines Individuell-Faktischen ein wesenhaft Allgemeines zur Gegebenheit zu bringen. Husserl betont zwar den Unterschied zwischen der ideierenden Abstraktion und einer bloß isolierenden sinnlichen Abstraktion, die lediglich zuvor unbemerkte Aspekte an einem Gegenstand herausschaut und einer gesonderten Betrachtung zugänglich macht, aber er macht nicht vollends deutlich, wie angesichts eines gegebenen Ausgangsexemplars ein allgemeiner Gegenstand mit den ihm zukommenden Eigenheiten der Idealität, Identität und Allzeitlichkeit gegeben werden kann. Gerade diesen Beschaffenheiten verdankt sich der besondere Status der Spezies, weshalb sie der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung bedürfen. Diese Rechtfertigung muß verständlich machen, wie sich eine derartige Bestimmtheit allgemeiner Gegenstände konstituiert. Was aber kann eine allgemeine Anschauung mehr geben oder enthalten als eine individuelle, wenn sie, wie diese, bloß auf der Fundierungsbasis eines einzelnen gegebenen Repräsentanten ruht? Husserl vermag mit der ideierenden Abstraktion nicht zu klären, wie allein mittels der ideierenden Auffassung eines Individuellen die besondere Bestimmtheit allgemeiner Gegenstände gewonnen werden kann, wie es also im Zuge der spezifischen Auffassung zu dem entscheidenden Zuwachs an inhaltlicher Bestimmtheit kommt, der das Wesenhafte vom Individuellen abhebt115. Dieses Defizit ließe sich nur beheben, wenn Husserl genauer verständlich gemacht hätte, wie es der Vollzug der ideierenden Auffassung des fundierenden Moments vermag, dafür zu sorgen, daß dieses Moment inhaltlich mehr repräsentiert als in der gewöhnlichen, empirischen Auffassung. 115
Dieser Vorwurf wurde in ähnlicher Form erstmals von Grünewald (1977), 60 ff. erhoben. Hingegen konzentriert Heffernan seine Kritik an der ideierenden Abstraktion darauf, daß sie es nicht vermag, die von Husserl für die Psychologismuskritik immer behauptete und entscheidende Identität der Bedeutungsspezies gegenüber der Individualität der subjektiven Bedeutungsakte zu begründen (vgl. Heffernan (1983), 56, 81, 91f., 103 f.).
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Durchbruch zur Phänomenologie
Mit der Problematik der Repräsentation des Allgemeinen durch ein singuläres Moment hängen weitere Schwächen des Modells der ideierenden Abstraktion zusammen. Denn es bleibt fraglich, ob ein Individuelles tatsächlich mehr repräsentieren kann als etwas anderes Individuelles, welches ihm dann mehr oder weniger ähnlich ist. Wie kann es einen kategorial verschiedenen allgemeinen Gegenstand repräsentieren, der doch dadurch qualifiziert ist, daß er ideal, identisch und allzeitlich ist? Zumindest jede auf Ähnlichkeit basierende Repräsentationsleistung, die vom Individuellen ausgeht, scheint immer dem Individuellen verhaftet zu bleiben, mithin nicht geeignet zu sein, einen allgemeinen Gegenstand zu erfüllter Gegebenheit, also zur Evidenz zu bringen. Hält man dieses Bedenken für übertrieben, da wir doch offensichtlich die Fähigkeit haben, angesichts eines singulären Musters eine Spezies, z.B. das Dreieck überhaupt zu meinen, so ergeben sich aus der Repräsentationsfunktion jedoch andere Schwierigkeiten, die die für Husserls Psychologismuskritik zentrale Kluft zwischen dem Individuellen und dem Wesenhaften in Frage stellen: Wenn es nämlich tatsächlich prinzipiell möglich wäre, ein gegebenes individuelles Moment so aufzufassen, daß es Wesenhaftes darstellt, dann muß dies auch angesichts eines jeden solchen Moments möglich sein. Jede beliebige zufällige Beschaffenheit eines Gegenstandes bzw. einer intentionalen Aktmaterie ließe sich nach einem Auffassungswechsel folglich ideierend derart fassen, daß sie ein ihr entsprechendes Allgemeines repräsentiert. Dies hätte zur Folge, daß es ebenso viele »allgemeine« Gegenstände wie individuelle Momente geben könnte. Dann könnte jedem individuellen Moment »sein« Wesen zukommen, womit der Sinn des Allgemeinen von dem des Einzelnen kaum mehr zu unterscheiden wäre. Vielmehr wäre ein Schritt in Richtung auf die Nivellierung dieses Unterschiedes getan, denn es gäbe nicht nur Wesensbegriffe verschiedener Allgemeinheitsniveaus, sondern sogar »eidetische Singularitäten« (III/1,30, 35, 156 f.). Tatsächlich führt Husserl in den »Ideen I« aus, »daß es zum Sinn jedes Zufälligen gehört, eben ein Wesen, und somit ein rein zu fassendes Eidos zu haben« (III/1,12, vgl. ebd., 70). Wesensbegriffe beziehen sich mithin nicht nur auf oberste Regionen des Seienden, sondern spezifizieren sich in ihren niedersten Differenzen bis zum Individuellen, dem jeweils seine »eidetische Singularität« eignet. Sprachphilosophisch gewendet heißt dies, daß jedem noch so spezifischen Prädikat ein eidetischer Gehalt entspricht, also z.B. jede Bezeichnung einer Farbnuance bei einem Auffassungswechsel den Anhalt für die Erschauung eines korrelativen Wesens abgeben kann116. So wird dann, wenn wirklich jedes individuelle Moment in einer entsprechenden ideierenden Auffassung 116
Vgl. XXX,36. Zur Problematik der eidetischen Singularitäten vgl. Mohanty (1959)
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einen allgemeinen Gegenstand repräsentieren können soll, äußerst fraglich, ob hier die für die Bestimmung der wesenhaften Gegenständlichkeiten konstitutive Rede von »allgemein« überhaupt noch sinnvoll ist. Das Hauptmanko der Klärung der allgemeinen Anschauung durch das Modell der ideierenden Abstraktion liegt indes in dem darin gar nicht weiter erläuterten Vollzug des Auffassungswechsels. Obwohl er für die Gegebenheit der allgemeinen Gegenständlichkeiten der entscheidende Faktor ist, leistet Husserl in den LU nichts zu seiner genaueren Explikation. Daher bleibt letztlich sowohl rätselhaft, wie dieser Wechsel vollzogen wird, als auch die Frage offen, was ihm seine besondere verwandelnde Kraft gibt. Auffassungswechsel sind uns zwar dort vertraut, wo wir unseren Blick von einem Individuellen einem anderen Individuellen zuwenden, wie z.B. bei dem bekannten Aspektwechsel zwischen Puppe und Dame, aber wie sie den Blick auf eine nichtempirische Gegenständlichkeit eröffnen und erfüllen können, läßt sich von hieraus kaum klären. Unklar bleibt damit, wie es uns allein auf der Basis eines Wechsels unserer Auffassung gelingen soll, unsere Intentionen auf ideale Gegenständlichkeiten zu erfüllen. Mit diesem Defizit hängen unsere beiden zuerst genannten Einwände gegen die ideierende Abstraktion eng zusammen. Denn solange der für die ideierende Abstraktion konstitutive Auffassungswechsel nicht weiter erläutert wird, ist es nur folgerichtig, daß sich der im Laufe dieses Vollzugs einstellende Zuwachs an inhaltlicher Bestimmtheit ebensowenig plausibel machen läßt wie das Fungieren des individuellen Repräsentanten. Für die erkenntnistheoretische Aufklärung des »Wie« der Gegebenheit von apriorischen, idealen Sinneinheiten ist eine nach dem Modell der ideierenden Abstraktion konzipierte allgemeine Anschauung daher nicht hinreichend.
b) Die allgemeine Anschauung als eidetische Variation Husserl hat die Defizite seiner am Auffassungswechsel orientierten Theorie der allgemeinen Anschauung durch sein späteres, differenzierteres Modell der eidetischen Variation zu korrigieren versucht. Dieses Modell bekommt erst in den zwanziger Jahren seine vollständige Ausgestaltung und gehört damit in die Periode der genetischen Phänomenologie, in der Husserl auch seine frühe Speziestheorie der Bedeutungen längst geändert hat117. Auch und Rosen (1977), 110 f., der von einer theoretisch »nichts leistenden Weltverdoppelung« als Folge der Annahme individueller Wesen spricht. 117 Zur Entwicklungsgeschichte der allgemeinen Anschauung sei zumindest ange-
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wenn es somit eigentlich außerhalb des thematischen Rahmens dieser Arbeit liegt118, sollen seine Stärken und Schwächen hier abschließend zumindest noch skizziert werden, da seine systematische Bedeutung für die gesamte Phänomenologie einfach zu zentral ist, um übergangen werden zu dürfen119: Ebenso wie die ideierende Abstraktion bedarf die nach dem Modell der eidetischen Variation konzipierte allgemeine Anschauung – die dann auch »Wesensschau« heißt – zunächst einer fundierenden Anschauung als Ausgangspunkt. Schon mit diesem Ausgangsexempel kann die Wesensschau den ersten Schritt auf dem Weg der für die Wesenserfassung entscheidenden Ablösung von aller Faktizität vollziehen, da das Ausgangsglied bereits eine Vorstellung aus dem Modus der Phantasie bilden kann. Im Unterschied zur ideierenden Abstraktion der LU muß das Ausgangsdatum bei der eidetischen Variation also nicht leibhaft erfüllt gegeben sein. Die konstitutive Rolle der merkt, daß Husserl seine Theorie der eidetischen Variation wohl erst nach den »Ideen I« konsequent ausformuliert hat. In den Vorlesungen zur Erkenntnistheorie von 1902/03 (vgl. Hua. Mat. III,155 ff.) und in den fünf Vorlesungen über die »Idee der Phänomenologie« (1907) herrscht noch die Theorie der direkten ideierenden Abstraktion vor (vgl. II,55 ff., 68), obwohl 1907 für sie bereits ein Ausgangspunkt in Phantasiegegebenheiten als gleichrangig mit leibhaften Wahrnehmungsgegebenheiten akzeptiert wird (vgl. II,68 f.; XXIV,298 f.). In den »Ideen I« wird dann zwar eindeutig der »Vorrang der Phantasie« als Erkenntnismedium phänomenologischer Einsichten betont, aber noch keine explizite Theorie der eidetischen Variation entwickelt (vgl. III/1,16, 145 ff.). Zur Entwicklungsgeschichte der Wesensschau vgl. auch Rosen (1977), 112 f. und Ni (1999), 176 ff. 118 Seebohm (1990), 14, hat behauptet, daß sich bereits in den LU die Methode der Variation finden läßt, wobei er auf folgende Belegstellen hinweisen kann: XIX/1,234, 289, 327 f.; XIX/2,632–644, 691, 716 ff. vgl. auch Hua. Mat. III,186 f. Trotz dieser Indizien ist in den LU Husserls Ablehnung einer Theorie dominant, die die Identität der Bedeutungsspezies über Ähnlichkeitsdeckungen aufzuklären versucht. Husserls Hauptargument gegen empiristische Abstraktionstheorien, die versuchen, aus der vergleichenden Betrachtung von ähnlichen Einzeldingen und Ähnlichkeitskreisen die Identität von Begriffen rein extensional zu erklären, ist ein platonisches: Die Feststellung von Ähnlichkeiten setzt bereits einen identischen Betrachtungsgesichtspunkt voraus, bedarf also immer schon dessen, was erst erklärt werden soll – »Die empiristische Auffassung, welche die Annahme der spezifischen Gegenstände durch den Rückgang auf ihren Umfang ersparen will, ist also undurchführbar« (XIX/1,120). Außerdem ist auffällig, daß die Variation an den von Seebohm genannten Stellen in den LU bestenfalls beiläufig erwähnt wird und nirgends den Charakter einer ausgearbeiteten Theorie annimmt. 119 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Husserls eidetischer Variation, als sie hier geleistet werden kann, finden sich in der Literatur Stellungnahmen bei: Hering (1921); Mohanty (1959); Meister (1967); Levin (1968); Tugendhat (1970), 145 ff., 160 ff.; Waldenfels (1975); Orth (1976); Rosen (1977), 72–136; de Boer (1978), 252 ff., 350 ff.; Ströker (1978), 20 ff., (1987), 83 ff.; Künne (1983), 149–165; Willard (1984), 233ff.; Held (1985), 22–29; Rosado Haddock (1987); Lohmar (1989), 94 ff., (1998), 183 ff.; Bernet, Kern, Marbach (1989), 74 ff.; Pieper (1993), 12–20, 158–161; Ingarden (1996), 275–400; Trappe (1996), 54 ff. und Hopkins (1997).
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Phantasie bei der eidetischen Variation muß dann aber spätestens hinzutreten, wenn es gilt, das Ausgangsglied für die Wesenserfassung beliebig abzuwandeln, um so einen Spielraum von vielen Möglichkeiten in den Blick zu bekommen. Wenn man, wie Husserl, die Wesenserfassung mit dem Modell der eidetischen Variation als einen in sich dreistufig gegliederten Erkenntnisvollzug beschreibt120, so bildet die eigentliche Phantasievariation des letztfundierenden anschaulichen Urbildes die erste Konstitutionsstufe der Wesenserkenntnis. In ihr wird eine Vielheit von Varianten aktiv erzeugt und durchlaufen, wobei es wichtig ist, diese Abwandlungsgestalten »im Griff« zu behalten, um ihren internen Zusammenhang nicht bei jeder neu gebildeten Variante aus den Blick zu verlieren, sondern eine erweiterte Ausgangsbasis zu gewinnen. Somit sind in der Phantasie mehrere Anschauungen bzw. »eine Mannigfaltigkeit von Einzelfällen vergleichend zu überschauen«121. Die zweite Stufe der Wesenserfassung stellt sich passiv ein. Husserls genetische Phänomenologie unterscheidet von der aktiven, eigentlichen Gegenstandskonstitution, die immer in Akten des Cogito vollzogen wird, eine passive, weitgehend von Assoziationsgesetzmäßigkeiten bestimmte vorkonstituierende Unterstufe. Innerhalb von ihr bildet sich im Prozeß des beliebigen Umfingierens zwischen den Varianten eine Deckungssynthesis hinsichtlich ihrer wesentlichen Merkmale. Während der fortgesetzten Erzeugung von Abwandlungsgestalten kongruieren diese teilweise, so daß sich passiv eine Synthesis »überschiebender Deckung« zwischen den ähnlichen Einzelvarianten einstellen kann. Die Herausbildung dieser Deckungssynthesis im Vollzug des Umfingierens führt bereits auf das wesenhaft Allgemeine aller Einzelvarianten hin, denn die Deckungssynthesis fungiert als repräsentierender Anhalt für die intuitive Wesenserfassung. Diese eigentliche, aktive Wesenserkenntnis wird erst mit einem dritten Konstitutionsschritt vollzogen. Dabei gilt es, das kongruierende Invariante aus dem Möglichkeitsspielraum der Variation aktiv herauszuschauen, wobei die Deckungssynthesis als intuitiver Repräsentant des Wesens fungiert. Dem derart fundierten Akt der Wesenserfassung korreliert mithin ein wesenhaft Identisches als allgemeiner Gegenstand – ein Wesen. Vergleichen wir dieses dreistufige Modell der Wesenserkenntnis mit dem zweistufigen der ideierenden Abstraktion, so fallen zunächst nur seine Vorzüge auf: Statt wie bei der ideierenden Abstraktion mittels des nicht weiter 120
Die Dreischrittigkeit der Wesenserkenntnis gemäß dem Modell der eidetischen Variation wird sehr deutlich in »Erfahrung und Urteil«, 410 ff. Vgl. hierzu erläuternd auch Levin (1968). 121 XIX/1,114, vgl. XVIII,135; XIX/1,105 f.; XIX/2,691.
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erläuterten bloßen Auffassungswechsels vom Individuellen ad hoc zum Allgemeinen zu gelangen, fungiert hier die Variation gewissermaßen als Drehscheibe für den Übergang vom Faktischen zum Wesenhaften. Bedingt dadurch, wird der für die Sinnkonstitution der Wesen notwendige Zuwachs an inhaltlicher Bestimmtheit gegenüber dem letztfundierenden Ausgangsexempel verständlich, weil sich in der Variation der Sachgehalt des Identischen tatsächlich erst mit dem Durchlaufen einer Vielheit von verschiedenen Varianten ergibt. Außerdem macht dieses Modell deutlich, daß die Wesensschau gerade keine direkte »Schau« ist, sondern eine komplex gegliederte Konstitutionsleistung, in der die Wirkung der Phantasie eine entscheidende Rolle spielt. Insofern wird auch deutlich, daß Wesen fundierte Gegenständlichkeiten sind, deren Gegebenheit von der der Welt des Faktischen klar abgehoben sind, da sie in der jede Wirklichkeitssetzung neutralisierenden Phantasie ihre Grundlage haben. Trotz dieser Vorzüge knüpfen sich auch an die Analyse der allgemeinen Anschauung durch das Modell der eidetischen Variation zwei gewichtige Probleme. Zunächst ist zu fragen, was die Variation mit der in ihr fundierten Erfassung der Wesen eigentlich für einen Erkenntnisgewinn bringt. Denn schon vor der Variation muß doch immerhin bekannt sein, was für ein Wesen in der Wesensschau zu erfüllter Gegebenheit gebracht werden soll, so daß ein Wissen über das Ergebnis des Verfahrens dieses selbst allererst ermöglicht. Das Variieren darf mithin keineswegs völlig beliebig verlaufen, sondern bedarf eines regulierenden Leitbildes, das ihm von vornherein eine orientierende Richtung gibt. Um beispielsweise das Wesen der Wahrnehmung zu erkennen, muß man immer schon wissen, was eine Wahrnehmung ist, damit das freie Umfingieren eines Ausgangsfalls nicht ins Blaue ausschweift, sondern lediglich verschiedene Wahrnehmungsfälle einer vergleichenden Betrachtung zugänglich macht. Der Phänomenologe mag gegen diesen Zirkelvorwurf einwenden, daß ein zuvor nur undeutlich und ohne Fülle vermeinter Vorbegriff zwar eine regulierende Funktion beim Variieren übernehmen muß, dieser Vorbegriff im Laufe des Verfahrens aber erst klar und explizit gemacht wird. Der Vorwurf der Zirkularität gegen die Wesensschau läßt sich also abschwächen, indem auf das für jeden Erkenntnisgewinn erforderliche Vorwissen hingewiesen wird. Da auch keine Wesenserkenntnis ohne ein solches Vorverständnis möglich ist, ist der vermeintliche Zirkel also kein vitiöser, sondern lediglich ein unvermeidlicher hermeneutischer. Der zweite Einwand gegen die Erfassung von Wesen vermittels einer eidetischen Variation wiegt schwerer: Die Methode der Wesensschau soll es ermöglichen, die Phänomenologie als nichtempirische Wissenschaft von aller Bewußtseinspsychologie abzuheben, indem sie Erkenntnisse gibt, die
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nicht bloß zufällig und individuell gelten, sondern notwendig und strikt allgemein. Es bleiben Zweifel angebracht, ob dieses Erkenntnisziel mit einer nach dem Modell der eidetischen Variation analysierten Wesensschau erreicht werden kann. Denn die Wesenserkenntnis ist aufgrund ihrer Fundierung in einer offen endlosen Menge von Varianten stets rückgebunden an eine wandlungsfähige Ausgangsbasis, aus der sich kaum je etwas allzeitlich Fixiertes herauserkennen läßt. Gerade die mit der eidetischen Variation gegenüber der ideierenden Abstraktion gewonnene Dynamisierung der Wesenserkenntnis erschwert den Rechtsausweis der behaupteten apriorischen Geltung von letztgültigen philosophischen Einsichten. Vielmehr bleiben Wesenseinsichten auf einen niemals wirklich vollends überschaubaren Spielraum von ähnlichen Varianten bezogen, so daß die auf diesem Weg gewonnenen Erkenntnisse gar nicht den Status absoluter Letztgewißheiten erreichen können. Es ist jene Offenheit des Variationsverfahrens gegenüber möglichen, bisher unberücksichtigten Fällen, die die Erzielung von absolut notwendigen, strikt allgemeingültigen Erkenntnissen schon im Ansatz verhindert. Statt dessen kann eine Wesenserkenntnis immer nur für jene endliche Menge von Varianten gelten, die in die Variation tatsächlich einbezogen wurden, weshalb ihre Gültigkeit nie die einer strikten, sondern nur die einer komparativen Allgemeinheit sein kann. Daß die erhoffte Letztgewißheit philosophischer Erkenntnisse mittels der eidetischen Variation nicht erreichbar ist, sondern bestenfalls ein anzustrebendes Erkenntnisideal bilden kann, wird noch deutlicher, wenn die Zeitlichkeit des Vollzuges der Variation mit berücksichtigt wird. Denn da ein Abschluß des Durchlaufens und Überschauens einer endlosen Mannigfalt von phantasierten Varianten in der Zeit für uns nicht möglich ist und auch gar nicht sinnvoll gefordert werden kann, ist es prinzipiell unmöglich, in der Wesensschau zu apodiktischen, endgültigen Erkenntnissen zu gelangen. Diese Tatsache kann der Phänomenologe freilich zu seinen Gunsten auslegen, indem er auf die grundsätzliche Offenheit auch unserer philosophischen Einsichten hinweist. Diese gewiß weise und sympathische Wendung der Problematik bekundet allerdings das Eingeständnis der Nichteinlösbarkeit des von Husserl in den LU ohne Einschränkung erhobenen Anspruchs auf Letztbegründung der Wissenschaften durch eine erkenntniskritisch apodiktisch gesicherte Wissenschaftslehre. Angesichts dieser Bedenken gegen die phänomenologische Begründungsmethode der eidetischen Variation kann daher am Ende nie ausgeschlossen werden, daß sich die von Husserl behaupteten apodiktischen Wesensnotwendigkeiten vielleicht doch nur als ein Mangel an Phantasie erweisen.
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4. Zusammenfassung Kategoriale Anschauung ist Husserls Sammelbezeichnung für die sehr unterschiedlichen Weisen der Erfüllung unserer Intentionen auf höherstufige Gegenständlichkeiten, wie etwa formallogische Entitäten, Sachverhalte oder materiale Wesensbegriffe. Deren evidente Gegebenheit verdankt sich nichtsinnlichen, fundierten Anschauungen, die je nach Gegenstandstypus ganz verschieden zu charakterisieren sind. Im engeren Sinn bezeichnet Husserl mit der kategorialen Anschauung die Erfüllung von kategorial gegliederten, d.h. propositional verfaßten objektivierenden Akten, also die eigentlichen Erkenntnisakte. Da diese Akte auch synthetisierende Formbestandteile enthalten, die selber keine Korrelate in schlichten Anschauungsgegenständen haben, stellt sich für Husserl die Frage, was diesen Formmomenten in unserer Erkenntnis Erfüllung verschafft. Seine Antwort fällt sehr differenziert aus, da die Synthesisstruktur in Erkenntnissen unterschiedlich verfaßt ist, was sich sprachlich in der Vielzahl von Termini verbindenden Formworten spiegelt. Am ergiebigsten analysiert Husserl die Erfüllung unserer propositionalen Akte mit den Formworten »hat«, »ist in« und »ist«, also die Gegebenheit von Sachverhalten mit Teil-Ganzes- und Identitätssynthesen. Die Erkenntnis derartiger Sachverhalte beinhaltet ein dreigliedriges Fundierungsverhältnis, in dem auf eine zunächst schlichte, unexplizierte Gesamtwahrnehmung eine Sonderzuwendung auf zuvor unbemerkt gebliebene Momente aus der Gesamtmaterie folgt. Diese beiden Akte bauen sich auf demselben Repräsentanten auf, so daß sich zwischen ihren repräsentierenden Materien ein Verhältnis der Deckung einstellen kann. Diese Deckungssynthesis, die bei TeilGanzes-Synthesen eine partielle und bei Identitätssynthesen eine totale ist, fungiert schließlich für den dritten, den Sachverhalt erst synthetisierenden Akt als repräsentierender Anhalt und ermöglicht damit eine intuitive Gegebenheit des Sachverhalts als kategorialem Gegenstand. Die erfüllte Gegebenheit von Sachverhalten baut sich so auf den spezifischen repräsentierenden Deckungssynthesen der Materien der fundierenden Akte auf. Auch die Erfüllung unserer Intentionen auf allgemeine Gegenstände durch eine allgemeine Anschauung ist eine Form der kategorialen Anschauung. Deren Klärung ist in den LU besonders wichtig, weil hiermit die erkenntnistheoretische Rechtfertigung der ideallogischen Bedeutungsspezies geleistet werden soll. Darüber hinaus zielt die allgemeine Anschauung auf die Selbstbegründung der Phänomenologie als philosophischer Wissenschaft und damit auf deren Abgrenzung von jeder Bewußtseinspsychologie. In den LU wird unsere Fähigkeit zur Anschauung des Allgemeinen mit einer am Inhalts-Auffassungsmodell orientierten ideierenden Abstraktion erläutert.
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Diese soll es durch einen bloßen Auffassungswechsel erlauben, aus dem Individuellen wesenhaft Allgemeines herauszuschauen. Da dieser Auffassungswechsel aber nicht näher erläutert wird, bleibt diese Konzeption problembehaftet und defizitär. Husserl ersetzt sie später durch die Theorie der eidetischen Variation. Diese hat ihre Grundlage in der Phantasie und ermöglicht der Wesenserkenntnis daher eine erweiterte Ausgangsbasis. Aufgrund ihrer prinzipiellen Offenheit ist diese Methode aber wenig geeignet, die Letztgültigkeit von Erkenntnis zu erweisen. Statt dessen zeigt sie, daß die Bewährung philosophischer Erkenntnisse eine ständige Aufgabe bleibt.
BIBLIOGRAPHIE
Husserls Schriften sind gemäß der Ausgabe »Husserliana, Gesammelte Werke«, Den Haag bzw. Dordrecht, Boston, London, mit Band- und anschließender Seitenangabe zitiert. Wird auf mehrere Parallelstellen zu Zitaten hingewiesen, so folgen der Bandangabe entsprechend weitere Seitenzahlen. Sperrungen und andere Texthervorhebungen werden nicht berücksichtigt. Auf diese Weise ist auch aus Husserls Briefwechsel nach der in der Reihe »Husserliana Dokumente« edierten Ausgabe zitiert. Sofern auf die »Logischen Untersuchungen« in der ersten Auflage hingewiesen wird, ist dies durch die Anfügung eines (A) an die Seitenzahl kenntlich gemacht, so daß z. B. XIX/1,24(A) auf den Text des ersten Teilbandes von Husserliana XIX, Seite 24 in der A-Auflage hinweist.
A. Husserls Schriften, »Husserliana« I
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VI
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VII
Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte. Hrsg.: R. Boehm. 1956.
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Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hrsg.: R. Boehm. 1959.
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Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Zweiter Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Hrsg.: U. Panzer. 1984.
XX/1
Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Erster Teil. Entwürfe zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer 1913). Hrsg.: U. Melle. 2002.
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XXVII
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XXVIII Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908–1914). Hrsg.: U. Melle. 1988. XXIX
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PERSONENREGISTER
Aristoteles 76, 78, 99 Arlt, Gerhard 104 Avenarius, Richard 52 Becke, Claus-Peter 230, 244 Becker, Oskar 3, 12, 27 Benecke, Friedrich Eduard 107 Bernet, Rudolf 46, 64, 87, 91, 114, 146, 178, 214, 250 Beyer, Christian 137, 138, 141 Biemel, Walter 3, 27, 61, 74 Boehm, Rudolf 38, 166, 172 Bokhove, Niels W. 170 Bolzano, Bernhard 76, 78, 81, 82, 86, 135–141, 144, 145, 146, 158, 160, 187, 244 Boole, George 67 Breda, Herman Leo van 63 Brentano, Franz 5, 7, 10, 11, 14, 15, 20, 23, 24, 25, 30, 32, 34, 37, 38, 42, 43, 45, 46, 48, 49, 76, 78, 92, 100, 108, 109, 110, 112, 131, 147, 154, 156, 170, 171, 180, 189, 194, 195, 202, 203, 205, 206, 216, 218 f., 235 Brück, Maria 11, 23, 194 Buhl, Günter 67 Busse, Ludwig 182 Cantor, Georg 9, 65 Cramer, Konrad 193 de Almeida, Guido Antonio 214, 230, 236, 237 de Boer, Theodore 11, 14, 29, 49, 58, 98, 100, 110, 178, 186, 187, 194, 250 Dähnhardt, Simon 138 Dahlstrom, Daniel O. 83, 131, 141
Descartes, Rene 101, 102, 103, 166 Dilthey, Wilhelm 171 Drummond, John J. 155 Düsing, Klaus 52 Ehrenfels, Christian 45 Eley, Lothar 12, 16 Erdmann, Benno 107 Euklid 16, 21, 62, 84 Farber, Marvin 7, 67, 74, 91, 118, 182 Fels, H. 139 Fichte, Johann Gottlieb 76 Fink, Eugen 3, 24, 29, 186, 214 Føllesdal, Dagfinn 121, 151, 155, 157 Frege, Gottlob 15, 22, 23, 54, 86, 121, 135, 141, 147–158, 160, 184 Fröhlich, Günter 118, 182 Gabriel, Gottfried 141, 151, 153 Gadamer, Hans-Georg 29 Geiger, Moritz 37 Gödel, Kurt 65 Graeser, Andreas 151 Grote, Albert 19 Grünewald, Bernward 26, 82, 83, 91, 131, 198, 230, 236, 244, 247 Ha, Byung-Hak 63, 67, 91 Habermas, Jürgen 84 f. Hamacher-Hermes, Adelheit 69 Hedwig, Klaus 11, 39, 194 Heffernan, George 83, 146, 247 Heidegger, Martin 105, 108, 118, 141, 189, 231 Held, Klaus 250 Herbart, Johann Friedrich 36, 44, 195
* Durch Kursivierung hervorgehobene Seitenzahlen weisen auf Namensnennungen im Haupttext hin, die übrigen Seitenzahlen beziehen sich auf die Fußnotentexte.
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Personenregister
Hering, Jean 250 Herzog, Max 42 Heuer, Jung-Sun 83, 128, 131, 146, 203 Hilbert, David 65 Höfler, Alois 45, 108, 128 Holenstein, Elmar 33, 44, 45, 48, 82, 108, 169, 195, 214 Hopkins, Burt C. 250 Horkheimer, Max 84 Hume, David 73, 98 Ingarden, Roman 83, 87, 250 Janssen, Paul 66 Jerusalem, Wilhelm 98, 174 Kaehler, Klaus-Erich 103 Kaiser-el-Safti, Margret 43 Kamitz, Reinhard 11, 23 Kant, Immanuel 15, 98, 99, 119, 132, 153, 214, 227, 241 Kaulbach, Friedrich 153 Kempski, Jürgen von 166 Kern, Iso 46, 64, 91, 114, 146, 178, 214, 250 Kober, Michael 153 Köhler, Wolfgang 42 Köhnke, Klaus Christian 76 Koffka, Kurt 42 Kronecker, Leopold 9, 12, 30 Künne, Wolfgang 38, 250 Kusch, Martin 52, 97 f., 106, 118, 182 Kutschera, Franz von 151 Landgrebe, Ludwig 3, 27, 29, 161 Lange, Friedrich Albert 108 Leibniz, Gottfried Wilhelm 38, 63, 121, 163 Levin, David Michael 250, 251 Lewin, Kurt 42 Lipps, Theodor 11, 107 Locke, John 15, 98, 101, 102 Lohmar, Dieter 9, 19, 26, 60, 64, 65, 66, 83, 91, 131, 215, 224, 230, 235, 236, 237, 250 Lorenz, Ulrich 106 Lotze, Rudolf Herrmann 82, 135,
140 –147, 151, 158, 160, 163, 187, 201, 243 f. Mach, Ernst 45, 52 Marbach, Eduard 38, 46, 64, 91, 114, 146, 170, 178, 193, 214, 250 Martin, Gottfried 9, 12 Maxsein, Agnes 140 Mayer, Verena 151 McIntyre, Ronald 155 Meinong, Alexius 14, 19, 45, 184 Meister, Johannes-Jürgen 223, 250 Melle, Ullrich 66, 105, 110, 175, 176, 180, 204, 214 f. Mendonça, W. P. 151 Mertens, Karl 83, 122 Mill, John Stuart 18, 19, 20, 106, 107, 128 Miller, J. Philip 14, 19, 29, 64, 65, 66, 109 Mohanty, Jitendra Nath 3, 66, 87, 99, 146, 150, 151, 155, 179, 189, 204, 248, 250 Moog, Willy 98, 99, 118, 128, 134, 146 Morrison, James C. 194 Morscher, Edgar 136, 140, 146 Münch, Dieter 19, 39, 48, 194 Natorp, Paul 109, 116, 169, 182 f. Nelson, Leonard 174 Ni, Liangkang 250 Orth, Ernst Wolfgang 116, 141, 250 Panzer, Ursula 177, 180 Patzig, Günther 83, 128, 131 Peckhaus, Volker 9, 63, 67 Pester, Reinhardt 141 Pieper, Hans-Joachim 250 Pfänder, Alexander 11, 14, 36 f. Pfeil, Hans 98, 102, 104, 112 Pietersma, Henry 155 Platon 36, 54, 98, 122, 141, 142, 143, 145, 151 Port, Kurt 36, 37 Prauss, Gerold 151, 152, 153 Prechtl, Peter 194
Personenregister
Rang, Bernhard 36, 39, 48, 67, 198, 208, 214 Rapic, Smail 30 Rath, Matthias 43, 44, 97, 98, 105 Reiner, Hans 117 Riemann, Bernhard 65 Riess, Anita 36 Rinofner-Kreidl, Sonja 98, 121 Röd, Wolfgang 103 Rohs, Peter 87 Rollinger, Robin D. 11, 38, 43, 44, 48 Rosado Haddock, G. Ernesto 65, 91, 155, 224, 250 Rosen, Klaus 23, 83, 128, 131, 166, 214, 235, 236, 249, 250 Russell, Bertrand 9 Sacks, Oliver 36 Scheler, Max 37 Schmidt, Nicole D. 99 Schmit, Roger 9, 54, 65, 66, 91, 92 Schnädelbach, Herbert 141 Scholz, Heinrich 136 Schröder, Ernst 67, 68, 69, 70, 96, 155, 156, 183 Schuhmann, Elisabeth 65, 82 Schuhmann, Karl 24, 39, 42, 61, 65, 170, 179 Scrimieri, Giorgio 9 Seebohm, Thomas M. 98, 99, 250 Sigwart, Christoph 18, 107, 128, 131, 237 Smid, Reinhold Nikolaus 182 Sokolowski, Robert 26, 27, 64, 155, 214, 235 Soldati, Gianfranco 16, 118, 151 Sommer, Manfred 36, 54, 134, 155 Spencer, Herbert 108
273
Spiegelberg, Herbert 10, 11, 42, 43, 170, 184, 194 Stadler, Christine 194 Stekeler-Weithofer, Pirmin 151 Ströker, Elisabeth 29, 131, 236, 243, 250 Strohmeyer, Ingeborg 9, 60, 61, 62, 63, 65 Stumpf, Carl 7, 10, 14, 15, 42, 43, 44, 47, 48, 49, 60, 61, 100, 108, 109, 156 Sukale, Michael 99, 106, 121 Ta˘ na˘ sescu, Ion 194 Thiel, Christian 9, 60, 151 Thyssen, Johannes 146, 244 Trappe, Tobias 30, 178, 250 Trendelenburg, Friedrich Albert 76 Tugendhat, Ernst 26, 29, 38, 82, 83, 94, 128, 131, 134, 214, 235, 236, 250 Volkert, Klaus 9 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 146, 244 Vongehr, Thomas 146, 198, 203 Waismann, Friedrich 60 Waldenfels, Bernhard 250 Weierstraß, Karl 9, 12, 16, 30, 60 Wertheimer, Max 42 Wild, John 98 Willard, Dallas 15, 39, 61, 87, 118, 155, 250 Windelband, Wilhelm 141 Wundt, Wilhelm 35, 44, 107, 128 Zahavi, Dan 29, 189, 214, 218 Zermelo, Ernst 9
SACHREGISTER
Abstraktion – ideierende A. 111, 126, 155, 178, 180, 201, 224, 241, 243, 244, 245–249, 250, 251, 253, 254 – kategoriale A. 155, 224 Abstraktionstheorie 28, 126, 154, 178, 242, 250 Aktqualität 86, 199, 200, 203, 204, 211, 246 Aktueller Vollzug 232, 236, 237 Arithmetisierungsprogramm 9, 12 Ausdruck 87, 190, 191, 208, 211 Bedeutungsintention 191 f., 196, 200, 208, 209, 212, 214, 215 Deckungseinheit 209, 225, 230, 231, 232, 237 Deckungssynthesis 131, 198, 208, 211, 216, 225, 232, 237, 238, 251, 254 Denkökonomie 52, 57, 69, 70, 71, 125 Eins (Zahl) 19, 53 Enge des Bewußtseins 36 f. Erfüllung 37, 39, 40, 131, 190, 207–211, 220, 225–228, 229–232, 236, 237, 238, 239, 254 Evidenz 80, 81, 119, 128–133, 185, 210, 248 Figurale Momente 37, 41, 42, 44, 45, 47, 48 Formbegriffe /Formworte 21, 155, 157, 206, 222, 226, 227, 228, 229, 231, 232, 238, 254 Formenlehre der Bedeutungen 91 f., 97, 185, 222 Fülle 25, 164, 200, 208–212, 216, 220, 233, 235, 246, 252 Fundierende Vorstellungen 14, 195, 202–204, 216
Geltung 26, 27, 49, 87, 103, 118, 119, 122, 124, 132, 134, 141–147, 207, 253 Gestaltpsychologie 42, 45 Grammatik, rein logische 92 Hermeneutik 165 Hyletische Daten/Hyletisches Material 25, 196, 213, 214, 215 Ich 170, 195, 218 Inhalt des Bewußtseins – intentionaler I. 167, 172, 195, 197, 198, 199, 200, 209, 210, 211, 216, 246 – reeller I. 166, 167, 172, 173, 195, 196, 197, 202, 212, 213, 216, 219, 233 Inhalts-Auffassungsmodell 172, 196, 197, 199, 201, 202, 207, 212, 213, 214, 215, 216, 245, 246, 248, 254 Innere Wahrnehmung 11, 28, 30, 100, 104, 111, 127, 154, 177, 218, 219, 220, 227 Kalkül 7, 34, 57, 62, 63, 64, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 74, 96, 221 Kategoriale Anschauung 24, 25, 215, 217–221, 223, 224, 225, 227–232, 233, 234, 236, 238, 239, 242, 254 Konstitution 27–30, 156, 164, 214, 230, 231, 232 Korrelation von Bedeutung und Gegenstand 75, 94, 97, 222 Korrelationsapriori/ -gedanke 29, 185, 186, 187 Kunstlehre 48, 49, 76, 77, 78, 79, 85, 88, 97, 107, 108, 109, 110, 113, 124, 125 Logischer Absolutismus 161
276
Sachregister
Mannigfaltigkeitslehre 63, 65, 66, 93, 94, 182 Materie, intentionale 198, 199, 200, 203, 204, 205, 206, 208, 209, 210, 211, 212, 216, 220, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 237, 238, 254 Mathematische Logik 7, 60, 66, 67, 68, 70, 71, 74, 96, 185 mathesis universalis 63, 70, 89, 145, 154, 222 Menge 16, 17, 18, 26, 36, 41, 50, 51, 53, 54, 57, 59, 65 – sinnliche M. 40, 41, 42, 44, 46, 47, 48, 50, 51 Nominale Akte 138, 145, 204, 205, 206, 207, 215, 216, 220, 225, 226 Nominalismus 25, 37, 58, 162, 242, 244, 245 Ontologie – formale O. 94, 95, 97, 218, 222, 229 – materiale O. 75, 218, 223, 241 Objektivierende Akte 203–206, 207, 208, 209, 210, 211, 214, 216, 220, 225, 227, 229, 254 Passive Synthesis 45, 47, 215 petitio principii 121, 160 Psychologische Analyse 7, 8, 13–16, 17, 18, 21, 22, 26, 27, 28, 31, 34, 38, 40, 45, 48, 50, 96, 100, 109, 110, 111, 112, 115, 127, 133, 158, 159, 163, 167, 170, 172, 173, 197 Psychologie – deskriptive P. 11, 15 f., 30, 32, 39, 92, 100, 108, 109, 147, 157, 159, 168– 171, 173, 174, 175, 176, 177, 179, 180, 181, 188, 193, 240 – genetische P. 11, 30, 100, 101, 109, 170, 171 – apriorische P. 130 Platonismus 104, 145, 151, 162, 174, 201, 243, 244 Platonismusvorwurf 54, 147, 160, 162, 173, 243
Realismus 83, 243 – logischer R. 136, 137, 138, 139, 141, 144, 145, 153 Reduktion – transzendentale 104, 166, 172, 179, 180, 186, 187, 197 – auf den reellen Bestand 166 f., 172, 173, 188, 195, 197, 213 Relation 19, 20, 23, 229, 231 Relativismus 105, 117, 118, 121, 122, 123, 132, 160, 240 Repräsentant 25, 26, 36, 38, 39, 51, 212, 214, 215, 216, 233, 246, 247, 248, 249, 251, 254 – kategorialer R. 25, 26, 231, 232– 238 Sachverhalt 81, 127, 198, 205, 221, 222, 227, 228, 229, 230, 231, 237, 238, 242, 254 Singularität, eidetische 248, 249 Skeptizismus 80, 117, 122, 123, 134, 142, 144, 173 Spezies / Speziestheorie 87, 126, 141, 145, 146, 158, 175, 187, 190, 192, 201, 216, 239, 240, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 250, 254 Teil-Ganzes-Verhältnis 229, 230, 231, 237, 238, 254 transzendental 14, 45, 47, 102, 104, 153, 164, 181 transzendentale Phänomenologie 8, 26, 30, 35, 43, 45, 46, 105, 179, 186, 213 transzendentale Subjektivität 28, 29, 69, 103, 104, 172, 186, 187 Transzendentalphilosophie 7, 29, 104, 179 Variation, eidetische 178, 239, 243, 245, 249–253 Verbindung – kollektive V. 18, 19, 20, 21, 22, 27, 31, 35, 37, 40, 46, 54, 110, 126, 154, 219, 235 – psychische V. 20, 21, 22, 26, 27, 31, 35, 40, 46, 110, 154, 219, 234, 235
Sachregister
Verschmelzung 41, 42, 44, 45, 46, 195, 208 Vielheit 15, 16–19, 20, 21, 26, 27, 30, 31, 32, 32, 35, 39, 40, 46, 50, 51, 53, 55, 61, 110, 154, 163, 222, 235 Voraussetzungslosigkeit 166, 167, 188
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Wahrheit an sich 23, 81, 82, 83, 123, 124, 132, 134, 135, 136, 138, 140, 145, 149, 158 Zeichen 36, 37, 38, 39, 46, 47, 48, 50– 60, 62, 64, 69, 70, 86, 191, 196, 200, 212, 213, 215