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German Pages 310 [311] Year 2022
Jean Yhee
Konfliktfähig
Meiner
Yhee Konfliktfähig
Jean Yhee
Konfliktfähig Die politische Streitkultur in Nietzsches Spinoza-Rezeption
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-4139-9 ISBN eBook 978-3-7873-4140-5
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einleitung. Nietzsche und Spinoza aktuell . . . . . . . . . . . . . . .
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1.1 Das Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kritischer Überblick zum Forschungsstand I. Deleuze und Wurzer über Nietzsches Spinoza-Rezeption als der Hintergrund der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Deleuze über Nietzsches Spinoza-Rezeption. Die Spinoza-Renaissance in den 1960er-Jahren und die Vernachlässigung der Ambivalenz in der Rezeption . . . . . 1.2.2 Wurzers (1975) Verdienst und Begrenztheit für die Rezeptionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Kritischer Überblick zum Forschungsstand II. Die Methode und der Gegenstand der Dissertation im Hinblick auf die Rezeptionsforschung von Gawoll und Brobjer . . . . . . . . . . 1.3.1 Das Arbeitskriterium für die nachgelassenen Schriften. Gawolls (2001) Unterscheidung von Nietzsches esoterischer und exoterischer Haltung zu Spinoza . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Nietzsches Spinoza-Rezeption oder seine SekundärliteraturRezeption? Kritik an Brobjer (2008) . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Fragestellung und die Struktur der Arbeit. Die denkgeschichtliche Rekonstruktion von Nietzsches SpinozaRezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Die Vermittlung der Rezeption als Beweis ihres denkgeschichtlichen Charakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Nietzsches Spinoza-Rezeption vor und nach seiner FischerLektüre 1881. Die Frage nach der Nachwirkung und Kontinuität der Spinoza-Rezeption in Nietzsches Philosophie . .
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2. »Chaos sive natura«-Entwurf. Geburt der Spinozakritik Nietzsches . .
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2.1 Einleitung zu Nietzsches »Chaos sive natura«-Entwurf zwischen 1881 und 1882. Das fehlende Bindeglied bei Nietzsches Spinoza-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2.2 Die erste »Chaos sive natura«-Stelle in M III-1 im Frühjahr – Herbst 1881 zum »Entwurf einer neuen Art zu leben« . . . . . . 2.3 Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882. Nietzsches Gegenentwurf zu Spinozas »Deus sive natura« . . . . 2.3.1 »71b« = NL 11[204], 11[205], 11[206] (Abbildung 6) . . . . 2.3.2 »73b« = NL 11[20] (Abbildung 7) . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 »70b« = NL 11[211] (Abbildung 8) . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 »63b« = NL 11[225] (Abbildung 9) . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 »55« = FW 109: ›Hüten wir uns‹ (Abbildung 10 u. 11); »43b« = FW 109: ›Hüten wir uns‹ und FW 139: ›Farbe der Leidenschaften‹ (Abbildung 12) . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 »23a« = NL 11[60] (Abbildung 13) . . . . . . . . . . . . . . 2.4 »Chaos sive natura«-Entwurf. Eine offene Zusammenfassung . . 2.4.1 Philologisches Resümee und Korrekturvorschläge für die Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Philosophische Leitmotive im »Chaos sive natura«-Entwurf 2.4.3 Chaos, Kosmos und Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Wettkampf in Harmonie. Totalität und Konfliktfähigkeit bei Goethe, Spinoza und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.1 Ästhetisierung der Philosophie? Goethe über die spinozistische Harmonie und Nietzsches Denken der Agonalität . . . . . . . . . . 3.1.1 Nietzsches erste Spinoza-Rezeption um 1872 und Goethes Spinoza-Bild. Kritische Betrachtung des Forschungsstandes . 3.1.2 Dichten und Denken. Das Totalitätsideal oder der Wille zur Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Ästhetisierung der Philosophie? Nietzsches Vorbehalt zu Goethes Spinoza-Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Philosophie des Konflikts. Die Entwicklung des Agonalitätsdenkens bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Lieber kämpfen, nicht befrieden. Nietzsches Gegenentwurf und seine Spinoza- und Goetherezeption vor der »Chaos sive natura«-Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Wettkampf in der Einsamkeit. Das Spannungsverhältnis der Wahlverwandten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 ›Das Gefühl, göttlich zu erkennen‹. Der Sonderfall Spinoza in der europäischen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
3.3 Die Leiden des jungen Philosophen. Der Denkende im Denken . . . 3.3.1 Der Philosoph Spinoza. Der Über- und Unmensch . . . . . . 3.3.2 Resignativer Optimismus. Goethes paradoxe Spinoza-Deutung und Nietzsches Spinoza-Rezeption bis 1888 . . . . . . . . . . 3.3.3 Spinozas bejahender Fatalismus. Nietzsches kulturkritische Betrachtung des Fatalismus des 19. Jahrhunderts . . . . . . . 3.3.4 Die dionysische Triade: Eros, Leiden und Geburt . . . . . . . 4. Sensibilität zum Leiden. Ästhetische Fähigkeit des Einzelnen und die moderne Konformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Spinozas »(Un)moralische Weltordnung« und die Egoismusdebatte bei Nietzsche und Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Schopenhauers Kritik an Spinozas unmoralischer Weltordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Nietzsches Verteidigung von Spinozas Leugnung der sittlichen Weltordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Sozio-politischer Hintergrund des Egoismus-Altruismus-Gegensatzes . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Schopenhauer und Nietzsche über Spinozas Leugnung der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Fischers Kritik an Schopenhauers Spinoza-Deutung . . . . . 4.2.2 Schopenhauer über den Optimismus und die Willensfreiheit bei Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Nietzsches Kritik an Schopenhauers Konzept des Willens zum Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Nietzsche gegen den resignativen Pessimismus. Philosophische Anthropologie des dionysischen Menschen . . . . . 4.3.1 Konflikt zwischen Spinozas Optimismus und Schopenhauers Pessimismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 »Durch Leiden wissend«: Leidensfähigkeit und Nietzsches Schopenhauerkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 »Weder Optimist noch Pessimist«. Lebensbejahung als Leidensbejahung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Hybris, Aidos und fairer Wettkampf. Der dionysische Mensch in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4.4 Nietzsche gegen den rationalistischen Optimismus. Die Vereinsamung des dionysischen Menschen in der Moderne . . 4.4.1 Der Rückgang der dionysischen Kultur in Europa. Der theoretische Mensch der Antike . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Der Bildungsphilister und der rationalistische Optimismus der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Die Masse als neuer Akteur der modernen Kultur . . . . . . 4.5 Die moderne Konformität. Das Wagnerische oder die Reizkultur gegen die tragische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Die Reizkultur der Moderne. Neue Medien und das Anästhetisieren der Leidensfähigkeit . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Entwurf der tragischen Kultur durch den jungen Nietzsche . 4.5.3 Die Politik der Ästhetik. Wagners Gesamtkunstwerk und das Ideal des ganzen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 »Durch Mitleid wissend« in Wagners Parsifal: Die Konformität der modernen Kultur . . . . . . . . . . . . . 5. Die Politik der souveränen Einsamkeit contra die Theodizee der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 Die Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption und ihre Behandlung in Fischers Werk Spinozas Leben, Werke und Lehre . . . 5.2 Das gottverlassene Leben oder frei vom ›Schatten Gottes‹. Der politisch-theologische Aspekt der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die ›Zweisamkeit‹ zwischen Spinoza und Nietzsche (1881) . 5.2.2 Die mit Gott gesellte Einsamkeit Spinozas (1885). Die Konsequenz vom ›Tod Gottes‹ für Nietzsches SpinozaBild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit . . . . . . . 5.3.1 Der Fall Spinoza. Einsames Leben, radikales Denken . . . . . 5.3.2 Die Totalität des Menschen bei Spinoza. Leiden und Handeln 5.3.3 Der Zufall als »die gemeinsame Ordnung der Natur«. Die Quelle des Leidens und der Unfreiheit des Menschen . . 5.3.4 Die Gemeinbegriffe (notiones communes). Bindung und Bildung der Notwendigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 »Deus sive natura«. Die radikale Symbiose von optimistischer Politik und realistischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
5.3.6 Solitudo, die theologisch-politische Einsamkeit . . . . . . . . 5.3.7 Politik der Nächstenliebe und die freie Masse der Demokratie 5.4 Gesellschaftliche Isolation oder Quelle der Souveränität? Der sozio-politische Aspekt der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Fischer zum Verhältnis der individuellen Ethik und der politischen Philosophie in Spinozas Denken . . . . . . . . . 5.4.2 Die Politik der Einsamkeit und die Demokratie bei Nietzsche und Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Individuell denken, konfliktfähig leben . . . . . . . . . . . . . . . .
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6.1 Der maskierte Denker. Das philosophische Maskenspiel der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Anti-Universalismus. Wie Spinoza wurde, was er war . . . 6.2.1 »Der hedonistische Gesichtspunkt im Vordergrund« 6.2.2 »Der natürlich-egoistische Gesichtspunkt« . . . . . 6.2.3 Der Affekt des Logikers: »Der spezifische ›Denker‹ verräth sich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Einzelfall Spinoza. Spinozas »bejahende Stellung« im Lenzer-Heide-Entwurf (1887) . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglenverzeichnis und Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lexika und Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis
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Dr. Heidrun Loeper (1942–2021) und Prof. Dr. Lothar Wilker (1940–2021) gewidmet, in Erinnerung an deren Ehrlichkeit und Humor.
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Vorwort
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as vorliegende Buch »Konfliktfähig – Die politische Streitkultur in Nietzsches Spinoza-Rezeption« ist das Ergebnis einer gründlichen Überarbeitung meiner Promotionsschrift »Nietzsche contra Spinoza. Der denkgeschichtliche und sozio-politische Kontext der Leidens-, Einsamkeits- und Bejahungsthematik und ihre Entwicklung in Nietzsches Spinoza-Rezeption.«, die 2014 mit summa cum laude an der Humboldt Universität zu Berlin erfolgreich verteidigt wurde. 1 Die Promotionsarbeit hatte darauf abgezielt, Motivationen und Denkanstöße in der produktiven Auseinandersetzung Nietzsches mit Spinozas Leben und Denken nicht einigen bekannten philosophischen Stichwörtern nach deduktiv und didaktisch, sondern in ihrer Genese dynamisch zu rekonstruieren. Damit sollte vermieden werden, dass sich die in der Forschung vorgeprägten Erklärungsmuster über Nietzsches Spinoza-Rezeption dogmatisch wiederholen. Ein versimpelter Vergleich zwischen beiden Denkern einerseits, der ihre Auszüge selektiv und resultativ betrachtet, kann lediglich dazu dienen, die wenig wissenschaftliche, oft politische Selbstüberzeugung des Schreibenden bzw. des Lesenden zu verstärken. Eine ausschließlich rezeptionsgeschichtlich orientierte Herangehensweise andererseits könnte die politische Motivation und Aktualität dieses historisch-philosophischen Ereignisses leicht übersehen. Vor diesem Hintergrund führte meine philologische Untersuchung von Nietzsches Nachlass zur Entdeckung mehrerer Stellen, deren Existenz bisher unbekannt blieb und deren sowohl philologische als auch politisch-philosophische Bedeutung unzulänglich betrachtet wurde. Damit konnte ich zeigen, dass Nietzsches Spinoza-Rezeption rezeptionsgeschichtlich nachweisbar kontinuierlich stattgefunden hat, d. h. ohne einen sogenannten ›Interessenverlust nach der anfänglichen Begeisterung‹ bzw. eine ›sporadische und selbstwidersprüchliche Beschäftigung mit ihm ohne Konsequenz‹. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass weder eine rein inhaltsarme Begeisterung für Spinoza noch ein zu oft in der Forschung banalisierter Distanzierungsversuch, sondern eine konfliktbewusste und selbstkritische Auseinandersetzung seine SpinozaRezeption bestimmt hat.
Die damalige Vollendung der Promotionsschrift (akad. Betreuung: Prof. Dr. Renate Reschke) wurde durch großzügige Unterstützung von der Kim Hee-Kyung Scholarship Foundation for European Humanities in Südkorea ermöglicht. 1
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Vorwort
Während der Verzögerung des Drucks der Promotionsschrift konnten meine anderen Aufsätze erscheinen und einige der ursprünglichen Ziele der Doktorarbeit bereits erfüllen, indem die Genese der Rezeption synthetisch thematisiert wurde. In diesem Buch setze ich mir ein weiteres Ziel, nämlich die Aktualität dieser Rezeption noch deutlicher herauszustellen. Darauf hinzuweisen, dass immer noch viele Menschen Nietzsche und Spinoza lesen, kann keine ausreichende Antwort darauf sein, warum die Rezeption und deren Behandlung noch immer aktuell sein sollen. Keine episodischen Details, sondern die inhaltliche Grundlage dieser Rezeption soll für die Aktualität in unserer Zeit sprechen. In diesem Sinne konzentriere ich mich auf Nietzsches konsequente Opposition zu Spinozas Plädoyer für die Harmonisierungsfähigkeit des Menschen im ethischen, politischen und metaphysischen Sinne, die den Kern der Rezeption ausmacht. Denn: »Ego contra Spinozan«, wie eine der genannten, neu entdeckten Stellen im Nachlass lautet und auf welche sich der Titel der Promotionsschrift bezog, weist nachdrücklich nicht nur auf den Antrieb für seine Spinoza-Rezeption hin, sondern auch auf die dadurch inspirierte philosophische Konzeptbildung. Die Brisanz dieser Rezeption gipfelt in Nietzsches bekannter scharfer Demokratiekritik. Spinoza hatte bereits im 17. Jahrhundert als der Wegbereiter ›der radikalen Aufklärung‹ Demokratie zu der idealen Regierungsform für die harmonische Koexistenz der Menschen erklärt. Was passiert, wenn Nietzsche, der als einer der wichtigsten Demokratiekritiker der Moderne gilt, Spinoza liest? Bei einer näheren Prüfung stellt sich heraus, dass es sich um keine triviale Opposition der verschiedenen Dispositionen zum demokratischen Phänomen der Moderne handelte. Vielmehr ging es um ihre unterschiedlichen philosophischen Grundpositionen über die individuelle Konfliktfähigkeit des Menschen, die im Wandel der gesellschaftlichen Streitkultur in den Vordergrund gerückt wurde. Spinozas Vorstellung der idealen Staatsform deutet auf eine permanente Reformfähigkeit der Demokratie: Sein Konzept des Individuums impliziert die modulare, dynamische und selbstbestimmte Gruppen- und Identitätsbildung in der demokratischen Zivilgesellschaft, die als Akteure in der konfliktgeladenen Welt ihre unterschiedlichen Ausgangspositionen in Einklang zu bringen vermögen. Dagegen betont Nietzsche die politische Bedeutung der Konflikte und des Wettkampfs zwischen souveränen Individuen, welche jedoch innerhalb einer Demokratie nicht nur schwer ausgetragen werden könne. Ihm zufolge steht das souveräne Individuum sogar im direkten Gegensatz zum Nivellierungs- und Vermassungsmechanismus der Demokratie seiner Zeit.
Vorwort
Es handelt sich also bei der Konfrontation von ›Nietzsche contra Spinoza‹ keineswegs um eine triviale Episode in der philosophischen Geschichte. Vielmehr geht es um zwei gegensätzliche Ansichten über die Konfliktfähigkeit des Einzelnen in der Moderne: Kann Demokratie Konflikte zwischen grundunterschiedlichen Wertvorstellungen der Akteure austragen? Kann sie es wirklich besser als andere politischen Systeme tolerieren, und wenn ja – inwieweit? Oder umgekehrt: Setzt eine Demokratie für ihre Fortexistenz eine funktionierende ›Streitkultur‹ voraus, die einen aktiven Austausch zwischen konkurrierenden Positionen und Interessen im Wettkampf ermöglicht? Diese Fragen bringen uns zurück zu einigen der brisantesten Themen unserer Zeit: Was verstehen wir unter der demokratischen Streitkultur, besonders im Hinblick auf den verbreiteten Zweifel an der pluralistischen Demokratie und an deren Errungenschaften heute? Besonders im Hinblick auf den multikulturellen Wandel der Gesellschaft wird die vermeintlich überholte Frage nach der Reichweite des Säkularismus und nach der Gültigkeit der demokratischen Politik wiederbelebt, die das Denken sowohl von Spinoza als auch von Nietzsche prägte. Der theologische und politisch-philosophische Kontext, dessen Momentum und Entwicklungsdynamik in Nietzsches Spinoza-Rezeption rückt in diesem Buch noch deutlicher als in der Dissertationsschrift in den Vordergrund. Explizit aufgehoben wird der philosophische Streit zwischen Spinoza und Nietzsche, der selbst exemplarisch zeigt, welche Produktivität ein offener und differenzierter Umgang mit unterschiedlichen Positionen besitzt. Die thematische Betonung der politischen und religionskritischen Elemente soll zunächst eine angemessene Ergänzung für die Forschung bedeuten. Denn bisherige Studien über Nietzsches Spinoza-Rezeption haben sich hauptsächlich auf deren individuell-ethischen oder deren kosmologisch-metaphysischen Aspekt konzentriert. Durch die Erläuterung ihrer politisch-philosophischen Bedeutung wird die Reichweite und Aktualität dieser Rezeption angemessen dargestellt. Dadurch erhoffe ich mir vorrangig, meine Arbeit nicht nur für die Fachforscher der Spinoza- und Nietzschestudien, sondern für das breitere Publikum zugänglicher zu machen. Tatsächlich lesen immer noch viele Menschen Spinoza und Nietzsche, fasziniert von deren unzeitgemäß radikalen Betrachtungen, um mögliche Erläuterungen und Lösungsvorschläge für die heutige Welt zu finden. Diese Rekapitulation von Nietzsches Spinoza-Rezeption soll den Lesern nicht etwa dazu verhelfen, leicht anwendbare Parolen zu finden, sondern sie dabei unterstützen, den Horizont der aktuellen Problematik kritisch zu erkennen.
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1. Einleitung Nietzsche und Spinoza aktuell 1.1 Das Ziel der Arbeit
Hatte die Spinoza-Rezeption von Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900) konkrete Konsequenzen für seine eigene Philosophie? Wenn ja, welche? Kann man die Leitmotive dieser Rezeption feststellen, woraus sich der denkgeschichtliche Kontext von Nietzsches Spinoza-Rezeption erschließen lässt? Welche Bedeutung hat Nietzsches Auseinandersetzung mit Baruch de Spinoza (1632–1677) für das Verständnis des Menschen und der Gesellschaft von heute? Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, diese Fragen zu beantworten. Eine derartige Untersuchung beinhaltet zugleich eine weitere Aufgabenstellung: die sogenannte Ambivalenz von Nietzsches Spinoza-Rezeption zu erörtern. Es handelt sich dabei um ein Bild, das nicht nur in der Forschung verbreitet ist, sondern auch für die allgemeinen Leser von Nietzsche und Spinoza oft als ein Rätsel erscheint. Denn es überrascht einen Leser immer noch, wenn er entdeckt, welch eine große Spaltung in Nietzsches Haltung zu Spinoza existiert, die zumindest scheinbar heftig zwischen großer Verehrung und verächtlicher Herabstufung schwankt. Eine derartig auffällige Komplexität dieser Rezeption, die in der Forschung als die Ambivalenz in Nietzsches Spinoza-Rezeption gekennzeichnet wird, hat unterschiedliche Deutungen in der bisherigen Forschung veranlasst. In bestimmter Hinsicht galt dieses jüngste Hervorheben ihres ambivalenten Charakters zum einen als ein Verdienst für die Forschung. Denn für lange Zeit hatten verschiedene Forscher dieser Ambivalenz keine hinreichende Beachtung geschenkt und Nietzsches Haltung zu Spinoza zu einseitig dargestellt. Diese Vernachlässigung hatte dann zur Folge, nur entweder Nietzsches positive oder negative Bewertung über Spinoza beliebig zu betonen. Daraus resultierte, dass das Verhältnis von Nietzsche und Spinoza zu unkritisch dargestellt wurde, obwohl es einen vereinfachten Zugang für allgemeine Leser bedeutete. Das Problem führte zugleich dazu, dass die Konsequenz und Reichweite dieser Rezeption den anderen Forschern als nicht mehr überzeugend erschienen. Die stärkere Thematisierung von jener Ambivalenz in der letzten Zeit entspricht diesen Umständen in der Forschung. Dieser neue Ansatz, die Ambivalenz von Nietzsches Spinoza-Rezeption zu erklären und zu determinieren, gehört auch zum Ziel dieser Dissertation. Jedoch sind bei verschiedenen Untersuchungen dieser Art folgende wenig überzeugende Ausgangspunkte festzustellen: erstens die Annahme, dass eine
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Einleitung: Nietzsche und Spinoza aktuell
psychologische Erklärung Nietzsches ambivalente Haltung zu Spinoza erschöpfend beleuchten könnte. In dieser Annahme wird die sogenannte Trennung von esoterischer und exoterischer Haltung Nietzsches zu Spinoza zwischen dem Nachlass und den veröffentlichten Schriften oft vorausgesetzt. Dabei wird jedoch der philosophische Kontext dieser Rezeption nicht genügend berücksichtigt, die Nietzsches kompliziertes Verhältnis zu Spinoza primär und konsequent bestimmt hat. Zweitens die Spekulation, dass Nietzsche Spinoza zu wenig gekannt oder nicht korrekt verstanden habe, was zu dieser Ambivalenz geführt habe. Diese Betrachtungsweise ist jedoch nicht zufriedenstellend, da sie das Rätsel der Ambivalenz nicht weiter entschlüsseln kann und will, solange sie diese Ambivalenz auf ein bloßes Missverständnis über Spinozas Philosophie seitens Nietzsches zu reduzieren versucht. Mit dieser Annahme kann Nietzsches Spinoza-Rezeption nicht mehr als ein ernsthaftes philosophisches Thema dargestellt und behandelt werden. Gegen diese beiden Annahmen gibt es jedoch neue Hinweise, die Nietzsches folgenreiche Auseinandersetzung mit Spinoza philosophisch und philologisch bezeugen können, deren Arbeitsprozess und thematische Leitmotive im Verlauf dieser Arbeit gezeigt werden. Es ist zwar wichtig, diese Ambivalenz nicht zu übersehen oder zu ignorieren, solange sie in Nietzsches Werken und Notizen zweifelsohne vorhanden ist. Sie zu erkennen, sollte jedoch nicht heißen, Probleme und Fragen bei dieser Rezeption ohne genaue Untersuchung als unlösbar oder sogar als bloßes Missverständnis von Nietzsche über Spinoza pauschal herabzustufen. Vielmehr soll ihre Erkenntnis als ein Hinweis auf eine neue Forschungsrichtung fungieren, damit die produktive Spannung zwischen beiden Denkern zum Gegenstand einer theoretischen Untersuchung wird. In diesem Sinne soll sie als ein zu lösendes Rätsel gelten, nicht als Aporie. Ihre Untersuchung bei Nietzsches Spinoza-Bild macht also den äußeren Korpus dieser Arbeit aus, der dabei das genannte Ziel der Arbeit in verschiedenen Facetten konstant berühren soll. Im Verlauf meiner Untersuchungbzw. meiner Arbeit wird sowohl die geistige Verwandtschaft als auch der nicht zu verharmlosende Gegensatz zwischen beiden großen Denkern, den Nietzsche selbst in einem handschriftlichen Notizbuch als »Ego contra Spinozan« (siehe Abs. 2.1) bezeichnet hat, hinter den scheinbar kontroversen Überlegungen von Nietzsche zum Vorschein treten. In den nächsten beiden Abschnitten über den aktuellen Forschungstand gilt es jedoch zunächst festzustellen, welche Forschungslücken angesichts Nietzsches Spinoza-Rezeption vorhanden sind.
Kritischer Überblick zum Forschungsstand I
1.2 Kritischer Überblick zum Forschungsstand I. Deleuze und Wurzer über Nietzsches Spinoza-Rezeption als der Hintergrund der Forschung
Eine kritische Auseinandersetzung mit der relevanten Forschung zeigt, dass eine gut begründete Interpretation für Nietzsches Spinoza-Rezeption zurzeit vermisst wird. Zwar hat Nietzsches Spinoza-Rezeption in der Forschung immer größeres Interesse auf sich gezogen, jedoch wurde das konkrete Verhältnis beider Denker unzureichend geklärt, und in seiner Interpretation herrschen weiter große Uneinigkeiten. Seit der sogenannten Spinoza-Renaissance in den 1960er-Jahren haben Interpreten wie Deleuze (in Nietzsche et la philosophie: 1962 und anderen Werken.), Wurzer (Nietzsche und Spinoza, 1975) und Yovel (Spinoza and Other Heretics. Vol. 2, The adventures of immanence, 1989) die Verwandtschaften zwischen beiden wieder ins Zentrum des Diskurses gerückt. Dabei wird ihre geistige Nähe nicht selten euphorisch festgestellt, um ›die Tradition der Philosophie der Bejahung‹ herauszustellen. Sie sind jedoch in letzter Zeit entweder wegen ihrer fehlenden festen philologischen Beobachtungen (Brobjer 2008 1) oder wegen der mangelnden Erklärung der sogenannten kritischen und negativen Bemerkungen Nietzsches über Spinoza scharf kritisiert worden, wie Seggern folgendermaßen beurteilt: »[…] Das Maß, in welchen N[ietzsche]s Denken S[pinoza] verpflichtet ist – wenn es denn überhaupt ins Blickfeld der Forschung rückte –, wurde bisher allerdings mehr behauptet als belegt.« 2 Ohne überzeugende Belege und Argumente scheinen die bisherigen Behauptungen über den Einfluss Spinozas auf Nietzsche an der eigentlichen Aufgabe gescheitert zu sein, die Ambivalenz dieser Rezeption zu erklären. Wohlgemerkt ist ein Unbehagen oder manchmal sogar eine große Skepsis hinsichtlich dieser Rezeption in der heutigen Forschung zu beobachten. Der bedeutende Spinoza-Forscher Della Rocca erkennt zunächst diese Ambivalenz 3, die bei ihm jedoch entweder als ein Zeugnis von Nietzsches mangelnder Kenntnis von Spinoza oder seiner Verwirrung über seine Philosophie (»conflicted about Spinoza«) interpretiert wird. 4 Was ist in der Forschung angesichts Nietzsches Spinoza-Rezeption passiert? Meines Erachtens liegt der Ursprung dieses Problems darin, dass die in Brobjer (2008). Niemeyer (2009), S. 332, ›Spinoza, Baruch de‹. 3 »Nietzsche is conflicted about Spinoza.«, Della Rocca 2008, S. 292. 4 »[…] Nietzsche should know better. And in many ways, Nietzsche did know better.«, Della Rocca 2008, S. 296. 1 2
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Einleitung: Nietzsche und Spinoza aktuell
den 60er-Jahren gewonnene Erkenntnis über die Verwandtschaft beider Denker in den anschließenden Forschungen mit weiteren gründlichen philologischen Belegen und philosophischer Kontextualisierung nicht kritisch weiterentwickelt wurde. Während Deleuze für das breitere Publikum und Wurzer für die Fachwissenschaftler in der Spinoza- und Nietzscheforschung zunächst einen vielversprechenden Hinweis auf die Verwandtschaft beider Denker angedeutet haben, regten sie zugleich auch einen Zweifel an den ernsthaften Folgen dieser Rezeption an, wie im Folgenden gezeigt wird. 1.2.1 Deleuze über Nietzsches Spinoza-Rezeption. Die Spinoza-Renaissance in den 1960er-Jahren und die Vernachlässigung der Ambivalenz in der Rezeption
Gilles Deleuze (1925–1995) hat seinem breiten Leserkreis, dessen Spektrum die geläufige Fraktion der Fachwissenschaftler in der Philosophie über Europa hinaus weit überschritten hat, wohl unabsichtlich nicht nur den Eindruck der geistigen Verwandtschaft von Nietzsche und Spinoza, sondern auch die Impression verschafft, dass Nietzsche Spinozas Philosophie mit seiner These »Wille zur Macht« ›überwunden‹ hat. Der nicht leicht zu entschärfende Konflikt und Gegensatz beider Denkweisen wird bei ihm nicht genügend in den Vordergrund gerückt. Deleuze schreibt zunächst in Nietzsche et la philosophie (1962), dass die Affinität beider Denker besonders daran zu erkennen sei, dass die These »Wille zur Macht« bei Nietzsche wie bei Spinoza immer eine ontologische Untrennbarkeit von Handeln (agere) und Leiden (pati) voraussetzt. 5 Auch in Spinoza et le problème de l’expression (1968, S. 233) schreibt er, dass beide Denker in ihrer auf jener Machtveränderung basierten Moralkritik eine auffallende Verwandtschaft aufweisen. 6 »Il est difficile, ici, de nier chez Nietzsche une inspiration spinoziste. Spinoza, dans uns théorie extrêmement profonde, voulait qu’à toute quantité de force correspondît un pouvoir d’être affecté. Un corps avait d’autant plus de force qu’il pouvait être affecté d’un plus grand nombre de façons; C’est ce pouvoir qui mesurait la force d’un corps ou qui exprimait sa puissance. Et, d’une part, ce pouvoir n’était pas uns simple possibilité logique: il était â chaque instant effectué par les corps avec lesquels celui-ci était en rapport. D’autre part, ce pouvoir n’était pas une passivité physique: seules étaient passives les affections dont le corps considéré n’était pas cause adéquate (Note 1).«, Deleuze (1962), S. 70. 6 »Mais qu’il n’y ait ni Bien ni Mal ne signifie pas que toute différence disparaisse. Il n’y a pas de Bien ni de Mal dans la Nature, mais il y a du bon et du mauvais pour chaque mode existant. L’opposition morale du Bien et du Mal disparaît, mais cette disparition ne rend pas toutes les choses égales, ni tous les êtres. Comme Nietzsche le dira, ‹ Par-delá le Bien et le Mal, cela du moins ne veut pa dire par-delà le bon et le mauvais [note 47] ›. Il y a des augmentations de la puissance d’agir, des diminutions de la puissance d’agir. La distinction 5
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Dennoch interpretiert Deleuze Nietzsches Verhältnis zu Spinoza in einer Anmerkung in Nietzsche et la philosophie derart, als ob Nietzsche Spinozas Philosophie in diesem Kontext nicht nur rezipiert, sondern auch überwunden hätte. 7 Das heißt, dass Nietzsches Wille zur Macht Spinozas Machtverständnis theoretisch überlegen sei und das letztere im bestimmten Sinne positiv überwunden habe, wobei Spinoza derart verstanden wird, »den Willen (volonté)« zur Macht nicht konzipiert und die Macht mit der reaktiven Kraft verwechselt zu haben. 8 Zwar handelt es sich um ein Nietzsche-Zitat, also keine eigene und eindeutige Bewertung von Deleuze. Aber Deleuzes Verzicht auf einen Kommentar verschafft den Eindruck, dass er die scheinbar kritische Meinung von Nietzsche über Spinoza teilte. Eine damit zusammenhängende kritische Erwägung zu Spinoza und Nietzsches Überlegenheit in diesem Hinblick macht er in Différence et répétition (1967). Hier werden Duns Scotus (1266–1308), Spinoza und Nietzsche als drei Schlüsselfiguren für die Denktradition von »l’univocité de l’être« aufgefasst, die das symmetrische und einheitlich erklärbare Seinsverhältnis philosophisch thematisiert haben. Während der Begriff von der Einheit des Seins bei Duns Scotus noch das ›neutrale‹ Charakteristikum aufweist, so Deleuze, gewinnt der Begriff erst bei Spinoza das Charakteristikum »des Ausdrucks«, welches Spinozas Philosophie für das von Deleuze plädierte nicht-repräsentative Image des Denkens noch angemessener machen sollte. 9 Für unsere Betrachtung, wobei das Denken von Deleuze nicht direkt thematisiert wird, ist jedoch nur wichtig, dass das Denken Spinozas dann im Vergleich zu Nietzsches Denken in diesem Zusammenhang immer noch als etwas Unbefriedigendes dargestellt wird, wenngleich Spinozas Denken im Vergleich zu Duns Scotus als eine angemessenere Darstellung des Denkimages gelten soll. Denn für Deleuze ist Spinozas Erklärung vom Verhältnis zwischen Modi und Substanz – oder Gott, verstanden wie bei ›deus sive natura‹ – immer noch asymmetrisch in dem Sinne, dass Gott als die einzige Substanz in Spinozas Philosophie von den Modi unabhängig zu sein scheint, während die Modi du bon et du mauvais servira de principe pour une véritable différence éthique, qui doit se substituer à la fausse opposition morale.«, Deleuze 1968, S. 233. 7 Vgl. Cox (1999), S. 208. 8 »Si notre interprétation est exacte, Spinoza a vu avant Nietzsche qu’une force n’était pas separable d’un pouvoir d’être affecté, et que ce pouvoir exprimait sa puissance. Nietzsche n’en critique pas moins Spinoza, mais sur un autre point: Spinoza n’a pas su s’élever jusqu’á la conception d’une volonté de puissance, il a confondu la puissance avec la simple force et conçu la force de manière reactive (cf. le conatus et la conservation).«, Deleuze 1962, S. 70, Anm. 1. 9 »C’est avect Spinoza que l’être univoque cesse d’être neutralize, et deviant expressif, deviant une veritable proposition expressive affirmative.«, Deleuze 1967, S. 59.
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von dieser Substanz abhängen. 10 Jenes symmetrische und einheitlich erklärbare Seinsverhältnis (»l’univocité de l’être«) wäre jedoch nur dann möglich, wenn sich die Substanz durch die Existenz der Modi ausdrückt und wenn sie sich nur dadurch ausdrücken kann 11, wie es etwa bei der einheitlichen Erklärung über die Macht bei Nietzsche der Fall ist. Für Deleuze sei es zudem die Denkweise von Nietzsche, die besonders in seinem Gedanken »der ewigen Wiederkunft« das symmetrische Verhältnis noch angemessener als Spinoza dargestellt hat. Wohlgemerkt eigenartig ist Deleuzes Deutung von der ewigen Wiederkunft, die nicht als »die ewige Wiederkunft des Gleichen« wie in Nietzsches eigener Formulierung, sondern als die ewige Wiederkunft ›des Unterschiedlichen‹ verstanden wird. Für ihn ist nicht das Wiederholte das Gleiche, sondern diese Wiederholung (›répétition‹) selbst, die sich bei jeder Wiederholung anders artikuliert und sich somit nicht unter dem spekulierten Gleichen als dem sich repräsentierenden Ur-Einen subsumieren lässt. 12, 13 Mit dieser Deutung versucht Deleuze den ›bejahenden‹ Aspekt der ewigen Wiederkunft hervorzuheben und somit den Sinn der ›Unschuld des Werdens‹ für die ewige Wiederkunft stärker hervorzuheben. Dennoch bleibt die Frage, ob diese Lesart den ›selbst‹-kritischen Aspekt des Nihilismus bei Nietzsche zu kurz greift, dessen Spannung er mit seinem Gedanken der ewigen Wiederkunft herausstellen wollte, welche auch in seiner SpinozaRezeption eine große Rolle spielt. Abgesehen von der Beurteilung seiner Nietzsche-Deutung steht fest, dass Deleuze mit Antonio Negri (1933–) einer der einflussreichsten Denker ist, die vehement für die Verwandtschaft zwischen Spinoza und Nietzsche in der so»Pourtant subsiste encore une indifférence entre la substance et les modes: la substance spinoziste apparaît indépendante des modes, et les modes dependent de la substance, mais comme d’autre chose.«, ebd. 11 »Il faudrait que la substance se dise elle-même des modes, et seulment des modes.«, ebd. 12 »Une telle condition ne peut être remplie qu’au prix d’un renversement catégorique plus général, d’après lequel l’être se dit du devenir, l’identité, du different, l’un, du multiple, etc. Que l’identité n’est pas première, qu’elle existe comme principe, mais comme second principe, comme principe devenu; qu’elle tourney autour du Différent, telle est la nature d’une revolution copernicienne qui ouvre à la difference la possibilité de son concept proper, au lieu de la maintenir sous la domination d’un concept en général posé déjà comme identique. Avec l’éternal retour, Nietzsche ne voulait pas dire autre chose. L’éternel retour ne peut pas signifier le retour de l’Identique, puisqu’il suppose au contraire un monde (celui de la volonté de puissance) où toutes les identités préalables sont abolies et dissoutes. Revenir est l’être, mais seulement l’être du devenir. L’éternal retour ne fait pas revenir ›le même‹, mais le revenir constitue le seul Même de ce qui deviant. Revenir, c’est le devenir-identique du devenir lui-même.«, ebd. 13 Vgl. a. a. O., S. 387 f. 10
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genannten Spinoza-Renaissance seit den 1960er-Jahren argumentiert haben. Er war es, der dabei auf das enge Verhältnis zwischen Spinoza und Nietzsche und auf den denkgeschichtlichen Kontext dieser Rezeption seit der Antike aufmerksam gemacht hat. Auch wenn seine kritischen Formulierungen über Spinoza dank seiner persönlichen Hochachtung vor ihm vorsichtig blieben, haben sie die Leser jedoch nicht selten dazu geführt, Spinoza zu nietzscheanisch zu deuten oder umgekehrt Nietzsche zu spinozistisch, wobei die Eigenständigkeit und der auffallende Gegensatz beider Denker oft unbeachtet geblieben ist. Weder die Ambivalenz noch die in verschiedenen Zusammenhängen zu reflektierenden Leitmotive von Nietzsches Spinoza-Rezeption sind jedoch zu übersehen, da Nietzsche während seiner gesamten Schaffensphase seine früheren Spinoza-Deutungen kontinuierlich unter die Lupe genommen hat. Während Deleuzes Respekt gegenüber Spinoza jedoch zu späteren Untersuchungen seiner Bedeutung für Nietzsches Philosophie in Spinoza: Philosophie practique (1981) 14 geführt hat, haben seine früheren Bemerkungen über beide Denker nicht selten irreführende Impression hinterlassen und bei späteren Forschern und Lesern, die diese Rezeption zu ungenau verfolgten, zu festen Ansichten geführt. Dennoch scheint es von Deleuze nicht beantwortet zu sein, warum Nietzsche immer noch in seiner letzten Schaffensphase gegen 1887 und 1888 das Spinoza-Problem im Hinblick auf den europäischen Nihilismus als ein Rätsel betrachtet hat (siehe Kap. 6). Nietzsches Frage dieser Zeit – die Deleuze kaum behandelt –, wie eine spinozistische Bejahung des Leidens in seiner amor dei intellectualis möglich ist und was für eine Bedeutung dies für Nietzsches eigenen Bejahungsgedanken 15 in amor fati haben soll, muss in der Erforschung dieser Rezeption noch stärker erwogen werden. 1.2.2 Wurzers (1975) Verdienst und Begrenztheit für die Rezeptionsforschung
Nun gilt es, das Verdienst und die Begrenztheit von Wurzers Arbeit zu Nietzsches Spinoza-Rezeption zu resümieren. Für die heutigen Fachforscher dieser Rezeption gilt W. Wurzers Arbeit Nietzsche und Spinoza (1975) immer noch als Z. B. in der folgenden Stelle hebt Deleuze den politischen Aspekt von Spinozas Denken noch stärker auf und bezeichnet Nietzsche als einen würdigen Spinozisten: »For example, Goethe, and even Hegel in certain aspects, have been considered Spinozists, but they are not really Spinozists, because they never ceased to link the plan to the organization of a Form and to the formation of a Subject. The Spinozists are rather Hölderin, Kleist, and Nietzsche, because they think in terms of speeds and slownesses, of frozen catatonias and accelerated movements, unformed elements, nonsubjectified affects.« Deleuze 1988, S. 128–129. 15 Vgl. Tongeren (2005), S. 255. 14
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der Grundbaustein, auch wenn sie nicht immer namentlich erwähnt wird. Wurzer hat mit seiner hervorragenden Dissertationsarbeit eine Grundlage für alle späteren Forscher wie Yovel oder Brobjer gelegt, indem er in philologischer und philosophischer Hinsicht einen großen Überblick über Nietzsches Spinoza-Rezeption dargelegt hat. 16 In der Einleitung zu seiner Arbeit gibt Wurzer einen kritischen Überblick über den Forschungsstand bis 1975, also darüber, wie das Thema von Nietzsches Spinoza-Rezeption in der Forschung bisher – kaum und wenn, dann unbefriedigend – behandelt wurde. 17 Wurzers Anliegen ist, vor allem das Fazit von M. E. Spencer (1931) zurückzuweisen, dass Spinoza Nietzsches Denken kaum beeinflusst habe (»Spinoza had little influence on his thought« 18). Um dieses Ziel zu erreichen, untersucht er einerseits Nietzsches Spinoza-Rezeption in chronologischer Stringenz, wobei die allgemeine Entwicklung von Nietzsches Gedankengang und mögliche Quellen für Nietzsches Spinoza-Rezeption zusammengefasst und Nietzsches Spinoza-Bemerkungen aus den dieser Entwicklung entstammenden Phasen in diesem Kontext diskutiert werden (Teil I, Kap. 1–6). Andererseits erwägt er die möglichen Berührungspunkte beider Denker in kritischer Hinsicht im zweiten Teil seiner Arbeit, wie etwa das Hauptmotiv des Philosophierens beim jeweiligen Denker (Teil II, Kap. 1), das Verhältnis von Denken und Leib bei ihnen (Kap. 2), das Verhältnis zwischen Spinozas ›conatus‹ und Nietzsches ›Wille zur Macht‹ (Kap. 3), die Moralkritik beider Denker (Kap. 4).Schließlich werden Spinozas ›amor dei intellectualis‹ und Nietzsches ›amor fati‹ im Vergleich (Kap. 5) reflektiert. Mit dieser Arbeit hat Wurzer verschiedene Bemerkungen Nietzsches über Spinoza in veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften ans Licht gebracht, die bis dahin unberücksichtigt geblieben sind. Zudem hat er weitere mögliche Quellen für Nietzsches Spinoza-Rezeption entdeckt bzw. eingehend bewertet, die für die aktuelle Forschung die Basis der philologischen Diskussion bilden. Die Berührungspunkte, die er im zweiten Teil der Arbeit genannt hat, gelten außerdem in der Forschung weiterhin generell als die Merkmale, die beiden Denkern gemeinsam zukommen. Dennoch sind die folgenden Beschränkungen bei Wurzer aus heutiger Sicht Das philologische Forschungsergebnis von Wurzer gilt z. B. bei Yovel als eine fast unangezweifelte Grundlage. Vgl. Yovel 1989, S. 213, Anm. 1: »See William S. Wurzer, ›Nietzsche und Spinoza‹ (doctoral dissertation, University of Freiburg, 1974), p. 84. This study seems to contain all the quotations in Nietzsche where Spinoza is mentioned or alluded to, as wen as many helpful insights. Wurzer reports having failed to find a precedent to amor fati in all the philosophical handbooks and encyclopedias he perused.« 17 Wurzer (1975), S. 2–3. 18 M. E. Spencer, Spinoza and Nietzsche – a comparison (1931) aus Wurzer (1975), S. 4. 16
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festzustellen: Seine Arbeit enthält zunächst einige nicht zu ignorierende Irrtümer in philologischer Hinsicht, worauf sich manche der aktuellen Forscher immer noch als Quelle für weitere Argumente stützen. Zudem erkennt er zwar die Differenzen und Spannung zwischen den beiden Denkern an, führt aber die Herkunft dieser Konflikte hauptsächlich auf Nietzsches Unwissen oder Missverständnis über Spinoza zurück. 19 Oft scheint er zu versuchen, Nietzsches ›negative‹ Bemerkungen über Spinoza durch die positiven Varianten zu übermalen und zu ›entkräften‹, um seine Aussagekraft über die Gültigkeit der Rezeption zu gewinnen. 20 Zwar nimmt er sich vor, besonders im zweiten Teil seiner Arbeit nicht nur die gemeinsamen Merkmale, sondern die Unterschiede beider Denker kritisch zu betrachten. Jedoch scheitert diese Untersuchung daran, diese Unterschiede im Zusammenhang mit Nietzsches eigener Auseinandersetzung mit Spinoza nicht erklärt zu haben. Zwar erwähnt Wurzer Nietzsches kritische oder ambivalente Äußerungen zu Spinoza, aber erklärt ihre Konsequenz in Nietzsches Philosophie nicht. Zwar spricht er z. B. vom »Kampf der Gegensätzlichkeit« 21 bei Nietzsche als einem gegensätzlichen Aspekt zu Spinoza fast zum Schluss seiner Arbeit, aber die wesentliche Frage, wie Nietzsches Spinoza-Rezeption von diesem Gegensatz beeinflusst wurde und ob der damit zusammenhängende Konflikt beider Denker noch aktuelle Bedeutung hat, ist unbeantwortet geblieben. Auch in anderer Hinsicht verfehlt er zum Teil sein eigentliches Ziel, ihre Verwandtschaft darzulegen: Er stellte in dieser Rezeption keine sich durchziehenden Leitmotive mit konkreten Hinweisen heraus, die nicht nur die Ähnlichkeiten, sondern auch die Unterschiede beider Denker erklären können. Ihre Verwandtschaft scheint bei seiner Beobachtung eher ein zufälliges und kongeniales Ereignis zu sein als ein konsequentes Ergebnis von Nietzsches stetiger Auseinandersetzung mit Spinoza. Aus diesem Grund genügt es nicht mehr, die gesammelten Ähnlichkeiten zwischen beiden Denkern ohne genaue philologische Nachprüfung und phi»Der Mangel an ausreichender Kenntnis von Spinozas psychologischem, metaphysischem und erkenntnistheoretischem Denken bedingt letztlich das gesamte späte nietzschesche Spinozabild: Spinoza als theologisierender Philosoph, der, vielleicht als erster Denker des Abendlandes, einen neuen Denkweg besonders hinsichtlich der Moral, einzuschlagen versuchte, aber erkenntnistheoretisch und metaphysisch vom ›Platonismus‹ abhängig blieb. Spinozas Betonung der ›ratio‹ und des ›deus‹ war nach Nietzsche der Grund für das Scheitern der Verwirklichung der Entwicklung eines in der Geschichte des Denkens radikalen Anfangs.«, Wurzer 1975, S. 146 20 Vgl., Wurzer (1975), S. 116: »Das Bewußtsein der Verwandt schaft zwischen Spinoza und Goethe würd e auch Nietzsches vorhergehende Aussage über Spinoza im Hinblick auf Platos Philosophie entkräftigen.« 21 a. a. O., S. 267. 19
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losophische Kontextualisierung bloß vereinzelt nebeneinanderzustellen, um daraus ein einseitiges Bild einer Wirkungsgeschichte aufzubauen. Dennoch darf man sich auch nicht – in einer umgekehrt rückläufigen Richtung – mit einer rein philologischen Vereinseitigung der Sache zufrieden geben, um einen voreiligen Schluss der Irrelevanz Spinozas für Nietzsche zu ziehen, sei es aufgrund der schwierig zu beweisenden direkten Spinoza-Lektüre Nietzsches oder aufgrund der ebenso bekannten kritischen Bemerkungen Nietzsches über Spinoza. 22 Eine neue überzeugende Perspektive ist stattdessen in diesem Zusammenhang gefragt, die einen verborgenen Gedankengang bei der Ambivalenz dieser Wirkungsgeschichte herausstellt, ohne zu voreilig diese Ambivalenz als unerklärbar oder widersprüchlich zu degradieren. Diese Perspektive soll den noch herauszustellenden Zusammenhang zwischen Nietzsches sogenannten ›positiven‹ und ›negativen‹ Stellungnahmen zu Spinozas Philosophie erklären und somit die Ungültigkeit einer solch vereinfachenden Dichotomie aufweisen. 23 Genau dies ist das Ziel dieser Arbeit: Sie will den Kontext hinter den vordergründigen ambivalenten Äußerungen Nietzsches zu Spinoza zu erhellen. In welcher denkgeschichtlichen Dynamik gestaltete sich Nietzsches Spinoza-Rezeption? An welchen konkreten Leitmotiven lässt sich die Auswirkung dieser Rezeption erkennen? Dabei soll die Suche nach Antworten auf zwei Prinzipien beruhen: Zum einen soll diese Erforschung einen philosophischen Sinn haben, zum anderen soll sie philologisch haltbar sein. Sie soll erstens hinsichtlich des philosophischen Sinns der Rezeption die folgenden Fragen beantworten: Angesichts welcher philosophischen Probleme und Ansätze hat sich Nietzsche mit Spinoza auseinandergesetzt? Inwieweit hat diese Auseinandersetzung Nietzsche zu seinem eigenen philosophischen Komplexbau und -umbau herausgefordert? Und letztlich soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung diese Rezeption für die aktuelle Debatte in der Philosophie hat. Eine rein psychologische Erklärung kann diese Fragen nicht beantworten, besonders wenn die philosophische Erklärung dabei keine Oberhand über das Zusammenstellen von Nietzsches Eindrücken und Äußerungen zu Spinoza bekommt und somit über den theoretischen Kontext dieser In dieser Hinsicht werden z. B. Brobjers Argumente kritisch behandelt, dessen Beitrag zu diesem Forschungsgebiet meine Arbeit trotzdem immer noch viel zu verdanken hat. Siehe Abschnitt 1.3.2. 23 Ein Beispiel aus der neuerlichen Nietzscheforschung macht einen vielversprechenden Weg; Rupschus und Stegmaier (2009) erkennen zwar einerseits diese Schwierigkeiten, aber sie gehen darüberhinaus und erklären Nietzsches ambivenenten Bemerkungen durch Hinweis auf konkreten Quellen und Kontexte. Siehe Abs. 1.3.2. 22
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Bemerkungen hinausgreift. Dass Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza primär philosophischer Natur war, wird im Verlauf der Arbeit gezeigt. Diese Auseinandersetzung hat oft mittels tiefer und komplizierter Denkprozesse in vielschichtigen Formen ihren Ausdruck gefunden. Zweitens soll sich eine derartige philosophische Erklärung als philologisch haltbar darstellen. Denn nicht nur in einer rein psychologischen, sondern auch in einer philosophischen Deutung dieser Rezeption liegt die Gefahr, in Spekulation zu geraten, wenn es an der philologischen Basis mangelt. So kämpft Wurzer mühsam mit dem Schein, dass Nietzsches Interesse an Spinoza zurückgegangen wäre. Es handelt sich tatsächlich um einen subjektiven Eindruck von Wurzer, der es bestimmten Schaffensphasen zuschreibt 24, wenn er in einer Periode entweder keine Bemerkungen von Nietzsche über Spinoza finden oder aus den scheinbar verstreuten Kommentaren über Spinoza keinen Kontext herstellen kann. Das Ergebnis ist seine nicht gänzlich überzeugende Behauptung, dass Nietzsches Spinoza-Rezeption erst mit seiner Spir-Lektüre 1875 beginne (S. 38 f. u. S. 141), die jedoch bis zur Kuno-Fischer-Lektüre 25 von Nietzsche im Jahre 1881 keine deutliche inhaltliche Prägung in seiner Philosophie hinterlasse. Zudem vermittelt Wurzer ein moralistisches Bild von Spinoza bei Nietzsche (S. 40 f. u S. 142), das er jedoch aus einem philologischen Irrtum heraus entwickelt, wie in dem späteren Abschnitt über Nietzsches DühringLektüre diskutiert wird. 26 Schließlich scheint jene intensive Rezeption in Nietzsches früherer Schaffensphase gegen 1881 Wurzer zufolge für Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza gegen 1887 und 1888 keine besondere Rolle gespielt zu haben. Denn ihm ist es nicht gelungen, konkrete und sinnvolle Konsequenzen von Nietzsches Fischer-Lektüre 1881 für sein Spinoza-Bild in diesem Zeitraum zunächst philologisch nachzuweisen. Stattdessen schreibt er: »In den nächsten vier Jahren befasste er sich theoretisch weniger mit Spinoza, wie dies die geringe Zahl der zum Teil kritischen Spinozaerwähnungen im Nachlaß und in den veröffentlichten Werken beweist. Erst mit dem Versuch der erweiterten Ausarbeitung seines höchsten inneren Erlebnisses im Jahre 1885 kam Spinoza, jedoch in kritischer Stellungnahme, in ›Jenseits von Gut und Böse‹, wieder zum Vorschein.« 27
Vgl. Wurzer (1975), S. 143. Fischer (1824–1907) war ab 1856 Professor für Philosophie und Moderne Germanistik in Jena und ab 1872 in Heidelberg. Hier handelt es sich um folgende Publikation: Fischer, Kuno, Spinozas leben, Werke und Lehre. 2. Bd, Geschichte der neuern Philosophie. Heidelberg: Winter 1865. Siehe Abs. 1.3.2. 26 Siehe Abs. 4.1.3.; vgl. Brobjer, S. 79 u. S. 157, Anm. 93. 27 Wurzer (1975), S. 143 24 25
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Damit verbreitet er ungewollt jene genannte Skepsis über die Kontinuität dieser Spinoza-Rezeption, dass Nietzsches intensive Fischer-Lektüre von 1881 keine besondere Rolle für die anschließenden vier Jahre bis 1885 gespielt hätte. Eine spekulative Erwägung über einen möglichen Einfluss Spinozas auf Nietzsche in dieser produktiven Phase kann keinen Skeptiker in diesem Zusammenhang überzeugen, solange sie aufgrund der einzelnen Spinozabemerkungen aus der Fröhlichen Wissenschaft in dieser Zeit oder aufgrund der anscheinend vielversprechenden, mit Spinozas Philosophie verwandten Thematik in der anschließenden Zarathustra-Zeit ohne konkrete philologische Belege oder denkgeschichtliche Kontextualisierung dargelegt wird. Diese argumentative Schwäche bei Wurzer, liegt also schließlich in der Schwierigkeit, philosophische Leitmotive von Nietzsches Spinoza-Rezeption während dieser Phase nicht philologisch festgestellt zu haben. Zudem wird die Bedeutung von Nietzsches Goethe- und SchopenhauerLektüre für seine Spinoza-Rezeption von Wurzer nur kurz im Hinblick auf Nietzsches anfängliche Schaffensphase erwähnt (S. 13–16 u. S. 141–142), die jedoch über die 70er-Jahre hinaus seine Spinoza-Rezeption wesentlich beeinflussen wird. Ihr Kontext wird nicht genau geprüft, obwohl sie für Nietzsches andauerndes Problem und seine Überlegung zu Spinoza nicht nur vor, sondern auch nach 1881 eine bestimmende Rolle spielt. Zusammenfassend werden bei Wurzer nicht selten eine inkorrekte Interpretation von Nietzsches SpinozaBild und seine vermeintliche Veränderung zwischen 1870er-Jahren und 1881 vorausgesetzt, während die noch zu füllende spekulierte ›Lücke‹ zwischen 1881 und 1886/7 bei dieser Rezeption ungeklärt geblieben ist. Nachdem er zugegeben hat, dass sich Nietzsche nach seiner »erstaun[enden]« und »entzück [enden]« Spinoza-Wiederentdeckung von 1881 überraschenderweise nur wenig mit Spinoza theoretisch auseinandergesetzt hat 28 – wobei diese Annahme im Verlauf meiner Arbeit grundlegend zurückzuweisen ist –, versucht er trotzdem, diese Lücke bei Nietzsches Spinoza-Rezeption während der sogenannten Zarathustra-Zeit ab 1881 mit einigen eher unbelegten Vermutungen zu füllen (S. 143–145). Bei Wurzer handelt es sich zwar um eine einflussreiche, einleuchtende Deutung für die Forschung in den 1970er-Jahren; Wurzers Interpretation wird jedoch von unerklärten Problemen begleitet, die auch spätere Interpreten implizit weiter teilen. 29 Eine derartige Interpretation kann also im Hinblick auf den Wurzer (1975), S. 143: »In den nächsten vier Jahren befasste er sich theoretisch weniger mit Spinoza, wie dies die geringe Zahl der zum Teil kritischen Spinozaerwähnungen im Nachlaß und in den veröffentlichten Werken beweist.« 29 Vgl. Brobjer, S. 80: »Somewhat surprisingly after such private praise, Nietzsche’s next 28
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größeren Kontext dieser Rezeption entweder mit einer unbelegten Spekulation den allgemeinen Leser irreführen oder allgemeine Zweifel an der Bedeutung dieser Rezeption bei den Forschern auslösen. Angesichts dieses Problems wird im Kapitel über das »Chaos sive natura« argumentiert, dass ein ›vermisster Link‹ dieser Rezeption zwischen 1881 und 1885 mittels philologischer Herangehensweise noch festzustellen ist, der jene Ambivalenz bei dieser Wirkungsgeschichte entschlüsseln kann (siehe Kap. 2). Durch die Untersuchung handschriftlicher Notizbücher ab 1881 von Nietzsche wird nämlich auf einige neue Aspekte aufmerksam gemacht werden, die die Dynamik und den Kontext von Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza mit Belegen im Nachlass und in den veröffentlichten Werken bezeugen können. Dies wird zugleich sein andauerndes Interesse an Spinoza und die gewählte Strategie für sein Spinoza-Verständnis in seiner ganzen philosophischen Schaffensphase erhellen. Als Wurzer über sein Arbeitsmotto am Anfang der Arbeit schrieb, dass er in seiner Rezeptionsforschung vor allem vermeiden will, »Nietzsche zu Gunsten Spinozas oder Spinoza zu Gunsten Nietzsches um[zu]bilden« 30, hat er für die nachfolgende Rezeptionsforschung einen allgemeingültigen Anspruch erhoben. Dafür wendet er vorbildlich eine sowohl philosophische als auch philologische Methode an. Mein Versuch, seine trotzdem vorhandenen Begrenztheiten aufzuheben, steht also immer noch im Geiste von Wurzers Arbeit.
1.3 Kritischer Überblick zum Forschungsstand II. Die Methode und der Gegenstand der Dissertation im Hinblick auf die Rezeptionsforschung von Gawoll und Brobjer
Bei der aktuellen Forschung, die als kritische Reaktion auf die bahnbrechenden, aber auch in einigen wichtigen Aspekten fragwürdigen Betrachtungen über Nietzsches Spinoza-Rezeption verstanden werden kann, steht vor allem die Frage im Mittelpunkt: Welcher Text gilt als ein Gegenstand der Untersuchung von Nietzsches Spinoza-Rezeption? Mit dieser Fragestellung sollte die Begrenztheit der früheren Interpretationen überwunden werden, denen es nicht selten an der philologischen Basis gemangelt hat, um das Gesamtbild dieser Rezeption ans Licht zu bringen. Angesichts der Tatsache, dass Nietzsches Bemerkungen über Spinoza nicht nur in Spinoza gewidmeten veröffentlichten Schriften in einer mehr oder wepublished book, Die fröhliche Wissenschaft (written during the first half of 1882), was critical of Spinoza […]«. 30 A. a. O., S. 5.
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niger abgeschlossenen Form feststellbar sind, sondern auch in nachgelassenen Schriften mit unterschiedlichen Zusammenhängen und Interessen gemacht worden sind, hat die Interpretation von Gawoll (2001) einen wichtigen Beitrag für die Forschung geleistet, die den Textstatus der nachgelassenen Schriften Nietzsches für seine Spinoza-Rezeption u. a. zum Thema gemacht hat. Bei Gawolls Arbeit gilt es jedoch zu prüfen, ob sie bei Nietzsches Spinoza-Kommentaren die exoterische Haltung von der esoterischen Haltung nicht allzu stark kategorisch trennt, das Verhalten Nietzsches zu Spinoza zum großen Teil nicht zu psychologisch erklärt und somit den Eindruck der sogenannten unerklärbaren Ambivalenz dieser Rezeption nicht weiter verstärkt. Angesichts der unklaren Umstände von Nietzsches Spinoza-Lektüre, ob er Spinoza direkt oder nur durch andere Autoren – z. B. Kuno Fischer – vermittelt gekannt hat, hat Brobjer (2008) einen bedeutenden Beitrag geleistet, der den Textstatus von Spinozas eigenen Schriften für Nietzsches Spinoza-Rezeption in Frage gestellt hat. Nach Brobjer, der behauptet, dass keine direkte Spinozalektüre von Nietzsche stattgefunden hätte, könnte ein direkter Vergleich zwischen Nietzsches Denken und Spinozas Philosophie, wie sie sich in Spinozas Schriften findet, nichts Sinnvolles für die Rezeptionsforschung ergeben. Eine derartige Behauptung bedarf jedoch einer Prüfung. 1.3.1 Das Arbeitskriterium für die nachgelassenen Schriften. Gawolls (2001) Unterscheidung von Nietzsches esoterischer und exoterischer Haltung zu Spinoza
Wenngleich Nietzsches Nachlass seit dem Beginn der Nietzschestudien ins Zentrum der Forschung gerückt worden ist, wurde gerade damit allen zukünftigen Forschern auch eine Warnung erteilt: Man denke an die berüchtigte Quasi-Rezeptionsgeschichte vom angeblichen Hauptwerk Wille zur Macht von Nietzsche, das durch Zusammenstellung aus Nietzsches Nachlass von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche entstanden ist und trotz der Manipulation und Fälschung durch seine Herausgeberin über mehrere Jahrzehnte – bei einigen unvorsichtigen Forschern in anderen Kontinenten sogar immer noch – unkritisch als Quelle verwendet wurde. Eine solche Gefahr bei der Nachlassforschung hat sich zwar deutlich verringert, besonders mit der Veröffentlichung der kritischen Gesamtausgabe (KGW) von Colli-Montinari (1962 in italienischer, 1967 bis 1980 auch in deutscher Sprache) und seitdem auch mit den aktuellen Quellenforschungen. Dennoch bleibt jener Anspruch auf eine vorsichtige und spezifische Behandlung der nachgelassenen Schriften von Nietzsche weiterhin gültig, besonders in einer Rezeptionsforschung, wo eine Nachlass-Interpretation wegen der hohen Erwartung und der vor-
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bestimmten Deutungsrichtung des Interpreten zu weiteren unbegründeten Spekulationen führen kann. Diese Art von Erwartung ist bei der Erforschung von Nietzsches Spinoza-Rezeption oft durch die Knappheit seiner publizierten Stellungnahmen zu Spinoza nicht gänzlich zu vermeiden. Denn seine Erwägungen zu Spinoza erfolgen in den veröffentlichten Werken meistens zu lakonisch. Weitere Hinweise zur Begründung oder zu einem tieferen Zusammenhang fehlen dort oft. Währenddessen existieren jedoch viele Hinweise in nachgelassenen Schriften, die eine derartige Lücke in Nietzsches Spinoza-Bild zu füllen und seine ›innere, unverhüllte Stimme‹ zu sein scheinen. Angesichts der Ambivalenz und Knappheit von Nietzsches Spinoza-Bemerkungen könnte man einen Ausweg durch die sogenannte Trennung zwischen Nietzsches esoterischer und exoterischer Haltung zu Spinoza finden, etwa wie bei Gawoll (2001). 31 Denn diese Strategie kann gegebenenfalls eine Antwort auf Nietzsches scheinbar widersprüchliche Spinoza-Bemerkungen bedeuten, soweit diese Ambivalenz und die damit einhergehenden Konflikte durch Nietzsches unterschiedliche Interessen und Denkrichtungen zwischen esoterischer und exoterischer Haltung erklärt werden können. Diese Beobachtung ist insofern wichtig, als dass eine derartige Trennung den fein zu rekonstruierenden Annäherungs- und Distanzierungsversuch gegenüber Spinoza in Nietzsches Denken inhaltlich darstellen kann. Dabei ist jedoch zu beachten, den unterschiedlichen Quellencharakter auf die Schlussfolgerung nicht kategorisch zu übertragen. Denn eine derartige Trennung zwischen der esoterischen und exoterischen Haltung des Autors kann zwar ein Hinweis für die Textdeutung sein, darf jedoch nicht pauschal als ein absolutes Kriterium für seinen gesamten Charakter und Status angewendet werden. Jedoch scheint Gawolls Argumentation die problematische Voraussetzung zu enthalten, dass Nietzsches zugleich esoterische und theoretisch-konstruktive Behandlung von Spinoza erst ab den 1880er Jahren beginne, und zwar nur in den »Nachlassnotizen aus den 80er-Jahren«. 32 So schreibt er über den exoterischen Charakter bei Nietzsches Spinozakommentar in publizierten Schriften: »In seinen veröffentlichten Werken leitet Nietzsche also das Interesse an einer Demaskierung Spinozas, bei dem er den Geist eines asketischen Idealismus aufspürt. Spinoza symbolisiert die Philosophie eines Menschentypus, der von der Gawoll (2001), siehe S. 49 f.: »II. Der exoterische Spinoza: asketische Verstrickungen«, z. B.: »Nietzsches gleichsam exoterische Abrechnung mit Spinoza in den publizierten Werken richtet sich gegen die Denkweise eines methodischen Rationalismus, dessen lebenspraktische Voraussetzungen und vitale Konsequenzen aufgedeckt werden sollen.«; vgl. auch S. 55 f.: »III. Der esoterische Spinoza: die verhinderte Bejahung«. 32 A. a. O., S. 55. 31
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eigenen Existenz niedergedrückt wird und sich daher nur reaktiv gegenüber anderem bestätigen kann.« 33
Aber in seinen Nachlassnotizen, die Gawoll zufolge nur von ihm selbst oder von Menschen seinesgleichen gelesen werden sollten, soll Nietzsche auf eine esoterische Haltung zu Spinoza hinweisen: »In einem veränderten Licht wird allerdings Nietzsches Bezugnahme auf Spinoza erscheinen, wenn man die Nachlaßnotizen aus den 80er-Jahren betrachtet. Sie enthalten einen esoterischen Dialog mit Spinoza, den jene berühmte Postkarte [KSB 6, Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881; J. Y.] gleichsam resümierend heraufbeschwört […]« 34
Damit distanziert sich Nietzsche, so Gawoll, von seiner exoterischen Haltung zu Spinoza. Nach dieser Deutung soll Nietzsche in seiner späteren Schaffensphase bei Spinoza »asketische Verstrickungen« 35 bewertet haben. Gawoll sucht den Grund dieser Änderung weiter in der Koinzidenz allein, dass sich die Konzeption von dem »Willen zur Macht, der ewigen Wiederkunft des Gleichen und der amor fati« 36 in den 1880er Jahren nach Nietzsches KunoFischer-Lektüre 1881 zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgend ereignet hat und seine Einstellung zu Spinoza – nur nachträglich – im Licht dieser neuen Ideen wieder bewertet werden könnte. 37 Eigentlich handelt es sich um ein größeres Problem, dass der Zusammenhang und die mögliche Kontinuität zwischen unterschiedlichen Phasen von Nietzsches Spinoza-Rezeption und ihr möglicher Einfluss auf Nietzsches Denken hier unberührt bleiben und stattdessen eine abrupte Änderung in seiner Einstellung zu Spinoza angenommen wird. Während die denkgeschichtliche Gestaltung und der Arbeitsprozess von Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza in späteren Kapiteln näher betrachtet werden, muss ein anderes Problem bereits an dieser Stelle berücksichtigt werden. Denn es muss zunächst gefragt werden, ob eine derartig starke Trennung von Nietzsches Haltung zu
Ebd. Ebd. 35 A. a. O., S. 49. 36 A. a. O., S. 55. 37 »Diese esoterische Änderung der Einstellung zu Spinoza legt die Vermutung nahe, daß sie auf eine Koinzidenz in der intellektuellen Biographie Nietzsches zurückgeht. So sind die positiven Lehren vom Willen zur Macht, von der ewigen Wiederkunft des Gleichen und der amor fati sämtlich kurz nach dem Zeitpunkt zum ersten Mal konzipiert worden, als Nietzsche seinem Freund Overbeck auf einer Postkarte Bericht über die Konfrontation mit dem Geist Spinozas erstattet. […]«, ebd. 33 34
Kritischer Überblick zum Forschungsstand II
Spinoza zwischen den publizierten Schriften und nachgelassenen Notizen wie bei Gawoll tatsächlich existiert. Mit einer Zuspitzung dieser Trennung könnten nämlich die intendierten Adressaten sowie die Zusammenhänge der Argumentation bei Nietzsche zwischen beiden Arten des Textes unterschiedlich sein, d. h., die publizierten Werke sollten im Prinzip einen exoterischen Charakter aufweisen, die nicht publizierten Schriften dagegen einen esoterischen. Der Grund, warum Nietzsche nur in Nachlassnotizen einen esoterischen Dialog mit Spinoza halte und Spinoza in publizierten Werken kritisch darstelle – dies muss jedoch noch geprüft werden –, soll Gawoll zufolge ihr unterschiedlicher Textstatus sein. Nach dieser Interpretation weist ein nachgelassener Text nicht nur einen esoterischen Charakter auf, sondern sollte auch, so die Behauptung, selbst ein esoterischer Text sein, bei einem publizierten Text sei es hingegen genau umgekehrt. Mit dieser Annahme könnte man die Ambivalenz derart erklären, dass Nietzsche seine theoretische und persönliche Neigung und Sympathie zu Spinoza esoterisch, also nur ›für Eingeweihte‹ hätte niederschreiben können, nicht aber nicht in veröffentlichten Schriften. Eine solche starke Trennung bringt jedoch Probleme mit sich. Was die Umstände weit komplizierter – und somit auch interessanter – macht, ist die Tatsache, dass Nietzsche nicht nur im Nachlass in den 1880er Jahren jene ›positiven‹ Stellungnahmen über seinen »Vorgänger 38 äußert, sondern ebenso in (sowohl früheren als auch späteren) veröffentlichten Werken. 39 Genauso sind Nietzsches ›kritische und negative‹ Bemerkungen über diesen »einsiedlerischen Kranken« ( JGB 5) in beiden Textarten und im ganzen Zeitraum seiner Schaffensphase breit verteilt. Zudem weisen sogar Nietzsches veröffentlichte Schriften nicht nur einen exoterischen, sondern auch oft einen esoterischen Charakter auf, soweit ihre ständige Dialogsuche die Tragik vom einsamen Philosophen ausprägt, der andauernd mit dem bedrückenden Gefühl zu kämpfen hat, allein für sich zu reden. Seine »unzeitgemäßen Betrachtungen« könnten nämlich »ein Ohr« nicht unter seinen Zeitgenossen, sondern allein in der Vergangenheit (siehe Nietzsches »Hadesfahrt« 40 oder einen wichtigen Brief an Overbeck von 1886 41) KSB 6, Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111. Siehe z. B. Nietzsches Spinoza-Bewertung in GM II angesichts des schlechten Gewissens. Vgl. Abs. 1.3.2 und 4.1. 40 Vgl. Aphorismus ›Hadesfahrt‹ (MA II, 408, KSA 2, S. 533–534). Siehe Abschnitt 4.2 und 5.1. 41 »Wenn ich Dir einen Begriff meines Gefühls von Einsamkeit geben könnte! Unter den Lebenden so wenig als den Todten habe ich Jemanden, mit dem ich mich verwandt fühlte«, KSB 7, Nr. 729, an Franz Overbeck in Basel, 5. August 1886, S. 223. 38 39
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oder in der Zukunft (siehe Diskussion über Spinoza als »den wissenden Genius« und »den Wert seiner Leiden« in MA zwischen 1876 und 1877 42 im Abs. 5.1) finden. Man beachte den Untertitel »Ein Buch für Alle und Keinen« von Also sprach Zarathustra sowie seine komisch-tragische Vorrede oder den ironischen Vorredeentwurf für seinen – vorab kurz erwähnten – Tractatus politicus von 1887/88. Diese Charakteristik verlangt also eine sowohl inhaltlich-philosophische als auch biographisch-anthropologische Erforschung dahingehend, inwieweit die Einsamkeitsthematik für Nietzsches Spinoza-Rezeption eine Rolle gespielt hat. 43 Zugleich gibt es auch viele Hinweise darauf, dass einige nachgelassene Schriften tatsächlich zur Veröffentlichung geschrieben wurden, dass sie nicht einfach als ausschließlich esoterische Texte bezeichnet werden können. Dafür hat jene starke Trennung von esoterischem und exoterischem Text keine Erklärung. Ein gutes Beispiel ist etwa »der europäische Nihilismus« vom 10. Juni 1887 44, das sogenannte Lenzer-Heide-Fragment. Dieser Nachlass ist trotz seiner geläufigen Benennung ›Fragment‹ als ein Entwurf für eine Veröffentlichung in Form und Inhalt geschlossen und verdient daher eine angemessenere Bezeichnung: Lenzer-Heide-Entwurf. 45 Er bietet einen wichtigen Hinweis bezüglich der Kohärenz sowie der Komplexität von Nietzsches Spinoza-Rezeption im Allgemeinen. Zudem schließt eine esoterische, d. h. »nur für Eingeweihte einsichtig[e], [geistig] zugänglich[e]« 46 Lehre keinen Dialog aus. Sie kann vielmehr ein intensives Gespräch herbeiführen, wenn auch mit einem exklusiven Gestus. Hingegen zeichnet sich Nietzsches sogenannter esoterischer Charakter in seiner Philosophie – sei es in nachgelassenen Schriften oder publizierten Werken – dadurch aus, dass er die Gruppierung jener ›Eingeweihten‹ nicht nur zu verstärken, sondern auch zu eröffnen sucht, damit ein breiterer und selbstsicherer Zugang zur Welt wiederhergestellt werden kann. Bei Nietzsche besteht ein dynamisches Verhältnis zwischen esoterischer und exoterischer Haltung. Es gibt jedoch keinen Grund, eine starke Trennung von esoterischem und exoterischem Text vorauszusetzen.
MA I, 157, KSA 2, S. 147–148. Siehe folgende Diskussion über »den Wert des Leidens« im Abschnitt 5.1. 43 Siehe Kap. 5. 44 NL 5[71], Der europäische Nihilismus, Lenzer Heide, den 10. Juni 1887, 2, KSA 12, S. 211 f. Siehe Kap. 6. 45 Die Idee verdanke ich einem Gespräch mit Prof. Dr. Werner Stegmaier in Berlin, 2011. 46 In: Duden (1993), ›esoterisch‹. 42
Kritischer Überblick zum Forschungsstand II
1.3.2 Nietzsches Spinoza-Rezeption oder seine Sekundärliteratur-Rezeption? Kritik an Brobjer (2008)
Die nächste Frage ist, welche Bedeutung Spinozas eigene Schriften für Nietzsches Spinoza-Rezeption hatten. Es ist vor allem der Verdienst von Brobjer (2008), dass die Arbeitsmethode und -grundlage in letzter Zeit bei der Erforschung von Nietzsches Spinoza-Rezeption mehr Aufmerksamkeit gewonnen hat. Er vertritt dabei die Ansicht, dass die eigenen Schriften Spinozas für den Forschungszweck keine Textgültigkeit besitzen: »[…] Nietzsche never read Spinoza! Nietzsche, of course, encountered a number of accounts of Spinoza’s thinking. One of these, that of the philosopher and historian of philosophy Kuno Fischer’s Geschichte der neuern Philosophie (Volume 2 about Spinoza), which he read twice, is of paramount importance. Thus, any discussion of Nietzsche’s views and interpretations of Spinoza cannot be based on an analysis of Nietzsche’s and Spinoza’s philosophy (as all studies have done it so far) but needs to start from Kuno Fischer’s account, which is what Nietzsche read, responded to, and based his judgements and analyses upon. To discuss Nietzsche’s interpretations and misinterpretations of Spinoza in relation to Spinoza’s own writing is simply irrelevant.« 47
Für eine Rezeptionsforschung dürfte man Brobjer zufolge im Prinzip nur diejenigen sekundären Quellen zu Rate ziehen, für die philologisch belegt oder belegbar ist, dass sie direkt von Nietzsche gelesen wurden. Obwohl er zur allgemeinen Quellenforschung der Nietzschestudien zahlreiche Beiträge geleistet hat, muss diese besondere methodologische Position zu Nietzsches Spinoza-Rezeption genau überprüft werden. Seine Behauptung beinhaltet folgende drei Argumente. Erstens habe Nietzsche Spinoza nie direkt gelesen, sondern nur vermittelt durch sekundäre Literatur über ihn erfahren. Zweitens erbringe daher ein direkter Vergleich zwischen Nietzsches und Spinozas Philosophie, wie sie sich in seinen Schriften findet, keinen Mehrwert für die Rezeptionsforschung. Auch deswegen zählte nur diese von Nietzsche konsultierte Sekundärliteratur für die Forschung. Drittens sei Nietzsches Spinoza-Verständnis dominant von Kuno Fischer beeinflusst worden. Fischers großes Werk über Spinoza hat Nietzsche zumindest zweimal ausführlich gelesen. Nicht Spinozas eigene Werke, die Nietzsche Brobjer zufolge wohl nie gelesen habe, sondern jenes Buch von Fischer, also sein zweiter Band der Geschichte der neuern Philosophie (1865), dessen Bandtitel Spinozas Leben, Werke und Lehre lautet, sollte die Richtlinie für unsere
47
Brobjer (2008), S. 77.
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Interpretation bilden, wie Nietzsche Spinoza verstanden habe. Nietzsches – Brobjer zufolge – überraschend große Abhängigkeit von der Sekundärquelle scheint diese Beobachtung nochmals zu bestätigen. 48 Zwar scheint der Einfluss der Fischer-Lektüre für Nietzsches Spinoza-Rezeption groß – Fischer galt immerhin als einer der wichtigsten Spinoza-Interpreten seiner Zeit. Das bedeutet jedoch nicht, dass Nietzsches Spinoza-Bild von Fischers Spinoza-Interpretation gänzlich abhängig gewesen wäre. Es gilt daher zu fragen, welche konkrete Rolle Fischers Spinozadeutung für Nietzsches Spinoza-Verständnis gespielt hat. 49 Dabei zeigen einige Beispiele gleich, dass Nietzsche sich von Fischers Position eine kritische Distanz bewahren und sein eignes Spinoza-Verständnis von dem Fischers bewusst abgrenzen konnte. Zum einen deutet im zweiten Buch der Genealogie der Moral Nietzsche Spinozas »Gewissensbiss (morsus conscientae)« explizit gegen Fischers moralistische Lesart. Auf den Seiten 378 und 379 in seinem Buch interpretiert Fischer Spinozas zweite Anmerkung zum 18. Lehrsatz im 3. Teil der Ethik. Spinozas morsus conscientae wird bei Fischer als ›Reue‹ übersetzt. 50 Nietzsche zufolge hat Kuno Fischer jedoch Spinoza an dieser Stelle nicht richtig verstanden. So heißt es bei Nietzsche etwa: »Dies kam einmal auf eine verfängliche Weise Spinoza zum Bewusstsein (zum Verdruss seiner Ausleger, welche sich ordentlich darum bemühen, ihn an dieser Stelle misszuverstehn, zum Beispiel Kuno Fischer) […]« 51 Diese Divergenz der Perspektiven zwischen Fischer und Nietzsche hängt eigentlich mit der unterschiedlichen Rezeption von Spinozas ›unmoralischer Weltordnung‹ bei Fischer, Nietzsche und Arthur Schopenhauer (1747–1805) zusammen. Dabei lehnt Nietzsche Fischers moralistische Lesart ab und teilt stattdessen die schopenhauersche Deutung (jedoch mit Vorbehalt), dass Spi-
»Nietzsche’s implicit trust in secondary accounts is perhaps surprising, but I have elsewhere in this study pointed to a large number of other such cases, including, most importantly, those of Kant and Rousseau.« Brobjer (2008), S. 77–78. 49 Dazu siehe Diskussionen über die konkreten Einflüsse von Fischers Spinozaband auf Nietzsches Spinoza-Rezeption im Abs. 1.4.2., 4.2.1., 5.1., 5.4.1., 6.2. 50 Fischer (1865), S. 378–379. 51 GM, II, 15, KSA 5, S. 320–321. Hier handelt es sich um Nietzsches Analyse des »schlechten Gewissens«, wobei Nietzsche Spinoza Recht gibt, als Spinoza das Phänomen des schlechten Gewissens (morsus conscientiae) als die Enttäuschung eines erwarteten Ergebnisses analysierte. Vgl.: »Fröhlichkeit schließlich ist eine Freude, die dem Vorstellungsbild einer vergangenen Sache entsprungen ist, über deren Ausgang wir im Zweifel gewesen sind, während Gewissensbiß eine Trauer ist, die der Fröhlichkeit entgegengesetzt ist (Conscientiae denique morsus est tristitia opposita gaudio.)«, E 3, P18S2, S. 259; vgl. auch Übersetzung von Gebhardt: »Gewissensbiss endlich ist der Freude entgegengesetzte Unlust«. Siehe Abs. 6.2.2. 48
Kritischer Überblick zum Forschungsstand II
nozas Denken hier tatsächlich eine unmoralische oder sogar eine prä- und außermoralische Weltordnung voraussetzt. Während die Frage, wie genau die Umstände die Moralkritik von Nietzsche angesichts seiner Spinoza-Rezeption beeinflusst haben, im Abschnitt 4.1. beantwortet wird, ist an dieser Stelle nochmals festzustellen, dass der Einfluss von Fischers Spinoza-Lektüre auf Nietzsche zwar von großer Bedeutung ist, jedoch nicht überschätzt werden sollte. Es gab vergleichbare Umstände bei Nietzsches Umgang mit anderen wichtigen Spinoza-Interpreten, zunächst mit Johann Wolfgang von Goethe und Schopenhauer, deren Einfluss auf Nietzsches Spinoza-Rezeption im nächsten Kapitel diskutiert wird. Zudem hat Nietzsche weitere Spinoza-Interpreten gekannt, was ihm einen kritischen Abstand von der Spinoza-Lesart von Fischer ermöglichte: Adolf Trendelenburg (1802–1872) war seit 1837 Professor für Philosophie an der Berliner Universität und spielte nicht nur in damaligen Diskussionen über Platon, Aristoteles, Kant und Hegel, sondern auch in der deutschen Spinoza-Rezeption des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Rupschus und Stegmaier haben in dieser Hinsicht einen Beitrag geleistet, als sie eine Quellenforschung zu Nietzsches Bemerkung über die »Inconsenquenz Spinoza’s« in JGB 13 52 durchführten. 53, 54 Es ist an dieser Stelle wichtig zu zeigen, dass ihr philologischer Befund wiederum Nietzsches kritischen Abstand zu Fischer in Heidelberg bezeugt 55, 56. Nun könnte man meinen, dass sich Nietzsche nur dann auf Sekundärquellen zu Spinoza bezogen habe, wenn er damit eine kritische Position zu einem
»13. Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. – Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Principien! – wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza’s –). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich Principien-Sparsamkeit sein muss.«, JGB I, 13, KSA 5, S. 27–28. 53 Rupschus / Stegmaier (2009). 54 Dieser Beitrag thematisiert u. a. Nietzsches Kritik an Spinozas Selbsterhaltungsprinzip. Vgl. Müller-Lauter (1999), S. 78. 55 In Anm. 21 wird nur kurz angemerkt, dass Trendelenburg bei Brobjer nicht erwähnt wurde. Vgl. a. a. O., S. 305–306. 56 Rupschus und Stegmeier schreiben in Anm. 8.: »Adolf Trendelenburg, Ueber Spinoza’s Grundgedanken und dessen Erfolg. Aus den Denkschriften der königl. Akademie der Wissenschaften. 1849, in: ders., Historische Beiträge zur Philosophie. Bd. 2. Vermischte Abhandlungen, Berlin 1855, S. 31–111. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, der S. 564–569 auf Trendelenburg eingeht, verweist S. 569 auf diesen Erscheinungsort.« Rupschus / Stegmaier (2009), S. 301; Vgl. Scandella (2014), S. 182. 52
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Einleitung: Nietzsche und Spinoza aktuell
anderen Spinoza-Interpreten erzielen konnte. Dagegen spricht jedoch Brobjers Beitrag über Teichmüllers 57 Kritik an Spinozas ›amor dei‹-Konzept. 58 Zusammengefasst: Die Frage, ob Nietzsche ein selbständiges Spinoza-Bild hatte, lässt sich nicht auf die andere Frage reduzieren, ob Nietzsche Spinoza direkt gelesen hat. Die erste Frage lässt sich nur durch eine kritische philosophische Interpretation beantworten. Selbst wenn Nietzsche Spinoza nicht einmal direkt gelesen hätte, gibt es keine Gründe, Spinozas eigenen Schriften weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Brobjers erstes Argument, dass Nietzsche Spinoza nie direkt rezipierte, lässt außerdem immer noch einige Fragen offen. Die Umstände von Nietzsches Spinoza-Lektüre sind nicht so klar dargelegt, dass eine eindeutige Aussage darüber gemacht werden kann. In Anm. 82 vom 5. Kapitel The Middle Nietzsche: 1875–82 begründet Brobjer seine Behauptung folgendermaßen: »It must be realized that it is almost impossible to prove or to be certain that someone has not read a certain book or author. My argument here is based not only on the fact that we have no evidence that Nietzsche ever read Spinoza but also on the fact that all of his important references to Spinoza can be traced to specific secondary literature. […]« 59
Gawoll (2001) hat jedoch in dieser Hinsicht bereits eine interessante Beobachtung zur »homo liber«-Stelle 60 in einer nachgelassenen Notiz gemacht. 61 Diese Stelle taucht zwar in Fischers Buch auf, aber das Buch liest Nietzsche bekanntermaßen erst 1881. 62 Jener Nachlass mit der ›homo liber‹-Stelle datiert jedoch bereits zwischen Oktober und Dezember 1876, also 5 Jahre zuvor. Entweder hatte Nietzsche also einen anderen verlässlichen Zugang zu Spinozas Text vor seiner Fischer-Lektüre, sei es ein direkter oder indirekter, sodass er Spinozas Gustav Teichmüller (1832–1888) studierte bei Adolft Trendelenburg, wurde später (1868) Professor für Philosophie an der Universität Basel und lehrte dort, bis er 1871 zur Universität Dorpat wechselte. Nietzsche war an dieser Universität Professor für klassische Philologie zwischen 1869 und 1879 und hat sich 1871 um den nun freigewordenen Lehrstuhl von Teichmüller für Philosophie erfolglos beworben. 58 Vgl. Wurzer (1975), S. 86; vgl. auch Brobjer (2008), S. 81: »In one note from the summer or autumn of 1884, Nietzsche defended Spinoza’s concept of amor dei and explicitly criticized Teichmüller’s critique of it. However, nowhere in Die wirkliche und die scheinbare Welt is there any discussion of amor dei, and it therefore seems likely that Nietzsche was referring to another of Teichmüller’s books. (Teichmüller often discussed Spinoza.)«. 59 Brobjer (2008), S. 156, Anm. 82. 60 »Homo liber de nulla re minus quam de morte cogitat et ejus sapientia non mortis sed vitae meditatio est. Spinoza.«, NL 19[68], Oktober – Dezember 1876, KSA 8, S. 346. 61 Gawoll (2001), S. 47. 62 In einer Postkarte an Overbeck können wir die Euphorie Nietzsches erkennen. Siehe KSB 6, Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111. 57
Die Fragestellung und die Struktur der Arbeit
Auffassung über den freien Menschen (homo liber) erfahren konnte. Oder er müsste Fischer noch früher gelesen haben, als es in der Forschung bis jetzt angenommen wurde. 63 Darüber hinaus steht die Frage aus, ob dieses Zitat überhaupt aus der Sekundärliteratur stammt. 64 Denn die Herausgeber der umfangreichen Quellenstudie Nietzsches persönliche Bibliothek (2003) gaben einen Hinweis, dass Nietzsche bereits 1875 Spinozas Hauptwerk Ethica nicht nur erwerben wollte, sondern es auch tatsächlich erhielt. Aus unbekannten Gründen gibt Nietzsche zwar das Buch an die Buchhandlung – aus Sicht der heutigen Forscher ein bedauernswerter Umstand – zurück 65; allerdings bezeugt dieses Vorkommnis zumindest sein kontinuierliches Interesse an Spinoza schon in den 1870er Jahren sowie seine Kenntnis über die Spinoza-Rezeption in Europa im Allgemeinen. Es wurde von seinen anderen Geistesverwandten veranlasst: dazu zählen u. a. Goethe und Schopenhauer, deren Einflüsse auf Nietzsches Spinoza-Rezeption in den nächsten Kapiteln weiter erörtert werden soll.
1.4 Die Fragestellung und die Struktur der Arbeit. Die denkgeschichtliche Rekonstruktion von Nietzsches Spinoza-Rezeption
Durch die letzte Betrachtung über den aktuellen Forschungsstand werden wichtige Forschungslücken angesichts der Spinoza-Rezeption Nietzsches festgestellt, die folgende konkrete Fragestellungen und eine stringente Struktur der Arbeit für ihre Erforschung verlangen.
Gawoll vermutet auch, dass Nietzsche Fischers Buch bereits vor 1881 gelesen hätte. Dazu siehe Gawoll (2001), S. 49, Anm. 10. 64 Unabhängig davon stellt sich eine andere Frage, nämlich aus welcher Quelle Nietzsche Spinozas »Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere!« aus dem Tractatus politicus zitiert hat. Hatte Nietzsche vielleicht doch zumindest ein Werk von Spinoza, also seinen Tractatus politicus, direkt gelesen? Dazu schreibt Gawoll seine Vermutung, Gawoll (2001), S. 50–51, Anm. 13, wie Wurzer (1975) dies beobachtet hat, Wurzer (1975), S. 73. Mir scheint jedoch, dass Nietzsche dieses Zitat doch aus Fischers Buch genommen hat, da Fischers zweite, völlig umgearbeitete Auflage (Heidelberg 1865) diesen Satz in lateinischer Sprache enthält. Vgl. Fischer (1865), S. 237; vgl. Brobjer, S. 156, Anm. 85. Dazu auch siehe Diskussion im Abs. 5.4.1. 65 »Spinoza, Baruch, Die Ethik des Spinoza im Urtexte, hrsg. von und mit einer Einleitung über dessen Leben, Schriften und Lehre von Hugo Ginsberg, Leipzig: Koschny, 1875, 299 S. Rechn. Retourné an: C. Detloff ’s Buchhandlung, Basel, laut Bescheinigung vom 13. Juli 1875.«, Campioni et al. 2002, S. 719. 63
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1.4.1 Die Vermittlung der Rezeption als Beweis ihres denkgeschichtlichen Charakters
Zwar wurde im letzten Abschnitt gegen Brobjers Interpretation argumentiert, dass Nietzsche keineswegs das Spinoza-Bild von anderen Spinoza-Interpreten unkritisch übernommen hat und Hinweise für Nietzsches direkte SpinozaRezeption existieren. Es kommt jedoch eigentlich nicht darauf an, ob Nietzsches Spinoza-Rezeption nur durch seine direkte Spinoza-Lektüre gestaltet ist oder nicht. Vielmehr kommt es darauf an – und ist aus Sicht der Forschung sinnvoller – zu zeigen, dass Nietzsches Spinoza-Rezeption durch ihre teilweise vermittelte Natur einen denkgeschichtlichen Charakter aufweist. Aus dieser Perspektive soll Nietzsches indirekte Spinoza-Lektüre nicht nur ihre Bedeutung darin haben, sein Interesse an Spinoza geweckt zu haben. Vielmehr bedeutet sie, dass die von der Zeit und Kultur bedingten spezifischen Perspektiven des europäischen 18. und 19. Jahrhunderts angesichts der SpinozaWiederentdeckung auch dabei von Nietzsche rezipiert und kritisch reflektiert werden. In dieser Hinsicht werden in den anschließenden Hauptkapiteln wichtige Zäsuren und inhaltliche Leitmotive von Nietzsches Spinoza-Rezeption im denkgeschichtlichen Zusammenhang erörtert. Einige Schlüsselfiguren, die für diese Wendepunkte der Wirkungsgeschichte gesorgt haben, sind in Nietzsches Schriften relativ einfach feststellbar, etwa wie bei Nietzsches Fischer-Lektüre im Jahre 1881. Bei den anderen ist es schwieriger, eine konsequente Schlussfolgerung hinsichtlich der Rolle der Figuren für die Rezeption zu ziehen, obwohl deren eigenes Interesse an Spinozas Philosophie oft von Nietzsche kommentiert bzw. diskutiert wurde. Dass die genaue Beurteilung ihres Einflusses erschwert ist, liegt nicht daran, dass Nietzsche sie zu wenig zu Rate gezogen hätte. Ganz im Gegenteil machen die große Zeitspanne und die andauernde Intensität seine Entschlüsselung herausfordernd. Hier handelt es sich um eine paradoxe Situation. Obwohl ihre Rolle für Nietzsches Spinoza-Rezeption in der bisherigen Forschung meistens anerkannt wird, ist der konkrete Inhalt ihres Einflusses bislang nur selten erläutert worden. Dies führt zu dem problematischen Ergebnis, dass Diskussionen über sporadische Ereignisse wie jene Fischer-Lektüre die bisherige Erforschung dieser Rezeption dominiert haben. Eine solche Herangehensweise führte zum berechtigter Vorwurf: »[…] Das Maß, in welchen N[ietzsche].s Denken S[pinoza] verpflichtet ist – wenn es denn überhaupt ins Blickfeld der Forschung rückte –, wurde bisher allerdings mehr behauptet als belegt.« 66 66
Niemeyer (2009), S. 332, ›Spinoza, Baruch de‹, Seggern.
Die Fragestellung und die Struktur der Arbeit
Vor diesem Hintergrund gehe ich auf den »Chaos sive natura«-Entwurf im 2. Kapitel philologisch ein, dem die philosophische Untersuchung im 3., 4., 5. und 6. Kapitel folgt, um die philosophischen Leitmotive und ihre denkgeschichtlichen Zusammenhänge auf einer philologisch fundierten Grundlage zu erörtern. Bei dieser Untersuchung werden wir zunächst mit einer philosophisch-geschichtlichen Frage konfrontiert: Wie kann man die menschliche Freiheit mit der Konsequenz des Fatalismus versöhnen? Eine solche hatte wohlgemerkt Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) bei Spinozas Philosophie befürchtet. Es handelt sich also um eine Frage, die bedeutende Denker bereits während der damaligen ›Spinoza-Renaissance‹ im 18. und 19. Jahrhundert beschäftigt hat, die bereits vor der jüngsten ›Spinoza-Renaissance‹ der 1960er Jahre mit der Veröffentlichung von Jacobis Brief Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785) begann. 1.4.2 Nietzsches Spinoza-Rezeption vor und nach seiner Fischer-Lektüre 1881. Die Frage nach der Nachwirkung und Kontinuität der Spinoza-Rezeption in Nietzsches Philosophie
Für diese Rezeption bildet das Jahr 1881 eine wichtige Zäsur, in dem Nietzsche den bereits erwähnten Spinoza-Band von Kuno Fischer gelesen und Spinoza für sich ›wieder entdeckt‹ hat. Am 30. Juli 1881 sandte Nietzsche aus SilsMaria eine Postkarte an Franz Overbeck und schrieb über seine beglückende Entdeckung von Spinoza: »Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf Hauptpunkten seine Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. – Wunderlich! ……« 67
Dieses bekannte Zitat Nietzsches ist bemerkenswert, weil es nicht nur seine Begeisterung über Spinoza zeigt, sondern auch seine wahrgenommenen Differenzen von diesem Vorgänger. Es ist plausibel, anzunehmen, dass Nietzsches Lektüre von Fischers Spinoza-Band direkt zu seiner auch später noch oft zu 67
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Einleitung: Nietzsche und Spinoza aktuell
diskutierenden Spinoza-Wiederentdeckung im Juli 1881 geführt hat. Denn Overbeck war gerade derjenige, der für Nietzsche diesen Spinoza-Band von Fischer besorgt hat. Wie die Diskussion im Abs. 1.3.2. angesichts der »homo liber«-Stelle von 1876 gezeigt hat, scheint Nietzsche Fischers Spinoza-Band oder andere Interpretationen von Spinoza, die diese »homo liber«-Stelle zitieren, oder Spinozas Werke selbst bereits vor 1881 gelesen zu haben. Es sei in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Postkarte nicht um eine Neuentdeckung, sondern um eine ›Wieder‹Entdeckung handelt. Nietzsche selbst meinte ja, dass er Spinoza fast nicht kannte; dieser Ausdruck bestätigt die Tatsache, dass Nietzsche bereits vor seiner Fischer-Lektüre von 1881 Spinoza nach seiner Goethe- und Schopenhauerlektüre gekannt hat (siehe Kap. 3 und 4). Bereits vor diesem Jahre hatte er in publizierten Schriften und Fragmenten sowie in Briefen mehrmals Spinoza erwähnt. 68 Die Frage, ob und inwieweit Nietzsche Spinoza vor seiner FischerLektüre gekannt hat, ist nicht nur rein philologischer Natur. 69 Vielmehr muss eine derartige Fragenstellung mit weiteren philosophischen Fragen ergänzt werden: Warum hatte sich Nietzsche dafür interessiert? Inwieweit hat es Nietzsches Urteil von Spinoza beeinflusst? Angesichts dieser Fragen haben Forscher wie Wurzer und Brobjer 70 sowie Hanshe 71 und Campioni 72 aus philologischer Perspektive wichtige Ansätze geleistet. Dank ihrer Beiträge liegt nahe, dass Nietzsche bereits vor seiner Fischerlektüre in veröffentlichten und nachgelassenen Schriften sowie in Briefen Kommentare und Aphorismen über Spinozas Denken und Leben geschrieben hatte. Bereits Ende 1872 ist seine erste Spinoza-Bemerkung in Bezug auf Goethes Spinoza-Deutung in den nachgelassenen Schriften zu finden (siehe Kap. 3). Besonders nach 1875 lassen sich seine Erwägungen über Spinoza immer häufiger und auf unterschiedliche Art und Weise feststellen. Im Jahre 1875 hatte sich Nietzsche sogar vorgenommen, Spinozas Ethica zu erwerben, aber er schickt das bereits erhaltene Exemplar aus unbekannten Gründen wieder an die Buchhandlung zurück. 1876 schreibt er über den ›freien Menschen‹ Vgl. auch Seggern 2005, S. 141: »Nietzsches Behauptung, Spinoza vor 1881 ›fast nicht‹ gekannt zu haben, erscheint angesichts der Fülle impliziter Hinweise auf das soeben in aller Kürze umschriebene ethische Denken des jüdischen Häretikers und seiner Rezeption in Goethes Werk wenig glaubwürdig.« 69 Wir können damit etwa philologische Hinweise finden, z. B. wann Nietzsche Spinoza zum ersten Mal entdeckt und ob er Spinozas Werke selbst gelesen hat. Oder auch, ob er Spinoza nur durch ›sekundäre Literatur‹ gekannt hat. 70 Brobjer (2008). 71 Hanshe (2007). 72 Campioni et al. (2002). 68
Die Fragestellung und die Struktur der Arbeit
in Spinozas Denken. 73 Zwischen 1876 und 1877 begegnet man einer Stelle, wo Nietzsches besonderer Eindruck von der Einheit des Lebens und Denkens bei Spinoza in MA, etwa im Abschnitt Die Leiden des Genius und ihr Werth, zu finden ist. 74 Am 19. Nov. 1877 berichtet Nietzsche Paul Rée (1849–1901), dem Philosophen und Arzt, fast beiläufig, dass »das Jenaer Literaturblatt« Rée den »jungen Spinoza« genannt habe. 75 Nietzsches weitere Bemerkung über Spinoza, die als die zweite im Zusammenhang mit seiner Goethe-Lektüre entstand, stammt aus dem Jahr 1878, wenn er in einem Aphorismus 76 aus dem zweiten Buch von MA hinsichtlich Goethe und Spinoza kommentiert (siehe Abs. 3.1), um nur einige Stellen zu nennen (siehe Kap. 3 und Kap. 4). Diese Häufigkeit spricht für Nietzsches starkes Interesse an Spinoza insbesondere zwischen 1875 und 1877, also gegen die These, dass es erst mit seiner Fischer-Lektüre 1881 angefangen habe. Im Hinblick auf Nietzsches ersten Kontakt mit Spinoza wies Brobjer (2008) auf die Möglichkeiten vor dem Jahr 1872 hin: 1865 besuchte Nietzsche eine Vorlesung – »Allgemeine Geschichte der Philosophie« von Karl Schaarschmidt – an der Bonner Universität, wo der 21-jährige Student Theologie und Klassische Philologie studiert hat. Er hinterließ lange Vorlesungsnotizen über Spinoza während dieser Zeit. 77 Zudem ist Nietzsches Lektüre von Schriften der verschiedenen Autoren von Bedeutung: Wurzer (1975) hat als die frühen Spinoza-Quellen für Nietzsche bereits Goethe, Schopenhauer, Lange, Überweg und Eugen Dühring genannt und ihren Einfluss kurz bewertet. 78 Diese philologische Untersuchung wurde von Brobjer fortgesetzt; Nietzsche liest Brobjer (2008) zufolge Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1865) von Friedrich Albert Lange im Jahre 1866 79, Grundriss der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart (1863–66) von Friedrich Überweg im Jahre 1868 und 1873 und zuletzt Philosophie des Unbewussten (1869) von Eduard von Hartmann zwischen 1869 und
NL 19[68], Oktober – Dezember 1876, KSA 8, S. 346. Siehe Abs. 1.3.2 MA I, 157, KSA 2, S. 147–148. Siehe Abs. 5.1. 75 Vgl. Gawoll (2001), S. 46–47. Gawoll vertritt die Ansicht, dass Rée Nietzsche »Gelegenheit« gegeben habe, »sich verstärkt dem Streben nach rationaler Erkenntnis zu verschreiben, für das Spinoza zum großen Vorbild avancierte.«, S. 47. Ob dafür feste Tatbestände existieren, ist jedoch m. E. noch nicht klar. Jenes Spinoza-Zitat stammt übrigens schon von 1876, also um ein Jahr früher als das Erscheinen der Jenaer Zeitschrift. 76 MA, II, 408, KSA 2, S. 533–534. 77 Brobjer (2008), S. 78 ff. 78 Wurzer (1975), S. 13–17. 79 Langes Deutung von Spinozas Totalitätsanspruch wird noch im Abschnitt 3.3.2. erwähnt. Vgl. Wurzer (1975), S. 16; vgl. Brobjer (2008), S. 157, Anm. 89. 73 74
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Einleitung: Nietzsche und Spinoza aktuell
1873 80 – in all diesen Werken wird Spinozas Philosophie aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Brobjer bleibt nach seiner sonst ausgezeichneten Quellenarbeit bei der noch zu prüfenden Annahme, dass Nietzsches früheres Spinoza-Bild von seiner Goethe-Lektüre beeinflusst worden sei und dieses Bild trotz der umfangreichen Lektüre weiterer Quellen nicht geändert wurde. Vielmehr bleibt er bei der rein philologischen Betrachtungsweise und listet mögliche relevante Literatur eher parallel auf, ohne ihre konkrete Rolle für die Rezeption zu bestimmen. Diese methodologisch gesehen legitime Beschränktheit bringt uns jedoch nicht weiter, wenn die konkrete Auswirkung dieser Quellen für Nietzsches Spinoza-Rezeption thematisiert werden soll. In den nächsten Abschnitten werde ich in dieser Hinsicht zunächst die Rolle von Goethe und Schopenhauer für Nietzsches Spinoza-Rezeption eingehend betrachten, wodurch der denkgeschichtliche Zusammenhang im 18. und 19. Jahrhundert einbezogen wird. Trotz des starken Hinweises auf Nietzsches Interesse an Spinoza vor 1881 ist es der Forschung bislang nicht gelungen, die Kontinuität oder Kohärenz dieser Rezeption theoretisch zu belegen. Vor allem scheint es problematisch, dass Nietzsches frühere Spinozainterpretation bis 1881 von seiner späteren Auseinandersetzung mit Spinoza, insbesondere zwischen 1886 und 1888, in den bisherigen Studien meist als abgetrennt dargestellt wurde. Mit dem Hinweis auf die sogenannten »Chaos sive natura«-Stellen zwischen 1881 und 1882 (siehe Kap. 2) sowie einigen weiteren vernachlässigte Stellen wie die »Ego contra Spinozan«-Stelle (siehe Abs. 2.1 und Abbildung 2), die ich in Nietzsches handschriftlichen Archiven entweder neu entdeckt oder textkritisch bearbeitet habe, gelangen wir zur neuen Perspektive. Die Betrachtung über die zwei »Chaos sive natura«-Stellen in Kap. 2. fungiert als ein philologischer und philosophischer Baustein für meine These, dass eine Kontinuität dieser Rezeption nach 1881 nachweisbar ist.
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Ebd.
2. »Chaos sive natura«-Entwurf Geburt der Spinozakritik Nietzsches 2.1 Einleitung zu Nietzsches »Chaos sive natura«-Entwurf zwischen 1881 und 1882. Das fehlende Bindeglied bei Nietzsches Spinoza-Rezeption
Dass die bisherige Forschung Nietzsches Spinoza-Rezeption zwischen 1881 und 1885 wenig behandelt, hinterlässt bei Lesern den Eindruck, dass seine erste Begeisterung gegen 1881 doch überraschend rasch und folgenlos zurückgegangen wäre. Eine solche Interpretation muss jedoch genau geprüft werden. Diese mittlere Schaffensphase gilt als ein wichtiger Wendepunkt für Nietzsches Philosophie, die für ihn eine besondere Kreativität und Intensität besaß und zum großen Teil mit der Vorbereitung und Veröffentlichung von Nietzsches FW (1882) und ZA (1883–1885) zusammenfällt. In der Forschung wird generell akzeptiert, dass während dieser Zeit, insbesondere zwischen 1881 und 1882, neue Konzepte und Ideen von Nietzsche entwickelt werden, die zum Kerngedanken seiner späteren Phase werden: 1 Nicht nur wurde Spinozas Einfluss auf Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen 2 erforscht, sondern auch ein möglicher Anknüpfungspunkt zwischen Spinozas amor dei intellectualis und Nietzsches amor fati, oder zwischen ihrer gemeinsamen Kritik an der Mitleidethik und dem absoluten Anspruch eines moralischen, religiösen oder politischen Wertsystems. Angesichts jener Kritik an der fehlenden philologischen Grundlage scheint es mir jedoch wichtig zu zeigen, ob und inwieweit sich Nietzsche direkt nach seiner Wiederentdeckung 1881 mit Spinoza auseinandergesetzt hat. In diesem Kontext werde ich die beiden »Chaos sive natura«-Stellen in Nietzsches nachgelassenen Notizbüchern zwischen 1881 und 1882 in diesem Kapitels diskutieren.
Vgl. Brobjer (2008), S. 82: »It was during the end of his middle period, especially during 1881–82, that Nietzsche discovered or invented many of the new ideas and concepts that caused him to move into the third phase of his development and determined much of his later thinking. To these discoveries belong eternal recurrence, amor fati, Zarathustra, the will to power, the Übermensch, nihilism, décadence, and the ›death of God.‹ All of these concepts are related to and dependent upon Nietzsche’s reading of specific works. I can here only briefly point to some aspects of this dependence.« 2 Vgl. Wurzer (1975), S. 86; auch vgl. Brobjer (2008), S. 81: »Nietzsche seems to have appreciated Spinoza’s concept of amor dei (and related it to his own idea of eternal recurrence).« 1
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»Chaos sive natura«-Entwurf
Folgende Einwände kann es geben. Erstens kann man fragen, ob die Formulierung »Chaos sive natura« nur eine vorübergehende Formulierung von Nietzsche sein kann, die keine weiteren Folgen für sein Denken hat. Deutlich dagegen spricht jedoch Nietzsches aufmerksame Schriftplanung über seinen Gedankenzug »Chaos sive natura«, wie in Bezug auf die zweite »Chaos sive natura«-Stelle in M III-2 (Sommer 1882) im Abschnitt 2.3. erörtert wird. Zweitens muss festgestellt werden, wie sich Nietzsches Formulierung von »Chaos sive natura« zur Formulierung von Spinozas »Deus sive natura« verhält. Dass diese Formel Spinozas besonders seit der Spinoza-Renaissance und dem Pantheismusstreit unter den europäischen Intellektuellen zum Gemeinbegriff wurde, spricht noch nicht dafür, dass auch Nietzsche diese Formel gekannt hat. Dafür gibt es jedoch eine relativ einfache Erklärung: Nietzsche schreibt über Spinozas »Deus sive natura« in einem Nachlass zwischen Juni und Juli 1885 (NL 36[15], KSA 11, S. 556) in kritischem Ton. Es ist also sehr plausibel, anzunehmen, dass Nietzsche diese grundlegende Idee Spinozas und ihre Implikation aus verschiedenen Quellen, z. B. in Kuno Fischers SpinozaBand 1881, zur Kenntnis genommen hat. 3 Dennoch stellt sich die damit zusammenhängende Frage, ob Nietzsche Spinozas Phrase gerade im Sinne hatte und sie parodieren wollte, als er seine Idee von »Chaos sive natura« konzipiert hat. Auf diese Frage gibt eine philologische Untersuchung Antwort: Nietzsches Formulierung »Chaos sive natura« – die erste »Chaos sive natura«-Stelle – taucht direkt nach seiner Auseinandersetzung mit Spinoza auf, wobei diese Notiz (NL 11[193]) von seiner Lektüre des bereits erwähnten Spinoza-Bandes von Fischer detailliert berichtet. 4 Seine gegensätzliche Position zu Spinoza war Nietzsche sehr bewusst, die er im handschriftlichen Notizbuch M-III-1, 76b mit einer Formulierung »Ego contra Spinozan« (GSA 71/128, 8, siehe Abbildung 2) niedergeschrieben hat. Beide Seiten mit einer »Ego contra Spinozan«-Stelle (76b: rechte Seite vom 76. Seitenpaar) und einer anderen wichtigen Bemerkung Nietzsches über Spinozas Leidenschaftslehre »Non ridere non lugere«-Stelle (GSA 71/128, 76: linke Seite vom 76. Seitenpaar; siehe Abbildung 1) aus dieser Zeit scheinen jedoch in der entsprechenden kritischen Gesamtausgabe von Colli und Montinari ausgefallen zu sein (vgl. NL 11 [194], KSA 9, S. 519).
Diese Phrase taucht in verschiedenen Spinoza-relevanten Literaturen, die Nietzsche gelesen hat, mehrmals auf. Vgl. z. B. Fischer (1865), S. 258, »V. Gott oder Natur«; a. a.O., S. 551: »3. Rationalismus oder System der reinen Natur. […] Deus sive natura«. 4 Siehe NL 11[193], KSA 9, S. 517 f. Vgl. dazu auch den Kommentar der Herausgeber in KSA 14, S. 646. 3
Einleitung zu Nietzsches »Chaos sive natura«-Entwurf
Abb. 1: DFGA/M-III-1,7 (GSA 71/128, 76a): »Non ridere non lugere«-Stelle, ausgefallen in NL 11[194], KSA 9, S. 519.
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»Chaos sive natura«-Entwurf
Abb. 2: DFGA/M-III-1,8 (GSA 71/128, 76b): »Non ridere non lugere«- Stelle und »Ego contra Spinozan«-Stelle, ausgefallen in NL 11[194], KSA 9, S. 519.
Einleitung zu Nietzsches »Chaos sive natura«-Entwurf
Nun muss man fragen, welche Bedeutung der neue Gedanke von »Chaos sive natura« in Nietzsches Philosophie hat. Was wird sich aus diesem Ansatz in Nietzsches Denken ergeben? Wie verhält sich diese Überlegung von »Chaos sive natura« zu der gesamten Tendenz der Philosophie von Spinoza und Nietzsche überhaupt? Es kann immerhin der Fall sein, dass dieser Gedanke den zentralen Gesichtspunkt von beiden Denkern nicht berührt hat. Angesichts dieser Skepsis wird im Verlauf der Arbeit argumentiert, dass eine thematische Gruppe der miteinander eng zusammenhängenden Leitmotive sowohl in beiden »Chaos sive natura«-Stellen als auch in der gesamten Rezeption feststellbar ist. Nietzsches Thematisierung dieser Gedanken wird zunächst bei den »Chaos sive natura«-Stellen deutlich gemacht, deren Kontext und Entwicklung vor und nach 1881 in Nietzsches Denken in den anschließenden Kapiteln in Bezug auf diese Leitmotive – die Zufälligkeit, die Notwendigkeit und Chaos, die Eintracht und der Konflikt der Welt, die Antiteleologie, die unsittliche Weltordnung, das anthropologische Bild im Hinblick auf den menschlichen Umgang mit dem Leiden unter den Facetten der Totalität, des Fatalismus, des Pessimismus und des Optimismus und schließlich die sozio-politische Implikation dieser Gedanken – rekonstruiert wird. Letztlich stellt sich die Frage, wie sich diese Überlegung Nietzsches zu anderen intellektuellen Traditionen einerseits und der naturwissenschaftlichen Entwicklung seiner Zeit andererseits, besonders im Hinblick auf das Naturverständnis (›natura‹), verhält. Angesichts dieser wichtigen Frage wird die Diskussion in diesem Buch hauptsächlich auf die ersten, philosophisch-geistgeschichtlichen Aspekte beschränkt. Insbesondere werden wir Nietzsches Interesse an der naturwissenschaftlichen Entwicklung dieser Zeit, vor allem an der Krafttheorie des Physikers Roger Joseph Boscovich (1711–1787) für seine Überlegung kurz erörtern. 5 Die oben erwähnten Leitmotive werden dabei als Wegweiser dienen, inwieweit Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza besonders im Zusammenhang mit Goethes und Schopenhauers Spinoza-Rezeption einen solchen denkgeschichtlichen Kontext gewonnen hat. Die Phrase »Chaos sive natura« wurde in genau dieser Formulierung von Nietzsche zwar nur zweimal verwendet, und dies nur in seinem Nachlass. Das heißt aber nicht, dass der Gedanke in Nietzsches Denken von geringer Bedeutung ist. Nietzsches Überlegung zu »Chaos sive natura« scheint einer der wichtigsten Gedankenzüge in seiner mittleren und letzten Schaffensphase zu sein, die nicht nur auf seine konsequente Auseinandersetzung mit Spinoza hinweist, sondern auch sein sowohl theoretisches als auch persönliches AnDazu siehe Abs. 5.2.2. und 6.3.; auch vgl. Whitlock (1996), S. 200–220 und Scandella (2014), S. 176 ff. 5
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»Chaos sive natura«-Entwurf
liegen in den unterschiedlichen Facetten ausdrucksvoll wiedergibt: Es handelt sich um seine Überlegung zum Leiden des einsamen Einzelnen und seinen freien Umgang mit dem Zufall sowie mit der Notwendigkeit der Welt. In den folgenden drei Abschnitten werde ich auf die philologischen und philosophischen Aspekte dieser Stellen eingehen, während ihre Implikation für die gesamte Spinoza-Rezeption bei Nietzsche im Abs. 2.4.2. resümiert wird.
2.2 Die erste »Chaos sive natura«-Stelle in M III-1 im Frühjahr – Herbst 1881 zum »Entwurf einer neuen Art zu leben«
Die erste »Chaos sive natura«-Stelle stammt aus Nietzsches Notizenheft »M III-1«, so die Nummerierung durch die Herausgeber Colli und Montinari. Dieses Heft weist auf den konkreten Arbeitsprozess Nietzsches hin, als er zwischen Frühjahr und Herbst 1881 bei seiner Vorbereitung für die zukünftigen Schriften – z. B. FW (1882) – seine Ideen und Gedanken sammelte und schärfte. Die erste »Chaos sive natura«-Stelle befindet sich auf der Seite des Notizbuches M-III-1,4, die auch in der Colli-Montinari-Ausgabe unter der Nummerierung NL 11[197] transkribiert wurde: »Zum ›Entwurf einer neuen Art zu leben‹. Erstes Buch im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie. Chaos sive Natura: ›von der Entmenschlichung der Natur‹. Prometheus wird an den Kaucasus angeschmiedet. Geschrieben mit der Grausamkeit des Κράτος, ›der Macht‹« 6
Vor einer näheren Betrachtung des inhaltlichen Zusammenhangs der Stelle muss zunächst festgestellt werden, wie Nietzsche die Phrase »Chaos sive natura« hier verwendet. Es liege nahe, dass sie nicht nur ein vorübergehender Gedanke, sondern ein Arbeitstitel für dieses noch festzustellende »erst[e] Buch im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie« sein soll. Diese Phrase wird im Notizbuch nicht nur mit einem Unterstrich aufgehoben 7, sondern mit dem Untertitel »von der Entmenschlichung der Natur« ergänzt, der auf seinen geplanten Inhalt und Umfang hinweisen kann. Auf diese Idee der »Entmenschlichung der Natur« werde ich in Bezug auf die zweite »Chaos sive natura«-Stelle näher eingehen 8, wo diese Idee nochmals, aber mit dem paral-
Abbildung 3: DFGA/M-III-1,4 (GSA 71/128): die erste »Chaos sive natura«-Stelle. Vgl. NL 11[197], »zum ›Entwurf einer neuen Art zu leben‹«, KSA 9, S. 519. 7 Siehe Abbildung 3. In Colli-Montinaris Ausgabe wird ein Unterstrich als kursiv, ein Doppelstrich als fett transkribiert. 8 Vgl. Wurzer (1975), S. 90, Anm. 56. 6
Die erste »Chaos sive natura«-Stelle in M III-1 im Frühjahr – Herbst 1881
lelen Gedanken der »Vernatürlichung des Menschen« gekoppelt, präsentiert wird (siehe Abs. 2.3.3). In diesem ersten Buch soll der gefesselte Prometheus reflektiert werden, der zunächst an auch in Jacobis Spinoza-Brief zitierten Goethes Gedicht ›Prometheus‹ erinnert. Diese antike Figur symbolisiert die Souveränität des neuen Menschen, der sich von alten Konventionen befreit hat. Nietzsche diskutierte diesen neuen Menschentypus bereits in GT – mit einem weiteren Beispiel vom greisen Ödipus. Mit diesem Beispiel wird der dionysische Mensch thematisiert, der im Konflikt mit der Weltordnung einen erfolgreichen, mutigen und spielerischen Umgang mit Leiden findet und dadurch seine Souveränität erzielt. 9 Der letzte Satz »Geschrieben mit der Grausamkeit des Κράτος, ›der Macht‹« in diesem Text sollte schließlich sowohl den Stil als auch den inhaltlichen Aspekt der geplanten Schrift bedeuten. Es erinnert zwar an jenen bekannten Spruch Nietzsches: »mit dem Hammer philosophirt« 10; es verweist jedoch auf ein wichtiges Thema des Buches: das Verhältnis beider Begriffe Kraft und Macht, insbesondere im Zusammenhang mit seiner Überlegung zu Boscovichs Atom- und Krafttheorie sowie dem Verhältnis zwischen Natur und Mensch. 11 Um welche Schrift handelt es sich jedoch hier, für die dieses »Chaos sive natura«-Buch als ihr erstes Buch gelten soll? Die Antwort liegt nahe. In den beiden vorangehenden Notizen NL 11[195] und 11[196] 12 heißt es: »11[195] Mittag und Ewigkeit. Fingerzeige zu einem neuen Leben. Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta. 11[196] Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte – – es ist eure Zeit, ihr Mittagsbrüder!«
Siehe Abs. 4.3.4. Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt (1889). 11 Siehe Abs. 2.3. Auch vgl. NL 36[30], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 563. Siehe auch die Diskussion über Boscovichs Einfluss auf Nietzsches Spinoza-Rezeption und seine Überlegung zum Kraft- und Machtbegriff im Abs. 5.2.2. 12 NL 11[195] u. 11[196], Frühjahr – Herbst 1881, KSA 9, S. 519. 9
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»Chaos sive natura«-Entwurf
Die handschriftliche Notiz dieser Stelle, die Nietzsche wie einen Buchdeckel entworfen hat 13, macht augenscheinlich deutlich, dass er ein konkretes Werk im Sinn hatte, das als »Mittag und Ewigkeit« 14 betitelt werden sollte. Der Untertitel »Fingerzeige zu einem neuen Leben« für dieses Werk »Mittag und Ewigkeit« entspricht nun dem in NL 11[197] genannten Untertitel des Projekts »Entwurf einer neuen Art zu leben«. Nun gilt es, die folgenden Sätze in NL 11[195] mit der Vorrede in Also sprach Zarathustra zu vergleichen. Der erste (und zweite Teil) 15 von Also sprach Zarathustra wird erst 1883 erscheinen, und zwar mit einer vom oben zitierten Auftakt des »Mittag und Ewigkeit« nur leicht abweichenden Vorrede: »Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, – und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: ›Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! […]‹« 16
Daraus lässt sich schließen, dass dieser Arbeitsentwurf »Mittag und Ewigkeit« zu Also sprach Zarathustra wurde – hierzu Babich (1994) 17 und (2002) 18 –, dessen erstes Buch den Arbeitstitel in der Entwurfsphase noch den Titel »Chaos sive natura« getragen hat. 19 Nun stellt sich die Frage, ob Nietzsche seine Formel ›Chaos sive natura‹ in Anlehnung an Spinozas Formel »Deus sive natura« konzipiert hat. Einige Forscher sprechen zu Recht für eine solche Lesart, z. B. Rosen (1995) 20, Bishop Siehe Abbildung 4. Nietzsche verwendet diesen Titel mehrmals beim Entwerfen seiner Arbeit, z. B. vgl. NL 34[191], April – Juni 1885, KSA 11, S. 485: »Mittag und Ewigkeit. Eine Philosophie der ewigen Wiederkunft.« 15 1883 wird das erste (und zweite) Buch des Zarathustra publiziert. Im Jahre 1886 wird das vierte und letzte Buch von ZA erscheinen. 16 ZA, Vorrede, KSA 4, S. 11. 17 Babich (1994), S. 162, Fußnote 82: »Reference is to Book I of Zarathustra, composed as Nietzsche put it, ›in the style of the Ninth Symphony.‹« 18 Babich (2002), S. 104: »Im Zusammenhang einer Skizze zu Also sprach Zarathustra […] erscheint bei Nietzsche das erste Mal (von insgesamt nur zweien) die Formel Chaos sive natura; es handelt sich um eine Aufzeichnung von 1881, durchsetzt mit musikalischen Anspielungen auf Beethoven […]«. 19 Vgl. Kiss (2001) und McCathy (2006), S. 234–235. 20 Rosen 1995, S. 17–18: »In 1881 Nietzsche made the following sketch of the structure of the four books (called ›parts‹ in the published version) of Zarathustra. Book One: ›Chaos sive natura: of the dehumanization of nature.‹ The expression chaos sive natura refers to 13 14
Die erste »Chaos sive natura«-Stelle in M III-1 im Frühjahr – Herbst 1881
Abb. 3: DFGA/M-III-1,4 (GSA 71/128): die erste »Chaos sive natura«-Stelle. Vgl. NL 11[197], »zum ›Entwurf einer neuen Art zu leben‹«, KSA 9, S. 519
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Abb. 4: DFGA/M-III-1,3 (GSA 71/128). Vgl. NL 11[195], ›Mittag und Ewigkeit‹, KSA 9, S. 519.
Die erste »Chaos sive natura«-Stelle in M III-1 im Frühjahr – Herbst 1881
(2005) 21, McCarthy (2006) 22 und Stegmaier (2012) 23. Die hier dargelegte Untersuchung soll weitere Erforschung im Hinblick auf das erste Buch Zarathustras und Nietzsches spätere Arbeit motivieren, welche als eine wichtige inhaltliche und entstehungsgeschichtliche Ergänzung zur bisherigen Erforschung des Themas dienen kann. In Wurzers (1975) ansonsten ausführlichen Studien über Nietzsches Spinoza-Rezeption wurden zwar Nietzsches Verständnis vom Begriff ›Chaos‹ und seine wichtige Stellungnahme zu Spinozas »Deus sive natura« an ein paar Stellen (S. 164 und S. 118 f.) kurz behandelt. Es gelingt ihm bei dieser Beobachtung jedoch nicht, die Rolle von »Chaos sive natura« für Nietzsches Übergang von seiner früheren und mittleren Phase zur letzten Phase in Bezug auf seine Spinoza-Interpretation zu erkennen. Trotz der Bedeutung einer allgemeinen Untersuchung von Nietzsches Wortgebrauch des ›Chaos‹ 24 muss es mit der Spinoza’s deus sive natura; Nietzsche replaces ›God‹ by ›chaos.‹ But Part One also refers to Nietzsche himself, to his spiritual existence. In a letter to Overbeck dated 10 February 1883, Nietzsche says of Part One, which he wrote in ten days, that ›it contains with the greatest precision a picture of my nature, how it is, as soon as I have discarded my entire burden. It is a poem and not a collection of aphorisms.‹« 21 Bishop / Stephenson 2005, S. 72: »Playing on Spinoza’s formulation of pantheism, deus sive natura (God indistinguishable from Nature), Nietzsche places chaos, not the deity, at the heart of nature.« 22 McCarthy 2006, S. 234: »A sketch from 1881 indicates the intended structure, tone, and content. Taken together, they provide a salient expression of Nietzsche’s philosophy and warrant our considering the novel an alternative to conventional philosophy. Indeed, the general title of the sketch is ›outline of a new way of living‹ (›Fingerzeige zu einem neuen Leben‹ ; KSA 9:519). Essentially, it represents an anti-philosophical attitude. Nietzsche states that Part I was to be composed in the style of the first movement of Beethoven’s Ninth Symphony, probably to imply both the contemplative crescendo marked by a counterpoint of lyrical fluidity and explosive outburst of punctuated energy, in short, an emphatic announcement. Moreover, the topic is announced as ›Chaos sive natura,‹ a manifest response to Spinoza’s ›deus sive natura.‹ Apparently, chaos was to replace God as the creative principle in the new order of things.« 23 Stegmaier (2012), S. 50–51. 24 Eine der erleuchtenden Erklärungen über den breiten Umfang des Begriffs ›Chaos‹ bei Nietzsche findet sich bei Tongeren: »Das Wort ›Chaos‹ hat bei N. die Hauptbedeutung ›Fehlen von Ordnung, Form und Gesetzmäßigkeit‹ (Gesetz). Dieses und verwandte Merkmale werden jedoch in Abhängigkeit vom Kontext unterschiedlich bewertet. Auf dem kosmologischen, kosmogonischen und ontologischen Niveau verwendet N. den Chaosbegriff, um alle unsere Bestimmungen der Welt als eines Ganzen als anthropomorphisch zu entlarven: Ordnung, Zweckmäßigkeit, Vernünftigkeit und Schönheit sind nicht Qualitäten, die der Welt selbst eigen sind, sondern menschliche Projektionen, die einer ständigen Veränderung unterworfen sind. Auf dem anthropologischen Niveau wird auch dem Menschen ein definitiver, festgelegter Charakter abgesprochen. […] Auf der epistemologischen Ebene wird Chaos bestimmt als formlos-unformulierbare Welt des ›Sensationen-Chaos‹ ; Erkennen heißt immer
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konkreten Kontextualisierung des jeweiligen Textes ergänzt werden, um zu beantworten, in welchem Zusammenhang Nietzsche dem Gott (»Deus«) Spinozas sein ›Chaos‹ entgegengestellt hat. 25 Vor allem muss geklärt werden, welche theoretische Implikation der Ersatz von ›Deus‹ durch ›Chaos‹ für Nietzsches Philosophie hat. Welche neue Perspektive enthüllt diese Beobachtung für die Interpretation beider Denker und der von ihnen behandelten Themen? 26 Kann man außerdem philologisch zeigen, wie eine weitere Verbindung zwischen seiner mittleren Phase gegen 1881–1883 und seiner späteren Phase nach 1886–1887 herausgestellt werden kann? Angesichts dieser Fragen soll die Formel »Chaos sive natura« als ein Leitfaden für den Werdegang von Nietzsches Denken einen wichtigen Zugang bieten. Sie wird die Kohärenz und die Logik hinter dem scheinbar ambivalenten Verhältnis zum Totalitätsanspruch bei Spinoza zeigen. Diese Untersuchung wird uns zu seiner kritischen Bewertung der spinozistischen Annahme der Eintracht der Welt sowie zu seinem Gegenentwurf der Theorie der Agonaliät führen. 27 Diese Beobachtung scheint für die Erforschung von Nietzsches SpinozaRezeption besonders im Hinblick auf seine mittlere und spätere Schaffensphase aussichtsreich. Denn das Jahr 1881 war, wie es unter Forschern allgemein akzeptiert wird, für Nietzsches Spinoza-Rezeption von großer Bedeutung, da er Spinoza durch Fischers Buch gegen Juli wiederentdeckt hat. Was jedoch bislang in der Forschung unklar geblieben ist, ist die Beantwortung der Frage, was sich nach 1881 für Nietzsches Denken daraus ergeben hat. Wenn dieser Gedanke der »Chaos sive natura«-Stelle zwischen 1881 und 1882 wohlgemerkt unberücksichtigt bleiben würde, würde ein nächster Hinweis erst gegen 1885 ein Schematisieren des Chaos. Das Chaos ist nicht per se negativ konnotiert. Es wird von N. auch sehr positiv gewertet, nämlich als Voraussetzung für Gestaltungskraft (Kraft). In seiner Kritik an der modernen Zeit hat der Chaosbegriff aber in erster Linie eine negative Konnotation. Unsere Zeit wird als die Periode des atomistischen Chaos (Dekadenz) bezeichnet. Dabei geht es um Disgregation auf kultureller, moralischer, ästhetischer, existenzieller und physiologischer Ebene. N. stellt uns unterschiedliche Perspektiven zur Verfügung, um dieses Chaos zu überwinden.«, Tongeren (2005), S. 449. Bei der Betrachtung in dieser Dissertation wird Nietzsches Chaosbegriff grundsätzlich beschränkt im »kosmologischen, kosmogonischen und ontologischen« (ebd.) Sinne und im kritisch »anthropologischen« (ebd.) und antiteleologischen Sinne betrachtet, der »als Voraussetzung für Gestaltungskraft« (ebd.) eine positive Konnotation erhält. Die hauptsächlich negativ konnotierte Verwendung des Chaosbegriffs bei Nietzsche, der als eine ›fehlende Ordnung‹ passiv definiert wird (z. B. vgl. HL, KSA 1, S. 333–334), wird in dieser Arbeit nicht eingehend thematisiert; auch vgl. Stack 2002, S. 45. 25 Vgl. Cox (1999), 4.7.1. From Chaos to Chaosmos, S. 204 f. Vgl. a. a. O., S. 207, Fußnote 99. 26 Vgl. Stegmaier (2012), S. 83–84. 27 Siehe Kap. 3, insbesondere Abs. 3.1.2 und 3.1.3.
Die erste »Chaos sive natura«-Stelle in M III-1 im Frühjahr – Herbst 1881
auftauchen, als er seine früheren Spinozakommentare von 1881 weiter reflektiert hat. Diese selbstkritische Bemerkung Nietzsches stammt in seinem Brief an Overbeck vom 2. Juli 1885, als er seine Hochachtung von Spinozas Einsamkeit von 1881 zurückzog und kritisch relativierte. 28 In den Vorredeentwürfen für M, die in den folgenden Jahren neu geschriebenen werden, bezieht sich Nietzsche wieder auf Spinoza. 29 Es folgt Nietzsches Moral- und NihilismusKritik durch die Veröffentlichung von JGB (1886) und GM (1887), die im Zusammenhang von Nietzsches Spinoza-Bewertung im Lenzer-Heide-Entwurf (1887) gelesen werden sollte. Der Überblick zeigt, dass Nietzsches SpinozaRezeption zwischen 1881 und 1885, also während der Zeit von der FW und ZA, in der Forschung sehr erklärungsbedürftig geblieben ist. Diese Forschungslücke lässt sich durch weitere Fragestellung überwinden: Welche philosophische Bedeutung hat Nietzsches Parodie ›Chaos sive natura‹ zu Spinozas Kerngedanken ›Deus sive natura‹ ? Hat Nietzsche mit Zarathustra I darauf abgezielt, auf Spinozas Denken kritisch zu reagieren oder es gar zu überwinden? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die nächste, die zweite »Chaos sive natura«-Stelle diskutieren (siehe Abs. 2.3), was den größeren Zusammenhang dieser Rezeption ersichtlich machen und den noch konkreteren Werdegang und Arbeitsprozess Nietzsches aufzeigen wird. Erst dann lässt sich seine erste Bemerkung von »Chaos sive natura« richtig bewerten. 30 Trotz dieser vorläufigen Beschränktheit zeigt ein Vergleich zwischen dem Entwurf von »Mittag und Ewigkeit« (NL 11[195] und 11[196]) und Zarathustras Vorrede den thematischen Leitfaden dieser Spinoza-Rezeption zwischen 1881 und 1883. Was bei beiden Versionen inhaltlich intakt geblieben ist: die Einsamkeit eines souveränen Individuums, das sich an der Selbständigkeit am Erkennen und im Geiste den anderen Menschen überlegen fühlt und zugleich daran leidet. Vor diesem wahrgenommenen Hintergrund unternimmt es, seinen Bezug auf die Welt und auf die anderen Menschen wiederherzustellen, ohne seine Eigenständigkeit preiszugeben. Es handelt sich bei dieser Einsamkeit daher nicht um eine Isolation, sondern um einen selbstbestimmten sozialen Akt. Es kann sowohl zum Dilemma als auch zur produktiven Spannung führen. Diese Motive der souveränen Einsamkeit des Einzelnen und seines soziopolitischen Experiments gelten nicht nur als eines der Hauptthemen von ZA, sondern weisen auch auf wichtige Berührungspunkte zwischen Spinoza und KSB 7, S. 62–63, Nr. 609, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, Oberengadin, 2. Juli 1885. Dazu siehe Abschnitt 5.2, insbesondere 5.2.2. 29 NL 2 [161], Herbst 1885 – Herbst 1886, KSA 12, S. 143. Auch vgl. NL 2[165], Herbst 1885 – Herbst 1886, KSA 12, S. 147–149. Morgenröthe selbst wurde zwischen November 1880 und März 1881 in Genua geschrieben. Vgl. Wurzer (1975), S. 59, Anm. 34. 30 Siehe Abschnitt 5.2, besonders 5.2.2. 28
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Nietzsche hin (siehe Kap. 5. und Kap. 6.). Diese sozio-politischen Aspekte stehen jedoch mit den anthropologischen und kulturkritischen Aspekten in engem Zusammenhang (siehe Kap. 3 und 4), wie es die zweite »Chaos sive natura«-Stelle bereits deutlich macht, worauf ich im nächsten Abschnitt näher eingehe.
2.3 Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882. Nietzsches Gegenentwurf zu Spinozas »Deus sive natura«
Um die Entwicklung des Gedankens von »Chaos sive natura« weiter zu erörtern, gilt es, auf die nächste »Chaos sive natura«-Stelle vom Sommer 1882 hinzuweisen, die vor allem Nietzsches Überlegung und Planung für diesen Entwurf darstellt. Diese zweite Stelle ist erstmal zu kurz, um ihren Sinn zu entziffern: »Chaos sive natura« – »55. Chaos sive Natura. 71b 73b 70b 63b 55 43b 23a« 31. Sie stammt aus dem Sommer 1882 und entstand in der Vorbereitungszeit der FW und sich anschließenden Werken. Diese Stelle wurde in der Forschungsliteratur mit Ausnahme einer kurzen Anmerkung von Babich (2002) nur selten erwähnt. Nach einer Überprüfung enthüllt sie jedoch einen konsequenten Gedankenzug bzw. sogar ein langfristiges Projekt hinter dem Gedanken von Chaos sive natura. Diese Stelle findet sich in einem 240-seitigen Heft mit blauen Blättern (also im sogenannten ›M-III-2‹), die in der Colli-Montinari-Ausgabe als NL 21[3] nummeriert wurde. 32 Ganz am Ende dieser ›Aufgabenliste‹ Nietzsches findet man sie unter der Nummer »55«: »1. Das Überflüssige abgeben. Die Aufopferung auf die Dauer der Gesammtheit schädlich. […] 47. Der freie Mensch als Vollendung des Organischen p. 67. 73. 48. das All kein Organismus p. 73. 49. Unegoistisch 74b 50. die große Form im Wesen als Bedingung der großen Form im Kunstwerk. 76. 51. Die idealisirende Macht der Gewissensbisse. Auf die geglaubten Motive, nicht auf die wirklichen, kommt es an bei der Veredelung. 52. Meine Art von ›Idealismus‹ darzustellen – und dazu die absolute Nothwendigkeit auch des gröbsten Irrthums. Alle Empfindung enthält Werthschätzung; alle Abbildung 5: DFGA/M-III-1,226 (GSA 71/128): die zweite »Chaos sive natura«-Stelle. Vgl. NL 21[3], ›55. Chaos sive Natura‹, KSA 9, S. 686. 32 NL 21[3], Sommer 1882, KSA 9, S. 683–686. 31
Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882
Werthschätzung phantasirt und erfindet. Wir leben als Erben dieser Phantastereien: wir können sie nicht abstreifen. Ihre ›Wirklichkeit‹ ist eine ganz andere als die Wirklichkeit des Fallgesetzes. 53. In der ›Kraft‹ muß der Widerspruch sein, logisch zu reden. Der Kampf usw. Als Einheit und als Seiendes gäbe es keine Veränderung. 54. Es giebt keinen Stoff, keinen Raum (keine actio in distans), keine Form, keinen Leib und keine Seele. Kein ›Schaffen‹, kein ›Allwissen‹ – keinen Gott: ja keinen Mensch. 55. Chaos sive Natura. 71b 73b 70b 63b 55 43b 23a.« 33
Die Notiz verweist auf Nietzsches Aufgaben für die geplante Publikation. Sie zeigt einerseits, mit welcher Priorität er daran arbeiten wollte, andererseit, welche thematischen Schwerpunkte dabei behandelt werden sollten. Vor allem FW (Erste Ausgabe: 1882) erschien nicht nur unmittelbar nach dieser Notiz, sondern enthält auch thematische Ähnlichkeiten (siehe Abs. 2.3.5). Die Formel »Chaos sive natura« ist in der letzten Zeile (»55.«) zu finden, die mit einem Bleistift anscheinend später noch dazu eingetragen wurde, und zwar mit einer rätselhaften Reihe von Ziffern – »71b 73b 70b 63b 55 43b 23a« (Ebd.). Angesichts dieses Rätsels haben Colli und Montinari die wichtige Grundlage für die spätere Erforschung aufgeklärt, die jedoch hinsichtlich ihrer Vollständigkeit und Korrektheit einiges zu wünschen übrigließ: Die Herausgeber weisen zwar richtigerweise darauf hin, dass diese Liste als »Nietzsches Rubrizierung der Aufzeichnungen« aus Nietzsches anderem Heft, M-III-1 gilt 34, wo sich die erste »Chaos sive natura«-Stelle findet. Dabei sollten sich die sieben aufgezählten Ziffern (wie andere Ziffern in anderen Zeilen) auf die Paginierung dieses Heftes beziehen. Demnach sollten diese sieben Stellen eigentlich jeweils NL 11[204], 11[199], 11[211], 11[225], FW 109 und 11[60] entsprechen. Das heißt, Nietzsche hat den Gedanken von »Chaos sive natura« in den genannten sieben Seiten entfalten oder wenigstens berühren wollen. Jedoch ist dieser genannte Hinweis einerseits merkwürdig, da es für die sieben vorhandenen Ziffern nur sechs Stellenangaben gibt. Andererseits ist er nicht einleuchtend genug, um den Umfang und die Reichweite von »Chaos sive natura« in Nietzsches Denken zu verstehen. Zudem sind zumindest zwei Verweise fragwürdig, wie meine Überprüfung von Heft M-III-2 in Weimar zeigte: 73b entspricht nicht NL 11[199], sondern NL 11[201], 43b nicht nur FW 109 »Hüten wir uns«, sondern auch FW 139 »Farbe der Leidenschaften« (siehe Abs. 2.3.2. u. 2.3.5).
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Siehe Abbildung 5. KSA 14, S. 658–659.
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Abb. 5: DFGA/M-III-2,226 (GSA 71/129): die zweite »Chaos sive natura«-Stelle. Vgl. NL 21[3], ›55. Chaos sive Natura‹, KSA 9, S. 686.
Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882
2.3.1 »71b« = NL 11[204], 11[205], 11[206] (Abbildung 6)
Die erste Angabe für 71b 35 bezieht sich auf NL 11[205] (»Hüten wir uns«) und NL 11[206] (»Es ist alles wiedergekommen«), also nicht nur auf 11[204] (»Die Lage […]«), wie Colli-Montinari meinen. Denn nicht NL 11[204], sondern drei andere genannte Stellen befinden sich auf dem Blatt 71b, die auch inhaltlich und thematisch mit den Leitmotiven der anderen Stellen aus der zweiten »Chaos sive natura«-Stelle (73b, 70b, 63b, 55, 43b, und 23a) eng in Zusammenhang stehen. Nietzsche hat eigentlich NL 11[205] und NL 11[206] vor NL 11 [204] geschrieben, aber er hat den Rand von 11[204] nachträglich mit der Ziffer »1« versehen, so dass dieser Absatz als »11[204]« nummeriert wurde: 11[204] Die Lage, in der die Menschen sich befinden, zur Natur und zu Menschen, macht ihre Eigenschaften – es ist wie bei den Atomen. 11[205] Hüten wir uns zu glauben, daß das All eine Tendenz habe, gewisse Formen zu erreichen, daß es schöner, vollkommener, complicirter werden wolle! Das ist alles Vermenschung! Anarchie, häßlich, Form – sind ungehörige Begriffe. Für die Mechanik giebt es nichts Unvollkommenes. 11[206] Es ist Alles wiedergekommen: der Sirius und die Spinne und deine Gedanken in dieser Stunde und dieser dein Gedanke, daß Alles wiederkommt. 36
Man könnte glauben, dass der erste Absatz 11[204] für Nietzsches Determinismus spricht: Nimmt er eine kompatibilistische Position ein? Oder behauptet Nietzsche umgekehrt, gewissermaßen als harter Determinist, eine Inkompatibilität zwischen der deterministischen Welt und der Freiheit? 37 Ob man überhaupt vom Determinismus 38 oder vom Naturalismus bei Nietzsche sprechen kann – und wenn, dann in welchem Sinne und Umfang –, lässt sich jedoch an einer späteren Stelle weiter diskutieren – besonders im Hinblick auf die Bedeutung der sogenannten »Entmenschlichung der Natur und Vernatürlichung des Menschen«. 39
»71b« bedeutet in Nietzsches eigenem Notizsystem die rechte Seite »b« von der als »71« paginierten linken Seite »a«. 36 NL, Frühjahr – Herbst 1881, KSA 9, S. 524. 37 Nietzsche leugnet ja mit Spinoza die Willensfreiheit. Dazu siehe Abs. 4.2. 38 Vgl. Higgins 1987, S. 177–178 u. S. 271, Anm. 28. 39 NL 11[211]; siehe Abschnitt 2.3.3. 35
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An dieser Stelle ist auf Nietzsches breiteres Interesse hinzuweisen, das in NL 11[204] zum Ausdruck kam: Es beschränkt sich nicht auf das Mensch-Natur-Verhältnis. Vielmehr kommt es auch auf das Verhältnis zwischen Menschen an, wie Nietzsche mit dem Ausdruck »die Lage, in der die Menschen sich befinden, […] zum Menschen, macht ihre Eigenschaften […]« (Ebd.) deutlich machte. Es handelt sich um die noch zu betonende sozio-politische Dimension des »Chaos sive natura«-Gedankens, die bei Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza eine zentrale Rolle spielt. (siehe Kap. 5) Das Thema im zweiten Absatz 11[205] wird später im dritten Buch der FW rekapituliert (FW 109): Es handelt sich um die »Vermenschung« (NL 11[205]), wobei die konventionelle anthropozentristische Tendenz der Menschen scharf kritisiert wird. Der Anthropozentrismus wird mit der Teleologie – also der Denkweise eines spekulativen Endzwecks der Natur, des Menschen oder des Universums – gekoppelt. Diese teleologische Variante hat den künstlichen, ›allzumenschlichen‹ Ordnungszwang zur Folge, der später von Nietzsche nicht nur als logisch inkorrekt, sondern wegen ihrer großen Macht über den Menschen auch als ethisch lebensfremd und irreführend konnotiert wird. Denn »Anarchie, häßlich, Form« (Ebd.) sind nicht nur ›reine‹ Begriffe; vielmehr sind sie der Ausdruck bestimmter teleologischer Haltungen der Menschen. Damit lässt sich vermuten, dass Nietzsche dieser problematischen Folge des teleologischen Anthropo- und Logozentrismus’ sein alternatives Weltbild von Chaos entgegenstellen möchte. Eine derartig vereinfachte Gegenüberstellung beider Denker ist jedoch mit einem Problem behaftet: Wie kann dieser Chaosgedanke, der logischerweise Zufälle (als genuine Kontingenz) erlauben soll, mit dem – noch zu prüfenden – naturalistischen Determinismus von NL 11[204] vereinigt werden, der die Notwendigkeit der Welt absolut anerkennt? Noch direkter ausgedrückt: Ob und inwieweit ist die Notwendigkeit mit Nietzsches Chaosgedanken vereinbar? Oder hat Nietzsche unter der Notwendigkeit etwas anderes verstanden, als der naturalistische Determinismus von heute versteht, nämlich die naturgesetzmäßige Bestimmtheit allen Geschehens? Diese Überlegungen zeigen, dass Nietzsches Kritik an der Teleologie womöglich seine eigenartige Definition der Notwendigkeit voraussetzen kann, die die Versöhnung zwischen dem Chaosgedanken in »Chaos sive natura« und der Notwendigkeit der Welt ermöglicht. In diesem Buch werde ich weiteren konkreten Hinweisen auf Spinozas Rolle für Nietzsches Denken untersuchen – insbesondere im Hinblick auf ihr Schicksals- und Fatalismusdenken mit dem tiefgehenden Vergleich zwischen Nietzsches amor fati und Spinozas amor dei. 40 Statt einer zu eiligen 40
Siehe Kap. 3, 5 und 6.
Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882
deduktiven Darstellung gilt es jedoch, weiter zu verfolgen, wie Nietzsche mit seinem »Chaos sive natura«-Gedanken gearbeitet hat. Für eine weitere Diskussion sorgt die letzte Notiz. NL 11[206] gilt nach dem Abschnitt von 11[141] von August 1881 (KSA 9, S. 494) als eine der ersten Stellen, in denen Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkunft des Gleichen zum Ausdruck kommt. Dieser in der Forschung sehr unterschiedlich interpretierte Gedanke wird erst im folgenden Jahr mit der Veröffentlichung von FW (»Das grösste Schwergewicht« in FW 341, KSA 3, S. 570) für die Leser präsentiert. Auf diese Beobachtung, dass »die ewige Wiederkunft des Gleichen« von Nietzsche mit dem »Chaos sive natura«-Gedanken hier zusammengedacht wird, werde ich im Abschlusskapitel näher eingehen (siehe Kap. 6). An dieser Stelle sei jedoch schon darauf hingewiesen, dass die Entstehung des Konzepts der ewigen Wiederkunft des Gleichen mit Nietzsches Wiederentdeckung von Spinoza, seinem »Chaos sive natura«-Gedanken sowie seinem Entwurf des ersten Buches von ZA zeitlich und inhaltlich einen engen Zusammenhang bilden. In den bereits angeführten Notizen von 11[195] und 11[196], die der ersten »Chaos sive natura«-Stelle direkt vorangingen, heißt der Titel bereits »Mittag und Ewigkeit« (hervorgehoben von J. Y.). In NL 11[196] taucht die Metapher der »Schlange der Ewigkeit« (NL 11[196]) auf, die später eine für Zarathustras Auseinandersetzung mit der ewigen Wiederkunft des Gleichen entscheidende Rolle spielt und zum Symbol des ewigen kosmologischen Kreislaufs wird. Assoziiert mit diesem prägnanten Schlangenbild stellt Zarathustra in seinen Gedanken einen »einsamsten« 41 Hirten vor, der den Kopf einer Schlange mit seinem Mund lachend abbeißt. Ebenso bemerkenswert ist hier das Motiv der Spinne in dieser zweiten »Chaos sive natura«-Stelle (11[207]). Symbolisch gesehen stellt die Spinne mit ihrem geometrischen Netz eine deterministische und künstliche Vernetzung der Welt her und definiert, analysiert und beschränkt damit den Selbst- und Weltbezug eines Einzelnen dieser Welt. Dieses Motiv, das Nietzsche an einer anderen Stelle mit Spinozas ›amor dei intellectualis‹ assoziiert 42, findet sich interessanterweise wieder in beiden relevanten Stellen über die ewige Wiederkunft. 43 Auf das Verhältnis zwischen Notwendigkeit und Zufall sowie auf die Bedeutung der Einsamkeit in Also sprach Zarathustra und für den Gedanken
ZA, III, ›Vom Gesicht und Räthsel 2‹, KSA 5, S. 200 f. »Nichts ist weniger griechisch als die Begriffs-Spinneweberei eines Einsiedlers, amor intellectualis dei nach Art des Spinoza« in GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 23, KSA 6, S. 126. 43 ZA, III, KSA 5, S. 200 und FW 341, KSA 3, S. 570. 41 42
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der ewigen Wiederkunft des Gleichen 44 gehe ich in späteren Kapiteln näher ein. 45 2.3.2 »73b« = NL 11[20] (Abbildung 7)
Die nächste Paginierung 73b bezieht sich auf NL 11[201], also nicht auf 11[199], wie die Herausgeber angeben. Denn auf dem Blatt 73b befindet sich nur 11[201], nicht 11[199]: »11[201] Das modern-wissenschaftliche Seitenstück zum Glauben an Gott ist der Glaube an das All als Organismus: davor ekelt mir. Also das ganz Seltene, unsäglich Abgeleitete, das Organische, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen Allgemeinen Ewigen machen! Dies ist immer noch Vermenschung der Natur! Und eine verkappte Vielgötterei in den Monaden, welche zusammen den All-Organism bilden! Mit Voraussicht! Monaden, welche gewisse mögliche mechanische Erfolge wie das Gleichgewicht der Kräfte zu verhindern wissen! Phantasterei! – Wenn das All ein Organismus werden könnte, wäre es einer geworden. Wir müssen es als Ganzes uns gerade so entfernt wie möglich von dem Organischen denken! Ich glaube, selbst unsere chemische Affinität und Cohärenz sind vielleicht spät entwickelte, bestimmten Epochen in Einzelsystemen zugehörige Erscheinungen. Glauben wir an die absolute Nothwendigkeit im All, aber hüten wir uns, von irgend einem Gesetz, sei es selbst ein primitiv mechanisches unserer Erfahrung, zu behaupten, dies herrsche in ihm und sei eine ewige Eigenschaft. – Alle chemischen Qualitäten können geworden sein und vergehen und wiederkommen. Unzählige ›Eigenschaften‹ mögen sich entwickelt haben, für die uns, aus unserem Zeit- und Raumwinkel heraus, die Beobachtung nicht möglich ist. Der Wandel einer chemischen Qualität vollzieht sich vielleicht auch jetzt, nur in so feinem Grade, daß er unserer feinsten Nachrechnung entschlüpft.« 46
Dieser Absatz eröffnet uns einen weiteren Zugang zum Kontext und Umfang von Nietzsches Entwurf »Chaos sive natura«. Nietzsche kritisiert die moderne Denkweise, weil sie trotz der wissenschaftlichen Verhüllung immer noch die alte Tendenz aufzeigt, das All oder die Natur zu »vermensch[lich]en«. Die Tendenz vollzieht sich, wenn der moderne Mensch die Natur und das All als Vgl. FW, IV, 341, KSA 3, S. 570: »Das grösste Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ›Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen‹«. 45 Vgl. Duhamel (1991), S. 116–117. Siehe Abschnitt 6.2.3. 46 Vgl. Bild »M-III-1,14_NL 11[201], KSA 9, 522 (73b, J. Ys Korrektur von inkorrekter Angabe Collis als NL 11[199])« im Anhang. 44
Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882
Abb. 6: DFGA/M-III-1,18 (GSA 71/128, 71b). Vgl. NL 11[205, 206 und 204], KSA 9, S. 524.
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einen Organismus begreift. Warum? Denn dieser Vergleich vom All mit dem Organismus ist nicht richtig, da »das Organische« (ebd.) Nietzsche zufolge lediglich »auf der Kruste der Erde« (ebd.) zu finden und somit kein allgemeines Kriterium für das Universum sei. Diese Denkweise macht das vorgestellte bzw. projizierte ›Wesen‹ der Natur für den begrenzten menschlichen Verstand begreifbar. 47 Der moderne Mensch glaubt, dass die Eigenschaft eines Naturphänomens eine unveränderliche Konstante ist, dass die Natur oder der Kosmos eine unveränderliche Ordnung hat. Dieser neue Glaube, so Nietzsche, basiert jedoch auf dem alten Natur-Gott-Glauben an die ursprüngliche Ordnung der Natur und ihre Begreifbarkeit durch den Menschen. Seine Kritik an dieser modernen Erscheinung, die seine Mahnung im zuvor angeführten »Hüten wir uns«-Absatz in NL 11[205] motiviert, bedeutet zwar keineswegs Nietzsches allgemeinen Skepsis der Naturwissenschaft gegenüber. Denn seine wissenschaftstheoretische Kritik richtet sich nicht gegen die Methode der Naturwissenschaft selbst, nämlich die Beobachtung und das Experiment. Er macht jedoch auf die als überholt gegoltene Bedingung und die Motivation in der modernen Naturwissenschaft aufmerksam.48 Wegen der perspektivistischen Beschränkung des »Zeit- und Raumwinkel[s]« des Menschen ist schließlich eine endgültig und allgegenwärtig ›wahre‹ Beobachtung nicht möglich. Trotz dieses Vorbehalts scheint Nietzsche jedoch eine andere Art von Glauben 49 zu befürworten, der »die absolute Nothwendigkeit« in den zufälligen Erscheinungen der Welt plausibel macht. Wie entwickelt sich dieser neue Glaube an die Aufgabe des modernen Menschen in seiner späteren Phase, insbesondere in der Zeit der Genealogie der Moral und des Lenzer-Heide-Entwurfs im Zusammenhang mit seiner Nihilismuskritik? 50 Damit hängt schließlich auch die Frage zusammen, was Nietzsche unter der ›Notwendigkeit‹ versteht, die besonders in Bezug auf die theoretische Behandlung von der Zufälligkeit bei Nietzsche und Spinoza noch zu klären ist. 51
Vgl. NL 11[211]. Auch siehe Abs. 2.3.1 und 2.3.3. Ein Gegenargument Nietzsches fordert eine noch genauere naturwissenschaftliche Untersuchung für die herkömmliche Vorstellung des organischen und unveränderlichen Alls, wie er schreibt: »Der Wandel einer chemischen Qualität vollzieht sich vielleicht auch jetzt, nur in so feinem Grade, daß er unserer feinsten Nachrechnung entschlüpft.« (ebd.). 49 »Glauben wir an die absolute Nothwendigkeit im All […]«, ebd. 50 Angesichts dieser modernen Aufgabe, einen neuen Wert herzustellen vgl. FW, IV, 335, ›Hoch die Physik!‹, KSA 3, S. 560 f. und ZA, III, ›Von Alten und Neuen Tafeln‹, KSA 4, S. 246 f. 51 Siehe Abs. 2.3.4, 5.3.3 und Kap. 6. 47 48
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Abb. 7: DFGA/M-III-1,14 (GSA 71/128, 73b). Vgl. NL 11[201], KSA 9, S. 522 (J. Y.s Korrektur von Colli-Montinaris Angabe als NL 11[199]).
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Abb. 8: DFGA/M-III-1,20 (GSA 71/128, 70b). Vgl. NL 11[211], KSA 9, S. 525.
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2.3.3 »70b« = NL 11[211] (Abbildung 8)
In 70b kommt Nietzsches »Chaos sive natura«-Manifest zum Ausdruck: »Meine Aufgabe; die Entmenschung der Natur und dann die Vernatürlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff ›Natur‹ gewonnen hat.« 52 Seine Aufgabe besteht einerseits in der Kritik der anthropozentrischen Auffassung der Natur und andererseits in der Umkehrung des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Hier bietet er nicht nur eine Kritik, sondern auch positive Aussage über den Umfang von »Chaos sive natura«: Sie zeigt, was dieses Projekt ausmacht und was es mit der Kritik erreichen soll. Nicht nur ist das Thema der »Entmenschung der Natur und dann die Vernatürlichung des Menschen« (ebd.) bereits an der ersten »Chaos sive natura«Stelle (NL 11[197], Frühjahr – Herbst 1881) zum Ausdruck gekommen, es wird vielmehr in fast allen Passagen der zweiten »Chaos sive natura«-Stelle von Nietzsche erwogen. Dabei ist zu betonen, dass Nietzsches Überlegung über die Natur als 53 Chaos (»Chaos sive natura«) eigentlich von seiner Überlegung zum Menschen als Chaos nicht trennbar ist. Auf diesen Punkt gehe ich erneut ein, wenn ich über ›das Chaos im Menschen‹ in ZA zu sprechen komme. 54 Es ist bemerkenswert, dass Nietzsches Aufgabe mit Spinozas TeleologieKritik (vgl. E 1A) einige Gemeinsamkeiten aufweist. Nicht zufällig hat er selbst in jener bekannten Postkarte an Overbeck (30. Juli 1881) Spinozas Leugnung der »Zwecke« als telos der Welt als eine der fünf Übereinstimmungen mit sich selbst genannt. 2.3.4 »63b« = NL 11[225] (Abbildung 9)
Der nächste Absatz NL 11[225] unterstützt eine These dieser Arbeit nochmals, nämlich diejenige, dass Nietzsche mit dem Gedanken des »Chaos sive natura« die Fragen zu beantworten versuchte, ob und unter welcher Bedingung die Versöhnung zwischen der Notwendigkeit und der Zufälligkeit möglich ist 55: »Das ›Chaos des Alls‹ als Ausschluß jeder Zweckthätigkeit steht nicht im Widerspruch zum Gedanken des Kreislaufs: letzterer ist eben eine unvernünftige Nothwendigkeit, ohne irgend eine formale ethische ästhetische Rücksicht. Das Belieben fehlt, im Kleinsten und im Ganzen.« 56 52 53 54 55 56
NL 11[211], Frühjahr – Herbst 1881, KSA 9, S. 525. Die Funktion von »sive« (oder) ist hier eine Apposition. Siehe Abs. 3.1.2, 3.1.3, 5.3.3, 5.4 und Kap. 6. Vgl. Wurzer (1975), S. 170 f. NL 11[225], Frühjahr – Herbst 1881, KSA 9, S. 528.
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Nietzsche zufolge sollten die Notwendigkeit der Natur und die – noch zu klärende – ›Chaos‹-Charakteristik der Welt nicht nur koexistieren. Vielmehr sollen sie sich gegenseitig bedingen. Es sei bemerkt, dass sie nicht nur für Nietzsche, sondern auch für Spinoza eine wichtige Aufgabe der Philosophie war. Es ist auch deshalb bemerkenswert, da Spinoza eben mit dem »Deus sive natura«Gedanken in der Ethica eine Antwort suchte. Dort wird ›bewiesen‹, dass alle zufälligen Erscheinungen eigentlich aus der Perspektive Gottes die Notwendigkeit besitzen, während ihre zufällige Erscheinung gleichzeitig durch die Begrenztheit des menschlichen Erkennens bedingt wird. Die Versöhnung beider Dimensionen wird dadurch erreicht, dass die göttliche Perspektive dem Einzelnen durch seinen selbstbestimmenden und von der Vernunft geleiteten Umgang mit dem Leiden eröffnet wird. Wegen der aktiven Rolle des Einzelnen gibt Spinoza seinem philosophischen Hauptwerk den Titel ›Ethik‹, nicht ›Metaphysik‹. Eine solche Lösung ist für Nietzsche jedoch nicht akzeptabel, da Nietzsches Grundannahme vom »Chaos des Alls« (ebd.) eine andere Begründung für die Welt und den Menschen benötigt – ohne die christliche Gottes-Providenz oder spinozistische Eintracht der Welt. Dabei könnte Nietzsches Einfügung von ›Chaos‹ anstelle ›Deus‹ den Eindruck erzeugen, dass die Notwendigkeit in der Natur in Nietzsches Version nicht ausreichend berücksichtigt wird. Gerade dagegen spricht er, wenn er sagt: »Das Belieben fehlt, im Kleinsten und im Ganzen« (ebd.). Eine solche theologische Annahme der Eintracht ist für Nietzsche ein Exemplar der anthropozentristische Beliebigkeit. Es sei bemerkt, dass eine einheitliche Erklärung der Notwendigkeit und der Zufälligkeit sowohl bei Nietzsche als auch Spinoza zum Hauptmotiv ihres philosophischen Denkens gehört: Es handelt sich um ihr anthropologisches und ontologisches Weltbild der Totalität 57, worauf ich im nächsten Kapitel eingehe; es handelt sich um eine Kongenialität, keine einseitige Rezeption. Denn im Sommer 1878 – bereits vor 1881 – hatte Nietzsche über die »Ablösung des Zufälligen durch das Nothwendige« 58 nachgedacht, die nicht nur eine ontologische Frage auf der spekulativ-theoretischen Ebene darstellt, sondern für einen Menschen »im Stadium höherer geistiger Befreiung« (ebd.) als eine ethische Aufgabe der Selbstbejahung im breiten Sinne gelten soll.
Siehe Kap. 3. »Ablösung des Zufälligen durch das Nothwendige. – Im Stadium höherer geistiger Befreiung soll man alles Zufällig-Natürliche, mit dem man das Leben verknüpft hat, durch Gewähltes-Nöthiges ersetzen. Wer unzureichende Freunde von früher her hat, soll sich lösen; einen neuen Vater, neue Kinder soll man sich unter Umständen wählen.«, NL 23 [69], Sommer 1878, KSA 8, S. 426. 57 58
Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882
Genau bei einer solchen Vergleichbarkeit zeigt jedoch die große theoretische Spannung zwischen Nietzsche und Spinoza. 59 Dieser Konflikt war auch Nietzsche in seinem Gegenentwurf zu Spinozas »Deus sive natura« bewusst. Ihre Differenz der unterschiedlichen Ausgangsposition wird vor allem bei seiner Überlegung über den einsamen Einzelnen und sein Verhältnis mit der Welt ersichtlich. 2.3.5 »55« = FW 109: ›Hüten wir uns‹ (Abbildung 10 u. 11); »43b« = FW 109: ›Hüten wir uns‹ und FW 139: ›Farbe der Leidenschaften‹ (Abbildung 12)
Die Notizen auf dem Blatt 55 und 43b sind von Nietzsche mit einem roten Stift als 109 und 139 markiert worden, was beiden Stellen in der Fröhliche Wissenschaft – FW 109 und 139 – entspricht. Es gilt als ein weiterer Hinweis, dass Nietzsches Gedanke von »Chaos sive natura« nicht erst in Also sprach Zarathustra, sondern bereits in der Entstehungszeit der FW konkretisiert wurde. Der Aphorismus ›Hüten wir uns‹ im dritten Buch der FW wird den Kerngedanken der bereits diskutierten Notiz NL 12[205] und 11[202] noch spezifischer thematisieren. Eine genaue Untersuchung kann dazu beitragen, den »Chaos sive natura«-Entwurf im Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung von Nietzsches neuen Gedanken der ›ewigen Wiederkunft des Gleichen‹ und des Todes Gottes 60 zu erklären. Nietzsche thematisierte in diesem Aphorismus wieder die in der Notiz 63b 61 diskutierte Versöhnung zwischen Notwendigkeit und Zufälligkeit. Es zeigt weitere logische Relationen jener neuen Konzepte mit dem »Chaos sive natura«-Entwurf: Eine Stelle in diesem Aphorismus deutet weiter darauf hin: »Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle uns ästhetischen Menschlichkeiten heissen.« 62 Nach Nietzsches Auffassung ist also der Chaos-Charakter der Welt durchaus mit ihrer Notwendigkeit vereinbar, solange die scheinbar »fehlende Ordnung« (ebd.) nur dann ein Desiderat ist, wenn sie der anthropozentrischen Interpretation der Welt entspringt. Noch präziser heißt es: »Wenn ihr wisst, dass es keine Zwecke giebt, so wisst ihr auch, dass es keinen Zufall giebt: denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort ›Zufall‹ einen Sinn.« (ebd.) Siehe Kap. 6. Es sei bemerkt, dass letzteres im direkt vorangehenden Abschnitt ›Neue Kämpfe‹ (FW 108) bereits erwähnt wird. 61 NL 11[225]; vgl. Abschnitt 2.3.4. 62 FW, III, 109, KSA 3, S. 468. 59 60
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Abb. 9: DFGA/M-III-1,34 (GSA 71/128, 63b). Vgl. NL 11[225], KSA 9, S. 528.
Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882
Abb. 10: DFGA/M-III-1,49 (GSA 71/128, 55a).
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»Chaos sive natura«-Entwurf
Abb. 11: DFGA/M-III-1,50 (GSA 71/128, 55b).
Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882
Abb. 12: DFGA/M-III-1,74 (GSA 71/128, 43b).
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»Chaos sive natura«-Entwurf
Experimentiert Nietzsche so, dass Spinozas antiteleologische Position ins Extrem getrieben wird, um die Beschränktheit der Kosmos-Annahme sichtbar zu machen? Spinoza hat schließlich in dem berühmten Anhang zum ersten Teil seiner Ethica über Gott seine antiteleologische Position leidenschaftlich befürwortet, wobei die häufigen anthropozentrischen Irrtümer ausführlich diskutiert werden. Ihm zufolge schreibe die teleologische Weltsicht der Natur eine künstliche Ordnung bzw. die menschliche Projektion zu, was Nietzsche mit dem Begriff »Vermensch(li)chung« (ebd.) bezeichnet. Es sei angemerkt, dass Nietzsche kurz vor jener Kritik an der Vermenschlichung das Prinzip der »Selbsterhaltung« 63 (ebd.) kritisch betrachtet hat, welches er an den anderen Stellen diskutiert – z. B. in einer wichtigen Notiz im Frühjahr/Herbst 1881 64 in Bezug auf Spinoza. Es mag sein, dass der Aphorismus FW 109 als Nietzsches Hommage an jenen Anhang vom ersten Teil der Ethica Spinozas gilt. Bei einer solch verehrenden Haltung bleibt sein kritischer Geist wachsam. Dieses agonale Verhältnis führte zur Ambivalenz seiner Spinoza-Rezeption. 65 Es bedeutet nicht, dass sein Verhältnis zu Spinoza inkohärent war. Nietzsches Kritik an der Vermenschlichung richtet sich präzise gegen die moderne Zeit. Ihr Zeitgeist setzt voraus, dass das religiöse Weltbild überwunden wurde. Nietzsches Pointe besagt, dass das moderne Weltbild jedoch immer noch im Schatten dieser Weltansicht oder im »Schatten Gottes« (FW 109, S. 469) existiert. 66 Die enge Relation zwischen dem »Chaos sive natura«-Entwurf und dem Tod Gottes wird auch im Aphorismus ›Neue Kämpfe‹ (FW III, 108) deutlich. Schließlich kommt Nietzsche auf die in der Notiz 70b (NL 11[211]) bereits erwähnte ›Aufgabe‹ zu sprechen: »Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es giebt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein eben solcher Irrthum, wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!« 67
Weil die Welt Nietzsche zufolge nicht »ewig Neues« (ebd.) »schaff[t]« (ebd.), lässt sich sein Gedanke der ewigen Wiederkunft richtig verstehen – die ewige 63 64 65 66 67
»Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe«, ebd. NL 11[193], Frühjahr – Herbst 1881, KSA 9, S. 517–518. Siehe Kap. 6. Vgl. FW 109, S. 467. FW, III, 109, KSA 3, S. 468–469.
Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882
Wiederkunft des Gleichen! Es lässt sich hiermit feststellen, dass der »Chaos sive natura«-Gedanke auch mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft eng verbunden ist. Das thematische Motiv der Notiz 43b wird auch im Aphorismus FW 139 »Farbe der Leidenschaften« rekapituliert. Hier wird die biblische Ansicht des Paulus provokativ dargestellt, welche die »Vernichtung der Leidenschaften« und die »Reinheit davon« 68 »vergöttlicht« (ebd.). Diese Charakteristik des Mangels bezeichnet Nietzsche als jüdisch 69, obwohl er sich stark von dem Antisemitismus Wagners und Schopenhauers 70 distanziert. Die Vermutung, dass Nietzsche einen solch traditionell-kulturellen Intellektualismus am marranisch-jüdischen Denker Spinoza beobachtet hat 71, liegt nahe, wenn der anschließende Aphorismus 140 zugleich in Betracht gezogen wird. Der Aphorismus »zu jüdisch« 72 deutet jedoch darauf hin, dass Nietzsche nicht nur ein ›jüdisches‹ Merkmal, sondern auch christliche ›Gottesliebe‹ (amor dei) einer scharfen Kritik unterzieht, die Spinoza mit ›amor dei intellectualis‹ in seiner Philosophie ausformuliert hat. Damit kommen wir zur nächsten und letzten Stelle der »Chaos sive natura«-Rubrik von 1882. 2.3.6 »23a« = NL 11[60] (Abbildung 13) »Neuer Blick auf die Welt in Hinsicht auf Intelligenz und Güte. Ist die Menschheit eine Ausnahme? Ist im Ganzen ihr Grad von Intelligenz und Güte gleichen Ranges wie der in der Natur? Ja. – Nun aber haben wir die »Zweckmäßigkeit« und »Intelligenz« der Natur zu verstehen – sie ist gar nicht da! Ebenso wenig das Unegoistische! Von da auf die Menschheit zurückzuschließen: vielleicht ist auch unsere Zweckmäßigkeit nur eine Summe günstiger Zufälle, und unsere »Güte« ebenfalls ein Irrthum. Aus den großen Schriftzügen der Natur unsere kleine Schrift zu verstehen suchen! – Wir können eine Reihe von Nacheinander’s angeben, die zu einem Zwecke führen – aber 1) es ist nicht die vollständige Reihe, sondern eine FW, III, 139, S. 489. A. a. O., 140, S. 489: »Der Stifter des Christenthums empfand hierin nicht fein genug,als Jude.« 70 Vgl. FW, II, 99, S. 456: »Schopenhauerisch ist Wagner’s Hass gegen die Juden, denen er selbst in ihrer grössten That nicht gerecht zu werden vermag: die Juden sind ja die Erfinder des Christenthums.« 71 Siehe Abs. 3.3. und 6.2.3. 72 FW, III, 140, S. 489: »Zu jüdisch. – Wenn Gott ein Gegenstand der Liebe werden wollte, so hätte er sich zuerst des Richtens und der Gerechtigkeit begeben müssen: – ein Richter, und selbst ein gnädiger Richter, ist kein Gegenstand der Liebe. Der Stifter des Christenthums empfand hierin nicht fein genug,– als Jude.« 68 69
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Abb. 13: DFGA/M-III-1,113 (GSA 71/128, 23a). Vgl. NL 11[60], KSA 9, S. 463.
Die zweite »Chaos sive natura«- Stelle in M III-2 im Sommer 1882
erbärmliche Auswahl 2) wir können kein Glied der Reihe aus freien Stücken machen, wir wissen nur mehr oder weniger, daß es sich machen wird. Wo wir zweckmäßig sind, handeln wir trotzdem unwissend über Mittel und Zweck, im Ganzen gesehen. Über diesen Fatalismus kommen wir nicht hinaus.« 73
Wenn die bisherige Diskussion über die antiteleologische Weltansicht primär mit der »Entmensch[lich]ung« der Natur zu tun hat, handelt es sich bei dieser letzten »Chaos sive natura«-Stelle um die Konsequenzen der Vernatürlichung des Menschen. In diesem Aphorismus steht der Mensch im Vordergrund. Dabei ist anzumerken, dass Nietzsche die herkömmliche Vorstellung des Unegoistischen als ein sowohl moralistisches als auch ein teleologisch-anthropozentrisches Konstrukt betrachtet. Seine Leugnung des »Unegoistische[n]« und der »Güte« war eine weitere Übereinstimmung mit Spinoza – wenn auch nicht ohne Vorbehalt –, die hier auch zum Ausdruck kommt. 74 Ein wesentlicher Aspekt des »Chaos sive natura«-Gedankens zwischen 1881/1882 war Nietzsches anti-teleologische Kritik und anthropologische Neuorientierung. Mit dem Satz »Spinoza oder Teleologie als Asylum ignorantiae«75 enden Nietzsches Notizen über Fischers Spinoza-Band in NL 11[194] und 11[195], die kurz vor der zweiten »Chaos sive natura«-Stelle vorkommen. Spinoza kritisiert und bezeichnet die teleologische Tendenz des Menschen, Gründe der Erscheinungen der Welt in dem gedachten »Gotteswillen« zu suchen, als Asylum ignorantiae, d. h. eine Zuflucht in die Unwissenheit. 76 Wenn der Mensch eine solche verwerfliche Tendenz zur Teleologie besitzt, muss er sich Nietzsche zufolge mit der Aufgabe der »Vernatürlichung« (NL 11[211]) auseinandersetzen. Wenn jedoch Nietzsche eine Vereinigung zwischen der Notwendigkeit und Zufälligkeit in seinen Gedanken über »Chaos sive natura« vorgesehen hat, wie lässt sich die menschliche Freiheit begründen? Wie kann der Mensch sich vom Fatalismus befreien, den Nietzsche als die folgenschwere Konsequenz vom Gedanken »Chaos sive natura« am Ende thematisiert? Beide Fragen werden in den folgenden Kapiteln (Kap. 3 und Kap. 4) im Hinblick auf die Totalitätsund auf die Fatalismusthematik als Leitmotive von Nietzsches Spinoza-Rezep-
NL 11[60], Frühjahr –Herbst 1881, KSA 9, S. 463–464. Auch siehe Abs. 4.1. 75 NL 11[194], Frühjahr – Herbst 1881, KSA 9, S. 519. Auf dem Blatt »72a« befindet sich eigentlich die bekannte »non ridere …« (Nicht lachen …) Stelle direkt nach 11[60], die in KSA auf der entsprechenden Seite weggelassen wurde, weil sie inhaltlich dem von Nietzsche markierten Abschnitt in FW 333 »Was heißt erkennen« entspricht. 76 Spinoza, Ethica, I, Anhang, S. 88: »Et sic porro causarum causas rogare non cessabunt, donec ad Dei voluntatem, hoc est ignorantiae asylum, confugeris.« 73 74
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tion beantwortet, die zugleich weitere denkgeschichtliche Berührungspunkte dieser Rezeption ersichtlich machen. Der Umfang und die Auswirkung des »Chaos sive natura«-Gedankens wird schließlich im Hinblick auf den Tod Gottes und das agonale Verhältnis in Nietzsches Denken jeweils im Kap. 5 und 6 resümiert.
2.4 »Chaos sive natura«-Entwurf. Eine offene Zusammenfassung 2.4.1 Philologisches Resümee und Korrekturvorschläge für die Forschung
Mit dem Vergleich zwischen Nietzsches handschriftlichen Notizbüchern, besonders M-III-1, wurden folgende Stellen herausgearbeitet, die den Gedankengang und Arbeitsprozess im »Chaos sive natura«-Gedanken sowie seine Auseinandersetzung mit Spinoza deutlich zeigen: a. b. c. d. e. f. g. h. i.
M-III-1, 18, NL 11[205, 206 & 204], KSA 9, S. 524 = 71b M-III-1, 14, NL 11[201], KSA 9, S. 522 = 73b (nicht NL 11[199] nach Colli-Montinaris Angabe) M-III-1, 20, NL 11[211], KSA 9, S. 525 = 70b M-III-1, 34, NL 11[225], KSA 9, S. 528 = 63b M-III-1, 49 & M-III-1, 50 = 55 (›Hüten wir uns‹, aufgenommen in FW 109) M-III-1, 74 = 43b (FW 109 ›Hüten wir uns‹, FW 139 ›Farbe der Leidenschaften‹) M-III-1, 113, NL 11[60], KSA 9, S. 463 = 23a »Ego contra Spinozan« (M-III-1, 76b; siehe Abbildung 2) ist in Colli-Montinaris Angabe ausgefallen. (vgl. NL 11 [194], KSA 9, S. 519) »Non ridere non lugere«-Stelle (M-III-1, 76a und 76b, siehe Abbildung 1 und 2) ist in Colli-Montinaris Angabe ausgefallen. (vgl. NL 11 [194], KSA 9, S. 519)
Dabei sind nach meiner Untersuchung zumindest drei relevante Stellen (siehe b., h. und i.) in der Colli-Montinari-Ausgabe unzureichend kommentiert oder nicht korrekt transkribiert. 2.4.2 Philosophische Leitmotive im »Chaos sive natura«-Entwurf
Der konkrete Umfang des »Chaos sive natura«-Entwurfs ließ sich vor allem durch Nietzsches Projektskizze in M III-2 vom Sommer 1882 rekonstruieren. In dieser Hinsicht begleitete die Auseinandersetzung mit Spinoza seinen philosophischen Werdegang konsequent und ereignisreich. Um die große Reichweite dieser Rezeption zu zeigen, muss jedoch die Frage gestellt werden, wie die hier festgestellten Leitmotive in der späteren Schaffensphase behandelt werden. Dabei ist vor allem zu beachten, ob und inwieweit Nietzsches Über-
»Chaos sive natura«-Entwurf. Eine offene Zusammenfassung
legungen zu Spinoza für seine Betrachtung der folgenden Themen noch eine Rolle spielen: 1. Notwendigkeit, Fatalismus, Amor fati, Schicksal, die ewige Wiederkunft des Gleichen, »Vernatürlichung des Menschen« (NL 11[211]): NL 11[204], 11[205], 11[206], 11[20], 11[201], 11[211], FW 109 (S. 467, 468, S. 469) 2. Antiteleologie, »Vermenschung der Natur«, »die Entmenschung der Natur« (NL 11[211]), das Entgöttlichen der Natur (vgl. FW 109, S. 469) 77, Chaos und Zufälligkeit, die erste »Chaos sive natura«-Stelle (NL 11[197]), NL 11[205], 11[20], 11[201], 11[211], 11[225], FW 109, NL 11[60] (vgl. »Spinoza oder Teleologie als Asylum ignorantiae« in NL 11[194], direkt vor der »Mittag und Ewigkeit« (NL 11[195]) und jener »Chaos sive natura«-Stelle) 3. ›Spinoza-Spinne‹ Symbolik: NL 11[206] 4. »Gott ist tot«, »Schatten Gottes«: NL 11[20], 11[225] (Chaos statt Gott), FW 109 (S. 468, 469) 5. Gegen die Vorstellung der sittlichen Weltordnung; Gegen die moralistische Annahme des Unegoistischen: NL 11[225], FW 109 (S. 468), NL 11[60] 6. Leidenschaft, Intellektualismus-Kritik: FW 139
Dabei steht eine wichtige Aufgabe im Mittelpunkt: die Bedeutung und den Sinn der Notwendigkeit sowie das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur kritisch zu betrachten. Seine mit Spinoza geteilte antiteleologische Position erlaubt nicht, die konventionelle Definition des freien Willens zu akzeptieren. Kritisiert wird zudem das traditionelle Gottes- und Naturbild, das nach der menschlichen Projektion konstruiert worden ist. Neue Grundsätze, Grundlagen und Definitionen sind nötig. Nietzsches Wortwahl von ›Chaos‹ impliziert jedoch, dass die neue Definition der Natur keinen Naturbegriff des eng verstandenen Naturalismus bedeuten muss, d. h. eine Definition der Natur, die sich nur durch die naturwissenschaftliche Methode erfassen lässt. Das neue Verständnis der Natur, die als Chaos gilt (›chaos sive natura‹), zeigt zwar Nietzsches Kritik an dem traditionellen Naturverständnis, darf jedoch nicht zum Szientismus geraten. Denn: Vor allem gilt die Aufgabe als eine individuelle Aufgabe für jeden Einzelnen. 2.4.3 Chaos, Kosmos und Totalität
Wie kann man, so Nietzsche, Notwendigkeit und Zufälligkeit versöhnen, ohne dabei die spinozistische Gottesordnung vorauszusetzen? Diese Strategie bedeutete für ihn, auf die noch zu diskutierende optimistische Gottesannahme Spinozas zu verzichten und trotzdem eine Lebens- und Leidensbejahung über77
Aber auch vgl. Gerhardt (1996), S. 191.
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»Chaos sive natura«-Entwurf
zeugend zu befürworten. Nietzsches kritische Spinozainterpretation hat eine für den Leser unerwartete politisch-philosophische Folge: Spinozas Optimismus war eine wichtige Grundlage für die Erweiterung der individuellen Freiheit und die Organisation der geeigneten sozio-politischen Staatsform der Demokratie. Bei der Deutung, in der Nietzsche als Demokratiegegner interpretiert wird, soll seine Begegnung mit Spinoza noch brisanter werden. 78 Während Spinoza in seinem optimistischen System der Ethica eine Versöhnung zwischen der Notwendigkeit der Natur und der Freiheit des Menschen sucht, möchte Nietzsche diese Aufgabe als ein individuelles Problem auffassen. Wie es an späterer Stelle über Nietzsches letzten Kommentar zu Spinoza im Lenzer-Heide-Entwurf von 1887 erläutert wird (siehe Kap. 6), bedeutet diese Aufgabe daher eine Fragestellung an einen Einzelnen, die nur er oder sie selbst beantworten kann. Keine Philosophie kann eine allgemeine ›stellvertretende‹ Lösung anbieten. Nur im Sinne der Selbstbestimmung kann ein Individuum seine (Er-)Lösung im Leben suchen. Der Umgang mit der Notwendigkeit und Zufälligkeit wird dabei nicht nur im Hinblick auf die Natur und das Schicksal 79, sondern auch auf den Menschen in der Gesellschaft diskutiert. Nicht nur hat der Mensch in sich »ein Chaos«, wie Nietzsche im ersten Buch von Zarathustra schreibt 80, sondern ist die moderne sozio-politische Konstellation umwerfend kompliziert. In diesem Zusammenhang schreibt Gerhardt (1996) über die Bedeutung von Nietzsches Spinoza-Lektüre: »Während Spinozas Affektenlehre die Übertragung der conservatio sui auf alle lebendigen Wesen nahelegt und auch einer Ausweitung dieses Bewegungsprinzips auf alle natürlichen Dinge nichts in den Weg legt, sieht Nietzsche darin das Motiv, das nur einem hoch entwickelten menschlichen Individuum zugesprochen werden kann. Zwar gibt er diese Beschränkung später wieder auf, aber sie zeigt doch, gerade weil er mit dieser Eingrenzung auch von Schopenhauer oder Darwin abweicht, wie stark ihn das genuin menschliche Handeln interessiert. Er sucht die Bedingungen und Ziele dessen, was in seiner Zeit als spezifisch menschliche Aktivität zu begreifen ist. Der sein Denken bestimmende Primat der Praxis, d. h. sein Ausgangspunkt bei der menschlichen Tätigkeit, wird sichtbar.« 81
Siehe Abs. 5.3, 5.4. und Kap. 6. »Ich liebe Den, welcher sich schämt, wenn der Würfel zu seinem Glücke fällt und der dann fragt: bin ich denn ein falscher Spieler? – denn er will zu Grunde gehen.«, ZA, I, Vorrede, KSA 4, S. 17. 80 »Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.«, ZA, I, Vorrede, KSA 4, S. 19. 81 Gerhardt (1996), S. 192–193. 78 79
»Chaos sive natura«-Entwurf. Eine offene Zusammenfassung
Wohin genau aber führt dieser einsame Weg des Menschen unter Mitmenschen bei Nietzsche, ein Weg, der keinen Gott »zur Gesellschaft« hat, anders als bei der mindestens von Gott begleiteten Einsamkeit Spinozas 82? Wie verhält sich der neu zu definierende Fatalismus zu Nietzsches Schicksalsliebe, der amor fati? Zwar kritisiert Nietzsche Spinozas Formel »Deus sive natura« erst 1885 explizit angesichts Boscovichs Krafttheorie 83, d. h. vier Jahre nach seiner FischerLektüre und der ersten »Chao sive natura«-Stelle. Dennoch scheint es wichtig, Leitmotive dieser Rezeption zwischen 1881 und 1885 sowie der letzten Schaffensphase Nietzsches ununterbrochen zu prüfen, um den weiteren Kontext von Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinozas »Deus sive natura« zu enthüllen. Die bisherige Betrachtung der ersten und zweiten »Chaos sive natura«Stelle behält in dieser Hinsicht ihre Bedeutung als eine sowohl philosophische als auch philologische Grundlage. Die Leitmotive bei den »Chaos sive natura«Stellen stellen das Spinozabild Nietzsches vor 1881 mit dem späteren Bild nach 1885 in einem konkreten Zusammenhang dar, worauf ich in den folgenden Hauptkapiteln eingehen werde.
KSB 7, S. 62–63, Nr. 609, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, Oberengadin, 2. Juli 1885. Auch siehe Abs. 5.2.2. 83 NL 36[15], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 556. Auch siehe Abs. 5.2.2. 82
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3. Wettkampf in Harmonie Totalität und Konfliktfähigkeit bei Goethe, Spinoza und Nietzsche »812. Wurden wir vorher bei dem Beschauen einzelner Farben gewissermaßen pathologisch affiziert, indem wir zu einzelnen Empfindungen fortgerissen, uns bald lebhaft und strebend, bald weich und sehnend, bald zum Edlen emporgehoben, bald zum Gemeinen herabgezogen fühlten, so führt uns das Bedürfnis nach Totalität, welches unserm Organ eingeboren ist, aus dieser Beschränkung heraus; es setzt sich selbst in Freiheit, indem es den Gegensatz des ihm aufgedrungenen einzelnen und somit eine befriedigende Ganzheit hervorbringt. 813. So einfach also diese eigentlich harmonischen Gegensätze sind, welche uns in dem engen Kreise gegeben werden, so wichtig ist der Wink, daß uns die Natur durch Totalität zur Freiheit heraufzuheben angelegt ist, und daß wir diesmal eine Naturerscheinung zum ästhetischen Gebrauch unmittelbar überliefert erhalten.« 1
Wie kann man Konflikte verstehen? Es gibt nicht nur Konflikte zwischen Menschen auf der Welt, sondern auch zwischen einem Indi viduum und großen Institutionen wie dem Staat, der Gesellschaft oder der Religion. Es gibt Konflikte zwischen traditionellen und neuen Werten, zwischen Menschen und Natur sowie innere Konflikte zwischen Vernunft und Leidenschaften oder Identitätskonflikte eines Individuums. 2 Wie aber soll man mit Konflikten leben? Da die Definition der Konflikte verschieden ist, verlangt die Frage nicht nur eine sozio-politische Untersuchung, sondern auch ethische, kosmologisch-metaphysische sowie religionswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Deutungen. »Chaos sive natura« war in diesem Zusammenhang Nietzsches Manifest, das gegen Spinozas Weltauffassung, die mit der Formel »Deus sive natura« resümiert wird, eine in mehreren Hinsichten überzeugendere Antwort verkünden soll. Während das letzte Kapitel Nietzsches Gedankengang und Arbeitsplan philologisch dargelegt hat, soll dieses Kapitel vor allem einen der ersten und andauernden philosophischen Impulse seiner Auseinandersetzung mit Spinoza erläutern. Die Hauptfigur der Weimarer Klassik, Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. I. Abteilung. Band 23/1. Zur Farbenlehre (1808–1810), ›Totalität und Harmonie‹, S. 258–259. 2 Vgl. Ioan (2019), S. 60–62 für Nietzsches Deutung vom Kampf der Theile im Organismus von Wilhelm Roux. 1
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Wettkampf in Harmonie
Goethe (1749–1832) und seine Bewunderung der spinozistisch ›versöhnbaren‹ Welt spielt eine wesentliche Rolle für Nietzsche, wie ich nun weiter erörtern werde.
3.1 Ästhetisierung der Philosophie? Goethe über die spinozistische Harmonie und Nietzsches Denken der Agonalität 3.1.1 Nietzsches erste Spinoza-Rezeption um 1872 und Goethes Spinoza-Bild. Kritische Betrachtung des Forschungsstandes
Goethe verlieh Nietzsches Spinoza-Rezeption einen besonderen denkgeschichtlichen Kontext. Durch ihn boten die zentralen philosophischen Themen der damaligen Spinoza-Rezeption Rahmenbedingungen, mit denen sich Nietzsche auseinandersetzen musste. In diesem Sinne gilt es zunächst zu fragen, ob die bisherige Forschung Goethes besondere Rolle für Nietzsches Spinoza-Rezeption sowie das Spannungsverhältnis zwischen den drei Denkern angemessen aufgezeigt hat. Ohne diese Frage aus dem Blick zu verlieren, möchte ich das Kapitel mit einem kurzen Überblick über den Forschungsstand eröffnen. In der Forschung wird generell angenommen, dass Nietzsches Spinoza-Bild zumindest bis zur Mitte der 1870er Jahre von Goethes Spinozaverständnis stark beeinflusst wurde. Gawoll (2001) deutet darüber hinaus, dass Nietzsche noch bis zum Jahr 1880 unter Einfluss der Spinoza-Rezeption Goethes (und Kuno Fischers) stand. 3 Was bedeutet denn diese gängige Lesart genau? Wie verhält sich Goethes Spinoza-Deutung zu Nietzsches eigener Spinoza-Deutung während der 1870er Jahre? Nicht zuletzt stellt sich die Frage, welche Veränderungen Nietzsches Goethe- und Spinozaverständnis in der anschließenden späteren Schaffensphase dadurch erfuhr. Eine solch differenzierte Erklärung wird deutlich machen, in welchem Kontext und mit welcher Dynamik dieses besondere denkgeschichtliche Ereignis mit großer Reichweite stattgefunden hat. Goethes Buch Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit 4 gilt als eine der wichtigsten Hauptquellen für Nietzsches Spinoza-Bild dieser Zeit. In diesem autobiographischen Hauptwerk wurde die deutsche und europaweite Denkgeschichte der Zeit im Zusammenhang mit seinen eigenen Lebensereignissen Gawoll (2001), S. 48. Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. I. Abteilung. Band 14. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Der erste Part vom ersten Teil von Dichtung und Wahrheit war im Jahre 1811 verfasst worden (2., 3. u. 4. Teil: 1812/1813/1830). 3 4
Ästhetisierung der Philosophie?
zwischen 1749 und 1775 greifbar gemacht und lebhaft dargestellt. Sein Kommentar über Spinozas Leben und Denken hat auch einen besonderen Stellenwert für seinen eigenen Werdegang. Eine der ersten Beobachtungen Nietzsches über Spinoza im Jahre 1872 bezog sich auf Goethes Spinoza-Resümee aus dieser Quelle: »Die Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion (alias Philosophie) entscheidet jetzt über ihren Werth – d. h. sie wird als Kunst beurtheilt. Ihre Form wird sich wahrscheinlich verändern! Die starre mathematische Formel (wie bei Spinoza) – die auf Göthe einen so beruhigenden Eindruck machte, hat eben nur noch als ästhetisches Ausdrucksmittel ein Recht.« 5, 6
Wurzer (1975) war einer der ersten, die diese Bemerkung Nietzsches über Goethe und Spinoza als den frühsten Nachweis für seine Spinoza-Rezeption bezeichneten. Dennoch kommt er voreilig zum Schluss, dass Nietzsche in dieser Zeit noch nicht das eigentliche Denken Spinozas berührt habe. 7 Wurzer zufolge beginnt Nietzsches erwähnenswerter Kontakt mit Spinoza erst 1875 mit seiner Spir-Lektüre. 8 Folgt man dieser Interpretation, so heißt das, dass Nietzsches anfängliches Spinoza-Bild um 1872, das auch Wurzer zufolge durch Goethe vermittelt war, auf seine Spinoza-Rezeption der mittleren und späteren Schaffensphase keinen besonderen Einfluss ausgeübt hätte. Diese Interpretation ist jedoch aus den folgenden Gründen fraglich. Zunächst ist zu bemerken, dass der Kontext in der damaligen europaweiten Spinoza-Rezeption bei dieser Lesart nicht einbezogen wurde. Ohne die unter Denkern geteilten Fragen und ihre unterschiedlichen Antworten zu kennen, kann kein differenziertes Bild über verschiedene Positionen von Nietzsche, Goethe und Spinoza entstehen. Zudem wurden Nietzsches Spinozakommentare bei Wurzer auch im Hinblick auf Nietzsches Denken zu vereinzelt berücksichtigt. Vielmehr muss ihr Stellenwert in Nietzsches Philosophie neu konNL 19[47], Ende 1872, KSA 7, S. 434. Man muss sich mit einer ungünstigen Ausgangslage zufrieden geben, die sich daraus ergibt, dass Nietzsche außer diesem Zitat Spinoza in den direkt folgenden Monaten namentlich nur selten in Verbindung mit Goethe erwähnt hat. Erst zwischen 1876 und 1877 zeigen sich in einem Abschnitt in MA ähnliche Betrachtungsweisen. Dazu siehe MA I, 157, ›Die Leiden des Genius und ihr Werth‹, KSA 2, S. 147–148. 7 Vgl. Wurzer (1975), S. 141: »der ersten, konkreten Spinozabenennung hinsichtlich der mathematischen Methode, die Nietzsche in der Philosophie nur als ästhetische Ausdrucksform rechtfertigt, wird im Jahre 1872 das eigentliche Denken Spinozas noch nicht berührt.« 8 »Erst ab 1875, Monate nach Nietzsches Lektüre von Spirs ›Denken und Wirklichkeit‹ fangen die Spinozaerwähnungen in Nietzsches Werken eigentlich an. Die milde Moralkritik, die er am Denker der ›Ethik‹ im Sommer 1875 übte, verweist auf Nietzsches bescheidene Kenntnisnahme des neuen moralischen Ansatzes Spinozas.«, ebd. 5 6
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textualisiert werden. Diese Beobachtung wiederholt sich mehr oder weniger, wenn man aktuellere Interpretationen von Brobjer (2008) und Gawoll (2001) zur Betrachtung heranzieht. Brobjers kurze Bemerkung über ›Goethes positive [Spinoza-]Bewertung und Spinozas Bedeutung für Goethe‹ 9 wird zwar wegen der Kürze an dieser Stelle nicht genauer diskutiert. Jedoch scheint es für unser Ziel wichtig, nicht bei einem scheinbar neutralen Hinweis auf Goethes Position zu bleiben, sondern herauszufinden, warum und in welchem Kontext er Spinoza positiv bewertet hatte. Nur dann kann man richtig verstehen, warum und in welchem Kontext auch Nietzsche diese Bewertung seinerseits kritisch beurteilen musste. Somit kommen wir zu Gawolls Interpretation, die ich ausführlicher diskutieren möchte. Gawolls generell moderate Lesart unterliegt nämlich einem ähnlichen Fehler wie die bei Wurzer: Er betrachtet Nietzsches Spinoza-Bild und Goethes Spinoza-Bild, ohne sie hinreichend voneinander zu differenzieren. Dadurch wird nicht nur das Spannungsverhältnis zwischen Spinoza und Nietzsche, sondern auch das zwischen allen drei Denkern leicht übersehen. So verlieren die von ihnen beabsichtigten philosophischen Nuancierungen und Pointierungen bedauerlicherweise ihre Brisanz. Deshalb möchte ich noch einmal zum Nietzsche-Zitat von 1872 zurückkehren, aber so, wie Gawoll es mit seinen Kommentaren präsentiert: »Unter der Voraussetzung eines unmittelbar zugänglichen, tragisch-affirmativen Seins vermag Nietzsche in einer Notiz, […] die ›starre mathematische Formel (wie bei Spinoza)‹ lediglich als ein ›ästhetisches Ausdrucksmittel‹ […] anzuerkennen. Wenn Nietzsche damit den mos geometricus gleichsam auf die artistische Erzeugung einer Dichtung aus Begriffen reduziert, reflektiert er ein Diktum aus Goethes Dichtung und Wahrheit, wonach die mathematische Methode Spinozas bloß das Widerspiel seiner ›poetischen Sinnes- und Darstellungsweise‹ bildete.« 10
Hier bezieht sich Gawoll sowohl auf Nietzsches Goethe-Zitat als auch auf Goethes eigene Worte im vierzehnten Buch von Dichtung und Wahrheit. Goethes ungekürzte Worte hatten jedoch einen wesentlich anderen Klang als hier. Im Originalton heißt es: »Übrigens möge auch hier nicht verkannt werden, daß eigentlich die innigsten Verbindungen nur aus dem Entgegengesetzten folgen. Die alles ausgleichende Ruhe Spinozas kontrastierte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und DarstelVgl. Brobjer (2008), S. 78 f.: »Goethe’s postive evaluation and Spinoza’s importance for Goethe«. 10 Gawoll (2001), S. 45. 9
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lungsweise [kursiv von J. Y.], und eben jene geregelte Behandlungsart, die man sittlichen Gegenständen nicht angemessen finden wollte, machte mich zu seinem leidenschaftlichen Schüler, zu seinem entschiedensten Verehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn suchten sich mit notwendiger Wahlverwandtschaft, und durch diese kam die Vereinigung der verschiedensten Wesen zustande« 11
Es ist also nicht falsch zu meinen, dass auch Goethe Spinozas mathematische Methode als das Widerspiel seiner eigenen »poetischen Sinnes- und Darstellungsweise« (ebd.) bezeichnete. Damit hat er jedoch weder Spinozas Methode noch – wohlgemerkt – ›seine eigene‹ ästhetische Darstellungsweise mit einem negativen oder relativierenden Gestus konnotiert. Während Goethe die Möglichkeit einer Vereinigung der Verschiedenheit nirgendwo anders als in der klaren Manifestation »der verschiedensten Wesen« (ebd.) sucht, wird diese Verschiedenheit zwischen Spinoza und Goethe bei Gawoll als eine folgenlose Opposition dargestellt. Im Großen und Ganzen vermittelt Gawolls Darstellung den Lesern zwei vermeintliche Eindrücke zu Nietzsches Spinoza-Rezeption über Goethe: erstens, dass nicht nur Nietzsche, sondern auch Goethe Spinozas Methode wegen deren Begrenztheit kritisiert hätte. Zu diesem Eindruck trägt nicht nur Gawolls Wortwahl wie »bloß« (Gawoll, ebd.) und »reduziert« (ebd.) bei, sondern auch seine Verwendung einer zu eng verstandenen Definition des Ästhetischen. 12 Zweitens, dass Nietzsche Goethes angeblich kritische Position zu Spinoza ohne Vorbehalt übernommen hätte. Das Nietzschezitat von 1872 sei demnach eigentlich nur das Ergebnis dieser unkritischen Rezeption. Diese Schlussfolgerungen sind jedoch problematisch und irreführend. 3.1.2 Dichten und Denken. Das Totalitätsideal oder der Wille zur Harmonie
Hier ist zunächst zu fragen, wie sich bei Goethe die Dichtung (sowie das Ästhetische und die Sinnlichkeit) zum Denken verhielt. War die von Gawoll implizierte Trennung zwischen der Dichtung und dem philosophischen Denken auch bei Goethe vorausgesetzt? Das Streben nach der Wahrheit gehörte einst zu den Domänen des philosophischen Geistes, wurde bei Goethe jedoch auch als ein mit der Dichtung geteiltes Ziel verstanden, wie man es auch bei Dichtern wie Schiller und später bei Philosophen wie Schelling und Hegel beobachten kann. In Dichtung und Wahrheit vertrat Goethe diesen Zeitgeist. Er erkannte die Notwendigkeit, die
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Goethe, Dichtung und Wahrheit, Vierzehntes Buch, S. 681. Auf diesen Punkt werde ich im letzten Abschnitt des Kapitels eingehen.
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Wahrheit mit ›Dichtung‹ ergänzen zu müssen und zu dürfen, weil es ihr aufgrund eines unvollkommenen Gedächtnisses der Vergangenheit immer an etwas mangelt. 13 Dabei hat Goethe mehr als ein ironisches Wortspiel mit dem Wort ›dichten‹ gemacht, als eine bewusste Aussage über die Verwandtschaft beider Dimensionen. An Goethes Ansichten ist bemerkenswert, dass ein solches spannungsreiches Verhältnis auch zwischen unterschiedlichen Einzelnen bestehen kann, wie etwa zwischen ihm selbst und Spinoza. So gesehen kann das Wort ›ästhetisch‹ für Goethe seine positive Einschätzung von Spinozas Methode eher bekräftigen, nicht untergraben. Was sich Goethe in seinem Spinozakommentar tatsächlich vorgestellt hat, ist also weder einseitige Dichotomie zwischen Dichtung und Denken bzw. ›Dichtung und Wahrheit‹ – wie der Buchtitel lautet – noch zwanghafte Reduktion auf eine der Domänen. Vielmehr ging es bei ihm um »die innigsten Verbindungen« (Goethe, ebd.) beider Dimensionen, die durch »notwendige […] Wahlverwandtschaft« (ebd.) entstehen. Für ihn war Spinoza die exemplarische Verkörperung des »Nachdenken[s] über Gegenstände aller Art« (ebd.), während er selbst die »dichterische Darstellungsweise« 14 manifestieren sollte. Sie sind zwar voneinander zu unterscheiden, daher verwendet er Ausdrücke wie das »Entgegengesetzte« (S. 681), das »Widerspiel« (ebd.) oder die »verschiedensten Wesen« (ebd.). Dennoch muss eine derartige Unterscheidung keinen unversöhnbaren Konflikt zwischen ihnen beinhalten. Ganz im GegenVgl. Goethe an den König Ludwig I. von Bayern (Konzept), Do. 17. / So. 27. 12. 1829: »Was den freilich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung betrifft, so ward derselbige durch die Erfahrung veranlaßt, daß das Publikum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege. Diesem zu begegnen, bekannte ich mich zu einer Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not, durch einen gewissen Widerspruchs-Geist getrieben, denn es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt, gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar, daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde. Bringt ja selbst die gemeinste Chronik etwas von dem Geiste der Zeit mit, in der sie geschrieben wurde«, Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung. Band 11 (38), von 1823 bis Goethes Tod. Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode, S. 209. 14 »Ob mich nun gleich die dichterische Darstellungsweise am meisten beschäftigte, und meinem Naturell eigentlich zusagte, so war mir doch auch das Nachdenken über Gegenstände aller Art nicht fremd, und Jacobis originelle, seiner Natur gemäße Richtung gegen das Unerforschliche höchst willkommen und gemütlich.«, Goethe, Dichtung und Wahrheit, Vierzehntes Buch, S. 680. 13
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teil – er wird durch die »notwendige Wahlverwandtschaft« (ebd.) zur Vereinigung bzw. zur Totalität in Goethes Wort bestimmt. Genau dann, als Goethe Spinozas mathematische Methode als das »Widerspiel« (ebd.) seiner »poetischen Sinnes- und Darstellungsweise« (ebd.) bezeichnete, empfand er seine »innigst[e]« (ebd.) Verbindung mit Spinoza. 15 Nicht nur, dass Goethes Worte kaum negative Nuancen hatten, wie es Gawoll nahelegt. Vielmehr kann man bei Gawolls Lesart eine philosophische Kernfrage bei der Spinoza-Rezeption leicht verkennen, die danach fragt, wie Konflikte gelöst werden, oder, um es mit Goethe zu formulieren, wie Konflikte zwischen Einzelnen (und einzelnen Eigenschaften eines Einzelnen) eigentlich als »harmonische Gegensätze« 16 verstanden werden können. In diesem Sinne scheint Gawolls Gleichsetzung zwischen Goethes und Nietzsches Position zu Spinoza fragwürdig. Denn jene psychologisch-physische Wirkung, die Goethe als »die alles ausgleichende Ruhe« (S. 681) bezeichnet hat, entspringt in Goethes Deutung primär aus dem Kern des spinozistischen Denkens, nicht allein aus seiner ästhetisch ›schönen‹ Methode. Dieses Merkmal von Spinozas Denken fasst Goethe in seinem sechzehnten Buch zusammen: »Alle Menschen sind hierin, unbewußt, vollkommen einig.« 17 Es ist nichts anderes als ein Ausdruck eines Optimismus’, eines radikalen Totalitätsideals, in dem die harmonische Symbiose der größten Gegensätze grundsätzlich als möglich angesehen wird. Dies betrifft gegensätzliche Menschentypen, wie etwa den Denker Spinoza und den Dichter Goethe. Es geht aber auch um gegensätzliche Eigenschaften innerhalb eines Menschen, also um den ewigen Konflikt zwischen Geist und Körper bzw. der Vernunft und der Sinnlichkeit. Während es am Inhalt des Denkens liegt, was Goethe an Spinoza so faszinieren konnte, scheint jedoch die Form dieses Denkens – bzw. seine geometrische (oder »mathematische« (ebd., S. 681) nach Goethe) Methode – für Goethe ebenso bewundernswert. Denn diese Methode ist ein bestens geeigneter Ausdruck des logisch denkenden Geistes. »Glücklicherweise hatte ich mich auch schon von dieser Seite, wo nicht gebildet, doch bearbeitet und in mich das Dasein und die Denkweise eines außerordentlichen Mannes aufgenommen, zwar nur unvollständig und wie auf den Raub, aber ich empfand davon doch schon bedeutende Wirkungen. Dieser Geist, der so entschieden auf mich wirkte, und der auf meine ganze Denkweise so großen Einfluß haben sollte, war Spinoza.«, a. a. O., S. 680–681. 16 Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. I. Abteilung. Band 23/1. zur Farbenlehre (1808–1810)‹ ›Totalität und Harmonie‹, S. 259. 17 »Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte. Alle Menschen sind hierin, unbewußt, vollkommen einig. Man bedenke, wie eine Naturerscheinung, die auf Verstand,Vernunft, ja auch nur auf Willkür deutet, uns Erstaunen, ja Entsetzen bringt.«, a. a. O., Sechzehntes Buch, S. 731. 15
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Gawolls relativierende Darstellung über die Bedeutung der spinozistischen Methode bei Goethe und Nietzsche, dass sie »lediglich als ›die artistische Erzeugung einer Dichtung‹« 18 dienen kann, ist in mehrfachen Hinsichten irreführend. Es wurde dabei nicht nur eine Dichotomie – zwischen Denken und Dichten, dem Logischen und dem Ästhetischen, der Vernunft und der Sinnlichkeit, Inhalt und Methode usw. – vermeintlich vorausgesetzt, sondern auch keine präzise Unterscheidung zwischen Goethe und Nietzsche gemacht. 3.1.3 Ästhetisierung der Philosophie? Nietzsches Vorbehalt zu Goethes Spinoza-Deutung
Nietzsches kritische Zuspitzung seiner Sicht auf Spinoza von 1872 weist auf seinen anfänglichen und anhaltenden Vorbehalt zur Spinoza-Deutung von Goethe hin. Aus welchem Grund weist Nietzsche eine spinozistische-goethesche Lösung der Konfliktfrage zurück? Ein Leitfaden für ihre Beantwortung ist, zu hinterfragen, warum und in welchem Kontext Nietzsche seine Kritik an Spinoza als Kritik an der ›Ästhetisierung der Philosophie‹ formuliert hat (vgl. NL 19[47]). Nietzsche kritisiert, dass sich Goethe eigentlich auf eine ästhetisierte, eine ästhetisierende Philosophie Spinozas bezog, die die Welt inhaltlich schöner darstellt, als sie ist, und auch eine dementsprechend logische und methodisch schöne Form besitzt. Goethes Spinozabewunderung sei nichts anderes als eine Bewunderung seiner Philosophie, die »als Kunst beurtheilt [wird]« (NL 19[47]). Diese Kritik beinhaltet eine weitaus brisantere Implikation von Nietzsches gesamter Spinoza-Rezeption, als man erwartet. Nietzsche denunzierte Spinozas ästhetisierte Philosophie als solche, weil sie die Welt als versöhnlichen Kosmos darstellte. Spinoza hatte hierfür seine Gründe. Er interpretierte die Philosophie bzw. die Vernunft (ratio) so, dass sie trotz ihrer Endlichkeit dazu in der Lage ist, Uneinigkeiten der Welt durch Gemeinschaftsbildung 19 in Einklang zu bringen und so die Welt tatsächlich schöner zu machen. Goethe nun machte einen bemerkenswerten Schritt, indem er die Gegensätze zwischen Vernunft und Sinnlichkeit bzw. Philosophie und Dichtung in einer spannungsgeladenen Totalität zu begreifen versuchte, die in seiner Spinoza-Rezeption bestens zum Ausdruck kam. In ihren Einschätzungen, ob und inwieweit dies jedoch möglich ist, unterscheiden sich Nietzsche und Goethe bei ihrer Spinoza-Rezeption, wie ich weiter argumentiere.
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Gawoll (2001), S. 45. Siehe Kap. 5.
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Das Nietzsche-Zitat von 1872, in dem er Spinozas »mathematische Formel« (NL 19[47]) als ein ästhetisches Ausdrucksmittel bezeichnet, zeigt zunächst dessen Distanzierung von Goethes Spinoza-Deutung deutlich. Denn Goethe schätzte Spinozas Philosophie als einen genuinen Ausdruck der Vernunft, sei es ihr Inhalt oder ihre Methode. Goethes Dichtung ist diejenige, die als die Manifestation der ästhetischen Natur des Menschen gilt und daher zu Spinozas Philosophie einen Gegenpol bilden kann. Allein diese Beobachtung entspricht also nicht der verbreiteten Annahme vieler Rezeptionsforscher, dass Nietzsches anfängliches Spinoza-Bild zu dieser Zeit unter direktem Einfluss von Goethe gestanden hätte. 20 Nietzsche nimmt zwar Goethes Bewunderung von Spinoza einerseits zur Kenntnis. Dass die Philosophie als »eine Weltconstruktion« (ebd.) verstanden werden und mit der Dichtung Gemeinsamkeiten besitzen kann, bezweifelt der junge Nietzsche auch nicht, denn dasselbe Jahr – 1872 – markierte Nietzsches eigene ästhetische Weltauffassung in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Dort heißt es, dass das Dasein der Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei. 21 Zumindest in dieser Hinsicht entfernte sich die Position des jungen Nietzsche noch nicht weit von Goethes. Der Zeitraum zwischen 1872 und 1873 bedeutete für Nietzsches philosophischen Werdegang einen bedeutenden Wendepunkt, schon deswegen, weil er die allgemein ablehnende Haltung klassischer Philologen gegenüber seinem ersten großen philosophischen Werk GT erlebt hat. Im Alter von 27 Jahren musste Nietzsche überlegen, wie sich dies mit seiner philosophischen Ambition vereinen ließ. Dass die Philosophie tatsächlich eine derartige »Weltconstruktion« (NL 19[47]) repräsentieren kann, hat der junge Nietzsche mit GT zu zeigen versucht – wenn diese romantischen Züge auch später in seiner ›Selbstkritik‹ an der GT zurückgenommen wurden. Es sei auf Nietzsches bereits genanntes Diktum von 1872 hingewiesen, dass die Philosophie die Welt auch durch ihre ›Dichtung‹ konstruieren kann. Auch dass es der Philosophie möglich ist, auf das Individuum Einfluss auszuüben, so dass es die Welt als Gegenstand der Ästhetik betrachtet, erkennt Nietzsche an. Bei diesem frühen ästhetisch-philosophischen Projekt von Nietzsche wurde jedoch nicht vorausgesetzt, dass die daraus resultierende Weltkonstruktion ›schön‹ und ›großartig‹ sein muss. Statt die Welt schöner bzw. harmonischer
Vgl. Brobjer (2008), S. 78 f. Diese These zieht Nietzsche bekanntermaßen in seiner Selbstkritik im Jahre 1886 zurück. Dazu GT, KSA 1, S. 17, »[…] im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wieder, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist.« 20 21
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darzustellen, soll die Philosophie die von Konflikten und Gegensätzen geprägte Wirklichkeit erörtern können. Was der junge Nietzsche an Goethes Spinoza-Bild problematisch findet und seine spätere Distanzierung davon veranlasst, besteht in dem Zweifel, ob Spinozas Bild der versöhnungsbereiten Welt philosophisch haltbar ist. Seine explizite Kritik an Spinozas mathematischer Formel entspringt seinem verborgenen Unbehagen an einem derartig harmonischen Weltverständnis, das »die Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion« (NL 19[47]) auch inhaltlich garantiert. Bis auf diesen Vorbehalt teilte Nietzsche Goethes Respekt gegenüber Spinoza bereits seit den früheren 1870er Jahren, wie seine darauffolgenden Kommentare aufzeigen. Auch wenn sich der junge Nietzsche Philosophie als ein ästhetisches Konstrukt gut vorstellen konnte, heißt das nicht, dass sie eine Theodizee für die Konflikte und Gegensätze anbieten darf. Vielmehr soll sie das Primat des Chaos gegenüber einem göttlichen Kosmos angemessen zum Ausdruck bringen können. Dieser Vorbehalt bestimmt seine anschließende Spinoza-Rezeption sowie seinen eigenen philosophischen Werdegang, wie ich im Folgenden weiter erörtere.
3.2 Philosophie des Konflikts. Die Entwicklung des Agonalitätsdenkens bei Nietzsche 3.2.1 Lieber kämpfen, nicht befrieden. Nietzsches Gegenentwurf und seine Spinoza- und Goetherezeption vor der »Chaos sive natura«-Phase
Das Jahr 1872 markierte einen der wichtigsten Wendenpunkte für Nietzsches Philosophie. In diesem Jahr entstanden nicht nur Die Geburt der Tragödie und das bislang diskutierte Zitat über Goethes Spinozainterpretation, sondern auch Homers Wettkampf. In der letzteren Schrift wird der altgriechische Begriff »Agon(ἀγών)« – übersetzt »Wettkampf« – als ein alternatives Konzept zur spinozistischen Harmonie thematisiert. Bereits Die Geburt der Tragödie zeigte exemplarisch seine positive Bewertung der konflikthaften Gegensätze. Nietzsche interpretierte den Konflikt zwischen übernatürlichen, künstlerischen und kulturellen Kräften, dem Apollonischen und dem Dionysischen, als die Quelle des tragischen Lebensmutes der altgriechischen Antike, der ihre besondere Kreativität ermöglichte. Die Altgriechen verloren jedoch diese ursprüngliche Produktivität, indem der Konflikt als ein einfach lösbares Problem marginalisiert und dessen Spannung durch rationalistische Erklärung weiterhin abgebaut wurde, wie Nietzsche am Beispiel von Euripides und Sokrates argumentierte.
Philosophie des Konflikts
Nietzsches Ambition, die Bedingungen für einen produktiven Konflikt sowohl auf ontologischer als auch kulturkritischer Ebene theoretisch zu begreifen, kristallisiert sich in Homer’s Wettkampf 22 heraus. Es handelt sich um den Entwurf einer Vorrede für ein nicht realisiertes Werk. Hier verstand Nietzsche den Wettkampf oder den altgriechischen Begriff Agon als den Schlüssel, um die Antike angemessen zu diagnostizieren. Nicht jeder Kampf besitzt den Charakter der Agonalität. Für Nietzsche weist ein Kampf den agonalen Charakter bzw. die Agonalität nur dann auf, wenn er Komponenten wie die Gerechtigkeit und die Garantie eines permanenten Wettbewerbes beinhaltet. Seine Diskussion über den altgriechischen Ostrakismos (οστρακισμός) zeigt deutlich, dass der junge Nietzsche damit keineswegs eine darwinistische Idee des Überlebens der am besten angepassten Individuen (›Survival of the Fittest‹) bevorzugte. Ein uneingeschränkter Wettkampf, d. h. ein Wettkampf ohne sozio-kulturelle, moralische und sittliche und rechtliche Einschränkungen würde nur das Andauern eines weiteren Wettkampfs verhindern, sobald der Stärkere seine absolute Position verewigt. 23 Die Diskussion um die Agonalität der altgriechischen Kultur rückte bei Nietzsche in den Vordergrund, da sie den Zusammenhang zwischen deren Vorliebe für den Wettkampf und ihrer besonderen kulturellen Produktivität zu erhellen schien. Damit lässt sich seine kritische Stellungnahme zur spinozistischen harmonischen Weltansicht dieser Zeit größtenteils erklären. Ob sich dieses Plädoyer für einen Wettkampf im Lauf der Zeit radikalisiert bzw. verändert, ist eine weitere Frage. Es gilt hier weiter zu fragen, ob er zugunsten einer Philosophie des Stärkeren/des Starken ab den 1880er Jahren seine anfängliche Präferenz des gerechten Wettkampfs nicht mehr vertritt. Diese besonders brisante sozio-politische Frage wird im Hinblick auf die Moralkritik im vierten und in Bezug auf die Einsamkeitsthematik im fünften Kapitel ausführlich behandelt. An dieser Stelle stellt sich die Frage: Ob und inwieweit kann sich sein alternatives Konzept des Wettkampfs in den 1870er und 1880er Jahren entwickeln? Nach dem ersten Spinoza-Goethe-Zitat von 1872 verknüpft Nietzsche Spinoza namentlich mit Goethe an weiteren acht Stellen in den folgenden Jahren.
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CV 5, Homer’s Wettkampf, KSA 1, S. 783 f. Vgl. Yhee (2016a).
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3.2.2 Wettkampf in der Einsamkeit. Das Spannungsverhältnis der Wahlverwandten
In einem Aphorismus aus dem zweiten Buch von MA (1878) tauschen die Namen Spinozas und Goethes wieder zusammen auf. 24 Im als »die Hadesfahrt« 25 betitelten Aphorismus wurden Goethe und Spinoza unter anderen Denkern als ein gedankliches »Paar« (ebd.) aufgewertet. 26 Nur mit diesen konnte er auf einen sinnvollen Gedankenaustausch hoffen. Grundsätzlich zweifelte er stark an einer solch gegenseitigen Verständigung mit seinen Zeitgenossen. 27 Angesichts dieser von ihm wahrgenommenen Einsamkeit des Denkens als der Notstruktur seiner Zeit wuchs der Stellenwert von Goethe und Spinoza für seinen philosophischen Werdegang. Das bedeutet paradoxerweise, dass nicht nur seine besondere Begeisterung von Spinoza und Goethe, sondern auch sein kritischer Vorbehalt ihnen gegenüber den besonderen Status ermöglichten, den beide Denker für ihn mit den wenigen geistverwandten ihresgleichen besaßen. Sein Verhältnis zu Spinoza kann man genau in diesem Sinne als ambivalent bezeichnen, ohne damit eine bloße Verwirrung zu implizieren, wie sie die gängige Verwendung des Wortes ›ambivalent‹ impliziert. Vielmehr handelt es sich um eine spannungsgeladene, intendierte und inszenierte Beziehung auf zwei ›Kräfte‹ (valens), welche durch den kritischen Umgang mit ihnen eine besondere Produktivität gewinnen. Ein derartiges Spannungsverhältnis zu Spinoza lässt sich wieder im Herbst 1881 beobachten, als Nietzsche in einer Notiz Spinoza und Goethe gleich nacheinander nennt: »Wenn ich von Plato Pascal Spinoza und Goethe rede, so weiß ich, daß ihr Blut in dem meinen rollt – ich bin stolz, wenn ich von ihnen die Wahrheit sage – die Familie ist gut genug, daß sie nicht nöthig hat, zu dichten oder zu verhehlen; und so stehe ich zu allem Gewesenen, ich bin stolz auf die Menschlichkeit, und stolz gerade in der unbedingten Wahrhaftigkeit« 28
Dass Nietzsche 1875 die Ethica erwerben wollte – auch wenn er unter unbekannten Umständen dieses Hauptwerk Spinozas nach dem Erhalt doch zurück an die Buchhandlung geschickt hat –, spricht dafür, dass Nietzsches Interesse an Spinoza während dieses Zeitraums weiter bestand. 25 MA, II, 408, KSA 2, S. 533–534. 26 »Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer.«, a. a. O., S. 534. 27 Vgl. KSB 7, Nr. 729, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, 5. August 1886. 28 NL 12[52], Herbst 1881, KSA 9, S. 585. 24
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Nietzsches »Stolz« (ebd.) auf seine philosophische Verwandtschaft mit Spinoza und Goethe milderte seine kritische Haltung diesen Denkern gegenüber keineswegs ab. Vielmehr bot seine empfundene Angehörigkeit zu der souverän denkenden Familie die sichere Grundlage für eine schonungslos kritische Auseinandersetzung mit ihr. Hier ist bemerkenswert, dass sich Nietzsche am Beispiel von Spinoza und Goethe Möglichkeiten und Bedingungen für einen produktiven Wettkampf zwischen Einzelnen zeigen. Er stellte sich dafür eine ideale Gemeinschaft – »Die Familie« (ebd.) – vor, deren Mitglieder wettkampf-würdige, in ihrer Einsamkeit souveräne Mitstreiter sind. 29 Ob er dabei einen esoterischen, also von den ›exoterischen‹ Unwissenden abgetrennten Kreis bzw. eine ›Gemeinschaft‹ statt einer vom Interesse gesteuerten ›Gesellschaft‹ im Sinne Ferdinand Tönnies’ gemeint hat, ist eine noch zu diskutierende Frage. An dieser Stelle ist wichtig anzumerken, dass er eine zeitbedingte strukturelle Schwierigkeit sah, unabhängiges Denken zu leisten und ein selbständiges Leben zu führen. Seine Vermutung, dass eine solche Schwierigkeit sowohl in der Denkstruktur als auch in der Gesellschaftsstruktur seiner Zeit läge, motivierte ihn, seine umfangreiche philosophische Betrachtung mit der zeit- und kulturkritischen Betrachtung zu verknüpfen. Man philosophiert nicht nur über die Welt. Die Welt gestaltet das Philosophieren sowie den Philosophen. Genauso wichtig war seine Verwunderung über seine Geistesverwandten als Personen, die trotz aller ungünstigen Umstände der Zeit und des Ortes ihre Souveränität verwirklichen konnten. Nietzsches Interesse an Spinoza als Person ist in diesem Sinne durchaus von philosophischer Natur. Er musste einerseits die Grundzüge, Charakteristiken sowie Begrenztheiten der Philosophie dieses vom Staat verbannten und von zwei Religionen verdammten Denkers aus dem 17. Jhd. feststellen. Anderseits musste er untersuchen, welche Faktoren Spinozas Denken und Leben hatten beeinflussen können. Es war ein notwendiger Schritt für seine Betrachtung, weil ein sinnvoller, also schonungsloser und gegenseitig-fördernder Wettkampf nur dann möglich ist, wenn er unter solchermaßen konfliktfähigen Menschen stattfinden könnte. Es handelt sich um keine Tautologie, sondern um eine Wechselseitigkeit. Es war in diesem Sinne wichtig, die Bedingungen des Denkens nicht nur vom erfolgreichen, sondern auch vom gescheiterten Philosophieren zu untersuchen. In diesem Sinne war Spinoza für ihn ein besonderes Beispiel, an dem er Komponenten des Erfolgs und des Scheiterns eines Denkexperimentes erkennen konnte. Dies führte zu einem ambivalenten Spinoza-Bild, was jeNietzsches These, dass ihre Einsamkeit im Denken und Leben ihre Souveränität bedingt, wird im 5. Kap. dieses Buches kritisch erörtert. 29
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doch keineswegs heißt, dass Nietzsche ein verwirrtes Verständnis von Spinoza hatte. 30 Vom Frühjahr bis zum Herbst 1881 bezeichnete Nietzsche den »Glauben an die Eintracht und das Fehlen des Kampfes« 31 als Merkmale des Todes, also während der wichtigen Zeitspanne, in der auch sein ›Chaos sive natura‹-Entwurf entstand. Es erinnert an seine Kritik an Goethe und Spinoza. Er nannte diese Merkmale »ein[en] Grundirrtum« (ebd.) bei der Betrachtung des Lebens. Nicht Eintracht und »Gleichheit« (ebd.), sondern »Kampf« (ebd.) und »Verschiedenheit« (ebd.) benötigt das Leben zum Wachstum und Florieren. Derselben Geisteshaltung folgend schlug er in FW den Krieg und das Abenteuer 32, also die Agonalität als Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Lebens vor. Sie repräsentiert kämpferischen Mut gegen alles, »was schwach und alt an uns [ist], und nicht nur an uns [liegt]« 33 3.2.3 ›Das Gefühl, göttlich zu erkennen‹. Der Sonderfall Spinoza in der europäischen Moderne
Durch seine ›Wiederentdeckung Spinozas‹ durch Kuno Fischer im Jahre 1881 gewann Nietzsches Spinoza-Bild immer mehr an Komplexität. Ab diesem Zeitpunkt interpretierte er Spinoza als den göttlichen Erkennenden, eine Implikation, die hier weiter erörtert werden soll. Im Aphorismus Das reinmachende Auge 34 aus der Morgenröthe (1881) wies Nietzsche auf die Fähigkeit zur Selbstentfaltung und zur ›Liebe zur (göttlichen) Welt‹ als eine besondere Veranlagung hin, die sowohl bei Spinoza als auch bei Goethe zu finden sei. Bei ihnen sei Nietzsche zufolge »von ›Genius‹ […] zu reden, wo der Geist […] an den Charakter und das Temperament nur lose angeknüpft erscheint, als ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit über sie erheben kann.« (ebd.) Zwischen 1876 und 1877 hatte Nietzsche in MA mit dieser Betrachtungsweise bereits intensiv exIn diesem Sinne hat Nietzsche sein produktives Konfliktsverhältnis mit Spinoza sehr geschätzt und weiter inszeniert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er ›ein konflikthaftes Spinozabild‹ hatte, also anders als bei Della Roccas Interpretation. Vgl. Della Rocca 2008, S. 296. 31 NL 11[132], Frühjahr – Herbst 1881, KSA 9, S. 490. Die Herausgeber der KSA weisen auf Nietzsches Lektüre von Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmäßigkeitslehre, Leipzig 1881, BN hin. Dazu siehe KSA 14, S. 645, Kommentar zu NL 12[128, 130–132, usw.]. Vgl. Wurzer (1975), S. 76–77 und Ioan (2019), S. 60–62. 32 Vgl. FW, V, 377, ›Wir Heimatlosen‹. 33 FW, I, 26, KSA 3, S. 400. 34 M, V, 497, KSA 3, S. 292–293. 30
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perimentiert. In einem als Die Leiden des Genius und ihr Werth betitelten Abschnitt 35 wurde Spinoza als »der wissende Genius« (ebd.) interpretiert. Auch ein »künstlerische[r] Genius« (ebd.) muss wegen seiner Genialität unter Unverständnis und Einsamkeit leiden. Aber nur der wissende Genius kann sein Denken unbehindert vollbringen, weil er mit seinen Leiden vernünftig umzugehen vermag. Eine derartig beruhigende, die »Sicherheit« (ebd.) gewährende Natur der ›wissenden Genien‹ ist hier von Nietzsche primär positiv konnotiert. Auch im Jahre 1881 schließt Nietzsche den erwähnten Aphorismus mit der Andeutung, dass er Spinoza gerade wegen dieser Eigenschaft als seinen »Lehrer des reinen Sehens« 36 betrachte. Beide Stellen in FW und MA zeigen eine bemerkenswerte Parallele, die an Goethes Gegenüberstellung des leidenschaftlichen Künstlers und des kontemplativen Denkers in Dichtung und Wahrheit erinnert. Es sei angemerkt, dass Spinozas intellektualistische ›Sicht‹- und Denkweise an beiden Stellen durch Nietzsche nicht gleichermaßen negativ konnotiert wird. Genauer gesagt, beobachtet er diese Charakteristik eher funktionell. Er war daran interessiert zu erfahren, wie sie der gesamten Denkstruktur Spinozas dient und diese möglicherweise auch beschränkt. Nietzsches Vorbehalt um 1872, den er Spinozas mathematischer Formel entgegengebracht hatte, wurde durch seine weiteren Überlegungen und seine Anerkennung nach 1881 ergänzt. Beide Dimensionen vervollständigen unser Verständnis von Nietzsches Spinoza-Rezeption, die ihre Kontinuität vor allem durch seine kritische Auseinandersetzung mit Goethes Spinoza-Bild seit dem Anfang der 1870er Jahre bis zur Fertigstellung von FW 1882 gewann. In FW macht Nietzsche eine damit zusammenhängende wissenschaftstheoretische Überlegung zu »drei Irrthümer[n]«, die er Newton, Voltaire und – es sei bemerkt – Spinoza zuschreibt: »Aus drei Irrthümern. – Man hat in den letzten Jahrhunderten die Wissenschaft gefördert, theils weil man mit ihr und durch sie Gottes Güte und Weisheit am besten zu verstehen hoffte – das Hauptmotiv in der Seele der grossen Engländer (wie Newton) –, theils weil man an die absolute Nützlichkeit der Erkenntniss glaubte, namentlich an den innersten Verband von Moral, Wissen und Glück – das Hauptmotiv der Seele der grossen Franzosen (wie Voltaire) –, theils weil man in der Wissenschaft etwas Selbstloses, Harmloses, Sich-selber-Genügendes, wahrhaft Unschuldiges zu haben und zu lieben meinte, an dem die bösen Triebe
MA I, 157, ›Die Leiden des Genius und ihr Werth‹, KSA 2, S. 147–148. »Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht mit Einem Male geschenkt: es giebt eine Übung und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glück hat, findet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen Sehens«, M, V, 497, KSA 3, S. 293. 35 36
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des Menschen überhaupt nicht betheiligt seien – das Hauptmotiv in der Seele Spinoza’s, der sich als Erkennender göttlich fühlte: also aus drei Irrthümern.«37
Nietzsche reichte es nicht, drei Motivationen für den Geist der Moderne aufzuzählen. Nicht nur, dass er sie als Irrtümer bezeichnete, sondern auch die Tatsache, dass diese voneinander differenziert dargestellt werden, machen seine Perspektive noch interessanter. Nietzsche argumentiert, dass eine besondere Art Machtgefühl die unausgesprochene Voraussetzung der spinozistischen Annahme der göttlichen Eintracht sei. Dieses Gefühl basiere darauf, alles so wie Gott selbst erkennen zu können. Diese Charakteristik bezeichnete er in den späten 1880er Jahren als den Trieb des ›Logikers‹. Dieser Trieb ermöglicht zwar die spinozistische Bejahung, macht aber eine vollständige Versöhnung mit Nietzsches eigener Position unmöglich. Gerade in dieser Spannung zeigt der Mensch Spinoza für ihn eine Verkörperung eines spezifischen Willens zur Macht par excellence. Sei es der Erfolg oder das Scheitern seines philosophischen Experiments – Spinoza galt von nun an für ihn als Sonderfall. Nicht nur die Art und Weise, wie Spinoza den Konflikt im Denken thematisiert hat, sondern auch, wie er mit dem Konflikt gelebt und im Konflikt gedacht hat – dies nachzufragen, wurde Nietzsches kontinuierliches Anliegen. Somit erhielt seine Spinoza-Rezeption ein typisches Kennzeichen der paneuropäischen Spinoza-Rezeption, d. h., nicht nur sein abstrahiertes Denken, sondern auch seine Person war das Hauptthema bei philosophischen Auseinandersetzungen. Denn Spinoza war einer der ersten modernen Menschen, die sich im Denken und Leben anhand alter Konzepte neu definieren mussten. Er hat ihnen durch die neue Anwendung eine andere Bedeutung gegeben, nachdem sie einst die Freiheit der Menschen eingeschränkt hatten. Der moderne Mensch musste seine Freiheit selbst begründen. Dies führte logischerweise zur Frage nach der Selbsterkenntnis, nämlich ob und inwieweit er diese Aufgabe erfüllen kann. Nach kantischer Formulierung heißt das, zu fragen, was man wissen kann. Der Mensch rückt ins Zentrum der Debatte, sei es als halbgöttliches Wesen oder als entmystifiziertes Wesen mit endlichem Dasein. Dass Goethe eine der ersten Schlüsselfiguren für Nietzsches Spinoza-Rezeption war, verstärkt deren denkgeschichtlichen Kontext. Goethe hatte nicht erst mit Dichtung und Wahrheit, sondern bereits mit seinem Gedicht Prometheus (1772–1774) für die Spinoza-Renaissance in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa eine wichtige Rolle gespielt. Auch in diesem Gedicht, das Jacobi in seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785) unautorisiert zitiert und das Interesse an Spi37
FW, I, 36, KSA 3, S. 405–406. Vgl. Wurzer (1975), S. 71.
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noza noch intensivierte, trat der ›leidende, weinende und genießende und sich freuende‹ Mensch in den Vordergrund (vgl. den letzten Absatz von Prometheus). Wie konnte Spinoza den Menschen und seine Freiheit definieren? Was für ein Mensch war Spinoza selbst? Mit Jacobi war Goethe seit 1774 befreundet, als er mit Johann Kaspar Lavater (1741–1801) und Johann Bernhard Basedow (1724–1790) seine Lahn- und Rheinreise unternahm und sie ihre Meinungen über Spinoza ausgetauscht haben. Der junge Goethe hatte Jacobi bei seiner anfänglichen Auseinandersetzung mit Spinoza oder dem »Dasein und [der] Denkweise eines außerordentlichen Mannes« 38 zu Rate gezogen. Zurückblickend schrieb Goethe in Dichtung und Wahrheit über seine jugendliche Bewunderung von Spinoza, »der so entschieden auf mich wirkte, und der auf meine ganze Denkweise so großen Einfluß haben sollte« 39, und stellte fest, dass es Jacobi war, der sein Verständnis von diesem außerordentlichen Geist zu vertiefen geholfen hatte. 40 In seinem Brief behauptete Jacobi, dass »Lessing sich zum Pantheismus Spinozas bekannte« 41, was damals eine große Debatte unter Intellektuellen auslöste. Das vierzehnte Buch von Dichtung und Wahrheit, in dem Goethe seine erste Spinoza-Rezeption und dessen Einfluss auf sich behandelt, umfasst die bedeutsame Zeitspanne, in der die Spinoza-Rezeption eine besondere Rolle in der Aufklärung (1720–1785) und der Weimarer Klassik (1786–1832) gespielt hatte. Die Theologen des letzten Zeitalters hatten versucht, das Problem des menschlichen Leidens mit verschiedenen Theodizeen zu erörtern. Jetzt begann die Zeit, das Leiden und die Leidenschaft des Menschen nicht mehr aus einer Sünde-und-Buße-Perspektive zu betrachten. Als ein wesentlicher Teil des Menschlichen sollten sie ihre Daseinsberechtigung haben. Weil ihre Überbetonung jedoch zum Konflikt mit der Vernunft führen kann, musste eine Synthese anstelle einer radikalen Trennung dieser Elemente gefunden werden. Das Ideal der Totalität war die Reaktion auf diese Frage in der Weimarer Klassik.
Goethe, Dichtung und Wahrheit, Vierzehntes Buch, S. 680–681. Ebd. 40 Goethe, Dichtung und Wahrheit, Vierzehntes Buch, S. 681–682, »Fritz Jacobi, der erste, den ich in dieses Chaos hineinblicken ließ, er, dessen Natur gleichfalls im Tiefsten arbeitete, nahm mein Vertrauen herzlich auf, erwiderte dasselbe und suchte mich in seinen Sinn einzuleiten. […] Doch er, der in philosophischem Denken, selbst in Betrachtung des Spinoza, mir weit vorgeschritten war, suchte mein dunkles Bestreben zu leiten und aufzuklären.« 41 Vorbemerkung zu Jacobi (1785), VII. 38 39
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3.3 Die Leiden des jungen Philosophen. Der Denkende im Denken 3.3.1 Der Philosoph Spinoza. Der Über- und Unmensch
Das Totalitätsideal der Weimarer Klassik setzte keineswegs eine idealisierte Welt voraus, die frei von Konflikten existiert. Weder Denkern der Weimarer Klassik noch ihrem neu entdeckten Mentor Spinoza entging die Aufgabe, die Bedeutung der Konflikte und deren Möglichkeiten zur Versöhnung ihrer widerstreitenden Bestandteile zu erörtern, wie sie zwischen Individuen und in der inneren Welt eines Individuums real existieren. Dass Goethe »die Vereinigung der verschiedensten Wesen« 42 thematisierte, war ein guter Hinweis darauf, dass diese Aufgabe auch eine gewichtige Rolle für die Spinoza-Rezeption der Weimarer Klassik gespielt hat. Auf den ersten Blick handelte es sich um den Konflikt zwischen zwei Menschentypen, die als der Denker-Mensch und der Dichter-Mensch präsentiert wurden. Diese Teilung wies jedoch gleichzeitig auf den inneren Kampf zwischen der Leidenschaft und der Vernunft des Menschen hin. Goethe erklärte dies weiter im sechzehnten Buch von Dichtung und Wahrheit. Nach der Schilderung, wie sich sein Interesse an Spinoza durch seine Lektüre der SpinozaDeutung durch Johannes Colerus (1705) 43 und des Wörterbuchsartikels über Spinoza von Pierrle Bayle (1697/1702; 1683; 1706) 44 trotz anfänglicher Skepsis fortlaufend intensiviert hat 45, reflektierte er das Problem der inneren Konflikte eines Individuums. 46 Er schrieb, viele Menschen suchen eine Erlösung vom Konflikt zwischen der Leidenschaft und der Vernunft, erschöpfen sich jedoch bei der Jagd von einer Leidenschaft nach der anderen, nur um deren Vergänglichkeit zu erfahren. Es gibt jedoch andere »wenige« (Sechzehntes Buch, S. 730) Menschen, deren Natur Goethe wohlbemerkt als »übermenschlich« (ebd.) bezeichnete. Wie vermeidet ein ›Übermensch‹ wie Spinoza einen selbstzerstörerischen Umgang mit dem inneren Konflikt? Er verzichtet Goethe zufolge auf die unersättliche Suche nach der Befriedigung der Leidenschaften und lernt, »sich Goethe, Dichtung und Wahrheit, Vierzehntes Buch, S. 681. Colerus, Johannes, Kurz, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza aus authentischen Stücken und mündlichen Zeugnis noch lebender Personen zusammengestellt von Johannes Colerus (1705). Vgl. Spinoza, Bd. 7., Lebensbeschreibungen und Dokumente, S. 73 f. 44 Bayle, Pierre, Historisches und kritisches Wörterbuch (1702), Bd. III, S. 2767. Vgl. Spinoza, Bd. 7., Lebensbeschreibungen und Dokumente, S. 61 f. 45 Goethe, a. a. O., Sechzehntes Buch, S. 728–729. 46 A. a. O., S. 729–730. 42 43
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von dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen« (ebd.) stattdessen beglücken zu lassen. Er strebt danach, »solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich sind […].« (ebd.) Eine solche übermenschliche Selbstüberwindung und -beherrschung war Goethe zufolge nicht nur Anlass der Bewunderung, sondern auch Quelle der Entfremdung seiner Zeitgenossen, so dass Spinoza oft als ein »Unmensch« und ein »Gott- und Weltlose[r]« gefürchtet und verurteilt wurde. 47 Spinozas Überzeugung, ›unverwüstliche‹ Begriffe finden zu können, wird Goethe zufolge »durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben, sondern viel mehr bestätigt« (ebd.) Denn Spinoza erkennt Konflikten und den scheinbar fehlerhaften Erscheinungen eine genauso große Notwendigkeit zu wie den anderen Erscheinungen, die beim ersten Blick ›harmonisch‹ erscheinen. Das Harmonieideal bei Spinoza ist in diesem Sinne auch nicht zu eng zu verstehen. Es steht im direkten Zusammenhang mit seiner realistischen Betrachtung der Konflikte. Spinozas philosophische Vision beinhaltet nämlich die optimistische Auffassung, dass man die Gründe der Konflikte sowie deren Lösungen erkennen kann. 48 Aus ihrer Erkennbarkeit entspringt die grundsätzliche Versöhnbarkeit der Konflikte. Genau darin liegt der Ursprung jenes ›beruhigende[n] Eindruck[s]‹, den Spinoza mit seinen Auffassungen verkörpert. Auch Spinoza selbst plädierte für positive Wirkungen der gestiegenen Freiheit eines Menschen, der einen erfolgreichen Umgang mit Konflikten gefunden hat. Der Mensch gewinnt umso mehr Freiheit, je mehr er die Notwendigkeit der Welterscheinungen um sich selbst erkennt. Die Freiheit wird dementsprechend als die Macht (Kraft, potentia) eines endlichen Wesens über die unendliche Kette der Modi verstanden. Die Frage, ob sich die Notwendigkeit mit der Freiheit auf diese Weise versöhnen lässt, stellte einen wichtigen Streitpunkt in der europäischen und deutschen Spinoza-Rezeptionsgeschichte dar. Genau über diesen Punkt konnte sich Jacobi mit den von Spinoza begeisterten Denkern wie Goethe und Lessing nicht einigen. 49 Als der bedeutendste Spinoza-Kritiker der Zeit warf er Spinoza vor, dass dieser durch Behauptung einer Vereinbarkeit zwischen der Freiheit und der Notwendigkeit die Freiheit sinnlos machte. 50 Wenn jedoch ihre Vereinbarkeit akzeptiert wird, dient es der Bildung und Verbreitung eines spinozistischen Realismus. Dann spricht man über notwendige Bedingungen der Freiheit, anstatt über eine rein theoretische Freiheit bzw. die Willensfreiheit zu spekulieren.
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Goethe, a. a. O., Sechzehntes Buch, S. 730. Siehe Kap. 4. Vgl. Pätzold 1995, S. 94–104. Vgl. Fischer (1865), S. 559.
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Zumindest in diesem Hinblick scheint der Unterschied zwischen Nietzsche und (Goethes) Spinoza nicht vehement zu sein. 51 Spinozas Umgang mit den inneren Konflikten bzw. mit den Leidenschaften ist somit eine bedeutende Schnittstelle zwischen Goethes und Nietzsches Spinoza-Bild. 52 Während Spinozas rationalistischer Umgang Goethe von dessen übermenschlichen Zügen überzeugte, galt er für Nietzsche nur als ein weiterer Beleg für Spinozas ›göttliches Gefühl‹, alles erkennen zu können. Für Nietzsche reicht ein solch göttliches Element – das apollinisch charakterisiert werden kann – jedoch nicht aus, um wirklich übermenschlich genannt werden zu können. Eine göttliche Manifestation vom Chaos, Leiden und Fröhlichkeit – das Dionysische muss noch reflektiert werden. Die scharfe Konfrontation zwischen Spinoza und Nietzsche wird noch deutlicher, sobald sie für die Freiheit unterschiedliche Bedingungen diagnostizieren, wie unsere nächste Diskussion über die Fatalismusthematik zeigt. 3.3.2 Resignativer Optimismus. Goethes paradoxe Spinoza-Deutung und Nietzsches Spinoza-Rezeption bis 1888
Goethes Totalitätsideal ist durch sein holistisches Denken über Natur, Kultur und Menschen entstanden. Es hat seine Spinoza-Rezeption beeinflusst und sein Denken weiter inspiriert. Was einem Leser jener genannten Goetheschriften jedoch merkwürdig vorkommen kann, ist der resignative Gestus, den Goethe Spinoza zuschrieb: »Nur wenige Menschen gibt es, die diese unerträgliche Empfindung vorausahnen, und, um allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im ganzen resignieren.« 53 Es kann offenbar keine unumstrittene Lesart sein, weil sie noch den starken optimistischen Charakter von Spinozas Philosophie erklären muss. Bei den gängigen Interpretationen heißt es, Spinozas Denken schließt seine Überzeugung ein, dass die Freiheit für den Menschen trotz seiner Begrenztheit als endliches Wesen grundsätzlich erreichbar ist. Solange Menschen Leidenschaften (pathos) unterliegen, oder anders formuliert: solange sie leiden (pati), können sie keine sogenannten ›unverwüstliche[n]‹ Begriffe bilden, um noch größere Freiheit zu erlangen. Der grundlegende optimistische Charakter von Vgl. Ioan (2019), S. 145. Wohlgemerkt bringt auch Nietzsche Goethe und Spinoza bei seiner frühzeitigen Erwähnung zur Überwindung des Menschen zusammen: »›Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß‹ – es kommt auf das tempo an: die Griechen bewunderungswürdig: ohne Hast, – meine Vorfahren Heraclit Empedocles Spinoza Goethe«, NL 25[454], Frühjahr 1884, KSA 11, S. 134. 53 Goethe, a. a. O., Sechzehntes Buch, S. 730. 51 52
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Spinozas Philosophie ist vor allem nicht zu übersehen, wenn ein Übergang vom Leiden zur Freiheit als möglich verstanden wird. Dazu braucht man nicht nur das Gefühl, gottgleich erkennen zu können, sondern auch eine glückliche zufällige Begegnung, die den leidenden Menschen zum aktiven Umgang mit der Umgebung motiviert.54 Laut der ungewöhnlichen Deutung Goethes jedoch basiert der spinozistische Optimismus paradoxerweise auf der folgenschweren absoluten Resignation. Ihm zufolge sei die ›beruhigende Wirkung‹ des Optimismus auf die Leidenschaften ohne solche Resignation nicht möglich. Diese psychologische und paradoxe Lesart Goethes wird Nietzsches Spinoza-Deutung auch in seiner mittleren und späteren Zeit entscheidend beeinflussen. Während ein solcher Verzicht bei Goethe zur Bewunderung des übermenschlichen Spinoza führte, sah Nietzsche an gleicher Stelle eher einen symptomatischen Fall des modernen Menschen, der einerseits vortäuscht, wie Gott alles erkennen und erklären zu können. Anderseits versteht er aber weder seine Leidenschaften noch seine Leiblichkeit, genau wie früher. Der Schatten Gottes ist länger, als man denkt. Für das Totalitätsideal, das einen glücklichen Ausgleich zwischen der Vernunft und der Leidenschaft durch Anerkennung ihrer autonomen Dimensionen sucht, bildet die Leidenschaftsthematik eine wichtige Facette. Dies zeigt auch die Spinoza-Rezeption der späteren Schaffensphase Nietzsches. Eine für diese Thematik relevante Stelle aus GM (1886–7), wo Nietzsche Goethes Leidenschaftslehre mit der Spinozas vergleicht, erinnert an jene Denker-DichterParallele von Goethe in Dichtung und Wahrheit. Hier werden Spinozas »Nichtmehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen« und die »entgegenkommende und muthwillige Hingebung an die Affekte« Goethes (sowie die Katharsislehre von Aristoteles) nebeneinandergestellt. 55 Eine Pointe dieses Vergleichs besteht jedoch darin, dass Nietzsches Charakterisierung beider Denker in GM nun grundsächlich kritische Nuance aufweist. Die spinozistische Herrschaft über die Konflikte der Leidenschaften, die nicht nur bei Goethe, sondern auch bei Siehe Abs. 5.3. »[…] oder auch jenes Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der Aristotelismus der Moral; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um Gotteswillen – denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder Bürgerrecht, vorausgesetzt dass … ; zuletzt selbst jene entgegenkommende und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und Trunkenbolde, bei denen es ›wenig Gefahr mehr hat‹. Auch Dies zum Kapitel ›Moral als Furchtsamkeit.‹«, JGB, V, 198, KSA 5, S. 118. 54 55
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Nietzsche in MA und FW einst positiv dargestellt wurde, wird nun als »naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben« (ebd.) herabgestuft. Diese Kritik soll jedoch nicht zu sehr überraschen, weil Nietzsche zwischen 1881 und 1886 einen wichtigen Schlüssel dafür gefunden hat, die Konflikte und ihre Notwendigkeit ohne spinozistische Annahme der harmonischen Weltsicht zu erklären. Diese These zu überprüfen und möglicherweise zu begründen, scheint eine der wichtigsten Aufgaben für die Erschließung des ganzen Spinoza-Bildes bei Nietzsche zu sein. 56 Bezüglich der Leidenschaftsthematik Nietzsches wurde bereits gezeigt, dass die erste Spur an einer Stelle in Nietzsches handschriftlichem Notizbuch M-III-1, 76a, 76b zu finden ist, die in der Colli-Montinari Ausgabe auffiel. 57 Die nächste Spur findet sich in FW. 58 An beiden Stellen wird die genannte Phrase von GM – »Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen« – nach Spinozas eigentlich lateinischen Formulierung »Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere« 59 erscheinen. Weitere Untersuchungen der Stellen werden Nietzsches kritische Position zur Leidenschaftsauffassung von Spinoza und Goethe im fünften Buch der GM noch näher erhellen. Dieser kritische Wandel Nietzsches lässt sich mit der Betrachtung der Fatalismusdebatte sowie des Konzepts des Dionysischen besser erklären, wie ich weiter erörtere. 3.3.3 Spinozas bejahender Fatalismus. Nietzsches kulturkritische Betrachtung des Fatalismus des 19. Jahrhunderts
Im Herbst 1887, nach dem Erscheinen der GM, erinnerte sich Nietzsche in seinem Notizbuch nochmals gleichzeitig an Spinoza und Goethe60: »Spinoza, von dem Goethe sagte ›ich fühle mich ihm sehr nahe, obgleich sein Geist viel tiefer und reiner ist als der meinige‹, – den er gelegentlich seinen Heiligen nennt.« 61 Die Bedeutung dieser Bemerkung über Goethes Verhältnis zu Spinoza in NL 9[176] darf trotz ihrer Kürze nicht marginalisiert werden. Denn dieser Satz ist direkt an Nietzsches Selbstgeständnis von seiner Aufgabe gekoppelt, die er in der anschließenden Notiz beschreibt: »den Pessimums [zu] überwinden« (NL 9 [177]), mit einem »Goethische[n] Blick voll Liebe und gute Siehe Kap. 2. Vgl. NL 11[194], Frühjahr – Herbst 1881, KSA 9, S. 519. 58 FW, IV, 333, KSA 3, S. 558–559. 59 TP I, § 4, Einleitung, § 4, S. 11. Siehe Abschnitt 5.4.2 und 6.2.3. 60 Wurzer (1975) weist darauf hin, dass Nietzsche hier Goethes Brief an Knebel, 11. 11. 1784 zitiert hat. Dazu Wurzer (1975), S. 14, Anm. 19. 61 NL 9[176], Herbst 1887, KSA 12, S. 439. 56 57
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[n] Willen als Resultat« (ebd.) auszustatten, der »einen Gesamtüberblick über unser Jahrhundert, über die ganze Modernität, über die erreichte ›Civilisation‹« (ebd.) enthalten soll. Nach diesem zeit- und kulturübergreifenden Vorhaben schrieb Nietzsche eine damit zusammenhängende Notiz mit dem Titel Die drei Jahrhunderte zwischen 1886 und 1887 nieder62, die für unsere Betrachtung eine besondere Bedeutung hat. Hier lässt sich gut nachvollziehen, in welchem denkgeschichtlichen Kontext Nietzsche seine Goethe- und Spinoza-Rezeption selbst verortete. Nachdem Nietzsche in dieser Notiz das 17. Jahrhundert in Europa als das »aristokratische« (S. 440) und das 18. Jahrhundert als das »feministische« (ebd.) Jahrhundert gekennzeichnet hat, definierte er nun das 19. Jahrhundert mit dem Begriff »Animalism« (ebd.). Was verstand er unter diesen drei Bezeichnungen? Während das 17. Jahrhundert Nietzsche zufolge von der »Herrschaft von Vernunft« (ebd.) und der »Souverainetät des Willens« (ebd.) geprägt war, kennzeichnete das 18. Jahrhundert die »Herrschaft des Gefühls« (ebd.) sowie die »Souverainetät der Sinne« (ebd.). Nun bringe das 19. Jahrhundert die »Herrschaft der Begierde« (ebd.) in den Vordergrund, die die »Souverainetät der Animalität« (ebd.) bezeugen sollte. Dieses Jahrhundert, also Nietzsches eigenes Zeitalter, wurde schließlich als das »fatalistisch[e]« Zeitalter eingestuft, in dem »selbst die Moral auf einen Instinkt reduziert [wird], d. h. ›Mitleid‹«. 63 Insbesondere am fatalistischen Charakter dieses Zeitalters beobachtete Nietzsche spinozistische Züge, worauf ich gleich eingehen möchte. Für Nietzsche war das 19. Jahrhundert eine komplexere Erscheinung als die beiden vorangegangenen Jahrhunderte. Das 17. Jahrhundert wurde als »das willensstarke Jahrhundert« (S. 441) mit »der starken Leidenschaft« (ebd.) von ihm großenteils hochgeschätzt, während ihm das 18. Jahrhundert mit den Prädikaten wie »geistreich, flach, […] libertin im Genusse des Geistigsten, […] falsch vor sich, […] gesellschaftlich« (ebd.) hauptsächlich problematisch erschien. Aber das 19. Jahrhundert war weitaus komplexer. Denn das gilt als eine Reaktion auf die beiden vorangegangenen Jahrhunderte. Dieser Umstand führt Nietzsche zu seinen unterschiedlichen Bewertungen verschiedener Denker des 19. Jahrhunderts; Isidore M. A. F. X. Comte (1798–1857) etwa war ein Beispiel einer Fortsetzung des 18. Jahrhunderts in das 19., indem er den Positivismus theoretisch begründet hat. Noch »die Romantik« (ebd.) sei Nietzsche zufolge ein »Nachschlag des 18. Jahrhunderts«, da sie als »eine Art aufgethürmtes Verlangen nach dessen Schwärmerei großen Stils ([…] thatsächlich NL 9[178], a. a. O., S. 440 f. Vgl. Adolf Schöll als Nietzsches Quelle für Goethes Spinozismus in Scandella (2014), S. 174. 63 A. a. O., S. 441. Vgl. Abschnitt 4.5.3. 62
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ein gut Stück Schauspielerei und Selbstbetrügerei […])« interpretiert wurde, in dem Sinne, dass sie weder die früher existierende »starke Natur« noch »die große Leidenschaft« ohne die für die Romantik typische Verlogenheit zum Ausdruck bringen konnte (ebd.). In diesem Kontext schienen zwei weitere Figuren des 19 Jahrhunderts für Nietzsche von besonderem Interesse zu sein: Hegel und Schopenhauer. Anhand dieser beiden exemplarischen Figuren stellte Nietzsche zwei unterschiedliche Varianten des Fatalismus im 19. Jahrhundert heraus. Nietzsche argumentierte, dass Hegels »Erfolg gegen die ›Empfindsamkeit‹ und den romantischen Idealismus […] im Fatalistischen seiner Denkweise, in seinem Glauben an die größere Vernunft auf Seiten des Siegreichen, in seiner Rechtfertigung des wirklichen ›Staates‹« (S. 442) liege. Wohlgemerkt ist diese hegelsche fatalistische Denkweise, so Nietzsche, »von der Goetheschen nicht sehr entfernt.« (S. 443) Nietzsche schrieb weiter: »man höre Goethe über Spinoza.« (ebd.) Im Anschluss verglich Nietzsche Hegels Vernunftphilosophie mit Goethes »Glauben« (ebd.) an die Totalität, wobei beide Positionen eine gemeinsame spinozistische Voraussetzung beinhalten; sie lässt sich als der »Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens« (ebd.) definieren. Diese Denkweise hat eine praktische Konsequenz, die nach Nietzsches Beschreibung »Ruhe und Glück […] in seinem Anschauen und Ergründen« (ebd.) ermöglicht. Während Hegels Fatalismus nach dieser Auffassung darin besteht, »überall […] Vernunft« (ebd.) zu sehen, ist der Goethes »eine Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus, der nicht revoltirt, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, ein Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.« (ebd.). Nietzsches Beschreibung von Goethes »fast freudige[m] und vertrauende[m] Fatalismus« (ebd.) bringt uns also zurück zu 1872, als Nietzsche »die Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion (alias Philosophie)« Spinozas und ihre »beruhigende« Wirkung als den Kern von Goethes Spinoza-Bild gekennzeichnet hatte. 64 Im Fall Schopenhauer erscheint der Fatalismus in einer anderen Gestalt als bei Hegel und Goethe. Schopenhauers Erfolg beweist den Sieg des Determinismus, in dem der Wille auf »Reflexbewegungen« 65 reduziert wurde und keinen weiteren Sinn für die menschliche Freiheit hatte. Bei Schopenhauer beobachtete Nietzsche eine pessimistische Version des Fatalismus, die als logische Konsequenz des sich verbreitenden Determinismus gelten soll. Diese Art von Fatalismus lässt sich als pessimistischer Fatalismus bezeichnen, wobei 64 65
NL 19[47], Ende 1872, KSA 7, S. 434. NL 9[178], Herbst 1887, KSA 12, S. 442.
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der Mensch aufgrund des unabänderlichen Schicksals als vorbestimmt und unfrei verstanden wird. 66 Im Fall Goethe begegnete Nietzsche einer »freudige[n] und vertraudende [n]« (S. 443) Art des Fatalismus, der nicht nur die resignativen Züge, sondern auch eine stark affirmative Charakteristik aufweist. Mit anderen Worten: Diese Variante kann eine bejahende ›Trotzhaltung‹ zum Leben beibehalten. Es handelt sich um eine positive Lebensperspektive, die trotz des Leidens und der Hindernisse im Leben, die die Konflikte verursachen, einen starken Lebensmut aufbringen kann. Hier wird das Schicksal anders definiert. Nicht die Begrenztheit und die Vergeblichkeit der menschlichen Handlung wie bei Schopenhauer wird betont, sondern der unvergleichbare Wert der Gegebenheit für ein einmaliges und einzigartiges menschliches Dasein wird unterstrichen. Diese Gegebenheit umfasst natürlich nicht nur die äußere Umgebung und das überindividuelle Zeitalter eines Menschen. Vielmehr schließt sie alle Faktoren des inneren und des sozialen Lebens eines Menschen ein. In diesem Sinne bedeutet die Einmaligkeit der Umgebung zugleich die Einmaligkeit eines Menschen. Sein derzeitiges Dasein wird zu seinem unausweichlichen Schicksal. Einen derartigen Fatalismus kann man in Abgrenzung von jenem resignativen Fatalismus wohl als den bejahenden Fatalismus bezeichnen. Goethe hatte bereits in Dichtung und Wahrheit fatalistische Merkmale und ihre positiven Konsequenzen in Spinozas Philosophie hervorgehoben. Dort schrieb er, dass nur übermenschliche Figuren wie Spinoza »sich [zunächst] ein für allemal im ganzen resignieren« 67 können, »um allen partiellen Resignationen auszuweichen.« (ebd.) Spinozas scheinbar resignative Haltung ist in diesem Sinne nur von einer vorläufigen oder gar methodischen Natur, da sie allein zur Bestätigung der unabänderlichen Definition – Deus sive natura – dienen soll. Diese Definition bzw. das Grundprinzip erzeugt den beruhigenden, lebensbejahenden Effekt, den Nietzsche mit dem Ausdruck des »freudige [n] und vertraudende[n]« (NL 9[178]) Fatalismus begriff. Der Kern des freudigen, bejahenden Fatalismus bei Goethe besteht Nietzsche zufolge in seinem Anspruch der Totalität, den Nietzsche mit Goethes Spinoza-Rezeption assoziierte. Am Ende desselben Zitates über die Bewertung der drei Jahrhunderte definierte Nietzsche zunächst Goethes Anspruch auf die Totalität näher 68: »[Goethe] will Totalität, er bekämpft das Auseinander von Das Verhältnis zwischen Nietzsches Spinoza-Rezeption und dem Fatalismus Schopenhauers, dessen Interesse an Spinoza auch eine Rolle bei Nietzsche spielen wird, wird im nächsten Kapitel im Hinblick auf Schopenhauers Kritik an Spinoza und Nietzsches Schopenhauer-Lektüre näher erörtert. 67 Goethe, Dichtung und Wahrheit, Sechzehntes Buch, S. 730. 68 Vgl. Wurzer (1975), S. 115 f. 66
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Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille, er disciplinirt sich, er bildet sich […].« 69 Ein derartiger Totalitätsanspruch fordert kein Gegeneinander, sondern fördert ein Miteinander, eine Harmonie zwischen den verschiedenen Vermögen und Institutionen des Menschen, die ohne diesen Totalitätsanspruch nur dazu tendieren, Konflikte auszulösen und zu verbreiten. 70 Dieser Anspruch an die Totalität trennt Goethes Fatalismus von der pessimistischen Variante Schopenhauers ab. Um sie zu beanspruchen, habe Goethe, wohlgemerkt, nicht nur »die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike« (ebd.), sondern auch »insgleichen Spinoza« »zu Hülfe« (ebd.) genommen. Nietzsches Intuition über jenen »beruhigende[n] Eindruck« 71 Spinozas in seinem ersten Kommentar zu Goethes Spinoza-Bild 1872 findet seine Bestätigung 1887, also nach fünfzehn Jahren, in kristallisierter Form. 72 Nietzsche zeigte nicht nur ein eigenes Spinozaverständnis, in dem Spinozas bejahendes Merkmal noch stärker als in Goethes Lesart nuanciert wurde. Spinoza wurde darüber hinaus als der »höchste […] Realist […]« 73 bezeichnet. 74 Goethe sah Nietzsche zufolge in Spinoza einen Realisten, der ein alternatives Vorbild darstellte, insbesondere im Vergleich zu seinen Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts, die von jener »Herrschaft des Gefühls« (ebd.) sowie der »Souverainetät der Sinne« (ebd.) geprägt waren. 75 Zwar hat Nietzsche bei der vorangegangenen Überlegung nur Descartes als die exemplarische Figur des 17. Jahrhunderts genannt, die das Zeitalter der »Herrschaft von Vernunft« (ebd.) und der »Souverainetät des Willens« (ebd.) repräsentiert. Dennoch scheint es plausibel anzunehmen, dass Nietzsche auch in Spinoza diesen ZeitNL 9[178], KSA 12, S. 443; vgl. GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 49, KSA 6, S. 151–152. Diese zerstörische Tendenz ist von Nietzsches Plädoyer für die Agonalität zu unterscheiden, das aufgrund seines Totalitätsanspruchs die Anderen im Wettkampf nicht zerstören will, sondern einen noch produktiveren und konkurrenzwürdigeren Kampf befördert. Siehe Abschnitt 3.1.3. 71 NL 19[47], Ende 1872, KSA 7, S. 434. 72 An dieser Stelle ist Friedrich Albert Langes Zusammenfassung von Spinozas Philosophie von besonderem Interesse, dessen Werk Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1865) Nietzsche bereits im Jahre 1866 gelesen hat. Dort fasst Lange einen der beiden Hauptpunkte von Spinozas Philosophie folgendermaßen zusammen: »b. Die Totalität der Weltanschauung wird nicht mehr ins Jenseits gerückt, sondern als ›das allerreellste tätige Eins offenbart sie sich in der inneren Seite desselben großen Ganzen, welches unsern Sinnen als die Naturerscheint.‹« Vgl. Wurzer (1975), S. 16. 73 NL 9[178], Herbst 1887, KSA 12, S. 443: »er [Goethe] nimmt die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike zu Hülfe, insgleichen Spinoza (als höchsten Realisten)«. Vgl. Abschnitt 5.4.2. und Scandella (2014), S. 175. 74 In Dichtung und Wahrheit bezeichnet Goethe sich selbst als einen Realisten. Vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Vierzehntes Buch, S. 664. 75 Siehe Abs. 5.4. 69 70
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geist des 17. Jahrhunderts gesehen hat, wenn er ihn als den »höchsten Realisten« (ebd.) bezeichnete – direkt nach seiner Diskussion über Goethes Ausnahmecharakter. Denn ein Realist benötigt einen starken Willen für seinen redlichen Umgang mit den vorhandenen Gegensätzen in der Wirklichkeit, und ohne diese Redlichkeit gerät ein Denken oft zur selbst- und welttäuschenden Aussage, die nur jene »Herrschaft des Gefühls« (ebd.) perpetuieren kann. 76 Mit anderen Worten: Der theoretische Totalitätsanspruch wurde bei Spinoza und Goethe deshalb erhoben, weil ihre Theorie diese Gegensätze in einer Ganzheit zu erklären vermochten. Aufgrund dieser realistischen Züge konnten sowohl Goethe als auch Spinoza ihrem Anspruch auf Totalität treu bleiben. Goethe hat seinen bejahenden Fatalismus fortsetzen können, ohne dabei über sein eigenes Zeitalter, das 18. Jahrhundert, aufgrund seiner »Gefühlsamkeit, […] Naturschwärmerei, [des] Unhistorische[n], [des] Idealistische[n], [des] Unpraktische[n] und Unreale[n] des Revolutionären« (NL 9[178]) hinwegzuschauen. Ein Totalitätsanspruch kommt nur zur Geltung, wenn die Ganzheit des Lebens dabei berücksichtigt wird, ohne ungünstige Elemente der Wirklichkeit zugunsten einer idealisierten Theorie zu ignorieren. Bei dieser Betrachtung versuchte Nietzsche nicht nur den denkgeschichtlichen Kontext seines eigenen Jahrhunderts, sondern auch seines eigenen Denkens zu beleuchten. Es handelt sich einerseits um eine denkgeschichtliche Selbstorientierung Nietzsches, in der die Überlegung zum Fatalismus im Zentrum steht, die mit der Nihilismusthematik und dem Gedanken amor fati in der späteren Schaffensphase eng zusammenhängt. Dank dieser Selbstorientierung lässt sich andererseits feststellen, wie er den Kontext seiner SpinozaRezeption wahrgenommen hat. Nietzsches Überlegung zum Fatalismus weist vor allem auf seine inhaltliche Vertrautheit mit der damaligen Spinoza-Deutung unter dem Einfluss der Fatalismusdebatte des vorangegangenen Jahrhunderts hin. Nietzsche konnte sein anfängliches Spinoza-Bild, das vor allem durch seine Goethelektüre entstanden ist, durch Vergleiche mit anderen Quellen denkgeschichtlich und kritisch kontextualisieren, etwa mit Schopenhauer und Fischer. 77 Nietzsche suchte in allen Schaffensphasen seine eigene Antwort zur Fatalismusdebatte. Bereits in Nietzsches Jugendschriften Fatum und Geschichte sowie Willensfreiheit und Fatum stand seine Überlegung zum Verhältnis zwischen Schicksal und freiem Willen sowie Determinismus und freiem Handeln
76 77
Vgl. M 190; auch vgl. Steigmaier 2012, S. 372–373. Siehe Kap. 4. und 5.
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des Menschen im Mittelpunkt. 78 Es sei angemerkt, dass das Thema des Fatalismus in den europäischen Diskurs des 18. Jahrhunderts zum Teil mit der sogenannten Spinoza-Renaissance eingeführt wurde. Vor allem hatte Jacobi das Thema durch seine Kritik in die Spinoza-Rezeption eingebettet. 79 Dies führte dazu, dass auch Goethes Spinoza-Rezeption in diesem denkgeschichtlichen Rahmen stattfand. Auch Schopenhauer und Kuno Fischer waren Schlüsselfiguren, die Nietzsche diesen denkgeschichtlichen Kontext der Spinoza-Rezeption aufgezeigt haben. An einer Stelle in WWV kommentierte Schopenhauer Jacobis Vorwurf zum fatalistischen Charakter Spinozas, die nicht nur an Spinozas Denken, sondern auch Nietzsches amor fati erinnert: »Die, welche, in neuester Zeit, sich zum aufgekommenen Neo-Spinozismus nicht bekennen wollten, wurden wie z. B. Jacobi, hauptsächlich durch das Schreckbild des Fatalismus davon zurückgescheucht. Unter diesem nämlich ist jede Lehre zu verstehen, welche das Dasein der Welt, nebst der kritischen Lage des Menschengeschlechts in ihr, auf irgendeine absolute, d. h. nicht weiter erklärbare Notwendigkeit zurückführt.« 80
Zudem ist Fischers Kommentar zu weiteren Spinozainterpreten erwähnenswert, den Nietzsche zur Kenntnis nahm. Fischer resümiert nicht nur Jacobis Spinoza-Deutung 81, sondern auch die von Johann Georg Hamann (Fischer, S. 588), Mendelssohn (S. 563), Trendelenburg (S. 564) und Schopenhauer (S. 212 f.; siehe Abs. 4.2.1). Nach Fischers Auffassung habe Jacobi Spinozas Denken als den atheistischen 82 Fatalismus 83 kritisiert, der in der anschließenden Spinoza-Rezeption in Europa zum festen Spinoza-Bild wurde:
Vgl. Feter S. Gral, ›Amor fati‹ in Niemeyer, S. 22–23. Vgl. Walther (Hg.) (1992). 80 Schopenhauer, WWV, II, 50, S. 828–829. 81 Fischer (1865), S. 558 f.: »2. Mystische und sensualistische Antithese. Hamann, Jacobi, Feuerbach«; S. 559: »Weil das System Spinoza’s durchgängig rational und demonstrativ ist, weil es sich zu Allem nur begreifend verhält, darum ist es nothwendig atheistisch und fatalistisch: so urtheilte damals Jacobi.« 82 Vgl. Jacobi (1785), S. 118: »Spinozismus ist Atheismus.«; auch vgl. a. a. O., S. 37 f. und S. 221 f. 83 Vgl. Jacobi, a. a. O., S. 23–24: »Ich. [= Jacobi; J. Y.] Sie überraschten mich, und ich mag wohl rot und bleich geworden sein, denn ich fühlte meine Verwirrung. Schrecken war es nicht. Freilich hatte ich nichts weniger vermutet, als an Ihnen einen Spinozisten oder Pantheisten zu finden. Und sie sagten mir so platt heraus. Ich war großen Teils gekommen, um von Ihnen Hülfe gegen den Spinoza zu erhalten. Lessing. Also kennen Sie ihn [= Spinoza; J. Y.] doch? Ich. Ich glaube so gut als ihn äußerst wenige gekannt haben. Lessing. Dann ist Ihnen nicht zu helfen. Werden Sie lieber ganz sein Freund. Es gibt keine andre Philosophie, 78 79
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»Nach Jacobi ist alles Denken und Begreifen ein fortwährendes Ableiten und Bedingen; alles Gedachte und Begriffene ist darum ein Bedingtes und Abgeleitetes. Darum kann das Denken vermöge seiner Natur das Unbedingte und Ursprüngliche nie fassen, sondern folgerichtigerweise nur verneinen. […] Gott ist unbedingt, die Freiheit ist ursprünglich. […] Darum giebt es keine rationale Erkenntniß Gottes und Freiheit. […] Die Verneinung Gottes ist atheistisch. Die Verneinung der Freiheit ist fatalistisch.« 84
Nietzsches Spinoza-Rezeption fand von Beginn an im diskursiven Rahmen der Spinoza-Rezeption in Deutschland (und in Europa) statt. In dieser Hinsicht scheint die bisherige Fragestellung der Forschung, ob Nietzsche Spinoza direkt gelesen oder nur über ›Sekundärliteratur‹ rezipiert hat, von zweitrangiger Bedeutung. Abgesehen von der philologischen Bedeutsamkeit dieser Fragestellung bietet der Vermittlungscharakter dieser Rezeption einen Schlüssel, Nietzsches komplexes Verhältnis zu Spinoza zu entziffern. Einerseits weisen Schopenhauers und Fischers Kommentare zu Jacobis Spinoza-Kritik darauf hin, dass Nietzsche um den denkgeschichtlichen Kontext der Spinoza-Rezeption gewusst hat. Andererseits impliziert Nietzsches Überlegung zu dem bejahenden Fatalismus bei Goethe und Spinoza, dass er sich von Jacobis Definition des Fatalismus grundlegend abwenden will, um die radikale Konzipierung der Schicksalsliebe (amor fati) und die Wiederbewertung des nihilistischen Gedankens der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu ermöglichen. 85 Zudem bedeutet dies, dass Nietzsche nicht nur die für ihn positiv erscheinenden Aspekte der Philosophie Spinozas reflektiert hat, sondern auch deren möglichweise problematische Konsequenzen. So zeigt eine Stelle vom Herbst 1881 86 diesen komplizierten Aspekt von Nietzsches Spinoza-Rezeption. Die auf den ersten Blick nur positive Bemerkung über Spinoza und Goethe unter anderen ›Blutverwandten‹ bringt die kritische Schärfe Nietzsches ans Licht, dass gerade die Verwandtschaft eine strengere Kritik an diesen Denkern erlaubt. In diesem Sinne muss noch darauf eingegangen werden, inwieweit bei Nietzsche ein kritischer Vorbehalt zum spinozistischen fatalistischen Denken bestand.
als die Philosophie des Spinoza. Ich. Das mag wahr sein. Denn der Determinist, wenn er bündig sein will, muss zum Fatalisten werden: […]«; auch vgl. a. a. O., S. 30 f. 84 Fischer (1865), S. 559. 85 Vgl. NL 25[214], ›Meine Vollendung des Fatalismus‹, Frühjahr 1884, KSA 11, S. 70. Siehe Abschnitt 3.4 hinsichtlich des dionysischen Eros als ein Komponent des Totalitätsanspruchs. Auch siehe Kap. 4, 5 und 6. hinsichtlich der Bedeutung der Zufälligkeit-, Leidens- und Einsamkeitsthematik. 86 NL 12[52], Herbst 1881, KSA 9, S. 585. Vgl. Abs. 3.2.
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3.3.4 Die dionysische Triade: Eros, Leiden und Geburt
In seiner späteren Schaffensphase richtet sich Nietzsches Kritik an Goethe und Spinoza gegen den Mangel an dionysischem Eros in deren Denken. Nietzsches Versuch, sich von einem spinozistischen Denkschema abzugrenzen, war auch in seiner früheren und mittleren Schaffensphase schon bemerkbar, auch wenn dies keine vollständige Widerlegung seiner positiven Bewertung von einigen seiner Elemente bedeutete. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Nietzsche Anfang der 1870er Jahre zu Goethe seinen ersten Vorbehalt geäußert hat. Es war Spinozas harmonische Weltauffassung, die seine spannungsreiche Positionierung zu ›Goethes Spinoza‹ von Anfang an vorangetrieben hat. Spinozas mathematische oder geometrische Methode war nicht das primäre Problem für Nietzsche, auch wenn es allem Anschein nach zunächst danach aussieht. Sie wurde erst dann problematisch, als sie als ein Ausdruck dieser Harmonieannahme oder als ›Grundinstinkt eines Logikers‹ gekennzeichnet wurde. 87 Dafür spricht z. B. Nietzsches Hochschätzung der ›von Leidenschaften freien‹, souveränen Denkweise bei Spinoza und Goethe zwischen 1881 und 1882 in FW und M. Dort hatten genau das »reine […] Sehen« (M, V, 497) und der »an den Charakter und das Temperament nur lose angeknüpft[e]« (ebd.) Charakter bei Spinoza (und zum Teil auch Goethe) Nietzsches große Anerkennung verdient. Wo ein derartig freies Denken jedoch in einer festen Weltauffassung der Eintracht zu verharren scheint, tritt sofort Nietzsches Distanzierung ein. Die kritische Schärfe bei Nietzsche wird noch einmal deutlich, wenn er das Dionysische, oder noch genauer: das Element der ›Geschlechtlichkeit‹ und des ›Erotischen‹, thematisiert und deren Mangel bei Goethe und Spinoza bemängelt. In GD (1889) begann Nietzsche mit seiner Kritik an Goethe, indem er behauptet, dass »Goethe die Griechen nicht […] verstand«. 88 Der Grund liege darin, dass er »dionysischen Mysterien« (ebd.) zu wenig Achtung geschenkt habe, in welchen »die Grundthatsache des hellenischen Instinkts – sein ›Wille zum Leben‹« (ebd.) zum Ausdruck käme. In dionysischen Mysterien sei die hellenische Idee der Lebensbejahung – »das triumphirende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus« (ebd.) – am prägnantesten kristallisiert. Wie meinte Nietzsche dies genau? Nietzsche interpretierte das Dionysische als das Symbol des spielerischen und produktiven Umgangs mit dem Leiden des Menschen. In GD werden drei Stadien des Leidens dargelegt: die Geschlechtlichkeit (Eros), die Schwanger87 88
Siehe Abs. 6.2.3. GD, Was ich den Alten verdanke 4, KSA 6, S. 159.
Die Leiden des jungen Philosophen
schaft und schließlich die (Wieder-)Geburt. Diese drei voneinander untrennbaren, übergangslosen Stadien machen gemeinsam den ganzen Zeugungsprozess aus. Dieser Prozess hat in dionysischen Mysterien seinen Höhepunkt erreicht: Hier kam die hellenische Version des Willens zum Leben am prägnantesten zum Ausdruck. Die Produktivität des Schaffens bei der Zeugung ist nichts anderes als die Grundbedingung der Existenz und des Fortbestehens des Lebens. In diesem Sinne sieht Nietzsche in der Schwangerschaft und in der Geburt das Symbol der menschlichen Produktivität. Diese Produktivität der – immer vom Leiden der Wehen begleiteten – Zeugung 89 kann letztlich nur aus der Geschlechtlichkeit resultieren, die den erotisch-spielerischen Aspekt des Dionysischen zum Ausdruck bringt. In Nietzsches Worten wird »das wahre Leben als das Gesammt-Fortleben« (ebd.) allein »durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit« (ebd.) ermöglicht. Diese hellenische Perspektive zum Leben schien Nietzsche noch wichtiger, da diese Einsicht im modernen Europa nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit galt. Beispielsweise impliziert dieses antike Symbol den positiven Umgang eines konfliktfähigen Menschen mit dem Leiden des Daseins, wenn es an die Assoziation der »Wehen« (ebd.) und die »Qual der Gebärerin« (ebd.) erinnert. »Alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende« (ebd.) muss unbedingt mit Schmerz und Leiden einhergehen. Dagegen ist der spätere Verlauf der europäischen Kulturgeschichte oft von der Tendenz geprägt, das Leiden als etwas Negatives darzustellen und jeglichen Schmerz vermeiden zu wollen. Darüber hinaus warf Nietzsche der anderen Tendenz des jüngsten Zeitalters kulturkritisch vor, jeder Lust folgen zu wollen, auch wenn dies zur Verweichlichung der Menschen führt. Diese parallele Tendenz, die körperliche Lust und Leidenschaft zugunsten der idealisierten Geistigkeit zu unterdrücken, hängt mit der kultur-gesellschaftlichen Geringschätzung des Leidens zusammen und führte zum asketischen Ideal, das den Fluch der »Sinnlosigkeit des Leidens« 90 zu heilen versprach. Bei diesem Versuch wird jedoch der andere Aspekt des Dionysischen, die spielerische Lebensbejahung, außer Acht gelassen. Nietzsche kritisierte, die Geschlechtlichkeit mit deren »Psychologie des Orgiasmus« (S. 160) sowie das damit entstandene »überströmende (…) Lebensund Kraftgefühl (…)« (ebd.) werde unter der Dominanz des christlichen Denkens zu »etwas Unreine[m]« (ebd.) herabgestuft. Daher wollte er die Geschlechtlichkeit, die das am stärksten denunzierten Stadium der Zeugung war, für die Totalität der menschlichen Natur rehabilitieren, ohne agonale Elemente 89 90
Vgl. Loock (2002), S. 287, Anm. 40. GM, III, KSA 5, S. 141.
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des dionysischen Chaos zu entschärfen. Dass auch »der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit« (ebd.) gerade in dieser reinen Geschlechtlichkeit besteht, unterscheidet sein Kulturverständnis vom christlichen Frömmigkeitsideal. In dionysischen Mysterien beobachtet Nietzsche das Spielerische der Geschlechtlichkeit, die Heiligkeit des Leidens und die Produktivität der Geburt – also die dionysische Triade, die nicht nur die Ganzheit der Zeugung repräsentiert, sondern auch die Totalität des Lebens ermöglicht. Diese Totalität resümierte er unter dem Begriff des Dionysischen: »Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien. In ihr ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, – der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg« 91
Nietzsche hatte keinen Zweifel daran, dass Goethe auch zu den starken, konfliktfähigen Menschen zählt, die mit den Schmerzen und dem Leiden des Lebens mutig umgehen und daraus eine noch höhere Stufe der Selbstverwirklichung erreichen können. Dennoch konnte Goethe Nietzsche zufolge die wesentliche Eigenschaft der hellenischen Lebensbejahung nicht hinreichend verstehen, da er die Geschlechtlichkeit als das Wesen der dionysischen Mysterien nicht erkannt hat. 92 Zumindest in dieser Hinsicht war Goethe für Nietzsche nicht hinreichend ›heidnisch‹ 93, obwohl Nietzsche ihn an anderen Stellen im Hinblick auf seinen Totalitätsanspruch sogar als dionysisch bezeichnet hat. 94 Nietzsches noch deutlichere Abgrenzung findet in seiner letzten Schaffensphase zwischen seinem heidnischen Ideal und dem ›anämischen‹ Ideal Spinozas statt. 95 GD, Was ich den Alten verdanke 4, KSA 6, S. 159–160. A. a. O., S. 159: »Ganz anders berührt es uns, wenn wir den Begriff ›griechisch‹ prüfen, den Winckelmann und Goethe sich gebildet haben, und ihn unverträglich mit jenem Elemente finden, aus dem die dionysische Kunst wächst, – mit dem Orgiasmus. Ich zweifle in der That nicht daran, dass Goethe etwas Derartiges grundsätzlich aus den Möglichkeiten der griechieschen Seele ausgeschlossen hätte.« Es sei jedoch angemerkt, dass Goethe das Erotische zumindest in seinem post mortem veröffentlichten Gedicht Das Tagebuch (1810, Erstdruck 1861: 29 Jahre nach seinem Tod), anderen privaten Arbeiten und Sammlungen als ein wichtiges Thema behandelt hat. Vgl. Goethe, I. Abteilung. Band 2. Gedichte 1800–1832, S. 843 f. 93 Vgl. Stegmaier (2012), S. 373. 94 Vgl. insbesondere GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 49, KSA 6, S. 152. Zu Nietzsches allgemeinerem Verhältnis zu Goethe siehe Zittel, ›Goethe‹ in Ottmann (2000), S. 385–386 und auch Seggern, ›Goethe, Johann Wolfgang von‹, Niemeyer, S. 133. 95 Vgl. NL 11[138], November 1887 – März 1888, KSA 13, S. 63–64, wo Nietzsche Goethes 91 92
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In dieser Hinsicht verdient Nietzsches spätere Spinoza-Kritik in GD eine eingehendere Beobachtung. In den Streifzügen eines Unzeitgemässen in GD verglich Nietzsche Platon und Spinoza angesichts ihres unterschiedlichen Verhältnisses zum Erotischen. 96 ›Das Erotische‹ 97 entspricht in diesem Vergleich dem bislang erwogenen Terminus ›der Geschlechtlichkeit‹, wie Nietzsche im selben Abschnitt paraphrasierte. 98 Einen indirekten Anlass für diese kritische Bemerkung scheint Spinoza selbst gegeben zu haben, indem er das Wort »Liebe« bei seiner bekannten Formel der ›intellektuellen Liebe Gottes‹ (amor dei intelletualis) verwendet hatte. Dabei beobachtete Nietzsche jedoch einen grundlegenden Unterschied im Hinblick auf das Erotische zwischen Platons Denken und der »Begriffs-Spinneweberei eines Einsiedlers« 99 »nach der Art des Spinoza« (ebd.). Im Falle Platons 100 bildete das philosophische Denken keinen Gegensatz zum Erotischen. Bei diesem altgriechischen Denker war die Philosophie mit dem »erotischen Taumel« (ebd.) glücklich und »unschuld [ig]« (ebd.) vereint, ohne jeglichen Widerspruch zu veranlassen. Eine derartige Vereinigung des Denkens und des Erotischen wurde somit die Quelle »der alten agonalen Gymnastik« (ebd.), die »eine neue Kunstform des griechischen Agon« hervorbrachte, »die Dialektik« (Ebd.) – das Denken des verinnerlichten Wettkampfparadigmas der These, Antithese und Synthese. Im Gegensatz zu Platon wurde Spinoza von Nietzsche in eine ganz andere Denktradition des Christentums gestellt. In Nietzsches Darstellung scheint Spinoza die Liebe ›intellektualisiert‹ und ihre Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit eliminiert zu haben, was auch an Nietzsches Darstellung von Spinoza als einen ›Patienten mit Blutarmut‹ erinnert. Die mangelnde Beachtung der Geschlechtlichkeit bzw. des Erotischen bei beiden Denkern ist für Nietzsche besonders deshalb problematisch, weil sie zur Unproduktivität des Menschen und der Kultur führen kann. 101 Hochschätzung von Spinoza darin sieht, dass er dessen ›anämische[s] Ideal‹ noch mit dem ›heidnischen Ideal‹ hätte verbinden können. Siehe Abschnitt 6.1. 96 Vgl. GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 23, KSA 6, S. 126. 97 Vgl. den Artikel ›Eros‹, von Johannes Overthür: »Im Hinblick auf den E[ros] ist vor allem das Dionysische wichtig. In ihm ist derjenige Drang namhaft gemacht, der das Individuum nach Überwindung seiner Individualität, nach Einswerden mit dem Anderen drängen lässt.«, Niemeyer, S. 88. 98 »Ich erinnere noch, gegen Schopenhauer und zu Ehren Plato’s, daran, dass auch die ganze höhere Cultur und Litteratur des klassischen Frankreichs auf dem Boden des geschlechtlichen Interesses aufgewachsen ist«, GD, ebd. 99 Ebd. 100 Zu Nietzsches vielschichtigem Verhältnis zum Platonismus und zu Spinoza siehe Wiehl 1998, insbesondere S. 141 f. 101 Nietzsches Verweis auf die produktiven Auswirkungen des Erotischen auf die klassi-
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Der Anspruch auf die Totalität bei Goethe und Spinoza an sich wurde von Nietzsche überwiegend positiv bewertet. 102 Ihre unzureichende Berücksichtigung der Produktivität der unversöhnlichen Konflikte sowie des spielerischen Umgangs mit dem Leiden veranlasste seine Abgrenzung von ihnen. 103 Auch wenn sich Nietzsches Kritik gegen die mangelnde Betrachtung des dionysischen Eros bei beiden Vorgängern richtet, lag ein weiterer Grund dieser Kritik in seinem eigenen Konzept der Agonaliät, deren Vorbild er im altgriechischen (Liebes-)Wettkampf fand. Nietzsches Behauptung, dass Goethe die Bedeutung des Dionysischen bei den alten Griechen nicht verstanden habe, ist zwar nicht unstrittig und braucht eine gezielte Erforschung; für uns ist sie jedoch zunächst als ein weiterer Hinweis auf die Frage zu verstehen, in welchem Kontext Nietzsche meinte, die Begrenztheit von Goethe und Spinoza erkannt zu haben. Das Dionysische, das bei Nietzsche als der Schlüssel zum hellenischen »Wille[n] zum Leben« (KSA 6, GD, 159–160) galt, sollte im selben Sinne den Ursprung ihrer verborgenen Überzeugung von »[dem] ewigen Leben, [der] ewigen Wiederkehr des Lebens« (ebd.) erhellen und ihr »triumphirende[s] Ja zum Leben über Tod und Wandel« (ebd.) bestätigen können. Diese antike Perspektive wird bei Nietzsche durch seine Konzepte der ewigen Wiederkunft des Gleichen und der Schicksalsliebe (›amor fati‹) rekapituliert. (siehe Kap. 6). Zwar erkannt Nietzsche auch bei Goethe und Goethes Spinoza eine Variante der Lebensbejahung, die er dem bejahenden Fatalismus zugeordnet hat. Nietzsche plante jedoch bereits im Frühjahr 1884, angesichts des Fatalismusdenkens eine differenzierte, ›fortgeschrittene‹ Stellung einzunehmen, und schrieb in einer Notiz: »Meine Vollendung des Fatalismus: / 1) durch die ewige Wiederkunft und Präexistenz / 2) durch die Elimination des Begriffs ›Wille‹.« 104, 105 sche französische Kultur zeigt ähnliche Argumente: »Ich erinnere noch, gegen Schopenhauer und zu Ehren Plato’s, daran, dass auch die ganze höhere Cultur und Litteratur des klassischen Frankreichs auf dem Boden des geschlechtlichen Interesses aufgewachsen ist. Man darf überall bei ihr die Galanterie, die Sinne, den Geschlechts-Wettbewerb, das »Weib« suchen, – man wird nie umsonst suchen …«, GD, ebd. 102 So bewertet Nietzsche die Totalität hoch, die beim antiken Musikdrama bestens zum Ausdruck gebracht wurde, z. B. in GMD, KSA 1, S. 531: »Gebundenheit und doch Anmuth, Mannichfaltigkeit und doch Einheit, viele Künste in höchster Thätigkeit und doch ein Kunstwerk – das ist das antike Musikdrama«. 103 In Nietzsches Totalismus kritisiert Gebhard (1983), dass Nietzsches primär kritische Stellungnahme zum Totalitätsanspruch oder dem Totalismus jedoch von seinen verborgenen totalitäristischen Argumenten untergraben worden sei. Vgl. Gebhard 1983. 104 NL 25[214], ›Meine Vollendung des Fatalismus‹, Frühjahr 1884, KSA 11, S. 70. 105 Spricht Nietzsche hier nur vom freien Willen und dessen Elimination, solange der Begriff des freien Willens wegen seiner irreführenden Begriffsgeschichte und seines Wort-
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Das geschah bereits drei Jahre vor seiner Reflektion über die letzten Jahrhunderte (NL 9 [177] und 9 [178]). Er wollte dabei nicht nur ein neues Konzept der ewigen Wiederkunft präsentieren, sondern auch das komplette Denkschema der gängigen Fatalismusdebatte umgestalten und den Begriff ›Wille‹ philosophisch neu definieren. Somit kommen wir zur nächsten Schlüsselfigur, die im vierten Kapitel in den Vordergrund gerückt wird: Arthur Schopenhauer. 106 Nietzsche betrachtete das bisherige historische Verständnis des Fatalismus als unvollkommen. Nicht nur der mangelnde dionysische Eros des bejahenden Fatalismus bei Goethe und Spinoza war für ihn problematisch. Als grundlegenden und fatalen Fehler sah er vor allem die damalige Dichotomie zwischen Pessimismus und Optimismus im philosophischen und kulturkritischen Sinne, weil sie die Reflektion über die Bedeutung des Fatalismus im Vorfeld verhindert. Die anschließende Diskussion wird zeigen, dass eine neue Definition des Fatalismus im Sinne einer Schicksalsliebe gedacht werden kann. Dadurch wird die Konstruktion der Dichotomie des Optimismus und Pessimismus als nicht mehr vertretbar entlarvt. Nietzsches Kritik wird dabei erhellen, welche gesellschaftliche und politische Kultur bzw. kulturelle Struktur mit einem solchen Denkschema zusammenhängt. Die Konfliktfähigkeit der Individuen hängt eng mit der entsprechenden gesellschaftlichen (Streit-)Kultur zusammen, wie ich im nächsten Kapitel weiter erörtere.
gebrauchs die Wirklichkeit des tatsächlich existierenden Willens nicht korrekt darstellen kann? Oder geht er einen weit radikaleren Weg des Naturalismus oder des Physikalismus, dem folgend er keinen realen Wert bei dem spekulativen Begriff ›Wille‹ mehr sieht, da er tatsächlich keine Existenz des Willens beim Menschen anerkennt? Um diese Frage zu beantworten, ist eine nähere Betrachtung dessen notwendig, was Nietzsche mit jener ›Vernatürlichung des Menschen und Entmenschlichung der Natur‹ gemeint hat. Siehe Kap. 2 und Abschnitt 4.2. 106 Vgl. GD, KSA 6, S. 160.
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4. Sensibilität zum Leiden Ästhetische Fähigkeit des Einzelnen und die moderne Konformität »Nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauer’s, als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wagner’s: ich meine die Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. ›Das Alles riecht eher noch nach Spinoza als nach mir‹ – würde vielleicht Schopenhauer sagen.« 1
Hat Schopenhauer Nietzsches Spinoza-Rezeption beeinflusst, und wenn überhaupt, inwieweit? Gibt es philosophische Themen, die nicht nur bei Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer eine Rolle gespielt haben, sondern auch als Leitmotive bei Schopenhauers Spinoza-Rezeption festgestellt werden können? Schopenhauers Bedeutung für Nietzsches Spinoza-Rezeption wird zwar in der Forschung generell angenommen 2, eine inhaltlich kritische und im Kontext der europäischen Spinoza-Rezeption betrachtete Untersuchung ist jedoch immer noch ein Desiderat der Forschung. Bekanntermaßen übte Schopenhauers Denken – wie Goethes Denken – auf Nietzsche einen großen Einfluss aus. Zudem setzte sich Nietzsche nicht nur in seiner früheren 3, sondern auch in der späteren Schaffensphase mit Schopenhauer auseinander. Schließlich hatte Schopenhauer Spinoza in verschiedenen Werken an unterschiedlichen Stellen explizit diskutiert. 4 Dennoch bleibt die Frage unbeantwortet, wie sich Nietzsche zu Schopenhauers Spinoza-Bild verhielt. Daher gilt es, die allgemeine Annahme nochmals zu prüfen und ihre Umstände eingehend zu erhellen, um den genauen Kontext von Nietzsches Spinoza-Bild zu erörtern.
FW, II, 99, KSA 3, S. 455. Vgl. Brobjer (2008), S. 79; auch vgl. a. a. O., S. 157, Anm. 88. 3 Vgl. a. a. O., S. 30. 4 Spinozas Einfluss auf Schopenhauer ist generell anerkannt. Brann schreibt: »We believe to have proved that Schopenhauer not only admires and reveres the sage of Amsterdam, but even considers him in many respects as his predecessor.«, Brann 1972, S. 195; auch vgl. a. a. O., S. 184: »Schopenhauer’s attention to the confusion of reason (ratio) and cause (causa) in Spinoza’s system was first aroused by Schleiermacher at Berlin University and Schopenhauer mentions this fact as early as his dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, where a whole paragraph of the second chapter is devoted to Spinoza.«; vgl. Garrett 1996, S. 423; vgl. Baumgardt (1927), S. 191. 1 2
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Zunächst gilt es zu zeigen, dass Nietzsches Überlegung zu Spinozas Moraltheorie ein Anknüpfungspunkt für die kritische Widerlegung der moralistischen Spinoza-Deutung von Schopenhauer (und Dühring) war (Abs. 4.1). Dieser Aspekt hängt eng mit Nietzsches positiver Bewertung von Spinozas Kritik an der Willensfreiheit zusammen, welche die europaweite Fatalismusdebatte hervorgebracht hatte (Abs. 4.2). Angesichts der Kritik Jacobis und Schopenhauers an Spinozas Philosophie, dieser sehe sowohl über die Leiden des Menschen als auch über »die sittliche Weltordnung« 5 hinweg, gilt es, die anthropologischen und kulturkritischen Dimensionen der europäischen SpinozaRezeption zu erhellen. Nietzsches Kritik am schopenhauerschen Pessimismus (Abs. 4.3) und am theoretischen Optimismus (Abs. 4.4) zeigt seine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Tendenzen, die philosophisch und kulturpolitisch unterschiedlich definierte Denk- und Handlungsparadigmen zum Umgang mit Leiden repräsentieren. Nur durch ein solch artikulierte Darstellung lässt sich Nietzsches komplexe Haltung zu Spinozas eigenständiger Bejahung des Leidens erklären, die er in Anlehnung an den jungen Wagner als »das Siegfriedhafte« (FW, II, 99) bezeichnete (Abs. 4.5). Mit diesem letzten Hinweis wird die Diskussion schließlich zum Schluss des dritten Kapitels zurückkehren: die Überwindung und Entwicklung des Fatalismus bei Nietzsche durch seine Auseinandersetzung mit der europäischen Spinoza-Rezeption.
4.1 Spinozas »(Un)moralische Weltordnung« und die Egoismusdebatte bei Nietzsche und Schopenhauer 4.1.1 Schopenhauers Kritik an Spinozas unmoralischer Weltordnung
Im Aphorismus »Hadesfahrt« 6 nannte Nietzsche nicht nur Goethe und Spinoza, die er als würdige Gegner im philosophischen Wettkampf verstand, sondern auch Schopenhauer. Dessen Konzept des Willens und des philosophischen Pessimismus, der lehrt, das Gebot jenes absoluten Willens (der Welt) zu verneinen, bot Nietzsche eine der einfallreichsten Antithesen für seine philosophische Entwicklung. Nicht nur für Nietzsche, sondern auch für Schopenhauer war Spinozas Widerlegung ›der moralischen Weltordnung‹ eines der brisantesten Themen bei seiner Spinoza-Lektüre. Bei Schopenhauer hat Spinozas Philosophie in dieser KSB 6, Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111. MM, II, 408, KSA 2, S. 533–534. Es erschien zuerst in Vermischte Meinungen und Sprüche (1879). 5 6
Spinozas »(Un)moralische Weltordnung«
Hinsicht eine besondere Gewichtigkeit für die Geschichte der Philosophie seit Kant, sei ihr Einfluss positiv oder negativ. Seiner Diagnose nach hieß es: »Da, in Folge der Kantischen Kritik aller spekulativen Theologie, die Philosophierenden in Deutschland sich fast alle auf den Spinoza zurückwarfen, so daß die ganze unter dem Namen der Nachkantischen Philosophie bekannte Reihe verfehlter Versuche bloß geschmacklos aufgeputzter, in allerlei unverständliche Reden gehüllter und noch sonst verzerrter Spinozismus ist; will ich, nachdem ich das Verhältnis meiner Lehre zum Pantheismus überhaupt dargelegt habe, noch das, in welchem sie zum Spinozismus insbesondere steht, bezeichnen.« 7
Für Schopenhauer und viele andere Denker im 18. und 19. Jahrhundert galt Spinozas Philosophie als das pantheistische Denken, weshalb die Debatte um die Deutung und die Auswirkung von Spinozas Philosophie ›der Pantheismusstreit‹ genannt wurde. 8 Schopenhauer glaubte, es herrschte gegenüber Spinoza vor dem 18. Jahrhundert »über hundert Jahre hindurch« 9 »unverdiente Geringschätzung« (ebd.), was paradoxerweise zur Überschätzung seines Jahrhunderts als »die Reaktion im Pendelschwung der Meinung« (ebd.) geführt habe. Ihm zufolge hatte diese Überschätzung eine sowohl theoretische als auch ethische Auswirkung in Europa zur Folge. In dieser Hinsicht scheint seine Kritik an Spinoza im zweiten Band von WWV (Kap. 47 »Zur Ethik«) besonders relevant, die auf dessen Position zur Moral gerichtet war. Ihm zufolge bestehe »das Problem der Philosophie« 10 »seit Sokrates« (ebd.) darin, »die Kraft, welche das Phänomen der Welt hervorbringt, mithin die Beschaffenheit derselben bestimmt, in Verbindung zu setzen mit der Moralität der Gesinnung und dadurch eine moralische Weltordnung als Grundlage der physischen nachzuweisen« (ebd.). Der Theismus hatte sich mit dieser Frage in der modernen Zeit auseinandergesetzt, aber war über seine »kindische Weise« (S. 755 f.), dieser Aufgabe nachzukommen, gestolpert. Dann kam der Versuch des Pantheismus: Er wies nach, »daß die Natur die Kraft, vermöge welcher sie hervortritt, in sich selbst trägt. Dabei musste nun aber die Ethik verlorengehn.« (S. 756). Ausgehend von dieser ideengeschichtlichen Position bewertete Schopenhauer den Einfluss von Spinozas Philosophie auf die Moraltheorie und die Moralität seiner Zeit: WWV, II, 50, S. 826–827. Stegmaier betrachtet diesen Spinozismus-Streit als »Ursprung einer Philosophie der Orientrierung«. Dazu siehe Steigmaier 2011, S. 207 f. 9 »Überhaupt ist Spinoza, nachdem ihn über hundert Jahre hindurch unverdiente Geringschätzung getroffen hatte, durch die Reaktion im Pendelschwung der Meinung in diesem Jahrhundert wieder überschätzt worden«, a. a. O., S. 756. 10 WWV, II, 47, S. 755. 7 8
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»Spinoza versucht zwar stellenweise sie [= die Ethik; J. Y.] durch Sophismen zu retten, meistens aber gibt er sie geradezu auf und erklärt mit einer Dreistigkeit, die Erstaunen und Unwillen hervorruft, den Unterschied zwischen Recht und Unrecht und überhaupt zwischen Gutem und Bösem für bloß konventionell, also an sich selbst nichtig (z. B. ›Ethika‹ 4, prop. 37, schol. 2).« 11
Im Hinblick auf die Frage, ob die pantheistische Denkart mit der Ethik vereinbar ist, scheint Spinoza, so Schopenhauer, bloß mit einem Scheinbeweis (»Sophismen«) zu versuchen, die unmoralischen Konsequenzen zu vermeiden. Bei Spinoza geht jedoch die Sinnhaftigkeit eines solchen Versuchs verloren, weil der »Unterschied zwischen Recht und Unrecht und überhaupt zwischen Gutem und Bösem« nicht mit moralphilosophischen Argumentationen fundiert, sondern als geschichtliche und kulturelle Konstruktion nur »konventionell« (ebd.) und ›jenseits von Gut und Böse‹ verstanden wird. Bei Spinoza werde also die große Aufgabe der praktischen Philosophie nicht mehr angemessen thematisiert, da er zugunsten der pantheistischen Einheit der ›von Konventionen unabhängig definierten‹ Moralität in seiner Theorie keinen Platz einräume. Mit dieser theoretischen Vernachlässigung werde die Möglichkeit einer sinnvollen Ethik bei Spinoza blockiert – wohl eine Ironie oder sogar ein Missverständnis, wenn man bedenkt, dass dessen Hauptwerk Ethica heißt. Schopenhauer zufolge liege jedenfalls das wichtigste Problem, – mit der pantheistischen Annahme eine Ethik zu konzipieren – darin, dass ein solches Projekt an der Erklärung vom »Übel und dem Leiden der Welt« 12 scheitern müsse. Denn in jeder pantheistischen Vorstellung, »… ist die Welt eine Theophanie; so ist alles, was der Mensch, ja auch das Tier tut, gleich göttlich und vortrefflich; nichts kann zu tadeln und nichts vor dem andern zu loben sein: also keine Ethik.« (ebd.) Schopenhauer wies auf die schweren Konsequenzen der Verbreitung eines derartigen Spinozismus hin. Die »Folge des erneuerten Spinozismus unserer Tage, also des Pantheismus« (ebd.) ist nicht nur in der Unfähigkeit zu finden, die Moralität theoretisch aufzufassen, sondern auch in der kritischen Lage der Moralität der Zeit. 13 Besonders mit Hegels ›Vergröberung‹ des spinozistischen Pantheismus gerät die Ethik in eine ›ungeahnte‹ Tiefe, die nun als »eine bloße Ebd. »Aller Pantheismus nämlich muß an den unabweisbaren Forderungen der Ethik und nächstdem am Übel und dem Leiden der Welt zuletzt scheitern.«, ebd. 13 Vgl, Baumgardt (1927), S. 191: »Schopenhauer hat mehrmals bei Spinoza eine »empörende«, ja »dreiste und infame Verleugnung aller Moral« brandmarken wollen. Und nur flüchtig findet sich bei ihm die allerdings tiefe und ergreifend groß gesehene Einsicht: Spinozas Werten sei wesentlich alttestamentlich. Spinozas Gott sei der alte Jehovah, der seiner Schöpfung daseinsfreudig Beifall klatscht. Für ihn selbst aber, für Schopenhauer, bleibe der 11 12
Spinozas »(Un)moralische Weltordnung«
Anleitung zu einem gehörigen Staats- und Familienleben« (ebd.) diene. Dass eine derartige Ethik einen hier pejorativ gemeinten ›alltäglichen‹ Nutzwert findet, überrasche nicht. Das Problem bestehe jedoch darin, dass die spinozistisch-hegelsche Ethik keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Übel- und Leidensfrage biete, die nach Schopenhauers Verständnis zum Kern der Ethik gehören sollte. Stattdessen führe sie die Menschen zum »methodischen, vollendeten, genießenden und behaglichen Philisterthum« (ebd.). Das konformistische Philistertum war also die verwerflichste Konsequenz des Spinozismus für Schopenhauer. Es wurde der »letzte Zweck des menschlichen Daseins« (ebd.) Dass Schopenhauers Kritik darüber hinaus auf den Mangel der Individualität bei solch verwerflichen Tendenzen »der Volkmassen« (S. 757) gerichtet ist, erinnert stark an Nietzsches Kritik an der modernen Dekadenz und an dem neuen Problem des Nihilismus. Sowohl Schopenhauer als auch Nietzsche suchten nämlich den Ursprung dieser Problematik größtenteils in einer modernen Variante des Optimismus, wonach das Leiden nicht mehr ernsthaft thematisiert werden kann. Es sei jedoch bemerkenswert, dass Nietzsches Kritik am modernen Optimismus nicht an den bejahenden Fatalismus Spinozas, wie es bei Schopenhauer der Fall war, anschloss. Stattdessen erwog er eine Verbindung zwischen dem modernen Optimismus und dem Sokratismus der griechischen Antike. Aus diesem Zusammenhang heraus stellt sich die Frage, in welchem Kontext und mit welchen Differenzen Nietzsche und Schopenhauer Spinozas Optimismus und seine ›unmoralistische‹ Philosophie bewertet haben und welche Bedeutung Nietzsches Distanzierung von Schopenhauers Denken besonders nach seiner mittleren Schaffensphase für seine Spinoza-Deutung hat. 4.1.2 Nietzsches Verteidigung von Spinozas Leugnung der sittlichen Weltordnung
Spinozas kritische Haltung zum herkömmlichen Moralverständnis über das absolute Gute und Böse wurde von Nietzsche, im Gegensatz zu Schopenhauers Vorwurf, mit Begeisterung begrüßt, wie er in seiner Postkarte an Overbeck vom 30. Juli 1881 gestand. 14 Dort wird Spinozas Denken resümiert, dass »er die Sinn aller Moral die Ertötung des Willens zum Leben als des Weltwesens; und das Symbol dieses tieferen sittlichen Wollens bleibe der gekreuzigte Heiland.« 14 »[…] in fünf Hauptpunkten seine [Spinozas; J. Y.] Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –;«, KSB 6, Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111.
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»sittliche[n] Weltordnung […] leugnet« (ebd.). Das erinnert zwar an eine ähnliche Formulierung in Schopenhauers Behauptung (Kap. 47 »Zur Ethik«), dass »eine moralische Weltordnung« 15 bei Spinoza nicht berücksichtigt werde. Doch jetzt zählt Nietzsche Spinozas Leugnung »der sittliche[n] Weltordnung« (KSB 6, Nr. 135) zu den »fünf Hauptpunkten« (ebd.), die er mit diesem Vorgänger aus dem 17. Jahrhundert gemeinsam hatte. 16 Die weiteren von Nietzsche genannten gemeinsamen Merkmale mit Spinozas Philosophie – seine Leugnung der »Willensfreiheit« (ebd.), der »Zwecke« (ebd.), des »Unegoistische[n]« (ebd.) und des »Böse[n]« (ebd.) – bilden einen starken Kontrast zur moralistischen Lesart Schopenhauers. Verglichen damit bildete Nietzsche eine fein artikulierte Haltung zu Spinoza aus. Er entdeckte Spinozas Philosophie anhand einer denk- und kulturkritischen Untersuchung neu und verwendete sie als Anstöße für sein eigenes Denken. Vergleichbare Überlegungen lassen sich auch in der späteren Schaffensphase in seiner Argumentation von GD feststellen. 17 So bot diese Parallele bemerkenswerte philologische und ideengeschichtliche Hinweise dahingehend, dass Nietzsches Spinoza-Rezeption mit seiner Distanzierung von der Grundlage und Konsequenz der schopenhauerschen Mitleidsmoral zusammenhängt. Es sei bei Nietzsches Hochschätzung von Spinozas Leugnung der sittlichen Weltordnung 1881 angemerkt, dass sein Hauptinteresse der genealogischen Rekonstruktion der Moralität – ohne moralistische Annahmen – und deren kulturkritischer Wiederbewertung gilt, nicht am Rechtfertigen der spekulierten ›Unmoralität‹. So schrieb er zeitnah in FW III angesichts des unüberschaubar großen »Umfangs des Moralischen«:
WWV, II, 47, S. 755. Vgl. Fishers abweichende Interpretation von Spinozas Behandlung der sittlichen Weltordnung in Fischer (1865), S. 212: »III. Erkenntniß der Weltordnung« […] »Die Ordnung und der zusammenhang aller Dinge ist einig. Dieser einmüthige Zusammenhang ist erkennbar. Und die Erkennbarkeit der Dinge selbst ist nur möglich unter der Bedingung, daß sie nicht dualistisch geschieden, sondern eines Wesens sind und in einem Zusammenhange begriffen. Die Erkenntniß dieses Zusammenhangs ist die Aufgabe der Philosophie. Und in der Lösung dieser Aufgabe, die sittlicher Natur ist, erreichen wir jenes höchste Gut, das Spinoza gleich im Anfange seiner ersten Schrift als sein alleiniges Lebensziel vorstellt und als alleinige Lebensrichtschnur ergreift.« 17 Während Spinozas Leugnung der »sittliche[n] Weltordnung« und der »Willensfreiheit«, des »Unegoistische[n]« und des »Böse[n]« sowie seine »Unschuld« sich im 7. Teil von die vier grossen Irrthümer wiedererkennen lässt, wird seine Leugnung »der Zwecke« im anschließenden 8. Teil in Erinnerung gerufen: »Wir haben den Begriff ›Zweck‹ erfunden: in der Realität fehlt der Zweck.«, GD, die vier grossen Irrthümer, KSA 6, S. 96. 15 16
Spinozas »(Un)moralische Weltordnung«
»Wir construiren ein neues Bild, das wir sehen, sofort mit Hülfe aller alten Erfahrungen, die wir gemacht haben, je nach dem Grade unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit. Es giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung.« 18
Genau in diesem Zusammenhang muss seine positive Bewertung über den Egoismus verstanden werden. Gegen 1875 zitierte er Dührings kritische Kommentare über Spinozas egoistische Position in dessen Werth des Lebens (1865). Statt Dührings Spinoza-Kritik zu befürworten, stellte er die konstruktive Dimension des spinozistischen Verständnisses vom grundlegenden Egoismus des Menschen in den Vordergrund. 4.1.3 Sozio-politischer Hintergrund des Egoismus-Altruismus-Gegensatzes
Nietzsche verteidigte Spinozas Auffassung der unmoralistischen Weltordnung. Besonders auffällig war das Argument von Schopenhauer und anderen Kritikern, die das moralische Problem der spinozistischen Philosophie auf deren ›egoistische‹ Charakterzüge zurückgeführt hatten. Aus diesem Grund musste Nietzsche zunächst das Primat des Egoismus über den Altruismus betonen. Dies könnte so interpretiert werden, als habe er dabei die Definition des Egoismus von seinen theoretischen Gegnern übernommen, die auf einer strengen Trennung zwischen Egoismus und Altruismus basierte. Jedoch lag sein Hauptanliegen vielmehr darin, eine solche dichotomische Gegenüberstellung beider Perspektiven zu thematisieren, zu relativieren und zu überwinden. Das bedeutete daher nicht, dass der Moralität durch seine Betonung des Primats des Egoismus weniger philosophische Achtung geschenkt werden sollte. Vielmehr wollte er auf die ethische und sozio-politische Dimension des Gegensatzes zwischen dem Egoismus und dem Altruismus aufmerksam machen. Die komplexe Struktur dieses Gegensatzes erkannte Nietzsche bereits im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches (MA I). Im Text »Moral als Selbstzerteilung des Menschen« 19 wies er auf drei Aspekte des Egoismus hin, die weit über das herkömmliche individualistische bzw. solipsistische Verständnis vom Egoismus hinausgehen. 20 Der erste Aspekt ist, dass sich der Egoismus immer auf die Anderen oder das Andere bezieht, sei es explizit oder impliziert. Ein selbstloser patriotischer Soldat, sterbend in der Schlacht, braucht sein Vaterland, um seine Vaterlandsliebe zu beweisen. Dadurch, dass verschiedene ›altruistischen‹Taten wie diese 18 19 20
FW, III, ›Umfang des Moralischen‹, KSA 3, S. 474. MA I, KSA 2, S. 76. Auch vgl. Ioan (2019), S. 176 ff.
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eigentlich einen Selbstbezug aufweisen, also einen priorisierten Wunsch über alles stellen, zeigte Nietzsche paradoxerweise auch, dass diese eigentlich egoistischen Taten immer Fremdbezug voraussetzen. Der zweite Aspekt hängt mit der Priorisierung des »Wunsch[s], [des] Trieb[s], [und des] Verlangen[s]« (MA I, KSA 2, S. 76) innerhalb eines Individuums zusammen, der für das Egoismus-Paradigma charakteristisch ist. Der Egoismus setzt die Zerlegbarkeit bzw. Spaltung eines Individuums voraus. Unter dem Vorwand des Egoismus vermag ein Individuum sein gesamtes inneres und äußeres Selbst zu artikulieren, einzuordnen, einzustufen und dessen spezifische Dimension über andere zu priorisieren. Bei diesem dynamischen Selbstverständnis bzw. Selbstmaskenspiel bewegen sich unzählige ›Ichs‹ als etwas ›Zerteilbares‹ bzw. als kollektive ›Dividien‹ 21 im aktiven Wettkampf miteinander. Der dritte Aspekt des Egoismus ist, dass es sich bei ihm nicht um einen Ausdruck der Selbsterhaltung, sondern um einen Ausdruck der Selbstüberwindung handelt. Das in seinem Wesen egoistische Individuum will nicht dasselbe Ich bleiben, sondern durch die Zerteilung und die Priorisierung des Selbst ein anderes Ich werden. Der eng verstandene, der durch die Dichotomie zwischen dem Egoismus und dem Altruismus definierte Egoismus kann die Beispiele von Nietzsche (›selbstlose‹ Autoren, Mütter und Soldaten) nicht erklären. Auch deswegen, weil deren Taten keine Selbsterhaltung, sondern eine Selbstveränderung bzw. Selbstüberwindung zum Ausdruck bringen. Logischerweise stellt sich eine Zwischenfrage: Inwieweit hat Nietzsche zu diesem Zeitpunkt Spinozas Prinzip der Selbsterhaltung kritisch betrachtet? Wie hat er Spinozas Conatus, also sein Konzept des Überlebenskampfs eines Individuums und dessen sozio-politischen Dimension, rezipiert? Statt diese berechtigten Fragen jedoch in diesem Abschnitt voreilig zu beantworten, möchte ich mit der Untersuchung der Frage fortsetzen, was Nietzsche an der Dichotomie zwischen dem Egoismus und dem Altruismus erkannt hat. Für ihn ist eine solche Trennung dafür verantwortlich, das strukturelle Problem im kultur-sozialen Paradigma auf die Frage der persönlichen Einstellung des (eng verstandenen) Egoismus zu reduzieren und damit zu vertauschen. 22 Nietzsches Diskussion enthüllte die problematische Auswirkung des Paradigmas. Vgl. MA I, KSA 2, S. 76: »Ist es nicht deutlich, daß in all diesen Fällen der Mensch etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugnis mehr liebt als etwas anderes von sich, daß er also sein Wesen zerteilt und dem einen Teil den anderen zum Opfer bringt? […] In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.« 22 Ein damit zusammenhängender Aspekt wird im nächsten Abschitt über die Willensfreiheit erörtert. 21
Spinozas »(Un)moralische Weltordnung«
In diesem Sinn gilt es, zunächst Nietzsches angeblich ›kritische‹ Position zu Spinoza gegen 1875 kurz zu diskutieren. Wie mehrfach in der Forschung diskutiert wurde, ging Wurzers Interpretation, dass Nietzsche in einem nachgelassenen Notizbuch Spinozas »Reich des Egoismus« und die unmoralische Voraussetzung in seiner Philosophie zurückgewiesen habe 23, von einem philologischen Fehlschluss aus. Statt seine Schlussfolgerung erneut zu widerlegen, möchte ich auf die interpretatorischen Konsequenzen der moralistischen Dichotomie zwischen dem Egoismus und dem Altruismus aufmerksam machen, die durch seine Interpretation deutlich werden. Hinsichtlich der angeblich ›moralistischen Position‹ Nietzsches weist Wurzer auf eine Notiz im Nachlass aus dem Jahr 1875 als Grundlage der Interpretation hin. Seiner Deutung nach steht Nietzsche in seiner früheren Phase vor jener genannten Postkarte an Overbeck und vor seiner Fischer-Lektüre 1881 immer noch unter Einfluss von Schopenhauers Spinoza-Interpretation. Dieser Einfluss habe nun Nietzsche dazu gebracht, Spinozas Moraltheorie als den »isolierte[n] Subjektivismus« scharf zu kritisieren (NL 9[1]). Verglichen mit seiner Euphorie in der genannten Overbeck-Postkarte von 1881 oder mit der noch späteren Notiz zwischen 1886 und 1887 kann diese ›moralistische Position‹ gegen 1875 jedoch merkwürdig wirken. Nietzsche bewertete in seinem Entwurf über »Spinozas psychologischen Hintergrund« und seinen »natürlich-egoistische[n] Gesichtspunkt« (NL 7[4]) Spinozas Moraltheorie überwiegend positiv. Stimmt also eine derartige Lesart nach Wurzer, lässt sich entweder eine Inkonsequenz bei Nietzsches Spinoza-Verständnis feststellen, oder Nietzsches positive Bewertung zu Spinozas Moraltheorie gegen 1881 ist als seine selbstkritische Wende zu verstehen, die auf seine Position gegen 1875 gerichtet ist. Da Nietzsche Schopenhauers Schriften mit der genannten Spinoza-Kritik seit 1865 schon mehrmals gelesen hat 24, kam Wurzer zu dem Schluss, dass Schopenhauers Moralphilosophie und dessen Spinoza-Deutung Einfluss auf Nietzsches Spinoza-Rezeption gegen 1875 ausgeübt habe. 25 Bei dieser Interpretation handelt es sich um Nietzsches Kommentare zu Spinozas Moraltheorie im Nachlass als Teil einer langen Lektürenotiz, die als ein Ergebnis seiner intensiven Lektüre von Dührings Werth des Lebens (1865) Wurzer (1975), S. 40 f. und S. 141. Wurzer behauptet, dass Nietzsches erwähnenswerte Auseinandersetzung mit Spinoza erst 1875 beginne, als er Spirs Denken und Wirklichkeit gelesen hat, was auf seine Moralkritik Einfluss ausgeübt hätte. Auch vgl. Gawoll (2001), S. 46 f. Die Deutung in Yhee (2012) wurde in diesem Buch kritisch reflektiert und korrigiert. 24 Z. B. Brobjer (2008), S. 30–31 und a. a.O., S. 79, Anm. 88. 25 Dieser Zeitraum zwischen 1875 und 1876 ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass Nietzsche mit seinem einst verehrten Denker Schopenhauer einen Bruch vollzogen hat. Vgl. Brobjer (2008), S. 31. 23
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im Sommer 1875 entstanden ist (NL 9[1]) 26. Dass Nietzsche zu dieser Zeit ein starkes Interesse an Spinoza hatte, zeigt sich nicht nur darin, dass Nietzsche im selben Jahr das Hauptwerk Spinozas, die Ethica, erwerben wollte, sondern auch in dieser Dühring-Lektüre. Dort finden sich Bemerkungen zu Spinoza wie die folgende: »Oder mit Spinoza: nichts ist an sich verwerflich; erst das Wollen der Menschen stempelt dies zum Guten, jenes zum Bösen. Wenn man so das Menschliche überhaupt aufgiebt, so verliert man jedes Maaß für praktische Werthschätzung.« 27 Eine solche Stellungnahme kann überraschend wirken, solange sie den Anschein erweckt, dass diese Worte von Nietzsche stammen. Es ist ja seltsam, weil Nietzsche im Gegenteil genau diese Leugnung der »sittlichen Weltordnung« und des »Böse[n]« bei Spinoza im Jahre 1881, also 6 Jahre später, positiv bewerten wird. Dennoch scheint diese Stelle eigentlich nur eine Transkription oder eine Zusammenfassung von Dührings Text 28 zu sein. In Nietzsches Notizen werden Dührings Worte nur paraphrasiert. 29 Vergleicht man dazu noch den nächsten Kommentar über die Moralphilosophie von Kant im selben Zusammenhang, ist schließlich festzustellen, dass Nietzsche hier nur eine relativ neutrale Lektürenotiz gemacht hat, ohne seine eigene Meinung bis auf einzelne Stellen zu konstatieren. Obwohl Wurzers Deutung einen philologischen Irrtum beinhaltete 30, zeigte er einen durchaus legitimen Ansatz bei seiner Spinoza- und Nietzsche-Interpretation. Er hat richtig gesehen, dass beide Denker die moralistische Dichotomie überwinden wollten. Ihnen stehen Schopenhauer, Dühring sowie Friedrich der Große – wie folgt – gegenüber, deren Kritik an der sogenannten unmoralischen Konsequenz der spinozistischen Philosophie auf der moralistischen Position basiert. Aktuell sind sich bedeutende Interpreten darin einig, dass Nietzsche durch seine Kritik nicht nur die moralistische Position widerlegen, sondern auch sein Moralverständnis begründen und entwickeln wollte. In diesem Kontext lassen sich seine Versuche verstehen, die manchmal aus einem tugend-ethischem, manchmal aus einem naturalistischen Blickwickel interpretiert werden. Auf jeden Fall leistete er einen philosophischen Kampf gegen den Zeitgeist seiner Zeit, in der ein moralistisches Moralverständnis Einige wichtige Ansätze aus dieser Notiz werden später auch in MA I aufgenommen: Aphorismen 32, »Ungerechtsein nothwendig« und 33 »Der Irrthum über das Leben zum Leben nothwendig« sind die Beispiele. Vgl. Niemeyer (2009), ›Dühring‹, von Aldo Venturelli, S. 76–77. 27 NL 9 [1], Sommer 1875, KSA 8, S. 133. 28 Dühring (1865), S. 6. u. S. 25–26. 29 NL 9 [1], Sommer 1875, KSA 8, S. 142. 30 Vgl. Brobjer (2008), S. 79 u. S. 157, Anm. 93. 26
Spinozas »(Un)moralische Weltordnung«
vorherrschte und die dadurch unter anderem deren Spinoza-Rezeption sowie deren Nietzsche-Rezeption dominiert hatte. Mit anderen Worten entstand seine Spinoza-Rezeption im bewussten Umgang mit dem strukturellen Gegensatz zwischen den beiden Positionen unter Spinoza-Interpreten des 18. und 19. Jahrhunderts. 31 Friedrich der Große behauptete exemplarisch, dass die Konsequenzen von Spinozas Denken nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Mentalität des Zeitalters zu befürchten seien. Bereits im Sommer 1740 warnte der aufklärerische König von Preußen vor der bedrohlichen Gefahr für die Gesellschaft, die Sitte und die Religion durch Spinozas Philosophie in seiner Abhandlung Anti-Machiavel (1740). Für ihn stellten Spinoza und Niccolò Machiavelli (1469–1527) nicht nur eine spekulative Problematik der Theorie, sondern eine ernst zu nehmende Gefahr für den Menschen und die Gesellschaft dar. 32 Seine moralistische Stellungnahme basierte auf der Gegenüberstellung zwischen der egoistischen und der altruistischen Welteinstellung, wobei er nur der letzteren ein ethisches Fundament zuerkannt hat. Dühring und Kuno Fischer, Zeitgenossen Nietzsches, teilten die moralistische Lesart Schopenhauers und Friedrichs des Großen von Spinozas Moraltheorie. Dies zeigt noch einmal, im welchem denkgeschichtlichen Kontext Nietzsches Spinoza-Rezeption stattgefunden hat. Hingegen betrachtete Nietzsche Machiavelli und Spinoza aus einer anderen Perspektive. Statt eine universalistische Tafel der Moralität vorzuschlagen, versuchte er sich auf die Frage zu konzentrieren, in welchem sozialen und geschichtlichen Kontext sowohl die Moralität als auch der Diskurs um diese konstruiert wird. 33 Er interessierte sich gleichzeitig für eine neue Definition von Moralität. Es handelt sich um eine Moralität nach einer sehr spezifischen tugendethischen Definition, die nicht von dem allgemeinen oder transzendentalen Gesetz abstammt. Eine solche Moralität drückt einen selbstbestimmten Machtgebrauch aus, der von jedem Individuum als eigene Tugend empfunden wird. Es sei dabei angemerkt, dass virtus sowohl die Tugend als auch die Macht bedeutet. 34 In Jahren nach seiner Dühring-Lektüre lässt sich feststellen, dass Nietzsche überlegte, wie eine moralistische Dichotomie zwischen dem Egoismus und dem Altruismus zu überwinden sei. 35 So schrieb er zwischen Ende 1876 und Dieser Gegensatz war Interpreten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch wohl bekannt. Vgl. Baumgardt (1927), S. 191. 32 Vgl. Friedrich der Große (1740), Vorwort, S. 482 f. 33 Ein weiterer Aspekt zeigt sich, wenn Nietzsche gegen Rousseau und mit Machiavelli argumentiert; vgl. NL 9[116], 9 [145] und 9[146], Herbst 1887, KSA 12. 34 Vgl. Pieper (1990), S. 168–169 und Wollenberg (2015), S. 71–77. 35 Vgl. Niemeyer (2009), ›Egoismus‹ von Elisabeth Kuhn, S. 79–80. 31
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dem Sommer 1877 noch, dass »der unegoistische Trieb« 36 »eine späte Entwicklung des socialen Triebes« (ebd.) sein kann. Dieser Trieb, der »im Grunde« (ebd.) egoistisch war, gewinne jedoch einen unegoistischen Anschein. Zwischen Sommer und Herbst 1884 drückte sich dieser Gedanke bei ihm noch radikaler aus, nämlich darin, dass »unegoistische Handlungen unmöglich [sind]«. 37 Seine Beobachtung von Spinozas »natürlich-egoistische[m] Gesichtspunkt« (NL 7[4]) zwischen 1886 und 1887 erinnert an diesen Kommentar von 1884. Es sei hier angemerkt, dass ihm der Unterschied zwischen seiner Egoismus-Auffassung und derjenigen Spinozas zu dieser Zeit bewusst war. Denn er musste sich die Frage stellen: Wie kam es, dass Spinoza auf der Grundlage seiner Egoismus-Auffassung keine Streitkultur, sondern eine Kompromiss- bzw. eine Toleranzkultur befürwortete? Das waren das Rätsel und die theoretische Herausforderung für Nietzsche, der eine produktive, agonale Streitkultur aus seiner ethisch-politischen Betrachtung als die Lösung konzeptualisieren wollte. Zu diesem wichtigen Punkt, also zum ›agonalen Verhältnis‹ zwischen ihm und Spinoza, kommen wir zurück. Noch später, im September 1888, entwarf Nietzsche sein drittes Buch vom geplanten Werk »Umwerthung aller Werthe« 38, dessen Titel »der Immoralist. Kritik der verhängnisvollsten Art von Unwissenheit, Moral« (ebd.) lauten soll. Dabei soll ›Immoralist‹ keinen Gegensatz zum ›Moralist‹ bedeuten. Der Immoralist ist derjenige, der sich nicht durch die Dichotomie des Egoismus und des Altruismus definieren lässt. Diese Bemühung verleiht einem jedoch den Anschein bzw. die Maske eines ›Immoralisten‹. Dafür spricht vor allem die anschließende Stelle, in der die Trennung von »Egoismus und Unegoismus« als »falsche Gegensätze« bezeichnet wurde. Diese führe zu den Irrtümern der herkömmlichen Moralverständnisse. 39 Dies zeigt nochmals, dass Nietzsches Moralkritik eigentlich einen starken soziopolitischen Charakter hat. Dieser Punkt wird weiter erläutert, insbesondere in Bezug auf seine Erwägungen über die »Immoralisten« – dazu zählen der NL 23[32], KSA 8, S. 415: »Vielleicht ist der unegoistische Trieb eine späte Entwicklung des socialen Triebes; jedenfalls nicht umgekehrt. Der sociale Trieb entsteht aus dem Zwange, welcher ausgeübt wird, sich für ein anderes Wesen zu interessiren (der Sclave für seinen Herrn, der Soldat für seinen Führer) oder aus der Furcht, mit ihrer Einsicht, dass wir zusammen wirken müssen, um nicht einzeln zu Grunde zu gehen. Diese Empfindung, vererbt, entsteht später, ohne dass das ursprüngliche Motiv mit in’s Bewusstsein trete; es ist zum Bedürfniss geworden, welches nach der Gelegenheit ausschaut sich zu bethätigen. Für andere, für eine Gemeinsamkeit, für eine Sache (wie Wissenschaft) sich interessiren erscheint dann als unegoistisch, ist es aber im Grunde nicht gewesen. –« 37 NL 26[224], Sommer – Herbst 1884, KSA 11, S. 208. 38 NL 19[8], September 1888, KSA 13, S. 545. 39 NL 19[9], September 1888, KSA 13, S. 546. 36
Schopenhauer und Nietzsche über Spinozas Leugnung der Willensfreiheit
unschuldige Held Siegfried bei Wagner (NL 34[205]) und der junge Wagner (NL 37[15]) 40– und in Bezug auf den sozio-politischen Kontexts der Einsiedlerthematik bei seiner Spinoza-Rezeption (Kap. 5). Im Oktober desselben Jahres schrieb Nietzsche den »Immoralisten« bereits eine gesellschaftliche und historische Aufgabe zu, die Menschheit durch »die Wiederherstellung vom Menschheitsegoismus […] zu verbessern« (NL 23[3]). Denn die Menschheit ist dadurch »von der Moral zu erlösen«. Diese Aufgabe der Immoralisten hängt für Nietzsche mit seiner Erwägung zum Machiavellismus und dem ethischen und politischen Realismus eng zusammen. 41 Im Abschnitt die vier grossen Irrthümer von Götzen-Dämmerung – der durch den nächsten Abschnitt die »Verbesserer« der Menschheit ergänzt wird – wurde weiter argumentiert, dass »der Begriff der ›sittlichen Weltordnung‹ von Theologen konzipiert wurde, um »die Unschuld des Werdens durch ›Strafe‹ und ›Schuld‹ zu durchseuchen«.42 Das Konzept der Willensfreiheit hat in diesem verschwörerischen Moral- und Wertesystem eine zentrale Funktion: »Die Menschen wurden ›frei‹ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schuldig werden zu können: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden (– womit die grundsätzlichste Falschmünzerei in psychologicis zum Princip der Psychologie selbst gemacht war …)« (ebd.)
Wenn Nietzsche auch die Funktion der Willensfreiheit in Verbindung mit der »sittlichen Weltordnung« hier knapp und provokativ darstellte, heißt dies nicht, dass er den Willen und dessen Erscheinung nur von seiner Funktion her betrachtete. Denn die Behandlung der Willensfreiheit gilt als ein weiterer Punkt, der Spinoza mit Nietzsche, Schopenhauer und anderen Hauptfiguren der Spinoza-Rezeption im 18. und 19. Jahrhundert eng verknüpft hat, wie ich im nächsten Abschnitt erörtere.
4.2 Schopenhauer und Nietzsche über Spinozas Leugnung der Willensfreiheit 4.2.1 Fischers Kritik an Schopenhauers Spinoza-Deutung
Nietzsches Distanzierung von Schopenhauer hing nicht nur mit Schopenhauers negativer Bewertung der Moraltheorie Spinozas, sondern auch mit seiner Annäherung an Spinozas Position zusammen. Dass Nietzsche bei seiner 40 41 42
Siehe Abs. 4.5.3 und 4.5.4. Vgl. NL 23[4]: »Der Immoralist […] »C. Der Macchiavellismus des Guten«. GD, die vier grossen Irrthümer, KSA 6, S. 95–96.
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Spinoza-Rezeption um deren von der Fatalismusdebatte bedingten denkgeschichtlichen Kontext gewusst hat, belegt Kuno Fischers Spinozaband. Die Bedeutung von Nietzsches Fischer-Lektüre für seine Spinoza-Rezeption wurde an anderen Stellen in größerem Umfang erörtert. 43 In diesem Abschnitt wird besonders ein Aspekt behandelt: die Willensfreiheitsthematik bei Spinoza, die Fischer zufolge von Schopenhauer missinterpretiert wurde. Dabei ist nicht beabsichtigt, alle Facetten der Willensfreiheitsthematik bei Spinoza und Nietzsche zu beleuchten, da ihre Bedeutung eine eigenständige Arbeit verlangt. Stattdessen werde ich gezielt auf die Frage eingehen, wie diese Thematik mit der Fatalismusdebatte zusammenhängt. Spinozas Leugnung der Willensfreiheit war einer der fünf gemeinsamen Hauptpunkte zwischen ihm und Nietzsche. 44 Zwar hat die Forschung zu Recht interpretiert, dass diese Postkarte durch Nietzsches Lektüre von Fischers Spinoza-Band veranlasst wurde. Darüber hinaus möchte ich jedoch auch auf einen bislang in der Forschung wenig diskutierten Aspekt aufmerksam machen, nämlich die Frage, inwieweit Fischer die Willensfreiheit und andere der genannten Gesichtspunkte in seinem Spinoza-Band bereits behandelt hatte. Dies ist von großer Bedeutung, denn Nietzsche wurde durch seine FischerLektüre erneut damit konfrontiert, wie Schopenhauer die Willensfreiheit bei Spinoza betrachtet hatte. Nach der Diskussion über Spinozas Behandlung der Willensfreiheit (S. 208 f.) bemängelt Fischer Schopenhauers Kritik an Spinoza angesichts dieses Themas besonders detailreich. Dabei ging es Fischer primär darum, die Differenzen zwischen Descartes und Spinoza aufzuweisen. Nachdem er in den vorangegangenen zwei Abschnitten – »die Einheit der Dinge. Gott und Natur« und »die Persönlichkeit Gottes« – die ersten zwei Punkte als ihre unterschiedlichen Gesichtspunkte in der Philosophie erläutert hatte, stellte er die Argumentationsstruktur dar, die Spinoza gegen die Willensfreiheit nach Descartes verwendete. 45 Die Unmöglichkeit der Freiheit bei Spinoza, die Fischer unter dem gleichnamigen Abschnitt diskutierte (S. 233), mache die auffallende Differenz zwischen Spinoza und Descartes deutlich. Laut Fischer verneint »Spinoza [, …] was Descartes bejaht: die menschliche Willensfreiheit« Siehe Abs. 1.4.2., 5.1. und 5.4.1. Vgl. Wurzer (1975), S. 215 f. 45 »Ist nun Gott oder die Natur [also ›deus sive natura‹ ; J. Y.] das einzige allumfassende Wesen, so sind die einzelnen Dinge, also auch der Mensch, Theile der Natur, durchgängig determinirt in ihrem Dasein und Wirken, […] so kann auch der menschliche Wille nur durch die Macht Gottes allein bestimmt werden.«, Fischer (1865), S. 208; »Da nun Spinoza die göttliche Macht absolut bejaht, so muß er die menschliche Freiheit absolut verneinen. Dies ist seine wahre Meinung.«, ebd. 43 44
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(S. 209), indem er gegen Descartes argumentiert, dass der Wille nicht von der Erkenntnis, die selbst von der Natur bestimmt wird, unabhängig ist. 46 Es sei bemerkt, dass Fischer an diesen Stellen die zumindest bei Spinoza ganz unterschiedlich angewendeten Termini, also den Willen und die Willensfreiheit, fast undifferenziert verwendet. Dies ist ein wichtiges Merkmal nicht nur von Fischer, sondern von anderen Denkern der Fatalismusdebatte des 18. Jahrhunderts, die Spinozas Philosophie ob deren mangelnden Platzes für die menschliche Freiheit kritisiert haben. In diesem Kontext stimmte Fischer in seiner Zusammenfassung jenen Spinoza-Kritikern aus dem vergangenen Jahrhundert zu, die behaupteten, dass die Möglichkeit der Freiheit bei Spinoza theoretisch nicht vorhanden sei. 47 Zwar vermittelte er ein darstellungstreues Bild von der spinozistischen Definition der Freiheit; die Freiheit bei Spinoza wurde als die Macht insbesondere im Abschnitt »die freie Nothwendigkeit« (S. 246 f.) korrekt erörtert. Die gesamte Konstruktion von Ethica wurde auch richtig erfasst, etwa dass »das System […] mit der göttlichen Causalität [beginnt] und […] mit der menschlichen Freiheit [endet.]« (S. 571). Dennoch wurde die Spannung zwischen der Notwendigkeit der Welt und der Freiheit des Menschen nur als ein logischer Widerspruch in Fischers Spinoza-Deutung verstanden, was die Inkongruenz dessen Philosophie belegen soll. Dieser Widerspruch bestehe eben zwischen der »göttlichen Causalität und [der] menschlichen Freiheit« (ebd.). Für Fischer sei die Grundannahme Spinozas – dass die Freiheit nicht in der Willensfreiheit, sondern in der Macht besteht – daher nicht akzeptabel. Dabei sei Leibniz derjenige, der diesen Gegensatz bei Spinoza durch das Prinzip der Individualität aufgehoben habe (S. 583–584). Nietzsche kommentierte nicht nur die für Fischer problematische Verneinung der Willensfreiheit bei Spinoza positiv, sondern reflektierte auch diesen denkgeschichtlichen Kontext. Wohlgemerkt teilte Nietzsche Fischers Zweifel an Spinozas Freiheitsverständnis nicht. Ganz im Gegenteil wollte er die spinozistische Idee der Einheitlichkeit der Freiheit und der Macht weiterentwickeln. Er konnte dabei auch feststellen, dass diese einheitliche Behandlung der Freiheit und der Macht sowie die Einbettung der menschlichen Freiheit in der Notwendigkeit der Natur auch für seine Philosophie eine entscheidende Bedeutung haben würde. Zugleich argumentierte er, in Abgrenzung zu Spinoza weiter argumentierend, dass die Freiheit als keine universale, sondern als eine individuelle Selbstbestimmung verstanden werden sollte. Vgl. Fischer (1865), S. 209. Auch vgl. a. a. O., S. 476 f.: »3. Die vermeintliche Unabhängigkeit des Willens von der Erkenntniß. Descartes.« 47 Vgl. Fischer (1865), S. 210: »Wo bleibt also die Möglichkeit der Freiheit? Spinoza bejaht und lehrt sie in der Maske Descartes’, aber er verneint sie, sobald er die Maske lüftet.« 46
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Fischers weitere Diskussion über Schopenhauers Spinoza-Deutung ist in dieser Hinsicht interessant. Er bezog sich auf den Abschnitt »Ueber die Freiheit des Willens« aus Schopenhauers Hauptwerk WWV (Fischer, S. 212, Anm.). Seine Kritik an Schopenhauer erscheint auf den ersten Blick zwar hart: »Schopenhauer irrt demnach, was die Belehrung Spinoza’s in Rücksicht der Willensfreiheit betrifft, Schritt für Schritt.« (S. 212). Sie richtete sich jedoch hauptsächlich auf weniger wesentliche Irrtümer, denen Schopenhauer in seiner Diskussion über die Willensfreiheit bei Spinoza unterlag. Fischer warf Schopenhauer wegen einer Fehldeutung vor, dass Spinoza in seinen letzten Jahren an die Möglichkeit der Willensfreiheit zu glauben beginne. 48 Dadurch gewann Nietzsche die denkgeschichtliche Erkenntnis, dass das Thema des Fatalismus und der Willensfreiheit bei der Spinoza-Rezeption seit Jacobis Brief an Mendelssohn in Zentrum stand. Nietzsches Projekt der »Vollendung des Fatalismus« 49 lässt sich also in diesem rezeptionsgeschichtlichen Kontext adäquat verstehen. Es sei bemerkt, dass Schopenhauer die Spinoza-Renaissance selbst eingehend und kritisch behandelt hat, wie im nächsten Abschnitt weiter erörtert wird. 4.2.2 Schopenhauer über den Optimismus und die Willensfreiheit bei Spinoza
Im Abschnitt Epiphilosophie stellte Schopenhauer seine Haltung zur Willensfreiheit der Position Spinozas entgegen. Seine Überlegenheit gegenüber Spinozas Philosophie sei vergleichbar mit der Überlegenheit des Neuen Testaments gegenüber dem Alten Testament, insoweit Spinoza dem alttestamentlichen »Gott-Schöpfer« 50 oder »Deus« (ebd.) nur »weiter nichts als die Persönlichkeit entzogen« (ebd.) habe.
»4. Ein Irrthum Schopenhauer’s« […] »Er [Schopenhauer] nennt zwar Spinoza mit Recht als einen der Bedeutendsten unter denen, welche die moralische Freiheit verneint haben, aber zugleich rechnet er ihn, wie Voltaire und Priestlery, zu den ›Bekehrten‹, die zuerst an die menschliche Freiheit geglaubt, dann aber bei reiferem Nachdenken die tiefere Einsicht erreicht hätten, aus welcher sie das Gegentheil behaupten mußten. Auch Spinoza sei erst nach seinem vierzigsten Zahr zu der Erkenntniß gekommen, dass die Freiheit des Willens eine Täuschung sei. Erst in seiner Ethik sei er Determinist geworden, dagegen in der Schrift, worin er die Principien Descates’ dargestellt habe, ein Anhänger und Vertheidiger der Willensfreiheit gewesen. Unmöglich kann Schopenhauer diese Schrift gelesen haben; sonst wüßte er, daß Spinoza schon in der Vorrede sich als einen Gegner Descartes’ im Punkte des Willens bezeichnen ließ.«, Fischer (1865), S. 211. 49 NL 25[214], ›Meine Vollendung des Fatalismus‹, Frühjahr 1884, KSA 11, S. 70. Siehe Abschnitt 3.2.3. 50 WWV, II, 50, S. 827. 48
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Zwar teilte Spinoza mit Schopenhauer die Ansicht, dass »die Welt aus ihrer inneren Kraft und durch sich selbst da« (ebd.) sei. Diese »innere Kraft« der Welt oder »[das] innere Wesen der Welt« ist für Schopenhauer der einzige Grund, wodurch die Welt geschaffen ist, also deren immanente (Wirkungs-) Ursache. Aber »das innere Wesen der Welt« bei Spinoza sei laut Schopenhauer »deus«, also der alttestamentarische »Jehova«. Dieser sei der »Gott-Schöpfer« (ebd.) und finde alles auf der Welt »vortrefflich geraten«, wie es in der Genesis steht. Laut Schopenhauer führe diese »jüdische« Annahme Spinozas nur zu einem naiven »Optimismus« (S. 827). Er wiederholt seine Kritik, dass ein derartiger Optimismus zu moralischen Unfähigkeiten führen soll: »Auch bei ihm also ist die Welt und Alles in ihr ganz vortrefflich und wie es sein soll: daher hat der Mensch weiter nichts zu thun, als ›vivere, agere, suum ›esse‹ conservare, ex fundamento proprium utile quaerendi‹ [leben, handeln, sein Dasein erhalten, indem er von Grund aus seinen eigenen Nutzen sucht] (Eth. IV, pr. 6–7 [demonstratio]): er soll eben sich seines Lebens freuen, so lange es währt; ganz nach ›Koheleth‹ [Prediger Salomo], 9, 7–10. Kurz, es ist Optimismus: daher ist die ethische Seite schwach, wie im Alten Testament, ja, sie ist sogar falsch und zum Theil empörend« 51
Dagegen bestehe »das innere Wesen der Welt« (ebd.) in Schopenhauers System im »Wille[n]« (ebd.), den er mit dem neutestamentarischen »gekreuzigten Heiland oder aber [dem] gekreuzigte[n] Schacher« (ebd.) verglich. Der Unterschied – und die Überlegenheit von Schopenhauers Denken – bestehe darin, dass dessen pessimistische Ausgangspositionen zu ethischen Fragen mehr taugten, da sie nicht nur die »vortrefflich geraten[en]« (ebd.) Ereignisse, sondern auch die tragischen, empörenden oder ekelhaften Vorkommnisse der Welt und des Lebens zu erklären vermochten. Dieser Vorwurf ähnelt der bereits erwähnten Kritik von Jacobi an Spinozas Fatalismus. Schopenhauer selbst rief Jacobis kritische Haltung zum spinozistischen Fatalismus in Erinnerung: »Die, welche, in neuester Zeit, sich zum aufgekommenen Neo-Spinozismus nicht bekennen wollten, wurden wie z. B. Jacobi, hauptsächlich durch das Schreckbild des Fatalismus davon zurückgescheucht. Unter diesem nämlich ist jede Lehre zu verstehen, welche das Dasein der Welt, nebst der kritischen Lage des Menschengeschlechts in ihr, auf irgendeine absolute, d. h. nicht weiter erklärbare Notwendigkeit zurückführt.« 52
WWV, II, 50, S. 827. Schopenhauer weist dabei auf Zitate aus TTP, Cap. 2. § 8, § 12 und E 4, P37S1 hin. Vgl. Abschnitt 4.1.1. 52 WWV, II, 50, S. 828–829. 51
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Er sah jedoch seinen Unterschied zu Jacobis Position darin, dass er nicht die Annahme von Jacobi und anderen Befürwortern der Willensfreiheit teilte, da diese eine transzendentale Gottexistenz voraussetzten und »die Welt aus dem freien Willensakt eines außer ihr befindlichen Wesens abzuleiten versuchen [mussten]«. 53 Schopenhauer zufolge habe »jede bisherige Philosophie das Eine oder das Andere vertreten« 54, d. h. entweder die alttestamentliche Theodizee wie bei Spinoza oder ein Plädoyer der Willensfreiheit mit der spekulativen Annahme des transzendentalen Gottes. Seine Philosophie ließe sich dadurch legitimieren, dass sie einen dritten Weg gefunden hat, und zwar mit dem neu definierten Konzept ›des Willens‹ : »Ich zuerst bin hievon abgegangen, indem ich das Tertium wirklich aufstellte: der Willensakt, aus welchem die Welt entspringt, ist unser eigener. Er ist frei: denn der Satz vom Grunde, von dem allein alle Notwendigkeit ihre Bedeutung hat, ist bloß die Form seiner Erscheinung. Eben darum ist diese, wenn ein Mal da, in ihrem Verlauf durchweg notwendig: in Folge hievon allein können wir aus ihr die Beschaffenheit jenes Willensaktes erkennen und demgemäß eventualiter anders wollen.« 55
Schopenhauers Kritik an Spinoza im ersten Buch des WWV lässt sich in diesem Zusammenhang besser verstehen. Auch Spinozas Willensfreiheitskritik beruhe Schopenhauer zufolge nur auf einer ungültigen Voraussetzung des Intellektualismus. 56 Obwohl Spinoza bereits die Willensfreiheit kritisiert hatte, teile er mit Descartes und anderen Befürwortern der »empirischen Freiheit des Willens, eines liberi arbitrii indifferentiae« 57, »daß man das Wesen des Menschen in eine Seele setzte, die ursprünglich ein erkennendes, ja eigentlich ein abstrakt denkendes Wesen wäre und erst in Folge hiervon auch ein wollendes, daß man also den Willen sekundärer Natur machte, statt daß, in Wahrheit, die Erkenntniß dies ist.« (ebd.) Nach dieser intellektualistischen Ansicht ist der Wille, so Schopenhauer, sei es von dem Befürworter oder Kritiker der Willensfreiheit »als ein Denkakt betrachtet und mit dem Urtheil identificirt, namentlich bei Cartesius und Spinoza.« (ebd.) Schopenhauer sah es als sein bahnbrechendes Novum, dass er mit seiner These der Priorität des Willens das »wahre […] Verhältnis«58 zwischen der 53 54 55 56 57 58
A. a. O., S. 829. Ebd. WWV, II, 50, S. 829. Vgl. Abs. 4.4 und 6.2.3. WWV, I, § 54 Bejahung und Verneinung des Willens, S. 402–403. WWV, I, 54 Bejahung und Verneinung des Willens, S. 403.
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Erkenntnis und dem Willen herausfinden konnte. Dadurch sollte es möglich werden, sowohl ein korrektes Menschenbild als auch eine geeignete Diagnose für das Leidensproblem des Menschen zu konzipieren, wozu Spinozas Optimismus nicht in der Lage gewesen sei. 4.2.3 Nietzsches Kritik an Schopenhauers Konzept des Willens zum Leben
Schopenhauer hat nicht nur ›den Willen zum Leben‹ als eine neue Konzeption in seine Philosophie aufgenommen, sondern sie auch durch sein pessimistisches Denken dazu verdammt, verneint zu werden. 59 Er zitierte einen berühmten Schlusssatz von Spinozas Ethica, um die Schwierigkeit der endgültigen Verneinung des Willens zum Leben auszudrücken – also paradoxerweise von einem optimistischen Denker, folgt man Schopenhauers Ansicht. Aus Nietzsches Sicht gelang es Schopenhauer jedoch auch nicht, den Begriff »Willen« philosophisch zu Ende zu denken und zur Geltung zu bringen. Denn der Wille – und vor allem der von Nietzsche thematisierte Wille des starken Menschen –, der nicht zum genussvollen pessimistischen Selbstmitleid gerät, sondern sich selbst in ungünstigsten Situationen zur freudigen Selbstüberwindung motivieren kann, spielte keine Rolle bei Schopenhauer. Nietzsche interpretierte, dass Schopenhauers Pessimismus einen Sieg des Determinismus zum Ausdruck gebracht hat, der den Willen auf »Reflexbewegungen« 60 reduzierte. So werde keine menschliche Freiheit garantiert und gewährt, ganz unabhängig davon, ob Schopenhauer die Willensfreiheit durch seinen Willensbegriff erfolgreich widerlegte oder nicht. 61 Wie Jakobi kritisierte Schopenhauer Spinozas Fatalismus und seinen Intellektualismus. Dennoch gilt der Fall Schopenhauer für Nietzsche als ein weiteres Beispiel des Fatalismus, und zwar mit pessimistischen Merkmalen. Für ihn repräsentierte Schopenhauers Philosophie in diesem Kontext den resignativen Fatalismus des 19. Jahrhunderts. 62 Dort wurde »die Leugnung des Willens als ›wirkende Ursache‹« (ebd.) vertreten, wohingegen Spinozas Denken als ein »freudige[r] Fatalismus« bezeichnet wurde. Diese Gegenüberstellung bringt den zuvor reflektierten Kontext beider Aufgaben Nietzsches in eine interessante Konstellation: Er versuchte sich von der resignativen Seite des Fatalismus abzugrenzen und zugleich sein bejahendes Moment zur Geltung zu bringen. So galt für ihn, dass er, um Spinoza kritisch zu rezipieren 59 60 61 62
Vgl. WWV, I, 68, S. 521–522. NL 9[178], Herbst 1887, KSA 12, S. 442. Siehe Abs. 4.2.2. Siehe Abs. 3.3.3.
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und zugleich seine eigene Kritik an Schopenhauer weiter zu vertiefen, ein neues Konzept des Willens entwerfen musste. 63 Der Wille bei ihm sollte weder Wille zum Leben wie bei Schopenhauer noch (Wille zur) Selbsterhaltung, sondern Wille zur Macht und zur Selbstüberwindung heißen – also Wille zur schöpferischen Macht, die neue Werte schaffen kann, die auch für sich selbst neu sein sollen. Die traditionelle Problemstruktur der Willensfreiheit, des menschlichen Willens und der menschlichen Freiheit verändert sich also bei Nietzsche im Zusammenhang mit seiner Beurteilung der Fatalismusfrage. In diesem Sinne schrieb er im Frühjahr 1888 (im Anschluss an seiner Kritik an dem Prinzip der Selbsterhaltung bei Spinoza) kritisch über den Willensbegriff bei Schopenhauer: »[…] das ist im höchsten Grade bei Schopenhauer der Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er ›Wille‹ nennt. Es handelt sich noch weniger um einen ›Willen zum Leben‹ : denn das Leben ist bloß ein Einzelfall 64 des Willens zur Macht, – es ist ganz willkürlich zu behaupten, daß Alles danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten« 65
Zwar wollte Nietzsche in seiner Kritik an Spinoza und Schopenhauer deren kritische Spitze gegen die Advokaten der Willensfreiheit nicht vollkommen entschärfen. Dennoch musste er wesentliche Änderungen zu beiden Denkern vorschlagen. Während er Schopenhauers Kritik an der Willensfreiheit teilweise anerkannte, erschien es ihm als nicht haltbar, dass die Notwendigkeit der Welt nichts anderes als der Ausdruck vom »Satz vom Grunde« und daher bloß »die Form seiner Erscheinung« wäre. 66 In dieser Hinsicht rückte Nietzsche wieder Spinoza näher: Er betrachtete die Notwendigkeit nicht nur als einen unabänderlichen Aspekt des Naturgesetzes, sondern als eine wesentliche Komponente beim Selbstgestaltungsund Selbstbestimmungsversuch des einzelnen Menschen. In anderen Worten: Die Notwendigkeit (der Natur) widerspricht der Freiheit des Menschen bei Zu Nietzsches Verwendung des Willensbegriffs im Allgemein vgl. Müller-Lauter (1999), S. 77: »Zu fragen ist nach der Unterscheidung von ›Wille‹ und ›Wille zur Macht‹ durch Nietzsche. Dabei ist immer zu beachten, daß er das Wort ›Wille‹ mehrdeutig gebracht, nicht anders als er mit anderen Begriffen verfährt. Oft ist nur aus dem Kontext heraus zu verstehen, ob er, wenn er vom Willen spricht, ihn im Sinne des vordergründigen und darin nur scheinbaren Einheitsphänomens anspricht oder dieses in seiner Rede auf den Willen zur Macht hin unterläuft. Unser mit Bewußtsein verbundener Wille ist jedenfalls in seinem Grunde immer Wille zur Macht. Auch (in besonderer Weise) gerade dann, wenn wir ihn irrtümlicherweise als letzte Instanz unserer Entscheidungen ansehen.« 64 Angesichts Nietzsches Überlegung zum ›Einzelfall‹ siehe Kap. 6, insbesondere Abs. 6.3. 65 NL 14[121], Frühjahr 1888, KSA 13, S. 301. 66 Vgl. WWV, II, 50, S. 829. 63
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Spinoza und Nietzsche nicht – wie letzterer in seinem »Chaos sive natura«Entwurf zum Ausdruck gebracht hat. 67 Im Gegensatz zu Schopenhauer und Jacobi schließen sich der Wille und die Notwendigkeit bei Nietzsche und Spinoza 68 nicht aus, weil der Wille als die sich zu verwirklichende Instanz der Kraft (potentia) und als die Tugend (virtus) verstanden wurde, welche die Freiheit bei beiden Denkern definieren. Mit der Annäherung an Spinoza gelang Nietzsche seine Distanzierung von Schopenhauer. Dennoch sondierte er Schopenhauers Position, um sich mit dessen Kritik an Spinozas Intellektualismus zu verbünden. 69 So gewann die Problematik der Willensfreiheit in Nietzsches Spinoza-Rezeption zwei eng miteinander verknüpfte Aspekte: Einerseits überlegte Nietzsche, ob und inwieweit der Wille des Menschen ohne die Hilfe einer moralistisch bzw. anthropozentrisch konzipierten Idee der Willensfreiheit theoretisch vertretbar ist. Andererseits überlegte er, ob und inwieweit eine solche vertretbare Definition des Willens mit der Notwendigkeit der Natur bzw. des Naturgesetzes vereinbar ist. Es kam also schließlich darauf an, wie der Wille definiert wird. Nietzsche scheint mit unterschiedlichen Möglichkeiten für die Definition des Willens ein sowohl kosmologisches als auch ethisches Experiment zu unternehmen, dessen Ergebnis entweder zur Fortexistenz oder zur Eliminierung dieses Begriffs führen konnte. Dabei ist es bemerkenswert, dass Nietzsche bei seiner starken Stellungnahme gegen den Begriff der Willensfreiheit die Unvermeidlichkeit eines derartigen Begriffes anerkannt hat, wie er in FW schrieb: »Das Leben kein Argument. –Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt Keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der lrrthum sein.« 70
Nietzsches Anliegen bei seiner Kritik der Willensfreiheit war, nicht auf die Irrtümer der Willensfreiheitsrhetorik selbst, sondern auf den Umfang und die Auswirkung dieser ›vermenschlichten‹ Konstruktion im Sinne des »Chaos sive natura«-Gedankens aufmerksam zu machen. Damit können sowohl die –
Vgl. Yhee (2014). Vgl. Stenzel (2002), S. 348; vgl. auch Bittner 2002 und Boehm (2017), S. 37 für eine kritische Auseinandersetzung mit Spinozas Willensbegriff. 69 Siehe Abs. 4.4, 6.2.3 und 6.3. 70 FW, III, 121, KSA 3, S. 477–478. 67 68
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nicht nur spekulierte, sondern auch realisierbare – Freiheit des Menschen 71 sowie die menschliche Totalität ernsthaft erwogen werden. So erhofft er sich, dass sich eine neue Definition des menschlichen Willens nach jener ›Vernatürlichung des Menschen und Entmenschlichung der Natur‹ 72 ergibt. Diese Überlegung weist auf die sowohl philosophische als auch kulturkritische Facette der Problematik hin, die in seinen Überlegungen über den Optimismus, Pessimismus und Nihilismus besonders zum Ausdruck kam, worauf ich im nächsten Abschnitt eingehe.
4.3 Nietzsche gegen den resignativen Pessimismus. Philosophische Anthropologie des dionysischen Menschen 4.3.1 Konflikt zwischen Spinozas Optimismus und Schopenhauers Pessimismus
Nietzsches Annäherung an Spinoza fand mit Vorbehalt statt. Spinozas Überlegung zur Notwendigkeit und deren Bejahung ist durch seinen philosophischen Optimismus charakterisiert. Dies war jedoch nicht nur für Schopenhauer, sondern auch für Nietzsche unakzeptabel. Zwar lässt sich Spinozas Optimismus nicht erschöpfend unter dem Terminus des theoretischen Optimismus resümieren, gegen den sich Nietzsches kritische Spitze eigentlich richtet. Aber Nietzsches Aufwertung der pessimistischen Haltung zum Leben und Leiden brachte einen mahnenden Gestus ein 73, der nicht nur seine SpinozaBegeisterung begleitete, sondern auch zu deren Einschränkung führte. Seine prinzipielle Hochschätzung des Pessimismus legte nahe, Nietzsches Bemerkung in seiner Dühring-Notiz von 1875 eingehender zu betrachten. In dieser Passage wollte Dühring den Optimismus eigentlich positiv bewerten. 74 Deren Sinn drehte Nietzsche durch seine Notizbemerkung in eine umgekehrte Richtung, damit sie seiner eigenen These dienen konnte. Die meisten anderen Passagen bestanden lediglich aus Nietzsches bei Dühring abgeschriebenen Phrasen. Dagegen handelte es sich bei dieser letzten These um Nietzsches eigene Stellungnahme, die deswegen von ihm mit dem Wort »Ego« (ebd.) Vgl. Müller-Lauter (1999), S. 45–46. Vgl. Yhee (2014). 73 Vgl. »Hüten wir uns«-Motiven in der zweiten »chaos sive natura«-Stelle und in FW 109. Dazu siehe Abschnitt 2.3.5. 74 NL 9[1], KSA 8, S. 132, Sommer 1875, [Von Dühring; J. Y.] »So wäre also der Optimismus die Philosophie der logischeren Menschen […] Die Lösung der Pessimisten ist eine unlogische, sie stellen zwei logisch unvereinbare Welten neben einander: denn die höhere Ordnung der Dinge soll die niedere bei ihnen nicht erklären, sondern aufheben, vernichten […]«. 71 72
Nietzsche gegen den resignativen Pessimismus
bezeichnet wurde. Demnach heißt es, dass der Pessimismus »älter, […] ursprünglicher als der Optimismus, [und] produktiv [sei], so daß er selbst noch seinen Gegensatz an’s Licht ruft.« (ebd.) So, wenn auch mit Vorbehalt, zeigte Nietzsche hier Schopenhauers Position 75 gegenüber mehr Verständnis und begrenzte den Geltungsbereich des Optimismus. Schopenhauer hatte selbst die Naivität des Optimismus von Spinoza und Leibniz scharf kritisiert, da eine optimistische Theorie vom Leben besonders in Präsenz des »augenfälligen Elend[s] des Daseins« 76 nicht haltbar sei. Die Beobachtung des Leidens spielte auch bei Nietzsche eine bedeutende Rolle – nicht nur in GT und anderen Schriften aus seiner früheren philosophischer Schaffensphase, sondern auch für sein späteres Konzept ›des leidenden Gottes‹ also des Dionysischen, wobei das letztere als ein philosophisches Symbol für die Bejahung des Leidens verstanden werden kann. Aus der Perspektive des späteren Nietzsches sollte das schopenhauersche Leidensverständnis also noch mit dem spielerischen und erotischen Aspekt des Dionysischen ergänzt werden, woran sich Nietzsches bewusste Distanzierung von Schopenhauer erkennen lässt. Durch seine feine Positionierung zwischen Spinozas und Schopenhauers Ansichten erhielt Nietzsches Denken über das Leiden einen vielschichtigen Charakter. Der optimistische Zug Spinozas konnte ihn im Jahre 1887 immer noch beeindrucken, solange dessen »bejahende« (NL 5[71]), und »hedonistische« (NL 7[4]) Haltung zum Leben im Vordergrund stand. Für ihn war der spinozistische Weg jedoch nicht die einzig mögliche philosophische Lösung, da eine Lebensbejahung zum einen nicht unbedingt Optimismus voraussetzen muss und zum anderen keine allgemeingültige Lebensbejahung auf dieser Weise möglich ist. Sein Ziel bestand daher darin, eine alternative Art der Lebensbejahung zu finden, um dem schopenhauerschen Pessimismus zu entkommen, ohne dabei auf den spinozistischen Optimismus und dessen Allgemeingültigkeitsanspruch zurückzuführen. Nicht nur die metaphysischtheologische Prämisse Gottes, sondern auch dessen ethische und soziopolitische Annahme, dass Konflikte grundsätzlich kompromissfähig sind und zur Harmonie gebracht werden können, war Ausdruck von Spinozas philosophischem Optimismus. Sowohl dessen metaphysisch-ontologische als auch dessen sozio-politische Thesen wies Nietzsche zurück und schlug stattdessen das »Kurz, es ist Optimismus […]«, WWV, II, 50, S. 827; Vgl. Abs. 4.2.2. »So z. B. widerspricht der Leibnizische Optimismus dem augenfälligen Elend des Daseins; die Lehre des Spinoza, dass die Welt allein mögliche und absolut notwendige Substanz sei, ist unvereinbar mit unserer Verwunderung über ihr Sein und Wesen […]«, WWV, II, 17, S. 239. 75 76
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Konzept »Chaos sive natura«77 und die aus der Antike abgeleitete Streitkultur vor. 78 An dieser Stelle ist weiter zu fragen, wie sich Nietzsche zwischen Spinozas Optimismus und Schopenhauers Pessimismus positionierte und welche theoretischen Folgen seine Auseinandersetzung mit Spinoza und Schopenhauer hatte. Für Nietzsche bestand der Unterschied zwischen dem Optimismus, dem Pessimismus und dem Nihilismus im philosophischen Kontext ihrer unterschiedlichen Bewertungen und Haltungen zum Leiden des Menschen. 79 Die Kultur der Leiden existiert nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern wird auch als sozio-kulturelles Paradigma gestaltet und wahrgenommen. 80 Dadurch werden sowohl körperliche als auch geistige Leiden erfasst. Beide sind oft schwer voneinander zu trennen. Es kann zur Produktivität, wie im Fall des kreativen Leidens eines Künstlers, aber auch zum Anästhesieren und zur Abhängigkeit des Betroffenen führen, wenn dieser einen bewussten oder unbewussten Umgang mit der Ursache seines Leidens nicht mehr leisten kann. Das Leiden ist ein philosophisches Thema, selbst wenn sich viele seiner Facetten mithilfe der naturwissenschaftlichen und medizinischen Betrachtung erschließen können, da man darin den ontologischen Status des menschlichen Vgl. Yhee (2014). Vgl. Abschnitt 3.2. 79 Knodts (1987) Arbeit gilt in dieser Hinsicht als ein bemerkenswerter Beitrag zur Bedeutung der Leidensthematik in Nietzsches Philosophie. Seine These, dass Nietzsches Philosophie vor allem als die Kritik an der metaphysischen Leidensflucht gilt, scheint sehr einleuchtend. Er schreibt: »Metaphysik ist, wie es unter verschiedenen Stichworten implizit schon erarbeitet aber nie ausgesprochen wurde, leidendes Bewußtsein und sie muß als eine Form des Willens zur Macht des Priesters in den Rahmen der Nihilismustheorie gestellt werden. Sie enthält das Nichts, vor dem und in das wir vor dem Leiden geflohen sind und als das sie sich jetzt wieder herausstellt, womit Leiden als das Elend, der Tatlosigkeit aufbricht.«, Knodt (1987), S. 190; auch vgl.: »Innerhalb dieser Bewegung der Metaphysik als sublimer Flucht vor einer unglücklichen Wirklichkeit ist auch die ›Theodicee‹ zu verstehen, die Nietzsche in der ›Geburt der Tragödie‹ einstmals nicht ›genügte‹. In ihr muß der Ursprung des Leidens, der Ungerechtigkeit, des Irrtums, des ganzen mangelhaften Daseins als Bestandteil der ›besten aller Welten‹ nicht nur bewiesen werden, sondern sogar gefordert sein, womit sich erläutern ließe, warum der Optimismus als die zur Aktivität führende Lehre vom Daseinszweck die eigentlich typische Form einer ›Herrschaftsmetaphysik‹ wäre.«, ebd. Angesichts der letzten Stelle kritisiert Knodt Deleuze: »Gilles Deleuze zielt mit seiner Explikation der ›Re-aktivität.‹ auf Passivität, erwähnt aber dabei nicht, daß es hier um die Unfähigkeit zu leiden geht. Metaphysik muß als Flucht vor dem Leiden und Leiden zugleich gesehen werden. Genauso das Ressentiment: Es ist leidendes Bewußtsein, weil es vor dem Leiden in ein Leiden flieht.«, ebd. 80 Im Hinblick auf das asketische Ideal als einen Lösungversuch für »die Sinnlosigkeit des Leidens« und den Nihilismus schreibt Nietzsche in GM, III, KSA 5, S. 339 f. u. 411 f. Dazu siehe Diskussion über den europäischen Nihilismus im Abs. 6.3. 77 78
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Daseins erkennt. Der Mensch ist und bleibt ein endliches Wesen, das ständig auf Grenzen stößt und darunter leidet. Er könne nur durch den Tod vom Leiden erlöst werden, so könnte zumindest ein Atheist glauben. Nicht nur für Schopenhauer and andere Denker des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern bereits für Spinoza war der Umgang mit dem Leiden von großer philosophischer Bedeutung. Die dogmatische Erklärung des Elends und des Bösen des Menschen in der Welt durch die christliche Lehre wurde nach der Neuzeit, besonders nach Descartes’ methodischer Skepsis, wieder in Frage gestellt. Fragwürdig wurde vor allem die herkömmliche Rechtfertigung des Leidens, die in Form einer theologischen Dogmatik unterrichtet wurde. Es musste im neuzeitlichen Geist wieder geprüft werden, ob sie einer rationalen Untersuchung standhalten konnte. In diesem Zusammenhang gilt es zunächst näher zu betrachten, welche Rolle das Leidensproblem in Schopenhausers pessimistischer Philosophie gespielt hat. 4.3.2 »Durch Leiden wissend« 81: Leidensfähigkeit und Nietzsches Schopenhauerkritik
Die Bedeutung von Schopenhauers Studie über die Veden oder Vedas lässt sich auch an seiner Bemühung erkennen, eine Antwort auf die Frage nach dem von der Existenz bedingten Leiden in dieser alten, heiligen Schriften Indiens zu suchen. Dies ist ein Merkmal, das auch die von dem alten Brahmanismus beeinflussten Religionen wie Buddhismus und Hinduismus teilen. Nach buddhistischem Denken gehört z. B. das Leiden eines Menschen nicht als ein vorläufiges Unglück zum Leben, vielmehr bedingt und verursacht sein Dasein das Leiden selbst. Nur durch eine wahre Erkenntnis über deren Zusammengehörigkeit gelangt ein Mensch zum ›Nirwana‹ (Pali Nibbana). Von dieser geistigen Tradition Indiens beeinflusst und sich der christlichen Denktradition über das Leidensproblem bewusst, erörterte Schopenhauer 82 die Ursache des menschlichen Leidens anhand der platonischen und kantischen Philosophie. Ihm zufolge liege der Ursprung menschlichen Leidens darin, dass das Individuum dazu bestimmt ist, anzustreben, sein Begehren zu befriedigen, obwohl es seiner Natur nach unerfüllbar sei. Das Individuum strebe trotzdem fast alles an, um das Begehren zu befriedigen, jedoch in UnSiehe die Diskussion über sein modernes Spiegelbild: »Durch Mitleid wissend« in Wagners Parsifal im Abs. 4.5. 82 In WWV II behandelt Schopenhauer die buddhistische »Verneinung des Willen (Nirwana) […]« und »seine Bejahung (Samsara)« explizit. Dazu siehe WWW, II, Kap. 48, S. 781 f.: »Von der Verneinung des Willens zum Leben«; auch vgl. WWV, I, Kap. 71, S. 558: »Nirwana der Buddhaisten« 81
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wissenheit, dass es bei seinem Bemühen nur als ein Träger des ›Willens zum Leben‹ fungiere. Denn das Individuum wisse nicht, dass es über seine ganze Lebenszeit diesem universalen Befehl gehorchen müsse, dem Prinzip der Welt, jenem ›Willen zum Leben‹, der gegenüber dem Leiden eines Individuums gleichgültig sei. Und im gleichen Augenblick, in dem das Begehren, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, endlich befriedigt zu sein scheine, treten nihilistische Zustände wie innere Leere und Ekel ein. Die Menschen pendeln also im glücklichsten Fall zwischen Verzweiflung und Überdruss. Auf diese Art und Weise funktioniert das ›Prinzip der Individualität‹. Die Entstehung der Individuen oder der Individualisierungsprozess der Erscheinungswelt erfolgt durch Zeit, Raum und Kausalität. Damit wurden in Kants philosophischem System eigentlich nur die Anschauung und der anschließende begriffsbildende Prozess des Verstandes erklärt. Bei Schopenhauer gewannen diese erkenntnistheoretischen Konzepte jedoch in seiner theoretischen Auffassung des Leidens jene ontologische und ethische Dimension. Aus diesem Grund schloss er die Möglichkeit aus, dass das Leiden durch einen aktiven Umgang damit grundsätzlich überwunden werden kann. Stattdessen wird eine resignative Haltung zum Leiden und Begehren empfohlen, sei es mithilfe einer künstlerischen Versenkung oder mithilfe einer meditativen Lebensweise. So vertritt Schopenhauers Pessimismus eine Grundeinstellung der Lebens- und Leidensverneinung, weil das Leiden als ein Faktor des vollkommenen Lebens nicht erkannt wird und weil das Leben frei von Leiden in seiner Philosophie grundsätzlich als unmöglich verstanden wird. Obwohl Schopenhauers pessimistischer Blick auf das Leidensproblem Nietzsches frühes Denken ohne Zweifel beeinflusst hat, distanzierte er sich von Beginn an von dessen lebensverneinender Tendenz. Schopenhauers Einfluss auf Nietzsches frühes Denken, besonders in seiner Behandlung der Leidensthematik, ist nicht schwer zu erkennen. In GT gibt es verschiedene Stellen, die diese Annahme nahelegen: das Gleichnis eines Schiffs auf dem wilden Meer sowie die Anekdote eines gefangenen Satyrs oder Themen wie ›Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben‹ 83, ›Schleier der Maya‹ 84 und ›principium individuationis‹, die in GT eine zentrale Rolle spielen. 85 Vgl. WWV, I, S. 373–558. Vgl. WWV, I, S. 49, »das Gewebe der Maja«. 85 »Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: welchen Schein wir, völlig 83 84
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Dennoch zeigte Nietzsche bei der Behandlung des Themas bereits in dieser Phase tendenziell grundlegende Differenzen zu Schopenhauers Denken. Obgleich er die kritische Pointe des schopenhauerschen Pessimismus gegen den Optimismus zu diesem Zeitpunkt noch mit Begeisterung wiedergab, schien ihm dessen lebensverneinender Aspekt problematisch und inakzeptabel. 86 Vor allem Schopenhauers begriffliche Behandlung von Mitleid und Leiden stand Nietzsche zufolge auf einer theoretisch unhaltbaren Grundlage, und so zog er im Hinblick auf deren genaue Anwendung auf das Mitleid einen kritischen Schluss in M (1881): »Es ist irreführend, das Leid, welches uns bei einem solchen Anblick angethan wird und das sehr verschiedener Art sein kann, Mit-Leid zu benennen, denn unter allen Umständen ist es ein Leid, von dem der vor uns Leidende frei ist: es ist uns zu eigen, wie ihm sein Leiden zu eigen ist. Nur dieses eigne Leid aber ist es, welches wir von uns abthun, wenn wir Handlungen des Mitleidens verüben. […] Das ist mein Zweifel bei all den unglaublichen Dingen, welche Schopenhauer vom Mitleide zu berichten weiss.« 87
Nicht allein, dass Schopenhauer seinem Mitleidbegriff zu viel theoretisches Gewicht gegeben, sondern auch, dass er dabei das unabhängige Element des Leides des Beobachtens mit dem distanzierten Mitleiden verwechselt hatte, fand Nietzsche schwer vertretbar. Aus diesem Grund versagte Schopenhauer dabei, die individuelle Dimension des Leidens richtig zu erkennen, die durch eine universalistische Philosophie nicht erfasst werden kann. Beide Fehler waren für Nietzsche wichtige Lehrstücke. Sei es Mitleid oder das sogenannte kollektive Leiden (z. B. eines Volkes), kommt es in Philsophie primär auf das Leiden eines Einzelnen an. Das eigene Leiden eines Einzelnen ist weder durch fremde Erfahrung ersetzbar noch für fremde Menschen genuin zugänglich. Es bietet die Grundlage für das philosophische Denken und für die religiöse Konstruktion. Diese Erkenntnis verhalf Nietzsche dabei, auch bei der Vertiefung
in ihm befangen und aus ihm bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden genöthigt sind.«, GT, KSA 1, S. 38–39; vgl. auch »Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Erlösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabenen Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist …«, a. a. O., S. 39. 86 »Wie dachte Schopenhauer doch über die Tragödie? […] [In WWV schreibt Schopenhauer: ( J. Y.)] ›[…] darin besteht der tragische Geist –, er leitet demnach zur Resignation hin‹. Oh wie anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser ganze Resignationismus!«, a. a. O., Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 20. 87 M, II, 133, KSA 3, S. 126–127.
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der Leidensthematik im sozio-politischen Kontext unermüdlich auf die Betrachtung der individuellen Ethik zu achten. Im Hinblick auf die Leidensfrage empfahl Schopenhauer, den Willen zum Leben zu verneinen und ein universales Heilmittel für das Leidensproblem mithilfe von Kunst 88 und Meditation 89 zu finden. Dagegen postulierte Nietzsche die Aufgabe, das Leiden als einen unvermeidbaren Grundstein des Lebens eines einzelnen Menschen zu bejahen. Mit diesem Selbstauftrag nahm er eine deutlich aktivere Haltung zum Leidensproblem ein, was auch in seinem parallel entwickelnden Denken über die Agonalität zu erkennen ist. Ihm zufolge ist eine derartige Bejahung unter bestimmten sozio-politischen und kulturellen Bedingungen ganz und gar realistisch, wie es etwa Vorbilder aus der griechischen Antike bewiesen. In den antiken Überlieferungen sind Sprüche wie »πάθει μάθος« (»durch Leiden wissend«) oder »παθήματα μαθήματα« (»das Gelittene [ist] das Gelernte«) anzutreffen. Der antike Geist oder der ›Mut‹ des Menschen in seinem tiefsten Sinne, den jene Sprüche gut übermitteln, prägte den Anbeginn seiner philosophischen Kulturkritik bereits sehr stark. Dieser antike Geist wurde zum Leitmotiv in GT. Bemerkenswerterweise blieb Nietzsche nicht auf dem verengten Horizont der philologischen Forschung der Zeit. Vielmehr machte er klar, dass der Umfang und der Kontext des Leidens nicht nur auf dem metaphysischen Grund erfasst werden können, wie es bei Schopenhauer und vielen anderen angenommen wurde, sondern auch eine geschichtliche und kulturkritische Dimension beinhalten. In diesem Vgl. WWV, I, Kap. 52, S. 372: »[…] das An-sich des Lebens, der Wille, das Dasein selbst, ein stetes Leiden […]; dasselbe hingegen als Vorstellung allein, rein angeschaut oder durch die Kunst wiederholt, frei von Qual, ein bedeutsames Schauspiel gewährt. […] Jene reine wahre und tiefe Erkenntnis des Wesens der Welt wird ihm [dem Künstler] nun Zweck an sich: er bleibt bei ihr stehn. Daher wird sie ihm nicht, wie wir es im folgenden Buche bei dem zur Resignation gelangten Heiligen sehn werden, Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf immer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben […].« 89 Vgl. WWV, I, Kap. 71, S. 557–558: »[…] so weichen wir keineswegs der Konsequenz aus, daß mit der freien Verneinung, dem Aufgeben des Willens, nun auch alle jene Erscheinungen aufgehoben sind, jenes beständige Drängen und Treiben ohne Ziel und ohne Rast auf allen Stufen der Objektivität, in welchem und durch welches die Welt besteht, aufgehoben die Mannigfaltigkeit stufenweise folgender Formen, aufgehoben mit dem Willen seine ganze Erscheinung, endlich auch die allgemeinen Formen dieser, Zeit und Raum, und auch die letzte Grundform derselben, Subjekt und Objekt. Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt. / Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts. […] Dennoch ist diese Betrachtung die einzige, welche uns dauernd trösten kann, wann wir einerseits unheilbares Leiden und endlosen Jammer als der Erscheinung des Willens, der Welt, wesentlich erkannt haben und andererseits bei aufgehobenem Willen die Welt zerfließen sehn und nur das leere Nichts vor uns behalten.« 88
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Sinne gilt auch der altgriechische Geist, der vom jungen Nietzsche vor seiner späteren Selbstkritik angepriesen wurde, als ein Einzelfall, der nur unter bestimmten geschichtlichen und kulturellen Bedingungen möglich war. Diese Bewunderung des antiken Ideals entschärfte keineswegs die kritische Beobachtung der sozio-politischen Entwicklung seiner eigenen Zeit, die er später im Hinblick auf seinen einstigen und europaweiten Wagnerkult vertieft hat. Obwohl Nietzsche in seiner späteren Schaffensphase seine ambitionierte Prognose über die Wiedergeburt der Musik in Wagners Musik zurückzog, blieb seine kulturkritische Motivation davon unbeschadet. Er konkretisierte seine ursprüngliche Absicht durch Vergleich zwischen den verschiedenen antiken und modernen Kulturräumen. Hierbei handelte es sich um eine Intuition, dass jeder Kulturraum ein unterschiedliches Wertesystem entwickelt, welches unterschiedliche Antworten zum Leidensproblem gibt und dadurch kulturelle Macht ausübt. Während sich diese Gedanken bei Nietzsche in seinen späteren Werken auf die Moral und Machtkritik konzentrierten, kam es in früheren Werken wie in GT vor allem darauf an, den Geist der Altgriechen mit dem Geist des modernen Europa zu vergleichen. Zwar betrachtete Nietzsche das Leiden des Menschen noch unter Schopenhauers Einfluss, dennoch begriff er das breite Spektrum des Umgangs mit dem Leiden, das sowohl vom Standpunkt oder der Perspektive des leidenden einzelnen Menschen als auch von dem unterschiedlichen Zeitalter und den Kulturräumen abhing. Es ist bemerkenswert, dass Nietzsche Schopenhauers Behandlung der Leidensthematik als dessen individuelle Schwäche angesehen hat, dagegen aber Spinozas Leidensauffassung im Sinne der antiken Tradition 90 hoch bewertete. Einen wichtigen Hinweis darauf findet man an der Stelle in FW, an der Nietzsche Spinoza und Goethe als die starken ›Seelen‹ bezeichnet und diese im Hinblick auf die sogenannten schwachen wie Kant und Schopenhauer aufgewertet hat. Die letzteren haben Nietzsche zufolge »eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte« 91 nicht erlebt, die nur mit einem individualen Engagement Auch wenn Nietzsche im noch näher zu erörternden Kontext die Rolle der »Möglichkeit großer plötzlicher Leiden« und der »furchtbaren Kraft ihrer Leidenschaften« für das stoische Lebensethos in NL 7[207], Ende 1880, KSA 9, S. 360 betont. 91 »Zwei Deutsche. – Vergleicht man Kant und Schopenhauer mit Plato, Spinoza, Pascal, Rousseau, Goethe in Absehung auf ihre Seele und nicht auf ihren Geist: so sind die erstgenannten Denker im Nachtheil: ihre Gedanken machen nicht eine leidenschaftliche SeelenGeschichte aus, es giebt da keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer Seele, sondern, im Falle Kant’s, eines Kopfes, im Falle Schopenhauer’s, die Beschreibung und Spiegelung eines Charakters (›des unveränderlichen‹) und die Freude am ›Spiegel‹ selber, das heisst an einem vorzüglichen Intellecte. Kant erscheint, wenn er durch seine Gedanken hindurchschimmert, als wacker und ehrenwerth im besten Sinne, aber als unbedeutend: es fehlt ihm 90
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im Leben entstehen kann. Deshalb verstünde ihr intellektualistisches Denken »keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden« (ebd.) des Lebens. Zur Frage, wie eine derartige »leidenschaftliche Seelen-Geschichte« (ebd.) im Denken möglich sei, empfahl Nietzsche, »nicht an grobe ›Ereignisse‹ von Aussen« (ebd.) zu glauben, sondern nur an »Schicksale und Zuckungen, denen das einsamste und stillste Leben verfällt, welches Musse hat und in der Leidenschaft des Denkens verbrennt.« (ebd.) Ein solch leidenschaftlicher Umgang lässt sich als ›dionysisch‹ bezeichnen, d. h. eine fröhliche und lebensmutige Haltung im Hinblick auf den Präsenz des Leidens, wie Nietzsches Deutung der ›griechischen Heiterkeit‹ weiterführend zeigen wird. 4.3.3 »Weder Optimist noch Pessimist«. 92 Lebensbejahung als Leidensbejahung
Nietzsches Anerkennung des dionysischen Umgangs mit dem Leiden in der griechischen Antike ließ sich mit der damals weit verbreiteten Annahme der so genannten »griechische[n] Heiterkeit« 93 nicht einfach vereinbaren. Danach hieß es, dass die in den altgriechischen Künsten und literarischen Werken ausgedrückte Heiterkeit den Optimismus der Hellenen impliziere. Dieser Optimismus habe auch die »griechische […] Harmonie« 94 und die »griechische […] Schönheit« (ebd.) zum Ausdruck bringen können. Anstatt dieses Antikenbild zu übernehmen, fragte Nietzsche nach dem kulturellen und sozio-politischen Hintergrund für die Erscheinung der ›griechischen Heiterkeit‹. 95 Er schlug folglich eine genealogische Herangehensweise zu ihrer Erklärung vor, indem nicht nur ihre Herkunft, sondern auch ihr Wandel und ihre Auswir-
an Breite und Macht; er hat nicht zu viel erlebt, und seine Art, zu arbeiten, nimmt ihm die Zeit, Etwas zu erleben, – ich denke, wie billig, nicht an grobe ›Ereignisse‹ von Aussen, sondern an die Schicksale und Zuckungen, denen das einsamste und stillste Leben verfällt, welches Musse hat und in der Leidenschaft des Denkens verbrennt. Schopenhauer hat einen Vorsprung vor ihm: er besitzt wenigstens eine gewisse heftige Hässlichkeit der Natur, in Hass, Begierde, Eitelkeit, Misstrauen, er ist etwas wilder angelegt und hatte Zeit und Musse für diese Wildheit. Aber ihm fehlte die ›Entwickelung‹ : wie sie in seinem Gedankenumkreise fehlte; er hatte keine ›Geschichte‹.«, FW, V, 481, KSA 3, S. 285–286. 92 NL 3[62], Winter 1869–70 – Frühjahr 1870, KSA 7, S. 77. 93 GT, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 12. 94 GT, 20, KSA 1, S. 130. 95 Vgl. NL 3 [76], Winter 1869–70 – Frühjahr 1870, KSA 7, S. 81, »Das ›Hellenische‹ seit Winckelmann: stärkste Verflachung. Dann der christlich-germanische Dünkel, ganz darüber hinaus zu sein. Zeitalter Heraklits Empedokles usw. war unbekannt. Man hatte das Bild des römisch-universellen Hellenissmus, den Alexandrinismus. Schönheit und Flachheit im Bunde, ja nothwendig! Skandaleuse Theorie! Judaea!«
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kung auf die späteren Epochen, besonders auf die europäische Moderne, diagnostiziert werden. Nietzsches Streben, den paradoxalen Hintergrund der griechischen Heiterkeit zu erläutern, fand im Spannungsfeld des kontinuierlichen Missverständnisses der Zeit gegenüber seinem eigenen Denken statt. Sein Denken über das Leiden und die Bejahung des Lebens wurde oft von seinen Zeitgenossen auf eine unkritische und optimistische Wirklichkeitsbejahung reduziert, wie er 1886 in einem Brief an Overbeck niederschrieb: »Das große Mißverständnis der Heiterkeit! Die brave Malvida, die mit ihrer rosigen Oberflächlichkeit sich in einem schweren Leben immer ›obenauf‹ gehalten hat, schrieb mir einmal, zu meinem bittersten Vergnügnen, daß sie, aus meinem Zarathustra heraus, schon den ›heitren Tempel winken‹ sehe, den ich auf diesem Fundament aufbauen werde. Nun, es ist einfach zum Todt-lachen; und ich gebe mich nachgerade damit zufrieden, daß man mir nicht zusieht und ansieht, an was für einem ›Tempel‹ ich baue.« 96
Die Heiterkeit mit der Oberflächlichkeit zu verwechseln, sei Nietzsche zufolge symptomatisch für die Moderne. Diese nur dem Zeitalter gefällige Missinterpretation fand er nicht nur bedauerlich für die Wissenschaft, sondern schicksalhaft für sein in Vereinsamung gedrängtes Leben. Aus diesem Grund hat er bei Spinoza nicht nur die Bestätigung der lebensbejahenden Haltung wiedergefunden, sondern auch eine weitere Verwandtschaft. Diese Einsamkeits- bzw. Einsiedlerthematik, die sich in Nietzsches Spinoza-Rezeption widerspiegelt, verband beide Denker auf einer sowohl existenziellen als auch sozio-politischen Ebene. Dies sorgte darüber hinaus für die theoretische Spannung zwischen ihnen, weil sowohl ihre Gemeinsamkeiten als auch ihre grundlegenden Differenzen insbesondere bei deren Behandlungen des Leidensthemas deutlich wurden. Anders als bei einer dichotomischen Trennung zwischen dem Leiden und der Heiterkeit des Lebens kommt die Lebensbejahung für Nietzsche in Frage, wenn der Mensch sein Leiden auch bejahen kann, also erst dann, wenn er mit der schwierigsten Lage konfrontiert wird. Genau dieses philosophische Experiment führte er in seinem Denken über die ewige Wiederkunft des Gleichen als die »extremste Form des Nihilismus« (NL 1886/87, 5[71], KSA 12, 213) aus. Die griechische Heiterkeit war in seiner Interpretation kein Zeichen des Aufstiegs der hellenischen Kultur, sondern galt als ihre »Abendröthe« 97 nach dem Höhepunkt. Sie markierte eine der wichtigen Zäsuren der griechischen KSB 7, Nr. 678, an Franz Overbeck in Basel, 25 März 1886. »Und [war] die ›griechische Heiterkeit‹ des späteren Griechenthums nur eine Abendröthe? Der epikurische Wille gegen den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? […] 96 97
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Antike, welche die durch den Intellektualismus des theoretischen Optimismus noch nicht eingeschränkte Lebenskraft des Griechen belegte. Es sei darauf hingewiesen, dass Nietzsches Kritik an der herkömmlichen Interpretation der griechischen Heiterkeit auf zwei unterschiedliche Ziele gerichtet war: Einerseits war der resignative Pessimismus zu kritisieren, der die Möglichkeit der aktiven Lebensbejahung verneinte. Andererseits war der theoretische Optimismus zu kritisieren, dessen Oberflächlichkeit Nietzsche gemeinsam mit Schopenhauer kritisch betrachtete. Diese Teilung beider Denk- und Handlungsmuster ist jedoch nicht dichotomisch zu verstehen. Im Umgang mit dem Leidensproblem entfaltet sich ein breites Spektrum, womit sich nicht nur der individuelle Charakter einer Person, sondern der soziale und kulturelle Hintergrund einer spezifischen Gesellschaft erklären lässt. Um die Lebenshaltung und die Weltperspektive der alten Hellenen auf ihrem Höhepunkt – und in ihrem Niedergang – festzustellen, fragte Nietzsche daher: Wie haben sich die alten Griechen mit dem Leiden auseinandergesetzt? Nicht nur seine Fragestellung ist legitim, sondern auch sein Weg, die Antwort in der altgriechischen Tragödie zu suchen. Denn das alltagsnahe und existenzwichtige Problem des Leidens der Hellenen wurde in Tragödien bestens zum Ausdruck gebracht. Die Werke der drei großen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides können die exzeptionelle Sensibilität der Altgriechen gegenüber dem Leiden nachweisen, wo nicht die einzelnen Charaktere, sondern die erschreckende Grausamkeit des Lebens und die unwiderstehliche Macht des Schicksals gegen die Sterblichen die wahren Protagonisten waren. In diesem Sinne schrieb Nietzsche 1870, dass »die alte Tragödie […] gar nicht auf das Handeln das Δράμα [Drama] abgesehn war, sondern auf das Leiden das πάθος [Pathos]« 98 Wie ließ sich jedoch die Sensibilität zum Leiden bei den alten Hellenen mit deren scheinbar naiver Heiterkeit vereinen, die man an dem typischen sanften und leichten Lächeln – dem sogenannten ›archaischen Lächeln‹ der Kuroi, also bei Skulpturen eines jungen Mannes aus diesem Zeitalter – erkennt 99? Für diese alte Fragestellung fand Nietzsche 1886 in seinem Versuch einer Selbstkritik in GT eine neue Formulierung: »Eine Grundfrage ist das Verhältnis des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität«. 100 Mit anderen Worten Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus?«, GT, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 12–13. 98 GMD, KSA 1, S. 527. 99 Vgl. Hegels Deutung der griechischen Heiterkeit im Hinblick auf die Ironie bei der Sokratischen Methode, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Bd. 18, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 1. Sokratische Methode, S. 460–461. 100 GT, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 15.
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fragte er, welche Lebenshaltung es den Griechen ermöglicht hat, mit dem Leiden erfolgreich umzugehen, weder seine ungeheuerliche Sensibilität zum Leiden zu ›desensibilisieren‹ bzw. zu ›anästhetisieren‹ noch dabei zugrunde gehen zu müssen. Auf den ersten Blick scheint es nur zwei Wege zu geben. Dem Weg eines intellektualistischen Optimisten folgend glaubt man, Leiden dadurch grundsätzlich überwinden zu können, indem seine Ursachen rational erklärt werden, wie es in GT Beispiele von Sokrates und Euripides als den ›theoretischen Menschen‹ tun. Der andere Weg folgt dem Pessimisten mit der Überzeugung, dass das Leiden unausweichlich ist und es für einen Sterblichen – solange er tragischerweise bereits geboren ist – nichts Besseres gibt, als möglichst bald zu sterben, wie mit der Anekdote zu Silens Weisheit in GT ausdrucksvoll dargestellt wurde. Im Gegensatz zu dieser dichotomischen Gegenüberstellung suchte Nietzsche eine Vereinbarkeit zwischen der Leidensanerkennung und der Lebensbejahung in Anlehnung an die griechische Antike. Die antike Weisheit, dass beide Elemente ohne Widerspruch vereinbar sind, wird unter anderem in der klassischen Anekdote vom »Scheideweg des Herkules« 101 vermittelt: Durch zwei mystische Figuren herausgefordert, entschied sich der junge Herkules, im Leben den schwierigeren Weg der Tugend zu gehen, statt den angenehmeren Weg der Lust. Dabei ist bemerkenswert, dass ihm der tugendhafte Weg – mit Not und Leid – schließlich das bessere Leben mit ›Achtung, Verehrung und Liebe der Menschen‹ zusichern sollte, welches auch das wahre und beständige Glück zusichern konnte. Diese antike Weisheit wird in der Geschichte mit dem Spruch »παθήματα μαθήματα« (»das Gelittene [ist] das Gelernte«) 102 resümiert. Nietzsches Denken über das Leiden entsprang aus diesem antiken Geist. Er kritisierte den Optimismus des theoretischen Menschen, den er für den Verfall der europäischen Kultur (einschließlich des Falls Wagners) verantwortlich sah. Er distanzierte sich auch von der schopenhauerschen Version des Pessimismus, der einen handelnden Menschen von seinem wirklichen Leben entfremdet. Es musste einen Weg geben, den bisher »weder Optimist noch Pessimist« 103 im herkömmlichen Sinne gegangen war. Nietzsches Fragestellung –
In einem weiteren modernen Kontext, wie der einzelne Mensch zur Verkleinerung und zum schwächeren Selbstbewusstsein gezwungen wird, betitelt Nietzsche einen Aphorismus in Morgenröthe mit »Am Scheidewege«. Vgl. M, III, 166, KSA 3, S. 148. 102 Herodot, Historien, 1, 207, in Herodotus 2002, S. 138. Auch vgl. Asheri et al. 2007, S. 214, Anm. zu 207. 103 NL 3[62], Winter 1869–70 – Frühjahr 1870, KSA 7, S. 77. 101
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»Giebt es einen Pessimismus der Stärke?« 104 – bestätigt seine Abgrenzung von Schopenhauers Position bereits in der GT. Er wollte eine andere Art des Pessimismus konzipieren – den Pessimismus der Stärke im Sinne der Haltung des mutigeren und differenzierteren Menschen, der wegen seiner Leidensakzeptanz die Lebensbejahung nicht verloren gibt. Das Besondere von Nietzsches Antikendeutung besteht darin, dass er die griechische Heiterkeit als den Ausdruck vom Pessimismus der Stärke interpretierte. Dieser Pessimismus wurde in den Tragödien vorbildlich präsentiert, beispielhaft bei Ödipus und Prometheus als ›leidenden Menschen‹ – homo patiens. In GT identifizierte Nietzsche bei beiden Figuren zwei unterschiedliche Formen des Pessimismus der Stärke, die jeweils exemplarisch einen erfolgreichen Umgang mit dem Leiden darstellten. Ödipus war die erste Figur. Ödipus, die »leidvollste Gestalt der griechischen Bühne« 105, wies in der anfänglichen Phase eine passive Haltung zum Leiden auf, als er nach der Erkenntnis der Wahrheit nicht gegen sein grausames Schicksal protestiert hatte, den eigenen Vater getötet und die eigene Mutter geheiratet zu haben. Er akzeptierte seine Strafe, im Elend und blind durch fremde Länder irren zu müssen, ohne auffälligen Widerstand. Nietzsche stellte bei dieser bemerkenswerten Figur jedoch fest, »dass der Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt.« 106 Denn der nun greise Ödipus unterlag auf Kolonos seinem Schicksal trotz langjähriger Umherwanderung nicht. Stattdessen wies er eine »überirdische Heiterkeit« (ebd.) auf, »die aus göttlicher Sphäre herniederkommt« (ebd.). Wie ist diese typisch griechische Heiterkeit bei Ödipus möglich, fragte Nietzsche. Die Antwort bestand in seinem »rein passiven Verhalten« (ebd.), dass Oedipus nämlich »allem, was ihn betrifft, rein als Leidender preisgegeben ist.« (ebd.) Das authentisch wahrgenommene und erlebte Leiden bringt seine produktive und aktive Dimension hervor, wie Nietzsche auch am Beispiel der Wehe und der Geburt thematisierte. 107 In die-
GT, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 12. »Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige Ödipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist.«, GT, KSA 1, S. 65. 106 »Im ›Oedipus auf Kolonos‹ treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung emporgehoben; dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegenüber, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender preisgegeben ist – steht die überirdische Heiterkeit, die aus göttlicher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt.«, a. a.O., S. 66. 107 Siehe Abs. 3.3.4. 104 105
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sem Sinne kann Ödipus als ein exemplarischer dionysischer Mensch interpretiert werden. Dem Typus Ödipus wird nun der andere dionysische Menschentypus des homo patiens, Prometheus, gegenüberstellt. 108 Was Prometheus besonders macht, ist seine kritische Haltung, die immer präsent und wirksam war. Er übernahm die von den mächtigen Göttern vorgegebene Bedingung keineswegs unkritisch. Stattdessen betrachtete er deren moralische Grundlage nüchtern nach seinem eigenen Maßstab und erhielt seine Unabhängigkeit von der göttlichen Beurteilung durch diese kritisch-reflektierte Haltung. Damit erlang Prometheus »die Glorie der Activität«. 109 Ein wichtiges Ziel von Nietzsches Deutung ist, zu betonen, dass die strenge Trennung zwischen der Passivität und der Aktivität oder die Dichotomie von Leiden und Handeln nicht gültig ist. Im Falle des Ödipus wurde die »Glorie der Passivität« 110 zu »seine[r] höchste[n] Activität« verwandelt. 111 Beim größten Leiden zeigte Prometheus seine höchste Aktivität, nämlich über das vorbestimmte, vorgegebene Wertesystem des Olymps hinausblickend ein unabhängiges Werturteil bilden zu können. Prometheus Glaube an die Gerechtigkeit war eine Widerspiegelung der »aeschyleischen Weltbetrachtung, die über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht«. 112 Dass er selbst nach der Bestrafung am Kaukasus seine selbstständige kritische Haltung nicht aufgab, kann man als einen prägnanten Ausdruck der Hybris bezeichnen, wie Goethe in seiner gleichnamigen Hymne dichtete:
»Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der Activität gegenüber, welche den Prometheus des Aeschylus umleuchtet.«, a. a.O., S. 67. 109 Ebd.; vgl. Goethes Darstellung von Prometheus in dem gleichnamigen Gedicht als eine aktive und selbstbestimmende Figur, die ›neue Menschen‹ nach seinem Bild erschafft: »Wer half mir Wider der Titanen Übermuth? […] // Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen,/ In Wüsten fliehen, /Weil nicht alle /Blüthenträume reiften? // Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sey, / Zu leiden, zu weinen, / Zu genießen und zu freuen sich, / Und dein nicht zu achten, / Wie ich!«, Goethe, Sämtliche Werke. Band 1. Gedichte 1756–1799, S. 329–330. Vgl. a. a. O., S. 203–204. 110 Ebd. 111 A. a. O., S. 66. 112 »Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht … ist … der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtigkeit: das unermessliche Leid des kühnen ›Einzelnen‹ auf der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidenswelten – dies alles erinnert auf das Stärkste an den Mittelpunkt und Hauptsatz der aeschyleischen Weltbetrachtung, die über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht.«, a. a. O., S. 68. 108
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»Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sey, / Zu leiden, zu weinen, / Zu genießen und zu freuen sich, / Und dein nicht zu achten, / Wie ich!« (letzte Strophe, Prometheus – Frühe Fassung 1789)
Auch die Hybris des furchtlosen und wagemutigen jungen Ödipus ist nach der langen Wanderung nicht gemindert. Im Gegenteil scheute sich der kühne, weise Greis auf Kolonos nicht mehr, selbst die Gerechtigkeit seines Schicksals zu bestreiten. Immerhin blieben die Moiren, die drei Schicksalsgöttinnen der Antike, als das aeschyleische Symbol der »ewige[n] Gerechtigkeit« (ebd.) mächtig über die Sterblichen. Dass der sterbliche, endliche Mensch leiden soll, gilt also auch weiter in Nietzsches Denken als ein Faktum. Trotzdem zeigen diese beiden antiken Figuren die Möglichkeiten, mit dem Leiden als dem Schicksal (fatum) des Menschen würdig und aktiv umgehen zu können, ohne dabei dem naiven Optimismus oder dem resignativen Pessimismus anheim zu fallen. Aus dieser philosophisch-anthropologischen Überlegung der dionysischen Leidensbejahung entwickelte sich bei Nietzsche der Gedanke vom amor fati. Zwischen Winter 1869/70 und Frühjahr 1870 schrieb er im Nachlass: »Der Hellene ist weder Optimist noch Pessimist. Er ist wesentlich Mann, der das Schreckliche wirklich schaut und es sich nicht verhehlt.« 113 Diese anfängliche Intention bestätigte er noch in seiner letzten Schaffensphase in EH: »Die Tragödie gerade ist der Beweis dafür, dass die Griechen keine Pessimisten waren: Schopenhauer vergriff sich hier, wie er sich in Allem vergriffen hat.« 114 Daher wurde die Interpretation des resignativen Pessimismus nach Schopenhauer kritisiert, die besonders bei ihrem Kunstverständnis weit verfehlte. Für ihn ist die »Kunst […] wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins […] Was bedeutet eine pessimistische Kunst? Ist das nicht eine contradictio? 115 Nun stellt sich die Frage, was diesen leidens- und lebensbejahenden Geist der Hellenen ermöglichen konnte. Das ist die bereits genannte »Grund-
Diesem Satz folgt: »Eine Theodicee war kein hellenisches Problem, weil das Erschaffen der Welt nicht die That der Götter war. Die große Weisheit des Hellenismus, die auch die Götter mit als der ἀνάγκη unterwürfig verstand. Die griechische Götterwelt ist ein wehender Schleier, der das Furchtbarste verhüllte. / Es sind die Künstler des Lebens; sie haben ihre Götter, um leben zu können, nicht um sich dem Leben zu entfremden. / Wichtig der Idealismus der Lebenden zum Leben. / Ein Kreuz mit Rosen umhüllt, wie Goethe in den Geheimnissen.«, NL 3[62], Winter 1869–70 – Frühjahr 1870, KSA 7, S. 77. 114 EH, ›Die Geburt der Tragödie‹, KSA 6, S. 309. 115 NL 14[47], Frühjahr 1888, KSA 13, S. 241: »[…] Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst des Pessimismus stellt. Tragödie lehrt nicht die ›Resignation.‹« 113
Nietzsche gegen den resignativen Pessimismus
frage« 116 nach dem »Verhältnis des Griechen zum Schmerz, [nach] sein[em] Grad von Sensibilität« (ebd.), die Nietzsche in der GT kontinuierlich thematisierte. An dieser Stelle ist zu betonen, dass es sich dabei nicht um eine optimistische bzw. pessimistische Einstellung eines Einzelnen handelte. Auch wenn es am Ende schließlich auf das existenzielle Handeln eines Individuums ankommen soll, wollte Nietzsche seinen Leser auf die kulturelle Macht aufmerksam machen, die auf dieses Einzelne in einer Gesellschaft ausgeübt wird. 4.3.4 Hybris, Aidos und fairer Wettkampf. Der dionysische Mensch in der Gesellschaft
Im vorangegangenen Abschnitt wurde Nietzsches Umdeutung ›der griechischen Heiterkeit‹ erörtert. Prometheus und Ödipus als Helden der griechischen Tragödie waren für ihn prägnante Beispiele des dionysischen Menschen. Das Leiden eines solchen Menschen (homo patiens) wurde als ein Gegenentwurf sowohl gegen den resignativen Pessimismus als auch gegen den naiven, theoretischen Optimismus wiederentdeckt. In Hinblick darauf möchte ich die Eigenschaften des dionysischen Menschen untersuchen, um über ihren historischen Horizont hinaus ein kulturell übersetzbares systematisches Bild zu generieren. Vor allem gilt es zu fragen, wie sich die Hybris des dionysischen Menschen definiert und wie sie sich zum Aidos, also zur Rücksicht verhält. Die Hybris, wie sie durch die Protagonisten zum Ausdruck kommt, ist eine der wichtigsten Leitmotive in griechischen Tragödien. Die Hybris oder der Übermut der menschlichen Gestalten verursacht bei Göttern Neid, Zorn oder Verachtung, was nach der herkömmlichen Interpretation zu Leiden und ihrem Verhängnis führt. Ödipus und Prometheus behielten ihre Würde und Souveränität trotz des unermesslichen Leidens. Vielmehr heißt es: »Wer sehr leidet, auf den wird der Teufel neidisch und weist ihn hinaus in den Himmel.« (NL 7[162], KSA 10, S. 295) Ihre Besonderheit lag Nietzsche zufolge darin, die dichotomische Verteilung zwischen dem Leiden und dem Handeln zu überwinden und einen qualitativen Übergang zwischen beiden verinnerlichen und verkörpern zu können. Dadurch kannten sie nicht nur negative Charakteristiken bei einem (rein theoretisch gedachten) passiv Leidenden, sondern eine Steigerung, Verstärkung, Verbesserung der Lebenskraft bei den Genesenden. Der Schlüssel zu dieser besonderen Fähigkeit zum Übergang bzw. Metamorphose kann mit der Frage-
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GT, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 15.
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stellung gefunden werden: Wie konnte bzw. sollte deren Hybris, die eine mit anderen Protagonisten der Tragödie geteilte Eigenschaft war, geregelt werden? Eine solche Frage setzt die Annahme voraus, dass die Hybris der Maßlosigkeit bzw. der Zügellosigkeit gleiche. Nietzsche hatte jedoch eine besondere Definition der Hybris, die sich von der herkömmlichen unterschied. Trotz der Schwierigkeit, es zu verallgemeinern, differenzierte er die Hybris bei seiner Deutung der Antike tendenziell und trennte sie von der Maßlosigkeit 117 oder der Zügellosigkeit. 118 Mit der dionysischen Lebenskraft meinte Nietzsche keine rücksichtslos und hemmungslos gewalttätige Haltung zum Leben. Sie bedeutete eher einen sensiblen Umgang mit der Härte des Lebens, wie Nietzsche mit Blick auf Goethes ›weiche Kraft‹ schreibt: »Die weiche Kraft. Die Deutschen meinen, daß die Kraft sich in Härte und Grausamkeit offenbaren müsse, sie unterwerfen sich dann gerne und mit Bewunderung: sie sind ihre mitleidige Schwäche ihre Empfindlichkeit für alle Nichts auf einmal los und genießen andächtig den Schrecken. Daß es Kraft giebt in der Milde und Stille, das glauben sie nicht leicht. Sie vermissen an Goethe Kraft und meinen, Beethoven habe mehr: und darin irren sie!!« 119
Diese weiche, sensibilisierende und sensibilisierte Kraft gilt als eine Macht nicht über die anderen Menschen, sondern primär über sich selbst, die durch die Ausbalancierung zwischen der Hybris und dem Aidos zum Ausdruck kommt, wie es weiter erörtert wird. In diesem Kontext gilt es, die Charakteristik der Hybris zu erwähnen. Laut Nietzsche heißt sie eine »Übersättigung, Berauschtsein vom Glück« 120, die »eine freudige […] Beschaffenheit voraus[setzt].« (ebd.). Aufgrund dieser positiven und aktiven Eigenschaften gilt sie als ein prägnanter Ausdruck der höchsten Selbst- und Lebensbejahung. In anderen Worten ist die Hybris weit von einer zerstörerischen Fehleinschätzung des Selbst sowie von einer Machtausübung entfernt, die beide primär auf die Anderen gerichtet sind. Gleichzeitig wollte Nietzsche der Hybris anhand jener Vorbilder der stärkeren Menschen aus der Tragödie noch die Eigenschaften zuerkennen, die zur Selbstüberwindung und -beherrschung gehören. Beide Aspekte, überglückVgl. S. 256, Die Unfähigkeit zu vergessen: Nietzsches Umwertung der Wahrheitsfrage, Sybe Schaap – 2002. 118 Vgl. die drei-fache Hybris der Moderne in GM, III, 9, KSA 5, S. 357: »Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur. […] Hybris ist unsre Stellung zu Gott. […] Hybris ist unsre ganze Stellung zu uns, – denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würde […]« 119 NL 7[195], Ende 1880, KSA 9, S. 357. 120 NL 7 [161], Frühjahr – Sommer 1883, KSA 10, S. 295. 117
Nietzsche gegen den resignativen Pessimismus
licher Rausch und achtsamer Umgang mit der Regel, scheinen sich auf den ersten Blick auszuschließen, lassen sich in Nietzsches Denken des Spiels und der Kreativität jedoch gut vereinbaren: Kreative Menschen repräsentieren bei Nietzsche nicht nur künstlerische Genies, sondern auch Kinder. In unterschiedlichen Beispielen der spielerischen und der ästhetischen Domäne des Lebens lässt sich diese Symbiose zwischen der Freude und der Selbstdisziplin bestätigen. Sogar ein zerstörerischer Akt wird mit der kreativen Schaffung neuer Regeln begleitet. Die Achtung der Regeln macht glücklich, solange sie immanente Selbstgesetzgebung ist. Das Individuum mit der Hybris im Sinne Nietzsches besitzt einen hohen Selbstrespekt und verlangt dasselbe von den anderen, d. h., dass sie nicht nur hohen Respekt anderen Individuen, sondern auch sich selbst entgegenbringen. Zur Diskussion über sein Verständnis von Aidos und Hybris spielt Nietzsches Notiz aus dem Jahre 1883 eine wichtige Rolle, die er nach seiner Lektüre von Leopold Schmidts Die Ethik der alten Griechen. Bd. 1 121 gemacht hat. Die Stelle beginnt mit seiner Erklärung des altgriechischen Begriffs Aidos (αἰδώς), der oft als ›Ehrfurcht‹, ›Bescheidenheit‹, ›Respekt vor dem Anderen‹, aber auch als ›Schamhaftigkeit‹ übersetzt wird. Schmidt wählte jedoch in Abgrenzung von einem verwandten Begriff »Aischyne« (Scham) das Wort »Rücksicht« oder »Ehrgefühl« als deutschen Übersetzungsvorschlag für Aidos. Aischnyne bezog sich auf das eigene Gefühl, während Aidos als ein soziales Gefühl interpretiert wurde. Nach dieser Deutung heißt »Aidos […] die Regung und Scheu, nicht Götter, Menschen und ewige Gesetze zu verletzen: also der Instinkt der Ehrfurcht als habituell bei dem Guten. Eine Art Ekel vor der Verletzung des Ehrwürdigen.« 122 Der Aidos in dieser Deutung besitzt einen sowohl ethischen als auch sozio-politischen Aspekt des Respekts voreinander. 123 So wird der Aidos in dieser Erklärung nicht als ein abgrenzender Faktor für die Hybris verstanden. Vielmehr bilden sie gemeinsam wichtige Bausteine der konfliktfähigen Gesellschaft. Den Aidos, »die griechische Abneigung gegen das Übermaß, in dem freudigen Ihnstinkt deri Hybris, hgegeni die Überschreitung seiner Grenzen« (ebd.), bezeichnete Nietzsche daher als »sehr vornehm – und altadelig« (ebd.). Diese positive Bewertung von Aidos hängt damit zusammen, dass die Neigung zum Aidos einen guten Wettkampf ermöglicht. Ein guter Wettkampf ist einerseits Leopold Schmidt, Die Ethik der alten Griechen. Bd. 1. Berlin: Verlag von Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung) (1882). Vgl. KSA 14, Kommentar zu NL 7[160], S. 686. 122 NL 7 [161], Frühjahr – Sommer 1883, KSA 10, S. 295. 123 Auch vgl. die Diskussion über Diké (Gerechtigkeitsgefühl) und Aidos (Rücksichtsnahme) als zwei gesellschaftliche Tugenden der Menschen in Anlehnung an Protagoras. 121
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ein fairer, gerechter Wettkampf, in dem kein Gegner eliminiert wird und sein Recht zum Wettkampf durch den Wettkampf verliert, wie Nietzsche in Homer’s Wettkampf argumentierte. 124 Ein guter Wettkampf ist andererseits ein sinnvoller und ernstzunehmender, in dem jeder Teilnehmer im spielerischen Eifer sein Bestes freiwillig leisten möchte. So scheint das wichtigste Ziel von Nietzsche als Kulturkritiker der modernen Zeit zu sein, weder den Aspekt der Hybris noch den Aspekt des Aidos einseitig aufzuheben, sondern die Bedingungen des guten Wettkampfs durch eine spielerische Spannung zwischen Aidos und Hybris zu erörtern. In diesem Sinne kann die Hybris nur dann positiv bewertet werden, wenn diese mit dem Aidos gekoppelt ist. So beschrieb Nietzsche die Rolle des Wettkampfs für die Beherrschung der Hybris: »Die Freien, Mässigen erfanden den Wettkampf als die immer wachsende Verfeinerung jenes Macht-Äußerungsbedürfnisses: durch den Wettkampf wurde der Hybris vorgebeugt: welche durch lange Unbefriedig[ung] des Machtgelüstes entsteht.« (ebd.)
Hierbei ist nochmals festzustellen, dass der dionysische Mensch sowohl durch den souveränen Machtanspruch als auch durch die Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, definiert wird. Es ist bemerkenswert, dass ein solch freier Mensch als ein »mässig[er]« bezeichnet wurde. Es ist ein wichtiger Hinweis, dass Nietzsches Plädoyer für den Wettkampf die Notwendigkeit eines Kompromisses voraussieht.
4.4 Nietzsche gegen den rationalistischen Optimismus. Die Vereinsamung des dionysischen Menschen in der Moderne 4.4.1 Der Rückgang der dionysischen Kultur in Europa. Der theoretische Mensch der Antike
In Nietzsches Denken über die altgriechische Antike zeigten Ödipus und Prometheus zwei zusammengehörige Aspekte des Pessimismus der Stärke bei Nietzsche. Das ›passive‹, aber übermenschlich willensstarke und daher vornehme Ertragen des Leidens (pati) impliziert sein aktives Handeln (agere). Dass der Unwissende erst durch Leiden die wahre Erkenntnis und somit auch seine volle Aktivität gewinnt, ist ein repräsentatives Schema in der griechischen Tragödie, das oft mit dem Spruch »πάθει μάθος« (›durch Leiden 124
Vgl. CV 5, Homer’s Wettkampf, KSA 1, S. 783 f.
Nietzsche gegen den rationalistischen Optimismus
wissend‹) 125 zum Ausdruck kommt. Für Nietzsche wurde das Leiden in der griechischen Antike also nicht als Strafe für Unwissenheit, sondern als ein Weg zur gesteigerten Lebenskraft verstanden. In GT trat das Leiden als ein Kernelement seiner Philosophie auf. Unter dem Einfluss Schopenhauers argumentierte er, dass das Leiden kein unerheblicher, sondern unentbehrlicher Baustein des Lebens ist. Es muss aber nicht heißen, dass jeder Mensch im Umgang mit dem Leiden identisch handelt. Vor allem muss die kulturelle Dimension in den Leidensumgang einbezogen werden. In diesem Punkt grenzte sich Nietzsche von Schopenhauer, seinem ›Erzieher‹, ab. Bereits in der Entstehungszeit von GT interessierten Nietzsche die verschiedensten Varianten des Leidensumgangs, wie einst Augustinus schrieb: »Tantum interest, non qualia, sed qualis quisque patiatur« (Nicht was, sondern wie jemand leidet, darauf kommt es an). 126 In diesem Kontext zitierte er in SE Meister Eckhart: »das schnellste Thier, das euch trägt zur Vollkommenheit, ist Leiden.« 127 Edel und stark sind die Menschen, die durch Leiden Erkenntnis über ihre Daseinsbedingungen gewinnen und damit zur aktiven Position gelangen können, wie Nietzsche mit Ödipus und Prometheus zeigt. Sie seien jedoch keine wirklichen Menschen, sondern Charaktere der hellenischen Tragödie, könnte man widersprechen. An ihnen spiegelt sich jedoch die damalige Kultur wider. Symbolisch und ästhetisch zeigten diese Figuren, inwieweit ein Kulturraum als ein Werte- und Moralsystem gelten und als solches die Selbstgestaltung eines Individuums beeinflussen kann. Der ideale Hellene war in dieser Hinsicht ein dionysischer Mensch, der im Hinblick auf seinen Leidensumgang jenseits des resignativen Pessimismus und des naiven Optimismus handeln konnte. Und dieses Idealbild war in der Kultur vordefiniert. In der Blütezeit der antiken Kultur galt das Leiden als etwas, was man mittels Vernunft oder Rationalisierung nicht entschlüsseln, verharmlosen oder sogar entkräften konnte. Jedoch herrschte bald ein anderes Wertesystem bzw. eine andere Gesinnung der Kultur, die die frühere besiegt und ersetzt hat. Diese nannte Nietzsche »das Sokratische« 128, was auch die Züge des neu entstandenen theoretischen Menschen allgemein bezeichnen kann. In GT kritisiert Nietzsche den letzten großen Tragiker Euripides dafür, dass er durch Siehe V. 177 in Denniston / Page 1957: Aeschylus, Agamemnon. Auch vgl. Verrall 1904: The ›Agamemnon‹ of Aeschylus, S. 23, Anm. zu 186–188. 126 Augustin, De civitate Dei I, 8. Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, ›Leiden‹, S. 208 f. 127 SE, KSA 1, S. 372. 128 »Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische […]«, GT, KSA 1, S. 83. 125
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Rationalisierung der Handlung die einst bei Aischylos und Sophokles als hochmütig und vornehm dargestellten Gestalten in die »schuldige(n) und erbärmliche(n)« 129 Figuren umgewandelt hat. 130 Das Sokratische ist es, was diesen Prozess weiter antrieb und die Kultur des theoretischen Menschen förderte. Damit fing der Niedergang der individuellen Moral und die Dominanz der moralistischen Dogmatisierung des Guten und des Bösen an. 131 Hier handelt es sich wohlgemerkt um eine optimistische Tendenz, da dabei die theoretische Fassungskraft des Menschen unausgesprochen vorausgesetzt wurde, das Leiden als ein Problem verstehen und es damit endgültig ›lösen‹ zu können. Diese Art des Optimismus tendiert dazu, das Leiden zu marginalisieren oder zu banalisieren, und hatte laut Nietzsche den Selbstmord der Tragödie 132 in der Antike zur Folge. Entsetzt durch die Entwicklung der modernen Kultur in Europa, veranlasste ihn dies, sein Konzept des Dionysischen zum Kerngedanken der anthropologischen Kulturphilosophie zu entwickeln. Nach seiner Beobachtung hatte die Dominanz des sokratischen Gedankengutes weitere schwere Folgen für die moderne europäische Kultur, besonders im Hinblick auf die Entstehung der Bildungsphilister. 4.4.2 Der Bildungsphilister und der rationalistische Optimismus der Moderne
Nietzsche suchte einen neuen Weg, der sich unter die Dichotomie zwischen dem Optimismus (ohne Thematisierung des Leidens) und dem Pessimismus (ohne die Lebensbejahung) subsumieren lässt. 133 Ein wesentlicher Teil seiner Kritik richtete sich auf die optimistische Vernachlässigung des Leidensproblems beim theoretischen Menschen, deren Kern er als das Sokratische bezeichnet hat. Seine Überlegung zum theoretischen Menschentypus der Antike und dessen weitreichende Auswirkung auf die Kultur der Moderne vertieften sich in Unzeitgemäßen Betrachtungen. In der ersten UB setzte sich Nietzsche mit der ›Griechische Tragödie: Das Drama beginnt‹, Brockhaus 2005 Auch in seinem Vortrag Socrates und die Tragoedie (ST, 1871) kritisiert Nietzsche Eupides im selben Zusammenhang: »Was Euripides sich in den aristophanischen ›Fröschen‹ zum Verdienst anrechnet, daß er die tragische Kunst durch Wasserkur abgemergelt und ihre Schwere vermindert habe, das gilt vor allem von den Heldenfiguren […] Die Idealität hat sich in das Wort zurückgezogen und ist aus dem Gedanken geflüchtet.«, ST, KSA 1, S. 534– 535. Vgl. GT, KSA 1, S. 76–77. 131 »[…] mit Socrates beginnt der Niedergang der Moral […]«, NL 7[44], Frühjahr – Sommer 1883. KSA 10, S. 257. 132 GT, KSA 1, S. 94–95. 133 NL 3[62], Winter 1869–70 – Frühjahr 1870, KSA 7, S. 77. 129 130
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Kultur seiner Zeit besonders am Beispiel des Bildungsphilisters kritisch auseinander, der ein soziales und kulturelles Phänomen in Deutschland nach seinem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg von 1870–1871 war. Nietzsche zufolge brachte der Sieg mehr Gefahr für »Sittlichkeit, Kultur und Kunst« 134 als eine Niederlage Deutschlands. Der Bildungsphilister, der im Fall David Friedrich Strauß (1808–1874) sein treffendes und provokatives Vorbild finden soll, sei von sich selbst überzeugt, so Nietzsche, nicht nur das geistige Erbe der großen Denker der vergangenen Zeit wie Goethe und Schopenhauer, sondern auch ihr Leiden als »Suchende« (S. 167) ›verstanden‹ zu haben. In dieser Selbstüberschätzung präsentierte sich der Bildungsphilister als der »Findende« (ebd.) Aber was dieser nicht begreifen konnte, war die Tatsache, dass das Leiden der großen Geister kein Gegenstand des Verstands für jemand ist, der selbst noch keine vergleichbar große Tat geleistet hat. Denn dies gilt als ein Lebenspathos jener mutigen Menschen, die sich immer höhere Ziele gesetzt haben, ohne einmal zu glauben, ›das Ziel‹ ›gefunden‹ zu haben, ohne zur »Selbstglorification« (S. 160) oder Selbst-»Zufriedenheit« (S. 164) zu geraten. Zwar hat Nietzsche für eine bestimmte Art der Kompromissbildung plädiert, die durch die Ausbalancierung zwischen der Hybris auf der individuellen Ebene und dem Aidos auf der intersubjektiven und gesellschaftlichen Ebene ermöglich wird. Beim Bildungsphilister kommt jedoch die einseitige Hybris zum Ausdruck, die das Gegengewicht durch den Aidos – also die Rücksicht und den Respekt gegenüber den Anderen – verloren hat. Sowohl seine Selbstzufriedenheit als auch seine Kompromissfähigkeit in der Gesellschaft ist dazu vorherbestimmt, auf noch größere Konflikte zu stoßen, weil die vorhandene Uneinigkeit durch die exzessive Rationalisierung nicht thematisiert wird. Nietzsche stellte Euripides, den Vertreter des theoretischen Optimismus in der Tragödie, als den antiken Beschwörer des modernen Bildungsphilisters dar. Dennoch unterschieden sie sich darin, dass der letzte Tragiker der Antike immerhin gegen den »Verfall des Musikdramas« (ST, S. 536) und gegen den »Geschmack […] der damals herrschenden Masse« »einsam« (S. 537) für die neue Komödie gekämpft hat. Die Ironie ist, dass dieser Kampf schließlich wesentlich zum Verfall der Tragödie beigetragen hat. 135 Trotz seiner Absicht, die Tragödie wiederzubeleben, zeigte Euripides den optimistischen und rationalistischen Zug gerade in seinen neuen Darstellungen der Handlungen der tragischen Helden. Nietzsche zufolge glaubte dieser, in der »rationalistischen Aesthetik« (S. 537) den Schlüssel für seine edle Aufgabe gefunden zu haben. 134 135
DS, KSA 1, S. 169–170. ST, KSA 1, S. 536 f.
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Dies bedeutet, »manches Zufällige, vom Dichter gar nicht Betonte« (ebd.) möglichst zu reduzieren und rationalisieren, um die »Incongruenz zwischen dichterischer Absicht und Wirkung« (ebd.) in der Tragödie zu beheben. In diesem Zusammenhang führte Euripides ›die bewußte Ästhetik‹ 136 in das Drama ein, die dessen rationalistische Wahrnehmung ermöglichen sollte. So schrieb Nietzsche: »›Alles muß bewußt sein, um schön zu sein‹ ist der euripideische Parallelsatz zu dem sokratischen ›alles muß bewußt sein, um gut zu sein.‹ Euripides ist der Dichter des sokratischen Rationalismus.« 137 Diesen rationalistischen Zwang, alles Zufällige zu unterdrücken, zu eliminieren und alles Unverständliche zu abstrahieren und damit zu entkräften, fand Nietzsche problematisch. Eine solche Tendenz, ohne theoretische Stringenz universale Wahrheit zu beanspruchen, spielte immer noch eine besondere Rolle für die moderne Kultur in Europa, glaubte er. Es handelt sich um einen wichtigen Ansatz, dem er in seiner Spinoza-Rezeption bei der Thematisierung des Zufalls und der Notwendigkeit im ontologisch-metaphysischen und kulturphilosophischen Kontext weiter folgte. Obgleich die Bildungsphilister der Moderne von ihren Vorgängern der Antike den theoretischen Optimismus geerbt hatten 138, fiel ihre unverdiente Selbstüberschätzung verwerflicher und fataler auf, da sie Nietzsche zufolge den »schamlose[n] Philister-Optimismus« und »[den] incurable[n] Optimismus mit einem wahrhaft feiertagsmässigen Behagen […]« 139 in der modernen Zeit noch weiter verbreiten konnten. Diese Struktur machte ein hochbrisantes Problem der Moderne aus, weil die Bildungsphilister auf die Masse und die Kultur der modernen Gesellschaft ironischerweise gerade ›dank‹ ihrer Oberflächlichkeit großen Einfluss ausüben konnten. Aus diesem Grund seien sie in hohem Maße am Niedergang der Kultur 140 schuldig. Der neue Optimismus in Europa lässt sich also beim Bildungsphilister exemplarisch erkennen, durch den der deutschen Kultur 141 nicht nur eine Nivellierung droht, sondern der Scharfsinn der Angehörigen der betroffenen Kultur so abstumpft, dass sich 136
»Euripides ist der erste Dramatiker, der einer bewußten Aesthetik folgt.«, a. a. O.,
S. 539. A. a. O., S. 540. »Sokrates das Urbild des theoretischen Optimisten«, GT, KSA 1, S. 100. 139 DS, KSA 1, S. 191. 140 Vgl. NL 37[4], Ende 1874, KSA 7, S. 830: »Niedergang der Bildung«; auch vgl. GD, ›Was den Deutschen abgeht‹ 5, KSA, 6, S. 107: »Niedergang der deutschen Kultur«. 141 In derselben Schrift gibt Nietzsche seine Definition der Kultur: »Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes. Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein nothwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich nöthigenfalls auf das beste mit dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heisst: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile.«, 137 138
Nietzsche gegen den rationalistischen Optimismus
dieser »Defekt« (S. 164) überhaupt nicht »bemerkbar« (ebd.) macht. Der Bildungsphilister stellte in dieser Hinsicht eine verhängnisvolle »Kraft« (S. 165) und »Macht« (ebd.) in der Kultur dar, die »zur Herrschaft gekommen sein« (ebd.) konnte. 4.4.3 Die Masse als neuer Akteur der modernen Kultur
Diese charakteristische Problemkonstellation spricht für die Aktualität von Nietzsches kulturkritischer Betrachtung der Moderne. Im Vergleich mit der Position Schopenhauers zeigte seine Kritik an der modernen Kultur und ihrer verwerflichen Moral interessanterweise einige verwandte Komponenten. In WWV hatte auch Schopenhauer das »methodische […], vollendete […], genießende […] und behagliche […] Philisterthum« 142 seines Zeitalters kritisiert. Seine Beschreibung ähnelt auf den ersten Blick Nietzsches Diagnose des modernen Symptoms 143, das dieser in ZA mit dem Menschentypus des »kleinen Menschen« 144 aufstellte. Jedoch hieß es bei Schopenhauer, dass die Philosophie von Spinoza und anderen Pantheisten die Rechnung für das Problem des Philistertums tragen sollte, da sie die Aufgabe der Ethik, die moralische Weltordnung zu begreifen, ignoriert hatte. Bei diesen modernen Menschen sah Schopenhauer naive Optimisten, welche das Leiden der Welt marginalisieren bzw. banalisieren und alles auf der Welt nur als vortrefflich betrachteten. Das Problem der Moderne war jedoch noch tiefer verwurzelt, als Schopenhauer geglaubt hatte, führte Nietzsche fort. Denn Schopenhauer hatte die Masse der Moderne, die durch neue demografische Zentralisierung und technische Vernetzung neu entstandene Gruppierung, nur als den passiven Empfänger für die Botschaft der Bildungsphilister betrachtet. Bei Schopenhauer wurde die Möglichkeit, einen genuinen Kompromiss zwischen aktiven Akteuren zu erreichen, daher nicht thematisiert, d. h. die Versöhnungsmöglichkeit durch die Ausbalancierung zwischen der freudigen Selbstgesetzgebung und dem Respekt gegenüber den Anderen. Bei Nietzsche geht es dagegen viel mehr um die Aufgabe, eine Symbiose der souveränen a. a. O., S. 163. Er kritisiert seine zeitgenössischen »Gelehrten« (ebd.), die in diesem »chaotischen Durcheinander« nur das »Moderne an sich« herausfinden könnten. (ebd.) 142 WWV II, 50. Vgl. Abs. 4.1.1. 143 In GT wird der Verdienst von Schopenhauer und Kant gegen den Optimismus positiv beurteilt (GT, KSA 1, S. 118), obwohl diese Position Nietzsches in seiner Selbstkritik im Jahre 1886 teilweise zurückgezogen wird. 144 ZA, III, ›Der Genesende‹, KSA 4, S. 274. Nietzsche schreibt auch über »die kleinen Leute«: vgl. »Heute nämlich wurden die kleinen Leute Herr«, ZA, IV, Vom höheren Menschen, KSA 4, S. 357. Vgl. auch ZA, III, ›Von der verkleinernden Tugend‹, KSA 4, S. 212.
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Individuen mit Differenzen zu erreichen, die sowohl sinnvollen als auch fairen Wettkampf leisten und durchhalten können. Es kommt darauf an, wie man die Entstehung der Massenkultur der Moderne philosophisch bewertet hat. Diese Überlegung vertiefte Nietzsche in seiner Diskussion über die moderne Entwicklung und Verbreitung der demokratischen und sozialistischen Bewegungen 145, die vor allem die Masse als einen kulturellen und sozio-politischen Akteur präsentierte. Wie das Beispiel des Bildungsphilisters zeigte, bildeten die Masse und die Bildungsphilister ein strukturelles Bündnis. Nietzsche zufolge verstärkten die Bildungsphilister durch Oberflächlichkeit im Denken ihre Ansprechbarkeit und Auswirkung auf die Masse. Die Masse wiederrum unterstützte die Fortexistenz dieser neuen Schicht der Moderne, die den theoretischen Optimismus in der banalsten Weise in sich verkörperte. Es geht hier nicht nur um eine demographische Veränderung, sondern auch um die Veränderung des Topos und der Machtverhältnisse, nämlich wie sich drei Akteure der Kultur, also das souveräne Individuum, der Bildungsphilister und die Masse, zueinander verhielten. Nietzsche, der sich als einen Einzelnen mit kritischem Wahrnehmungsvermögen begriff, fühlte sich isoliert und ›zeitungemäß‹. So wird der geschichtliche und kulturelle Aspekt des gelungenen oder gescheiterten Umgangs mit dem Leiden auffälliger, der weit über die rein individuelle Dimension hinausging. Durch deren Haltung zum Leiden wurden die freien Individuen von der – nach Nietzsches provokativem Schema – ›sklavenhaften‹ Masse abgegrenzt und die Bildungsphilister als der dritte Akteur konnte ins Spiel kommen. Die pejorative Bezeichnung von ›sklavenhaft‹ deutet vor allem auf die ›Sklavenmoral‹ der Masse in Abgrenzung der ›Herrenmoral‹ der freien Individuen hin. Es wird also keine essentialistische und endgültige unüberwindbare Trennung innerhalb des Menschengeschlechtes impliziert. Es geht vielmehr um die kulturelle und sozio-politische Prägung in der Gegenwart und weiteres Potential in der Zukunft, wodurch sogar die individuale Moral definiert werden kann. 146 Als ein aktiver Akteur spielte die Masse in der neuen Entwicklung der modernen Kultur eine bedeutende Rolle. Besonders im Zeitalter, in dem die Tragödie wie in der Antike nicht mehr möglich wurde, standen die als Bildungsphilister verkörperten theoretischen Menschen und die Masse in einer Komplizenschaft und machten sich für die zeitgenössische Kulturerscheinung mit gravierenden Folgen gemeinsam verantwortlich:
145 146
Siehe Abs. 5.4.2. Vgl. »Man wird moralisch, – nicht weil man moralisch ist!«, in M II, KSA 3, S. 89.
Nietzsche gegen den rationalistischen Optimismus
»Man soll es merken: die alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte von der ›Würde des Menschen‹ und der ›Würde der Arbeit‹ verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen.« 147
Diesen typischen Affekt, die Rachsucht der Masse, bezeichnete Nietzsche später als ›das Ressentiment‹ in GM: »Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: Das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.« 148
Das Ressentiment der Masse, dessen Analyse an sich ein eigenes Kapitel verdiente, dient aktiv dem kulturellen Prozess der Wertschaffung und erschwert damit die Rückkehr zum Selbst, was dann zur Selbstüberwindung und zum dionysischen Ausleben des Potentials eines Daseins führt. Somit konzentrierte sich Nietzsches Kritik auf die kulturelle Dimension, worauf vor allem Aufbau und Zerfall eines sozialen und individuellen Wertsystems basieren. Dieser versteckte aber intensive sozio-politische Aspekt seines Denkens und vertiefte sich, indem er das Verhältnis zwischen dem souveränen Individuum, der Kultur und der Gesellschaft in den Vordergrund seiner Überlegung rückte. 149
GT, KSA 1, S. 117. GM, I, 10, KSA 5, S. 270. 149 Auch in Spinozas Denken weist die Affektenlehre vergleicherweise nicht nur auf den individuellen, sondern auf den sozio-politischen Aspekt hin, besonders wenn es um Affekte wie Hoffnung und Furcht u. a. geht, die die Masse bzw. die Menge betreffen können. Die sozio-politische Dimension, bzw. die Manipulierbarkeit der Affekte ist bei Spinoza deshalb noch eingehender thematisiert, da ein Affekt nur durch einen anderen noch stärkeren Affekt ›gehemmt‹ oder ›aufgehoben‹ werden kann: »Ein Affekt kann nicht anders gehemmt oder aufgehoben werden als durch einen Affekt, der dem zu hemmenden Affekt entgegengesetzt ist und der stärker ist als dieser«, E VI, P7, S. 393. Vgl. auch die Rezension zu dem von Stephan Günzel herausgegebenen Band Von Wille und Macht in: Nietzsche-Forschung Bd. 13, S. 284. 147 148
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Sensibilität zum Leiden
4.5 Die moderne Konformität. Das Wagnerische oder die Reizkultur gegen die tragische Kultur 4.5.1 Die Reizkultur der Moderne. Neue Medien und das Anästhetisieren der Leidensfähigkeit
Es ist jedoch nicht nur der Optimismus, sondern auch der schopenhauersche Pessimismus für das moderne Phänomen des Ressentiments und der Massenkultur verantwortlich. Schopenhauers Denken übte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen erheblichen Einfluss auf die europäische Kultur aus und konvertierte große Geister der Zeit wie Richard Wagner und den jungen Nietzsche zu seinen Anhängern. Durch den großen Erfolg trug es dazu bei, eine resignative Haltung zum Leiden philosophisch zu legitimieren und somit die lebensverneinenden bzw. eskapistischen kulturellen Praktiken zu fördern. 150 Auch wenn Nietzsche Schopenhauers Kritik am Optimismus Spinozas und anderen ›Pantheisten‹ zum Teil Recht gegeben hat, geschah dies aus diesem Grund immer mit Vorbehalt. Während der Pessimismus in seiner lebensverneinenden Tendenz auf Nietzsches Kritik stieß, war der Optimismus des ›theoretischen Menschen‹ auch nicht ohne Probleme. Denn jener ›Philister-Optimismus‹ trug zum narkotischen und selbstvergessenen Leben bei und verhalf zur Banalisierung und Erniedrigung des menschlichen Daseins überhaupt, was durch unauffällige Naturen noch schwieriger zu bekämpfen war. In dieser Hinsicht schrieb Nietzsche in EH: »Ich werde einen grossen Anlass haben, die über die Maassen unheimlichen Folgen des Optimismus, dieser Ausgeburt der homines optimi, für die ganze Geschichte zu beweisen. Zarathustra, der Erste, der begriff, dass der Optimist ebenso décadent ist wie der Pessimist und vielleicht schädlicher.« 151
Der größte Irrtum bestand für den theoretischen Menschen darin zu glauben, dass Leiden des Lebens etwas ist, das ›verstanden‹ werden kann. Dieser Glaube an die Begreifbarkeit des Leidens oder »der verborgene Optimismus« 152 und »die Heiterkeit des Sclaven« 153 bezüglich des Leidensproblems wird nun nicht nur dem herkömmlichen Pessimismus, sondern dem ›Pessimismus der Stärke‹ und der ›griechischen Heiterkeit‹ gegenübergestellt.
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Siehe Abs. 4.5.3. EH, KSA 6, S. 367. GT, KSA 1, S. 101. A. a. O., S. 78.
Die moderne Konformität
Bei seiner philosophischen und kulturkritischen Beobachtung musste Nietzsche die möglichen Praktiken und Perspektiven zum Leiden präzise differenzieren, um die Komplexität des Kulturproblems zu erörtern. In GT wurde hauptsächlich der Gegensatz zwischen dem Pessimismus der Stärke und dem theoretischen Optimismus dargestellt. Auch hier war jedoch bereits zu erkennen, dass ein dritter Faktor – die Masse – die Sache noch komplizierter machte. Denn die Masse war nicht mit dem ›theoretischen Menschen‹ gleichzusetzen und handelte nach ihrem eigenen Antrieb, nach eigenen Affekten und einem eigenen Bewegungsprinzip. Nicht nur die ›Träger‹ des Leidens wurden dabei differenziert, sondern auch die unterschiedlichen Modi des Leidens. Im Zusammenhang mit seiner Kulturkritik an der Moderne gilt es, den Begriff des Reizes zu erläutern, der dem Leiden der lebensmutigen, starken Menschen gegenübergestellt wurde. Sowohl das Leiden bzw. das Erleiden als auch der Reiz drückt gemeinsam ein reaktives Element auf der Seite des Empfängers aus. Im Kontext der Kulturkritik hatte Nietzsche in seiner Definition des Begriffs ›Kultur‹ in GT auch das Wort ›Reizmittel‹ verwendet. Dort hieß es: »Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir Cultur nennen: je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine vorzugsweise sokratische oder künstlerische oder tragische Cultur.« 154 Hier wurde das Reizmittel als ein allgemeines Heilmittel verstanden, das gegen die »tiefer[e] Unlust« 155 nach der Konfrontation mit der »Last und Schwere des Daseins« 156 verordnet wurde. In den späteren Werken wie UB wies der Begriff ›Reiz‹ jedoch einen für die Moderne spezifischen medialen Aspekt der Kultur auf. Die neuen Medien der modernen Kultur – die »Zeitungs-Sprache« und das »Zeitungswesen«, die Nietzsche exemplarisch diskutierte – verstärkten die Passivität bzw. die eskapistische Tendenz dieser Kultur. Der Reiz in diesem Sinne hat, Nietzsche zufolge, die europäische Kultur seit dem ›Selbstmord‹ der griechischen Tragödie allmählich dominiert, dessen Kulmination in der Moderne erreicht werden sollte. Er argumentierte, dass ein solcher Reiz nichts mit dem erfolgreichen Umgang mit dem Leiden zu tun hatte, wie er ihn in GT mit dem Beispiel der antiken Tragödie thematisierte. Im Gegenteil implizierte genau das Bedürfnis nach einem neuen Reiz den Rückgang bzw. die Abwesenheit der aktvien Leidensfähigkeit der Einzelnen in der betroffenen Kultur. Während das Leiden für seine moderne Träger immer ›anstößig‹ und ›unannehmbar‹ wirkt, kommt der Reiz der zeitgenössischen Kultur einem Rezi154 155 156
GT, KSA 1, S. 116. Ebd. Ebd.
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pienten ›angenehm‹ und ›genießbar‹ vor. Dagegen kann das Leiden – oder besser gesagt: ein erfolgreicher Umgang mit dem Leiden – trotz oder sogar aufgrund seiner Anstößigkeit zur produktiven Tat verhelfen. In dieser Hinsicht schrieb Nietzsche: Während »der Mangel alles Anstössigen« 157 unter Bildungsphilistern als eine Tugend gilt, ist »anstössig aber […] alles wahrhaft Produktive.« (ebd.) »Zeitungs-Sprache« (ebd.) und »Zeitungswesen« (ebd.) sind einfallsreiche Quellen der Reizkultur sowie solide Medien in deren weiterer Entwicklung. Damit richtete sich Nietzsches Kritik zunächst an die Sprache in Zeitungen und Zeitschriften, die nicht nur in gedruckten Nachrichten und Meinungen, sondern in fast allen Bereichen des modernen und großstädtischen Lebens präsent war. Ihre stilistische Charakteristik, die bei den anfänglichen ›Massenmedien‹ unreflektiert häufig vorkam, war z. B. der »unaufhörliche […] Tropfenfall gleicher Wendungen und gleicher Wörter«. (ebd.) Als konkrete Anwender dieser Sprache nannte Nietzsche neben David Strauß auch die Schriften von Berthold Auerbach. Zu ihrem »Mangel alles Anstössigen« (ebd.) schrieb Nietzsche verblüfft: »Der Sprachfehler also – das ist das Merkwürdige – gilt unserem Philister nicht als anstössig, sondern als reizvolle Erquickung in der gras- und baumlosen Wüste des Alltags-Deutsches. Aber anstössig bleibt ihm das wahrhaft Produktive.« (ebd.) Für Nietzsche entsprach diese Sprache dem kulturellen Symptom seiner Zeit, nämlich der Degradierung des kritischen Vermögens der modernen Menschen in Europa, die »im eigentlichsten Sinne allen Geschmack verloren [haben], und ihre Zunge […] höchstens das ganz und gar Corrupte und Willkürliche mit einer Art von Vergnügen [empfand.]« (ebd.) Für ihn galt das Problem als etwas, was über die eng verstandene Domäne der Umgangssprache hinausging. Vielmehr wies dies auf eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderung hin, die schließlich auf der ästhetischen Domäne basierend – im Sinne der ›Wahrnehmung‹ (aisthesis) – das unkritische Verhältnis des Menschen zu seiner Welt beschleunigte. Es ist bemerkenswert, dass Nietzsche hier nicht nur das Problem des Geistes, sondern auch das Problem der Gefühle und der Stimmung gesehen hat, was ihn zum grundlegenden Neudenken herausforderte. Dass »sein ermüdete [r] Geist [der des modernen Menschen; J. Y.] ohnehin zum Widerstehen nicht aufgelegt ist« (ebd.), hing für ihn eng mit »der unglaublichen Langweile« (ebd.) der »Lohnarbeiter« (ebd.) des industrialisierten neuen Zeitalters zusammen. Diese wurden strukturell und subtil, also ohne merkbaren Zwang dazu veranlasst, lieber angenehme Unterhaltung nach der Arbeit zu suchen, ohne 157
DS, KSA 1, S. 222.
Die moderne Konformität
sich mühsam konzentrieren zu müssen, sich nüchtern zu halten und etwas zu betreiben, was zu anstrengend und ›anstößig‹ wirken könnte. In diesem Zusammenhang lässt sich das Phänomen des ›Abgestumpftsein‹ 158 des kritischen Wahrnehmungsvermögens als ein Zeichen der anästhetisierenden Kultur interpretieren. Diese moderne Erscheinung hat ihre Besonderheit darin, dass sie einen kritischen Umgang mit der Erfahrung eines Individuums bereits in der Phase der Wahrnehmung blockiert, was die Reflektion und die Intervention der Vernunft noch erschwert. 159 Damit gewann Nietzsches Kulturkritik eine explizit politische Nuancierung. Im Hinblick auf den Einfluss des modernen ›Zeitungswesens‹ auf die politische Konstellation schrieb er im 1885: »Ich bin abgeneigt 1) dem Socialismus, weil er ganz naiv vom Heerden-Blödsinn des ›Guten Wahren Schönen‹ und von gleichen Rechten träumt: auch der Anarchismus will, nur auf brutalere Weise, das gleiche Ideal 2) (dem) Parlamentarismus und Zeitungswesen, weil dies die Mittel sind, wodurch das Heerdenthier sich zum Herrn macht.« 160
Aus unserer Sicht des 21. Jahrhunderts besteht die Ironie darin, dass Nietzsche ein selbstbestimmtes und souveränes Individuum und den Sozialismus, den er an verschiedenen Stellen austauschbar mit dem Begriff der Demokratie verwendete, als sich ausschließend verstanden hat. Diese Ironie werden wir im Verlauf des Buches weiter diskutieren. Abgesehen von seiner politischen Polemik lässt sich jedenfalls bereits hier erkennen, dass sich Nietzsche auf die Analyse der kulturellen Dynamik konzentrierte. Ihn interessierte, worauf sich ein politischer Wandel stützen konnte. Der Umgang mit dem Leiden definierte für ihn die Dynamik dieser Zeit. Eine kritische Haltung dem Leiden gegenüber ermöglicht nicht nur das Ausleben eines Individuums, sondern auch die selbstbestimmte sozio-politische Handlung. Gegen die Tendenz der Reizkultur angehend konzipierte Nietzsche einen Gegenentwurf für eine Ästhetisierung des Lebens, die nicht Vgl. Nietzsches Zitat des Architekten Gottfried Semper (1803–1879) in GMD, KSA 1, S. 522: »Nichts ist vortheilhafter, sagt er, für das Kunstwerk, als das Entrücktsein aus der vulgären unmittelbaren Berührung mit dem Nächsten und aus der gewohnten Sehlinie des Menschen. Durch die Gewohnheit des Bequemsehen’s wird der Sehnerv so abgestumpft, daß er den Reiz und die Verhältnisseder Farben und Formen nur noch wie hinter einem Schleier erkennt.«. Vgl. dazu KSA 14, S. 99. 159 Im Vorwort an Wagner versteht der junge Nietzsche das Problem der Moderne als »ein aesthetisches Problem«, dessen Sinn nicht innerhalb der eng verstandenen Ästhetik aufhört, sondern als »ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum ›Ernst des Daseins‹ zu erkennen« sei. Dazu GT, Vorwort an Richard Wagner, KSA 1, S. 24. 160 NL 34[177], April – Juni 1885, KSA 11, S. 480. 158
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dessen Verschönerung, sondern dessen Verklärung bedeutete. In diesem Ideal würde die Balance zwischen dem Apollonischen und dem Dionysischen sowie zwischen der Hybris und dem Aidos erreicht werden können. Dort würde der gute und gerechte Wettkampf zwischen den »freien und mässigen« 161 Individuen stattfinden können. In Nietzsches kritischer Beobachtung verriet die moderne Kultur jedoch ihre Schwäche – die Unproduktivität, die ›Impotentia‹ und den Mangel an Selbstüberwindung und Rücksicht gegenüber Anderen: »Gerade in dieser Maasslosigkeit ihrer kritischen Ergüsse, in dem Mangel der Herrschaft über sich selbst, in dem was die Römer impotentia nennen, verräth sich die Schwäche der modernen Persönlichkeit.« 162 Nietzsches Begriffswahl der Impotentia erinnert hier an Schopenhauer. Nietzsche selbst kommentierte Schopenhauers Kritik am Grundcharakter der »Impotenz« in der Kultur: »[…] was dann, in seinen Folgen, jene grenzenlose Dilapidation der deutschen Sprache der ›Jetztzeit‹ hervorbringen muss, die am nachdrücklichsten Schopenhauer geschildert hat. ›Wenn dies so fortgeht‹, sagt er einmal, ›so wird man anno 1900 die deutschen Klassiker nicht mehr recht verstehen, indem man keine andere Sprache mehr kennen wird, als den Lumpen-Jargon der noblen ›Jetztzeit‹ – deren Grundcharakter Impotenz ist.‹« 163
Der dionysische Mensch wurde bei Nietzsche zwar als das Modell gegen einen solchen Mangel an Selbstherrschaft konzipiert. Wie kann jedoch ein solch selbstbestimmter Menschentypus wieder entstehen und fortexistieren, während dieser in der modernen Kultur in die Vereinsamung getrieben und nicht gehört wird? 4.5.2 Entwurf der tragischen Kultur durch den jungen Nietzsche
In GT konzipierte der junge Nietzsche seine Vision der »tragische[n] Kultur« 164 als Gegenentwurf zur Reizkultur der Moderne. Er bezeichnete drei Charakteristiken als die Merkmale der tragischen Kultur. Erstens: In der tragischen Kultur wird der absolute Wahrheitsanspruch der Wissenschaft kritisch reflektiert, während der Rolle der »Weisheit« (ebd.) hinsihtlich der Kultur mehr Anerkennung zukommt. Zweitens: Diese Weisheit erlaubt dem Menschen, das »Gesammtbild […] der Welt« (ebd.) zu überschauen. Drittens: 161 162 163 164
NL 7 [161], Frühjahr – Sommer 1883, KSA 10, S. 295. HL, KSA 1, S. 285. DS, KSA 1, S. 221. GT, KSA 1, S. 118.
Die moderne Konformität
Die Weisheit gilt auch als solche, da sie dem Menschen erlaubt, das Leiden des Daseins und der Welt wahrzunehmen und es »mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen.« (ebd.) Eine derartige Weisheit hat Nietzsche bereits in seinem Vortrag Sokrates und Tragödie (1871: ST) ›dem Sokratischen‹ als Kern des theoretischen Menschen gegenübergestellt. »Der Verfall der Tragödie, wie ihn Euripides zu sehen glaubte, war eine sokratische Phantasmagorie: weil niemand die Weisheit der alten Kunsttechnik hinreichend in Begriffe und Worte umsetzen konnte, leugnete Sokrates und mit ihm der verführte Euripides jene Weisheit. Jener unerwiesenen ›Weisheit‹ gegenüber stellte nun Euripides das sokratische Kunstwerk, allerdings noch unter der Hülle zahlreicher Akkommodationen an das herrschende Kunstwerk.« 165
Warum ist es wichtig, eine solche Weisheit über die Ganzheit des Lebens im modernen Zeitalter wiederzubeleben? Dass es sich hier um mehr als ein Plädoyer für den Irrationalismus handelt, sollte klar sein, wenn man bedenkt, welche Bedeutung Nietzsche der Ausbalancierung zwischen Körper und Geist auf verschiedene Art und Weise gab und diese befürwortete. Hier geht es also um das Wiedergutmachen des Verhältnisses der Kräfte innerhalb und außerhalb eines Individuums. Der einseitig betonte Intellektualismus ist genauso schädlich wie das Leben in maßlosen und unreflektierten Begierden. Jene Weisheit kann in diesem Kontext den vom Sokratismus vernachlässigten Aspekt des Instinkts und des Unbewussten des Menschen rehabilitieren, damit das Unbegreifliche und das Unverständliche nicht sofort zum Unbrauchbaren und Unakzeptablen degradiert werden. Denn dieser nicht zu rationalisierende Aspekt des Menschen ist für seine Kreativität und Produktivität essentiell, wie Nietzsche im selben Vortrag schrieb: »Bei allen produktiven Naturen wirkt gerade das Unbewußte schöpferisch und affirmativ, während das Bewußtsein sich kritisch und abmahnend geberdet. Bei ihm wird der Instinkt zum Kritiker, das Bewußtsein zum Schöpfer.« (ebd.) Damit konnte er den Ursprung der Unproduktivität der Bildungsphilister erörtern, die zum Teil durch ihren rationalistischen Trieb verursacht wurde. In der gleichen Passage begegnet man den Themen des Totalitätsanspruchs und des ›bejahenden Fatalismus‹ bei Goethe und Spinoza, die im dritten Kapitel erörtert wurden. Nietzsches Vision der tragischen Kultur stand im engen Zusammenhang mit seiner kritischen Auseinandersetzung mit den philosophischen und denkgeschichtlichen Fragen, die Spinoza, Goethe und Schopenhauer stellten. Während Nietzsche sein Resümee über Spinozas Denken später 165
ST, KSA 1, S. 542 f.
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Sensibilität zum Leiden
in seinem Lenzer-Heide-Entwurf über den europäischen Nihilismus (1887) zog, beschäftigte er sich noch mit der Leidensthematik 166 und Mitleidsethik 167 Schopenhauers, bei dem das Mitleidsgefühl für das menschliche Zusammenleben höchste Priorität besaß. Diese schopenhauersche Mitleidsethik, »das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden […] [zu] ergreifen« (ebd.), übte noch einen starken Einfluss auf den jungen Nietzsche aus. Das Mitleid war für Schopenhauer das edelste Gefühl des Menschen, das er als ein leidendes Wesen seinem gleich Mitleidenden schenken kann. 168 Das französische Ideal der Fraternität gegenüber der Menschheit basiert auf diesem Mitleidsgefühl, dessen Verwandtschaft mit der universalen Menschenliebe bei einer geeigneten Konstellation möglich wird. Die Implikation, dass die Mitleidsethik den demokratischen Wandel seiner Zeit weitertreiben könnte, und die lebensvereinenden Merkmale der Mitleidsethik gaben Nietzsche zweifachen Anlass dazu, einen alternativen Weg zu konzipieren. In GT lässt sich jedoch feststellen, dass der junge Nietzsche mit seinem Entwurf der tragischen Kultur die schopenhauersche Perspektive und Diagnose der modernen Kultur geerbt hat, obwohl andere Stellen auf seine bereits begonnene Distanzierung davon hinwiesen. Es gilt daher zu fragen: Inwieweit hat Nietzsches noch deutlichere Distanzierung von Schopenhauer sein Projekt der tragischen Kultur beeinflusst? Welche Rolle hat Nietzsches Spinoza-Rezeption für seinen philosophischen Werdegang in seiner mittleren und späteren Schaffensphase gespielt? Dieser Wandel in Nietzsches Denken, der als seine Selbstkritik an der romantischen Mitleidsethik begann, zeigt die Problematik im Hinblick auf sein Verhältnis zu Richard Wagner am prägnantesten, insbesondere an dessen Werk Parsifal. Für diesen Wandel Nietzsches bildeten Spinoza und Schopenhauer weiterhin zwei monumentale Säulen, zwischen denen ein gefährliches, aber auch kreatives Spannungsfeld existierte, wie ich in nächsten Abschnitten erörtere.
Vgl. WWV, I, Kap. 59, S. 444: »Was aber das Leben des einzelnen betrifft, so ist jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte […]«. 167 Vgl. WWV, I, Kap. 57, S. 511: »Was daher auch Güte, Liebe und Edelmut für andere tun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und folglich ist, was sie bewegen kann zu guten Taten und Werken der Liebe, immer nur die Erkenntnis des fremden Leidens, aus dem eigenen unmittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt. Hieraus ergibt sich, daß reine Liebe (ἀγάπη, caritas) ihrer Natur nach Mitleid ist; […] alle wahre und reine Liebe ist Mitleid, und jede Liebe, die nicht Mitleid ist, ist Selbstsucht. Selbstseucht ist der ἔρως, Mitleid ist die ἀγάπη.« 168 Vgl. WWV, I, Kap. 68 u. WWV, II, Kap. 47, S. 771: »das Mitleid, welches […] die Basis der Gerechtigkeit und Menschenliebe (Caritas) ist.« 166
Die moderne Konformität
4.5.3 Die Politik der Ästhetik. Wagners Gesamtkunstwerk und das Ideal des ganzen Menschen
Der Abschied von der Mitleidsethik wurde zum Hauptthema von Also sprach Zarathustra (ZA). Über die sozio-politische Dimension dieser scheinbar harmlosen Position schrieb Nietzsche: »Ihre beiden am besten gepredigten Lehren [der ›Heerdenmoral‹ : J. Y.] heißen: ›Gleichheit der Rechte‹ und, ›Mitgefühl für alles Leidende‹ – und das Leiden selbst wird von allen Heerden-Thieren als etwas genommen, das man abschaffen muß.« 169 Die große Ironie ist hier, dass das Thema des Leidens (vom Selbst und von Anderen) auch in der Mitleidsmoral nicht wirklich ernst behandelt wird, weil es allein in der spezifischen Konstellation des ›Mit‹-›Leids‹ betrachtet wird, die das Problem des Leidens nicht adäquat repräsentieren kann. Daher richtete sich seine Kritik an der Mitleidsmoral und ihrer metaphysischen Grundlage in diesem Sinne auf deren Scheitern, das Element des Leidens grundsätzlich zu thematisieren, sowie auf deren Annahme, das Leiden als eine nicht zwingende Bedingung des Lebens zu betrachten. In diesem Kontext kommentierte Knodt (1987) zu Recht: »Nietzsches Versuch ist es, den Zusammenhang von metaphysischen Vernunftkonstruktionen und Realitätsflucht als Leidensflucht darzustellen […].« 170 Nietzsche zufolge kennzeichnete sich die herrschende Moral der Moderne durch ihre Kompromisshaltung zwischen dem naiven Optimismus und dem resignativen Pessimismus aus. Durch diese geschickte Anpassung konnte sie ihre kulturelle Herrschaft beanspruchen und stabilisieren. Jedoch verfehlte sie genau deswegen zu erkennen, dass das Leiden des Menschen eigentlich »sein [en] Erfindungs- und Verstellungsgeist durch langen Druck und Zwang herausgefordert« (S. 469). Durch diese kritische Diagnose verabschiedete sich Nietzsche in seiner mittleren und späteren Schaffensphase endgültig von seinem früheren Plädoyer für das »Mitgefühl für alles Leidende« (ebd.). Es kommt darauf an, wie man seinen individuellen Umgang mit seinem eigenen Leiden finden kann. Um einen solchen authentischen Umgang zu finden, müssen sowohl die negative, lebensbedrohende Dimension des Leidens als auch ihre positive, zur Kreativität inspirierende Dimension berücksichtigt werden. Angesichts der Fatalismusthematik heißt es, einen sowohl selbstbestimmenden als auch spielerischen Umgang mit der Anerkennung des vorgegebenen Schicksals des Daseins zu verbinden, wie es im Hinblick auf Nihilismus und amor fati im fünften Kapitel noch einmal erörtert wird.
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NL 34[176], April – Juni 1885, KSA 11, S. 478–479. Knodt (1987), S. 190–191.
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Ein wichtiges Merkmal der tragischen Kultur war für Nietzsche das Ideal der Brüderlichkeit 171, die im und durch das Mitleid zum Ausdruck kommen würde. Dieses Ideal kennzeichnete nicht nur das Denken des jungen Nietzsche, sondern auch Wagners Denken, der ebenso stark von Schopenhauers Denken beeinflusst wurde – dies wird in seinen Werken deutlich. Wagner war eine der einflussreichsten Figuren für die europäischen Geistesgrößen des 19. Jahrhunderts; so wurde ihm etwa Nietzsches Geburt der Tragödie gewidmet. Der junge Nietzsche hat Wagner nicht nur als Komponisten, sondern auch als exzeptionellen Denker respektiert, wie sein Kommentar über Wagners Beethoven-Schrift in der Widmungsrede 172 zeigte. Auch in den späteren Jahren hielt Wagners Bedeutung für Nietzsche an. Wie ein Werktitel aus der letzten Schaffensphase Nietzsches – Der Fall Wagner (1888) – belegt, galt Richard Wagner nicht nur als eine Person, sondern primär als das Symptom der modernen Kultur, mit welcher Nietzsche sich mittels seines Philosophierens lebenslang auseinandersetzte. Die idealistische Hoffnung des jungen Nietzsche, dass die tragische Kultur eine Brüderlichkeit der Menschen und eine antike Weisheit durch Wagners Musikdrama verwirklichen kann, lässt sich jedoch nicht allein durch seine Begeisterung für diesen erklären. Ihre gemeinsame Hochachtung vor Schopenhauer hatte ihre ereignisreiche Freundschaft überhaupt erst zustande gebracht. Es wird generell vorausgesetzt, dass Nietzsches Distanzierung von Wagner zwischen 1875 und 1876 beginnt 173 und dass diese mit seiner großen Enttäuschung hinsichtlich der Tatsache einhergeht, dass die Grundlage für die tragische Kultur trotz Nietzsches Hoffnung nicht in Wagners Bayreuther Festspiel zu finden war. 174 In Nietzsches Nachlass ist zu lesen, dass im Sommer 1876 seine Enttäuschung von Wagner groß war, dass seine freundschaftliche Beziehung zu ihm endete. 175 Das abrupte und irreversible Ende dieses besonderen Verhältnisses lässt sich daher zum großen Teil mit Nietzsches geänderter Position zu Schopenhauer erklären. Besonders wichtig war die Zeit gegen Mitte der 1870er Jahre, als er seine bisherige Auffassung zum Leiden philosophisch noch gründlicher reflektierte. Bereits in GT zeigte er deutlich abweichende Positionen von Scho171
Vgl. die sozio-politische Bedeutung der ›Nächstenliebe‹ bei Spinoza im Abschnitt
4.3.6. GT, Vorwort an Richard Wagner, KSA 1, S. 23–24. Vgl. Borchmeyer / Salaquarda (Hg.) 1994, Bd. 2, S. 1236–1238. 174 Vgl. Vogel (1984), S. 40–46. 175 »Was Richard Wagner betrifft: so habe ich die Enttäuschung vom Sommer 1876 nicht überwunden, die Menge des Unvollkommenen, am Werke und am Menschen, war mir auf Ein Mal zu groß: – ich lief davon.«, NL 34[205], April – Juni 1885, KSA 11, S. 491. 172 173
Die moderne Konformität
penhauers Auffassung, die nach der Veröffentlichung des Werkes noch weiter verstärkt wurden. 176 Eine solche Überlegung leitete eine kritische Auseinandersetzung mit seiner bisherigen Wagnerbegeisterung ein, weil Wagner in seinen späteren Werken das Mitleid-Ideal ganz im Gegenteil noch stärker thematisieren wollte. Nietzsche argumentierte, dass Wagners ›Bühnenweihfestspiel‹ Parsifal (1882) seinem gewagten Versuch, ein von Schopenhauer unabhängiges Denken zum Leiden zu konzipieren, eine einzigartig hybride, monströse Gestalt verliehen hat. Seine Uraufführung fand statt, während Nietzsche schon die Mitleidsmoral mit kulturkritischen und genealogischen Untersuchungen des christlichen Wertesystems zu widerlegen begann. In diesem Sinne ist Nietzsches Wagnerkritik als eine Art Selbstkritik zu verstehen, die an seinen früheren Positionen vollzogen wurde. Dieses selbstkritischen Charakters seiner Wagnerkritik bewusst, schrieb Nietzsche: »Wagnern den Rücken zu kehren war für mich ein Schicksal; … Niemand war vielleicht gefährlicher mit der Wagnerrei verwachsen, Niemand hat sich härter gegen sie gewehrt, Niemand sich mehr gefreut, von ihr los zu sein. … Will man ein Wort dafür? … Vielleicht Selbstüberwindung. […]« 177 Das Jahr 1878 178 bedeutete für Nietzsche nicht nur den endgültigen Kontaktabbruch mit Wagner 179, sondern auch seine Trennung von der Idee, dass die Wiedergeburt der tragischen Kultur durch die Kunst möglich sei. Der idealisierte Glaube, dass die leidende Menschheit allein durch das Mitleid zu erlösen wäre, hat bei Wagner eine künstlerische Manifestation erreicht, indem er Parsifal als ›Bühnenweihfestspiel‹ einen ritualistischen Charakter verliehen hat. Zur Entstehungszeit der GT hatte Nietzsches »Hoffnung« (S. 24, Vorwort an Richard Wagner, GT) in der Wiedergeburt der tragischen Kultur im gegenwärtigen Zeitalter des 19. Jahrhunderts bestanden. Sie beruhte immer noch auf seiner Bewunderung von Wagners künstlerischer Schöpfungskraft, die zu seiner Widmung der Geburt der Tragödie für ihn geführt hatte. 180 Aber warum sah der junge Nietzsche nicht in der modernen Oper allgemein, sondern ausgerechnet in Wagners Musikdrama eine Chance, die Ganzheit des Menschen wieder aufblühen zu lassen? Zum einen hing es mit dem Ideal zusammen, welches die Entstehung der modernen Oper begleitete: dem Ideal, mit dieser neuen Gattung die antike Tragödie wiederbeleben und in die moderne Zeit einführen zu wollen. Der 176 177 178 179 180
Vgl. Vogel (1984), S. 152 f. und 157 f. WA, Vorwort, KSA 6, S. 11. Vgl. Borchmeyer / Salaquarda (Hg.) 1994, Bd. 2, S. 1238 f. Vgl. EH, ›Menschliches, Allzumenschliches‹, KSA 6, S. 327. Vgl. Eger (2001), S. 33.
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Protagonist Orfeus in Orfeo von Monteverdis Oper hatte einen in diesem Sinne symbolischen Versuch gemacht, seine Gemahlin Eurydike aus der Unterwelt zurückzuholen. 181 Nietzsche wies selbst auf diese Idee hin, auch wenn er es mit einem starken Zynismus kommentierte: »Das, was wir heute die Oper nennen, das Zerrbild des antiken Musikdrama’s, ist durch direkte Nachäffung des Alterthums entstanden: ohne die unbewußte Kraft eines natürlichen Triebes, nach einer abstrakten Theorie gebildet, hat sie sich, wie ein künstlich erzeugter homunculus, als der böse Kobold unserer modernen Musikentwicklung geberdet.« 182
Selbst das Ideal der Weimarer Klassik, die Totalität der Menschen in der Moderne wieder zu realisieren (siehe Kap. 3.), fand in der Entstehung der modernen Oper im 16. Jahrhundert in Florenz ein Vorzeichen. Nietzsches idealisierte Erwartung beeinflusste möglicherweise seinen misstrauischen Blick auf die moderne Oper im Allgemeinen, solange sie ihm zufolge von einer ›falschen Voraussetzung‹ beim theoretischen Optimismus ausging. So hieß es: »Die Voraussetzung der Oper ist ein falscher Glaube über den künstlerischen Prozess und zwar jener idyllische Glaube, dass eigentlich jeder empfindende Mensch Künstler sei. Im Sinne dieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismus des theoretischen Menschen dictirt.« 183
Nicht nur dieser ›demokratische‹ Glaube der modernen Oper, sondern auch die sozio-kulturelle Praxis, wie die neue Kunstgattung von modernen Menschen rezipiert bzw. konsumiert wurde, kennzeichnete sie in Abgrenzung von der altgriechischen Tragödie, die eigentlich zu ihrem Vorbild werden sollte. Die Aktualität von Nietzsches Denken lässt sich hier wiedererkennen, und zwar darin, dass er den demokratischen Wandel der Moderne durch die enge Verzahnung zwischen der Ästhetik und der Politik erkennt. Als Vorgänger von Walter Benjamin und Theodor Adorno analysierte er sowohl die rezeptionsästhetische als auch die sozio-politische Dimension des Kulturkonsums der Moderne:
»Die O[per] entstand um 1600 in Florenz aus dem Bestreben, die vermeintli[che] Form der griechischen Tragödie wieder zu erwecken, indem nicht nur wie bisher in den Hirtenstücken die Zwischenchöre, sondern auch der Dialog der Schauspiele vertonte wurden (»Dafne« 1598 von I. Peri […]). Die erste bedeutende O[per] war »Orfeo« (1607) von C. Monteverdis, dessen Spätwerke […] die weitere Entwicklung maßgeblich bestimmten.«, ›Oper‹ in Brockhaus (2006), Bd. 20. 182 GMD, KSA 1, S. 516. 183 GT, KSA 1, S. 124. 181
Die moderne Konformität
»Nicht die ängstliche Flucht vor der Langeweile, der Wille sich und seine Erbärmlichkeit um jeden Preis für einige Stunden los zu sein, trieb jene Männer ins Theater. Der Grieche flüchtete sich aus der ihm so gewohnten zerstreuenden Öffentlichkeit, aus dem Leben in Markt Straße und Gerichtshalle, in die ruhig stimmende, zur Sammlung einladende Feierlichkeit der Theaterhandlung […]« 184
Bei der Rezeption der antiken Tragödie hatte »der athenische Zuschauer seine frischen morgendlichen, festlich angeregten Sinne noch, wenn er sich auf den Stufen des Theaters niederließ […]« 185 Im Gegenteil kam »das […] faule […] fatiguirte […] allabendliche […] Abonnementspublikum« (ebd.) der Moderne »mit müden abgehetzten Sinnen zum Theater […], um sich hier in Emotion versetzen zu lassen.« (ebd.) Eine solch kritische Betrachtung über den gewollten Zerstreuungseffekt bei Kulturkonsumenten und sein Plädoyer für die ›Versenkung‹ erinnert an Adornos Denken. 186 Nietzsches Ziel ist es jedoch, eine philosophisch-anthropologische Untersuchung der Sensibilität zum Leiden zu veranlassen, die als ein in jeder Kultur unterschiedlich verankertes, jedoch als Potential immer vorhandenes Vermögen des einzelnen Menschen gilt. In diesem Projekt machte er auf die außerordentliche »Sensibilität« (GT, S. 15) des antiken Menschen für das Leiden aufmerksam, die mit dem anästhesierten und entpolitisierten Zustand des modernen Menschen kontrastiert wurde. Auch inhaltlich unterschied sich die altgriechische Tragödie von der modernen Oper dadurch, dass sie die Leidensgeschichte des Dionysos symbolisch wiederholte. 187 In diesem Kontext betonte Nietzsche, dass nicht das Handeln bzw. die Handlung, sondern das Leiden (des Dionysos) im Mittelpunkt der griechischen Tragödie gestanden hat, anders als beim modernen Drama: »Ich kehre zu dem vorhin angedeuteten Gesichtspunkte zurück, daß im griechischen Drama der Accent auf dem Erleiden, nicht auf dem Handeln ruht; jetzt wird es leichter sein zu begreifen, weshalb ich meine, daß wir gegen Aeschylus und Sophokles ungerecht sein müssen, daß wir sie eigentlich nicht kennen. Wir haben nämlich keinen Maßstab, das Urtheil des attischen Publikums über ein Dichterwerk zu controlieren, weil wir nicht wissen oder nur zum geringsten Theile wissen, wie das Erleiden, überhaupt das Gefühlsleben in seinen Ausbrüchen, zum ergreifenden Eindrucke gebracht wurde. […] Wir sind einer griechischen Tragödie gegenüber incompetent, weil ihre Hauptwirkung zu einem GT, KSA 1, S. 520. GMD, KSA 1, S. 522. 186 Vgl. Endres (2017). 187 »Zuerst mußte ein dithyrambischer Chor von zu Satyrn und Silenen verkleideten Männern selbst zu verstehen geben, was ihn in solche Aufregung versetzt habe: er deutete hin auf einen den Zuhörern schnell verständlichen Zug aus der Kampf- und Leidensgeschichte des Dionysos.«, GT, KSA 1, S. 527. 184 185
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guten Theil auf einem Element beruhte, das uns verloren gegangen ist, auf der Musik.« 188
Trotz der rauschhaften »Feierlichkeit« (ebd.) lag das Ziel der Musik daher keineswegs darin, einen zerstreuenden Effekt bei den Anwesenden zu erzeugen. Der junge Nietzsche hatte gehofft, dass der Komponist Wagner mit der ihnen beiden gemeinsamen Begeisterung für Schopenhauers Pessimismus gegen die moderne Unfähigkeit zur Konfrontation mit dem Leiden kämpfen und den lebensmutigen Umgang mit ihm nach dem antiken Vorbild neu entwerfen würde. Gegen die herrschende Tendenz des Zerfallens der integrativen Elemente des Menschen, wie die durch die moderne Arbeitsteilung 189, sollte das Ideal des ganzen Menschen eine grundlegende Alternative bieten. So würde der gewaltige Prozess verhindert, die Souveränität des Individuums zu entkräften. Würde das neue sozio-politische Konzept durch die ›Gesam[m]tkunst‹ 190 getragen, könnte der Mensch endlich wieder als ›der ganze Mensch‹, nicht mehr »bald als Ohrenmensch […], bald als Augenmensch […]« leben. Dabei ist bemerkenswert, dass Nietzsche das Ideal der Totalität 191 besonders in der ästhetischen Dimension gesucht hatte. 192 An einer Stelle bezeichnete er das antike Musikdrama – also nicht nur Wagners Musikdrama – als eine ›Gesam[m]tkunst‹ (NL 9 [149]): »Gebundenheit und doch Anmuth, Mannichfaltigkeit und doch Einheit, viele Künste in höchster Thätigkeit und doch ein Kunstwerk – das ist das antike Musikdrama.« Das schopenhauersche Ideal, demzufolge die Fraternität der Menschheit durch Mitleid gefunden werden soll, fand in Wagners Parsifal einen markanten und konsequenten Ausdruck. Dennoch distanzierte sich Nietzsche in seiner späteren Schaffensphase stark von der künstlerischen Konkretisierung seiner ehemaligen Vorstellung, wobei der Ansatz, die Politik und die Ästhetik im Zusammenhang zu betrachten, immer noch seine Gültigkeit besaß. GT, KSA 1, S. 528. Vgl. NL 10[8], Herbst 1887, KSA 12, S. 458. 190 GMD, KSA 1, S. 531. 191 In diesem Zusammenhang wurde Feuerbachs Gedanken über »[die] Seele des Ganzen« (S. 519) sowie den »ganze[n] Mensch« vom jungen Nietzsche weiter erwogen. 192 GMD, KSA 1, S. 518: »In ähnlicher Weise erfreut sich der aesthetische Satz einer allgemeinen Beliebtheit, daß eine Verbindung zweier und mehrerer Künste keine Erhöhung des aesthetischen Genusses erzeugen könne, vielmehr eine barbarische Geschmacksverirrung sei. Dieser Satz aber beweist höchstens die schlechte moderne Gewöhnung, daß wir nicht mehr als ganze Menschen genießen können: wir sind gleichsam durch die absoluten Künste in Stücke zerrissen und genießen nun auch als Stücke, bald als Ohrenmenschen, bald als Augenmenschen usw. […] Halten wir dagegen, wie der geistvolle Anselm Feuerbach sich jenes antike Drama als Gesammtkunst vorstellt […]«. 188 189
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An dieser Stelle ist anzumerken, dass auch Spinoza, den Nietzsche seinen »Vorgänger« nannte (KSB 6, Nr. 135), das Leiden (pati) zwar als eine grundlegende Eigenschaft des endlichen Wesens (modus) in seiner Ethica betrachtete, das Verhalten des Mitleidens jedoch stark kritisiert hatte. 193 Diese Erkenntnis spielte ebenfalls eine wichtige Rolle bei Nietzsches Wagnerkritik, die als seine Kulturkritik der Moderne verstanden werden kann und welche in seiner Überlegung zum »Siegfriedhaften« (FW, II, 99) Ausdruck fand. Siegfried und Parsifal – zwei Figuren aus Wagners Werken – stellen par excellence zwei entgegengesetzte Kräfte bei Wagner als Phänomen der Moderne dar. Nicht nur den lebensbejahenden und revoltierenden Charakter des jungen Wagners, sondern auch des jungen Nietzsches spiegelte der Charakter Siegfried wider, der unschuldige Held im Ring des Nibelungen (Uraufführungen 1869–1876), dem sogenannten vierteiligen Ringkreis: »[…] ich liebte nur den Wagner, den ich kannte, d. h. einen rechtschaffenen Atheisten und Immoralisten, der die Figur Siegfrieds, eines sehr freien Menschen, erfunden hat.« 194 Doch ab Mitte der 1870er Jahre erschien Siegfrieds Kontrapunkt: eine mit diesem vergleichbare, jedoch von ihm sehr unterschiedliche Figur, die im gleichnamigen Musikdrama Parsifal von Wagner als ›der reine Tor‹ dargestellt wird. In jener nachgelassenen Notiz schrieb Nietzsche in Bezug auf die späteren Jahre Wagners ironisch über »viele reine und unreine Thoren« 195, was unverkennbar deutlich macht, dass er sich der Auswirkung des problematischen wagnerischen »Ideal[s]« (ebd.) in Parsifal bewusst war. Jene Figuren sind für Nietzsche nun keine Träger der romantisierten Hoffnung in einer tragischen Kultur der Zukunft mehr. Vielmehr fungieren sie als kulturelle Symbole, die unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Leiden und dem Mitleid ästhetisch und politisch repräsentieren. In dieser Hinsicht scheint es für unsere Diskussion sinnvoll, Nietzsches Beurteilung von Wagners Parsifal und »das Siegfriedhafte« (FW, II, 99) beim jüngeren Wagner mit Blick auf den kulturellen Kontext von Parsifal kritisch zu erörtern, um den denkgeschichtlichen Kontext seiner Spinoza-Rezeption noch deutlicher zu machen.
»Mitleid ist bei einem Menschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt, an sich schlecht und unnütz.« Baruch de Spinoza, Ethica, ordine geometrico demonstrata, IV, prop. 50. 194 NL 34[205], April – Juni 1885, KSA 11, S. 491. 195 »Seither hat er noch, aus dem bescheidenen Winkel seiner Bayreuther Blätter heraus, genugsam zu verstehen gegeben, wie hoch er das Blut des Erlösers zu schätzen wisse, und – man hat ihn verstanden. Viele Deutsche, viele reine und unreine Thoren aller Art glauben seitdem erst an Richard Wagner als ihren »Erlöser«. Dies geht mir Alles wider den Geschmack. –«, ebd. 193
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4.5.4 »Durch Mitleid wissend« in Wagners Parsifal: Die Konformität der modernen Kultur 196
Das Besondere der Wagner-Interpretation Nietzsches bestand darin, dass für ihn in Parsifal nicht nur die pessimistische Mitleidsmoral, sondern auch die banalisierte Form des Optimismus zum Ausdruck kam. Er selbst bezeichnete das als ein unglückliches Zusammentreffen des »ruchlosen Optimismus« 197 mit dem deformierten schopenhauerschen Pessimismus. Wagner als der Urheber von Parsifal sei zu kritisieren, weil er die idealisierte romantische Denkweise wie jene Position des jungen Nietzsche in einer subtilen, angepassten und daher noch gefährlicheren Form realisierte und europaweit verbreitete. Zur Erschütterung Nietzsches erreichte er mit künstlerischer Meisterschaft auf diese Weise eine logische und optimistische Legitimation des resignativen Pessimismus. Nietzsches Wagnerkritik beinhaltet nicht nur den religionskritischen Aspekt im Zusammenhang mit seiner Kritik am Christentum, 198 sondern auch den sozio-politischen Aspekt. Er beobachtete »ein […] demagogisches Talent unserer Zeit« in Wagner 199, das er »mit seinem Parsifal allen Feigheiten der modernen Seele zurede[te].« 200 Diese Ansicht verriet Nietzsche erneut, als er »die Volks- und Massen-Wirkung von Seiten der Künstler: Balzac V. Hugo, R. Wagner« 201 kommentierte. In diesem begrenzten Sinne, so Nietzsche, übte Wagner Einfluss auf den Prozess der Anästhetisierung des Wahrnehmungsvermögens aus und förderte das Entkräften des souveränen und individuellen Reflektionsvermögens. Dazu trug ›das Zeitungswesen‹ als eines der ersten Massenmedien der Moderne noch bei. 202
Dieser Abschnitt ist Teil einer wesentlichen Überarbeitung meines bereits veröffentlichten Aufsatzes: Jean Yhee (2016b). 197 Vgl. WA, KSA 6, S. 20. 198 Vgl. NL 7[7], Juli 1882 –Winter 1883–1884, KSA 10, S. 239; Auch vgl. NL 35[49], KSA 11, S. 535–536. 199 NL 37[15], KSA 11, S. 590. 200 NL 14[51], 14[52], Frühjahr 1888, KSA 13, S. 243. 201 NL 2[134], Herbst 1885–1886, KSA 12, S. 133. 202 Vgl. Thomä 2006, S. 126–127: »Obwohl sich Wagner doch als ein Feind der Politik gibt (GSD 4, 66), meint Nietzsche in der Aufwertung des ›Machers‹ einen quasi-politischen Kraftakt zu erkennen. Er hätte, Nietzsche zufolge, ›nur Eins nöthig – Germanen!‹ Und das heißt: ›Gehorsam und lange Beine‹ (KSA 6, 39). […] Im Prinzip decken sich Nietzsches Einwände gegen Wagner mit dem Vorwurf Einsensteins an Goebbels, dieser mache sich zum ›Demiurgen‹ eines Volkes, statt diesem Volk die eigene Entfaltung zu überlassen.«; vgl. auch Abs. 3.4.3 und 3.5.1. 196
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Dennoch stellte der Fall Wagner für Nietzsche ein weit komplizierteres Phänomen dar als das Zeitungswesen: Nach seiner Einschätzung trieb er nicht nur auf einzigartige Weise eine unkritische Verschmelzung zwischen Optimismus und Pessimismus voran, sondern nivellierte auch die Widersprüche zwischen Elementen der antiken und der modernen Kultur. 203 Der Fall Wagner war Nietzsche zufolge ein Ausdruck des verharmlosten und zermürbten Ideals der Totalität, das nicht nur das kleinere Übel, sondern auch das kleinere Gute favorisierte, um sich vom Nihilismus des Nichtkönnens abzuwenden. Dies führte nur zur sozial und kulturell inszenierten Selbstgenügsamkeit, die jedoch mit der Vereinbarkeit zwischen souveränen Individuen bzw. Positionen in realen Unterschieden wenig zu tun hatte. Ein solcher uneingeschränkter Anpassungszwang war Nietzsche zufolge für die Moderne kennzeichnend und machte deren Analyse sowie deren ›Behandlung‹ kompliziert. Trotz Nietzsches Empörung 204 war die jubelnde Stimmung unter Zeitgenossen symptomatisch für die veränderte Konstellation in der Kultur. Die Entstehung von Wagners Parsifal wird zwischen 1877 und 1882 datiert. Bereits im Jahre 1876 hat Nietzsche jedoch bei seinem Besuch der Familie Wagner in Sorrent direkt vom Komponisten von Parsifal erfahren. Nachdem das Parsifal-Manuskript in Nietzsches Haus am 3. Januar 1878 angekommen war, hat er an Seydlitz geschrieben: »Mehr Liszt als Wagner, Geist der Gegenreformation.« 205 Nietzsches Lektüre vom noch nicht vertonten Parsifal-Libretto wird dann seine Bewunderung für Wagner durch einen bitteren Vorwurf ersetzen. 206 Es sei bemerkt, dass dieser Zeitraum für den Werdegang der Philosophie Nietzsches von großer Bedeutung war. Sein philosophisches Denken vor 1877 ließ sich vor allem in GT (1872, 1874, 1886) und UB (1873–1876) lesen. Nach jenem Treffen und dem Gespräch über Wagners Plan für Parsifal im Oktober 1876 schrieb er an Cosima Wagner am 19. Dezember, dass ihm seine Distanzie-
Vgl. WA, KSA 6, S. 20. Vgl. »Er [= Wagner; J. Y.] schmeichelt jedem nihilistischen (– buddhistischen) Instinkte und verkleidet ihn in Musik, er schmeichelt jeder Christlichkeit, jeder religiösen Ausdrucksform der decadence.«, a. a. O., Nachschrift, S. 43. 204 NW, KSA 6, S. 430. 205 KSB 5, Nr. 678, An Reinhart von Seydlitz in Salzburg, Basel, d. 4. Januar 1878, S. 300. Vgl. Sommer 2012, S. 155–157. 206 Vgl. KSB 8, Nr. 793, An Heinrich Köselitz in Venedig, Nice (France) rue des Ponchettes 29 au premiere [21. Januar 1887]. Zwar schrieb Nietzsche in diesem Brief immer noch von seiner Bewunderung – »… hat Wagner je besser gemacht?« – der Einleitung zum Parsifal. Jedoch beschränkte er seine Kommentare auf das »rein ästhetisch[e]« (ebd.). Darüber hinaus wollte er noch nicht berücksichtigen, »wozu solche Musik dienen kann oder etwa dienen soll«, ebd. 203
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rung von der Position Schopenhauers »fast plötzlich« 207 bewusst wurde. Für ihn, dem seine kritische Position gegenüber Schopenhauer angesichts seines resignativen pessimistischen Verständnisses des Leidens immer bewusster geworden war, galt Wagners Parsifal als eine unübersehbare Einladung zur bevorstehenden Beendigung der Freundschaft. Nach dem Abbruch ihrer besonderen Verbundenheit im Jahre 1878 spielte Wagner jedoch in Nietzsches Denken weiter eine bedeutende Rolle. Dies bezeugen nicht nur der vierte und letzte Teil der UB, Richard Wagner in Bayreuth (1876: WB) kurz vor diesem Abbruch, sondern auch spätere Werke wie Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (1888: WA) und seine letzte Schrift vor dem geistigen Zusammenbruch am 3. Januar 1889, Nietzsche contra Wagner (1888: NW). 208 Im Jahre 1886 soll Nietzsche die Einleitung zum Parsifal in Montecarlo gehört haben. Während er an der GM arbeitete, machte er im Sommer 1886 auf den philosophischen Kern im Vorspiel des Parsifal aufmerksam: »das größte Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne, die Macht und Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, ein unbeschreiblicher Ausdruck von Größe im Mitleiden darüber; […]« 209 Hier kreuzte sich Nietzsches Anerkennung der künstlerischen und dichterischen Errungenschaften in Parsifal mit seiner kritischen Nuance angesichts der Mitleidsthematik. Dabei ist zu betonen, dass das Leidensproblem als das »Problem […]« 210 für beide galt, wofür sie jedoch unterschiedliche »Antworten« (ebd.) gesucht und gefunden haben. Für die Betrachtung ist eine inhaltliche Analyse von Parsifal besonders interessant: An seiner Parsifal-Bewertung wurde Nietzsches selbstkritischer philosophischer Wandel bei seiner unterschiedlichen Wagnerbewertung, also seiner früheren Hochschätzung und späteren Ablehnung von Wagners Werk angesichts der Darstellung von Leidensthematik und Mitleidsmoral, am deutlichsten sichtbar. Um die Frage, was diese abrupte Trennung verursacht hat, richtig zu beantworten, genügt es daher nicht, den Blick nur auf die persönlichen, biographischen Ereignisse zwischen Nietzsche und Wagner einzuschränken. Da die gemeinsame Bewunderung für Schopenhauers Philosophie die Wahlverwandtschaft der beiden Figuren ermöglicht hat, ist herauszustellen, wie sich Nietzsches Position in KSB 5, NR. 581, An Cosima Wagner in Bayreuth, Sorrent, 19. Dezember 1876, S. 300; vgl. KSA 15, S. 70–71. 208 In einem Brief an Overbeck von 1886 schreibt Nietzsche: »Denn, Alles in Allem gerechnet, war R[ichard] W[agner] der Einzige bisher, mindestens der Erste, der ein Gefühl davon gehabt hat, was es mit mir auf sich habe […]«, KSB 7, Nr. 721, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, 14. Juli 1886. 209 NL 5[41], Sommer 1886 – Herbst 1887, KSA 12, S. 199. 210 Ebd. 207
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Bezug auf Schopenhauer geändert hat. Bei der Untersuchung gilt der Begriff ›Leiden‹ weiter als der Wegweiser. In Parsifal gipfelte die Mitleidsethik Wagners. Der Satz »durch Mitleid wissend«211 hat nicht nur eine zentrale Funktion für die gesamte Handlung dieses Musikdramas, sondern gilt auch kompositorisch als eins seiner wichtigsten Leitmotive. So erschien das Motiv für Nietzsche in seiner späteren selbstkritischen Phase als ein Kontrapunkt der Moderne zur antiken Lebensperspektive, die mit dem antiken Spruch »durch Leiden wissend (πάθει μάθος)« 212 erfasst werden kann. Als originale Grundlage dieses Musikdramas diente der höfische Roman Parzival vom mittelhochdeutschen Dichter Wolfram von Eschenbach (um 1170/80 – um 1220), der seine Hauptquelle wiederum im Versroman Perceval (1181–88) des Chrétien de Troyes gefunden hatte. Eschenbachs Parzival ist ein ausgezeichnetes Exemplar der damaligen Hofkultur, in dem der Gralskönigsmythos, die Saga von König Arthur, das mittelalterliche Rittertum und der kulturelle Konflikt zwischen europäischen Christen und arabisch-afrikanischen ›Heiden‹ zusammenkommen. Wagners Textarbeit mit dieser Grundlage hat jedoch besonders den philosophischen und religiösen Aspekt des Gralskönigmythos aufgehoben, indem er das Leiden des Gralskönigs Amfortas (bei Eschenbach: Anfortas) und seine prophezeite Erlösung vom Leiden213 und seine Mission zum Kernproblem des Dramas machte. Es kann in diesem Musikdrama keine besser geeignete Hauptfigur als das Leiden selbst geben. Der Gralskönig Amfortas 214, der unter ›ewig wiederkehrenden Schmerzen‹ 215 leidet, der von seiner unfruchtbaren Weisheit ermüdete Das Leitmotiv »durch Mitleid wissend« wird zum ersten Mal von Amfortas gesungen und immer wieder suggeriert bzw. variiert. Vgl. »Amfortas: ›Durch Mitleid wissend‹, war’s nicht so? / Gurnemanz: Uns sagtest du so.«, Wagner, Parsifal, Bd. I, S. 37, Takt 319–323; auch vgl. »Gurznemanz: […] (leise) ein heilig Traumgesicht nun deutlich zu ihm [= Amfortas] spricht durch hell erschauter Wortezeichen Male: durch Mitleid wissend der reine Tor, harre sein, den ich erkor. / Die Knappen: (sehr leise) der Mitleidvoll reine Tor«, a. a. O., S. 75–77, Takt 721–741 usw. 212 Siehe Abs. 4.3.2. 213 Vgl. Wagner, Parsifal, Bd. III, S. 127 f., Takt 1030 f. 214 Vgl. »2. Ritter: Ihm [= Amfortas: J. Y.] kehrten sehrender nur die Schmerzen bald zurück, schlaflos von starkem Beresten befahl er eifrig uns das Bad.«, Wagner, Parsifal, Bd. I, S. 26–27, Takt 170–172; vgl. »Amfortas: Nach wilder Schmerzensnacht […]«, a. a. O., S. 34 f.; auch vgl. »Amfortas: (im Ausbruche qualvoller Verzweiflung sich halb aufrichtend) Wehe! Wehe mir der Qual! Mein Vater [= Titurel: J. Y.], oh! noch einmal verrichte du das Amt! Lebe, leb’ und laß mich sterben.«, a. a. O., S. 136–137, Takt 1259–1266; vgl. Bd. III, S. 112, Takt 922 f. usw. 215 »Gurnemanz: […] doch eine Wunde brannt’ ihm [= Amfortas: J. Y.] in der Seite. Die Wunde ist’s, die nie sich schließen will.«, a. a. O., S. 57, Takt 540–545. 211
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Gurnemanz 216 sowie der durch seine frühere Unfähigkeit zum Mitleid bedrückte Parsifal, dessen Mutter »Herzeleide« 217, die durch das christliche Moralsystem verfluchte Kundry 218 und nicht zuletzt auch der durch die Longinuslanze verwundete heidnische Zauberer Klingsor sind so dargestellt, als ob ihre einzige dramaturgische Bedeutung nur darin bestünde, das Leiden des menschlichen Daseins in wesentlichen und unterschiedlichen Formen darzustellen. Zwar gehört es zu den Aufgabe Parsifals, Amfortas durch sein Mitleiden für diesen leidenden Gralskönig zu erlösen, dennoch wird im Verlauf der Handlung deutlicher, dass jeder Charakter eigentlich unter seinem eigenen Schicksal leidet und dabei zugrunde gehen muss, es sei denn, dass er von diesem menschlichen Dasein erlöst wird. Die erhoffte Erlösung bezieht sich daher nicht nur auf die schwere Last des Gralskönigs Amfortas als einzelnen, sondern auf das Leiden aller Menschen – die Erlösung vom Leiden durch das Mitleid. Genau diese Gleichsetzung der Leidensthematik mit der Mitleidsthematik sowie die naiv vorausgesetzte Hypothese einer universalistischen (Er-)Lösung in Parsifal 219 bei Wagner stellte Nietzsche zufolge ein ernstzunehmendes modernes Phänomen dar. In diesem Kontext findet sich eine wichtige Stelle im frühen Nachlass aus dem Herbst 1881: »Wir wollen es nicht machen, wie Wagners Wotan, der mit ungeheurer Wichtigkeit die alte Erda aus ihrem Schlafe weckt, um ihr zu sagen, daß sie weiter schlafen könne. Und auch nicht wie Wagners Parsifal – ein Arzt, der zwar seine Patientin heilt, doch so daß diese gleich nach der Heilung stirbt – und zwar mit rückwirkender Kraft; denn irgend ein alter Großvater muß auch deshalb noch sterben. Ja, wir wollen Aufwecker und Ärzte sein, doch so daß die Aufgeweckten nicht wieder einschlafen müssen und die Geheilten nicht an der Heilung zu Grunde gehen.« 220
›Heilen, um sterben zu lassen‹ – nach einer solchen Deutung würde die wagnerische ›Erlösung vom Leiden‹ den Leidenden durch das Mitleid nur unfähig »Gurnemanz: (Das Haupt traurig senkend) Toren wir, auf Lind’rung zu hoffen, wo einzig Heilung lindert! Nach allen Kräutern, allen Tränken forscht und jagt weit durch die Welt: ihm hilft nur eines, nur der Eine!«, a. a. O., S. 27, Takt 178–192; auch vgl. »([…] Gurnemanz, schwermütig nachblickend […]), S 40 f., Takt 364 f. usw. 217 Wagner, Parsifal, Bd. I, S. 94 f., Takt. 938 f. 218 »Kundry: (Sie stürzt hastig, fast taumelnd herein. […]) Hier! Nimm du! Balsam … / Gurnemanz: Woher brachtest du dies? / Kundry: Von weiter her als du denken kannst! Hilft der Balsam nicht, Arabia birgt dann nichts mehr zu seinem Heil. Fragt nicht weiter! Ich bin müde. (Sie wirft sich an den Boden).«, a. a. O., S. 30–31, Takt 219–237. 219 Vgl. »Parsifal: Gesegnet sei dein Leiden, das Mitleids höchste Kraft und reinsten Wissens Macht dem zagen Toren gab!«, Wagner, Parsifal, Bd. 3, S. 130 f., Takt 1046 f. 220 NL 12[189], Herbst 1881, KSA 9, S. 608. 216
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machen, da er grundsätzlich als ein Empfänger zum Mitleidenden, also passiv und einseitig dargestellt wird. In Parsifal muss sogar der Erlöser selbst erlöst werden, wie Nietzsche die letzte Phrase des Werks »Erlösung dem Erlöser« 221 mit latentem Zynismus paraphrasiert. Gilt diese Einsicht über das Leiden jedoch nicht nur in Wagners Musikdrama, sondern wird zum Zeitgeist der Moderne im Allgemeinen, stellte dies ein noch ernsthafteres Problem für Nietzsche dar, der ja selbst eine ästhetische Lösung gesucht hatte, die vom kulturellen und sozio-politischen Kontext losgelöst existierte. 222 Diese kulturelle Perspektive wurde durch den in Parsifal ausgedrückten Hass und Widerstand gegen die Erkenntnis noch verstärkt. Nietzsches Vergleich von Wagner mit dem heidnischen Zauberer Klingsor in WA machte auf diesen magischen Einfluss aufmerksam, um lebensverneinende Ideen zu verewigen und den Willen zur Selbstüberwindung unter »Zaubermädchen« in Vergessenheit geraten zu lassen. Ironisch kommentierte Nietzsche das Werk als Wagners »grösst[es] Meisterstück« 223 angesichts seiner ›verführerischen Kraft‹ und ›kranken Schönheit‹, die »den freien Geistern« (ebd.) die Gesundheit der Seele und des Verstandes »verzaubert« (ebd.). Nur mit der Geste eines Zynikers lässt sich einer von dieser Macht schützen, die einer Maske gleich einem Selbstschutzmechanismus im sozio-kulturellen Kontext ähnelt. Dabei erkannte Nietzsche eine sowohl kulturelle als auch sozio-politische Spannung zwischen dieser verführenden Massenkultur und »den freien Geistern« (ebd.), die ein einsames Maskenspiel nötig haben, wobei diese dichotomische Trennung zwischen der Masse und dem souveränen Individuum selbst ein heikles Thema wird (siehe Kap. 6). Besonders interessant ist der von Nietzsche kritisch gesehene Charakter 224 Parsifal als »der reine Tor« 225, wenn dieser mit Siegfried, dem früheren Protagonisten Wagners, verglichen wird. Diesen Vergleich zog Nietzsche selbst, indem er Parsifal als das »Siegfried-Zerrbild«226 und eine »Siegfried-Caricatur« aus Wagners »alten Tagen« 227 kennzeichnete. Den wichtigen Kontrast zwischen beiden Charakteren machte Nietzsche deutlich, indem Siegfried bei »Ritter: Erlösung dem Erlöser! […]«, Wagner, Parsifal, Bd. 3, S. 146 f., Takt 1109 f. GT, KSA 1, S. 118. Vgl. Abschnitt 4.5.1. und 4.5.2. 223 WA, Nachschrift, KSA 6, S. 43–44. 224 Es sei bemerkt, dass Nietzsche bei seinem Kommentar zu Parsifal oft ein Wortspiel mit dieser Bezeichnung macht, z. B. hier oben: »So weit sind wir schon reine Thoren …«, WA, a. a. O., S. 43. 225 Wagner, Parsifal, Bd. I, S. 37, Takt 324–326; S. 96–97, Takt 958–966; S. 122–123, Takt 1156–1160 usw. 226 NL 28[7], Herbst 1884, KSA 11, S. 300. 227 NL 37[15], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 592. 221 222
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ihm als der »freieste […] Mensch […]« (WB 11; KSA 1, S. 509), der »sehr freie […] Mensch […]« (NL 37[15]) und »Immoralist« bezeichnet wurde. 228 Dagegen galt ›der reine Tor‹ Parsifal nicht mehr als ein »siegreicher, selbstgewisser, Wagnerischer« 229 Held – als projiziertes Bild vom jüngeren Wagner. In GM kommentierte Nietzsche in scharfem Ton, dass auch Goethe im Werk Parsifal die Gefahr des »Romantiker-Verhängniss[es]« feststellen würde, »am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken. […]« 230. Worin unterscheiden sich jedoch diese beiden auf den ersten Blick vergleichbaren Helden Wagners voneinander? Die Frage stellt sich, da sowohl Siegfried 231 als auch Parsifal 232 in ihrer dichterischen Darstellung als unschuldige Figuren präsentiert werden, die abseits von der herkömmlichen Moral und Sittlichkeit in einer unzivilisierten Natur groß wurden. Diese außergewöhnliche Bedingung, von der Gesellschaft isoliert (oder das gesellschaftliche Dogma bewusst verweigernd) und in der Einsamkeit zu leben, machte sie in der dramatischen Welt Wagners übermenschlich stark und eigenständig – oder kurz, frei. Es ist die Fähigkeit, der eigenen Natur treu zu leben, die sie unschuldig und frei von religiösen und kulturellen Vorurteilen 233 macht, die es ihnen ermöglicht, ›weder Optimisten noch Pessimisten‹ 234 zu sein. Diese Fähigkeit und Ähnlichkeit mit Siegfried lässt sich jedoch nicht mehr Ebd. und NL April – Juli 1885; KSA 11, 34[205]; vgl. Abschnitt 4.1. GM III, 4; KSA 5, S. 343. 230 WA, KSA 6, S. 19: »Was Goethe über Wagner gedacht haben würde? – Goethe hat sich einmal die Frage vorgelegt, was die Gefahr sei, die über allen Romantikern schwebe: das Romantiker-Verhängnis. Seine Antwort ist: am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken. Kürzer: Parsifal« 231 Vgl. Wagner, Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Zweiter Tag: Siegfried, Bd. 12-I, S. 40 f., Takt 419 f. usw. 232 Parsifal hatte noch kein ›schlechtes Gewissen‹, als er einen heiligen Schwan gejagt hatte. Vgl. »Gurnemanz: Bist du’s, der diesen Schwan erlegte? / Parsifal: Gewiß! Im Fluge treff ’ ich, was fliegt! / Gurnemanz: Du tatest das? Und bangt’ es dich nicht vor der Tat? / Knappen und Ritter: Strafe den Frevler! / Gurnemanz: Unerhörtes Werk! Du konntest morden, hier im heil’gen Walde, des’ Stiller Friede dich umfing? […] Wirst du deiner Sündentat inne? (Parsifal führt die Hand über die Augen.) Sag’, Knab’, erkennst du deine große Schuld? Wie konntest du sie begeh’n? / Parsifal: Ich wußte sie nicht!«, Wagner, Parsifal, Bd. I, S. 82– 91, Takt 779–892. 233 Zur Frage, ob eine solche moralische ›tabula rasa‹ möglich ist, bleibt Nietzsche skeptisch. Es kommt eher auf die Redlichkeit an, die die Moralität des Menschen bestimmt.Vgl. FW, III, ›Umfang des Moralischen‹, KSA 3, S. 474: »Umfang des Moralischen. –Wir construiren ein neues Bild, das wir sehen, sofort mit Hülfe aller alten Erfahrungen, die wir gemacht haben, je nach dem Grade unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit. Es giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung.« 234 Vgl. Abschnitt 4.3.4. 228 229
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aufrechterhalten, sobald Parsifal zum ersten Mal dem leidenden Gralskönig begegnet. Vor dieser Szene kannte er noch keine Gewissensbisse 235, was ihm die Bezeichnung ›ein reiner Tor‹ eingebracht hatte. 236 Nachdem Parsifal jedoch vom Leiden des Gralskönigs ergriffen wurde 237, konnte er strenggenommen von diesem Moment an nicht mehr jener unschuldige, außermoralische 238, reine Tor bleiben, obgleich er diese sowohl körperliche als auch geistige Auswirkung in sich in der Szene noch nicht als Gewissenbisse erkennen konnte. Hier handelte es sich um eine von Wagner unbeabsichtigte, versteckte Aporie: Parsifal, der Amfortas bei ihrer zweiten Begegnung erlösen würde, sollte grundsätzlich nicht mehr den Gralskönig erlösen können, weil er nach seinem ersten Versagen bei der ersten Begegnung nicht mehr ein reiner Tor sein konnte. Denn nur ein solch reiner Tor sei nach der Prophezeiung in der Lage, den Gralskönig zu erlösen. Interessanterweise wird das Siegfried-Bild, das als denkgeschichtlicher Gegenpol dem Bild Parsifals gegebüberstellt wurde, nicht nur mit dem jungen Wagner als dem Schöpfer von Siegfried, sondern auch mit Spinoza in FW assoziiert: »Nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauer’s, als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wagner’s: ich meine die Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. ›Das Alles riecht eher noch nach Spinoza als nach mir‹ – würde vielleicht Schopenhauer sagen.« 239
Wie ist es gemeint? An dieser Stelle gilt es zu erläutern, was Nietzsche unter seiner Gleichsetzung des »Siegfriedhafte[n]« (ebd.) bei Wagner mit dem Spinozistischen verstanden hat. Dafür, dass dieser Ausdruck keine zufällige vorübergehende Aussage war, spricht die von mir mehrfach diskutierte Stelle aus dem Jahr 1882 in jener zweiten »Chaos sive natura«-Notiz. 240 In der Arbeitsplanung unter der Nummerierung 55 (ebd.) aus der gleichen Schaffensphase, Vgl. Wagner, Parsifal, Bd. I, S. 82–91, Takt 779–892. Vgl. Wagner, Parsifal, Bd. I, S. 82–93, Takt 779–916. 237 Vgl. »(Die letzten Ritter und Knappen haben hier den Saal verlassen; die Türen werden geschlossen. Parsifal hatte bei dem vorangehenden stärksten Klagerufe des Amfortas eine heftige Bewegung nach dem Herzen gemacht, welches er krampfhaft eine Zeitlang gefaßt hielt, jetzt steht er noch wie erstarrt, regunglos, da.)« / Gurnemanz: Was stehst du noch da? Weißt du, was du sah’st? (Parsifal faßt sich krampfhaft am Herzen … und schüttelt dann ein wenig sein Haupt.)«, Wagner, Parsifal, Bd. I, S. 182, Takt 1631–1642. 238 Vgl. »Parsifal: Die mich drohten, waren sie bös’? (Gurnemanz lacht.) Wer ist gut? (Gurnemanz: Wieder ernst)«, Wagner, Parsifal, Bd. I, S. 101, Takt 990–994. 239 FW, II, 99, KSA 3, S. 455. 240 Dazu siehe Yhee (2014). 235 236
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die auch das Erscheinen der FW umfasst, stellte Nietzsche seine eigene Philosophie als die im Vergleich mit der schopenhauerschen geeignetere dar, um das lebensfördernde Potential der Kunst Wagners zu entfalten. Dabei nannte er seine eigene Position »Siegfried« 241, deren Eigenschaften auf den lebensbejahenden und leidenschaftlichen Aspekt des Optimismus hinweisen. 242 In seiner Diskussion über den Ring des Nibelungen scheint Nietzsche das frühe Entstehungsjahr des gesamten Opern-Textes gegen Ende 1852 im Sinn gehabt zu haben. Trotz der großen Zeitspanne von 22 Jahren bis zu seiner Vertonung 243 sollte das Werk immer noch den optimistischen Geist des jungen Wagner widerspiegeln. Als ein junger Revolutionär hatte sich Wagner am Dresdner Maiaufstand 1849, also an einem gescheiterten Versuch, beteiligt, eine sächsische Republik nach dem Geist der Paulskirchenverfassung (1848– 1849) zu gründen. Dass sich ein derartiger Optimismus eigentlich nicht mit dem resignativen Pessimismus vereinbaren lässt, kann man in Parsifal jedoch nur schwer bemerken. Nicht nur die künstlerische und dichterische Darstellungsart, sondern auch die philosophische Argumentation für deren Vereinbarkeit konstruierte das, was Nietzsche als die zauberhaften Effekte des Parsifal bezeichnet hat. Durch die eskapistische und defätistische Botschaft, dass das Ziel des siegfriedhaften Kampfs gegen die Vorurteile und Zwänge der etablierten Werte der Zivilisation eigentlich nur darin zu bestehen schien, die Welt am Abgrund darzustellen, erreichte Wagner eine unwahrscheinliche Koalition zwischen dem ruchlosen Optimismus 244 und dem resignativen Pessimismus. In WA resümierte Nietzsche die katastrophale Konsequenz einer solchen Anpassung bei Wagner, die ihm zufolge für die Moderne kennzeichnend war:
Vgl. NL 21[3], Sommer 1882, KSA 9, S. 685: »46. Wagner’s Kunst durch Schopenhauer falsch. Erst meine Philosophie ist recht dafür. Siegfried.« 242 Vgl. »Entweder, sagt Schiller, ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung. / Der ›Siegfried‹ z. B. gehört zur Idylle, Natur und Ideal ist wirklich, darüber freut man sich. Dabei ist nun der Wagnersche Begriff der Natur ein tragischer, der Schillersche heiterer. Wir freuen uns an Tristan, selbst an seinem Tode, weil diese Natur und dieses Ideal wirklich ist.«, NL 9[142], 1871, KSA 7, S. 327. 243 1874 markierte die Vollendung des gesamten Ring-Zyklus. 244 Vgl. WWV, I, S. 447: »Übrigens kann ich hier die Erklärung nicht zurückhalten, daß mir der Optimismus, wo er nicht etwa das gedankenlose Reden solcher ist, unter denen platten Stirnen nichts als Worte herbergen, nicht bloß als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart erscheint, als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit.« 241
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»›Wie schafft man das Unheil aus der Welt? Wie schafft man die alte Gesellschaft ab?‹ Nur dadurch, dass man den ›Verträgen‹ (dem Herkommen, der Moral) den Krieg erklärt. Das thut Siegfried. […] Wagner’s Schiff lief lange Zeit lustig auf dieser Bahn. Kein Zweifel, Wagner suchte auf ihr sein höchstes Ziel. – Was geschah? Ein Unglück. Das Schiff fuhr auf ein Riff; Wagner sass fest. Das Riff war die Schopenhauerische Philosophie; Wagner sass auf einer conträren Weltansicht fest. Was hatte er in Musik gesetzt? Den Optimismus. Wagner schämte sich. Noch dazu einen Optimismus, für den Schopenhauer ein böses Beiwort geschaffen hatte – den ruchlosen Optimismus. Er schämte sich noch einmal. Er besann sich lange, seine Lage schien verzweifelt … Endlich dämmerte ihm ein Ausweg: das Riff, an dem er scheiterte, wie? wenn er es als Ziel, als Hinterabsicht, als eigentlichen Sinn seiner Reise interpretirte? Hier zu scheitern – das war auch ein Ziel. Bene navigavi, cum naufragium feci … Und er übersetzte den ›Ring‹ in’s Schopenhauerische. Alles läuft schief, Alles geht zu Grunde, die neue Welt ist so schlimm, wie die alte: […]; das Nichts, die indische Circe winkt […]« 245
Dieser selbstzerstörerische Werdegang Wagners besagt nicht nur das persönliche Problem eines Künstlers, sondern impliziert die kulturelle und sozio-politische Dimension, die Wagners Werk verkörpert. Nietzsches Betrachtung über den Fall Wagner hängt mit seiner Interpretation des historischen Hintergrundes des Nihilismus eng zusammen. In diesem Zusammenhang bezeichnete Nietzsche Siegfried als den »typischen Revolutionär« (a. a. O., S. 19) und wies auf die resignativen, nihilistischen Konsequenzen der kulturellen Einstellung mit seiner Beobachtung über »das Nichts« (S. 20) und »die indische Circe« (a. a. O., S. 21) hin. Nach dem tragischen Scheitern der »Revolution« in Dresden (a. a. O., S. 19), das der junge Wagner im Alter von 36 erlebt hat, erschien ihm die Lebensbejahung des Optimismus naiv und illusionär. Seine spätere Anleihe am Pessimismus bedeutete daher nicht nur eine persönliche Veränderung, sondern verwies auf den versteckten resignativen Zeitgeist, der seine Zufriedenheit paradoxerweise im »Nichts« gefunden und eine alltagtaugliche Maske des Optimismus erfunden hatte. Die Entstehung und Entwicklung einer solchen modernen Anpassungskultur hat nicht nur mit der Gegenüberstellung zwischen dem Optimismus und dem Pessimismus zu tun, sondern auch mit deren Verschmelzung. Diese einzigartige wirksame Komposition ermöglichte eine besondere, fetische Kultur der Konformität der Masse. Es handelt sich einerseits um einen Schein-Optimismus, der sich als eine willkürliche Weltoffenheit ohne Selbstüberzeugung zu enthüllen vermag, und andererseits um einen Schein-Pessimismus, wobei nicht der Ursprung und die Konsequenz des Leidens reflektiert werden, son-
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dern das Mitleid als das Nebenprodukt des Leidens kulturell konsumierbar wird. Nietzsches Ausdruck »das Nichts, die indische Circe winkt« (a. a. O., S. 20– 21) macht diesen Aspekt deutlich. Die Circe oder Kirke ist eigentlich im griechischen Mythos auf der Insel Aia im Osten beheimatet. In Nietzsches brillantem Ausdruck ist die Bühne nach Indien versetzt worden, welches bei ihm oft als der Ursprung des buddhistischen Nihilismus dargestellt wird. Es kommt vor allem darauf an, was die Circe macht. Diese Tochter des Helios verwandelte die Gefährten von Ödipus mittels ihrer Magie in ›Schweine‹, was bei Nietzsche der gleichgültigen moralischen Gesinnung und der diesen verwerflichen Standard berechtigenden Tendenz des Nihilismus entsprechen soll. In diesem Sinne herrscht im Nihilismus die teilweise pessimistische Stimmung, wie etwa »Alles läuft schief, Alles geht zu Grunde, die neue Welt ist so schlimm, wie die alte […]« (a. a.O., S. 20) oder der selbsttäuschend illusionäre optimistische Glaube, dass »Alles gut wird.« (a. a. O., S. 21). Dass Wagners anfänglicher unschuldiger Optimismus mit dem nihilistischen Parsifal ein unglückliches Ende gefunden hat, bedauerte Nietzsche zutiefst in GM: »Zuletzt aber, noch ganz abgesehn von dieser Velleität, wer möchte nicht überhaupt wünschen, um Wagner’s selber willen, dass er anders von uns und seiner Kunst Abschied genommen hätte, nicht mit einem Parsifal, sondern siegreicher, selbstgewisser,Wagnerischer, – weniger irreführend, weniger zweideutig in Bezug auf sein ganzes Wollen, weniger Schopenhauerisch, weniger nihilistisch? …« 246
Das symbolische Paar – Siegfried und Parsifal – weist in diesem Kontext nicht nur auf das ambivalente Verhalten Wagners, sondern auch auf das von Nietzsche selbst hin, nämlich auf seine unterschiedliche Bewertung des naiven Optimismus und dessen lebensbejahender Komponente. In der Zeit der GT, als Nietzsche mit dem »Pessimismus der Stärke« 247 operiert hat, galt die Figur Siegfrieds für den jungen Denker nicht als ein harmloses Symbol des Optimismus. Vielmehr fungierte sie als eine Figur, die durch ihre tapfere Naivität allen »Schwächlichkeitsdoctrinen jenes Optimismus den Rücken kehren« konnte, um einem Anspruch an die Totalität des Menschen gerecht zu werden – oder in Nietzsches eigenenen Worten: »um im Ganzen und Vollen ›resolut zu leben‹«. 248 Diese Stelle wurde jedoch in Versuch einer Selbstkritik von Nietzsche GM III, 4, KSA 5, S. 344. GT, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 12. 248 GT, 18, KSA 1, S. 118–119, »Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kant’s und Schopenhauer’s ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. […] Mit dieser 246 247
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wieder kritisch reflektiert. 249 Denn die ursprüngliche Aussage der GT besagte, dass »der tragische Mensch […] eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes«, also die »Tragödie […] begehren« sollte […] (ebd.). 250 Im Versuch einer Selbstkritik propagierte er hinsichtlich jener Frage »Sollte es nicht nöthig sein?« seinen geänderten Standpunkt emphatisch mit der Antwort: »Nein, drei Mal nein!« 251 Für Nietzsche schien nach seiner Distanzierung von Schopenhauer und Wagner seine anfängliche Befürwortung der transzendentalen Erlösung des tragischen Daseins in der Kunst problematisch, solange die Auswirkung des Nihilismus im Leben nicht genügend bedacht wurde. Bereits im Frühjahr 1874, direkt zur Zeit der Vollendung der GT, beobachtete er diese Problematik bei Wagner und Schopenhauer, als er schrieb: »Wagner’s Kunst ist überfliegend und transscendental, was soll unsre arme deutErkenntniss [von Kant und Schopenhauer; J. Y.] ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht. […] [D]enken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter [= die neu heranwachsende siegfriedhafte Generation der tragischen Kultur; J. Y.], die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen jenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen ›resolut zu leben‹ : sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie als die ihm zugehörige Helena begehren […]?« 249 Vgl. GT, Versuch einer Selbstkritik, 7, KSA 1, S. 21–22. In seiner Selbstkritik versucht Nietzsche etwa, seine frühere Aussage im Hinblick auf Kant und Schopenhauer in GT 18 zurückzuziehen: »[…], dass ich mühselig mit Schopenhauerschen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kants und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen giengen!«, a. a. O., S. 19. 250 Den Hinweis, dass Nietzsche dabei an Wagners Parsifal gedacht hätte, der als seine metaphysische Tröstung und Erlösung gedient hat, findet man in WA: »Wagner war erlöst … Allen Ernstes, dies war eine Erlösung. Die Wohlthat, die Wagner Schopenhauern verdankt, ist unermesslich. Erst der Philosoph der décadence gab dem Künstler der décadence sich selbst –«, WA, 4, KSA 6, S. 21. 251 GT, Versuch einer Selbstkritik, S. 22., »›Sollte es nicht nöthig sein?‹ … Nein, drei Mal nein! ihr jungen Romantiker: es sollte nicht nöthig sein! Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es so endet, dass ihr so endet, nämlich ›getröstet‹, wie geschrieben steht, trotz aller Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken ›metaphysisch getröstet‹, kurz, wie Romantiker enden, christlich … Nein! Ihr solltet vorerst die Kunst des diesseitigen Trostes lernen, – ihr solltet lachen lernen, meine jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt; vielleicht dass ihr darauf hin, als Lachende, irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt – und die Metaphysik voran! Oder, um es in der Sprache jenes dionysischen Unholds zu sagen, der Zarathustra heisst: […]«.
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sche Niedrigkeit damit anfangen! Sie hat etwas wie Flucht aus dieser Welt, sie negirt dieselbe, sie verklärt diese Welt nicht.« 252 Eine derartige lebensverneinende, eskapistische Tendenz und die Einstellung nach dem ›Jenseits‹ werden in dieser Notiz weiter kritisch betrachtet: »In einer solchen Stellung der Kunst liegt ihre Stärke und Schwäche: es ist so schwer, von dort her zu dem einfachen Leben zurückzukehren. Die Verbesserung des Wirklichen ist nicht mehr das Ziel, sondern das Vernichten oder das Hinwegtäuschen des Wirklichen.«253
Jedoch erkannte der junge Nietzsche immer noch den wichtigen Verdienst in Wagners Kunst und Schopenhauers pessimistischer Philosophie: Sie konnten durch die von ihnen geforderte »unbedingte Entscheidung« 254 das Verlangen nach »der Wahrhaftigkeit« (ebd.) beim Menschen weiter fördern, die die herkömmliche »Lüge und Convention« (ebd.) im Hinblick auf die Leidensfrage zu beseitigen vermochte. Auch Nietzsches reiferes Denken über das nihilistische Zeitalter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisierte nicht nur die Probleme des Nihilismus, sondern auch dessen vorteilhafte Konsequenzen, die darin bestanden, dass durch seinen Wahrhaftigkeitsanspruch 255 die Umwertung der Werte und die Selbstbefreiung des Menschen gefördert wurden. Dieser Aspekt der Wahrhaftigkeit verband Nietzsche noch einmal mit Spinoza. Bereits in seiner Postkarte an Overbeck 1881 hat Nietzsche bei Spinozas Philosophie die gleiche »Gesammtendenz […,] die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen«, festgestellt. 256 Diese Auswirkung des Wahrhaftigkeitsanspruchs betonte er angesichts des europäischen Nihilismus in seiner späteren Betrachtung im Jahre 1887 257 erneut, indem eine der wichtigsten AusNL 32[44], Anfang – Frühjahr 1874, KSA 7, S. 767. A. a. O., S. 768. 254 »Die Stärke liegt in dem sektirerischen Character: sie ist extrem und verlangt von dem Menschen eine unbedingte Entscheidung. – Ob wohl ein Mensch besser zu werden vermag, durch diese Kunst und durch Schopenhauerische Philosophie? Gewiss in Betreff der Wahrhaftigkeit. Wenn nur in einer Zeit, in der die Lüge und Convention so langweilig und uninteressant ist, die Wahrhaftigkeit nicht so interessant wäre! So unterhaltend! Aesthetisch reizvoll!«, S. 768. 255 Aber vgl. »Der Schopenhaerische Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich, und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertödten und jene völlige Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen der eigentliche Sinn des Lebens ist«, SE, KSA 1, S. 371. 256 KSB 6. Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111; Vgl. Nietzsches Diskussion über »die Leidenschaft der Erkenntnis« in FW III, 123, KSA 3, S. 479–480. 257 Vgl. NL 5[71], Der europäische Nihilismus, Lenzer Heide, den 10. Juni 1887, 2, KSA 12, S. 211. Auf die Bedeutung dieses Entwurfs für Nietzsches Spinoza-Rezeption gehe ich im Verlauf der Arbeit nochmals näher ein. 252 253
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einandersetzungen Nietzsches mit Spinoza in seiner letzten Schaffensphase in den Vordergrund gerückt wurde. 258 Während Parsifal für Nietzsche eine feindliche Haltung zur »Erkenntnis, [zum] Geist und [zur] Sinnlichkeit« 259 darstellte, symbolisierte die Spannung zwischen Wotan und Siegfried die sowohl zerstörerische als auch produktive Macht der tragischen Kultur. In Hinblick auf ihren Kontext im nihilistischen Zeitalter hinterließ Nietzsche zwischen Winter 1869/70 und Frühjahr 1870 eine Notiz: »Weltvernichtung durch Erkenntniß! Neuschaffung durch Stärkung des Unbewußten! Der ›dumme Siegfried‹ und die wissenden Götter! – Pessimismus als absolute Sehnsucht zum Nichtsein unmöglich: nur zum Bessersein! / Die Kunst ist ein sicheres Positivum gegenüber dem erstrebenswerthen Nirwana. Die Frage ist nur für die idealistischen Naturen gestellt: Bezwingung der Welt durch positives Thun: erstens durch Wissenschaft, als Zerstörerin der Illusion, zweitens durch Kunst, als übrigbleibende einzige Existenzform: weil durch das Logische unauflösbar.« 260
Die beiden Dimensionen der ›Umwertung der Werte‹, die Nietzsche in ZA mit dem Bild des Löwen und des Kindes zum Ausdruck brachte 261, wurden hinsichtlich seiner fortdauernden Überlegung zum dionysischen Menschen bei seiner Auswegsuche jenseits der Optimismus-Pessimismus-Dichotomie nochmals erwogen. Dass sowohl Nietzsches Wagner-Bild als auch seine selbstkritische Überlegung zum ästhetisierten Optimismus und dem schopenhauerschen Pessimismus mit seiner Auseinandersetzung mit Spinoza im engen Zusammenhang stand, ist nicht nur direkt nach 1881, sondern auch in der späteren Siehe Kap. 6. NW, KSA 6, S. 430: »[…] [W]ar dieser Parsifal überhaupt ernst gemeint? […] Man möchte es nämlich wünschen, dass der Wagnersche Parsifal heiter gemeint sei, gleichsam als Schlussstück und Satyrdrama […] Man möchte es, wie gesagt, wünschen: denn was würde der ernstgemeinte Parsifal sein? Hat man wirklich nöthig, in ihm (wie man sich gegen mich ausgedrückt hat) ›die Ausgeburt eines toll gewordnen Hasses auf Erkenntniss, Geist und Sinnlichkeit‹ zu sehn? einen Fluch auf Sinne und Geist in Einem Hass und Athem? eine Apostasie und Umkehr zu christlich-krankhaften und obskurantistischen Idealen? und zuletzt gar ein Sich-selbst-Verneinen, Sich-selbst-Durchstreichen von Seiten eines Künstlers, der bis dahin mit aller Macht seines Willens auf das umgekehrte, auf höchste Vergeistigung und Versinnlichung seiner Kunst aus gewesen war? und nicht nur seiner Kunst, auch seines Lebens?« 260 NL 3[55], Winter 1869–70 – Frühjahr 1870, KSA 7, S. 75. 261 »Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele ward, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.«, ZA I, Von den drei Verwandlungen, KSA 4, S. 29. 258 259
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Schaffensphase festzustellen. Thematisch gesehen handelte es sich um eine philosophische Selbstsuche Nietzsches. Es war eine Suche nach einem authentischen Weg, auf dem das alte Dilemma zwischen der pessimistischen Anerkennung des Leidens und der optimistischen Lebensbejahung ohne naive Illusion nicht mehr als ein Widerspruch, sondern als eine Aufforderung zum Neudenken interpretiert wurde. Überraschenderweise verbindet ein solches ›Neudenken‹ die theologischen Fragen mit den politischen, was jedoch vor dem ›modernen‹ Zeitalter oft der Fall war. Die Deutung des philosophischen Denkens über die Konflikte, die Interpretation der Sensibilität zum Leiden und der souveränen Einsamkeit spielten nicht nur bei seiner Spinoza-Deutung, sondern auch in seinem ganzen philosophischen Werdegang eine besondere Rolle. Ihr enger Zusammenhang, der im theologisch-politischen Horizont verankert worden ist, wurde an einer Stelle in ZA prägnant dargestellt: »Und nun wollte ich, ihr berühmten Weisen, ihr würfet endlich das Fell des Löwen ganz von euch! Das Fell des Raubthiers, das buntgefleckte, und die Zotten des Forschenden, Suchenden, Erobernden! Ach, dass ich an eure ›Wahrhaftigkeit‹ glauben lerne, dazu müsstet ihr mir erst euren verehrenden Willen zerbrechen. Wahrhaftig – so heisse ich Den, der in götterlose Wüsten geht und sein verehrendes Herz zerbrochen hat. Im gelben Sande und verbrannt von der Sonne schielt er wohl durstig nach den quellenreichen Eilanden, wo Lebendiges unter dunkeln Bäumen ruht. Aber sein Durst überredet ihn nicht, diesen Behaglichen gleich zu werden: denn wo Oasen sind, da sind auch Götzenbilder. Hungernd, gewaltthätig, einsam, gottlos: so will sich selber der Löwen-Wille. Frei von dem Glück der Knechte, erlöst von Göttern und Anbetungen, furchtlos und fürchterlich, gross und einsam: so ist der Wille des Wahrhaftigen. In der Wüste wohnten von je die Wahrhaftigen, die freien Geister, als der Wüste Herren; aber in den Städten wohnen die gutgefütterten, berühmten Weisen, – die Zugthiere.« 262
In diesem Kontext muss die Bedeutung der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption im nächsten Kapitel weiter erörtert werden, um ihre sowohl theologisch-anthropologische als auch ausdrücklich sozio-politische Dimension deutlich zu machen.
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ZA, II, ›Von den berühmten Weisen‹, KSA 4, S. 133.
5. Die Politik der souveränen Einsamkeit contra die Theodizee der Demokratie »[…] ich halte mir das Bild Dante’s und Spinoza’s entgegen, welche sich besser auf das Loos der Einsamkeit verstanden haben. Freilich, ihre Denkweise war, gegen die meine gehalten, eine solche, welche die Einsamkeit ertragen ließ; und zuletzt gab es für alle die, welche irgendwie einen ›Gott‹ zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als ›Einsamkeit‹ kenne.« (Nietzsche an Franz Overbeck, 1885) 1
5.1 Die Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption und ihre Behandlung in Fischer Spinozas Leben, Werke und Lehre
Die Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption ist schon wegen der Häufigkeit der relevanten Bemerkungen auffällig. 2 Er verglich die Einsamkeit Spinozas mit seiner eigenen, sei es in einem identifizierenden oder distanzierenden Gestus. 3 Der Begriff Einsamkeit gewann eine neue philosophische Dimension durch Nietzsches Formulierung »Zweisamkeit«: »Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf Hauptpunkten seine Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die
KSB 7, S. 62–63, Nr. 609, An Franz Overbeck in Basel, (2. Juli) Sils-Maria, Oberengadin, 2. Juli 1885. Der Brief zeigt außerdem die Dringlichkeit des Einsamkeitsproblems für Nietzsche – die ein existenzielles Problem für ihn geworden ist –, der sogar überlegt, wenn auch nur vorübergehend, von Europa (mit seiner frisch verheirateten Schwester) nach Paraguay zu ziehen: »Es kann im Handumdrehen jetzt für mich Europa unmöglich werden; und siehe da, vielleicht findet sich doch in der Ferne auch für einen solchen verflogenen Vogel, wie ich es bin, ein Ast.«, a. a. O., S. 62. 2 Vgl. MA I. 157, KSA 2, S. 147–148; FW V, 481, KSA 3, S. 285–286; NL 28[49], ›An Spinoza‹, Herbst 1884, KSA 11, S. 319. 3 Siehe Abschnitt 5.2. 1
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Die Politik der souveränen Einsamkeit contra die Theodizee der Demokratie
mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. – Wunderlich! ……« 4
Hier wurde nicht nur die Einsamkeit Spinozas (»dieser […] einsamste Denker«) thematisiert. Vielmehr erinnerte sich Nietzsche an seine eigene Einsamkeit, die sein in seiner Zeit wenig verstandenes und anerkanntes Denken bedingte und begleitete. Seine Begeisterung für Spinoza beruhte überwiegend auf dieser gemeinsamen Bedingung der Einsamkeit des Denkens 5, die trotzdem ihr Philosophieren nicht verhinderte. Es sei bemerkt, dass die Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption eine weitaus bedeutendere Rolle spielt, als dies bisher von der Forschung angenommen wurde. Dies liegt anscheinend an dem Glauben, dass sie kaum mehr als eine persönliche Empfindung von Nietzsche über Spinoza verraten, jedoch keinen philosophisch und theoretisch sinnvollen Aspekt ans Licht bringen würde. Nach einer genauen Prüfung werden die unterschiedlichen Konsequenzen beider Denker jedoch sichtbar, die aus zwei verwandten, aber unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der Einsamkeit als der modernen Bedingung des philosophierenden Individuums resultieren. In diesem Kapitel werde ich darauf hinweisen, dass die Einsamkeitsthematik den sozio-politischen Horizont dieser Wirkungsgeschichte aufhellen kann, wie Nietzsche es selbst in seiner Auseinandersetzung mit Spinoza bewusst zum Ausdruck gebracht hat. In diesem Kapitel wird vor allem die Bedeutung der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption erläutert, wobei seine Fischer-Lektüre eine wichtige Rolle spielt. Die Einsamkeitsthematik kann jedoch nicht nur die konkrete Rolle seiner Fischer-Lektüre für diese Rezeption erhellen. Vielmehr kann sie den sozio-politischen Horizont dieser Rezeption eröffnen, weil Spinoza und Nietzsche als die unzeitgemäß modernen Denker für ihre Zeit die Einsamkeit als die neue Bedingung des individuellen Menschen mit unterschiedlichen Positionen als Gegenstand ihrer Philosophie erkannt haben. Am 8. Juli 1881 bestellte Nietzsche »den Band Kuno Fischer’s Spinoza« (KSB 6, Nr. 123), für dessen Lieferung Overbeck gesorgt hat. Hier handelte es sich um den zweiten Band der Geschichte der neuern Philosophie 6 von Fischer. Am Beginn dieses Buches, dessen Bandtitel »Spinozas Leben, Werke und Lehre« heißt, wird kurz Descartes Philosophie behandelt, als das letzte Kapitel des ersten Bandes (bis zur Seite 86). Im nächsten Teil, der fast 500 Seiten umfasst, KSB 6. Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111. Vgl. Stegmaier (2012), S. 441 f. 6 Fischer, Kuno, Spinozas leben, Werke und Lehre. 2. Bd, Geschichte der neuern Philosophie. Heidelberg: Winter 1865; Nietzsche könnte, Hansche zufolge, schon 1868 einen Band oder mehrere Bände von diesem Werk Fischers gelesen haben. Vgl. Hansche (2007), S. 15 f. 4 5
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behandelt Fischer Spinozas Denken ausführlich (S. 87–573). Besonders bemerkenswert sind seine umfangreichen biographischen, bibliografischen und wirkungsgeschichtlichen Betrachtungen (S. 87–331), wobei die Leidensgeschichte der Marranen und der Suizidfall von Uriel da Costa (1585–1640) genau erläutert wurden. ›Marranen‹ – das Wort marrano hatte im Spanischen des 15. Jahrhunderts eine pejorative Bedeutung: ›Schwein‹ – ist die Bezeichnung einer sephardischen jüdischen Diasporagruppe, die bis zum Ende des 15. Jahrhunderts auf der iberischen Halbinsel angesiedelt war. Später (1492) wurden Marranen mit anderen stärker konservativ-traditionellen jüdischen Gruppen aus Spanien vertrieben, während die Marranen in Portugal durch Massentaufe 1497 dazu gezwungen wurden, zu konvertieren, bis es zur weiteren Zwangsauswanderung der konvertierten und nicht-konvertierten Marranen kam. Spinozas Familie gehört zu den portugiesischen Marranen, die aufgrund dieser außerordentlich schwierigen Lage in Holland Zuflucht gesucht haben. In der Einleitung zum ersten Teil in Fischers Spinoza-Band wird die Leidensgeschichte der Marranen besonders in Bezug auf das Leben und den Selbstmord von Uriel da Costa – unter anderen freidenkerischen Marranen und ihren Nachfahren, die nach Holland eingewandert sind – exemplarisch behandelt, was in einem Vergleich mit der späteren Exkommunizierung Spinozas mündet. Es ist plausibel, dass Nietzsche diesen geschichtlichen Hintergrund sowie den Fall von da Costa durch seine Lektüre von Fischers Spinozaband gut gekannt hat. Spinoza wurde 1656 wegen religiöser Dogmenkritik aus der jüdischen Gemeinde verbannt, als er gerade 23 Jahre alt war. Dies bedeutete für Spinoza eine doppelte Isolation, da sich die jüdische Gemeinde in Amsterdam als Minderheit selbst um ihre Fortexistenz und Anerkennung bemühen musste. Der Fall da Costa zeigt die extrem schwierige Lage eines marranischen Einwanderers, ein selbstbestimmtes Leben und ein unabhängiges Denken unter mehrfachem Druck des holländischen Staates, der Kirche und der jüdischen Gemeinde zu führen, die die Verbreitung seines Denkens auch nach seinem Tod zu verhindern versuchten. 7 Die besondere Schwierigkeit, welche die Einsamkeit Spinoza hätte bereiten können, besteht darin, dass das Philosophieren von Natur aus einen Dialog braucht. Daher stellt sich die Frage: Wie ist Spinoza als Philosoph mit seiner Einsamkeit umgegangen, als z. B. sein Werk Traktatus Theologico-Politicus (TTP, 1660) nur vier Jahre nach Erscheinen verboten wurde? Fischer unterVgl. »Verbot der Opera posthuma von B. d. S. durch die Staaten von Holland und Westfriesland«, Spinoza, de Baruch, Bd. 7., hrsg. von Manfred Walther, übers. von Carl Gebhardt, Lebensbeschreibungen und Dokumente, S. 279 f. Vgl. auch »Beschluß des Leidener Kirchenrates gegen die Opera Posthuma von B. d. S.«, Ebd. S. 278. 7
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suchte genau diesen Aspekt eingehend. Unter dem Titel Einsamkeit für einen Denker. Spinoza verglichen mit Descartes schreibt er, »Der Schriftsteller braucht Leser, eine Welt, die ihn empfängt und auf sich wirken läßt, diese Wirkungen ihm zurückgiebt, neue von ihm erwartet und eben dadurch ihn selbst zu neuen Aufgaben und Arbeiten anregt. Es ist nicht möglich, die Philosophie zu secretiren, wenigstens nicht auf die Dauer.« 8
Weiter diskutiert er die Unmöglichkeit des isolierten Philosophierens am Beispiel von Descartes, wobei der französische Denker trotz seiner bescheidenen Intention bald große Unterstützung von Lesern bekommen hat, die seine weitere philosophische Arbeit vehement beeinflussen konnte. 9 Nach dem Vergleich mit Descartes’ Fall, der die Unmöglichkeit eines isolierten Philosophierens beweisen soll, wird nun bei Fischer die exzeptionelle Lage von Spinoza mit einer beeindruckenden Ausführlichkeit thematisiert: »Ganz anders verhält sich die Sache bei Spinoza. Als ein armer und geächteter Jude beginnt er seine philosophische Laufbahn. Die Verfolgung lauert ihm auf, noch ehe er litterarisch hervortritt. Auf seinen Schriften, noch ehe sie geboren sind, ruht schon der Bann der Juden, der Verdacht der Christen. Die Freunde, die an ihm theilnehmen, seinen Geist bewundern, seine Belehrung wünschen, sind wenige. Unter diesen Wenigen ist keiner, der den Einfluß und die Macht hat, ihn zu schützen und den Werken, die er schreibt, gleichsam zum Schilde zu dienen. Selbst wenn sie dazu einfluß und Macht genug hätten, würden sie kaum die Absicht haben, seine Sache zu führen; denn den meisten dieser Freunde erscheint die Lehre Spinoza’s, namentlich in religiöser Hinsicht, unheimlich und selbst verdammenswerth. Wie verlassen in dieser Beziehung Spinoza auch in seinem Freundekreise war, zeigen auf das deutlichste die Briefe, die uns vorliegen. Nachdem man erfahren hat, daß er der Verfasser des theologisch-politischen Tractats ist, wird so laut gegen ihn getobt und die Verfolgung mit allen Mitteln so drohend gegen ihn gerüstet, daß alle weiteren literatischen Unternehmungen unmöglich scheinen. Jeder Versuch, den er macht, seine Schriften herauszugeben, stößt sogleich auf ein Heer von Gefahren, denen sich Spinoza ausgesetzt sieht ohne jeden Schluß. Will er seine Lebensruhe nicht ganz preisgeben und damit die zur Phi-
Fischer (1865), S. 140. »Descartes hatte die ersthafte Absicht, seine Gedanken der Welt zu verschließen; er wollte erst gar nicht schreiben, aber seine Gedanken selbst forderten den festen und bestimmten Ausdruck der niedergeschriebenen Form; dann wollte er nur für sich schreiben, gleichsam der Geheimsecretär seiner eigenen Philosophie sein, aber er machte sehr bald die Erfahrung, daß zu seiner Selbstbelehrung der Verkehr mit der wissenschaftlichen Welt und die Veröffentlichung seiner Ideen nothwendig sei. So trat er mit seinen Schriften hervor. Begierig wurden sie aufgenommen, bewurdert, bekämpft; […]«, ebd. 8 9
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losophie nöthige Gemüthsstimmung verlieren, so muß er schweigen. Er muss nicht bloß auf die akademische Lehrthätigkeit, sondern auch auf die literatische völlig Verzicht leisten. Und was er noch zu veröffentlichen hat, ist nicht weniger als seine ganze Philosophie. Descartes hat in seiner Einsamkeit eine große unsichtbare Gemeinde, die ihn erwartungsvoll umgiebt; Spinoza hat Niemand als einige wenig bedeutende Schüler, die in der Stille studiren, was er ihnen handschriftlich mittheilt. Er ist auch geistig vereinsamt. Und diese Art der Einsamkeit hat etwas Niederdrückendes. Man kann nicht ohne tiefes Mitgefühl die Stellen seiner Briefe lesen, wo er ohne Klage dieses Schicksal über sich ausspricht; der Rest ist schweigen! Unter solchen ungünstigen Bedingungen, die seinen philosophischen Werken Licht und Luft versperren, begreift sich wohl, daß die letztern kein großes literarisches Wachstuhm entfalten konnten.« 10
Dass Spinoza die Souveränität als Denker trotz der ausnehmend schwierigen Bedingungen über alles anderes geschätzt hat, zeigt sich am Beispiel seiner bekannten Ablehnung der Berufung zu einer Professur für Philosophie an die Universität Heidelberg durch den pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig im Jahre 1673. Er erklärte den Grund dieser Ablehnung wie folgt: »er wisse nicht, wie eng die Freiheit zu philosophieren begrenzt bleiben müsse, damit es nicht so aussehe, als wolle er die öffentlich befestigte Religion stören.« 11 Nicht nur Spinozas Denken, sondern sein hier zum Ausdruck gebrachtes Ethos des Denkens hat viele Denker seit dem 18. Jahrhundert fasziniert, welche ihn wegen der öffentlichen Diffamierung 12 und des kirchlichen Verbots 13 erst verspätet entdecken konnten. Nietzsche hat diese Einheit des unabhängigen Denkens und des selbstbestimmten Lebens bei Spinoza nicht zuerst durch seine Fischer-Lektüre 1881 zur Kenntnis genommen. Es sei auf eine wichtige Stelle aus einem Abschnitt in MA zwischen 1876 und 1877 hinzuweisen, die sein Interesse nicht nur an
Fischer (1865), S. 140–142 Spinoza, Bd. 7., Walther (Hg.), Lebensbeschreibungen und Dokumente, S. 250. Diese Beschreibung vom Hebräisch-Professor Johann Heinrich Heidegger (1633–1698) zeigt die weit verbreitete Antipathie gegen Spinozas Denken deutlich, wenn er weiter ausführt: »Damit gab er [= Spinoza; J. Y.] ganz offen zu, daß seine Philosophie, die er bis dahin privat gelehrt und in Schriften bekannt gemacht hatte, gegen die christliche Religion, besonders die reformierte, wie sie durch Gesetze festgelegt ist, in Feindschaft anstürme.« Auch vgl. a. a. O., 248– 249; Vgl. Stegmaier (2012), S. 138. 12 Vgl. Friedrich der Große 1740, S. 482 f. Siehe dazu Abschnitt 4.1.3. 13 Vgl. Spinoza, de Baruch, Bd. 7., hrsg. von Manfred Walther, übers. von Carl Gebhardt, Lebensbeschreibungen und Dokumente, S. 257–258. Vgl. auch Dokumente nach Spinozas Tod, z. B.: »1677, 25. November. Über die Suche nach Spinoza im Auftrag des Vatikans«, ebd. S. 275 f. 10 11
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Spinozas Denken beweist, sondern auch an seinem Leiden der Einsamkeit. Nietzsche zufolge sei dieser Aspekt von seinem Denken nicht zu trennen: 14 »Die Leiden des Genius und ihr Werth. – Der künstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Geniessenden; er bietet Speisen, aber man will sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umständen lächerlich-rührendes Pathos; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber Niemand will tanzen: kann das tragisch sein? –Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Compensation für diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen Menschen bei allen anderen Gattungen der Thätigkeit haben. Man empfindet seine Leiden übertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter, sein Mund beredter ist; und mitunter sind seine Leiden wirklich sehr gross, aber nur deshalb, weil sein Ehrgeiz, sein Neid so gross ist. Der wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich nicht so begehrlich und macht von seinen wirklich grösseren Leiden und Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit grösserer Sicherheit auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; während ein Künstler, der diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei dem ihm wehe um’s Herz werden muss.« 15
Ein »wissender Genius« wie Spinoza (ebd.) gerät zwar wie ein ›künstlerische[r] Genius‹ wegen Missverständnis und Antipathie seiner Zeitgenossen in Einsamkeit, worunter er leidet. Dennoch vermag der »wissend[e] Genius« einen gelungenen Umgang mit seinem Leiden an der Einsamkeit zu finden, da er im Gegensatz zum künstlerischen Genius seine Gelassenheit bewahren kann. Nietzsche hätte wohl gefragt: Wie war seine Gelassenheit, sein Vertrauen »auf die Nachwelt« (ebd.), seine Selbstbejahung trotz des Leidens an der aktuellen Einsamkeit möglich, wobei selbst das Leiden in dessen Philosophie doch prinzipiell als notwendig dargestellt ist? 16 Seine intensive Überlegung zu Spinoza im Hinblick auf seinen Totalitätsanspruch und ›bejahenden‹, ›freudigen‹ Fatalismus sowie seinen Optimismus (siehe Kap. 3 und 4) lässt sich besser erklären, wenn diese Einsamkeitsthematik in seiner Spinoza-Rezeption erwogen wird. Bereits vor seiner Fischer-Lektüre 1881 war Nietzsche bekannt, dass Spinozas Leiden im weltgeschichtlichen Kontext der jüdischen Diaspora stand, wenn er in MM an einer anderen Stelle über die »Leidensschule« der Juden Vgl. Reschke (2000), S. 9. MA, I, 157, KSA 2, S. 147–148. 16 Nietzsche wusste nach seiner Fischerlektüre um Spinozas theoretische Behandlung des Leidens in seiner Philosophie. Vgl. Fischer, S. 350 f.: »II. Die nothwendigkeit der Leidenschaften. 1. Der Geist als leidende Natur«; auch S. 233: »3. Die Unmöglichkeit der Freiheit«; S. 504 f.: »2. Die Nothwendigkeit des Leidens«; S. 510: »6. Die moralische oder imaginäre Freiheit«; S. 515 f.: »II. Befreiung von den Leidenschaften.« usw. 14 15
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schrieb. Es müsse, so Nietzsche, bei den Juden in Europa trotz und aufgrund dieses Leidens »von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und hasserweckenden Masse zum Uebergewicht kommen […], so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt – und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden –, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen.« 17 Es gilt nun, Nietzsches weitere Deutung hinsichtlich der Frage, welchen positiven Sinn eine solche Leidensgeschichte haben könnte, hervorzuheben: »Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches, nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt.« 18
Angemerkt sei, dass jener Titel »Die Leiden des Genius und ihr Werth« impliziert, dass Nietzsche bereits in den 1870er Jahren Spinozas Leiden an der Einsamkeit im unauflösbaren Zusammenhang mit dessen Denken betrachtete. Das philosophische Denken eines wissenden Genius ist von den großen Schmerzen, den »ausser- und überpersönliche[n], einem Volke, der Menschheit, der gesammten Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen […] in ganz seltenen Fällen« geprägt. 19 Abgesehen davon, ob solche Empfindungen das Denken lieber beeinflussen sollten oder nicht, scheint Nietzsche hier nicht nur den Fall Spinoza, sondern auch seinen eigenen Fall zu reflektieren. Wie Spinoza aus seinem Leiden sein Denken herausgebildet hat, interessierte Nietzsche deswegen persönlich, weil sich seine Einsamkeit besonders nach seiner durch Krankheit bedingten Suspendierung von der Baseler Universität 1876 stetig verstärkt hat. 20 Während Wurzer Nietzsches InteresMA, I, 475, KSA 2, S. 310–311. A. a. O., S. 311. 19 »In ganz seltenen Fällen, – dann, wenn im selben Individuum der Genius des Könnens und des Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen – kommt zu den erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als die absonderlichsten ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausser- und überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesamten Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten-Empfindungen: welche ihren Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth). – Aber welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es für deren Aechtheit? Ist es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von Empfindungen dieser Art bei sich reden?«, MA I, 157, KSA 2, S. 148. 20 Schon zu Beginn seiner Zeit in Basel musste sich Nietzsche mit der Einsamkeit auseinandersetzen, die er prägnant bei seinem Antrittsvortrag 1869 mit einem Gedicht zum 17 18
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se an Spinoza dieser Zeit bei Paul Rée sucht, 21 habe ich in den beiden letzten Kapiteln den Einfluss von Goethe und Schopenhauer für Nietzsches SpinozaBild in den 1870er Jahren konkret erläutert. In der WWV erwähnte z. B. Schopenhauer Spinozas Lebensbeschreibung von Colerus 22, die als eine ›offizielle‹ Einleitung zum Leben Spinozas während dieser Zeit galt. 23 Ein konkretes Beispiel dafür wäre die wiederholte Nebeneinanderstellung von Bruno und Spinoza, die sowohl bei Nietzsche als auch bei Schopenhauer als die »ZwangsEinsiedler« ( JGB II, 25) dargestellt wurden. Nietzsche schrieb in JGB: »Diese Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten, Schlimm-Gehetzten, – auch die Zwangs-Einsiedler, die Spinoza’s oder Giordano Bruno’s – werden zuletzt immer, und sei es unter der geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie selbst es wissen, zu raffinirten Rachsüchtigen und Giftmischern (man grabe doch einmal den Grund der Ethik und Theologie Spinoza’s auf !) – gar nicht zu reden von der Tölpelei der moralischen Entrüstung, welche an einem Philosophen das unfehlbare Zeichen dafür ist, dass ihm der philosophische Humor davon lief.« 24
Die vergleichbar ähnliche Beobachtung findet sich in WWV I von Schopenhauer:
Ausdruck gebracht hat: »In Basel steh ich unverzagt / Doch einsam da – Gott sei’s geklagt, / Und schrei ich laut: Homer! Homer! / So macht das Jedermann Beschwer. / Zur Kirche geht man und nach Haus / Und lacht den lauten Schreier aus. / Jetzt kümmr’ ich mich nicht mehr darum:/ Das allerschönste Publikum/ Hört mein homerisches Geschrei/ Und ist geduldig still dabei. / Zum Lohn für diesen Ueberschwank/ Von Güte hier gedruckten Dank.«, Homer und die klassische Philologie. Ein Vortrag (1869), KGW II/1, S. 247–269. 21 »Das gewandelte Verhältnis Nietzsches zu Spinoza kam dann zu einer Zeit (1875/76) da Nietzsche mit Paul Rée befreundet war. Es ist anzunehmen, daß Nietzsche die moralische Gedankenwelt Spinozas durch Rée besser kennenlernte, weil er in der Schrift ›Menschliches, Allzumenschliches‹ seine Übereinstimmung mit Spinozas moralischen Grundgedanken kundtut. Als ›wissender Genius‹ und ›reinster Weiser‹ nimmt jetzt Spinoza für Nietzsche teilweise die Stelle von Schopenhauer ein.« Wurzer (1975), S. 142. 22 »Dies gilt wie vom Intellektuellen, so auch vom Ethischen. Gewissermaßen könnte man als ein hierhergehöriges Beispiel sogar die bekannte französische Biographie Spinozas [Herausgeber: Biographie von Colerus, 1698, franz. 1706] betrachten, wenn man nämlich als Schlüssel zu derselben jenen herrlichen Eingang zu seiner sehr ungenügenden Abhandlung ›De emendatione intellectus‹ gebracht, welche Stelle ich zugleich als das wirksamste mir bekanntgewordene Besänftigungsmittel des Sturms der Leidenschaften anempfehlen kann.«, WWV, II, 68, S. 523; Vgl. Spinoza, Bd. 7., Walther (Hg.), Lebensbeschreibungen und Dokumente, S. 73 f. 23 Auch für Goethes Spinoza-Rezeption scheint diese Biographie eine Rolle gespielt zu haben. Vgl. dazu Goethe, Dichtung und Wahrheit, Sechzehntes Buch, S. 728. 24 JGB, II, 25, KSA 5, S. 43.
Das gottverlassene Leben oder frei vom ›Schatten Gottes‹
»Bruno und Spinoza sind hier ganz auszunehmen. Sie stehn jeder für sich und allein, und gehören weder ihrem Jahrhundert noch ihrem Welttheil an, welche dem einen mit dem Tode, dem andern mit Verfolgung und Schimpf lohnten. Ihr kümmerliches Daseyn und Sterben in diesem Occident gleicht dem einer tropischen Pflanze in Europa. Ihre wahre Geistesheimath waren die Ufer der heiligen Ganga: dort hätten sie ein ruhiges und geehrtes Leben geführt, unter ähnlich Gesinnten. – Bruno drückt in folgenden Versen, mit denen er das Buch della causa principio ed uno, für welches ihm der Scheiterhaufen ward, eröffnet, deutlich und schön aus, wie einsam er sich in seinem Jahrhundert fühlte, und zeigt zugleich eine Ahndung seines Schicksals […]« 25
Mit seiner Fischer- und Schopenhauer-Lektüre hat Nietzsche also das einsame, zur Vereinsamung gezwungene Leben Spinozas zur Kenntnis genommen, was im Hinblick auf Nietzsches eigene Aufgabe, die philosophische Bedeutung der Einsamkeit zu thematisieren, den Fall Spinoza besonders interessant gemacht hat. Dennoch scheint es erklärungsbedürftig, warum er an der zitierten Stelle aus seiner späteren Schaffensphase die negativen Konsequenzen der Einsamkeit Spinozas noch stärker betont hat. Es war eben diese Einsamkeit, welche in den 1870er und frühen 1880er Jahren Nietzsches Annäherung an Spinoza veranlasst hatte. 5.2 Das gottverlassene Leben oder frei vom ›Schatten Gottes‹. Der politisch-theologische Aspekt der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption 5.2.1 Die ›Zweisamkeit‹ zwischen Spinoza und Nietzsche (1881)
Ein wichtiger Aspekt der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Philosophie besteht darin, dass die Einsamkeit nicht um ihrer selbst willen, sondern als ein Mittel zum Zweck betrachtet wird. Bei Nietzsche gewinnt die Einsamkeit ihre theoretische Bedeutung, wenn sie der Souveränität des betroffenen Individuums dienen kann. In dieser Hinsicht schließen sich die philosophische Aufwertung der Einsamkeit und die Förderung der Vernetzung der gleichgesinnten Freigeister in Nietzsches Denken nicht aus, solange letzteres ersteres positiv beeinflussen kann. Ein derartiges Pathos der einsamen Suche nach den vereinsamten Geistesverwandten – das bildet ein Hauptmotiv für ZA 26 – lässt sich auch in Nietzsches Kommentar zu Spinoza feststellen. Vgl. die anschließende Passage bei Schopenhauer: WWV, I, S. 571, Anm. 1. Vgl. ZA, I, Vom Wege des Schaffenden, KSA 4, S. 80 f.; vgl. ZA, II, Das Kind mit dem Spiegel, KSA 4, S. S. 106; vgl. Himmelmann (2001), S. 149. 25 26
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Nietzsches Wortwahl in der bereits zitierten Postkarte an Overbeck 27 erinnert an das Anpreisen ›der hohen Menschen‹ in ZA, die die einsame Lebensweise des souveränen Individuums trotz des Leidens an »Athemnoth« (ebd.) in der Höhe wählten. Wie der einsame Zarathustra im ersten Teil des Werkes jedoch nach der Suche eines Gefährten den Berg herabsteigen wollte, scheint Nietzsche 1881 die neu entdeckte »Zweisamkeit« (ebd.) als die absolute Vereinsamung zu favorisieren. Es sei darauf hingewiesen, dass Nietzsche in seiner ersten »Chaos sive natura«-Bemerkung von 1881 genau diese Szene der ZA-Vorrede skizziert hatte, die Zarathustras Untergang 28 in die Menschenwelt beschreibt – »in die Tiefe zu steigen«. 29 Unabhängig davon, ob dieser Untergang eine Zweisamkeit für Zarathustra garantierte, lässt sich zumindest feststellen, dass diese Zweisamkeit ein besonderer Modus der Einsamkeit ist und nicht mit der absoluten Isolation gleichzusetzen. Dabei stellt sich Nietzsche unter dieser »Zweisamkeit« einen idealen Zustand vor, in dem ein Individuum mit Hilfe des gleichgesinnten freien Menschen der verkümmernden Vereinsamung entgeht, ohne seine Souveränität opfern zu müssen. In diesem Sinne unterscheidet sich Nietzsches Einsamkeitsthematik von der frühchristlichen Tradition des Anachoretentums (ἀναχώρησις) oder des ›Rücktritts von der Welt‹ (fuga mundi), wobei die absolut isolierte Lebensweise eines Eremiten als tugendhaft hochgepriesen wird. Die absichtliche Distanzierung von der Menschenwelt bei der anachoretischen Vereinsamung kann eine verengte Deutungsvariante des Gedankens ›Gott oder Natur‹ – Deus sive natura – bedeuten, wie die Figur des heiligen Eremiten oder des »Heiligen im Walde« 30 in der ZA-Vorrede zum Ausdruck bringt. Der einsame Greis im Wald, welcher in der Natur Gott sieht und in ihr seine Einsamkeit wie ein Kind 31 unschuldig und glücklich lebt, versucht Zarathustra zu überreden, in der anachoretischen Einsamkeit zu bleiben, wie er selbst. Zarathustras Antwort, dass er die Menschen liebe (S. 13) und ihnen ein Geschenk bringe (ebd.), zeigt einen auffallenden Kontrast der beiden Arten des Einsamkeitsverständnisses. In Nietzsches Überlegung zur Einsamkeit stellt sich die neue Frage, inwieweit die souveräne 32 Einsamkeit vor allem unter Menschen möglich ist. KSB 6. Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111. ZA, Vorrede, 1, KSA 4, S. 12: »Ich muss […] untergehen […]«. Auch: »Also begann Zarathustra’s Untergang.« (ebd.) 29 A. a. O., S. 11.; Siehe Abs. 2.2. 30 ZA, Vorrede, 2, KSA 4, S. 13. 31 A. a. O., S. 14: »Und so trennten sie sich von einander, der Greis und der Mann, lachend, gleich wie zwei Knaben lachen.« 32 Vgl. Himmelmann (2001), S. 143: »Indem Nietzsche Zarathustra auf diese Weise zeich27 28
Das gottverlassene Leben oder frei vom ›Schatten Gottes‹
5.2.2 Die mit Gott gesellte Einsamkeit Spinozas (1885). Die Konsequenz vom ›Tod Gottes‹ für Nietzsches Spinoza-Bild
In welchem Kontext ist Nietzsches hohe Erwartung und große Begeisterung über diesen einsamen Vorgänger Spinoza einem Zweifel begegnet? Am 2. Juli 1885 schrieb er: »Die Zeit ist im Übrigen grenzenlos oberflächlich; und ich schäme mich oft genug, so viel publice schon gesagt zu haben, was zu keiner Zeit gehört hätte. Man verdirbt sich eben den Geschmack und die Instinkte, inmitten der ›Preß- und Frechheits-Freiheit‹ des Jahrhunderts; und ich halte mir das Bild Dante’s und Spinoza’s entgegen, welche sich besser auf das Loos der Einsamkeit verstanden haben. Freilich, ihre Denkweise war, gegen die meine gehalten, eine solche, welche die Einsamkeit ertragen ließ; und zuletzt gab es für alle die, welche irgendwie einen ›Gott‹ zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als ›Einsamkeit‹ kenne. Mir besteht mein Leben in dem Wunsche, daß es mit allen Dingen anderes stehn möge, als ich sie begreife; und daß mir Jemand meine ›Wahrheiten‹ unglaubwürdig mache. – –« 33
Nietzsches Distanzierung von Spinoza nach 1881 ereignete sich zum großen Teil wegen der unterschiedlichen Bedingung ihrer Einsamkeit, die auch eng mit den unterschiedlichen philosophischen Voraussetzungen bei ihnen zusammenhängt. Seine Hochachtung über Spinoza als demjenigen, der in seiner erzwungenen Einsamkeit die Souveränität im Denken und Leben erreicht hat, wurde bald kritisch reflektiert, wie es in seinem Entwurf von »Chaos sive natura« direkt nach seiner Fischer-Lektüre 1881 der Fall war. 34 Ein wichtiger Grund dieser Distanzierung besteht darin, dass Spinozas Denken für Nietzsche immer noch einen zu starken Einfluss der jüdisch-christlichen Theologie aufwies. Diese Spinoza-Deutung Nietzsches stand im Gegensatz zu anderen wichtigen Spinoza-Bildern seiner Zeit. Ein gutes Beispiel ist der seit dem vergangenen Jahrhundert verbreitete Vorwurf von Jacobi, dass Spinoza ein atheistischer Philosoph sei 35, oder der Verdacht von Schopenhauer, dass Spinoza seine philosophischen Voraussetzungen und Annahmen des Gottes als der net, verleiht er ihm durchaus gottähnliche Züge. Denn für einen Gott ist es charakteristisch, dass er sich in seiner Einsamkeit, in seinem Für-sich-sein-Können in vollkommener Fülle hat.« 33 KSB 7, S. 62–63, Nr. 609, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, Oberengadin, 2. Juli 1885. 34 Siehe Kap. 2. 35 Vgl. Jacobi (1785), S. 118: »Spinozismus ist Atheismus.«; auch vgl. a. a. O., S. 37 f. und S. 221 f.; vgl. Fischer (1865), S. 559. Siehe Abschnitt 3.3.2.
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einzigen Substanz nur unternahm, um seine wahre Absicht des Atheismus zu verhüllen. 36 Wenn man die Sache nur auf die religiöse Ansicht Spinozas beschränken würde, ist Nietzsches Spinozainterpretation m. E. eigentlich richtig, wenn er konstatiert, dass die Religiosität in Spinozas TTP, wenn auch in einer radikal neuen Form, für den Menschen immer noch als für sehr wichtig gehalten wird und nicht von der Rationalität zu ersetzen ist. In der Ethica drückt der Gedanke des ›Deus sive natura‹ jedoch eine noch tiefere Vereinbarkeit zwischen der menschlichen Vernunft und der göttlichen Natur aus. Diese einträchtige Weltsicht hebt den Konflikt zwischen dem Einzelnen und der absoluten Substanz auf, indem die Bemühung des Einzelnen, seine eigene Ursache (causa sui) für sich oder frei zu werden, in Spinozas Denken als seine Annäherung an die absolute Substanz, also an Gott erklärt wird. In diesem Sinne bedeutet die intellektuelle Liebe Gottes (amor dei intellectualis) in Spinozas Philosophie nicht nur die Liebe des Menschen zu Gott, sondern dass der Mensch durch Achtung und Pflege seiner göttlichen Natur sich selbst zu realisieren vermag, was zugleich als Gottes Selbstliebe verstanden werden kann. Mit seinem Glauben an das einträchtige Verhältnis zwischen den endlichen Modi betrachtet Spinoza auch die Einsamkeit (›solitudo‹) eines Einzelnen als etwas, das mit der ethischen und sozio-politischen Bemühung zu überwinden ist. 37 Für Nietzsche ist jedoch eine solche Lösung nicht akzeptabel, vielmehr hatte er bereits trotz seiner anfänglichen Begeisterung für Spinoza in den 1870er Jahren durch seine Goethelektüre einen Vorbehalt angezeigt. 38 In der Zeit von 1881 bis1882 hat Nietzsche seine ersten Gedanken über ›den Tod und den Schatten Gottes‹ entwickelt, deren theoretische Konstruktionen »Ich weiß es wohl, die vorgeblichen Philosophen dieses Jahrhunderts tun es dem Spinoza nach und halten sich hierdurch gerechtfertigt. Allein Spinoza hatte besondere Gründe, seine alleinige Substanz so zu benennen, um nämlich wenigstens das Wort, wenn auch nicht die Sache, zu retten. Giordano Bruno’s und Vanini’s Scheiterhaufen waren noch in frischem Andenken: auch Diese nämlich waren jenem Gotte geopfert worden, für dessen Ehre, ohne allen Vergleich, mehr Menschenopfer geblutet haben, als auf den Altären aller heidnischen Götter beider Hemisphären zusammengenommen. Wenn daher Spinoza die Welt Gott benennt; so ist es gerade nur so, wie wenn Rousseau, im Contrat social, stets und durchgängig mit dem Wort le souverain das Volk bezeichnet: auch könnte man es damit vergleichen, daß einst ein Fürst, welcher beabsichtigte, in seinem Lande den Adel abzuschaffen, auf den Gedanken kam, um Keinem das Seine zu nehmen, alle seine Untertanen zu adeln.«, WWV, II, 28 Charakteristik des Willens zum Leben, S. 452–453. 37 Siehe Abs. 5.3. angesichts dieser ›spinozistischen Apologetik‹, besonders im Hinblick auf seine Thematisierung der Begrenztheit des Einzelnen, seiner Einsamkeit (solitudo) und seiner Möglichkeit zur Freiheit in der Gesellschaft. 38 Siehe Abs. 2.1.2. und 2.1.3. 36
Das gottverlassene Leben oder frei vom ›Schatten Gottes‹
NL 11[20] und 11[225] sowie FW 109 zeigen und die nach seiner »Chaos sive natura«-Planung (sog. der zweiten »Chaos sive natura«-Stelle) als eine parallele Spinoza-Kritik durchgeführt wurden. 39 Der kritische Blick Nietzsches auf die theologische Voraussetzung der göttlichen Eintracht der Welt bei Spinoza lässt sich in den folgenden Jahren feststellen. Im Frühjahr/Sommer 1883 schrieb er, dass »die Verschmelzung mit der Gottheit« 40 bei Spinoza eine besondere »Gier nach höchster Ungestörtheit und Stille und Geistigkeit« (ebd.) ausweisen soll. »Das Problem der Einsamkeit mit und ohne Gott« 41, wie Nietzsche es selbst formuliert, hat also seine Spinoza-Rezeption thematisch stark beeinflusst. In der Forschung wurde jedoch die politische Bedeutung des religionskritischen Aspekts der Einsamkeitsthematik bislang wenig behandelt. Dieser Aspekt lässt sich nicht nur in der früheren und mittleren Phase dieser Rezeption, sondern auch in der späteren Phase feststellen. Er wird besonders im Zusammenhang mit Nietzsches Überlegung zum europäischen Nihilismus in den späteren 1880er Jahren deutlich. 42 Nietzsche gelangte während dieser Schaffensphase zu der Ansicht, dass Spinozas Widerlegung der sittlichen Weltordnung 43 den Kampf gegen den bevorstehenden Nihilismus der Moderne symbolisierte, der den Sinn des Lebens und der Welt in Frage zu stellen drohte. Noch genauer handelt es sich bei Spinoza Nietzsche zufolge um einen gewagten, doppelseitigen Versuch, »›Gott‹, [als: J. Y.] eine vor der Vernunft bestehende Welt übrig zu behalten«. 44 Diese Bemühung ließ sich auch in einem Zeitgeist feststellen, den der Aufruf Rousseaus zur »Rückkehr zur Natur« 45 prägnant zum Ausdruck gebracht hat. Nietzsches kritische Überlegung zu Rousseaus einsamem Naturmenschen stand hier im engen Zusammenhang mit seiner Erwägung zum Spinozismus 46, dessen Hintergrund Nietzsche in Siehe Abs. 2.3. NL 7[108], Frühjahr – Sommer 1883, KSA 10, S. 279 f. 41 »Das Problem der Einsamkeit mit und ohne Gott – dies Beten, Danken, Lieben verschwendet ins Leere«, NL 29[29], Herbst 1884 – Anfang 1885, KSA 11, S. 344. 42 Vgl. NL 2[127], Herbst 1885 – Herbst 1886, ›Der Nihilismus steht vor der Thür‹, KSA 12, S. 125 f. Besonders: »4. Gegen die »Sinnlosigkeit« einerseits, gegen die moralischen werthurtheile andererseits: in wiefern alle Wissenschaft und Philosophie bisher unter moralischen Urtheilen stand? und ob man nicht die Feindschaft der Wissenschaft mit in den Kauf bekommt? Oder die Anti-wissenschaftlichkeit? Kritik des Spinozismus. Die christlichen Werthurtheile überall in den socialistischen und positivistischen Systemen rückständig. Es fehlt eine Kritik der christlichen Moral.« 43 Siehe Abs. 4.1. 44 NL 2[131], Herbst 1885 – Herbst 1886, KSA 12, S. 131. 45 Ebd. 46 Der Spinozismus höchst einflussreich.«, ebd. 39 40
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der »christliche[n] Vertrauensseligkeit (ungefähr schon Spinoza ›deus sive natura‹ !)« (ebd.) suchte. Diese Perspektive, die er nicht nur in seiner Betrachtung von Spinoza, sondern angesichts des Pantheismus und von Hegel 47 bestätigte, erklärt seine vielschichtige Stellungnahme zu Spinoza zwischen den 1870er und dem Ende der 1880er Jahre. 48 Der politisch-religiöse Aspekt der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption macht als eine der wichtigsten Zäsuren zwischen beiden Denkern deutlich, worin sie trotz ihrer Verwandtschaft nicht übereinstimmen. Nietzsches Ersatz von »Gott (deus)« durch »Chaos« in der Formel »Deus sive natura« zeigt, dass seine neue Formel »Chaos sive natura« mit seinem Gedanken über den Tod Gottes 49 nicht nur zeitlich, sondern auch entstehungsgeschichtlich eng zusammenhängt. Bereits in seinem »Chaos sive natura«Entwurf zwischen 1881 und 1882, besonders in NL 11[20], 11[225] und FW 109, hat er die Hauptthemen des Todes und des Schatten Gottes skizziert. 50 Es sei zugleich darauf hingewiesen, dass sich seine ausdrückliche Kritik an Spinozas »Deus sive natura« in der Notiz aus der Zeit zwischen Juni und Juli des Jahres 1885 findet, also zum gleichen Zeitpunkt wie in seinem Brief an Franz Overbeck am 2. Juli 1885 51, in dem er seine Enttäuschung über die noch erträgliche, mit Gott gesellte Einsamkeit Spinozas gestanden hat. Auch weitere Hinweise über den engen Zusammenhang zwischen Nietzsches Denken und den Leitmotiven seiner Spinoza-Rezeption findet man in diesem Zeitraum. Zwischen April und Juni 1885 verfasste er weitere Entwürfe für den Text Mittag und Ewigkeit, z. B. in NL 34[191] und 35[39] 52, und kommentierte den Fatalismus bei Hegel in NL 35[44] 53 sowie »die persönliche Erziehung des Philosophen in der Einsamkeit« und »das Dionysische« in NL 35[45] 54. Seine Kritik an Spinozas »Deus sive natura« im Jahre 1885 findet sich in der Zeit zwischen Juni und Juli 1885. Am Anfang dieser Notiz wurde die teleologische Weltinterpretation kritisch betrachtet: »Hätte die Welt ein Ziel,
»Die philosophischen Versuche, den ›moralischen Gott‹ zu überwinden (Hegel, Pantheismus).«, NL 2[127], Herbst 1885 – Herbst 1886, KSA 12, S. 126. 48 Siehe Kap. 6.; Scandella (2014) weist auf den Unterschied zwischen Spinozas Naturbegriff und Rousseaus Naturbegriff hin: vgl. Scandella (2014), S. 176. 49 Vgl. Köster, ›Gott‹, in: Ottmann (2000), S. 245–248. 50 Siehe Abs. 2.3 und 2.4.2. 51 KSB 7, S. 62–63, Nr. 609, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, Oberengadin, 2. Juli 1885. 52 Siehe Abschnitt 2.2. 53 Siehe Abs. 3.3.2. 54 Siehe Abs. 4.3. und 4.4. 47
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so müßte es erreicht sein. Gäbe es für sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein.« 55 Jedoch folgte gleich eine weitere Argumentation gegen die metaphysische Annahme des Seins, die die Substanzphilosophie Spinozas voraussetzt, auch wenn Nietzsche Spinoza in diesem Satz noch nicht namentlich erwähnte: »Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines ›Seins‹ fähig, hätte sie nur einen Augenblick in allem ihrem Werden diese Fähigkeit des ›Seins‹, so wäre es wiederum mit allem Werden längst zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem ›Geiste‹. Die Thatsache des ›Geistes‹ als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist.«
Dass Nietzsches kritische Überlegung hier seine Auseinandersetzung mit Spinoza tangiert, zeigen seine folgenden Argumente gegen die neue Annahme der ewigen Neuerung der Welt. Denn in dieser Annahme, dass die Welt »das Vermögen zur ewigen Neuheit« (ebd.) besitze und »zur unendlichen Neugestaltung ihrer Formen und Lagen« fähig sei, verbirgt sich immer noch »die alte Gewohnheit«, »bei allem Geschehen an Ziele und bei der Welt an eine[n] lenkenden schöpferischen Gott zu denken« (ebd.). Diese Annahme ist also »die alte religiöse Denk- und Wunschweise« (ebd.) in einer modernen Gestalt, die zwar nicht ausdrücklich das traditionelle, christliche Naturbild vertritt, aber immer noch in jener »Wunder-Fähigkeit zur unendlichen Neugestaltung« (ebd.) eine immanente »göttliche Schöpferkraft« ablesen will. Nietzsche interpretierte eine derartige Bemühung, den Gottesglauben trotz der modernen Erkenntnis gegen die alte teleologische Weltauffassung zu retten, als spinozistisch, insoweit es sich um »eine Art Sehnsucht zu glauben« 56 handelt, »daß irgendworin doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen, unbegrenztschöpferischen Gotte gleich sei – daß irgendworin doch ›der alte Gott noch lebe‹, – jene Sehnsucht Spinoza’s, die sich in dem Worte ›deus sive natura‹ (er empfand sogar ›natura sive deus‹ –) ausdrückt.« (ebd.) Diese Stelle von 1885 ist ein wichtiger Hinweis, dass Nietzsches Distanzierung von Spinozas erträglicher Einsamkeit im selben Jahr, die »Gott zur Gesellschaft« hatte (KSB 7, Nr. 609), kein Ausdruck seines vorläufigen Gefühlszustands war. Vielmehr handelte es sich um eine konsequente philosophische Stellungnahme, die bereits mit seinem skeptischen Kommentar zu Spinozas Annahme der einträchtigen Welt in den 1870er Jahren zusammenhing. 57 Die Stelle zeigt also, dass Nietzsche auch in Spinozas Philosophie jenen »Schatten NL 36[15], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 556; Vgl. Scandella (2014), S. 177. NL 36[15], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 556–557. Vgl. Fischer, S. 560 »Bei Feuerbach liegt der Schwerpunkt der Lehre Spinoza’s in der Formel ›natura sive Deus‹«. 57 Siehe Abs. 3.1. und 3.2. 55 56
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Gottes« (FW 109) gefunden hat, allerdings in einem Aphorismus, den er im Rahmen seines »Chaos sive natura«-Entwurfs verfasst hat. 58 In Nietzsches Experiment sollten die neuen Bedingungen und Perspektiven der gottlosen Einsamkeit konzipiert werden. 59 Nun stellt sich die Frage, wie Nietzsche seine neue Weltsicht begründen konnte. Zu dieser Frage gibt die anschließende Passage aus der Notiz von 1885 einen wichtigen Hinweis: »Welches ist denn aber der Satz und Glaube, mit welchem sich die entscheidende Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen götter-erdichtenden Geist, am bestimmtesten formulirt? Heißt er nicht: die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff ›Kraft‹ unverträglich. Also – fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit.«60
Was für ein Problem stellt die Annahme der unendlichen Kraft bei Spinoza und die andere Denkweise im ›Schatten Gottes‹ dar? Sie müssen die unendliche Kraft der Welt voraussetzen, damit sich die Welt durch diese Kraft unendlich erneuern kann. Für Nietzsche ist jedoch eine derartige Annahme nicht mehr haltbar, wenn die gegenwärtige Entwicklung in der Physik berücksichtigt wird, die er mit dem »jetzt erreichte[n] Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen götter-erdichtenden Geist« impliziert. Nach Whitlock (1996) 61 handelt es sich um einen wesentlichen Hinweis darauf, dass Nietzsche sich an Boscovichs Physik anlehnte, um eine diagonal oppositive Weltsicht zu derjenigen Spinozas zu konstruieren. 62 Der Einfluss von Boscovich auf Nietzsche ist grundlegend und umfangreich 63, dessen Bedeutung hat Nietzsche selbst an mehreren Stellen anSiehe Abs. 2.3.5. Auch vgl. Campioni 2010, S. 101: »Der ›Schatten Gottes‹ bleibt und bildet die größte und verfänglichste Gefahr für den höheren Menschen. Neue gottlose Religionen (Religion der Wissenschaft, der Kunst, des Fortschritts, ›de la souffrance humaine‹, usw.) treten an die Stelle der alten religiösen Lehren, erhalten jedoch die zentrale Bedeutung der gegebenen Werte aufrecht. Die Perspektive des Übermenschen als Möglichkeit am äußersten Rande des Nihilismus setzt die Bejahung des chaos sive natura voraus, das durch die Hypothese der ewigen Wiederkunft bestätigt wird: ein unschuldiges Werden, das in seinem radikalen Immanentismus jeglichen Rest des ›Schattens Gottes‹ zerstört und so jeden einzelnen Augenblick des Daseins aufwertet. Die mit der ewigen Wiederkunft verquickte neue Unschuld muss auch noch den Schatten Gottes besiegen.« 59 Vgl. Stegmaier (2012), S. 450. 60 NL 36[15], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 556–557. 61 Whitlock (1996), S. 200–220. 62 Dagegen argumentiert Scandella (2014), S. 177 ff. 63 Boscovichs Theorie war für Nietzsche z. B. ein weiterer Hinweis bezüglich der nihilis58
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erkannt. 64 Whitlock argumentierte, dass Boscovichs Krafttheorie für Nietzsche in vier Aspekten ein exaktes Gegenbild der Welt zu Spinoza angeboten hat, etwa in seiner Ablehnung der Substanz (Whitlock, S. 207 f.), in seiner Ablehnung der unendlichen Kraft (S. 209 f.), der Ablehnung der unendlichen Erneuerung der Welt (S. 210 f.) und schließlich in seiner Implikation für die Entwicklung des Gedankens der ›ewigen Wiederkunft des Gleichen‹ 65 – also nicht ›des Neuen‹, da es keine unendliche Kraft gibt, die diese ewige Neuerung garantieren kann. Durch letzteren Hinweis scheint der mögliche Einfluss seiner Spinoza-Rezeption auf den Gedanken ›der ewigen Wiederkunft des Gleichen‹ noch plausibler. 66 Im Hinblick auf den physikalischen Begriff ›Kraft‹ scheint sein Verhältnis zu Nietzsches neuem Konzept vom Willen zur Macht genauso interessant, sodass er in einer Notiz aus demselben Zeitraum ( Juni – Juli 1885) erläuterte: »Der siegreiche Begriff ›Kraft‹, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ›Willen zur Macht‹, d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden die ›Wirkung in die Ferne‹ aus ihren Principien nicht los: ebensowenig eine abstoßende Kraft (oder anziehende) Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle ›Erscheinungen‹, alle ›Gesetze‹ nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen. Am Thier ist es möglich, aus tischen Wende in der Wissenschaft: »Boscovichs Kritik des Atomismus wird von N. konsequent nihilistisch interpretiert.«, Ottmann (2000), S. 405. 64 Vgl. Ottmann (2000), S. 405, ›Ruggero Giuseppe Boscovich‹. 65 Vgl. Dumamel (1991), S. 114. 66 Siehe Abs. 2.3 und 2.4.2; zudem haben einige Forscher die nachgelassene Notiz 26[416] als einen weiteren Hinweis auf diesen Einfluss interpretiert. NL 26[416] lautet: »Daß so etwas wie Spinozas amor dei wieder erlebt werden konnte, ist sein großes Ereigniß. Gegen Teichmüller’s Hohn darüber, daß es schon da war! Welch Glück, daß die kostbarsten Dinge zum zweiten Male da sind! – Alle Philosophen! Es sind Menschen, die etwas Außerordentliches erlebt haben«. Gawoll (2001) deutet diese Stelle folgendermaßen: »Obwohl die ätherische Zweisamkeit keinen unmittelbaren Niederschlag findet, deutet sie eine Notiz des Jahres 1884 [die oben zitierte Stelle von NL 26[416]; J. Y.] im Rückblick auf Also sprach Zarathustra, welches Werk die Wiederkunftslehre zum positiven Mittelpunkt hat […] Die Wiederkunftslehre, zu dessen Intuition er Anfang August 1881, also nur wenige Tage nach der Lektüre des Werkes von Kuno Fischer geführt wurde, stellt laut Nietzsches Aussage einen Versuch dar, den spinozianischen Gedanken der amor dei erneut zu aktualisieren.« Gawoll (2001), S. 55– 56; Vgl. auch Gawoll (2001), S. 56: »Eine derartig von allem Vernunftzweck gereinigte und letztinstanzlich freie Weltimmanenz der Dinge hat für Nietzsche in der neueren Geistesgeschichte erstmalig der spinozianische Pantheismus antizipiert, der ebenfalls zu einem Glauben an die ›ewige Wiederkunft‹ zwingt.«
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dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten: ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser Einen Quelle.« 67
Unabhängig von der Frage, inwieweit Boscovich für Nietzsches kritische Distanzierung von Spinoza eine Rolle gespielt und zur Bildung der alternativen Konzepte seiner Philosophie beigetragen hat, scheint es klar zu sein, dass Nietzsche die koexistierende Nähe und Distanz zu Spinoza bei seiner Auseinandersetzung mit seinem Denken immer deutlicher erkannt hat. Im Sommer/Herbst 1884 schreibt er über die spinozistische Tradition seiner philosophischen Genealogie: »Wenn ich an meine philosophische Genealogie denke, so fühle ich mich im Zusammenhang mit der antiteleologischen, d. h. spinozistischen Bewegung unserer Zeit […]« 68 Dieser Feststellung wird jedoch gleich der Vorbehalt hinzugefügt, dass Nietzsche, anders als Spinoza, »auch ›den Zweck‹ und ›den Willen‹ in uns für eine Täuschung« (ebd.) hält. Der Vorbehalt erinnert an Nietzsches Kritik an Fischers Spinoza-Deutung in Anlehnung an Trendelenburgs These, die im Selbsterhaltungsprinzip einen innerlichen Zweck des Menschen vorausgesetzt hat. 69 Die anschließende Passage aus dieser Notiz von 1884 zeigt, dass Nietzsche zugleich seine Position an Boscovichs Physik der Kraft und seine Kritik an der Materieannahme des Atomismus orientierte. 70 Zudem gibt es in dieser Hinsicht den bemerkenswerten Hinweis in Fischers Spinozaband, dass Nietzsche Spinozas Annahme mit dem Atomismus verglichen hätte. 71 NL 36[30], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 563; Zum Vergleich zwischen Nietzsches Konzept des Willens zur Macht und Spinozas conatus siehe Boehm (2017), insbesondere S. 33 ff. 68 NL 26[432], Sommer –Herbst 1884, KSA 11, S. 266. Die Notiz lautet: »Wenn ich an meine philosophische Genealogie denke, so fühle ich mich im Zusammenhang mit der antiteleologischen, d. h. spinozistischen Bewegung unserer Zeit, doch mit dem Unterschied, daß ich auch ›den Zweck‹ und ›den Willen‹ in uns für eine Täuschung halte; ebenso mit der mechanistischen Bewegung (Zurückführung aller moralischen und aesthetischen Fragen auf physiologische, aller physiologischen auf chemische, aller chemischen auf mechanische) doch mit dem Unterschied, daß ich nicht an ›Materie‹ glaube und Boscovich für einen der großen Wendepunkte halte, wie Copernicus; daß ich alles Ausgehen von der Selbstbespiegelung des Geistes für unfruchtbar halte und ohne den Leitfaden des Leibes an keine gute Forschung glaube. Nicht eine Philosophie als Dogma, sondern als vorläufige Regulative der Forschung.« 69 Angesichts dieser »Inconsenquenz Spinoza’s« in JGB 13 siehe Abschnitt 1.3.2. 70 Vgl. Ottmann (2000), S. 405. 71 Vgl. Fischer (1865), S. 268: »Vierzehntes Capiel. Die Attribute Gottes. Die zahloßen Attribute. Die formalistische und atomistische Ansicht.«. Besonders a. a. O., S. 280–281: »3. Die atomistische Auffassung«: »Die Substanz ist untheilbar; die Substanz ist das Grundwesen der Dinge. Zahllose Substanzen sind demnach eine zahlose Vielheit untheilbarer Grundwesen. Worin unterscheiden sich diese Substanzen noch von den Atomen? Hier erhebt sich in dem Begriff der infinita attributa ein Widersrpuch gegen den Satz, daß die Sub67
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Bis jetzt wurde erläutert, inwieweit der religiöse Aspekt der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption und seinem eigenen philosophischen Werdegang eine Rolle gespielt hat. Dieser Aspekt hat jedoch nicht nur mit der kosmologischen oder physischen Erklärung der Welt zu tun. Vielmehr hat eine derartige unterschiedliche Erklärung der Welt ohne die Voraussetzung des direkten göttlichen Eingriffs eine ethische und sozio-politische Konsequenz zur Folge. Die Einsamkeit als Konsequenz vom Tod Gottes kann also ganz unterschiedliche Bedeutungen haben, wie Nietzsche es zum Zeitpunkt des »Chaos sive natura«-Gedankens prägnant zum Ausdruck brachte: »Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen.« 72 Statt unter dem Gewicht dieser neuen Verantwortung in eine pessimistische Resignation zu geraten, plädierte Nietzsche für den Lebensmut 73, trotz bzw. dank des Gottestodes eigenständig und selbstbestimmt zu leben. Diese Philosophie der Leidensbejahung ließ sich später in einer Notiz zwischen Herbst 1885 und Herbst 1886 nochmals feststellen: »Der Tod Gottes, für den Wahrsager das furchtbarste Ereigniß, ist das Glücklichste und Hoffsnungsreichste für Zarathustra«. 74 Zwischen Spinoza und Nietzsche besteht zwar ein gemeinsames Ziel ihrer Philosophie darin, die menschliche Freiheit – losgelöst von der Willensfreiheitsthese – als die Selbstbestimmung des Menschen zu begreifen und sie als seine Krafterhöhung und -erweiterung theoretisch zu begründen. Dennoch bringt ihre unterschiedliche Grundeinstellung zur gegenwärtigen Bedeutung von Gott im modernen Zeitalter 75 nach Descartes’ Zweifel unterschiedliche Konsequenzen zum Vorschein: Spinozas amor dei und Nietzsches amor fati. 76 stanz einzig sit, daß es nur eine Substanz giebt. Sollen zahllose Substanzen gelten, so wird der Begriff der einen Substanz tonlos; er hört auf zu gelten, und die wahre Lehre Spinoza’s erscheint als Atomistk, zu der jener Begriff der einen Substanz entweder einen offenbaren und unversöhnlichen Gegensatz oder nur einen müssigen Vorläufer bildet. In der That ist der Versuch gemacht worden, den Spinozismus als Atomenlehre aufzufassen und in diesem Sinne zu erklären.«; vgl. NL 26[410], Sommer – Herbst 1884, KSA 11, S. 260–261: »Der Glaube an Ursache und Wirkung, und die Strenge darin ist das Auszeichnende für die wissenschaftlichen Naturen, welche darauf aus sind, die Menschen-Welt zu formuliren, das Berechenbare festzustellen. Aber die mechanistisch-atomistische Welt-Betrachtung will Zahlen. Sie hat noch nicht ihren letzten Schritt gethan: der Raum als Maschine, der Raum endlich. – Damit ist aber Bewegung unmöglich: Boscovich – die dynamische Welt-Betrachtung.« 72 NL 12[9], Herbst 1881, KSA 9, S. 577. 73 Vgl. Hunt (1991), S. 69–71. 74 NL 2[129], Herbst 1885 – Herbst 1886, KSA 11, S. 129. 75 Vgl. Niemeyer (2009), S. 134. 76 Vgl. Stegmaier (2012), S. 529: »Sofern nach Spinoza Gott von der Natur nicht zu unter-
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Für Nietzsche bedeutet eine der wichtigsten Konsequenzen des ›Gottestodes‹, dass die Einsamkeit des Individuums eine sozio-politische Dimension aufweisen wird. 77 Es sei nun darauf hingewiesen, dass auch Spinoza in seinem ontologischen und politischen Denken die Einsamkeit (solitudo) explizit thematisiert hat, worauf ich im nächsten Abschnitt eingehe.
5.3 Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit 5.3.1 Der Fall Spinoza. Einsames Leben, radikales Denken
Was bedeutet es eigentlich, dass Spinoza in Nietzsches Worten die Überwindung seiner Einsamkeit durch die Gesellschaft mit Gott erreichen konnte? Zwar gilt Nietzsches Spinoza-Bemerkung von 1885 primär als Kritik daran, dass Spinozas mit Gott gesellte Einsamkeit keine genuine Einsamkeit sei, weil sie wegen ihrer Prämissen noch den ›Schatten Gottes‹ aufweist. Dennoch macht sie zugleich Nietzsches Anerkennung des wichtigen Unterschieds zwischen beiden Denkern in dieser Einsamkeitsthematik deutlich. Während Nietzsche bei der Einsamkeit als einem nihilistischen Phänomen des Gottverlassenseins ein neues, positives Potenzial für die Souveränität des Individuums beobachtet, gilt die Einsamkeit bei Spinoza zwar als eine Grundbedingung des einzelnen Menschen, die jedoch durch amor dei intellectualis überwindbar ist. In Spinozas Denken wird die Einsamkeit als eine Begrenztheit des endlichen Modus verstanden. Die Überwindung der Einsamkeit des einzelnen Menschen bedeutet nicht nur die Wiederherstellung seiner Verbindung mit Gott als der absoluten Substanz 78, sondern eine neue Konstruktion vom idealen sozio-politischen Verhältnis mit anderen Bürgern, wie ich in diesem Abschnitt noch näher darlege. Die ethische, religiöse und sozio-politische Implischeiden sucht, könnte auch der amor fati vom amor dei intellectualis nicht zu unterscheiden sein.«; vgl. auch a. a. O., Anm. 773. 77 Vgl. NL 12[23], Herbst 1881, KSA 9, S. 580: »Dieser einsamste der Einsamen, der Mensch, sucht nun nicht mehr einen Gott, sondern einen Genossen. Dies wird der mythenbildende Trieb der Zukunft sein. Er sucht den Freund des Menschen.« 78 Vgl. Henrich (2003), Part II. 6. ›Jacobi and the Spinozism of Freedom‹, S. 87: »Now the concept of The One and its philosophical tradition obviously can incorporate experiences that are specifically modern – for example, the experience of subjectivity as set free from all concrete, finite boundaries and dependencies on the world and in front of the world, which is just one total system. Moreover, it can also imply the sufferings of solitude, which issue from the isolation of the subject in the face of the totality, together with the longing for the reintegration of the free self into totality. (This longing for the reintegration of the self explains, in part, modern and contemporary penchants to accept mystical theories.)«.
Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit
kation von Spinozas Philosophie zu erläutern, ist an dieser Stelle nötig; nicht nur, um unsere Diskussion der Philosophie Spinozas gerecht zu führen, sondern auch, um Nietzsches Annäherung zu und Distanzierung von Spinozas Denken besser kontextualisieren zu können. Indem ich bislang Jacobi, Goethe, Schopenhauer, Wagner und Fischer angesichts ihrer Relevanz zu Nietzsches Spinoza-Rezeption behandelt habe, wurden wichtige Leitmotive dieser Rezeption wie Spinozas Totalitätsanspruch, sein Optimismus, sein ›bejahender Fatalismus‹ sowie sein biographischer und geschichtlicher Hintergrund unter der Prämisse der Einsamkeitsthematik erörtert. Zwar war die Betrachtung dieser Quellen sehr wichtig, um den denkgeschichtlichen Kontext von Nietzsches Spinoza-Rezeption aufzuzeigen, dennoch fehlt es noch an einer thematisch einheitlichen Erläuterung von Spinozas Philosophie selbst, die nicht nur die Verwandtschaft, sondern auch den Kontrast zwischen Spinoza und Nietzsche deutlich machen kann. Daher gilt es nun, anhand von Spinozas eigenen Argumenten zu zeigen, welche Konsequenzen seine Annahmen »Deus sive natura« und »Amor dei intellectualis« zur Folge haben müssen – im Unterschied zu Nietzsche. Dadurch wird auch deutlicher, welche philosophische Bedeutung und Aktualität Nietzsches Spinoza-Rezeption noch hat, der sich anhand seiner neuen Konzepte von »Chaos sive natura« und »Amor fati« mit Spinozas Denken auseinandersetzen wollte. Es ist dabei anzumerken, dass die zwei Aspekte der Einsamkeitsthematik, der religionskritische und sozio-politische, auch in Spinozas Philosophie in engem Zusammenhang stehen. Spinozas Leben war von seiner persönlichen Leidensgeschichte geprägt: Durch die Exkommunikation aus der konservativen jüdischen Gemeinde in Amsterdam und die andauernde Lebensbedrohung in der damaligen politischen Krisenlage der Vereinigten Niederlande war Spinoza doppelt gezwungen, ein einsiedlerisches Leben zu führen. 79 Am 20. August 1672 wurde Johan de Witt – der erste Staadholder, der von Spinoza mit Respekt angesehene liberale und republikanische Staatsmann, dessen Kirchenpolitik im TTP verteidigt wird 80 – von einer Volksmenge auf der Strasse brutal erschlagen. 81 Siehe Abs. 5.1. Vgl. Spinoza, Bd. 7, Walther (Hg.), Lebensbeschreibungen und Dokumente, S. 246–247. 81 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hat Spinozas Reaktion auf die Ermordung folgendermaßen berichtet: »Ich habe nach dem Essen einige Stunden mit Spinoza verbracht. Er sagte mir, er habe sich am Tage der Ermordung der Herren de Witt gedrungen gefühlt, in der Nacht hinauszugehen und irgendwo, nahe dem Orte (der Ermordung), ein Papier anzuheften, auf dem stünde: ›Ultimi barbarorum!‹ [Die Äußersten der Barbaren] Aber sein Hauswirt habe ihm das Haus verschlossen, denn er würde sich der Gefahr ausgesetzt haben, zerrissen zu werden«, Spinoza, Bd. 7, Walther (Hg.), Lebensbeschreibungen und Dokumente, S. 247 f. 79 80
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Auch Spinoza selbst fiel bereits vor Juli 1656 (im Jahr seiner Exkommunikation) fast einem Attentat zum Opfer, als ein unbekannter Täter ihn zu erdolchen versuchte. Es ist also verständlich, dass sein persönliches Insigne »Caute« (Vorsicht!) lautete. Trotz dieser nicht nur vereinsamenden, sondern auch lebensbedrohenden Lage lehnte Spinoza im Februar 1673 die Berufung an die kurpfälzische Universität zu Heidelberg aus der Befürchtung ab, in der Freiheit seines Denkens eingeschränkt zu werden. 82 Zwar musste Spinoza mit der feindlichen Öffentlichkeit extrem vorsichtig umgehen, was sich an einer einzigen namentlichen Veröffentlichung seines Werkes 83 in seinem ganzen Leben erkennen lässt. Dennoch konnte er Einfluss auf seine Zeitgenossen ausüben – man denke an den sich langsam etablierenden internationalen ›Spinoza-Lesekreis‹ zu seinen Lebzeiten. Die Brisanz und Aktualität seiner philosophischen Suche nach der menschlichen Freiheit und der Überwindung der Einsamkeit ließ sich nach seinem Tod noch deutlicher erkennen, da sie eine große Bedrohung sowohl für den von der Kirche streng gelenkten Glauben als auch für die repressive politische Herrschaft dieser Zeit dargestellt hat. Spinozas erzwungene Einsamkeit war keineswegs rein persönlicher Natur, sondern zeigt den geschichtlichen und sozio-politischen Kontext seiner Philosophie und seines Philosophierens. Für ihn gilt die Einsamkeit (›solitudo‹) eines Einzelnen als Ausdruck der Begrenztheit, die dem Wesen des endlichen Modus gehört. Daher kann ein Mensch seine maximale Freiheit nicht in der isolierten Lebensweise erreichen, sondern nur in der bestimmten Form der Gesellschaft, die die individuelle Selbstgestaltung erlauben und fördern kann. Spinozas besondere Position besteht darin, dass er als ein frühmoderner Denker im 17. Jahrhundert die demokratische Gesellschaft als eine solche betrachtet hat. Spinozas Denken über die Demokratie sowie seine Behandlung der Einsamkeitsthematik hinsichtlich der menschlichen Freiheit scheint zu Nietzsches Thematisierung der souveränen Einsamkeit und seiner Demokratie-Kritik einen starken Kontrast zu bilden. Hier stellen sich wichtige Fragen: Wie groß war dieser Unterschied zwischen beiden Denkern? Hat dieser Unterschied für Im tractatus politicus (TP) diskutiert er in diesem Kontext den Unterschied zwischen Universitäten aufgrund ihrer unterschiedlichen politischen Gründungsbedingungen: »Universitäten, die auf Staatskosten gegründet werden, werden weniger zur Ausbildung als zur Einschränkung der Talente errichtet. In einer freien Republik hingegen werden Wissenschaft und Kunst am besten gedeihen, wenn jedem, der darum nachsucht, die Erlaubnis erteilt wird, öffentlich zu lehren, und zwar auf eigene Kosten und mit Gefahr seiner Reputation.«, TP, VIII, § 49, S. 188–189; vgl. Abschnitt 5.1. 83 Spinoza, René Descartes’ Prinzipien der Philosophie (Renati Des Cartes Principiorum philosophiae, 1663). 82
Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit
Nietzsches kritische Spinoza-Rezeption in seiner mittleren und späteren Schaffensphase eine Rolle gespielt? Wie viel war Nietzsche von Spinozas sozio-politischer Deutung der Einsamkeit bekannt? Bevor ich auf diese Fragen in den folgenden Abschnitten eingehe, gilt es zunächst, Grundzüge von Spinozas frühaufklärerischem Denken zu erläutern. Dabei werden die Leitmotive in Nietzsches Spinoza-Rezeption – die Totalität, der Fatalismus, die Zufälligkeit und die Eintracht der Natur und die Einsamkeit – in Spinozas Worten rekapituliert und präzise kontextualisiert. In den folgenden Teilen wird zunächst Spinozas anthropologische Auffassung der Totalität des Menschen anhand des Begriffspaars Leiden und Handeln (Abs. 5.3.2.), der Zufall, die Notwendigkeit und die Eintracht in der Natur angesichts der bereits behandelten Fatalismusthematik (Abs. 5.3.3.), die Bildung der ›Gemeinbegriffe‹ (notiones communes) (Abs. 5.3.4.), sein radikaler Optimismus (Abs. 5.3.5.) und schließlich die sozio-politische Bedeutung der Einsamkeit (solitudo) und sein Denken über die Demokratie und die Nächstenliebe (Abs. 5.3.6. und 5.3.7.) erläutert. 5.3.2 Die Totalität des Menschen bei Spinoza. Leiden und Handeln
Der Anspruch auf die Totalität in Spinozas Denken, welcher Nietzsche bei seiner Goethe-Lektüre besonders stark interessiert hat 84, beinhaltet zwei Dimensionen, die sich folgendermaßen resümieren lassen: Erstens, was versteht man unter dem ›ganzen Menschen‹ ? Wann wird ein Mensch sein vollkommenes Wesen erreichen? Oder in Kants Worten: Was ist ein Mensch? Zweitens, wie ist das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur zu verstehen? Welches ist die Stellung des Menschen in der Natur, die bei Spinoza gleich Gott (›natura naturans‹ und zugleich ›natura naturata‹) ist? In diesem Abschnitt werde ich auf die erste Dimension eingehen, wobei die letztere Dimension im Hinblick auf Zufälligkeit und Notwendigkeit beim Menschen und der Natur im nächsten Abschnitt diskutiert wird. Spinozas totales Menschenbild beruht insbesondere auf dem Begriffspaar Leiden (pati) und Handeln (agere) in seiner Philosophie, was die ambivalente Doppelnatur des Menschen zum Ausdruck bringt. Ist die (noch zu definierende) ›passive‹ Konstellation des Menschen zu seiner Welt (als den Dingen und anderen Menschen) also die Ursache für das Leiden, so ist es auch, als solches verstanden, das, was es zu überwinden gilt, um dadurch zu einer aktiven Haltung zur Welt, zum Handeln, zu gelangen. Aber der Mensch ist relativ passiv und kann nur relativ passiv sein, weil das Leiden Spinoza zufolge immer noch ein aktives Momentum beinhaltet. Dasselbe gilt für das Handeln: Der Mensch 84
Siehe Kap. 3.
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kann nur relativ aktiv sein, da er auch bei einer Handlung in bestimmten Aspekten nur begrenzt und unter Einfluss anderer Umstände, also relativ passiv wirken kann. So wie der Mensch nie wie Gott absolut frei werden kann, kann er sich auch nie in der Lage befinden, wo er gar keine Möglichkeit hat, zu handeln. 85 Eben das Leiden des Menschen in seiner Passivität gilt bei Spinoza als die Grundlage und Triebkraft, die seine Freiheit ermöglicht. Eine derartige philosophische Aufhebung des Leidens bei Spinoza kann einen wichtigen Hinweis auf das latente Motiv für Nietzsches Interesse an seinem Vorgänger bedeuten, das in seiner Überlegung zu Leitmotiven dieser Rezeption immer im Spiel war. Denn die Überlegung zum Leiden hat in fast jedem Gesichtspunkt eine einzigartig bedeutende Rolle gespielt, auch wenn dies nicht immer ausdrücklich genannt wurde. Man denke an die Bedeutung des Leidensthemas für die folgenden Leitmotive von Nietzsches SpinozaRezeption: Totalität und Fatalismus (Kap. 3), Optimismus und Pessimismus (Kap. 4), der leidende Gott Dionysos oder das Dionysische (Abs. 3.4, 4.3. und 4.4.), die tragische Kultur und der Verlust der Leidensfähigkeit in der Moderne (Abs. 4.5), die Parallele zwischen dem antiken Spruch »Durch Leiden wissend (πάθει μάθος)« (Abs. 4.3.2) und dem modernen »Durch Mitleid wissend« in Wagners Parsifal (Abs. 4.5.3) und schließlich die Leidensbejahung und amor fati in Bezug auf den europäischen Nihilismus (Kap. 6). Die Einsamkeitsthematik dieser Rezeption bezieht sich auch auf das Leiden des Einzelnen an seiner Einsamkeit. In diesem Sinne bedeutet die Überwindung der Einsamkeit den gelingenden Umgang mit diesem Leiden. Die Einsamkeitsthematik scheint also ein Topos zu sein, in dem der Anknüpfungspunkt zwischen der Person und ihrem Denken zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen (als der Welt, der Natur oder Gott) liegt. Die Interpretation anhand der Leidens- und Einsamkeitsthematik kann Nietzsches Interesse an der Rolle des persönlichen und jüdisch-geschichtlichen Leidens Spinozas für die Gestaltung seines Denkens gut erklären. Es wurde bisher gezeigt, dass Spinozas persönliche Leidensgeschichte im Zusammenhang mit der Leidensgeschichte der Marranen verstanden werden kann. 86 Sein Denken über das Leiden hat trotz seiner zurückgezogenen LebensVgl. Bublitz (2003), S. 78: »Zwar ist der Conatus auch im Falle des Pati wirksam; dies wird garantiert durch das prinzipielle Streben alles Seienden. Strukturformeln, die jegliches Streben ausschließen, verneinen den Modus und können deshalb nicht Strukturformeln existierender Modi sein. Der Mangel liegt deshalb auch nicht in einem Fehlen des Strebens, sondern in seiner falschen Ausrichtung. Durch Orientierung auf objektiv abträgliche Werte verfehlt der Conatus die Wesensbestimmung des Subjekts. Es handelt dann zwar im Bewußtsein der Freiheit und des Selbstbezugs, doch handelt es am eigenen Wesen vorbei.« 86 Siehe Abs. 5.1. 85
Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit
führung jedoch weder solipsistische noch selbstzerstörerische – wie im Fall von Uriel da Costa durch seinen Suizid – Spuren hinterlassen. Ganz im Gegenteil: Spinoza hat stattdessen über seine persönlichen Begebenheiten hinaus das Leiden als eine Grundbedingung des einzelnen Menschen aufgefasst, die durch die Überwindung seiner Begrenztheit zur Freiheit abgeleitet werden kann. Spinozas Denken weist damit die Charakteristik eines radikalen Optimismus über die Aufklärung auf, in dem der Leidensbegriff eine quintessentiale Position einnimmt. Das Leiden (pati) 87 gilt für ihn als die allgemeine conditio humana oder genauer, conditio finita in seinem philosophischen Hauptwerk Ethica. Der Mensch ist ein endliches Wesen (modus finitus) und befindet sich dementsprechend zunächst im passiven Zustand, der ihm als sein Leiden erscheint. Wie in der philosophischen Tradition seit der Antike steht das Handeln (ποιειν; agere) als ein Paarbegriff zum Leiden (πάσχειν; pati) – auch bei Spinoza. Die einzige absolut unendliche Substanz (substantia), der in der Welt immanent waltende Gott, hingegen handelt immer, d. h., der Gott ist unbedingt (absolut) frei und aktiv, d. h., die Substanz allein leidet nicht. Obwohl ein endliches Wesen in der ersten Instanz leidet, kann es trotzdem in bedingter Art und Weise handeln. Genauer: Es leidet, wenn es als endliches Wesen auf ein anderes endliches Wesen der Welt trifft, von diesem oder durch die Außenwelt beeinflusst wird und damit im relativ passiven Verhältnis zur fremden Ursache steht. Es handelt, wenn es bei einem solchen Treffen das andere Wesen beeinflusst und somit im relativ aktiven Verhältnis zu diesem Wesen steht. In diesem Sinne verfügt der Mensch als ein endlicher Modus über die bedingte Freiheit, da er nicht wie im Fall der absolut freien Substanz immer als seine eigene Ursache von keinem externen Ding beeinflusst wird, sondern ständig im Verhältnis mit anderen Wesen neu bestimmt wird. Die Freiheit des endlichen Modus bei Spinoza wird positiv definiert, nicht negativ. Es handelt sich nicht um eine ›Freiheit von etwas‹ als ›die Befreiung »Ich sage, wir sind aktiv, wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d. h. (nach voriger Definition), wenn aus unserer Natur etwas in uns oder außer uns folgt, das durch sie allein klar und deutlich eingesehen werden kann. Dagegen, sage ich, erleiden wir etwas, wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur eine patiale Ursache sind.«, E 3, Def2, S. 223. In Gebhardts Übersetzung werden agere und pati als »Handeln« und »Leiden« übersetzt: »Ich sage, dass wir dann thätig sind (agere), wenn Etwas in uns oder ausser uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d. h. (nach der vor. Def.) wenn aus unserer Natur Etwas in uns oder ausser uns erfolgt, was durch diese allein klar und bestimmt verstanden werden kann. Dagegen sage ich, dass wir leiden (pati), wenn Etwas in uns geschieht oder Etwas aus unserer Natur folgt, von dem wir nur zum Theil die Ursache sind«. 87
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davon‹, sondern um die Kraft (vis, potentia) oder die Seelenstärke (Tugend, virtus) des Einzelnen, etwas selbst zu realisieren. Durch diese besondere Definition der Freiheit, worin Nietzsche seinen gemeinsamen Zug mit Spinoza erkannt hat 88, wird die Freiheit des Menschen als eine zwar bedingte, jedoch konstruierbare Variable verstanden. Die Freiheit ist nicht vorgegeben, sie ist zu gewinnen und zu vergrößern. Anders ausgedrückt: Der Mensch ist nicht unbedingt frei, kann jedoch frei und freier werden. Diese Definition erinnert zwar an den modernen Terminus ›Handlungsfreiheit‹, jedoch kann ein Mensch nach Spinoza nur dann frei genannt werden, wenn dieser eine Handlung durchführt, aber noch nicht frei, wenn er zu dieser Handlung nur ›fähig‹ ist, ohne tatsächlich zu handeln. Für Spinoza würde diese Person sogar nicht als fähig betrachtet werden, wenn sie nicht handelt. 89 Dass diese Freiheit des Menschen in seinem Umgang mit Leiden möglich ist und dass das Leiden des Menschen in Spinozas Denken die Freiheit des Menschen nicht verhindert, sondern ermöglicht, verschafft die optimistischen Züge. Dabei ist anzumerken, dass die Bedeutung des Leidens (und der Leidenschaft) für die Freiheit des Menschen als ein wichtiger Hinweis auf eine totale Auffassung des Menschen und der Natur in Spinozas Philosophie gilt. Das lateinische Wort agere (›handeln‹, ›act‹, ›agieren‹) wird gewöhnlich mit ›handeln‹ oder ›aktiv‹(-sein) übersetzt, während pati (›leiden‹ ; ›zu-sichnehmen‹, ›ertragen‹) ›leiden‹, ›erleiden‹ oder ›passiv‹(-sein) bedeutet. Für diese beiden Definitionen wurde eine weitere Definition von ›Adäquatsein‹ vorausgesetzt: »Adäquat nenne ich diejenige Ursache, deren Wirkung durch sie allein klar und deutlich wahrgenommen werden kann. Inadäquat oder partial nenne ich dagegen diejenige, deren Wirkung nicht durch sie allein eingesehen werden kann« 90 Ein Mensch ist dann frei (aktiv, oder er handelt), wenn er eine adäquate Ursache für ein Geschehen (in uns oder in der Welt) ist (E 3, Def1). Um die Implikation dieser These zu verstehen, scheint das Prädikat ›adäquat‹ ein Schlüsselbegriff zu sein; das Adäquatsein besagt nicht die (rein) epistemologische Entsprechung zwischen dem Subjekt und der Außenwelt. Vielmehr beSiehe Abs. 1.4.2 und 4.2. Siehe dazu Yhee 2004, wobei der denk- und begriffsgeschichtliche Kontext gezeigt wird, wie der Terminus »Potentia« bei Spinoza die beiden Aspekte der aristotelischen Begriffe »dynamis« und »energeia« beinhaltet, um das moderne Verständnis der Freiheit des Menschen zu antizipieren. 90 E 3, Def1, S. 223; vgl. Gebhardts Übersetzung: »Adäquate Ursache nenne ich diejenige, deren Wirkung klar und bestimmt durch sie aufgefasst werden kann. Inadäquate aber oder Theilursache nenne ich diejenige, deren Wirkung durch sie allein nicht verstanden werden kann.« 88 89
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sagt es die ontologisch reale Konstellation zwischen dem handelnden Menschen und seiner Welt, die sein Handeln oder seine Freiheit als seine Machtund Kraftübung ermöglicht. Nun stellt sich die Frage, wie diese Freiheit oder das Handeln bei einem Menschen möglich ist. Denn der Mensch ist vorab als ein endlicher Modus begriffen, der wegen dieser Endlichkeit immer leidet. Der Mensch wird gleich den anderen endlichen Modi indirekt durch die Substanz ausgedrückt (manifestiert) 91, anders als bei den unendlichen Modi (z. B. Bewegung und Idee von Gott). Dementsprechend besteht eine bestimmte Begrenztheit beim Menschen. Die nächsten Postulate in der Ethica scheinen dementsprechend auf den ersten Blick gar keine Möglichkeit zur Freiheit oder zum Handeln des Menschen zuzulassen, auch wenn dieser Eindruck sich als irreführend erweisen kann. Die Schwierigkeit, eine menschliche Freiheit mit Spinozas metaphysischen Annahmen zu konzipieren, liegt zum Teil darin, dass er keinen freien Geist voraussetzt, der als ganz unabhängig vom unfreien Körper 92 gedacht werden kann. Diese monistische Charakteristik unterscheidet Spinoza von manchen Denkern der Antike wie Platon oder späteren Denkern der christlichen Tradition, die die Freiheit des Menschen in seinem Geist gesucht haben, der als frei von dem ständig von äußeren Dingen affizierten, leidenden Körper gedacht wird. Ein konsequentes Ergebnis dieser dualistischen Voraussetzung ist die These der Willensfreiheit, die unabhängig von der körperlichen Lage einem Menschen immer zur Verfügung stehen sollte, solange sein Bewusstsein ungestört bleibt, und als kein rein physisches Phänomen angenommen wird. Dagegen besteht die Aufgabe für die monistische Philosophie Spinozas darin, die Freiheit des Menschen gerade in diesem symmetrischen Gleichgewicht zwischen dem Geist und dem Körper begreiflich zu machen. Wenn die Freiheit des Menschen bei Spinoza bedeutet, in Bezug auf einen bestimmten Tatbestand frei zu werden oder zu einer adäquaten Ursache zu werden, muss das Verhältnis zwischen Geist und Körper gleichzeitig berücksichtigt werden. Die Freiheit des Menschen bedeutet bei Spinoza, dass der Mensch als ein ganzes Wesen nicht nur spekulativ, sondern in seinem konkreten Verhältnis zu seiner praktischen, alltäglichen Welt sowohl körperlich als auch geistig seine eigene Ursache ist, auch wenn diese Freiheit als eine relative Kraft verstanden wird.
Das Wort, ›ausdrücken‹ (explicare, ›expliquer‹) bedeutet bei Spinoza zugleich ›erklären‹ und ›entfalten‹ (sich realisieren, manifestieren). Siehe dazu Deleuze, 1968. 92 Spinozas »Körper (corpus)«-Verständnis unterscheidet sich dementsprechend vom klassischen Begriff des ›unfreien‹ Körpers. Dazu siehe Ioan (2019), S. 15: »We can identify at least three ways to conceptualize the body in the Ethics.« 91
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Dies erklärt sich zunächst durch folgende Lehrsätze aus dem zweiten Teil der Ethica: »Der menschliche Geist erkennt den menschlichen Körper selbst und weiß um dessen Existenz lediglich durch Ideen der Affektionen, von denen der Körper affiziert wird.« 93 »Der menschliche Geist nimmt nicht nur die Affektionen des Körpers wahr, sondern auch die Ideen dieser Affektionen.« 94 »Der Geist erkennt sich selbst lediglich insofern, als er die Ideen der Affektionen des Körpers wahrnimmt.« 95
Damit wird festgelegt, dass der menschliche Geist nur durch die Affektionen seines eigenen Körpers eine Idee bilden kann, auch wenn er als ein Modus des denkenden Attributs Gottes nichts Gemeinsames mit dem menschlichen Körper als einem Modus des ausgedehnten Attributs Gottes teilt. Obwohl ich in dieser Arbeit nicht umfassend auf die Philosophie Spinozas eingehen kann, muss die spinozistische Entsprechung zwischen Geist und Körper als den zwei Modi des Menschen erläutert werden. Es gibt zwar keine Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen beiden Modi (P19, P22, P23), doch kann man von einer ›göttlichen Entsprechung‹ beider sprechen. Bei Spinoza bedeutet der sogenannte Parallelismus, dass ein körperlicher Modus einem geistigen entspricht und ein geistiger Modus zugleich einem körperlichen. Das hat in beiden Fällen jedoch nichts mit einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis zu tun. Eine Fehlinterpretation droht nur, wenn diese Entsprechung als ein Ausdruck des representationstheoretischen Weltbildes missverstanden wird. 96 In Spinozas Parallelismus drückt ein endlicher Modus aus der Perspektive der Substanz zwar dasselbe Wesen aus, aber dieses Wesen wird nach seiner ›Daseinsweise‹ in zwei oder mehr ›Aspekten‹ des Seins ausgedrückt. Beim Menschen sind zwei Modi feststellbar: der körperliche und der geistige Modus. Auch wenn der Begriff ›Hund‹ nicht bellt, drücken »der Begriff Hund«, dessen Idee ein Mensch als denkendes Modus in sich bilden kann, und ein ›körperlicher‹ oder berühbar ausgedehnter Hund dasselbe Wesen aus, wie Spinoza mit seinem bekannten Hund-Beispiel erläutert. Wie es nur eine einzige Substanz in Spinozas System gibt, kann sein Ausdruck nur dasselbe sein, sei es in E 2, P19, S. 151. E 2, P22, S. 155. 95 E 2, P23, S. 155. 96 Der Begriff ›Objekt (objektus)‹ einer Idee muss bei Spinoza auch in dieser Lesart verstanden werden, die eine scholastische Herkunft hat und kein ›Gegenstand‹ der Repräsentation von körperlicher Affektion bedeutet. 93 94
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einem körperlichen oder geistigen Modus. Sie sind nur andere Aspekte desselben Wesens oder eine andere Art und Weise seines Ausdrucks, wie der Terminus ›Modus‹ besagt. Während der bekannte leibnizsche Parallelismus eine solche ›Vor‹-bestimmung von Gott bedeutet, heißt diese Entsprechung bei Spinoza nur deswegen ›göttlich‹, weil die Modi nichts anderes als ein Ausdruck Gottes selbst sind. Von welcher ›Idee‹ (idea) ist dabei die Rede? Es geht um alle Ideen, die vom Geist ›gebildet‹ werden: etwa die Idee von seinem Körper, die von dem Geist selbst, von den Affektionen des Körpers und schließlich die von der Affektion durch die äußeren Dinge, die diese Affektion verursachen. Der menschliche Geist selbst kann als die ›Idee von der Idee‹ begriffen werden, die in Spinozas Philosophie die menschliche Reflexion (Apperzeption) bedeuten kann. Es sei jedoch bemerkt, dass die kurze Erklärung, der Geist eines Menschen bilde eine Idee, keine ausreichende Beschreibung der spinozistischen Philosophie sein kann, da Gott, der im ersten Teil der Ethica als einzige Substanz demonstriert wird, nicht nur (der alltäglichen Vorstellung entsprechend) die körperliche Welt oder die Welt der Ausdehnung ›schafft‹ 97, sondern auch die geistige Welt der unendlichen Vernunft (ratio). In der epistemologisch-realistischen Philosophie Spinozas wird die unendliche Vernunft als ein konzeptioneller Nexus der Ideen konstruiert, die wie die körperlichen Dinge real existieren. Demzufolge sind Ideen – Vorstellungen, Einbildungen und Reflektionen, die auf der geistigen Ebene geschehen, nicht als Folge körperlicher Prozesse, sondern schlechthin als Ergebnis (Wirkung) in jener geistigen Kettenreaktion zu verstehen, die diese konzeptionelle Seinsweise (Modus) ermöglicht. Nur in diesem Kontext ist Spinozas Definition des Begriffs ›adäquat‹ zu verstehen. Eine Affektion auf der körperlichen Welt (Modus des Affekts ›Ausdehnung‹) und eine sich dabei parallel ereignende Idee von diesem materialen Geschehen sind nur einem Menschen adäquat, der die Affektion und die Idee selbst und allein verursacht. Also ist Gott gegenüber allem adäquat; anders formuliert, Gott hat immer eine adäquate Idee von jedem Modus, während dies Natürlich ist das Wort ›Schaffen‹ (creo, creatio) vor allem im christlichen Sinne mit Spinozas Denken nicht verträglich. Da die Dauer bei Spinoza nur zu den menschlichen Einbildungen zählt, macht es wenig Sinn, mit seinem Denken über creatio ex nihilo zu sprechen. Auch auf der Ebene der Ewigkeit, der Substanz Gott teilt der Begriff nichts mit, weil Gott nichts Neues außerhalb sich selbst schafft, sondern durch seine Existenz sein Wesen ausdrückt. Gott und seine Kraft sind schon vollkommen realisiert und ausgedrückt. Da gibt es nichts, was noch zu schaffen ist. Ansonsten müsste man sich den zukünftigen Gott mit mehr Kraft vorstellen, was bedeuten würde, den Mangel dieses präsenten Gottes zuzugeben. Dies gehört zum Thema, das ich in meiner M.A.-These angesichts des Begriffs »potentia« bei Spinoza behandelt habe. Vgl. Yhee 2004. 97
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zugleich bedeutet, dass der Mensch nicht in der gleichen Weise eine absolute adäquate Idee von der Welt oder von sich selbst haben kann. Die Möglichkeit der Aktivität des menschlichen Geistes, die sich unabhängig vom Körper ereignen kann – eine Voraussetzung der Willensfreiheit –, wird nach dem besagten monistischen Prinzip ausgeschlossen: »Der Geist erkennt sich selbst lediglich insofern, als er die Ideen der Affektionen des Körpers wahrnimmt.« 98 Eine Idee im Geist, die einer Affektion des Körpers durch ein fremdes Wesen entspricht, enthält jedoch weder adäquate Erkenntnis von diesem fremden Wesen noch von dem eigenen Körper selbst: »Die Idee einer jeden Affektion des menschlichen Körpers schließt die adäquate Erkenntnis eines äußeren Körpers nicht in sich.« 99 »Die Idee einer jeden Affektion des menschlichen Körpers schließt die adäquate Erkenntnis des menschlichen Körpers selbst nicht in sich.« 100
Der Geist eines Menschen gewinnt zwar die Idee, die der körperlichen Affektion seines Körpers entspricht. Aber die Tatsache, dass der Körper von anderen Dingen passiv wird, schaltet zumindest an dieser Stelle die Möglichkeit logischerweise aus, eine adäquate Idee zu bilden, die der Mensch nur als eine adäquate, ›gänzliche Ursache‹ haben kann. 101 »Hieraus folgt, dass der menschliche Geist, sooft er Dinge von der gemeinsamen Ordnung der Natur her wahrnimmt, weder von sich selbst, noch von seinem eigenen Körper, noch von äußeren Körpern eine adäquate, sondern nur eine verworrene und verstümmelte Erkenntnis hat.« 102
Dies bedeutet nichts anderes, als dass ›der Mensch leidet‹. Von Dingen (Körpern) der Außenwelt affiziert zu werden, ist, im Grunde genommen, zu leiden. Diese spinozistische These, dass der Mensch leidet, bedeutet im metaphysischen Sinne die Begrenztheit des Menschen als eines endlichen Modus. Im epistemologischen Sinne hat dies zur Folge, dass das Erkennen des Menschen E 2, P23, S. 155. E 2, P25, S. 159. 100 E 2, P27, S. 161. 101 Vgl. »Die Ideen der Affektionen des menschlichen Körpers sind, insofern sie nur auf den menschlichen Geist bezogen werden, nicht klar und deutlich, sondern verworren.«, E 2, P28, S. 161; »In gleicher Weise lässt sich beweisen, dass die Idee, die die Natur des menschlichen Geist ausmacht, in sich allein gesehen, nicht klar und deutlich ist, was auch für die Idee des menschlichen Geistes und die Ideen der Ideen der Affektionen des menschlichen Körpers gilt, insofern sie bloß auf den Geist bezogen werden, wie jeder leicht sehen kann.«, E 2, P28S, S. 162; »Die Idee der Idee einer jeden Affektion des menschlichen Körpers schließt die adäquate Erkenntnis des menschlichen Geistes nicht in sich.«, E 2, P29, S. 163. 102 E 2, P29C, S. 163. 98 99
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primär von imaginatio als der ersten Gattung der Erkenntnis begleitet werden muss. Mit der folgenden Erörterung über die ethische und ästhetische Implikation von imaginatio bei Spinoza wird sowohl sein totales Verständnis des Menschen und der Natur als auch ein dennoch möglicher Weg zur menschlichen Freiheit erläutert. Spinoza unterteilt nämlich die Erkenntnis nach den verschiedenen Erfahrungen als Quelle der Erkenntnis in drei Gruppen, die zum allgemeinen Begriff (notiones universales) werden kann. 103 (1) Die erste Gattung der Erkenntnis heißt imaginatio (›Vorstellung‹ oder opinio: ›Meinung‹) und wird in zwei Unterbegriffe geteilt: (1-a) Erkenntnis aus unbestimmter Erfahrung (cogitionem ab experientia vaga), die sich aus verworrenen Einzeldingen herausbildet, (1-b) Erkenntnis aus Zeichen, die mittels sprachlicher Erinnerung und Assoziation zustande kommt. (2) Zweitens, die Erkenntnis der zweiten Gattung oder Vernunft, die »wir aus Gemeinbegriffen (notiones communes) und adäquaten Ideen der Eigenschaften von Dingen haben« (ebd.). (3) Drittens, die dritte Gattung der Erkenntnis, die intuitive intellektuelle Erkenntnis. Diese drei Erkenntnisarten (imaginatio, Vernunft aus notiones communes und adäquaten Ideen sowie die intuitive Erkenntnis) sind dem Menschen als möglich zugeschrieben. Das bedeutet, dass der Mensch entweder durch die Gewinnung der zweiten oder dritten Erkenntnisart zwar auf unterschiedliche Art und Weise eine adäquate Ursache sein kann, es stellt sich jedoch die Frage, wie dieser Mensch, der primär leidet und daher scheinbar nur die Erkenntnis der imaginatio zu bilden fähig ist, zu dieser zweiten und dritten Art der Erkenntnis gelangen kann. Es handelt sich um eine Möglichkeit der Freiheit des leidenden Menschen (homo patiens), der in Spinozas Philosophie keine adäquate Erkenntnis, weder von seinem Geist, dem Körper, noch der Außenwelt, zu besitzen scheint. Diese Frage wird in den nächsten Abschnitten behandelt. 5.3.3 Der Zufall als »die gemeinsame Ordnung der Natur«. Die Quelle des Leidens und der Unfreiheit des Menschen
Um zu beantworten, wie die Freiheit eines Menschen bei Spinoza ermöglicht wird, muss zunächst festgestellt werden, aus welcher Bedingung er leidet, also nur »verworrene und verstümmelte Erkenntnis« (E 2, P29C) gewinnt und unfrei bleibt. Dieser Lehrsatz 29 aus dem zweiten Teil der Ethica ist eine höchst interessante Stelle, die den Anspruch der menschlichen Totalität bei Spinoza deutlich macht, da er nicht nur die Bedingung der menschlichen Unfreiheit – die er als die Knechtschaft des Menschen bezeichnet – theoretisch 103
E 2, P40S2, S. 181–183.
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rekonstruiert. Vielmehr enthüllt derselbe Lehrsatz die Möglichkeit eines Übergangs zum aktiven, freien Zustand des Menschen. Zunächst schreibt Spinoza am Beginn des Scholiums 104 zu diesem Lehrsatz über die konkrete Bedingung dafür, warum der menschliche Geist keine adäquate Erkenntnis hat. Eine verworrene Erkenntnis kommt zustande, wenn der Mensch »Dinge von der gemeinsamen Ordnung der Natur her (ex communi naturae ordine) wahrnimmt« (P29S). Was versteht Spinoza jedoch unter der ›gemeinsamen Ordnung der Natur‹ (communi naturae ordine)? Ein Hinweis lässt sich in demselben Scholium finden. In der ›gemeinsamen Ordnung der Natur‹ wird der Mensch als ein endlicher Modus von der »zufälligen Begegnung mit Dingen (ex rerum nempe fortuito occursu)« (P29S) derart beeinflusst, dass er beim Betrachten der Dinge an ihnen keine »Übereinstimmungen, Unterschiede und Gegensätze einzusehen« (ebd.) vermag. In diesen zufälligen Begegnungen wird der Mensch nur die vereinzelten, einseitigen Aspekte der Dinge wahrnehmen, die ihm die Struktur, die Ursache und Wirkung dieser Begegnungen nicht erhellen können. Solange sein Erkennen »von d[ies]er gemeinsamen Ordnung der Natur her« (ebd.) bestimmt wird, bleibt er ohne adäquate Erkenntnis und unfrei in Bezug auf diese Begegnungen. Einer derartigen ›äußeren‹ Bestimmung des Erkennens (vgl. P29S: »von außen […] bestimmt wird«) entspricht die ›innere‹ Bestimmung des Erkennens, wobei der Mensch einzelne Dinge nicht »von der zufälligen Begegnung mit Dingen her« betrachtet (ebd.), sondern »mehrere Dinge zugleich betrachtet« (ebd.) und dadurch eine adäquate Idee über sie gewinnen kann. ›Unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit‹ (sub specie aeternitatis) kann der Mensch die Notwendigkeit hinter der zufälligen Erscheinung erkennen, indem er die adäquate Idee für sie gewinnt. Es sei dabei bemerkt, dass das Gewinnen der adäquaten Erkenntnis bei Spinoza nicht nur eine etymologische Frage ist. Vielmehr kommt es bei diesem Thema auf eine mögliche neue Gestaltung eines ›adäquaten‹ Verhältnisses zwischen dem erkennenden Menschen und den Dingen und anderen Menschen an, mit denen sich dieser Mensch zusammenfindet. Solange dieses Ver»Ich sage ausdrücklich, dass der Geist weder von sich selbst, noch von seinem eigenen Körper, noch von äußeren Körpern eine adäquate, sondern nur eine verworrene Erkenntnis hat, sooft er Dinge von der gemeinsamen Ordnung der Natur her (ex communi naturae ordine) wahrnimmt, d. h. sooft er von außen, nämlich von der zufälligen Begegnung mit Dingen her (ex rerum nempe fortuito occursu) bestimmt wird, dieses oder jenes zu betrachten, nicht aber, sooft er von innen, nämlich dadurch, dass er mehrere Dinge zugleich betrachtet, bestimmt wird, an ihnen Übereinstimmungen, Unterschiede und Gegensätze einzusehen; wenn er nämlich so oder auf andere Weise von innen her disponiert ist, dann betrachtet er Dinge klar und deutlich, wie ich weiter unten zeigen werde.«, E 2, P29S, S. 165. 104
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hältnis einem Menschen nur ungreifbar zufällig erscheint, bleibt ihm das Gewinnen der adäquaten Erkenntnis verwehrt. Die logische Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass Spinoza die Möglichkeit ausgeschlossen zu haben scheint, dass der Mensch überhaupt derart »von innen« (P29S) Dinge betrachten kann. Die Lösung dieses scheinbaren Dilemmas findet sich im ambivalenten Charakter jener zufälligen Begegnung mit Dingen, wie ich im nächsten Abschnitt erörtere. 5.3.4 Die Gemeinbegriffe (notiones communes). Bindung und Bildung der Notwendigkeiten
Es gilt die Gemeinbegriffe (notiones communes) und ihre Funktion bei der Gestaltung einer adäquaten Idee zu erläutern. Spinoza nimmt an, dass es trotz der gemeinsamen Ordnung der Natur, in der die zufälligen Begegnungen mit Dingen herrschen, auch Treffen mit Dingen gibt, die mit dem erkennenden Menschen gemeinsame Eigenschaften teilen: »Was dem menschlichen Körper und einigen äußeren Körpern, von denen der menschliche Körper gewöhnlich affiziert wird, gemeinsam und eigentümlich ist und was gleichermaßen in dem Teil eines jeden dieser äußeren Körper wie im Ganzen ist, auch dessen Idee wird im Geist adäquat sein.« 105
Streng genommen ist diese innere Begegnungsart auch ein Zufall aus menschlicher Perspektive, wie jede extern bestimmte Begegnung (vgl. P29S). Denn der Mensch weiß (noch) nicht, wie sich die Begegnung mit jenen Dingen ereignet, die gemeinsame und eigentümliche Eigenschaften mit ihm teilen (E 3, P15, S. 251). Aus göttlicher Perspektive oder ›unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit‹ gibt es jedoch keinen Zufall (E 1, P29, S. 63). Nur dem Menschen mit inadäquaten Ideen von einem Ereignis scheint das Ereignis ein Zufall zu sein (E 2, P44, S. 189). 106 Unter verschiedenen Treffen erlaubt diese Art des Zufalls dem Menschen, die adäquate Erkenntnis zu gewinnen. Dass der Mensch durch diesen glücklichen Zufall eine adäquate Erkenntnis gewinnen kann, weist auf Spinozas Optimismus hin. Inwieweit beherbergt Spinozas Philosophie einen Optimismus 107? Diese Charakteristik wird in Spinozas Denken vor allem deutlich, wenn sich die E 2, P39, S. 175. »Einzeldinge nenne ich zufällig, insofern wir, wenn wir bloß ihre Essenz ins Auge fassen, nichts finden, was ihre Existenz notwendigerweise setzt oder notwendigerweise ausschließt.«, E 4, Def3, S. 381. 107 Vgl. Abs. 4.2. und 4.3.1. 105 106
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Notwendigkeit auch in den zufälligen Erscheinungen als präsent erweist. Spinozas Philosophie erkannte in der Welt auf der ontologischen Ebene nur Notwendigkeit und keine genuine Zufälligkeit an. 108 Der Zufall ›existiert‹ in der deterministischen Welt Spinozas nur im beschränkten Sinne. Genauer gesagt: Der Zufall existiert lediglich auf der epistemologischen Ebene, weil nur dann von Zufälligkeit (fortuita) die Rede sein kann, wenn ein erkennender Mensch die Ursache (oder den Grund) eines Ereignisses wegen seiner Beschränktheit noch nicht erklären kann. 109 Ein Ereignis scheint nur diesem (noch nicht hinreichend) Erkennenden gegenüber ›zufällig‹, welches diesem Ereignis passiv gegenübersteht. Die Freiheit des Einzelnen in Spinozas Denken hängt deshalb davon ab, ob dieser Einzelne sich von seiner sowohl ontologischen als auch sozio-politischen Isolation zu befreien vermag, die das genannte Treffen verhindert, die adäquate Erkenntnis durch den glücklichen Zufall zu gewinnen. Je mehr es von anderen Dingen affiziert wird, wodurch es mehr imaginatio herbeirufen kann 110, desto mehr Kraft hat das Individuum (und ist daher ›noch freier‹). Die Möglichkeit, mehr und vielseitiger von anderen Dingen affiziert zu werden, heißt für den einzelnen Menschen, häufigere und mannigfaltigere Verknüpfungen mit anderen Dingen und Menschen der Welt über seine ontologische und sozio-politische Begrenztheit hinaus herzustellen. Diese Aufgabe bedeutet zugleich, aus den scheinbar zufälligen Umständen notwendige Verhältnisse zwischen dem Selbst und der Welt zu gestalten. Diese Aufgabe ist der »Natur der Vernunft« zugeschrieben: »Es liegt in der Natur der Vernunft, Dinge nicht als zufällig, sondern als notwendig zu betrachten.« 111 Dieser Tendenz entspricht die These von conatus als einem beständigen ›Streben‹ 112 des Einzelnen nach der Selbsterhaltung. Im Dienst der »Natur der Vernunft« (ebd.) kann conatus zur Gestaltung der »Ursache seines Selbst« (causa sui) beitragen, die manchmal von Trauer (tristitia), manchmal von »In der Natur gibt es nichts Zufälliges, sondern alles ist aus der göttlichen Natur bestimmt, in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken.«, E 1, P29, S. 63; vgl. Yhee 2012. 109 »Einzeldinge nenne ich zufällig, insofern wir, wenn wir bloß ihre Essenz ins Auge fassen, nichts finden, was ihre Existenz notwendigerweise setzt oder notwendigerweise ausschließt.«, E 4, Def3, S. 381. 110 Vgl. »Der Geist strebt, soviel er kann, sich das vorzustellen, was die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder fördert«, E 3, P12, S. 247. Vgl. auch: »Wenn der Geist sich selbst und seine Wirkungsmacht betrachtet, freut er sich und umso mehr, je deutlicher er sich und seine Wirkungsmacht sich vorstellt.«, E 3, P53, S. 317. 111 E 2, P44, S. 189. 112 »Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren.«, E 3, P6, S. 239. 108
Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit
Freude (laetitia) begleitet wird. 113 In Spinozas Ethik besteht die ultimative Aufgabe darin, die möglichst adäquate Erkenntnis über dieses Verhältnis zu gewinnen. 114 Aber erst, wenn der Mensch den Grund eines Ereignisses derart erklären kann, dass er als »die adäquate Ursache« 115 des Ereignisses genau dieses Ereignis wieder veranlassen oder ›verursachen‹ kann, wird von ihm gesagt, dass er adäquate Erkenntnis (adaequata cognitio 116) von diesem hat und somit in Bezug auf dieses Ereignis aktiv, d. h. frei, handeln kann. 117 Durch die erkennende Handlung wird die ontologische Notwendigkeit des ›Zufalls‹ und seines Daseins verstärkt und schließlich bestätigt. In diesem Prozess wird der erkennende Mensch frei(er) und mächtig(er). Der Mensch strebt nach Freiheit. Die Aufgabe, die menschliche Freiheit zu erreichen, gilt als das Ziel der Ethica, die nicht nur »vortrefflich« 118, sondern auch »ebenso schwierig« ist. Dennoch wird sie durch Spinozas Optimismus als realisierbar verstanden, der jeder zufälligen Erscheinung eine Notwendigkeit zuschreibt. Obwohl der Mensch – als ein endlicher Modus – leidet, d. h., sein Geist keine adäquate Idee über denselben Geist, über seinen Körper sowie über seine Umwelt besitzt, tendiert er dazu, eine adäquate Idee bei einem zufälligen Treffen oder Zusam-
Vgl. Bartuschat (1995), S. 146 f. u. 151 f. Vgl. »Die Erkenntnis des Guten und Schlechten ist nichts anderes als ein Affekt der Freude oder Trauer, insofern wir uns seiner bewusst sind.«, E 4, P8, S. 395. 115 »Adäquat nenne ich diejenige Ursache, deren Wirkung durch sie allein klar und deutlich wahrgenommen werden kann. Inadäquat oder partial nenne ich dagegen diejenige, deren Wirkung nicht durch sie allein eingesehen werden kann.«, E 3, Def1, S. 223. 116 »Unter adäquater Idee verstehe ich eine Idee, die, insofern sie in sich selbst ohne Beziehung auf einen Gegenstand betrachtet wird, alle Eigenschaften oder inneren Merkmale einer wahren Idee hat«, E 2, Def4, S. 101. Vgl. Gebhardts Übersetzung: »Unter adäquater Vorstellung (ideam adaequatam) verstehe ich diejenige Vorstellung, welche, insofern sie an sich, ohne Bezug auf den Gegenstand, betrachtet wird, alle Eigenschaften oder inneren Merkmale einer wahren Vorstellung hat.«; vgl. Nietzsches Bemerkung von »adäquate[r] Erkenntnis« in NL 5[71], Der europäische Nihilismus, den 10. Juli 1887, KSA 12, S. 211. Dazu siehe Abschnitt 6.3. 117 »Unter Affekt verstehe ich Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen. Wenn wir also die adäquate Ursache irgendeiner dieser Affektionen sein können, verstehe ich unter dem Affekt eine Aktivität (actionem), im anderen Fall eine Leidenschaft (passionem).«, E 3, Def3, S. 223. 118 Vgl. »Wenn auch der dahin führende Weg, den ich aufgezeigt habe, sehr schwer zu sein scheint, gefunden werden kann er doch. Und natürlich muß das, was so selten gefunden wird, schwer sein. Wenn das Heil einfach daläge und ohne große Anstrengung gefunden werden könnte, wie wäre es dann möglich, daß fast jeder es fahren läßt? Aber alles, was vortrefflich ist, ist ebenso schwierig wie selten.«, E 5, P42S, S. 595. 113 114
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menstoß mit einem anderen Einzelnen – sei es anderen Menschen oder Dingen – zu bilden, das mit ihm eine bestimmte Eigenschaft gemeinsam besitzt (E 2, P13L2). Durch diesen glücklichen Zufall in der Natur bildet der Mensch mithilfe der sogenannten »Gemeinbegriffe« (notiones communes) die zweite Art von adäquaten Erkenntnissen (E 2, Def4). Dieses eigenartige Naturverständnis in »Deus sive natura« erlaubt Spinoza, die Kluft zwischen Zufälligkeit und Notwendigkeit oder im Blickwickel des Einzelnen zwischen Leiden und Handeln zu überbrücken. Die Zufälligkeit (fortuita) wird in dieser logisch erfassbaren Welt Spinozas zum Glück (fortuna) und zur Seligkeit (beatitudo) geführt, vorausgesetzt, dass die Einzelnen aus ihrer Isolation heraus eine noch näher zu diskutierende demokratische Staatsform bilden können, die jedem Einzelnen mehr Macht und Freiheit über die Zufälligkeit erlaubt. Hier lässt sich ein interessantes Moment der Philosophie Spinozas ablesen, in dem ein glücklicher Zufall den Übergang vom Leiden zum Handeln und zum ›Aktiv-Werden‹ ermöglichen kann, obwohl der Zufall im Allgemeinen das Leiden (zumindest indirekt) veranlasst. Die Natur, oder die Welt in unserem Wortgebrauch, die einem leidenden Menschen zunächst voller Zufälle erscheint, stellt diesem doch einen glücklichen Zufall bereit, der die Tür zum geregelten Kosmos eröffnet. 119 So gewinnt der Mensch mehr Macht in der spinozistischen Welt, wenn er mehr Eintracht mit der Welt hervorbringen kann, anders als bei Nietzsche, der für die Produktivität der Agonalität plädiert hat. Das Neugewinnen der adäquaten Erkenntnis wird wegen ihres Zufälligkeitscharakters bei allen imaginatio durch Leidenschaften begleitet, vor allem von Freude einer passiven Art (E 3, P11S), die sich von einer aktiven Art der Freude (vgl. E 3, P59 und P59S) unterscheidet, welche die dritte Gattung der Erkenntnis oder die intuitive intellektuelle Erkenntnis (E 2, P40S2) begleitet. Die erworbenen Gemeinbegriffe dienen anschließend als Grundlage unseres Schlussverfahrens (ratiocinii nostri fundamenta, E 2, P40S1, S. 177), das heißt der zweiten Gattung der menschlichen Erkenntnis, denn: »Ideen, welche Vgl. Moreau 1994a, S. 74: »Ihre Produktion.: Die Herrschaft der Leidenschaften unterstellt den Menschen der Knechtschaft, und da er ein wesentlicher Teil der Natur ist, besitzt er kein Mittel, sich von ihr durch eine radikale Trennung, zu lösen. Der Ursprung der Vernunft liegt nicht in einem Schritt aus der Natur heraus, sondern in einer natürlichen Produktion. Denn man darf nicht vergessen, daß die zufällige Begegnung der Körper zwar eine Reihe von Bildern produziert, aber auch eine Reihe von Gemeinbegriffen, die am Beginn der Deduktion der Ideen stehen. Mit der gleichen Geste gelangt man auch vom leidenschaftlichen zum vernünftigen Leben: In dem Maße, in dem der Geist beginnt, die Phänomene adäquat zu begreifen, wird er immer weniger der äußeren Kausalität unterworfen; er produziert immer mehr Konsequenzen, die aus seiner eigenen Natur folgen.« 119
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auch immer, die im Geist aus Ideen folgen, die in ihm adäquat sind, sind ebenfalls adäquat« (E 2, P40, S. 177). Damit wurde gezeigt, wie der Übergang von der ersten Gattung der Erkenntnis (imaginatio) zu ihrer zweiten Gattung (Vernunft, Schlussfolgerung) stattfindet. Dabei sei auf die besondere Rolle des Leidens hingewiesen, das in Spinozas Philosophie, verstanden als eine passive, d. h. von außen bestimmte Sinneserfahrung nicht unbedingt die Entstehung einer aktiven, d. h. von innen bestimmten adäquaten Erkenntnis verhindern muss, sondern sie bestimmen und ermöglichen kann. 5.3.5 »Deus sive natura«. Die radikale Symbiose von optimistischer Politik und realistischer Philosophie
Im Hinblick auf das Naturverständnis Spinozas lässt sich die Welt konsequent als »Deus sive natura« bezeichnen, wobei die Gottesordnung sowohl mit der menschlichen Freiheit als auch mit den zufälligen Phänomenen der Welt als vereinbar erscheint. Das Streben des Menschen, frei und aktiv zu werden, ist in diesem Sinne sowohl sein Annäherungsversuch an Gott als der absoluten causa sui als auch Gottes Selbstmanifestation durch seinen Modus: den Menschen. In diesem Sinne bedeutet amor dei bei Spinoza nicht nur die intellektuelle Liebe des Menschen zu Gott, sondern Gottes Selbstliebe, die von der Göttlichkeit des Menschen vermittelt wird, solange der Mensch als der endliche Modus in diesem Streben die Substanz adäquat ausdrückt. Nicht (nur) ein Gläubiger, sondern jeder Mensch liebt Gott in diesem Sinne, solange er nach seiner Freiheit und Vernunft strebt. Zwar hat Nietzsche in seinem Brief von 1885 Spinozas Einsamkeit als ›die mit Gott gesellte Einsamkeit‹ herabgestuft. Jedoch hat seine Beobachtung einen Kernaspekt von Spinozas Menschenverständnis getroffen. Obwohl ein einzelner Mensch nicht selten gezwungen werden kann, ein einsiedlerisches Leben zu führen – wie es bei Spinoza selbst der Fall war –, ist er optimistisch 120 und nie wirklich ›einsam‹, solange er diese Liebe zu Gott 121 und zu seinem Selbst immer pflegt. Diese Bemühung, frei zu werden oder seine eigene Ursache (causa sui) – wenn auch im relativen Sinne – zu werden, verbindet die individuelle Dimension dieser Ethik mit der sozio-politischen. Das Indivi-
Vgl. NL 7[4], Ende 1886 – Frühjahr 1887, KSA 12, S. 260. Ob ein solcher Gott als Gott gilt, den Nietzsche bei seiner Kritik des Christentums im Sinne hatte, ist eine andere Frage, auch wenn Spinoza seine Religionsphilosophie mit dem Christentum nicht nur für vereinbar, sondern für konsequent gehalten hat. Vgl. Abs. 5.2.2. 120 121
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duum kann in einem geeigneten gesellschaftlichen System seine Freiheit maximieren. Auf das verbleibende Problem, dass der Zufall hinsichtlich des Mit-Lebens in der Gesellschaft eine weitere Aufgabe darstellt, antwortet Spinoza mit ›Zufallsorganisierung oder -verwaltung‹ in der Gesellschaft. Wegen dieser zweiten Ebene spielt das Zufallsdenken Spinozas für seine politische Philosophie eine wichtige Rolle. Die menschliche Freiheit in Bezug auf den Zufall ist bei ihm zunächst eine Glückssache, verlangt aber wesentlich mehr als Glück. In dieser Betrachtung des Leidens und des Zufalls zeigt Spinoza einerseits einen Optimismus des frühmodernen 17. Jahrhunderts, andererseits einen radikal aufklärerischen Entwurf, die Willkür der conditio humana nicht nur zu kritisieren, sondern selbst zu bestimmen, zu regulieren und zu regieren. Für eine solche Freiheitsgestaltung spielt das Bestreben (conatus) des Menschen, die Zufälligkeit seines Daseins zur Grundlage der Freiheit zu transformieren, eine entscheidende Rolle. Ein solches Streben des Menschen, nicht mehr zu leiden, sondern zu handeln, ist eine Bemühung, seine eigene Ursache (causa sui) zu werden und sein Selbst, sein Leben und seine Welt möglichst so positiv zu bestimmen (determinare), wie es einem endlichen Modus möglich ist. 122 Es bedeutet eine mit Nietzsches amor fati vergleichbare Lebens- und Schicksalsbejahung, wobei das Leiden weder positivistisch noch resignativ ertragen wird, sondern ein realistisches und ›selbstwirksames‹ Verhältnis mit der Ursache des Leidens gesucht wird. Ein solches Streben nach Selbstbestimmung des Menschen bedeutet die Vermehrung seiner Kraft, d. h. seiner Freiheit. Mehr Freiheit bedeutet deswegen mehr bestimmende Kraft auf der deterministischen, aber zugleich unendlich vielfältigen Welt. Dadurch, dass die Freiheit eines Individuums als die determinierende Kraft über sein eigenes Weltverhältnis definiert wird, lassen sich Freiheit und Determinismus bei Spinoza als kompatibel verstehen. 123 Der Prozess von der Zufälligkeit zur Notwendigkeit (Bestimmtheit) in Spinozas Philosophie wird in Kap. 6 im Hinblick auf Nietzsches Philosophie nochmals diskutiert. 123 Es lässt sich noch näher diskutieren, ob Spinozas Philosophie tatsächlich einen starken Determinismus voraussetzt. Gegen eine derartige Leseart spricht, dass Spinozas Welt keine ›Vorbestimmtheit‹ des endlichen Modus voraussetzt. Der unendliche Modus bleibt immer noch ›unbestimmt‹ (indeterminari) und in der unendlichen Kette der Bewegung offen für weitere Veränderung. Wenn bei Spinoza überhaupt von einem Determinismus die Rede sein soll, muss man m. E. den spinozistischen Determinismus auf seine Notwendigkeitsauffassung der Natur begrenzen. Die Befürchtung des Fatalismus im Sinne des starken Determinismus seit Jacobi bei Spinoza ist aus demselben Grund nicht zu befürworten, auch deshalb, weil Spinoza den (vorausgesetzten und zukünftigen) Zweck der Welt ablehnt, der bei einer solchen Auffassung des Fatalismus jedoch unverzichtbar ist. Vgl. Jacobi (1785), S. 23–24 und Abschnitt 4.2. 122
Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit
Die Erklärung, dass ein Mensch im Verhältnis zu anderen Wesen sowohl leiden als auch handeln kann, weist schon darauf hin, dass die menschliche Freiheit nur in Bezug auf die anderen (Menschen und Dinge) sinnvoll gedacht werden kann. Dazu zeigt Spinozas Denken zwei Aspekte auf. Einerseits ermöglicht das Leiden zunächst die Basis der individuellen Freiheit in der Diskussion der früher ausgearbeiteten Teile der Ethik. Zwar wird die Freiheit hier schon im Verhältnis zu anderen Dingen gedacht, aber Spinozas Interesse besteht hauptsächlich in der ›Interpretation‹ dessen, was am Selbst als dem Ort der Interaktion mit der Außenwelt passiert, nicht in der Erklärung oder gar in der ›Veränderung der Welt‹. Andererseits tritt sein Denken über die sozio-politischen Ebene mehr in den Vordergrund, wie es der Theologisch-Politische Traktat (TTP) und die später geschriebenen Teile der Ethik sowie der nicht vollendete Politische Traktat (TP) in seinem letzten Kapitel über Demokratie deutlich machen. Denn die Verwirklichung der individuellen Freiheit hängt nicht nur von dem von der Vernunft geleiteten Streben (conatus) eines Individuums, sondern auch von den gesellschaftlichen und politischen Umständen ab, die dieses individuelle Streben wesentlich beeinflussen können, sei es in negativer oder positiver Weise. Die sozio-politische Dimension in Spinozas Denken über die Freiheit ist also eine wesentliche Rahmenbedingung, die von der individuellen Dimension der Freiheit, die in der Ethica diskutiert wird, nicht getrennt betrachtet werden kann. Die Freiheit wird Spinoza in TTP und TP zufolge nur innerhalb einer demokratischen Gesellschaftsform im vollkommenen Sinne verwirklicht und abgesichert. Die Freiheit eines Individuums wird im Verhältnis zu anderen Menschen begriffen, und zwar als seine Aufgabe, die demokratische Staatsund Gesellschaftsform zu entwerfen und zu verwirklichen. Ohne eine geeignete Gesellschaftsform wird jeder Versuch, frei zu werden, scheitern. Die beiden Aspekte der Freiheit müssen nicht stufenartig, sondern in Spannung parallel verwirklicht werden, da die gesellschaftliche Aufgabe der Freiheit im eigenen Interesse eines Individuums steht. Beide erfolgen deshalb nach demselben Selbsterhaltungsprinzip 124: Der Mensch ›strebt‹ nach mehr Freiheit, d. h., er strebt nach der Vermehrung seiner Kraft sowohl auf der individuellen als auch der sozio-politischen Ebene. Dies geschieht trotz und aufgrund der Beschränktheit des Menschen (als eines endlichen Modus), die bei Spinoza in seiner Überlegung zum Leiden am besten zum Ausdruck kommt. »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als die wirkliche Essenz ebendieses Dinges.«, E 3, P7, S. 239. Vgl. Gebhardts Übersetzung: »Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Seyn zu beharren strebt, ist nichts als die wirkliche Wesenheit des Dinges selbst.« 124
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Diese konstruktive Funktion des Leidens bei der Freiheitsgestaltung (oder der Vermehrung der Kraft) erklärt sich beispielhaft durch die Darstellung der Rolle der imaginatio (Phantasie, Vorstellung), die bezüglich der zufälligen Erscheinungen der Welt ihre Notwendigkeit zu enthüllen vermag, ohne jedoch dabei die Annahme der menschlichen Begrenztheit aufzugeben. Die Bedeutung der imaginatio ist also nicht nur für die Ethica von großer Bedeutung, wo imaginatio als eine Brücke zwischen dem Leiden und Handeln des Menschen fungiert, sondern auch für Spinozas religionskritische und sozio-politische Werke wie TP und TTP. Denn ein freier Mensch, der nach dem Prinzip der Ethica ein von seiner Vernunft geleitetes Leben führt, muss sich mit einer weiteren Aufgabe in einer Gesellschaft auseinandersetzen, nämlich mit anderen Menschen, die nicht eine derartig idealisierte Lebensweise führen. Zudem übt jedes politische System Spinoza zufolge eine Art Affekt, sei es Hoffnung oder Furcht 125, auf die Masse (turba) in diesem System aus. Diese Affekte sind sowohl körperliche Affektion als auch Ideen im Geist, die durch den imaginativen Prozess des Menschen zustande gekommen sind. Die Freiheitssuche für einen Einzelnen bedeutet also, Gemeinbegriffe zwischen den unterschiedlich affizierten Menschen zu finden, was nicht spekulativ, sondern mithilfe der tatsächlichen Begegnungen zwischen diesen Menschen erfolgen kann. Auch wenn diese Begegnung nicht selten zum Konflikt führt, ist eine Möglichkeit zur Versöhnung, theoretisch gesagt, immer garantiert. Es gibt stets die Möglichkeit, einen Gemeinbegriff zwischen ihnen zu finden. Damit befürwortet Spinoza die radikale Symbiose der optimistischen Politik und der realistischen Theologie. Diese doppelseitige Natur der Freiheitsgestaltung in der Ethica und in TTP und TP zeigt vor allem, dass der Mensch nicht in seiner Isolation, sondern nur in der sozio-politischen Überwindung der Isolation mehr Freiheit erhoffen kann. Genauso sehr wie Nietzsche in seiner Überlegung zur Einsamkeit des Menschen, distanziert sich Spinoza von der Tradition der Anachoreisis (ἀναχώρησις) oder des Fliehens vor der Welt (fuga mundi), d. h. der Vereinsamung in der vorchristlichen Antike und im frühchristlichen Mönchstum, wobei in dieser Vereinsamung ein idealer, sich selbstgenügender Zustand für den Menschen gesehen wurde. Solange Spinozas Distanzierung von dieser Tradition der Selbstvereinsamung das aktive soziale und politische Engagement voraussetzt, um das Ziel der menschlichen Freiheit zu erlangen, scheint seine Position im Hinblick auf diese Abgrenzung von der Vereinsamung radikaler zu sein als bei Nietzsche. Dieser versteht die Einsamkeit des Menschen als eine kulturelle und zeitgeprägte Bedingung der Moderne nach dem Tod Gottes im 125
Vgl. TP, V, § 6, S. 64–67.
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christlichen Europa. So plädiert er für den Primat der Einsamkeit des Menschen, die besonders im Hinblick auf die vermassende, alles gleichmachende Tendenz der ›Demokratie‹ als Quelle der Souveränität des Individuums gelten soll. Nietzsches Denken über die Einsamkeit enthält jedoch ein deutlich unterschiedliches Merkmal von jener Tradition der Vereinsamung, da der Umgang mit der Einsamkeit bei ihm nur dann in Frage kommt, wenn sich ein Individuum gerade unter Menschen befindet, wie ich im späteren Abschnitt angesichts des sozio-politischen Aspekts der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption näher erörtere. 5.3.6 Solitudo, die theologisch-politische Einsamkeit
Die philosophische Überlegung zur Einsamkeit spielt nicht nur in Nietzsches Spinoza-Rezeption eine wichtige Rolle, sondern auch in Spinozas Denken im Hinblick auf das ganzheitliche Verhältnis zwischen der individuellen und der sozio-politischen Dimension, und zwar im Sinne des bereits diskutierten Anspruchs auf Totalität. Der Lehrsatz 73 vom vierten Teil der Ethica zeigt deutlich, dass der Mensch nach Spinoza in einem Staat, der durch die sozio-politische Überwindung der individuellen Einsamkeit (solitudo) errichtet wird, die Möglichkeit hat, seine maximale Freiheit zu gewinnen. 126 Zwar muss er in der Einsamkeit nur sich selbst gehorchen (vgl. E 4, P 73); eine Situation, die einem zunächst als eine Art Freiheit erscheinen kann. Jedoch bedeutet das nicht, dass ein Mensch in der Einsamkeit seine größte und dauerhafte Freiheit haben kann. Im Gegenteil kann er nach Spinoza seine Freiheit nur im Staat maximieren, da er dort den »gemeinsamen Vorteil« (E 4, P73D; vgl. E 4, P37) hat, d. h., dass die von der Vernunft geleiteten Menschen das gemeinsame Ziel zusammen erstreben. Je mehr der Mensch in Spinozas Philosophie mit seiner Kraft erreichen kann, desto mehr Freizeit besitzt er, und da das Individuum wegen dieses gemeinsamen Vorteils im Staat mehr erreichen kann als in der Einsamkeit, ist der Mensch im Staat noch freier. Die Freiheit in der Einsamkeit ist ein Trugbild. Die Voraussetzung der These ist, dass der ›Staat‹ (civitatas: ›die Gesamtheit der Bürger‹, ›die Bürgerschaft‹) seine Bürger »nach einem gemeinsamen Beschluß« (E 4, P73) leben lässt und seine Einhaltung zum »gemeinsamen Rechtgesetz des Staates« (ebd.) nicht aus Furcht zwingt, sondern aus der Vernunft heraus fördert (vgl. E 4, P73D). Dies besagt, dass Spinoza in seiner Kritik der »Ein Mensch, der sich von der Vernunft leiten läßt, ist freier in einem Staat, wo er nach einem gemeinsamen Beschluß lebt, als in einer Einsamkeit [quam in solitudine], in dem er nur sich selbst gehorcht.«, E 4, P 73, S. 503. 126
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individuellen Einsamkeit eine spezifische Form des Staates voraussetzt, die nicht nur mit seinen unterschiedlichen Bewertungen verschiedener Staatsformen, sondern auch mit seinem Plädoyer für die Demokratie in TTP und TP zusammenhängt. Ein derartiges theoretisches Verhältnis zwischen der Einsamkeit und der Freiheit des Individuums weist auf die Vereinbarkeit – nicht eine Identität – zwischen der Religionsphilosophie und der sozio-politischen Ethik in Spinozas Denken hin, wie es seine Überlegung zur Nächstenliebe (caritas proximum) zeigt. 5.3.7 Politik der Nächstenliebe und die freie Masse der Demokratie
Die Nächstenliebe gilt nach Spinoza zusammen mit der Gottesliebe primär als die wichtigste religiöse Lehre im Neuen Testament. 127 Trotzdem gewährt Spinoza zufolge die christliche Lehre der Nächstenliebe – »liebe deinen Nächsten« (Matthäus, 5.43) – nicht nur ein religiöses Handlungsethos für das Individuum im Umgang mit Mitmenschen, 128 sondern sie spielt auch eine überbrückende Rolle zwischen der religiösen und sozio-politischen Ethik. 129 Zwar befürwortet Spinoza die Trennung zwischen »dem Glauben der Theologie und der Philosophie« 130 an mehreren Stellen, die besonders in TTP thematisiert wird. Diese hat »zu ihrer Grundlage die Gemeinbegriffe« (ebd.) und kann nur »aus der Natur hergeleitet werden« (ebd.), während jener »Geschichte und Sprache zur Grundlage« (ebd.) hat. Der Zweck dieser Trennung besteht hauptsächlich darin, die Denkfreiheit oder »die volle Freiheit zu philosophieren« (ebd.) zu garantieren und die Politik von der religiösen Macht theoretisch zu befreien. 131 Trotz dieses Vorbehalts lässt sich die Nächstenliebe bei Spinoza so verstehen, dass sie eine wichtige Implikation für die sozio-po»[…] ohne irgendwelche Schwierigkeit und Zweideutigkeit können wir die Hauptlehre der Schrift verstehen: Gott über alles zu lieben und den Nächsten wie sich selbst. Das kann aber nicht verfälscht sein noch von einer übereilten und irrenden Feder herrühren […], weil dies die Grundlage der ganzen Religion ist.«, TTP, Zwölftes Kapitel, S. 409. Vgl. auch TTP, Vierzehntes Kapitel, S. 429–430, »Was ferner jeder tun muß, um Gott zu gehorchen, lehrt die Schrift an vielen Stellen aufs klarste: das ganze Gesetz besteht in dem einen, nämlich in der Liebe gegen den Nächsten [in amore sicilicet erga proximum].« 128 Vgl. TTP, Neunzehntes Kapitel, insbesondere S. 585 f. 129 Im tieferen Sinne gilt die Nächstenliebe als die Gottesliebe, solange der Mensch für den anderen Menschen als Gott erscheint, wie Spinoza mit dem Ausdruck »homo homini Deus« in E IV, 35S deutlich macht. Vgl. Stegmaier 2011, S. 215–216. 130 TTP, Vierzehntes Kapitel, S. 443. Auch vgl. TTP, Fünfzehntes Kapitel, S. 445 f., insbesondere S. 455. 131 Im Abschlusskapitel von TTP schildert Spinoza dieses Prinzip der Denkfreiheit in sechs Punkten. Vgl. TTP, Zwanzigstes Kapitel, S. 619–620. 127
Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit
litische Philosophie hat, solange diese Tugend nach dem Befehl der eigenen Vernunft und nicht als ein moralistisches Dogma der Religion ausgeübt wird. 132 So schreibt er, dass sich die christlichen Sittenlehren wie »Gerechtigkeit üben, den Armen helfen, niemanden töten, des anderen Gut nicht begehren« 133 aus der Grundlage der Nächstenliebe ergeben (ebd.). Da sie jedoch zugleich als moralische Urteile gelten, lassen sie sich auch als Gegenstände der sozio-politischen Ethik betrachten. Sofern eine theologische Sichtweise die Grundlage der Vernunft und die Freiheit zum Philosophieren nicht untermauert, und auch umgekehrt die philosophische Sichtweise die Freiheit der Religion, können sich beide Dimensionen des Lebens gegenseitig ergänzen und zum Frieden und Wohl der Gesellschaft dienen. Dennoch muss man einen möglichen Einwand gegen diese Interpretation diskutieren: dass die Nächstenliebe bei Spinoza eine sozio-politische Bedeutung hat. Diese Lesart mag auf den ersten Blick im direkten Widerspruch zu Spinozas eigener Aussage in TP stehen, wo er in der Einleitung schreibt: »Obwohl alle davon überzeugt sind, daß die Religion im Gegenteil einen jeden anweist, seinen Nächsten so wie sich selbst zu lieben, d. h. das Recht des anderen wie das eigene zu verteidigen, vermag diese Überzeugung, [dass Menschen Affekten unterworfen sind: J. Y. 134], […], doch wenig gegen die Affekte. […] Wir haben überdies gezeigt, daß die Vernunft bei der Zügelung und der Mäßigung der Affekte zwar viel vermag, zugleich aber gesehen, daß der Weg, den gerade die Vernunft weist, sehr schwierig ist. Wer sich deshalb einredet, eine Menschenmenge [multitudo] oder diejenigen, die in öffentlichen Angelegenheiten zerstritten sind, könnten dazu gebracht werden, noch einer bloßen Vorschrift der Vernunft zu leben, der träumt vom goldenen Zeitalter der Dichter oder von einem Märchen.« 135
In ähnlicher Weise erklärt Spinoza, dass die Autoren des Neuen Testaments seinen Inhalt »mit moralischen Lehren« auch mithilfe der Vernunft oder »des natürlichen Lichts« der Leser vermitteln können. Vgl. dazu TTP, Elftes Kapitel, S. 385: »Ferner fällt zwar die Religion, wie sie von den Aposteln gepredigt wurde, indem sie ganz einfach die Geschichte Christi erzählten, nicht in den Bereich der Vernunft; ihr Inhalt aber, der in der Hauptsache wie die ganze Lehre Christi aus moralischen Lehren besteht, kann von jedermann vermöge des natürlichen Lichts angenommen werden.« 133 TTP, Zwölftes Kapitel, S. 409. Vgl. E 4, Hauptsatz (Caput) 17, S. 515. 134 Vgl. TP, Einleitung, § 5, S. 10–11.: »Das ist aber gewiß, und in unserer Ethik haben wir seine Wahrheit erwiesen: Menschen sind notwendigerweise Affekten unterworfen und so verfasst, […] daß sie mehr zur Rache als zum Mitgefühl neigen, […] [und] daß, weil alle gleichermaßen danach streben, an vorderster Stelle zu stehen, die Menschen in Konflikt miteinander geraten und dabei, so weit sie können, sich gegenseitig zu unterdrücken trachten […].« 135 TP, Einleitung, § 5, S. 10–13. 132
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Daher muss die sozio-politische Dimension der Einsamkeit und Nächstenliebe bei Spinoza in der Hinsicht erörtert werden, dass die Nächstenliebe nicht als »eine Vorschrift« (ebd.), sondern mit Blick auf »die gemeinsame Natur des Menschen« (ebd.) und auf die mit der Nächstenliebe zusammenhängenden Affekte thematisiert wird. Es handelt sich um eine sowohl politische als auch theoretische Vision von Spinoza, dass die ›Menschenmenge‹ nicht aus »den Lehrsätzen der Vernunft« 136, sondern aus der Freude als dem positiven Signal ihrer eigenen Affekte wie »Edelmut« (E 3, P59, siehe unten) zur politischen Handlung geleitet wird. Dies würde die Lehre der Nächstenliebe der Vernunft fordern, »das Recht des anderen wie das eigene zu verteidigen« (TP, Einleitung, § 5). Die Nächstenliebe bei Spinoza ist deshalb nicht nur als eine religiöse Lehre zu verstehen, sondern als eine Aussage, deren Gültigkeit und Verhältnis zu den menschlichen Affekten anhand der philosophischen Betrachtung erörtert werden kann. Ihre philosophische Grundlage lässt sich einerseits in der Begierde eines vernünftigen Menschen, das gemeinsame Gut für die anderen Menschen zu erstreben (vgl. E 4, P37), andererseits in der ›Menschenliebe‹ 137 finden, die als ein aktiver Affekt von der menschlichen Vernunft abgeleitet werden kann. 138 Während er den Begriff ›Nächstenliebe‹ in Bezug auf seine sozio-politische und religionskritische Bedeutung wiederholt explizit verwendet, 139 geht es in der Ethica hauptsächlich um seine theoretische Definition und nähere Erörterung. In E 3, P59 wird der Affekt des Edelmutes (generositas) vom Selbstvertrauen (animositas; »Seelenstärke« in C. Gebhardts Übersetzung) unterschieden. Der TP, Einleitung, § 6, S. 12–13. Vgl. E 4, Hauptsatz 26, S. 519: »Abgesehen von Menschen kennen wir kein Einzelding in der Natur, an dessen Geist wir uns innerlich erfreuen und mit dem wir uns in Freundschaft oder sonst einer Form von Gemeinsamkeit verbinden können. Was auch immer neben Menschen in der Natur ist, es [unbedingt] zu erhalten, verlangt das Prinzip, unseren eigenen Vorteil zu suchen, mithin nicht. Vielmehr lehrt es uns, es [allein] nach dessen Brauchbarkeit zu erhalten oder auch zu vernichten, anders formuliert, es in beliebiger Weise zu unserem Nutzen zu gebrauchen.« 138 Vgl. die Definition der Liebe als ein aktiver Affekt, der zur Erhaltung und der Förderung vom Gegenstand der Liebe dient: »Liebe ist nichts anderes als Freude unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache und Haß nichts anderes als Trauer unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache. Wir sehen sodann, daß der, der liebt, notwendigerweise strebt, das Ding, das er liebt, gegenwärtig zu haben und zu erhalten, und andererseits der, der haßt, strebt, das Ding, das er haßt, zu beseitigen und zu zerstören.«, E 3, P13S, S. 249; auch vgl. E 3, Definitionen der Affekte (Affectuum Definitiones) 6, S. 343. 139 Vgl. z. B. TTP, Zwanzigstes Kapitel, S. 611: »[…], daß die Treue des einzelnen gegen den Staat ebenso wie seine Treue Gotteinzig an den Werken sich erkennen läßt, nämlich an seiner Nächstenliebe [ex charitate erga proximum] […]«. 136 137
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erste Affekt richtet sich auf die anderen, während der letztere auf sich selbst gerichtet ist. Beide Affekte gehören zur Charakterstärke (Fortitudo; »Thatkraft« bei Gebhardt; ›Mut‹, und ›Tapferkeit‹) und sind deshalb darin gemeinsam, dass sie ihren Gegenstand, seien es die anderen oder sie selbst, nach dem Gebot der Vernunft fördern und weiter erhalten wollen. 140 Die Nächstenliebe scheint ein Ausdruck des Edelmutes zu sein, da sie nicht durch das Mitleid als ein Affekt der Trauer, sondern nach dem Gebot der Vernunft als ein Affekt der Freude hervorgerufen wird. Dabei ist die Grundthese der spinozistischen Affektenlehre zu beachten, dass der Affekt der Freude die Verstärkung der Kraft signalisiert und den Menschen zu seiner Vollkommenheit, also zu mehr Freiheit und Macht führt. 141 Mit dieser Annahme ist die dauerhafte Eintracht unter Menschen zu erwarten, solange die Nächstenliebe jeden beteiligten Menschen mit diesem aktiven Affekt der Freude verstärkt und die Gesellschaft zum einträchtigen Verhältnis weiter fördern kann. 142 Um diese soziale Eintracht hervorzubringen, oder in Spinozas Worten, »um […] Menschen in Liebe zusammenzubringen, ist vor allem Religion und Moralität erforderlich.« 143 Diese soziale Eintracht hervorzubringen, wird jedoch nicht nur durch die Überwindung der Einsamkeit erreicht, sondern überschreitet ebenso das Ver-
»Alle Handlungen, die aus Affekten folgen, die dem Geist zukommen, insofern er einsieht, rechne ich zur Charakterstärke, die ich in Selbstvertrauen [animositas; »Seelenstärke«] und Edelmut [generositas] einteile. Denn unter Selbstvertrauen verstehe ich die Begierde, mit der ein jeder strebt, sein eigenes Sein allein nach dem Gebot der Vernunft zu erhalten, un unter Edelmut die Begierde, mit der ein jeder strebt, andere Menschen allein nach dem Gebot der Vernunft zu unterstützen und mit ihnen ein Band der Freundschaft zu knüpfen. Diejenigen Handlungen also, die nur auf den Vorteil des Handelnden zielen, rechne ich zu Selbstvertrauen und diejenigen, die auch auf den Vorteil eines anderen zielen, zu Edelmut. So sind Selbstbeherrschung, Nüchternheit, Geistesgegenwart in Gefahren usw. Arten von Selbstvertrauen, während Gefälligkeit [modestia; »Bescheidenheit«], Mildtätigkeit [clementia; »Milde«, Nachsicht, Gnade] usw. Arten von Edelmut sind.«, E 3, P59, S. 333. 141 Vgl. E 4, P45S, S. 459: »[…] je mehr wir mit Freude affiziert werden, umso größer ist die Vollkommenheit, zu der wir übergehen, d. h. umso mehr partizipieren wir zwangsläufig an der göttlichen Natur«, 142 Vgl. E 4, Hauptsatz 15, S. 515: »In der Regel ist es so, daß Eintracht auch aus Furcht erwächst, wobei ihr dann aber das Vertrauen fehlt. Hinzu kommt, daß Furcht einer Ohnmacht des Gemüts entspringt und deshalb nicht zur Praxis der Vernunft gehört, nicht anders als Mitleid, mag es auch den Anschein von Moralität für sich haben.« 143 E 4, Hauptsatz 15, S. 513–5, »Was Eintracht hervorbringt, hat im Feld von Gerechtigkeit, Billigkeit und Anständigkeit seinen Ort. Denn nicht nur was ungerecht und unbillig ist, können Menschen kaum ertragen, sondern auch was für unanständig gehalten wird, anders formuliert, was gegen die geltenden Sitten des Gemeinwesens verstößt. Um aber Menschen in Liebe zusammenzubringen, ist vor allem Religion und Moralität erforderlich.« 140
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mögen eines isolierten Menschen144, auch wenn er immer nach der Leitung der Vernunft leben würde. Solange die Gesellschaft aus Menschen besteht, die nicht allein nach der Vernunft, sondern auch nach dem Befehl der Affekte handeln, muss eine zusätzliche sozio-politische Perspektive erwogen werden, um die Eintracht zu sichern. In diesem Sinne muss Spinozas Ethik mit seiner sozio-politischen Perspektive in TTP und TP ergänzt werden. Diese Schwierigkeit hat Spinoza in seiner bereits zitierten Einleitung zu TP diskutiert, die durch die Argumente in TP erklärt werden soll. 145 Es ist also kein Zufall, dass diese zwei sich ergänzenden Dimensionen in Spinozas Überlegung zur Einsamkeit und Nächstenliebe den zwei Aspekten der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption entsprechen. In seiner anfänglichen Phase war Nietzsche über Spinozas Einsamkeit erstaunt, die diesen ›Vorgänger‹ bei seinem Philosophieren nicht behinderte und ihm genau dieses Denken als den Wert seines Leidens zurückgab. 146 Diese Entdeckung bedeutete eine Motivation für ihn dahingehend, dass er trotz seiner Einsamkeit, die daraus hervorging, in seinem Zeitalter nicht verstanden zu werden, sein unzeitgemäßes Denken nicht aufgab, sondern die Einsamkeit selbst philosophisch thematisieren musste. Die philosophische Bedeutung dieser Begegnung wird von Nietzsche als ›die Zweisamkeit‹ aufgefasst, deren sozio-politischer Aspekt sowohl bei der Suche nach dem Gleichgesinnten und als auch bei dem fortbestehenden Moment der souveränen Einsamkeit festgestellt wird. Der religionskritische Aspekt der Einsamkeitsthematik kommt jedoch um 1885 zum Ausdruck, als Nietzsche Spinozas Einsamkeit wegen dessen Gottannahme – zumindest nach Nietzsches Auffassung – als nicht ausreichend konsequent kritisiert hat. Diese Kritik wurde im bereits diskutierten »Chaos sive natura«-Gedanken zwischen 1881 und 1882 sowie im Hinblick auf seine neuen Überlegungen zum Tod Gottes und Schatten Gottes weiter reflektiert. Nun gilt es, auf den zweiten sozio-politischen Aspekt dieser Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption einzugehen. Während Nietzsche in der Einsamkeit die Quelle der individuellen Souveränität findet, sucht Spinoza E 4, Hauptsatz 17, S. 515, »[…] Dieser Aufgabe […]«, »[…] jedem Notleidenden Hilfe zu leisten […]«, »[…] ist der Reichtum eines Privatmanns nämlich bei weitem nicht gewachsen, abgesehen davon, daß das moralische Vermögen eines Einzelnen viel zu beschränkt ist, um mit allen Bande der Freundschaft knüpfen zu können. Die Armenfürsorge obliegt deshalb der ganzen Gesellschaft und ist eine Angelegenheit, in der es allein um den allgemeinen Vorteil geht.« 145 TP, Einleitung, § 5, S. 10–13. 146 Vgl. ›Wert des Leidens vom wissenden Genius‹ in MA I, 157; siehe Abschnitt 3.2. und 5.1. 144
Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit
in der Nächstenliebe und in der Überwindung der Einsamkeit die Möglichkeit der sozialen Eintracht, die ein gerechtes und sicheres politisches System und seine Fortexistenz ermöglichen kann. In diesem Zusammenhang gilt die Einsamkeit (solitudo; ›Einöde‹ 147 in Gebhardts Übersetzung) in Spinozas Denken als eine Bezeichnung der Abwesenheit eines noch näher zu bestimmenden Gemeinwesens. Der bereits zitierte Lehrsatz (E 4, P 73) in der Ethica weist darauf hin, dass das Individuum seine maximale Freiheit nicht in einer Einsamkeit, sondern »in einem Staat, wo er nach einem gemeinsamen Beschluß lebt« 148, erreichen kann. Da nicht jede Staatsform so regiert, dass ihre Bürger nach einem solchen »gemeinsamen Beschluß« (ebd.) leben können, muss Spinozas Aussage eine bestimmte Art der Staatsform(en) voraussetzen. In diesem Kontext lässt sich auch seine Unterscheidung von zwei unterschiedlichen Staaten in TP verstehen. Im fünften Kapitel, ›Vom letzten und höchsten Zweck eines Staates‹, als dem letzten allgemeinen politisch-theoretischen Kapitel vor seiner Analyse der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie in den folgenden Kapiteln schreibt er: »§ 4. Von einem Gemeinwesen, dessen Untertanen nicht zu den Waffen greifen, weil sie durch Furcht eingeschüchtert sind, läßt sich eher sagen, dass es ohne Krieg ist, als daß es sich in einem Zustand des Friedens befindet. Frieden ist nämlich nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern eine Tugend, die einer Stärke des Charakters entspringt; denn Gehorsam ist (nach § 19 des Kapitels II) der beständige Wille, dasjenige auszuführen, was kraft eines gemeinsamen Beschlusses des Gemeinwesens geschehen soll. Überdies kann man ein Gemeinwesen, bei dem der Frieden von der Verzagtheit der Untertanen abhängt, die man wie eine
Auch Nietzsche spricht von der ›Wüste‹, wenn es sich um die Vereinsamung der Starken handelt: »Wüste – Vereinsamung der Starken«, GM, KSA 5, S. 352 f.; bei der Wüste handelt sich um den Topos, der einen Einzelnen entweder zur Selbstüberwindung oder zur unfruchbare Selbststagnierung führt. Vgl. Pieper 1990, S. 168: »Das kostet große Anstrengungen, und nicht jeder vermag in einem solchen dauernden und sich steigernden Spannungszustand zu leben. Wer in die Wüste geht und sich tötet, der sagt nein zum unaufhörlichen Kampf. Er negiert sich selbst – sein Selbst – und entzieht damit den Tugenden ihr Schlachtfeld. Der Akt des Sichtötens ist hier nicht als in einem physischen Sinn zu verstehen, nicht als Entleibung, sondern als Entselbstung; um dem Kampf der Tugenden ein Ende zu setzen, geht das Selbst in die Wüste – bei Nietzsche in der Regel ein Bild für den Nihilismus, für das Neinsagen –, um dort sich selbst zu vernichten. Es hört auf zu wollen, d. h. es will sich nicht mehr verwandeln und höher entwickeln; damit werden auch die Tugenden, die ja ihre Antriebskräfte aus den Leidenschaften des Leibes beziehen, ihres Lebensimpulses beraubt und hören auf, gegeneinander zu kämpften. Wenn das Selbst nichts mehr will, kommt alles zum Stillstand. Ohne Kreativität, ohne das Schaffen des Selbst stagniert das Leben; es entsteht nichts Neues mehr; der Leib wird unfruchtbar – zur Wüste.« 148 E 4, P 73, S. 503. 147
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Herde führt, um sie lediglich zu Sklaven abzurichten, angemessner ›Einöde‹ [solitudo] als ›Gemeinwesen‹ [civitas] nennen.« 149
Hier sei vermerkt, dass Spinoza die bereits in der Ethica verwendeten Termini »Gemeinwesen [civitas]«, »Einsamkeit/Einöde [solitude]«, »den gemeinsamen Beschluss des Gemeinwesens« und »Gehorsam[keit]« im sozio-politischen Kontext in TP weiter verwendet (vgl. E 4, P 73). Zudem schließt er seine Diskussion in der Einleitung von TP explizit an die Ethica an (TP, Einleitung, § 5). Dies zeigt, dass Spinozas Ethica – oder vorsichtiger ausgedrückt, zumindest die Ethica ab ihrem vierten Teil – und Politischer Traktat eine gemeinsame Vision zum menschlichen Leben teilen, die entweder aus der ontologisch-ethischen oder aus der sozio-politischen Perspektive in den jeweiligen Werken einander ergänzend diskutiert wird. Dabei richtet sich seine Kritik an der Einsamkeit in diesem Sinne nicht auf einen oft spekulierten isolierten Menschen in dem illusionären ›Ur-Naturzustand‹, sondern auf das in der Wirklichkeit beobachtbare Menschenverhältnis. Es handelt sich um eine ›Einsamkeit unter der Masse‹, die durch das mangelnde Gemeinwesen aufgrund seines repressiven oder exklusiven Macht- und Kommunikationssystems gekennzeichnet wird und zur praktischen Isolierung eines Individuums von diesem System und von anderen Mitmenschen führt. Spinozas Denken über die Demokratie enthüllt sich bei der Beantwortung der Frage, welchen Staat (imperium) er in seiner politischen Philosophie als das ideale Regime betrachtet. Dass er die Demokratie bei seiner Überlegung zu verschiedenen Gemeinwesen (civitas) für die ideale Staats- und Gesellschaftsform gehalten hat, wird nicht nur in TP und an einigen Stellen des vierten und fünften Kapitels der Ethica deutlich. Zudem wird dies auch in TTP von Spinoza bezeugt, dessen sechzehntes Kapitel einen »democratic turn« 150 bei ihm aufweisen soll. 151 Obwohl das letzte Kapitel von TP über die Demokratie wegen des Todes des Autors unvollendet geblieben ist, wird sein Plädoyer für Demokratie nicht nur im letzten Kapitel von TP, sondern auch in verschiedeTP V, § 4, S. 64–65. Vgl. Smith (1994). 151 Z. B.: TTP, Sechzehntes Kapitel, S. 482–483: »Damit glaube ich die Grundlage einer demokratischen Regierung hinlänglich klar dargelegt zu haben. Ich habe diese lieber als alle anderen behandelt, weil sie, wie mir scheint, die natürlichste ist und der Freiheit, welche die Natur jedem einzelnen gewährt, am nächsten kommt. Denn bei ihr überträgt niemand sein Recht derart auf einen anderen, daß er selbst fortan nicht mehr zu Rate gezogen wird; vielmehr überträgt er es auf die Mehrheit der gesamten Gesellschaft, von der er selbst ein Teil ist. Auf diese Weise bleiben alle gleich, wie sie es vorher im Naturzustand waren. Außerdem habe ich absichtlich nur von dieser Regierungsform handeln wollen, da ich ja vom Nutzen der Freiheit im Staate hatte sprechen wollen.« 149 150
Spinozas Kritik der theologisch-politischen Einsamkeit
nen Bemerkungen über die ›demokratischen Komponenten‹ bei den besseren Formen der Monarchie 152 und der Aristokratie deutlich.153 Abgesehen von der relevanten Frage, ob Spinoza nach dem Vorbild von Polybios (200 v. Chr. – 120 v. Chr.) mit dem Entwurf einer sogenannten ›Mischverfassung‹ den Verfassungskreislauf verhindern wollte, liegt es nahe, dass er mit der Ethica sowie zwei politischen Schriften die Verwirklichung der Demokratie in der realen Politik thematisiert hat. 154 So weisen die demokratischen Komponenten, die nicht nur den Verfall der Monarchie und der Aristokratie zum Despotismus und zur Oligarchie verhindern, sondern auch mehr Freiheit für die Bürger und mehr Sicherheit für den Staat erlauben, auf den realistischen Charakter von Spinozas politischer Vision in seiner Philosophie hin. Dementsprechend werden die Termini ›Demokratie‹ und ›demokratisch‹ bei ihm sehr umfangreich verstanden, da Spinoza nicht nur in seiner radikalen Vision über das noch nicht erreichte Ideal der Demokratie, sondern in den bereits existierenden Staatsformen die Maximalisierung der menschlichen Freiheit gesucht hat. Am deutlichsten zeigen sich die demokratischen Züge in TP im fünften Kapitel des Traktates, ›Vom letzten und höchsten Zweck eines Staates‹. Wie es in § 2 dieses Kapitels erklärt wird, hängt Spinozas Diskussion über die beste
Vgl. TP, VII, Rechtfertigung der Grundlage der Monarchie, § 5, S. 100–101: »[…] demgegenüber besteht der Vorzug des demokratischen Staates gerade darin, daß sein Wert weit mehr im Frieden als im Krieg zur Geltung kommt.«; Vgl. auch § 11, S. 104–107: »Der König wird also, sei es aus Furcht vor der Menge, sei es um die Mehrheit des bewaffneten Volkes an sich zu binden, sei es um aus Großmut für das öffentliche Wohl zu sorgen, immer diejenige Ansicht bestätigen, die die meisten Stimmen auf sich vereinigt haben wird, d. h. […] die für die Mehrheit der Bürger des Staates die vorteilhaftere ist […] so wird er um so mehr unter eigenem Recht stehen und die Herrschaft um so mehr innehaben, je mehr er für das allgemeine Wohl der Menge Sorge trägt.« 153 Vgl. TP, VIII, Grundlage der Aristokratie einer Stadt, § 1, S. 134–135: »[…] darin besteht der Hauptunterschied zwischen dieser [aristokratischen: J. Y.] und der demokratischen Regierungsform [imperium], daß im aristokratischen Staat das Recht zu regieren allein von einer Wahl [im Sinne der Kooptation] abhängt, in einem demokratischen dagegen in erster Linie von einem sozusagen abgeborenen oder durch günstiges Geschick erworbenen Recht […] Selbst wenn in einem Staat das gesammte Volk zu dem Stand der Patrizier Zugang hat, wird, solange jenes Recht nicht erblich und durch irgendein allgemeines Gesetz auf andere übertragbar ist, der Staat im Prinzip doch ein aristokratischer bleiben […].«; Vgl. auch § 9, S. 144–147: »Denn da die Untertanen [im aristokratischen Staat; J. Y.] von Beratungen und Abstimmungen ausgeschlossen sind, haben sie als ›Fremde‹ [peregrini; ›Nichtbürger‹] zu gelten […].«; vgl. auch § 14, § 20, § 23, § 25, § 31, § 41. Die Aristokratie mehrerer Städte ist jedoch besser als die Aristokratie einer Stadt. Vgl. dazu TP, IX, § 14, S. 202–205. 154 Vgl. Smith (2005). 152
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Form eines Staates vom Zweck eines Staats ab, den er als »Frieden« 155 und »Sicherheit des Lebens« (ebd.) für die Bürger bezeichnet hat. So verwendet er den Begriff ›der Staat‹ (imperium) in diesem Kontext nicht als einen allgemeinen Terminus, sondern als eine Bezeichnung für die ideale Staatsform. Ein solcher idealer Staat ist derjenige, den »eine freie Menge [multitudo libera] eingerichtet hat« 156, nicht einer, »den man sich über eine [besiegte] Bevölkerung [multitudo] durch Kriegsrecht verschafft« (ebd.). Dabei erklärt Spinoza die Menge (multitudo) oder die Masse (turba) an sich weder zu einer positiven noch negativen politischen Macht. Wichtig ist, dass diese Menge »frei« (ebd.) sein soll bzw. so werden kann, um einen derartigen idealen Staat einrichten zu können. So unterscheidet Spinoza zwei Arten der Menge: »Eine freie Menge wird nämlich mehr von Hoffnung als von Furcht, eine unterworfene hingegen mehr von Furcht als von Hoffnung geleitet; jene ist darauf aus, das Leben zu gestalten, diese nur, dem Tod zu entrinnen; jene […] ist darauf aus, eigenständig zu leben, diese wird gezwungen, dem Sieger untertan zu sein; diese heißt deshalb versklavt, jene frei.« 157
Diesen idealen Zustand der freien Menge, dessen Staat jenen letzten Zweck des Friedens und der Sicherheit erreicht, beschreibt Spinoza als »das Leben in Eintracht« (ebd.). Es sei daran erinnert, dass es sich um dasselbe Ziel wie in seiner Ethica handelt: Das hat Goethe besonders beeindruckt, wie es auch in Nietzsches erstem Spinoza-Kommentar reflektiert wurde 158. In diesem Zusammenhang scheint die Interpretation plausibel, dass das Ziel bei Spinoza nur dann vollkommen erreichbar ist, wenn es auf der Ebene der individuellen Ethik und der sozio-politischen Strukturbildung zugleich erstrebt wird. Auch wenn die Politik nicht direkt von der Vernunft des Menschen abgeleitet und erklärt werden kann (vgl. TP, Einleitung, § 5 – § 7), hat die Vernunft immer noch die Aufgabe, die reale Staatsform nach dem Kriterium der Freiheit aus der Ethica und dem der Sicherheit aus TP kritisch zu reflektieren und zu verbessern. Nach Spinoza sind »Macht [potentia] und Bildung [cultus, Kultur]« dafür verantwortlich, warum Menschen zur ›Sklavenmoral‹ irregeleitet werden. 159 Solange Spinozas »freie Menge« (TP, V, § 6) als die Gruppe der Einzelnen definiert wird, die »das Leben zu gestalten« (ebd.) und »eigenständig zu leben« (ebd.) vermögen, braucht diese politische Vision die Ergänzung durch die 155 156 157 158 159
TP, V, Vom letzten und höchsten Zweck eines Staates, § 2, S. 62–63. TP, V, § 6, S. 64–65. TP, V, § 6, S. 64–67. Siehe Kap. 3. TP, VII, § 27, S. 124–125.
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Ethik, die die Freiheit des Individuums thematisiert. Genauso muss das individuelle Leben durch die Verbesserung der sozio-politischen Umstände unterstützt werden, um sein Können und seine Freiheit zum Maximum zu verwirklichen, selbst wenn das von der Vernunft geleitete Leben nach dem Geist der Ethica in der ungünstigen Außenbedingung auf der eng verstandenen individuellen Ebene möglich wäre. Diese hohe Stufe der individuellen Freiheit bei Spinoza ist nicht in der Einsamkeit, sondern nur in der solidarischen Struktur möglich, die im Verlauf der Zeit als das Ideal der Brüderlichkeit bzw. der Solidarität (fraternité) in der Französischen Revolution auftreten wird. 160 So schreibt Spinoza der Nächstenliebe eine sozio-politische Funktion zu: »[…], daß die höchste Form der Nächstenliebe diejenige ist, die darauf bedacht ist, Frieden zu sichern und Eintracht zu stiften, [so dass jeder nach dieser Pflicht: J. Y.] […] jedem so viel Beistand leistet, wie es die Rechtsgesetzte des Gemeinwesens, die an Eintracht und ruhigem Leben orientiert sind, zulassen.« 161
Der Anspruch Spinozas auf Totalität, der sowohl Goethe als auch Nietzsche beeindruckt hat, scheint eine ausdrücklich sozio-politische Bedeutung zu haben. Mit einem totalen Verhältnis und Verständnis ist gemeint, dass nicht nur alle Kräfte und Fähigkeiten eines Menschen völlig entfaltet werden sollten, sondern auch, dass ein Gemeinwesen entworfen und realisiert werden soll, welches das einträchtige Leben zwischen unterschiedlich gesinnten Menschen in Frieden ermöglichen kann. Spinozas Optimismus, dass der Mensch das Leben nach dem Gebot der Vernunft (Ethica) und die Organisation des angemessenen Staates zu einer derartigen Eintracht (TTP und TP) führen kann, lässt sich auch bei seiner Überlegung zur sozio-politischen Überwindung der Einsamkeit (solitudo) in der idealen Staatsform – der Demokratie – erkennen. Zwar hat Nietzsche diesen Anspruch auf Totalität oder die Suche ›nach dem ganzen Leben‹ bei Goethe und Spinoza positiv bewertet. Jedoch nimmt er zugleich eine distanzierende Position zu ihnen ein, da er dabei die Aspekte des Konflikts und Kampfes in seiner Auffassung des ganzen Lebens stärker begreifen möchte. Dieser neue Ansatz von Nietzsche wird einerseits unter den Gedanken über das Dionysische, des Chaos und der produktiven und spielerischen Agonalität weiterentwickelt. In diesem Kontext haben seine unterschiedliche theoretische Behandlung und Bewertung der Einsamkeit von Spinozas Position eine wichtige Konsequenz in seinem Denken. Denn die Einsamkeit ist bei Nietzsche nicht etwas, das zugunsten der Harmonie und der Zu Spinozas Rolle für die Aufklärung siehe Israel 2002 und Israel 2008. Vgl. auch Moreau 1994b. 161 TP, III. Von dem Recht des Staates, § 10, S. 44–45. 160
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Gemeinschaftsbildung überwunden werden soll, da sie im Leben des Individuums Aspekte des Konflikts und der Agonalität beinhalten kann. Der einsame Kampf eines Individuums – oder der souveränen Individuen –, das zu werden, was man ist, lässt sich in diesem Kontext als die Spannung der Selbstüberwindung verstehen, die Nietzsche besonders angesichts der ›vermassenden Tendenz der Moderne‹ aufheben wollte, wie im nächsten Abschnitt weiter erörtert wird.
5.4 Gesellschaftliche Isolation oder Quelle der Souveränität? Der sozio-politische Aspekt der Einsamkeitsthematik in Nietzsches Spinoza-Rezeption 5.4.1 Fischer zum Verhältnis der individuellen Ethik und der politischen Philosophie in Spinozas Denken
Die letzte Betrachtung über die philosophische Bedeutung der Einsamkeit (solitudo) in Spinozas Philosophie hat gezeigt, dass das Erzielen und die Verstärkung der menschlichen Freiheit eng mit der Überwindung der Begrenztheit des Einzelnen im individuell-ethischen und sozio-politischen Sinne zusammenhängt. Hier zeigt sich eine weitere Forschungslücke. Die Forschung hat bislang in Bezug auf Nietzsches Spinoza-Rezeption fast ausschließlich die auf die Individualethik reduzierte Dimension von Spinozas Denken berücksichtigt 162, obwohl die meisten Themen in der Ethica und anderen Hauptwerken Spinozas eigentlich dazu dienen zu zeigen, dass die Ermöglichung der individuellen Freiheit von der Verbesserung des sozialen und politischen Systems nicht getrennt gedacht werden kann. Zwar hat ein direkter Vergleich beider Denker im Hinblick auf ihre philosophische Behandlung der Einsamkeit und deren Implikation für ihre politische Auffassung große Bedeutung für die aktuelle Debatte, die ihr unterschiedliches Denken über die Demokratie besser kontextualisieren will. Dennoch gilt es, zunächst eine andere Frage zu beantworten, die in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht noch eine wichtige Rolle spielt: Ob und inwieweit hat Nietzsche von dieser politischen Implikation der Philosophie Spinozas gewusst? Angesichts dieser Frage bietet Kuno Fischers ›Spinozaband‹, oder Spinozas Leben, Werke und Lehre. 2. Bd, Geschichte der neuern Philosophie (1865), der
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Eine Ausnahme ist Gawoll (2001).
Gesellschaftliche Isolation oder Quelle der Souveränität?
Nietzsches Begeisterung für Spinoza ab 1881 begleitet hat 163, wichtige Hinweise. Treffend schreibt Fischer z. B. über die politische Bedeutung der Einsamkeit (solitudo) in Spinozas Philosophie: »Um die Vernunft auch in Anderen zu fördern, findet diese Privattugend einen günstigeren Schauplatz im Staat, als in der Einsamkeit.« 164 An anderer Stelle beschreibt er im selben Geist Spinozas Philosophie hinsichtlich der Notwendigkeit, eine gesellschaftliche Grundlage für den individuellen Rechtsschutz zu sichern: »Darum kann ein wirkliches Naturrecht nicht in dem isolierten oder vereinzelten Individuum, sondern allein in der Gesellschaft stattfinden, und diese muß daher als der einzig mögliche und gültige Rechtszustand betrachtet werden.« 165 Fischers Spinoza-Interpretation scheint, zumindest in dieser Hinsicht, den Nexus des spinozistischen Denkens über die individuelle und sozial-politische Lebensgestaltung richtig zu begreifen, indem er das thematisch-inhaltliche und entstehungsgeschichtliche Verhältnis zwischen der Ethica und TP klar zum Ausdruck bringt, wie er in Bezug auf das »Verhältnis der Ethik zum Politischen Traktat« (S. 388) schreibt. 166 Angesichts der häufigen und bemerkenswerten Kommentare Fischers über Spinozas theoretische Behandlung der Einsamkeit lässt sich vermuten, dass Nietzsche nicht nur die persönliche Dimension der Einsamkeit Spinozas aufgrund seiner Verbannung aus der jüdischen Gemeinde und des politischen Drucks auf dessen radikales Denken,
Siehe Abs. 1.4. und Kap. 2. Fischer (1865), S. 531. 165 A. a. O., S. 402. 166 »Der politische Tractat ist nicht bloß auf die Ethik gefolgt, sondern aus ihr hervorgegangen und insbesondere bedingt durch deren zweiten und dritten Theil: die Lehre vom menschlichen Geist und von den Affecten. Der Zusammenhang ist hier in der That so klar, daß er unverkennbar einleuchtet. […] Denn die Ethik und der politische Tractat stützen sich gegenseitig und weisen unmittelbar auf einander hin. In der Schlußabhandlung des zweiten Theils der Ethik wird ausdrücklich gesagt, daß die hier entwickelte Lehre von der Natur des menschlichen Geistes dem geselligen Menschenleben und der Politik förderlich sei, indem sie zeige, wie die Menschen sich gesellig zu einander verhalten und wie sie regiert werden müssen [Anm.: Eth. II. Prop. XLIX. Schol. Op. II. pg. 129 (II. III.)]. Die Einleitung aber in den dritten Theil der Ethik, der die Affecte behandelt, stimmt mit der Einleitung des politischen Traktats darin völlig überein, daß beide ganz in derselben Weise die Nothwendigkeit und den Werth der Leidenschaften hervorheben. Dort heißt es: ohne diese Einsicht ist keine Sittenlehre möglich. Hier heißt es: ohne diese Einsicht ist keine Staatslehre möglich [Anm.: Eth. III. Praef. = Tract. polit. Introd. Cp. I. § 1–4. Vgl. oben voriges Capitel Seite 349–50]. Der politische Tractat stützt sich unmittelbar auf die Lehre von den Affecten und beruft sich in dieser Rücksicht ausdrücklich auf die Ethik, die er voraussetzt [Anm. Tract. pol. Op. I. § 5].« Fischer (1865), S. 388–389. 163 164
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sondern auch die theoretische Bedeutung der Einsamkeit in dessen Denken zur Kenntnis genommen hat. Zudem ist auffällig, dass Fischer an der oben genannten Stelle den spinozistischen politischen Entwurf der machiavellischen Politik entgegenstellt, der nicht auf der »Einmüthig(keit)« 167 wie bei Spinoza, sondern auf der »kriegerisch errungene[n] Herrschaft« (ebd.) beruht. Hier fällt der Kontrast zwischen dem einträchtigen und agonalen Weltverständnis auf, das Nietzsche selbst im Hinblick auf seine frühere Spinoza-Rezeption durch die Goethelektüre thematisierte. Eine derartige Gegenüberstellung von Spinozas einträchtigem Naturbild und dem agonalen Bild Machiavellis als ihrer jeweiligen Grundlage der Politik bei Fischer erscheint besonders deutlich, wenn die weiteren Stellen aus seinem Spinoza-Band und aus Nietzsches letzten Schaffensjahren (1887–1888) berücksichtigt werden. Fischer unternimmt einen weiteren Vergleich zwischen drei Denkern der Politik: Spinoza, Hobbes und Machiavelli. Machiavelli wird dabei von Fischer als der Gründer der realistischen Politikauffassung dargestellt. Zu Machiavelli: »Der Begründer der reinen Politik, der den Staat als weltliche Macht auffasst, aus den Bedingungen des wirklichen Lebens begreift und aus rein menschlichen Factoren berechnet, ist Macchiavelli […]« 168 Zu Hobbes: »Der Begründer der naturalistischen Politik, der den weltlichen Staat aus Naturgesetzen ableitet und den macchiavellistischen Gedanken der absoluten Fürstengewalt gleichsam physikalisch beweist, ist Hobbes, der entschiedenste Gegner aller religiösen und moralischen Staatsbegriffe, die er dem rein monarchischen unterordnet.« (ebd.) Und schließlich zu Spinoza: »Endlich die mechanische Staatslehre, die nothwendig aus der physikalisch oder naturalistisch gefassten Grundlage der Politik hervorgeht, findet ihren Typus in Spinoza.« (ebd.) Wichtig scheint sein Resümee dazu: »Macchiavelli erklärt den Staat aus der Geschichte; Hobbes und Spinoza aus der Natur, aber mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass jener nicht vermochte, den wirklichen gesetzmäßigen Staat aus der Natur abzuleiten, denn das Staatsgesetz fällt ihm zusammen mit der gesetzlosen Willkür des Fürsten; während Spinoza gerade darauf bedacht ist, dem politischen Menschenleben die gleichförmige und ausnahmslose Gesetzmäßigkeit der Natur einzubilden. […] Macchiavelli verhält sich zum Staat als Politiker, Hobbes als Physiker, Spinoza als Mechaniker.« (ebd.)
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A. a. O., S. 414 f. A. a. O., S. 392–393.
Gesellschaftliche Isolation oder Quelle der Souveränität?
Dies weist zusammen mit anderen genannten Stellen darauf hin, dass Nietzsche durch seine Fischer-Lektüre nicht nur Spinozas Ethik gekannt, sondern auch um ihre politische Implikation gewusst hat. Darüber hinaus waren ihm die Vergleichbarkeit sowie die Differenzen der Philosophine von Spinoza, Machiavelli und Hobbes bewusst. Nun stellt sich die Frage, ob Nietzsche nicht nur von Spinozas politischer Auffassung, sondern auch von seinen demokratischen Zügen gewusst hat. Dazu gibt Fischers Spinoza-Band einen weiteren wichtigen Hinweis. Obwohl die bisherige Rezeptionsforschung hauptsächlich Fischers Diskussion über Spinozas Ethica kommentiert hat, gibt dieser in seinem Werk auch eine ausführliche Darstellung über Spinozas politisches Denken, das in TTP und TP ausführlich expliziert wurde und im engen Verhältnis zur Ethica stehen. 169 In diesem Kontext sei auf Fischers ausführliche Erörterung von Spinozas Thesen und Argumenten für sein Plädoyer für die Demokratie hingewiesen. Auf S. 412 schreibt er über Spinozas Erläuterung zu »d[en] rechtsmäßigen Staatsformen« 170: »Die Regierung des Volks bildet die Demokratie, die Regierung des Patriciats bildet die Aristokratie, die des Fürsten die Monarchie. […] in der Demokratie ist die Staatsmacht dem Wechsel der Personen ausgesetzt und darum die Rechtsordnung den fortwährenden Störungen und Bewegungen der Parteien preisgegeben […]« (ebd.)
Anschließend beschreibt er, wie die Demokratie bei Spinoza der »Natur der Verhältnisse« (S. 413) gemäß »das Gemeinwohl« für alle beteiligten Individuen vertreten soll. 171 Warum gilt diese demokratische Staatsform als die ideale für die Maximierung des individuellen Rechts – oder der individuellen Macht (und Freiheit)? Dazu schreibt Fischer:
Vgl. a. a. O., 1865, S. 388. A. a. O., S. 412. 171 Fischer versteht jedoch unter Spinozas Demokratie eine »demokratische Monarchie«, die wegen ihrer unrealistischen Prämisse nicht ernst genommen werden soll: »Spinoza sucht eine demokratische Monarchie zu entwerfen, die weniger durch geschriebene Gesetze, als durch die Natur der Verhältnisse selbst jedes andere Interesse als das Gemeinwohl ausschließt, und indem er dabei von den geschichtlich gegebenen Unterschieden der Gesellschaft, von den Rechten der Stände und des Eigenthums vollkommen absieht, so kann kein Entwurf der Monarchie nicht als ein ernstlicher, politischer Plan, sondern nur als ein Versuch gelten, den Rechtsmechanismus des Staates in monarchischer Form darzustellen.«, a. a. O., S. 413. 169 170
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»Der naturgemäße Staat ist der beste. Da nun Naturrecht und Macht identisch sind, so ist der beste Staat der mächtigste, und da die Macht um so größer ist, je mehr sie Kräfte in sich vereinigt, so ist der mächtigste Staat der einmüthigste. Einmüthig aber sind die Menschen nur in der Vernunft, darum ist derjenige Staat der beste, der von dem vernünftigen und einmüthigen Seite Aller gelenkt wird (Anm. Tract. pol. Cap. III. § 7.) Das ist nur möglich, wenn die Regierung von einem freien Volke eingerichtet und durch friedliche Uebereinstimmung erhalten wird, während die kriegerisch errungene Herrschaft eine macchiavellistische Politik bedarf, um sich zu behaupten (Anm. Ebendaselbst. Cap. V. § 6). Darum ist die beste Staatsform die demokratische, die den naturrechtlichen Zustand der Menschen sichert und die politische Aufgabe vollkommen löst, indem sie das natürliche Leben in das bürgerliche verwandelt und die Gleichung zu Stande bringt zwischen dem status naturalis und dem status civilis.« (Fischer 1865, S. 414–415)
Anzumerken ist hier, dass der Kontrast zwischen der machiavellischen und der spinozistischen Politik in Fischers Erörterung besonders stark herausgestellt wurde. Der Kontrast wird auch in einem der letzten Hinweise auf Nietzsches Spinoza-Rezeption deutlich, wie es im nächsten Abschnitt im Hinblick auf Nietzsches Behandlung der Einsamkeitsthematik und seinen Entwurf über ›ein[en] tractatus politicus‹ weiter erläutert wird. 5.4.2 Die Politik der Einsamkeit und die Demokratie bei Nietzsche und Spinoza
Im Herbst 1887 schreibt Nietzsche eine kurze Notiz über »ein tractatus politicus«: »Wie man der Tugend zur Herrschaft verhilft. / Ein tractatus politicus. / Von Friedrich Nietzsche.« 172 In den folgenden Monaten verfasst er einen ausführlicheren Vorredeentwurf für diesen »tractatus politicus« (November 1887 – März 1888), der neben dem Untertitel »ein tractatus politicus« den Titel »Von der Herrschaft der Tugend. Wie man der Tugend zur Herrschaft verhilft« trägt. 173 Unabhängig von den noch zu klärenden philologischen Umständen dieses Entwurfs macht ein Vergleich zwischen Nietzsche und Spinoza angesichts ihrer sozio-politischen Voraussetzung und Perspektive deutlich, welche Konsequenz ihre unterschiedliche Auffassung zur menschlichen Einsamkeit für ihre politische Philosophie hatte. Nun stellt sich die Frage, ob der gleichnamige Titel dieses Entwurfs auf Nietzsches Anspielung auf Spinozas Tractatus politicus (TP) oder sogar auf
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NL 10[14], Herbst 1887, KSA 12, S. 461. NL 11[54], November 1887 – März 1888, KSA 13, S. 25–27.
Gesellschaftliche Isolation oder Quelle der Souveränität?
seine Auseinandersetzung mit diesem letzten Werk von Spinoza hinweisen kann 174, der in Fischers Band ausführlich behandelt wurde. Zwar entstanden beide Notizen in einer für Nietzsches Spinoza-Rezeption wichtigen Zeit zwischen 1887 und 1888, als er seine Auseinandersetzung mit Spinoza sowohl in JGB, GM und anderen publizierten Schriften als auch in nachgelassenen Arbeitsplanungen intensiv fortgesetzt hat. 175 Jedoch lässt sich kein endgültiges Urteil darüber fällen, ob er mit diesem zukünftigen Werk Anspielungen auf Spinozas politische Theorie machen wollte. Denn der Entwurf wurde in Nietzsches letzten Schaffensjahren in einer abgeschlossenen Form nicht realisiert. Angesichts dieser Umstände scheint es sinnvoller, bei jenen zwei ›politischen Traktaten‹ von Spinoza und Nietzsche die philosophische Konsequenz von Nietzsches Spinoza-Rezeption herauszuarbeiten, anstatt sie voreilig als einen philologischen Beweis für diese Rezeption einzustufen. In dieser Hinsicht muss das Verhältnis zwischen beiden politischen Traktaten vor allem nach dem Standpunkt, den behandelten Themen und ihrer Implikation für die ethische und politische Praxis erörtert werden, um den inhaltlichen Vergleich zu rechtfertigen. 176 In diesem Hinblick scheint die thematische Ähnlichkeit bei beiden ›tractatus politicus‹ besonders interessant: Sowohl bei Nietzsche als auch bei Spinoza steht ein enges Verhältnis zwischen der Ethik und der Politik im Vordergrund. Vgl. Gawoll (2001), S. 50–51, Anm. 13: »Aus welcher Quelle Nietzsches Kenntnis der lateinischen Fassung des Zitates aus dem Tractatus Politicus stammt, konnte von mir bislang nicht nachgewiesen werden. Dieses Zitat stammt nicht aus Nietzsches sonstiger Quelle zu Spinoza, dem Buch Kuno Fischers, das lediglich die deutsche Übersetzung enthält (vgl. Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 1, a. a.O., S. 277). Hier wäre sogar danach zu fragen, ob die Bezugnahme auf den Tractatus Politicus einen Hinweis darauf gibt, daß Nietzsche zumindest ein Werk Spinozas direkt zu Rate gezogen hat. Auf jeden Fall wirkte der spinozianische Titel auf Nietzsche seit dem Herbst 1887 so inspirierend nach, daß er einem geplanten Buch ›Wie man der Tugend zur Herrschaft verhilft‹ den Untertitel ›Ein tractatus politicus‹ gab. […] Die hier zu behandelnde Thematik beschreibt Nietzsche in dem Entwurf zu einer Vorrede, die er 1888 konzipiert hat: ›Dieser tractatus politicus ist nicht für Jedermanns Ohren: er handelt von der Politik der Tugend, von ihren Mitteln und Wegen zur Macht.‹ (KSA 13, NL 11[54]).«, Gawoll (2001), S. 50–51, Anm. 13. Hinsichtlich der hier diskutierten Stelle »Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere!« aus TP, die Nietzsche mehrmals zitiert, habe ich jedoch bereits im Abschnitt 1.3.2. auf die frühere, zweite Ausgabe von 1865, die ich in meiner Arbeit verwende und zitiere, zurückführen können. 175 Im nächsten und abschließenden Kapitel (Kap. 6) wird insbesondere in Bezug auf den Lenzer-Heide-Entwurf (1887) und andere Notizen aus dieser Zeit diskutiert. 176 Dabei ist zu beachten, dass einige Aspekte von Spinozas philosophischem Denken aufgrund der unvollendeten Natur von TP insbesondere in Bezug auf seine Position über die Demokratie trotz der bereits erwähnten Argumente in TTP und in der vorangegangenen Teilen der TP (siehe Abschnitt 5.3.6) nur unvollständig geklärt werden können. 174
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Dies kommt bei Nietzsche sowohl im Titel dieses Entwurfs, »Wie man der Tugend zur Herrschaft verhilft«, als auch in dessen Argumenten zum Ausdruck. Ein näherer Vergleich weist jedoch auf einen starken Kontrast zwischen beiden Denkern bezüglich der Frage hin, ob und in welchem Verhältnis die individuelle Tugend (virtus) oder die Macht des Individuums mit der soziopolitischen Struktur in Einklang gebracht werden kann. Obwohl sie einen vergleichbaren Totalitätsanspruch in ihrer anthropologischen Überlegung aufzeigen, führt die optimistische Annahme von Spinoza, dass das Gute für die Gesellschaft auch für einen einzelnen Menschen als das Gute erscheinen soll, solange dieser Mensch nach dem Befehl der Vernunft urteilt, zu Nietzsches Distanzierung in seiner politischen Überlegung. Spinozas Gegenüberstellung der Einsamkeit und des idealen einträchtigen Gemeinwesens lässt sich nicht mit Nietzsches Denken der Agonalität und der souveränen Einsamkeit ohne Kompromiss vereinbaren. Am prägnantesten zeigt sich die Differenz in ihrer unterschiedlichen Bewertung der Demokratie. Abgesehen von der dringenden Frage, ob und inwieweit Nietzsches Demokratiekritik 177 angesichts der sich ständig änderende Definition und den dementsprechend unterschiedlich wahrgenommenen Kernelementen der Demokratie uns noch inspirieren kann, lässt sich ein deutlicher Kontrast zwischen Spinoza und Nietzsche bezüglich ihrer Demokratieauffassung feststellen. Während Spinoza in demokratischer Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung durch die organisierte Überwindung der individuellen Begrenztheit und den Kampf gegen die Entpolitisierung des Individuums die Maximalisierung der Freiheit des Menschen erhofft hat, sucht Nietzsche genau dieses Ideal im Kampf des souveränen Einzelnen gegen die angleichende und vermassende Tendenz, die sowohl bei der politischen Vergöttlichung des Staates 178 als auch bei der damaligen ›demokratischen‹ Bewegung festzustellen sei. Die Differenz ergibt sich aus ihren zu unterscheidenden Denkansätzen und Leitmotiven – dem Totalitätsanspruch, der Überlegung zur Eintracht und zum Konflikt und Chaos, der anthropologischen Beobachtung in Form des Optimismus, des Pessimismus und des Dionysischen und schließlich ihrer unterschiedlichen philosophischen Auffassung der Einsamkeit. Während Spinoza angesichts seines politischen Ideals die demokratische Gemeinwesens- und Staatsbildung den partizipatorischen Aspekt der DemoVgl. NL 26[434], Sommer – Herbst 1884, KSA 11, S. 267: »Demokratie ist die VerfallsForm des Staates.«; vgl. ›Nietzsche und das Problem der Politik‹ in Reckermann 2003, S. 233 f. 178 Vgl. ZA, I, Vom neuen Götzen, KSA 4, S. 61 f. Insbesondere: »Staat, wo Alle sich verlieren, Gute und Schlimme: Staat wo der langsamer Selbstmord Aller – ›das Leben‹ heisst.«, S. 62. 177
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kratie betont hat, genauer die Tatsache, dass dieses System nur durch den Zusammenschluss von einzelnen freien und vernünftigen Individuen ermöglicht wird, unterstreicht Nietzsche in seinem geplanten politischen Traktat einen exklusiven Gestus, indem seine politische Überlegung primär für die über- oder außermoralischen Menschen, also nicht für »Jedermanns Ohren« (NL 11[54]) bestimmt sein soll. Zwar kannte auch Spinoza Mangel und Vorurteile gegenüber der sogenannten ›gemeinen Menschen‹ gut genug; er wusste, was zu einem Hindernis für eine ideale, von der Vernunft geleitete Gemeinwesensbildung werden kann. Das hatte er nicht nur in der Theorie verstanden, sondern auch in der politischen Wirklichkeit miterlebt. Es sei nur an den grausamen Tod der republikanischen de Witt Brüder durch die Gewalt der Volksmenge 1672 erinnert, der Spinoza zutiefst erschreckt hatte. 179 Dieses politische Ereignis zwischen der republikanischen Partei und den Verbündeten des Hauses Oranien in den Vereinigten Niederlanden führte Spinoza jedoch zu seiner anschließenden philosophischen Auseinandersetzung mit dem Rätsel, warum die Volksmenge (turba) »für ihre Knechtschaft (servitium)« 180 und gegen ihr eigenes Interesse kämpft, das nach ihm die Republikaner wie der Staatsmann Johann de Witt vertrat. Diese Situation hat für Spinoza nicht zum Verdruss über die ›schlechte, böse Natur des Menschen‹ geführt, wie dies oft bei moralistischen Denkern der Fall ist, sondern sie hat ihn zur objektiven anthropologischen Beobachtung und Analyse des Menschen motiviert, um die Gründe und Problemstruktur der scheinbar unverständlichen und häufig unvernünftigen Handlungen zu Vgl. van Bunge 2010, S. 30–32: »Spinoza scheint den niederländischen Republikanismus gut gekannt zu haben. So korrespondierte er mit Lambert van Velthuysen und bezieht sich im Tractatus politicus zustimmend auf die Brüder de la Court, während er ansonsten kaum zeitgenössische Autoren zitiert. Und den Erzvater des frühneuzeitlichen Republikanismus, den gefürchteten Machiavelli, nennt er ›acutissimus Florentinus‹, den sehr scharfsinnigen Florentiner, was angesichts des allgemeinen Widerwillens, den Machiavellis politischer Realismus erregte, von einem gewissen Mut zeugt. Unmerklich sind wir damit wieder an unseren Ausgangspunkt zurückgekehrt, denn für Machiavelli waren natürlich das klassische Rom und seine Historiker der Maßstab schlechthin: Mit Livius und Tacitus teilte er die Faszination für die Republik, an Spinoza gab er ihren Realismus weiter. Auch Spinoza ging es nicht so sehr darum, die Menschen in normgerechtem Handeln zu unterrichten, ihm war es wichtiger überhaupt zu verstehen, wie sie sich in Wirklichkeit verhalten.«; zum Realismus bei Spinoza und Machiavelli vgl. Moreau 1994a, S. 73–74. 180 TTP, Vorrede, S. 8–11: »Aber mag es auch das letzte Geheimnis einer monarchischen Regierung bleiben und völlig in ihrem Interesse liegen, die Menschen in der Täuschung zu erhalten, und die Furcht, durch die sie im Zaum gehalten werden sollen, unter dem schönen Namen Religion zu verbergen, damit sie für ihre Knechtschaft (servitio) kämpften, als sei es für ihr Heil […].« 179
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erklären. Der kritische Geist Spinozas lässt sich in seinem berühmten Motto »humanas actiones non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere (›menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen‹)« 181 in der Vorrede von TP wiedererkennen. Eine pauschalisierende Kritik an der ›bösen‹ oder ›schlechten‹ Menschennatur bei den explizit aufklärerisch gesinnten Denkern wird bei ihm daher schwer zu finden sein. Denn sie betrachtet diese Natur nur als »Fehler« (ebd.), ohne sie erklären zu wollen. Die Positivität der menschlichen Beschränktheit hängt nach Spinoza jedoch sowohl mit der Begrenztheit des Sinnes- und Reflexionsvermögens als auch der des individuellen Lebenshorizonts der Menschen zusammen, die überwunden werden kann. In dieser Hinsicht stellt sie für ihn kein unmögliches Hindernis für die Verwirklichung der menschlichen Freiheit dar, sondern verlangt ein ethisches und sozio-politisches ›Streben‹ (conatus), das in der Überwindung der individuellen Isolation und in der Etablierung der demokratischen sozio-politischen Struktur besteht. Bei diesem jedoch indirekt bzw. auf subtile Weise aufklärerischen Projekt Spinozas ist zu betonen, dass sich die individuelle Tugend (virtus) des Menschen von dessen sozio-politischer Leistung, seine Isolation durch einen gerechten und funktionierenden sozialen Strukturbau zu überwinden, nicht trennen lässt, wie Fischer richtig beobachtet hat. 182 Die individuelle Tugend oder Kraft (potentia) wird dann maximiert, wenn die Gesellschaft einem Individuum die günstige Bedingung zugesteht, seine Tugend durch möglichst viele Affektionen mit anderen Menschen zu verstärken. Gleichzeitig verwendet Spinoza dies als ein Argument für die Demokratie. Da sie von freien Menschen geleitet wird und keine Beschränkung in ihrer Macht mehr hat, kann sie mehr Macht als andere Staatsformen – wie die Aristokratie 183 – ausüben. 184 TP I, § 4, Einleitung, § 4, S. 11. Vgl. Fischer, S. 388; Auch siehe Abs. 5.3. und 5.4. 183 Der aristokratische Staat besitzt weniger Regierungsgewalt als der demokratische Staat, da »die Menge den Herrschenden Furcht einflößt und dadurch eine gewisse Freiheit für sich behält, die sie zwar nicht nach einem ausdrücklich formulierten Rechtsgesetz, aber doch stillschweigend für sich in Anspruch nimmt und behauptet.«, TP, VII, § 2, S. 96–97; vgl. auch TP, VIII, § 2, S. 136–137; vgl. auch TP, VIII, § 31, S. 168–169: »[…] meiner Aufgabe, bloß die beste Form eines jeden Staates zu beschreiben […]. Auch vgl. TP X, § 1 mit Spinozas Anlehnung auf einen »äußerst scharfsinnige[n] Florentiner«, S. 206–207 und schließlich § 9 u. § 10, S. 216–221. 184 Vgl. TTP, XVI, S. 476–479: »Auf diese Weise also kann sich ohne irgendwelchen Widerspruch gegen das natürliche Recht eine Gesellschaft bilden, und jeder Vertrag kann immer mit vollkommener Treue gehalten werden; es braucht eben nur jeder die ganze Macht, die er besitzt, auf die Gesellschaft [societas] zu übertragen, die damit das höchste Recht der Natur auf alles hat, d. h. die allein die höchste Regierungsgewalt [summum imperium] innehat und 181 182
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In seinem identisch betitelten Traktatentwurf vertritt Nietzsche explizit den »Macchiavellismus« 185, den er als »den Typus der Vollkommenheit in der Politik« (ebd.) bezeichnet. 186 Dabei stellen sich die Fragen, was Nietzsche unter Machiavellismus versteht und ob seine Bemerkung über den Machiavellismus die theoretische Grundlage seiner politischen Orientierung enthüllen kann. Niccolò Machiavelli ist oft nicht nur als der Vertreter des politischen Realismus, sondern auch der Befürworter der skrupellosen Politik des absoluten Machthabers dargestellt worden, wie das bereits erwähnte Beispiel von AntiMachiavel (1740) von Friedrich dem Großen zeigt. 187 Trotz dieses Verrufs gibt es durchaus andere Aspekte bezüglich Machiavellis politischer Theorie188: Machiavelli als Republikaner, der die Ungleichheit als die Ursache des Verfalls eines Staates bezeichnete und sie durch die Betonung der ›öffentlichen Sache‹ (res publica) bekämpfen wollte. 189 In diesem der jeder aus freiem Willen oder aus Furcht vor der hörtesten Bestrafung gehorchen muß. Das Recht [jus] einer derartigen Gesellschaft heißt Demokratie; sie ist demnach zu definieren als eine allgemeine Vereinigung von Menschen, die in ihrer Gesamtheit das höchste Recht zu allem hat, was sie vermag.« Siehe auch Abschnitt 5.3.6. 185 »Nun wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was der Typus der Vollkommenheit in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der Macchiavellismus, pur, sans mélange, cru, vert, dans toute sa force, dans toute son âpreté ist übermenschlich, göttlich, transscendent, er wird von Menschen nie erreicht, höchstens gestreift … Auch in dieser engeren Art von Politik, in der Politik der Tugend, scheint das Ideal nie erreicht worden zu sein.«, NL 11[54], November 1887 – März 1888, KSA 13, S. 25–26. 186 Zu Nietzsches Bewertung von Machiavelli vgl. Ottmann (2000), S. 311: »Allerdings erhält die Hochschätzung der Renaissance bei N. auch eine eigene Prägung, da er anders als Burckhardt den Immoralismus der Renaissance nicht verworfen, sondern als Symbiose von Vitalität und Kultur, von Macht und Pracht begrüßt hat. […] Cesare Borgia wird bei N. zum Symbol des Menschen »jenseits von gut und böse«. Er wird als ›Raubtier‹ ( JGB, 197, KSA 5, S. 117) und Vorbild der ›Tugend im Renaissancestile‹, der ›virtu‹, der ›moralinfreie[n] Tugend‹ gefeiert (NL, KSA 12, 480). N. macht da gemeinsame Sache mit Machiavelli, den er seinerseits als Politiker des ›Realismus‹ – zusammen mit Thukydides – in höchsten Tönen lobt. »Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur […] war zu jeder Zeit Thukydides. Thukydides und, vielleicht, der principe Machiavell’s sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Venunft, in der Realität zu sehn, – nicht in der ›Vernunft‹ noch weniger in der ›Moral‹ (GD, Was ich den Alten verdanke, 2, KSA 6, S. 156).« 187 Vgl. Friedrich der Große 1740, S. 482 f. Siehe Abs. 4.1.3. 188 Vgl. Pinzani 2012, S. 161: »So wurde für Jahrhunderte immer wieder die Frage aufgeworfen, ob er als Monarchist oder aber als Republikaner zu bezeichnen sei. Il Principe würde die erste Lesart nahelegen, während die Discorsi [sopra la prima deca die Tito Livio; J. Y.] eindeutig auf die zweite hinführen.« Im Fazit resümiert Pinzani jedoch, dass »Machiavelli in allen seinen Werken eine republikanische Position einnimmt, in deren Licht auch der Principe gelesen werden sollte […]«, a. a. O., S. 176. 189 Vgl. Rahe (2006).
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Kontext überlegte er, seines verbreiteten Rufs als Befürworter eines unmoralischen Despoten zum Trotz, positive Elemente aus verschiedenen Staatsformen in seine politische Theorie zu implementieren. 190 Wenn man diesen letzten Aspekt mehr betont, kann man Machiavelli so interpretieren, dass er nicht für einen Despotismus, sondern eine ›Mischverfassung‹ nach dem altrömischen Modell von Polybios plädiert hätte. 191 Ähnlich hat Spinoza selbst Machiavelli vor allem als einen Republikaner und »ein[en] Anhänger der Freiheit« (TP, V, § 7, S. 66–67) bezeichnet 192, obwohl er sich der Schwierigkeit bewusst war, den Sinn und »den Zweck« (ebd.) von Machiavellis kühnen Behauptungen für die grenzenlose Macht des Fürsten mit dem Bild des Republikaners zu vereinen. 193 Spinozas Lösung besteht darin, Machiavelli eine andere Absicht zu unterstellen als diejenige, die in der Kritik oft vorausgesetzt wird. Der »äußerst scharfsinnige« (ebd.) Florentiner habe demnach jene Behauptungen als eine Mahnung durchgeführt, um zwei Arten von Gefahr zu zeigen. Einerseits gelte es als eine Mahnung gegen die »unklug[e]« (ebd.) Revolution »der freien Masse (libera multitudo)« (ebd.) gegen Tyrannen, wenn sie die Ursache, die eine gute Monarchie dem DespotisVgl. Pizanni, a. a. O., S. 169: »Der unvermeidbare Kreislauf der Verfassungen stellt ein wichtiges Problem dar: Wenn alle möglichen Regierungsformen Unheil bringen, dann gibt es für den Staat kein Heil. Hier öffnet sich jedoch ein Ausweg, nämlich die Mischform: ›[…] In Erkenntnis dieser Mängel haben weise Gesetzgeber jede der drei guten Regierungsformen für sich allein vermieden und eine aus allen dreien zusammengesetzte gewählt. Diese hielten sie für fester und dauerhafter, da sich Fürst, Adel und Volk, in ein- und demselben Staat zur Regierung vereinigt, gegenseitig überwachen.‹ (D[iscorsi; J. Y.], I 2, 14)« 191 Vgl. a. a.O., S. 168: »Dabei übernimmt Machiavelli durch Polybios Platons Theorie der anakyklôsis politeiôn, des Zyklus der Verfassungen (vgl. Polybios, Historien, VI. Buch). Die Geschichte läßt sich danach als ein Prozeß auffassen, in dem ein dauernder Übergang von einer Verfassungsform zur anderen stattfindet – und zwar so, daß einer reinen eine unreine, verkommene Form folgt, aus der dann wieder eine reine, aber andere entsteht: So verkommt die Monarchie zur Tyrannei, diese wird dann durch die Aristokratie ersetzt, die aber in Oligarchie verfällt, so daß sich als Gegenmittel die Demokratie durchsetzt, die schließlich zur Anarchie verkommt und von der Monarchie wieder abgelöst wird, so daß der Zyklus nochmals von vorn anfängt […]«. 192 Vgl. Geismann (1989), S. 405–431, insbesondere Anm. 149: »Spinoza hat den ›höchst scharfsinnigen Florentiner‹ nicht nur sehr geschätzt (vgl. TP V 7; X 1); er ist diesem Begründer der neuzeitlichen Wissenschaft von der Politik durch und durch geistesverwandt, auch mit derselben wunderbaren Mischung aus heißem Herzen und kühlem Kopf, von ähnlicher heilig-nüchterner Begeisterung für die Erforschung der menschlichen Natur, ›wie sie wirklich ist‹ (TP I 1). Vgl. TTP 480: ›integro animo ex ducturationis vivere.‹« 193 »Welche Mittel ein Fürst, der bloß von dem Verlangen nach Herrschaft bewegt wird, einsetzen muß, um seinen Staat stabilisieren und erhalten zu können, hat der äußerst scharfsinnige Machiavelli ausführlich gezeigt; welchen Zweck der Autor damit verfolgte, scheint freilich nicht recht klar zu sein.«, TP, V, § 7, S. 66–67. 190
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mus anheimfallen lässt, nicht dadurch beseitigen können. Andererseits erinnere es die freie Masse, dass sie »das eigene Wohlergehen« (ebd.) nicht »vollständig einem einzigen Menschen an[…]vertrauen« (ebd.) sollte. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass die Abtrennung des Machthabers von der zum Gehorsam verpflichteten Masse ein wichtiges Element des machiavellischen politischen Realismus ist. Dass der Fürst als der politische Machthaber nicht nach der herkömmlichen Moral handeln soll und kann 194, woran die Masse noch glaubt, behauptet Machiavelli explizit. Der ambivalent interpretierte Florentiner scheint für Nietzsche in diesem Kontext hauptsächlich derjenige zu sein, der nicht nur den Kern des politischen Realismus in Der Fürst (Il principe, 1532) am prägnantesten zum Ausdruck gebracht hat, sondern auch in seiner »Grosse[n] Politik« 195 eine wichtige Rolle spielt. 196 Zwar wird oft Machiavellis politisches Gut auf eine ›politische Skrupellosigkeit‹ reduziert. Für Nietzsche gilt Machiavellis politischer Realismus jedoch als »der Typus der Vollkommenheit in der Politik« 197, der mit seinem – und mit Vorbehalt auch mit Spinozas – Denken über das Verhältnis zwischen der Tugend und der Macht im Einklang steht und ein Gegenbild zu dem von ihm stark kritisierten moralistischen Verständnis der Politik in einer radikalen Weise darstellt. Nietzsche bezeichnet Machiavelli in einer Notiz von 1883 als den »Florentiner« 198, der ein Zeichen sein soll, inwieweit »die italienische Renaissance den Menschen am höchsten gebracht hat« (ebd.). Es handelt sich um ein besonderes Zeitalter, in dem nicht nur die »vollkommenen und ganzen Menschen« (ebd.) nach dem Anspruch auf die Totalität, sondern auch »die einzelnen Bedingungen« (ebd.) für diesen Anspruch »wie Bruchstücke« (ebd.) sichtbar wurden. Als ein prägnantes Beispiel hierfür nennt Nietzsche den »Tyrann« (ebd.), was sich anscheinend auf Machiavellis »Der Fürst« bezieht. 199 Vgl. Machiavelli, Fürst, 18. und 19. Kapitel; dazu siehe Höffe 2012. M, III, 189, KSA 3, S. 161 f. 196 »der ehrgeizige oder klug vorsorgende Fürst«, ebd. 197 NL 11[54], November 1887 – März 1888, KSA 13, S. 25. 198 »[…] mit Socrates beginnt der Niedergang der Moral: es sind lauter Einseitigkeiten in den verschiedenen Systemen, die ehemals Glieder eines Ganzen waren – es ist das auseinandergefallene ältere Ideal. Dazu kommt der vorherrschend plebejische Charakter, es sind Menschen ohne Macht, bei Seite Gestellte, Gedrückte usw. In der neueren Zeit hat die italienische Renaissance den Menschen am höchsten gebracht: ›der Florentiner‹ – aus ähnlichen Gründen. Man sieht auch da die einzelnen Bedingungen, neben den vollkommenen und ganzen Menschen, wie Bruchstücke: z. B. ›der Tyrann‹ ist ein solches Bruchstück: der Kunstliebhaber. Vielleicht war der Provençale schon ein solcher Höhepunkt in Europa – sehr reiche, vielartige, doch von sich beherrschte Menschen, die sich ihrer Triebe nicht schämten.«, NL 7 [44], Frühjahr – Sommer 1883, KSA 10, S. 257. 199 Der genaue Kontext dieser Stelle muss jedoch philologisch festgestellt werden. 194 195
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Auch in Nietzsches Entwurf vom tractatus politicus wird ›die neue Politik der Tugend‹ der bisherigen moralistischen Auffassung der Politik entgegengesetzt, die durch diese neue Politik überwunden werden soll, da »die Herrschaft der Tugend« 200 »nicht durch die Tugend« (ebd.) selbst erreicht werden kann. So scheint diese Trennung im Hinblick auf die Legitimation der Moral und der Tugend auf ein wichtiges Merkmal von Nietzsches Implementation des Machiavellismus hinzuweisen. Es handelt sich um die aristokratische Position, wenn auch nur in dem beschränkten Sinne, dass sie jene unüberwindbare Trennung zwischen der Herrenmoral und der Sklavenmoral voraussetzt. Nietzsche hat sie oft in seinem Vergleich zwischen der starken und tugendhaften Kultur der Antike und der willensschwachen 201 Moderne wiederzubeleben versucht. Dabei basiert diese Hoffnung großenteils auf seiner Hochbewertung der Souveränität, die in der Einsamkeit ermöglicht wird. Diese Einsamkeitsthematik, die in seiner Spinoza-Rezeption als ein bedeutendes Leitmotiv gilt, hat er über ihre persönliche Dimension hinaus nicht nur im Hinblick auf die religionskritische Perspektive nach dem Tod Gottes, sondern auch als soziopolitische Dimension reflektiert. In dieser Hinsicht richtet sich seine Kritik gegen die Verbreitung der Demokratie und des Sozialismus, wie sie im Kontext der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 202 verstanden wurde und Nietzsche zufolge die Menschen zur unselbstständigen Masse anästhetisieren und die wenigen souveränen Einzelnen entweder zur Anpassung an die Masse oder zur selbstzerstörerischen Vereinsamung drängen sollen. 203 Sein kritischer, sogar prophetischer Blick auf das kommende Zeitalter des 20. Jahrhunderts, in dem die Masse von politischen und ›künstlerischen‹ Demagogen verführt wird 204, hängt mit dieser Grundeinstellung eng zusammen. Nietzsches altphilologische Diskussion über die Antike, deren willensstarker und selbstbewusster Geist im Umgang mit dem Leiden und dem Konflikt des Lebens in GT und anderen Werken thematisiert wurde, hatte diese poli»Wir haben ihn denen zum Nutzen bestimmt, denen daran gelegen ist, zu lernen, nicht wie man tugendhaft wird, sondern wie man tugendhaft macht, – wie man die Tugend zur Herrschaft bringt. Ich will sogar beweisen, daß, um dies Eine zu wollen, die Herrschaft der Tugend, man grundsätzlich das Andere nicht wollen darf; eben damit verzichtet man darauf, tugendhaft zu werden.«, NL 11[54], November 1887 – März 1888, KSA 13, S. 25. 201 »Heute schwächt und verdünnt der Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so sehr zeitgemäss als Willensschwäche […]«, JGB, VI, 212, KSA 5, S. 146. 202 Vgl. auch Vorrede im Juni 1885 zu JGB, KSA 5, S. 13. 203 Zur Funktion der Moralität beim Phänomen der Vermassung, vgl.: »Die Nothwendigkeit der Herden-bildung besteht in der Furchtsamkeit (der Schwächeren?) – die wohlwollenden Gefühle bei der Berührung mit dem Nächsten, wenn er, statt zu schaden oder zu drohen, sich ›gütig‹ zeigt.«, NL 27[49], Sommer – Herbst 1884, KSA 11, S. 287. 204 Siehe Abs. 4.5.3. 200
Gesellschaftliche Isolation oder Quelle der Souveränität?
tisch-philosophische Implikation bereits, als er Ende 1880 in einer Notiz über die »Aristokratie von Einsiedlern« (NL 7[205]) hinsichtlich der sozio-politischen Entwicklung seines Zeitalters schrieb: »Zum Plan. / Ein Bild des Griechenthums als der Zeit, die die meisten Individualitäten hervorgebracht hat. Das Fortleben in der Renaissance! / Polemik gegen mittelalterlich, höfisch, liberal-parlamentarisch, socialistisch. / Ich sehe die socialistischen Körper sich bilden, unvermeidlich! Sorgen wir, daß auch die Köpfe für diese Körper anfangen zu keimen! jene Organisationen bilden den zukünftigen Sklavenstand, mit allen ihren Führern – aber darüber erhebt sich eine Aristokratie vielleicht von Einsiedlern! Es ist die Zeit des Gelehrten vorbei, der wie alle Anderen lebt und glaubt (als Werkzeug der Kirchen, der Höfe, der kaufmännischen Parteien usw.)! Der große Heroism thut wieder noth!« 205
Für Nietzsche gilt die Einsamkeit also primär als Quelle der Souveränität des Einzelnen. Die Gefahr, sich in der Vereinsamung zu begrenzen, wurde nicht nur von Spinoza problematisiert, sondern auch von Nietzsche im Hinblick auf die Maskenthematik. 206 So warnt er in Morgenröthe (1881) »die jungen, begabten, vom Ehrgeiz gemarterten Männer« 207 »in den grossen Städten der Weltpolitik« (ebd.) davor, in ihrer Missachtung der Einsamkeit »jede ächte Productivität [zu] verlieren« (ebd.). Statt der Mode und dem angeblichen Zeitgeist massenhaft zu folgen und zu glauben, selbst »der Wagen der Geschichte« (ebd.) zu sein, müssen sie die »Einsamkeit lernen« (ebd.), um überhaupt produktiv zu sein und »einen Helden auf der Bühne abzugeben« (ebd.), statt nur »Chorus zu machen« (ebd.). Sowohl für die individuelle als auch die sozio-politische Selbstgestaltung in Nietzsches Denken, die untrennbar voneinander sind, gilt diese souveräne Einsamkeit als Grundlage. Auch in der sogenannten Zarathustra-Phase Mitte der 1880er Jahre wird die Einsamkeitsthematik verstärkt diskutiert, wie dies etwa die erste und zweite »Chaos sive natura«-Stelle gezeigt haben. Also sprach Zarathustra selbst, dessen erstes Buch ›Chaos sive natura‹ heißen sollte, macht nicht nur diesen Leitfaden, sondern auch dessen Dilemma deutlich; in Zarathustras Vorrede geht der Prophet, der in seiner Einsamkeit auf hohen Bergen glücklich war, zu den Menschen zurück, obwohl ein ›heiliger Eremit‹ in der Natur ihm davon abgeraten hat. Dieser mahnte, dass Zarathustra schließlich in den Menschenmassen zugrunde gehen würde. Der Grund oder das Dilemma der Moderne,
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NL 7[205], Ende 1880, KSA 9, S. 359. Siehe Abs. 4.4.3. M, III, 177, KSA 3, S. 156–157.
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dass die Einsamkeit in der Natur im Sinne von Fuga mundi oder Anachoretentum zu suchen nicht mehr gelten kann, wird jedoch durch Zarathustras Worte erörtert: »Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen: ›Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört, dass Gott todt ist!‹« 208 Das Thema des ersten Buches von Zarathustra, in dem Nietzsche in jener Notiz von 1881 statt eines spinozistisch-einträchtigen Natur-Gott-Verhältnisses den Gedanken von ›Chaos sive natura‹ zum Ausdruck bringen wollte, lässt sich als die Konsequenz dieses Untergangs eines einsamen Menschen in der Masse resümieren. Diese moderne Konstellation wird besonders in der anschließenden Szene symbolisch dargestellt, in der Zarathustra vor dem Volk am Markt seine erste Rede hält, ohne jedoch dessen Desinteresse entweder zu bemerken oder verstehen zu können (vgl. ZA., Vorrede, 3). Auf Zarathustras Rede über den Übermenschen reagiert das Volk mit Gelächter, Missverständnis und Ignoranz, eine Reaktion, die der Prophet, dessen Einsamkeit sich bislang nur in der Natur manifestierte, nicht geahnt hat. 209 So prägt die tragische und komische Dynamik zwischen dem Annäherungs- und Selbstbewahrungsversuch des einsamen Einzelnen, der erst sein Weltverhältnis – frei von seiner absoluten Isolation in der Natur – wieder definieren will, das erste Buch von ZA. Diese erste zum Scheitern bestimmt 210 naive, aber prägnante Erscheinung der Problematik in Zarathustras Vorrede wird im letzten Buch von ZA als »die Einsiedler-Thorheit« 211 bezeichnet. Damit inszeniert Nietzsche als Autor dieser vielschichtigen philosophischliterarischen Schrift die Bedingung der neuen, modernen Form der Einsamkeit, die nicht in einer Isolation in der idealisierten Ur-Natur, sondern vielmehr unter Menschen in der sozio-politischen Konstellation zustande kommt. 212 Dies bedeutet, dass das Individuum seine Souveränität nicht in der absoluten Isolation, sondern nur im sozialen Verhältnis erlangen kann, wenn es trotz jener vermassenden Tendenz seine Eigenständigkeit weiter zu behalten bzw. neu zu definieren imstande ist. 213 Die selbst gewählte Aufgabe erscheint nur ZA, Vorrede 2, KSA 4, S. 14. »Zarathustra aber sah das Volk an und wunderte sich.«, Ebd., 4, KSA 4, S. 16. 210 Vgl. Braun (1998), S. 232 f. 211 ZA, IV, Vom höheren Menschen, KSA 4, S. 356. 212 Vgl. »Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte, sahe er wieder das Volk an und schwieg. ›Da stehen sie‹, sprach er zu seinem Herzen, ›da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren.‹«, Ebd., 5, KSA 4, S. 18. 213 Vgl. Schmidt / Spreckelsen 2003, S. 179: »Distanzierungen machen die Unterteilung des Zarathustra aus. ›Ich schliesse Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere steigen mit mir auf immer höhere Berge‹ (ZA, Von alten und neuen Tafeln, S. 260) – so 208 209
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dann leichter und die Gefahr der Vereinsamung geringer, wenn andere mitstreitende Menschen mit demselben Ideal zu finden sind. 214 In Anspielung auf das Neue Testament bezeichnet Nietzsche die Gefährtensuche Zarathustras als einen »Fischfang« (ZA, 7, KSA 4, S. 23). Dieses Gestaltungsprojekt der ›Zweisamkeit‹, die Nietzsche gegen 1881 mit seiner Spinozaentdeckung endlich gefunden zu haben glaubte, hat daher von Anfang an einen starken gesellschaftlichen Aspekt. Im ZA heißt es: »Ein Licht gieng mir auf: Gefährten brauche ich und lebendige, – nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will. / Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will. / Ein Licht gieng mir auf: nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten! Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden!« 215
Im Hinblick auf sein zuvor erschienenes Werk JGB hofft Nietzsche 1886, dass dieses Buch »ein paar erhellende Lichter auf […] Zarathustra« 216 werfen könnte. Denn ZA war »deshalb ein unverständliches Buch […], weil e[s] auf lauter Erlebnisse zurückgeht, die ich [Nietzsche] mit Niemandem theile.« (ebd.) Genau in diesem Sinne bezeichnet Nietzsche ZA als ›ein Buch für Alle und Keinen‹. Direkt nach diesem Wunsch bezeichnet er die Einsamkeit als die härteste und zugleich notwendige Bedingung für die Größe des Menschen: »Wenn ich Dir einen Begriff meines Gefühls von Einsamkeit geben könnte! Unter den Lebenden so wenig als den Todten habe ich Jemanden, mit dem ich mich verwandt fühlte. 217 Dies ist unbeschreiblich schauerlich; und nur die Übung im Ertragen dieses Gefühls und eine schrittweise Entwicklung desselben von Kindesbeinen an macht mir’s begreiflich, daß ich daran noch nicht zu Grunde gegangen bin. – Im Übrigen liegt die Aufgabe, um deren willen ich lebe, klar vor mir – als ein factum von unbeschreiblicher Traurigkeit, aber verklärt durch das Be-
formuliert Zarathustra und bezeichnet damit auch die Tendenz des Buches. Nietzsches Gedanken sind in ihrer Radikalität einsame Experimente, und sie sind die Gedanken eines Einsamen: – ›Ich bin die Einsamkeit als Mensch‹ (KSA 13, 641) notiert er noch 1889.« 214 Vgl.: »Meinem Geschmack von heute sagt etwas anderes zu: der Mensch der großen Liebe und der großen Verachtung, den seine überflüssige Kraft aus allem ›Abseits‹ und ›Jenseits‹ mittenhinein in die Welt treibt, den die Einsamkeit zwingt, sich Wesen zu schaffen, die ihm gleich sind – ein Mensch mit dem Willen zu einer furchtbaren Verantwortlichkeit, an sein Problem geschmiedet[.]«, NL 2[164], Herbst 1885 – Herbst 1886, KSA 12, S. 146–147. 215 Ebd., 9, KSA 4, S. 25. 216 KSB 7, Nr. 729, S. 222–223, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, 5. August 1886. 217 Vgl. Aphorismus ›Hadesfahrt‹ in MA, II, 408, KSA 2, S. 533–534.
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wußtsein, daß Größe darin ist, wenn je der Aufgabe eines Sterblichen Größe eingewohnt hat.« 218
In JGB schreibt Nietzsche über die Notwendigkeit der Einsamkeit eines Philosophen, da er als »ein notwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden [muss.]« 219 Seine Unzeitgemäßheit und Unversöhnbarkeit mit seinen Zeitgenossen ist unausweichlich. Denn: »sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute.« (ebd.) Für solche einsamen Philosophen, zu denen Nietzsche selbst gehören soll, besteht jedoch die würdige Aufgabe der Souveränität und der Selbstbestimmung – besonders im Hinblick auf das nihilistische Zeitalter des späteren 19. Jahrhunderts in Europa, in dem neue Werte für die Menschen nach dem ›Tod Gottes‹ noch zu schaffen sind: »[…] heute gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen, das Anders-seinkönnen, das Allein-stehn und auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff ›Grösse‹ ; und der Philosoph wird Etwas von seinem eignen Ideal verrathen, wenn er aufstellt: ›der soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, der Herr seiner Tugenden, der Überreiche des Willens; dies eben soll Grösse heissen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können.‹ Und nochmals gefragt: ist heute – Grösse möglich?« 220
In diesem Zusammenhang lässt sich Nietzsches Vorhaben in seinem bereits genannten tractatus politicus begreifen, das Verhältnis zwischen der Tugend und der Politik neu zu bestimmen, ohne eine moralistische Position einzunehmen. Denn nicht nur das moralistische Dogma scheint in der nihilistischen Zeit keine Gültigkeit mehr unter Menschen zu besitzen. Auch wird in diesem Zeitalter nach einem kritischen und produktiven Umgang mit den vorgegebenen Bedingungen immer mehr gefragt. Diese Bedingungen nannte Nietzsche oft ›Schicksal‹ oder ›fatum‹. Einen gelungenen Umgang damit bezeichnete er sowohl als »Größe« (ebd.) oder als »persönliche Erziehung des Philosophen in der Einsamkeit« 221 als auch als »das Dionysische« (ebd.). Nun stellt sich jene bislang unbeantwortete Frage, ob diese ›aristokratischen‹ Züge in Nietzsches Einsamkeitsdenken eindeutig gegen die demokratische Auffassung von heute sprechen. Hier handelt es sich einerseits um die Frage der Aktualität von Nietzsches politischer Philosophie, andererseits um das Verhältnis zwischen dem politischen Denken bei Nietzsche und seinem 218 219 220 221
KSB 7, Nr. 729, S. 222–223, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, 5. August 1886. JGB, VI, 212, KSA 5, S. 145. JGB, VI, 212, KSA 5, S. 147. NL 35[45], Mai – Juli 1885, KSA 11, S. 532.
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›Vorgänger‹ Spinoza, der explizit für Demokratie plädiert hat. Diese Fragestellung gewinnt mehr Aktualität, wenn man bedenkt, dass sich Nietzsches kritische Pointe in seiner Demokratiekritik eigentlich mit dem heutigen Verständnis über die ›demokratischen Werte‹ ohne großen Widerspruch vereinigen lässt. Es handelt sich hier um das Menschenbild von der souveränen Einsamkeit, das er in JGB unter »d[em] Vornehm-sein, d[em] Für-sich-seinwollen, d[em] Anders-sein-können, d[em] Allein-stehn und auf-eigne-Faustleben-müssen« 222 verstanden hat. Dieses Menschenbild spricht nicht gegen die demokratischen Werte von heute, solange diese Demokratie sowohl die Pluralität und die bunte Vielfältigkeit unter Menschen als auch einen selbstständigen ›Aktivbürger‹ in der Gesellschaft fördert, der unabhängig sein (politisches) Selbst bestimmen kann und will. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass sich Nietzsches ›Einsamkeit‹ auf die souveräne Selbstbestimmung unter Menschen bezieht, also keine Welt- und Selbstflucht in die Vereinsamung ist, wie bereits erörtert wurde. Nietzsches Kritik an der ›demokratischen‹ oder ›sozialistischen‹ Tendenz richtet sich gegen ihren ›vermassenden Charakter‹, der zur ›Anästhetisierung‹ des Menschen als der Unfähigkeit zum Leiden führt. In diesem Zusammenhang lässt sich seine Demokratiekritik paradoxerweise als ein Argument für die heutige Demokratie begreifen, wenn man an die neuen Bedrohungen für die Demokratie in der Moderne erinnert; es handelt sich nicht mehr um die Monarchie oder die Aristokratie, sondern um Faschismus, Nationalsozialismus, den stalinistischen Kommunismus im 20. Jahrhundert und ihre Nachfolger. Nicht lange nach Nietzsches Tod im Jahre 1900 haben sie die totalitären Massenbewegungen für ihren politischen Erfolg ge- und missbraucht. Dass der selbstbewusste Umgang mit dem Leiden die Grundlage der individuellen und sozio-politischen Selbstbestimmung bedeuten kann, zeigt das Gegenbeispiel in diesen Massenbewegungen, in denen ein Individuum zum anonymen und ›selbstlosen‹ Teil des Ganzen gezwungen wurde, wie Hannah Arendt (1906–1975) in ihrer Beobachtung über die totalitäre Herrschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll dargestellt hat. 223 In dieser Hinsicht JGB, VI, 212, KSA 5, S. 147. »[Bei den Massen ist] … typische(n) Schwächung des Instinkts der Selbsterhaltung … [zu beobachten]. Selbstlosigkeit, nicht als Güte, sondern als Gefühl, daß es auf einen selbst nicht ankommt, daß das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann, wurde ein allgemeines Massenphänomen, das wohl den einzelnen dazu bewegen konnte, sein Leben in die Schanze zu schlagen, aber mit dem, was wir gewöhnlich unter Idealismus verstehen, nicht das geringste zu tun hatte. Diese Menschen konnte man nicht mehr zu politischen oder revolutionären Aktionen bewegen, indem man ihnen sagte, daß sie nichts zu verlieren hätten als ihre Ketten; sie hatten bereits sehr viel mehr verloren als die 222 223
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sei auf den gemeinsamen Aspekt der Leidensthematik bei Spinoza und Nietzsche hingewiesen. 224 Die sozio-politische und ethisch-ästhetische Bedeutung der Leidensthematik bei Spinoza und Nietzsche lässt sich in diesem Kontext an ihrer ethischen und ästhetischen Implikation begreifen. Ihr Denken über die Einsamkeit (als Ausdruck von Isolation, Entfremdung und Gott- und Weltlosigkeit) und die damit zusammenhängende Bejahung der bereits bestehenden Gegebenheiten (als des Erscheinungskomplexes zwischen den notwendigen und zufälligen Elementen der Welt) – also zwei wesentliche Ursachen des faktischen Leidens und die Gegenstände der möglichen Bejahung des Einzelnen – bezieht sich nicht allein auf die ontologische und kosmologische Ebene. Vielmehr fordern beide Denker den zugleich leidenden Menschen zur Handlung heraus, d. h. zur Übernahme einer bestimmten ethischen Aufgabe, nämlich den gelingenden Umgang mit seinem eigenen Leiden an der Einsamkeit und an der Zufälligkeit zu finden. Dieser selbstständige Umgang mit dem eigenen Leiden gilt als die Grundlage dafür, dass der Einzelne eine selbstbestimmende und damit selbstbejahende Position dem Leben gegenüber gewinnen kann. Das Leiden stellt sich in diesem Kontext nicht nur als ein Hindernis für den Menschen dar, es kann ihn auch durch diesen ›Problemcharakter‹ zur Selbstbestimmung herausfordern. 225 Ein selbstbewusster Umgang mit dem Leiden Kette des Elends und der Ausbeutung, als das Interesse an sich selbst ihnen aus der Hand geschlagen wurde. … Mit dem Verlust der gemeinsamen Welt hatten die vermassten Individuen die Quelle aller Ängste und Sorgen verloren, die das menschliche Leben in der Welt nicht nur bekümmern, sondern es auch leiten und dirigieren.«, Arendt 2005, S. 679. 224 Siehe Kap. 4. 225 Die philosophische Bedeutung des ›Problemcharacters‹ wird in Gerhardt (1999) ausführlich diskutiert, z. B.: »Wir verdanken nahezu alles unseren Problemen. Doch obgleich wir den Problemen nahezu alles verdanken, möchten wir sie los sein.«, S. 46; »Sie [Problemen] tangieren unsere Empfindlichkeiten und unsere Bedürfnisse, sind vor allem aber direkt auf unsere Ansprüche bezogen. Sie haben also mit unseren physischen, physiologischen und psychischen Dispositionen zu tun und stehen in direkter Korrelation zu unserem Selbstverständnis. Denn Probleme werden auf dem Niveau wahrgenommen, auf dem wir uns selbst begreifen.«, S. 47; »echte Probleme sind solche, an denen man wächst.«, ebd.; »Im Problem gelangen Welt und Selbst zur bewußten Entsprechung.«, ebenda; »Ein Problem indiziert die praktische Aneignung der Welt auf dem Niveau der eigenen Kräfte«, ebd.; »Probleme gibt es überhaupt nur für jene Wesen, die auch die Chance haben, sie durch eigene Aktivitäten als ihre eigene Aufgabe anzugeben«, S. 48; »Der »reale Charakter« von Problemen: (…) sie verlangen von uns, tätig zu werden, aktiv – aus uns herauszugehen. Im Problem ist das Individuum immer schon selbsttätig mit seiner Welt vermittelt (…) Probleme sind die Konstellationen der Welt, zu denen sich ein Individuum immer schon herausgefordert sieht«, ebd.; und letztlich: »Hier gibt es, wenn man so sagen darf, eine Apriorität des existentiellen Erlebens, ohne das wir nicht verstehen könnten, was ein Problem eigentlich meint«, S. 50.
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ist das Kennzeichen des Lebensmutes, der mit Kant für die ›selbstständige Bedienung des eignen Verstandes 226‹ und somit für die Selbstbestimmung von fundamentaler Bedeutung ist. Dieser Mut besteht darin, den Ernst 227 gegenüber dem Leidensproblem des Lebens zu behalten und aufzubringen. Den Mut zu haben, bedeutet die Stärke und Fähigkeit des Einzelnen, dem Leiden des Selbst und der Anderen gegenüber aufmerksam zu sein – oder besser gesagt, sein zu können und zu wollen. Sowohl Spinoza als auch Nietzsche unterscheiden hier den Mut vom Mitleid, das oft nichts anderes als ein Ausdruck von Selbstmitleid und Angst ist. In dieser Hinsicht ist der Mut nicht nur eine ethische, sondern auch eine ästhetische Leistung. Die individuelle Sensibilität 228 muss aktiviert sein, um die Gegenhaltung zur lähmenden Kraft der ›An-ästhesie‹ 229 des Alltags zu haben. In diesem Sinne ist die ästhetische Sensibilität für einen gelingenden Umgang mit dem Leiden entscheidend, wie Nietzsche in seinem kulturkritischen Vergleich in GT und in UB intensiv thematisiert hat. So unterstreicht das Leidensverständnis beider Denker die ästhetische Dimension bei der ethischen Handlung, insbesondere angesichts der Grundbedingung für die Selbstbestimmung. Für Nietzsche gilt die Einsamkeit in diesem Kontext als ein Zufluchtsort, an dem das Individuum sich selbst in Muße und Ruhe, sowohl spielerisch als auch kritisch, reflektieren kann. Da die Einsamkeit bei Nietzsche in diesem Sinne immer die Einsamkeit unter Menschen bedeutet, schließt es eine apolitische Welt- und Selbstflucht in die Vereinsamung aus. Siehe Kants Formulierung: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeteten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung« aus Kant, Immanuel, Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, mit einer Einführung von Cassirer, Ernst; Hg. Brandt, Horst D., (Hamburg 1998). Vgl. Simon 2004, S. 114: »Schon mit dieser ›Definition‹ bringt er [Kant] eine praktische Dimension in die ihrer Form nach theoretische Begriffsbestimmung der Aufklärung hinein. An die Stelle des Verstandes, begriffen als Vermögen des theoretischen Gebrauchs der Begriffe, tritt der freie Entschluss oder der ›Mut‹ zum Gebrauch des durch den eigenen Standpunkt oder ›sinnlich‹ bestimmten Verstandes, d. h. zum Urteil als der Verknüpfung der Begriffe in der Deutlichkeit, die dem Subjekt für seine Zwecke jetzt als deutlich genug erscheint.« 227 Vgl. GM, KSA 5, S. 361 und KSA 2, S. 145–146. 228 Vgl. GT, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, S. 15. Zum ethischen Aspekt der Sensibilität und der Spannung zwischen dem Glück und der Moral jeweils vgl. Crisp / Slote (1997), S. 13 und Seel (1999), S. 27–28, 38–39 und 44 f. 229 Wolfang Welsch versteht und verwendet den Begriff »Anästhetik« als eine unausweichliche Folge der ästhetischen Aufmerksamkeit. Siehe Welsch (1996), S. 130–131. 226
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Nietzsches Kritik an der »metaphysischen Leidensflucht« 230 und an der Selbstflucht scheint einen wichtigen Beitrag für das politische Verständnis der demokratischen Werte von heute anzubieten. Während Spinoza durch seine Diskussion über die Überwindung der politischen Einsamkeit ein ausdrückliches und wegbereitendes Plädoyer für die Gestaltung der Demokratie theoretisiert hat, macht Nietzsche auf die wesentliche Komponente dieses demokratischen Projekts aufmerksam, dass die individuelle Souveränität dadurch nicht gehemmt, sondern gefördert werden soll. Diese sozio-politische Perspektive bringt Nietzsche vor allem mit dem souveränen Menschenbild in seiner Einsamkeitsthematik zum Ausdruck. Die Einsamkeit kann so als ein philosophischer Terminus gelten, wenn sie nicht nur einen von der Isolation eines Einzelnen affizierten emotionalen Zustand bedeutet, sondern auch die Isolation selbst ins Blickfeld der religionsphilosophischen und politisch-philosophischen Betrachtung theoretisch einbeziehen kann. In diesem Sinne bietet die Einsamkeit wichtige Indizien für das dynamische und historische Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Welt. Bei Spinoza und Nietzsche gelingt eine solche philosophische Behandlung der Einsamkeit exemplarisch. Bei Spinoza wird die ontologische Kluft zwischen der absoluten Substanz und dem endlichen Modus nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben überwunden. D. h., das Überbrücken zwischen beiden ontologischen Ebenen wird nicht dogmatisch von der absoluten, einzigen Substanz (Gott) prädestiniert, sondern dem einzelnen Modus (Menschen und anderen endlichen Dingen) als eine Aufgabe überlassen. Die gesamte ontologische Grundlage der Definitionen und Axiomen ist vor allem als Grundlegung des ethischen und sozialen Handelns des Einzelnen gemeint, das die politische Wirklichkeit der Umbruchszeit der niederländischen Republik im 17. Jahrhundert einbezieht. Die Einsamkeit ist in dieser Hinsicht als Affekt eines Einzelnen (Individuums) im gesellschaftlich isolierten Zustand (›solitudo‹) verstanden, dessen Affekt noch mit einem anderen positiven und noch stärkeren Affekt der ›Nächstenliebe‹ zu überwinden ist, um schließlich ›ein größeres Individuum‹ in Form der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft und des demokratischen Staates aktiv zu gestalten, in dem die Freiheit des Einzelnen bestmöglich realisiert wird. Genau in dieser Herangehensweise liegt das markante Zeichen Spinozas als einer der wichtigsten und radikalsten Wegbereiter für die aufklärerische Moderne, wie u. a. Israel (2002 / 2008) mit seinen ideenhistorischen Studien dargelegt hat. Dadurch wird auch erklärt, warum dieses Hauptwerk 230
Knodt (1987), S. 190.
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Spinozas trotz seines vortäuschenden metaphysischen Auftaktes als Ethica betitelt wurde. Für Nietzsche war die Einsamkeitsthematik ein wichtiges Moment, sowohl für seine Spinoza-Rezeption als auch für seine eigene Theoriebildung. Während Nietzsche in der Einsamkeit sowie im damit zusammenhängenden radikalen Denken Spinozas seinen ›Vorgänger‹ erkannt hat, bemüht er sich beständig, eine kritische Distanz zu diesem Vorgänger zu gewinnen, dessen Einsamkeit dank seiner »Gesellschaft mit dem Gott« 231 nicht redlich und radikal genug gewesen sei. Unter der Einsamkeit sollte nicht nur die gesellschaftliche Isolation und ihre Überwindung, sondern auch die Veränderung des Wertsystems, der Moralität und die dementsprechende Verantwortlichkeit des Gottverlassenseins thematisiert werden. Die Modernität des Einsamkeitsverständnisses Nietzsches ist vor allem im Gedanken vom Tod des Gottes und der unendlichen Verantwortung des Einzelnen 232 als die Konsequenz zu erkennen, die z. B. hinsichtlich »Spinozas Theodizee« 233 im Nachlass zu betrachten ist. Seine Radikalität liegt jedoch nicht in der Abgrenzung eines Einzelnen von der Welt – oder dem Gott, der Natur und der Gesellschaft –, sondern in der Bemühung, in der – bereits von Spinoza beobachteten, jedoch bei Nietzsche stärker thematisierten – Kluft zwischen der Welt und dem Einzelnen eine produktive Spannung zu erkennen.
KSB 7, S. 62–63, Nr. 609, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, Oberengadin, 2. Juli 1885. Siehe Abschnitt 5.2.2. 232 Vgl. NL 26[407], ›Der Gesetzgeber der Zukunft‹, Sommer – Herbst 1884, KSA 11, S. 258–260. 233 NL 2[161], Herbst 1885 – Herbst 1886, KSA 12, S. 143. 231
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6. Individuell denken, konfliktfähig leben 1 »Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit. […] Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall.« 2
6.1 Der maskierte Denker. Das philosophische Maskenspiel der Moderne
Spinoza war für Nietzsche ein Rätsel, »etwas tief Änigmatisches« 3. Nietzsche suchte bei Spinoza keine Antworten, sondern Fragen. Sein Zögern, eine endgültige Bewertung über Spinoza abzugeben, versteht sich nicht nur in diesem Sinne, es lässt sich auch in verschiedenen Überlegungen von ihm zu diesem Frühneuzeitdenker wiedererkennen. Deswegen schrieb er: »Merkwürdig [ist] Spinoza« (NL 7[4]). Dieser mysteriöse Vorgänger vermochte es offenbar, seine lebensbejahende Philosophie mit seinen nur scheinbar(!) passiven bzw. eskapistischen Eigenschaften in Einklang zu bringen. Man denke z. B. an Nietzsches Worte von der »Rachsucht« 4 oder der »anämische[n]« 5 Eigenschaft Spinozas. Die Schwierigkeit der Interpretation besteht vor allem darin, dass Nietzsche hier nicht nur Spinozas Philosophie, sondern auch dessen Person 6 und dessen Einige Interpretationsvorschläge in diesem Kapitel wurden in Yhee (2012) in kürzerer Form veröffentlicht, deren Argumente hier wesentlich ergänzt bzw. selbstkritisch reflektiert werden. 2 NL 5[71], Der europäische Nihilismus, Lenzer Heide, den 10. Juni 1887, 7 und 8, KSA 12, S. 214. 3 FW, V, 372, KSA 3, S. 624. 4 JGB, II, 25, KSA 5, S. 43. 5 »B. Von Zuständen ausgehn, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die ›Vergeistigung‹ und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommenen einnimmt; wo am meisten das Brutale, Thierisch-Direkte, Nächste vermieden wird: der ›Weise‹, ›der Engel‹ (priesterlich = jungfräulich = unwissend) physiologische Charakteristik solcher ›Idealisten‹ ; das anämische Ideal: unter Umständen kann es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen (: so sieht Goethe in Spinoza seinen ›Heiligen‹); – man rechnet ab, man wählt –«, NL 11[138], November 1887 – März 1888, KSA 13, S. 63–64. 6 Vgl. Stegmaier (2004), S. 111–112: »Nicht nur an der Philosophie Spinozas, auch an seiner Person – sein einsames und entwurzeltes Leben, seine frühe Erkrankung, an der er schließlich 44jährig starb –, war Nietzsche vieles so nah, daß er gefürchtet zu haben scheint, sich mit ihm zu ›verwechseln‹ – um so mehr, nachdem er ihn im Juli 1881 als ›einen Vorgänger und was für einen!‹ (wieder-)entdeckt hatte.« 1
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Individuell denken, konfliktfähig leben
Philosophieren als Gegenstände seiner Rezeption reflektiert hat. Dieses Ideal der Einheit des Denkens und des Lebens war ein wichtiges Motiv in seiner Spinoza-Rezeption. Es trug zur Komplexität seiner Bewertung des Falls Spinoza als einem philosophischen und psychologischen Sonderfall bei, den Yovel (1989) als ein ›skandalöses‹ und ›unmögliches‹ »counterexample« für Nietzsche kennzeichnet. 7 Eine solche Interpretation weist zwar richtigerweise auf die anfängliche Motivation von Nietzsches Spinoza-Rezeption hin, sagt jedoch zu wenig darüber aus, inwieweit Nietzsche eine dynamische Konstellation zwischen Leben und Denken sowie zwischen der denkenden Person und seiner Verankerung in der Gesellschaft in seiner Spinoza-Rezeption als philosophische Themen behandelt. Nietzsche erkannte lebens- und leidensbejahende Ansätze in Spinozas Philosophie, was ihr einen besonderen Stellenwert in seiner kulturkritischen und anthropologischen Betrachtung verlieh. Spinozas Denken lässt sich danach nicht durch eine dichotomische Trennung zwischen dem theoretischen Optimismus und dem resignativen Pessimismus verorten. 8 Spinoza führte zudem das exemplarische Leben eines Philosophen, indem das Leben für ihn nichts anderes als der Ausdruck eines unabhängigen, souveränen Philosophierens war. Diese Beobachtung besaß für Nietzsche höchste Aktualität, weil ein solches Leben im Zeitalter der Vermassung und des Nihilismus seiner Auffassung nach mehr denn je eine große Herausforderung darstellte. 9 Für Nietzsche kommt es nun nicht nur darauf an, warum ein solches Leben von großer Bedeutung ist, sondern auch darauf, wie ein solches Leben möglich ist. Hier geht es um die Frage, wie man die Individualität des denkenden Lebens mit dem universalistischen Anspruch der Philosophie vereinbaren kann. Diese gestalterische Motivation bei Nietzsches Spinoza-Rezeption lässt sich bereits in seinen Kommentaren über dessen Umgang mit der Einsamkeit zwischen 1881 und 1885 beobachten. Dabei bildete diese Auseinandersetzung mit ihm zwischen 1881 und 1882, die geprägt von den Leitmotiven des »Chaos sive natura«-Gedankens stattfand, eine besondere Zäsur, die den Hintergrund seiner entwickelten Stellungnahme zu Spinozas Einsamkeit erklärt. Auch in der späteren Schaffensphase lässt sich ein mehrschichtiges Verhalten zu Spinoza bei Nietzsche feststellen: Es handelt sich um seine Anerkennung von Spinozas
Vgl. Yovel (1989), S. 134: »Spinoza, his enemy-brother, presents him with a singular counterexample. He is both a Nietzschean and yet a lover of reason and permanence. Spinoza is thereby a genealogical scandal for Nietzsche – impossible, unthinkable, yet embarrassingly real.« 8 Vgl. Kap. 4 im Hinblick auf »das Siegfriedhafte« bei Spinoza und dem jungen Wagner. 9 Vgl. JGB, VI, 212, KSA 5, S. 145. 7
Der maskierte Denker
»bejahende[r] Stellung« 10 und seinem gleichzeitigen Vorbehalt im LenzerHeide-Entwurf 1887 mit dem Titel »der europäische […] Nihilismus« (ebd.). Um den für Nietzsche immer noch ›merkwürdigen‹ Fall Spinoza zu erklären, wendete er verschiedene Strategien an. Unter anderem bediente er sich eines psychologischen Enthüllungsversuches, der in diesem Abschnitt thematisiert werden soll. Im Mittelpunkt steht dabei Nietzsches Analyse von Spinozas ›Maske‹ und ›Maskerade/Maskenspiel‹ in FW und JGB sowie in nachgelassenen Notizbüchern aus dieser Zeit. Dass die Metapher der Masken bei Nietzsche mit seiner philosophischen Behandlung der Einsamkeitsthematik (siehe Kap. 5) eng zusammenhängt, zeigt sich auch deutlich in seiner Spinoza-Rezeption, beispielsweise an zwei Stellen in JGB. 11 Es sei auf eine Stelle vom Sommer 1885 verwiesen, als Nietzsche Spinozas Einsamkeit wegen seiner Gottesannahme diskreditierte. 12 Zeitnah zu dieser Kritik schreibt Nietzsche über das Verhältnis zwischen dem Maskenspiel der freien Geister und der Einsamkeit: »Es wird uns aus vielen Gründen nöthig sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen« 13. Es sei auch angemerkt, dass Nietzsche Spinozas Formel deus sive natura in NL 36[15] – also kurz vor dieser Notiz – kritisiert hat. 14 In NL 36[19] wird anschließend die Abhängigkeit des Erkenntnisvermögens vom Selbsterhaltungsprinzip erwogen, die Nietzsche an anderen Stellen zu Beginn und zum Ende der 1880er Jahre 15 im Hinblick auf Spinozas Philosophie kritisch betrachtete. Wei10
NL 5[71], Der europäische Nihilismus, Lenzer Heide, den 10. Juni 1887, 7 und 8, KSA 12,
S. 214. JGB, I, 5, KSA 5, S. 19 und JGB, II, 25, KSA 5, S. 43. Vgl. KSB 7, S. 62–63, Nr. 609, An Franz Overbeck in Basel, Sils-Maria, Oberengadin, 2. Juli 1885. 13 »Wir neuen Philosophen aber, wir beginnen nicht nur mit der Darstellung der thatsächlichen Rangordnung und Werth-Verschiedenheit der Menschen, sondern wir wollen auch gerade das Gegentheil einer Anähnlichung, einer Ausgleichung: wir lehren die Entfremdung in jedem Sinne, wir reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, wir wollen, daß der Mensch böser werde als er je war. Einstweilen leben wir noch selber einander fremd und verborgen. Es wird uns aus vielen Gründen nöthig sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen, – wir werden folglich schlecht zum Suchen von unsresgleichen taugen. Wir werden allein leben und wahrscheinlich die Martern aller sieben Einsamkeiten kennen. Laufen wir uns aber über den Weg, durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten, daß wir uns verkennen oder wechselseitig betrügen.«, NL 36[17], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 557– 558. 14 Auch vgl. Nietzsches Kritik an Spinozas »Deus sive natura« in NL 2[131], Herbst 1885 – Herbst 1886, KSA 12, S. 131; Vgl. Scandella (2014), S. 177, Anm. 14. 15 Vgl. die nachgelassene Notiz nach Nietzsches Fischer-Lektüre, die sich direkt vor der ersten ›Chaos sive natura‹-Stelle befindet: NL 11[193], Frühjahr – Herbst 1881, KSA 9, S. 517– 518. Auch vgl. NL 14[121], Frühjahr 1888, KSA 13, S. 301. 11 12
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terhin wird in NL 36[32] die Einsamkeit Spinozas noch einmal reflektiert. Es scheint also plausibel, anzunehmen, dass sich Nietzsches Überlegung über das Verhältnis von Einsamkeit und Maske in diesen Monaten während seiner intensiven Auseinandersetzung mit Spinoza entwickelt hat. An dieser Stelle gilt es, ein verbreitetes Vorurteil in der Forschung auszuräumen, wonach Nietzsches Kennzeichen für Spinoza wie ›die Maske‹, »Maskerade« ( JGB I 5 und JGB II 25), »Rachsucht« 16 oder »anämisch […]« 17 seien nur pejorative Ausdrücke und verdienten keine theoretische Betrachtung. 18 Dasselbe sollte auch für seine andere Darstellungen zu Spinoza wie das »Schauspiel« (FW V 372), die »List« (NL 14[92]) und schließlich den »psychologische[n] Hintergrund« Spinozas (NL 7[4], Ende 1886 – Frühjahr 1887) gelten. In der Forschung wurden diese Termini höchstens als Indizien verstanden, die auf seinen Distanzierungsversuch hindeuten sollen. 19 In Abgrenzung von dieser Interpretation verweise ich jedoch auf die theoretische Funktion, die die genannten Bezeichnungen in Nietzsches Philosophie spielen. Es ist aus dieser Perspektive besonders bemerkenswert, dass sie Konflikte in verschiedenen Dimensionen implizieren und auf die neuen Fragen der Moderne aufmerksam machen. Es handelt sich sowohl um die Diskrepanz zwischen dem Innen und Außen eines Individuums als auch um den kulturellen Machtkampf zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft im Zeitgeist der Vermassung. Weitere Fragen stellen sich: Wie kann ein Denken entstehen, wenn keine Muße möglich ist, die seit der abendländischen Antike als die sozio-politische Bedingung des unabhängigen Denkens gegolten hat? Das von der Arbeit befreite Individuum war die nicht hinterfragte Quelle des souveränen Denkens seit der abendländischen Antike. Schließlich stellt sich die Frage: Was bedeutet das individuelle Denken in der Moderne?
JGB, II, 25, KSA 5, S. 43. »B. Von Zuständen ausgehn, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die ›Vergeistigung‹ und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen einnimmt; wo am meisten das Brutale, Thierisch-Direkte, Nächste vermieden wird: der ›Weise‹, ›der Engel‹ (priesterlich = jungfräulich = unwissend) physiologische Charakteristik solcher ›Idealisten‹ ; das anämische Ideal: unter Umständen kann es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen (: so sieht Goethe in Spinoza seinen ›Heiligen‹); – man rechnet ab, man wählt –«, NL 11[138], November 1887 – März 1888, KSA 13, S. 63–64. 18 Z. B. Wurzer (1975), S. 145. Dagegen hat Stegmaier bereits seinen Vorbehalt gegen eine derartige Interpretation durch den Hinweis zum Ausdruck gebracht, dass Nietzsche »Masken, jedenfalls sofern sie undurchsichtig bleiben, für sich selbst hochschätzt«, Stegmaier (2004), S. 115. 19 Vgl. Brobjer (2008), S. 77: »[…] with severe criticism, calling his philosophy ›this masquerade of a sick recluse‹ and labeling him as inconsistent and naive.« 16 17
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Nietzsches Fragestellung findet auf dem Horizont der höchsten Aktualität statt. Die ›Außenseite‹ der Maske eines Individuums der Moderne besteht in einer zu spielenden und wahrzunehmenden Theaterrolle auf der Bühne. Dahinter steckt das verhüllte Gesicht mit seinem bedrohlichen Willen der Revolte. Das im öffentlichen Raum aufgeführte Schauspiel steht dem verborgenen unzeitgemäßen Denken eines Individuums gegenüber. Die vortäuschend und verharmlosend unschuldige Kompromissbereitschaft steht der versteckten List und Absicht gegenüber. Spinozas Philosophieren stellt eine Antithese zur antiken Vorstellung über die Bedingung des unabhängigen Denkens dar. Denn: Nicht die Muße, sondern die Konflikte definierten die Genese und die Entwicklung von Spinozas Denken am Beginn der Neuzeit. Eine solche Maskerade kann in diesem Sinne ein raffiniertes bzw. strategisches Experiment eines Denkers bedeuten, der hinter der Maske der Anpassung sein radikales Denken herausbildet – wie in einem Kokon. Der Denker mit Maske unternimmt es, produktive Triebkraft aus der Spannung zwischen unterschiedlichen Dimensionen zu schöpfen. Wenn weder die politisch-ökologische Muße noch die theologische Flucht in die absolute Einsamkeit mehr realistisch ist, wenn der Mensch im modernen Zeitalter trotzdem souverän denken und leben will, muss er ein Maskenspiel spielen. Diese Perspektive des Maskenspiels und die dabei verwendeten Termini lassen sich jedoch nicht nur in seiner Spinoza-Rezeption, sondern auch in Nietzsches Selbst- und zeitgenössischer Kulturbeobachtung in Ecce homo (1888–1889) wiedererkennen. Diejenigen, die mithilfe ihrer Maskerade einen strategischen Umgang mit der bestimmenden Außenwelt suchen, nennt Nietzsche ›die freien Geister.‹ Ihre »gute Einsamkeit« ( JGB 25) ist nicht nur für ihre Fortexistenz erforderlich, sondern auch von ihnen selbstbewusst gewählt und inszeniert, um ihre Souveränität zu bewahren. In diesem Kontext bedeutet eine solche Einsamkeit nicht mehr ein isoliertes Eremitenleben in der menschenfreien Natur, das der gleichnamige Held in Hölderlins Hyperion oder Der Eremit in Griechenland oder der alte Einsiedler im Wald in der Vorrede von ZA repräsentierten. 20 Hier handelt es sich um eine ambivalente Koexistenz von passivem und aktivem Dasein. Es geht darum, seine Authentizität gegen die »nivellirende« »demokratische« (ebd.) 21 Tendenz zu behaupten, ohne sich der Menschenwelt zu entziehen. In diesem Sinne bedingen sich die Einsamkeit und das Maskenspiel bei Nietzsche. Einerseits verlangt das Ideal der souverä20
Zum Verhältnis zwischen Hölderlins Hyperion und ZA, siehe Ottmann (2000), S. 387–
388. Vgl. JGB, II, 44, KSA 5, S. 60 f. Über den Begriff Demokratie bei Nietzsche siehe das letzte Kapitel. 21
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nen Einsamkeit das Maskenspiel, während das Maskenspiel diese Einsamkeit andererseits davon abhält, zur wirklichkeitsfremden Vereinsamung und »Verkümmerung« 22 ohne Bezug zu anderen Mitmenschen zu geraten. Wie viel davon kann jedoch auch für Nietzsches Spinozainterpretation bzw. für Spinozas eigenes Denken gelten? Lässt sich Spinozas Maskerade auch als eine bewusste Strategie der Selbstbestimmung interpretieren? In Anlehnung an EH lässt sich diese Frage nach der Rolle der spinozistischen Maske umformulieren: Wie ist der Philosoph Spinoza das geworden, was er ist? Es gilt weiter zu fragen, ob Nietzsche mit seiner Perspektive über ›Spinozas Maskerade‹ die gesellschaftliche und politische Dimension von Spinoza herausstellen wollte. Wenn beide Antworten positiv ausfallen würden, könnte dies heißen, dass Spinoza, ähnlich wie ›die freien Geister‹, im Maskenspiel einen produktiven Umgang mit seiner Einsamkeit gefunden hätte. Nietzsche hat selbst darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff Person etymologisch eine ›Maske[nrolle] des Schauspielers‹ (lat.: ›persona‹, altgr.: ›πρόσωπον‹, etrusk.: ›phersu‹) bedeutet. 23 Er hat darüber hinaus auf die Spannung zwischen dem Denken und dem Leben unter zeitgenössischen Bedingungen aufmerksam gemacht, mit der maskierte Denker auf der Weltbühne leben und handeln. Während die Unterschiede zwischen Nietzsche und Spinoza am Umgang mit der Einsamkeit insbesondere in verschiedenen und miteinander konkurrierenden Auffassungen zur Politik und Demokratie ersichtlich wurden, gilt es nun, den philosophischen Hintergrund von Nietzsches psychologischer Analyse des Falls Spinoza weiter zu erörtern.
Vgl. NL 27[23], Sommer – Herbst 1884, KSA 11, S. 280–281: »Zarathustra I alle Arten höherer Menschen und deren Bedrängniß und Verkümmerung (einzelne Beispiele z. B. Dühring, u Grunde gerichtet durch Isolation) – im Ganzen das Schicksal der höheren Menschen in der Gegenwart, die Art, wie sie zum Aussterben verurtheilt erscheinen: wie ein großer Hülfeschrei kommt es zu den Ohren Zarathustra’s. Alle Art von wahnsinniger Entartung höherer Naturen (z. B. Nihilismus) kommt an ihn heran.« 23 »Daß ich es nicht mehr nöthig habe, an ›Seelen‹ zu glauben, daß ich die ›Persön-lichkeit‹ und ihre angebliche Einheit leugne und in jedem Menschen das Zeug zu sehr verschiedenen ›Personae‹ (und Masken) finde, […]«, NL 36[17], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 558; vgl. auch ›Ein tractatus politicus‹, NL 11[54], November 1887 – März 1888, KSA 13, S. 26: »Die Moralisten haben die Attitüde der Tugend nöthig, auch die Attitüde der Wahrheit; ihr Fehler beginnt erst, wo sie der Tugend nachgeben, wo sie die Herrschaft über die Tugend verlieren, wo sie selbst moralisch werden, wahr werden. Ein großer Moralist ist, unter Anderem, nothwendig auch ein großer Schauspieler […]«; vgl. auch NL 25[374], Frühjahr 1884, KSA 11, S. 109–110; auch vgl. NL 26[393], Sommer – Herbst 1884, KSA 11, S. 254. 22
Anti-Universalismus
6.2 Anti-Universalismus. Wie Spinoza wurde, was er war
Nietzsche zufolge impliziert eine ›Maske‹ die Tiefe hinter ihr ( JGB II 40). Die Maske eines Einzelnen verbirgt mehr »Personen, als er glaubt. ›Person‹ ist nur eine Betonung, Zusammenfassung von Zügen und Qualitäten.« 24 Die »schöpferische Kraft« 25, die aus ›Personen‹ ein Individuum konstruiert, gilt zwar als ein universalistisches Prinzip für jeden philosophierenden Menschen. Der Fall Spinoza bzw. Spinozas einsame Maskerade bedeutete für Nietzsche jedoch ein exemplarisches Beispiel, in dem das individuelle Streben den Universalismus der Philosophie auf eine besondere Art und Weise verkörpert. Nietzsches wahres Interesse liegt darin herauszufinden, welche Bedeutung ein solches Plädoyer für den Universalismus für das individuelle Denken haben kann. Inwieweit beeinflusst ein universalistischer Anspruch im Denken den Denkenden? Mit anderen Worten: Wie wurde Spinoza, was er war? Im Herbst 1884 verfasste Nietzsche ein diesbezüglich interessantes Gedicht »An Spinoza«. 26 In der letzten Zeile stellt er Spinoza die Frage, ob er diesen ›richtig erkannt‹ habe. 27 Yovel (1989, S. 232) sieht darin lediglich eine rhetorische Frage; Nietzsche glaubte im Grunde, er habe Spinoza tatsächlich richtig verstanden. Dennoch scheint diese Stelle für die Interpretation offen, dass Nietzsche mit seinem Spinoza-Urteil noch nicht zum Schluss gekommen war. Dass Spinoza für ihn 1886 noch »merkwürdig« (NL 7[4]) erscheint, spricht für diese Auslegung. Diese Frage nach dem Hintergrund von Spinozas Denken ist mit Vorsicht zu beantworten, weil seine einsiedlerische Lebensweise in Maskerade einen einfachen Zugang zu Motivation und Bedingung seines Denkens blockiert. Nietzsches Strategie ist, die Position eines Psychoanalytikers einzunehmen und ein diagnostisches Patienten-Gespräch zu führen, um einen »Der Einzelne enthält viel mehr Personen, als er glaubt. ›Person‹ ist nur eine Betonung, Zusammenfassung von Zügen und Qualitäten.«, NL 25[363], Frühjahr 1884, KSA 11, S. 108. 25 Vgl. NL 36[32], Juni – Juli 1885. Vgl. »Die schöpferische Kraft – nachbildend, bildend, formend, sich übend – der von uns repräsentirte Typus ist eine unserer Möglichkeiten – wir könnten viele Personen noch darstellen – wir haben das Material dazu in uns. – Unsre Art Leben und Treiben als eine Rolle zu betrachten – eingerechnet die Maximen und Grundsätze – – – wir suchen einen Typus darzustellen, instinktiv – wir wählen aus unserem Gedächtniß aus, wir verbinden und combiniren die facta des Gedächtnisses.«, NL 25[362], Frühjahr 1884, KSA 11, S. 107. 26 »An Spinoza./ Dem ›Eins in Allem‹ liebend zugewandt,/ Ein amor dei, selig, auf Verstand – / Die Schuhe aus! Welch dreimal heilig Land! – –/ Doch unter dieser Liebe fraß/ unheimlich glimmender Rachebrand:/ – am Judengott fraß Judenhaß! –/ – Einsiedler, hab ich dich erkannt?«, NL 28[49], Herbst 1884, KSA 11, S. 319; vgl. Wurzer (1975), S. 92. 27 »– Einsiedler, hab ich dich erkannt?«, ebd. 24
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›Fall‹ zu konstatieren, was auch in seiner medizinischen Wortwahl reflektiert wird. Er stellte eine Frage an jenen anämischen28 und »einsiedlerischen Kranken« 29 und versuchte seinen psychologischen Hintergrund der Philosophie für diesen rationalistischen »Logiker« 30 Spinoza selbst zu enthüllen. Dass sich Spinoza seines Maskenspiels und dessen Hintergrunds nicht bewusst war, bekräftigte Nietzsche durch Hinweise auf die Einsamkeit von Giordano Bruno und Spinoza an einer anderen Stelle: Er stellte fest, dass sie die Auswirkung ihrer Einsamkeit – »raffinirten Rachsüchtigen und Giftmischern«31 – selbst nicht geahnt hätten. Nietzsches auffallende Hoffnung auf und seine Motivation für die erfolgreiche Diagnose des Falls Spinoza legt nahe, dass er in Spinoza sein Spiegelbild gesehen hat: Ein Spiegelbild, das zwar sehr ähnlich ist, aber ein umgekehrtes Verhältnis zwischen den Elementen besaß, was die Wirkung des Denkens in eine andere Richtung leitet. Es handelt sich um eine ›interdisziplinäre‹ Sichtweise zwischen Philosophie und Psychologie, welche eine Antwort auf diese Fragen enthüllen soll: Wie kann man die Individualität des denkenden Lebens mit dem universalistischen Anspruch der Philosophie vereinbaren? Inwieweit lässt sich das Denken als die produktive Konsequenz (»der Wert«) des einsamen Maskenspiels betrachten (MA, I, 157)? In diesem Sinne deutete Nietzsches Wortwahl, wie etwa die »Maskerade eines einsiedlerischen Kranken« 32 oder »die List des Spinoza« 33, auf wesentlich mehr als einen Ad-hominem-Vorwurf hin. Vielmehr bezog sie sich auf die inneren und äußeren Seiten von Spinozas Maske, die Gegenstände von Nietzsches Analyse des »Einzel-Fall[s]« (NL 5[71]) von Spinoza wurden. In diesem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen: Unter welchen vordergründigen Merkmalen lässt sich die Philosophie Spinozas zusammenfassen? Was bildet die Hintergründe seines Denkens? Welche konstitutive Funktion hat die Einsamkeit eines Philosophen und seine dadurch bedingte Maskierung für die Entstehung seines Denkens?
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FW V, 372, KSA 3, S. 623–624. JGB, I, 5, KSA 5, S. 19. NL 7[4], KSA 12, S. 263; Siehe Abschnitt 6.2.3. JGB, II, 25, KSA 5, S. 43. JGB, I, 5, KSA 5, S. 19. NL 14[92], Frühjahr 1888, KSA 13, S. 269.
Anti-Universalismus
6.2.1 »Der hedonistische Gesichtspunkt im Vordergrund«
Zwischen Ende 1886 und Frühjahr 1887 verfasste Nietzsche einen Entwurf über »Spinozas psychologischen Hintergrund« unter der Rubrik »die Metaphysiker«: »Spinoza’s psychologischer Hintergrund. Spärlich! / 1) Der hedonistische Gesichtspunkt im Vordergrund: Worin besteht die beharrliche Freude oder wie kann der freudige Affekt verewigt werden?« 34 Spinozas »beharrliche Freude« (ebd.) schien Nietzsche in der letzten Phase seiner Auseinandersetzung mit ihm immer noch rätselhaft, wie damals, als er 1881 diesen »abnormste[n] und einsamste[n] Denker« 35 für sich neu entdeckt hatte. In der Tat beziehen sich diese Ausdrücke wie »beharrliche Freude« und seine Frage, »wie kann der freudige Affekt verewigt werden«, auf seine Lektüre von Fischers Spinoza-Kommentar, z. B.: »2. Die Bejahung der freudigen Affecte« (Fischer, S. 536), »3. Die Verneinung der vergänglichen und Bejahung der ewigen Freude« (S. 537 f.) und »4. Die ewige Freude als Erkenntniß der Dinge« (S. 539). Seine anschließende Hintergrund-Analyse 36 des ersten vordergründigen Merkmals beim Philosophieren Spinozas beruht ebenfalls auf Fischers Erörterung. 37 Nach diesem Vorbild wird Spinoza bei Nietzsche mit dem altgriechischen Staatsmann und Philosophen Bias aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. verglichen, der Cicero zufolge bei seiner Flucht aus seiner Heimatstadt Priene anderen um ihn besorgten Flüchtlingen in aller Ruhe gesagt haben soll: »Ich trage [bereits] alles Meinige mit mir (omnia mea mecum porto)«, insofern er sein Selbst dabei habe. 38 So bräuchte er nichts Weiteres mitzunehmen. Bei Spinoza findet sich eine solche Selbstgenügsamkeit noch mehr bekräftigt. Denn laut Nietzsche kann Spinoza sein Selbst nicht nur als einen endlich-vergänglichen Modus betrachten, sondern auch als etwas, das auf der unveränderlichen absoluten Substanz – oder seiner eigenen Ursache (causa sui) – fundiert ist, solange er nach der Vernunft lebt. Genau in diesem Hinblick führt
NL 7[4], Ende 1886 – Frühjahr 1887, KSA 12, S. 260. Vgl. Wurzer (1975), S. 111 f. KSB 6, Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111. 36 »So lange die Freude sich auf etwas Einzelnes bezieht, ist sie beschränkt und vergänglich; sie wird vollkommen, wenn sie nicht mehr mit den Dingen wechselt, sondern in dem wandellosen Zusammenhange ruht; sie ist ewig, wenn ich das All in mein Eigenthum, omnia in mea, verwandle und von diesen omnia mea jeden Augenblick sagen kann ›mecum porto‹«, NL 7[4]. 37 »Vergänglich ist meine Freude, wenn ich Einiges mein nenne; sie ist ewig, wenn ich das All in mein Eigenthum, omnia in mea verwandle und von diesem ›omnia mea‹ in jedem Augenblick sagen kann: ›mecum porto!‹«, Fischer (1865), S. 539–540. 38 Vgl. ›Omnia mea mecum porto‹ in Brockhaus (2006), Bd. 20. 34 35
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Nietzsche Zitate aus Spinozas Frühwerk Tractatus de intellectus emendatione (»Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes«, 1662) weiter 39: »Im tract. de intell. emendatione Op. II p. 413. ›Ich habe den Entschluß gefaßt zu untersuchen, ob sich etwas finden ließe, dessen Besitz mir den Genuß einer dauernden und höchsten Freude ewig gewährte.‹ ›Die Liebe zu einem ewigen und unendlichen Wesen erfüllt das Gemüth mit einer Freude, die jede Art Trauer ausschließt.‹ ›Das höchste Gut ist die Erkenntniß der Einheit unseres Geistes mit dem Universum.‹«
Einerseits stellte es für Nietzsche als Denker des Agonalen eine sowohl theoretische als auch existenzielle Herausforderung dar, dass Spinozas Selbstgenügsamkeit durch ein einträchtiges Selbst- und Weltverhältnis im Hintergrund befestigt werden konnte. Wenn diese von Nietzsches Position grundsätzlich fremde Bejahung bei Spinoza möglich ist, wie sollte sie bewertet werden? Trotz seines Erstaunens über Spinoza wollte sich Nietzsche von seinem Vorgänger distanzieren, dessen unheimliches Spiegelbild Nietzsches kritischen Geist erneut zu sich gezogen und dadurch ein neues Spannungsfeld erzeugt hat. Andererseits zeigt sich die Dimension einer denkenden und fühlenden Person, deren Freude nicht nur als ein Ergebnis, sondern auch als eine Grundlage des Denkens interpretiert wird. Das Leben, das Fühlen der denkenden Person, macht das Denken überhaupt möglich und wurde der Gegenstand dieser Auseinandersetzung in der letzten Schaffensphase Nietzsches. 6.2.2 »Der natürlich-egoistische Gesichtspunkt« »2) der natürlich-egoistische Gesichtspunkt: Tugend und Macht identisch. Sie entsagt nicht, sie begehrt, sie kämpft nicht gegen, sondern für die Natur; sie ist nicht die Vernichtung, sondern die Befriedigung des mächtigsten Affekts. Gut ist, In philologischer Hinsicht ist dabei noch zu erwähnen, dass Nietzsche hier wieder Fischers Spinozadarstellung wiedergibt. Bis auf den unerheblichen kleinen Unterschied, dass ein Artikel ›der‹ in Nietzsches Notiz ausfällt, sind die beiden Texte identisch. Es ist klar, dass Nietzsche hier Fischers Spinozabeschreibung zitiert, bzw. kommentiert. Vgl. Fischer (1865), S. 540 f.: »Er [= Spinoza, J. Y.] hat in seiner Ethik gelöst, was er sich in dem Tractat über die Berichtigung des Verstandes zum Ziele gesetzt hatte. ›Ich habe endlich,‹ so sagt er in dieser seiner ersten Schrift, ›den Entschluß gefasst, zu untersuchen, ob es ein wahrhaftes und erreichbares Gut gäbe, von dem das Gemüth ganz mit Ausschließung alles Anderen ergriffen werden könnte, ja ob sich etwas finden ließe, dessen Besitz mit den Genuß einer dauernden und höchsten Freude ewig gewährte.› ‹Die Liebe zu einem ewigen und unendlichen Wesen erfüllt das Gemüth mit einer Freude, die jede Art der Trauer ausschließt.‹ ›Das höchste Gut ist die Erkenntniß der Einheit unseres Geistes mit dem Universum (Anm. Tractatus de intellectus emendatione. Op. II. pg. 413, 416, 417. […])‹« 39
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was unsere Macht fördert: böse das Gegentheil. Tugend folgt aus dem Streben nach Selbsterhaltung. ›Was wir thun, thun wir, um unsere Macht zu erhalten und zu vermehren.‹ ›Unter Tugend und Macht verstehe ich dasselbe.‹/ Finis = appetitus. Virtus = potentia. Eth. IV Defin.VII. VIII.« 40
Die Betonung des Egoismus Spinozas steht bei Nietzsche im direkten Gegensatz zur konventionellen Spinozainterpretation: Goethe und Fischer haben zwar in Spinozas Denken »Uneigennützigkeit« 41 beobachtet. Nietzsches Kritik fängt jedoch damit an, dass Spinozas »Unschuld« 42, die Goethe bewunderte, mit seiner ›merkwürdigen‹ Überlegung zum Gewissensbiss oder schlechten Gewissen ohne eine geeignete Erklärung nicht leicht in Einklang zu bringen ist. Denn man muss noch dazu einen philosophischen Egoismus als eine Grundtendenz seiner Philosophie voraussetzen. Dieses Rätsel wird an derselben Stelle vorläufig gelöst, indem Nietzsche einsieht, dass sich Spinozas Egoismus in seiner Identifikation von Tugend und Macht erklären lässt. 43 Trotz jener Beobachtung von Fischer und Goethe über Spinozas ›Uneigennützigkeit‹ erscheinen egoistische Züge in Spinozas Philosophie für Nietzsche daher als wesentliches verborgenes Merkmal dieses Denkers. Statt daraus jedoch eine theoretische und persönliche Inkonsequenz Spinozas abzuleiten, macht Nietzsche auf das Maskenspiel Spinozas zwischen dem ›Egoismus‹ im Hintergrund und der ›Uneigennützigkeit‹ im Vordergrund aufmerksam. Dass die ›egoistische‹ Selbstliebe »nicht gegen, sondern für die Natur […] kämpft« (NL 7[4]), ermöglicht die Produktivität dieser Spannung. Spinozas Egoismus lässt sich mit seiner ›Uneigennützigkeit‹ gut vereinbaren, indem die Selbstliebe, seine »Tugend und Macht« (ebd.) zu vermehren, ein von der Vernunft NL 7[4], Ende 1886 – Frühjahr 1887, KSA 12, S. 261. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Vierzehntes Buch, S. 681: »[…] ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt aufzutun. Was mich aber besonders an ihn fesselte, war die grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satze hervorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: ›Wer Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn wieder liebe‹, mit allen den Vordersätzen, worauf es ruht, mit allen den Folgen, die daraus entspringen, erfüllte mein ganzes Nachdenken. Uneigennützig zu sein in allem, am uneigennützigsten in Liebe und Freundschaft, war meine höchste Lust, meine Maxime, meine Ausübung, so daß jenes freche spätere Wort: ›Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?‹ mir recht aus dem Herzen gesprochen ist.«; vgl. auch Fischer (1865), S. 126 f., wo er Goethe aus derselben Stelle von Dichtung und Wahrheit zitiert. 42 Vgl. Baumgardt (1927), S. 191: »Und noch in der ›Genealogie der Moral‹ findet sich das tiefe Wort: Spinoza habe der Welt ihre ganze Unschuld wiedergegeben. Er sei einer der wenigen gewesen, die sie wahrhaft heilen wollten von dem ›morsus conscientiae‹, von dem schlechten Gewissen.« 43 NL 7[4], Ende 1886 – Frühjahr 1887, KSA 12, S. 161. 40 41
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geleitetes Leben bedeutet und in seiner einträchtigen Weltsicht am besten das Wohl der anderen verwirklichen kann. 44 Trotz seiner Distanzierung zu Spinozas Gleichung ›deus sive natura‹, seinem Prinzip der Selbsterhaltung 45 und der christlichen ›Nächstenliebe‹ 46 zollt Nietzsche dieser ›unmoralistischen‹ Art der Bejahung große Anerkennung. 47 Auf dieses Thema geht Nietzsche in GM nochmals ein. Im zweiten Buch der GM deutet Nietzsche Spinozas Gewissensbiss explizit und eingehend gegen Fischers Lesart: »Dies kam einmal auf eine verfängliche Weise Spinoza zum Bewusstsein (zum Verdruss seiner Ausleger, welche sich ordentlich darum bemühen, ihn an dieser Vgl. Tongeren (2005), S. 717, ›Egoismus‹ : »Egoismus im Sinne der Selbst-Bejahung und Selbstförderung ist demnach Voraussetzung für das ›Wohlthun‹ gegen Andere. Hier besteht also kein Gegensatz mehr wie in der traditionellen Moral, sondern eine Beziehung der Implikation: Egoismus als Selbstbejahung, und d. h. das starke ego, ist nach N.s EgoismusKonzept die conditio sine qua non für soziales Handeln […]«. 45 Vgl. NL 14[121], Frühjahr 1888, KSA 13, S. 301: »Der Satz des Spinoza von der Selbsterhaltung müßte eigentlich der Veränderung einen Halt setzen: aber der Satz ist falsch, das Gegentheil ist wahr. Gerade an allem Lebendigen ist am deutlichsten zu zeigen, daß es alles thut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden.«; vgl. auch NL 26[277], Sommer – Herbst 1884, KSA 11, S. 222–223: »Gegen den Erhaltungs-Trieb als radikalen Trieb: vielmehr will das Lebendige seine Kraft auslassen – es ›will‹ und ›muß‹ (beide Worte wiegen mir gleich!): die Erhaltung ist nur eine Consequenz.«; vgl. NL 36[19], Juni – Juli 1885, KSA 11, S. 559–560: »Es ist unwahrscheinlich, daß unser ›Erkennen‹ weiter reichen sollte als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven, sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältniß zur Schwierigkeit der Ernährung.«; vgl. auch EH, S. 291 f.; vgl. Abel (1984), S. 49–59, Müller-Lauter (1999), S. 78 und Solies (2004), S. 250, Anm. 7 u. S. 251; vgl. Fischer (1865), S. 487 f.: »6. Die Selbsterhaltung als Grundlage der Tugend.« 46 Siehe Abs. 5.3.7. Vgl. EH, KSA 6, S. 294: »Moralisch ausgedrückt: Nächstenliebe, Leben für Andere und Anderes kann die Schutzmassregel zur Erhaltung der härtesten Selbstigkeit sein. Dies ist der Ausnahmefall, in welchem ich, gegen meine Regel und Überzeugung, die Partei der ›selbstlosen‹ Triebe nehme: sie arbeiten hier im Dienste der Selbstsucht, Selbstzucht.«; vgl. ZA, I, Vom Krieg und Kriegsvolke, KSA 4, S. 59: »Der Krieg und der Muth haben mehr grosse Dinge gethan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.«; vgl. auch M, V, 471, KSA 3, S. 282, Eine andere Nächstenliebe. 47 Vgl. Baumgardt (1927), S. 182: »Und doch ist es voll begreiflich, daß gerade Spinoza fast ein volles Jahrhundert als einer der ›verruchtesten Gottesleugner‹, ja als der ›gefährlichste‹ aller Atheisten gelten konnte. Denn er erschien schon als Jude aus aller christlichen Tradition völlig herausgerückt. Er hatte es wirklich versucht, die christliche Moral der humilitas nicht nur zu negieren, sondern – was eben viel fesselloser empören mußte – er hatte es bereits gewagt, eine eigentliche Philosophie des ›Willens zur Macht‹ als eine neue Ethik an dieselbe Stelle zu setzen.«. »Erst Nietzsche aber hat endlich auch diese Wertung wieder bewußt umgewertet.«, a. a. O., S. 191. 44
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Stelle misszuverstehn, zum Beispiel Kuno Fischer) als er eines Nachmittags, wer weiss, an was für einer Erinnerung sich reibend, der Frage nachhieng, was eigentlich für ihn selbst von dem berühmten morsus conscientiae übrig geblieben sei – er, der Gut und Böse unter die menschlichen Einbildungen verwiesen und mit Ingrimm die Ehre seines ›freien‹ Gottes gegen jene Lästerer vertheidigt hatte, deren Behauptung dahin gieng, Gott wirke Alles sub ratione boni (›das aber hiesse Gott dem Schicksale unterwerfen und wäre fürwahr die grösste aller Ungereimtheiten‹ –). Die Welt war für Spinoza wieder in jene Unschuld zurückgetreten, in der sie vor der Erfindung des schlechten Gewissens dalag: was war damit aus dem morsus conscientiae geworden? ›Der Gegensatz des gaudium, sagte er sich endlich, – eine Traurigkeit, begleitet von der Vorstellung einer vergangnen Sache, die gegen alles Erwarten ausgefallen ist.‹ Eth. III propos. XVIII schol. I. II. Nicht anders als Spinoza haben die von der Strafe ereilten Übel-Anstifter Jahrtausende lang in Betreff ihres ›Vergehens‹ empfunden: ›hier ist Etwas unvermuthet schief gegangen‹, nicht: ›das hätte ich nicht thun sollen‹ –.« 48
Zwar wies Fischer in seinem Spinozaband Moses Mendelssohns Vorwurf an Spinoza zunächst zurück, dass Spinozas »Lehre« »unmoralisch sei, weil sie die Geltung der moralischen Begriffe verneine.« (Fischer, S. 562–564) Fischer zufolge sei ein derartiger Vorwurf jedoch unberechtigt, da Spinozas System nur das Wesen der Natur betrachtet, wobei »niemand […] von der Natur […] moralische Handlungen […] erwartet« (ebd.). Eine solche Erwartung sei bloß ein kategorischer Fehler. Dass Spinoza »kein Moralist« (ebd.) war, bedeutet nicht zwangsläufig, so Fischer, dass seine Philosophie eine unmoralische Lehre sei. Aber Fischers Verteidigung von Spinoza versagte dadurch, dass er bei seiner Darstellung die möglichen Konsequenzen seines Denkens für die Moralität nicht erkannt hat, sei es negativ oder positiv. Nietzsche wurde dagegen von ihren vehementen Konsequenzen beeindruckt, da er erkannt hat, dass Spinoza die Moralität als das ständig und neu zu konstruierende Wertsystem verstanden hat, in dem die Frage nach Gut und Böse durch die Beurteilung von Gut und Schlecht ersetzt wird. Nietzsche zufolge brauchte Spinozas Definition vom schlechten Gewissen keine moralistische Komponente. Eine in den Augen der traditionellen Moralphilosophie derart ›merkwürdige‹ Stellungnahme zum schlechten Gewissen ist Nietzsche zufolge nicht nur ein Ergebnis seiner Philosophie. Vielmehr ist es Spinozas Person, die in einer selbstbestimmten Lebensgestaltung seine »Unschuld« (GM II, 15) ermöglicht hat. Spinozas siegfriedhafte 49 Unschuld, schlechtes Gewissen im herkömmlichen Sinne nicht zu kennen, ermöglicht
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GM, II, 15, KSA 5, S. 320–321. Siehe Abs. 4.5.4.
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seine außermoralistische Philosophie, wie Nietzsche im Hinblick auf seine ›Unschuld‹ im Lenzer-Heide-Entwurf 1887 nochmals diskutiert. 50 Zwar erinnert Spinozas Identifikation von Tugend, Macht und Leidenschaften in NL 7[4] an Nietzsches Diskussion in ›Von den Freuden- und Leidenschaften‹ im ersten Buch von ZA. 51 Dennoch muss sich Nietzsche von Spinoza wieder distanzieren, sobald er glaubt, den intellektualistischen Zug seines Vorgängers gerade bei dessen Aufwertung der Leidenschaften enthüllt zu haben, worauf ich im nächsten Abschnitt eingehe. 6.2.3 Der Affekt des Logikers: »Der spezifische ›Denker‹ verräth sich«
Schließlich weist Nietzsche auf Spinozas intellektualistische oder rationalistische Tendenz als eine psychologische Eigenschaft hin. Sie soll die Dominanz der Erkenntnis über alle anderen Affekte »verraten«, welche er als den »mächtigsten Affekt[en]« 52 bezeichnet hat: »3) der spezifische ›Denker‹ verräth sich. Die Erkenntniß wird Herr über alle anderen Affekte; sie ist stärker. ›Unsere wahre Thätigkeit besteht in der denkenden Natur, in der vernünftigen Betrachtung. Die Begierde zur Thätigkeit = der Begierde vernunftgemäß zu leben. ›ich gebe nicht viel auf die Autorität eines Plato, Aristoteles und Sokrates‹ ; die Lehre von den ›substantiellen Formen‹ (Zweckbegriff in der scholastischen Ausdrucksweise) nennt er ›eine Narrheit unter tausend anderen‹.« 53
Nietzsches Beobachtung in seiner letzten Schaffensphase zeigt, dass sein spätes Spinoza-Bild seinen früheren Eindrücken über ihn, die er sich durch seine Siehe Abs. 6.3. Im Hinblick auf die Ähnlichkeiten zwischen Spinozas Identifikation der TugendMacht-Leidenschaften und Nietzsches Diskussion in ›Von den Freuden- und Leidenschaften‹ in ZA, Vgl. Seggern (2005), S. 131, wo er zu Recht auf Pieper (1990) hinweist; vgl. Pieper (1990), S. 168; vgl. auch Seggerns Kommentar über Wiehl 1998, a. a. O., S. 132: »Es ist daher zu einfach, von Leidenschaft und Tugend als Antithese zu sprechen, wie Pieper es tut. Vielmehr entspricht der Ethik Spinozas die Vorstellung einer Korrespondenz von Tugend und Leidenschaft: Tugend geht aus Leidenschaft geradezu hervor. Tugend in den Gegensatz zu Leidenschaft zu setzen, ist Resultat einer folgenschweren Verwechslung. Denn, so schreibt Reiner Wiehl, die Ethik zitierend, über die psychologische Verquickung von Begehren und Tugend: ›Spinoza […] hat das maßgebliche einer solchen Verwechslung in Verbindung mit seinen neuen Begriffen von Trieb, Begierde und Wille gegeben: [Er schreibt], ›daß wir nichts erstreben, wollen, begehren oder wünschen, weil wir es für gut halten, sondem wir halten etwas für gut, weil wir es erstreben, wollen, begehren wld wünschen‹ – die umgekehrte Betrachtung ist der Irrtum der Verwechslung.« 52 KSB 6, Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111. 53 NL 7[4], Ende 1886 – Frühjahr 1887, KSA 12, S. 260–261. 50 51
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Goethe- und Fischer-Lektüre 54 jeweils in den 70er Jahren 55 und zu Beginn der 1880er-Jahre verschafft hat, nicht widerspricht, sondern diese vielmehr bestätigt. Nietzsche zufolge zeigt sich das intellektualistische Merkmal am deutlichsten an der anschließenden Stelle über Spinozas Trieb als Logiker 56: »(vollkommene Abwesenheit des ›Künstlers‹) Höchste und komische Pedanterie eines Logikers, der seinen Trieb vergöttert / Spinoza glaubt, Alles absolut erkannt zu haben. / Dabei hat er das größte Gefühl von Macht. Der Trieb dazu hat alle anderen Triebe überwältigt und ausgelöscht. / Das Bewußtsein dieser ›Erkenntniß‹ hält bei ihm an: eine Art ›Liebe zu Gott‹ resultirt daraus, eine Freude am Dasein, wie es auch sonst ist, an allem Dasein.« 57
Nietzsches Kritik an Spinozas Intellektualismus zielt darauf ab, dessen Hintergrund zu enthüllen, dass die Erkenntnis nichts anderes als ein »Trieb« (ebd.) und ein Ausdruck der Macht zur Wahrheit ist. Nicht darin, dass sein Intellektualismus vom Machtgefühl nicht zu trennen ist, besteht das Problem von Spinozas Philosophieren. Vielmehr sieht Nietzsche einen ›Fehlschluss‹ 58 darin, Vgl. Fischer, S. 546 f.: »1. Rationalismus oder System des reinen Verstandes«, insbesondere a. a. O., S. 548: »Nur in einem vollständigen System des reinen Verstandes, nur als absoluter Rationalismus kann die Philosophie die Aufgabe lösen, die sie als Philosophie sich setzten muß. Die Lehre Spinoza’s ist vollkommener Rationalismus und will es sein: das ist ihr Grundzug und allgemeiner Charakter.« 55 Siehe Abs. 3.1.1. 56 Bereits Schopenhauer hat Spinozas unbewusste logische Tendenz diskutiert: »Spinoza, der sich immer rühmt, more geometrico zu verfahren, hat dies wirklich noch mehr getan, als er selbst wußte. Denn was ihm, aus einer unmittelbaren, anschaulichen Auffassung des Wesens der Welt, gewiß und ausgemacht war, sucht er unabhängig von jener Erkenntnis logisch zu demonstrieren. Das beabsichtigte und bei ihm vorher gewisse Resultat erlangt er aber freilich nur dadurch, daß er willkürlich selbstgemachte Begriffe (substantia, causa sui u. s. w.) zum Ausgangspunkt nimmt und im Beweisen alle jene Willkürlichkeiten sich erlaubt, zu denen das Wesen der weiten Begriffssphären bequeme Gelegenheit gibt. Das Wahre und Vortreffliche seiner Lehre ist daher bei ihm auch ganz unabhängig von den Beweisen, eben wie in der Geometrie.«, Schopenhauer, WWV, II § 15, S. 127, Anm. ??? 57 NL 7[4], Ende 1886 – Frühjahr 1887, KSA 12, S. 263. 58 In diesem Sinne lässt sich Spinozas Philosophieren so interpretieren, dass sie sogar im Widerspruch zur Macht zur Wahrheit steht. Vgl. NL 40[13], August – September 1885, KSA 11, S. 633–634: »Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es giebt identische Fälle. Thatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese Bedingung erst als erfüllt fingirt werden. Das heißt: der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens vorgenommen ist. Woraus sich ergiebt, daß hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung und dann der Durchführung Eines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht aus dem Willen zur Wahrheit.« Vgl. »Auch Spinozas ganze Demonstrationsmethode beruht auf solchen ununtersuchten und zu weit gefaßten Begriffen.«, Schopenhauer, WWV II, § 4. Von der Erkenntnis a priori, S. 58. 54
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dass Spinozas »größte[s] Gefühl von Macht« (ebd.), »alles absolut erkannt zu haben«, zu seinen optimistischen Annahmen geführt habe. Spinozas »intellektuelle Liebe Gottes« (ebd.; amor dei intellectualis), die den »hedonistischen Gesichtspunkt« (ebd.) und »die beharrliche Freude« (ebd.) ermöglicht hat 59, beruht auf seiner unbewussten Überzeugung, dass alles notwendig ist. Der Logiker Spinoza erkennt in diesem Sinne keine ontologisch genuinen Zufälle in der Welt. Nur der Mangel einer adäquaten Erkenntnis erzeugt den Schein einer Zufälligkeit. Der Einzelne als ein endlicher Modus leidet, sofern ihm diese Welt zu zufällig und daher nicht gänzlich ergründbar bleibt. Währenddessen wird diese Welt jedoch von der einzigen Substanz – dem Gott als der causa sui (seiner eignen Ursache) – nicht als zufällig, sondern als notwendig begriffen. Diese ontologische Kluft zwischen dem endlichen Modus und der absoluten Substanz ist jedoch weder theoretischer Widerspruch noch Mangel spinozistischer Philosophie. Vielmehr besteht hier Spinozas Herausforderung und Grundannahme, die er sich als seine Aufgabe gestellt hat, darin, zwischen dem Gott und dem Menschen oder zwischen den Universalien und dem Partikularen eine immanente Brücke zu schaffen. Da sieht man den kritisch-aufklärerischen Geist spinozistischer Philosophie, der die Partikularität des Menschen nicht unter den Universalien subsumiert. Leidenschaften der Menschen sind nicht zu beklagen, so Spinoza in der berühmten »non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere«-Stelle in TP 60, weil sie selbst – genau wie die Vernunft – bei Menschen notwendig sind und zur menschlichen Natur gehören. Nietzsche teilt zwar diese Grundtendenz seines Vorgängers, das Leiden und die Leidenschaften der Menschen philosophisch neu zu bewerten. Sein Verweis auf Spinozas logische Grundannahme, dass nur eine adäquate Erkenntnis dem Menschen einen erfolgreichen Umgang mit dem Leiden ermöglicht 61, weist jedoch Indizien dahingehend auf, inwieweit er sich von Spinoza distanzieren musste. Ein solcher Gestus lässt sich in diesem Zusammenhang kontinuierlich über eine längere Zeitspanne feststellen, z. B. bei seiner Kritik an Spinozas genannter »non ridere non lugere«-Stelle im Nachlass von 1881 und in zwei unterschiedlichen publizierten Schriften wie FW 62 (1882) und JGB 63 (1886). Seine spätere Kritik an Spinozas »Begriffs-Spinneweberei eines
Siehe Abs. 6.2.1. ›[…] menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen‹, TP I, § 4, Einleitung, § 4, S. 11. Vgl. Abschnitt 5.4.2. 61 Vgl. Gawoll (2001), S. 50. 62 FW, IV, 333, KSA 3, S. 558–559. 63 JGB, V, 198, KSA 5, S. 118. 59 60
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Einsiedlers« 64 in GD lässt sich auch in diesem Kontext besser verstehen. Nietzsche hat im Hinblick auf die Wiederbewertung des Leidens und der Leidenschaften in Spinozas Philosophie nicht geirrt. 65 Vielmehr richtet sich Nietzsches Kritik auf den verborgenen Intellektualismus bei Spinozas Philosophieren und seiner philosophischen Methode. 66 Diese Herangehensweise wurde bereits 1882 im fünften Buch von FW auf die Probe gestellt, wobei Spinozas Philosophieren als ein ›Schauspiel‹ gekennzeichnet wurde. Hinter Spinozas Maske der intellektuellen Liebe Gottes sei Nietzsche zufolge ein »Vampyrismus« 67 versteckt, der dessen Überschätzung der »Ideen« (ebd.) und Unterschätzung des »Blut[es]« (ebd.) zum Ausdruck bringen soll. In bestimmtem Sinne lässt es sich zwar als eine ungerechte Kritik von Nietzsche an Spinozas Philosophie interpretieren, worauf bei Wurzer (1975) und Stegmaier (2004) bereits hingewiesen wurde. Denn Spinoza antizipierte genau in dieser Hinsicht Nietzsche und Freud – sowohl mit seiner Begierdentheorie als auch mit seiner Stellungnahme gegen das logozentristische Moralurteil. Das Motto ›non ridere non lugere neque detestari, sed intelligere‹ spricht an und für sich dafür. Dennoch lassen sich Nietzsches Einwände gegenüber Spinoza von 1885 nicht auf diese Weise gänzlich verharmlosen. Denn sie richten sich nicht primär gegen den inhaltlichen Logozentrismus der spinozistischen Philosophie, sondern gegen die methodische Logizität 68 des Philosophierens – ›intelligere‹ – bei Spinoza bzw. gegen den Glauben an die Universalität 69, die eine solche Methode der Philosophie garantieren soll. Diese logistische Methode, die die unendlichen Ketten der Affekte im kausalen und logischen Verhältnis zu erGD, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 23, KSA 6, S. 126. Vgl. Stegmaier (2004), S. 116. Diese Assoziation Spinozas mit der Spinne war in der Forschung vor dem Zweiten Weltkrieg noch bekannt. Vgl. Baumgardt (1927), S. 183: »Ja im frühen 18. Jahrhundert haben noch freiere Köpfe wie Johann Conrad Dippel ihn [= Spinoza; J. Y.] nur als den ›Ochsenkopf‹, als Tollhäusler, als ›giftige Spinne‹ und als ›Narren aller Narren‹ beschimpft.«; vgl. Kofman (1983), S. 101 f. 65 Vgl. Della Rocca (2008), S. 292 und a. a. O., S. 296. Auch vgl. Yovel (1989), S. 134: »Here we start to note the incongruence in the portrait Nietzsche is bound to draw of Spinoza.« 66 NL 7 [31], Frühjahr – Sommer 1883, KSA 10, S. 253: »Nach Spinoza: ›sofern der Mensch die Vernunft anwendet, hält er nur das für nützlich, was zum Erkennen führt‹«. 67 »Philosophieren war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinozas, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches?«, FW, V, 372, KSA 3, S. 623–624. 68 Vgl. Stegmaier (2012), S. 142–143 und S. 524–527. 69 Vgl. Fogel (2018), S. 111: »Spinoza’s salvation […] is fundamentally universal. Through the way leading to it ›must be hard‹, it is open to anyone willing and able to take it. […] These two foundational principles of Spinoza’s philosophy, reason and universalism, are at the heart of his critique of Judaism.« 64
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klären vermag, sicherte Spinoza den absoluten Wahrheitsanspruch in seinem philosophischen System zu. Es stand jedoch im paradoxalen Verhältnis zu einer seiner Hauptannahmen, dass auch der denkende und handelnde Mensch ein endliches Wesen ist. Genau an dieser Stelle nimmt Nietzsche seine letzte Kritik an der spinozistischen ›Bejahung‹ vor, worauf ich im Hinblick auf den Lenzer-Heide-Entwurf (1887) im nächsten und abschließenden Abschnitt eingehe.
6.3 Einzelfall Spinoza. Spinozas »bejahende Stellung« im Lenzer-Heide-Entwurf (1887)
Mit der letzten Beobachtung Nietzsches über Spinozas Intellektualismus werden die zwei Dimensionen seines komplexen Verhältnisses zu Spinoza deutlich: Nietzsche zufolge bedingte Spinozas Intellektualismus sowohl seine Philosophie der Lebensbejahung als auch seinen universalistischen Fehlschluss. Diese Komplexität führte in der Forschung zu der verbreiteten Interpretation, dass Nietzsche kein konsequentes bzw. selbstständiges Spinoza-Bild hatte. Unsere Untersuchung zeigte das Gegenteil. Genau diese Komplexität erzeugte die Spannung, die Nietzsche zum Weiter- und Andersdenken motivierte. Seine produktive Auseinandersetzung mit dem Fall Spinoza gewinnt eine prägnante Form zuletzt im Lenzer-Heide-Entwurf vom 10. Juni 1887 in seiner letzten Schaffensphase. 70 Die Selbstgenügsamkeit und die verewigte Freude Spinozas, die Nietzsche sowohl bei seinem anfänglichen Kontakt durch seine Goethe-Lektüre Ende 1872 (NL 19[47]) als auch in seiner psychologischen Analyse zwischen Ende 1886 und Frühjahr 1887 (NL 7[4]) erstaunte, wird im Lenzer-Heide-Entwurf als eine ›bejahende Stellung‹ bezeichnet: »Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.« 71 Wie ist eine derartige lebensbejahende Position Spinozas möglich? In welchem Aspekt ist Spinozas Bejahung von seiner eigenen Bejahung zu unterscheiden? Bei dieser Fragestellung sei anzumerken, dass Nietzsches Diskussion über Spinozas Bejahung im Zusammenhang mit seiner Überlegung über den euroVgl. Riedel (2000), S. 70: »[…] die reichhaltige Kantonsbibliothek. Sie enthielt ›dies und jenes‹, was ihn belehrte: Bücher über den neuzeitlichen Pantheismus und seine Wirkung auf die idealistische Philosophie zwischen Leibniz und Hegel, […]«. 71 NL 5[71], Der europäische Nihilismus, Lenzer Heide, den 10. Juni 1887, 7, KSA 12, S. 214. 70
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päischen Nihilismus stattfindet. In bestimmtem Sinne leben wir noch in Nietzsches Zeitalter des Zynismus und der Orientierungslosigkeit, im dem sich das überlieferte Wertsystem sowie der Wahrheitsanspruch in seiner Gültigkeit nicht mehr behaupten kann. Wie kann man es dennoch wagen, eine lebensbejahende Position einzunehmen? Die Frage nach dem Ursprung und der Konsequenz des Nihilismus 72 im Lenzer-Heide-Entwurf hat nicht zufällig den Arbeitstitel; ›der europäische Nihilismus‹. Sein Denken wird hier von dort fortgesetzt, wo die Untersuchung der GM endete, die kurz vor jenem Entwurf zwischen 1886 und 1887 entstand. Nietzsche hatte in der dritten Abhandlung der GM argumentiert, dass die katastrophale Konsequenz »der Sinnlosigkeit des Leidens« 73 durch asketische Ideale vermieden wurde. Die Kernfrage dieser Abhandlung – »Was bedeuten asketische Ideale?« – wird mit dem ersten Satz »Welche Vortheile bot die christliche Moral-Hypothese?« 74 im Lenzer-Heide-Entwurf rekapituliert. Dadurch, dass sie erstens dem Menschen »einen absoluten Werth, im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens« […] verlieh« (ebd.), zweitens »der Welt trotz Leid 75 und Übel den Charakter der Vollkommenheit ließ« (ebd.), um dem »Übel […] voll[en] Sinn« (ebd.) zu geben, drittens »ein Wissen um absolute Werthe beim Menschen« (ebd.) ansetzte und »ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntniß« (ebd.) gab, hat sie verhütet, »daß der Mensch sich als Menschen verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: Sie war ein Erhaltungsmittel. […] Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus« (ebd.) Was die Pointe des Lenzer-Heide-Entwurfs von der der GM III unterscheidet, ist, dass Nietzsche seine Paraphrasierung im Präteritum »bot« (NL 5[71]) formuliert hat. In diesem Entwurf geht es nicht nur um den Ursprung der asketischen Ideale. Vielmehr kommt es darauf an zu zeigen, welche Konsequenzen das Vakuum dieser Ideale hervorgebracht hat. Zwar »bot […] die christliche Moral-Hypothese« (ebd.) in der Vergangenheit große »Vortheile« (ebd.), die Menschheit davor geschützt zu haben, an der Verzweiflung, die »Sinnlosigkeit des Leidens« 76 nicht ertragen zu können, zugrunde zu gehen. Aber »die christliche Moral-Hypothese« (NL 5[71]) kann im modernen Europa nicht mehr solche Vorteile genießen. Denn der neue Anspruch und der Sieg Vgl. NL 11[150], Zur Geschichte des europäischen Nihilismus, November 1887 – März 1888, KSA 13, S. 71. 73 GM, III, 28, KSA 5, S. 411. 74 NL 5[71], a. a. O. 75 Vgl. KGA IX 3, 14, N VII 3: »Leiden«. 76 Ebd. 72
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des Anspruchs auf die Wahrhaftigkeit 77 in der Moderne stellt die bisherige (Er)Lösung durch »die christliche Moral-Hypothese« (ebd.) in Frage. Die Krise der Moderne besteht nicht nur darin, dass dem modernen Menschen jener Lebensmut und die ›Sensibilität zum Leiden‹ 78 der antiken Kultur fehlt, sondern er scheitert auch daran, »die christliche Moral-Hypothese« (NL 5[71]) als »das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus« (ebd.) in der Moderne weiter zu rechtfertigen. Auf der latenten Ebene hatte das Thema der nihilistischen Konsequenz bereits in der dritten Abhandlung der GM eine wichtige Rolle gespielt, wie es Nietzsches prägnante Kommentare am Anfang und Schluss der Abhandlung zum Ausdruck bringen. Konfrontiert mit dem Schauder vor dem Vakuum (»horror vacui« 79) der Werte und des Ziels, dass das menschliche Dasein und sein Leiden nicht mehr von der »christliche[n] Moral-Hypothese« (NL 5[71]) gerechtfertigt werden können, wählt der moderne Mensch in Europa einen nihilistischen Weg, »das Nichts [zu] wollen« 80, statt des resignativen und pessimistischen Weges, »nicht [zu] wollen.« (ebd.) Dies hängt mit den »fatalistischen« (NL 9[178]) Zügen des 19. Jahrhunderts zusammen, in dem die »Herrschaft der Begierde« (ebd.) zum Zeitgeist wird, wie es Nietzsche im Herbst 1887 diskutiert, kurz nach dem Erscheinen der GM und dem Verfassen des Lenzer-Heide-Entwurfs. Der nihilistische Weg mag nur »das Nichts« (GM, III, 1) zur Folge haben. Nichtsdestotrotz präferiert der Mensch es, überhaupt ein Ziel zu haben, als in der Resignation nicht mehr zu begehren. Der Schein, dass ein solcher Versuch ›zwecklos‹ ist, täuscht. Es gibt zwar keinen Sinn, dennoch bleibt ein Zweck, ein Ziel, auch wenn es einen prädestinierten Schiffbruch bedeutet.81 Zwar unterscheidet sich der Charakter der Begierde des europäischen Nihilismus, den Nietzsche als den ›europäischen Buddhismus‹ 82 diagnostizierte, Vgl. Müller-Lauter (1999), S. 46. Vgl. Versuch einer Selbstkritik 1886, GT, KSA 1, S. 15: »Eine Grundfrage ist das Verhältnis des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität.« 79 GM, III, 1, S. 339. 80 Vgl. GM, III, 1, S. 339: »Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsasche des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen.« Vgl. auch GM, III, 28, S. 412: »Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen …« 81 Es entspricht jenem wagnerischen Schiffbruch als dem vorbestimmten Ziel der geregelten Anstrengungen der Moderne. Siehe dazu Abs. 4.5. Vgl. auch Nietzsches Kritik und sein Projekt der ›Vollendung des Nihilismus‹ in Müller-Lauter (2000), S. 165. 82 Vgl. NL 2[27], ›Der Nihilismus steht vor der Thür‹, Herbst 1885 – Herbst 1886, KSA 12, S. 125 f., insbesondere S. 126: »3. Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang 77 78
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von der eigentlichen Nirwana-Lehre des Buddhismus. Dennoch weist er immer noch darauf hin, dass nicht nur die pessimistische Resignation, sondern auch das unendliche Begehren des realitätsfremden Optimismus die Komplexität des modernen Nihilismus bedingt hat. Dies legt die Tiefe des kulturkritischen Blicks Nietzsches in Abgrenzung von Deutungen Jacobis 83 und Schopenhauers 84 nahe, die nur den Optimismus Spinozas und die von diesem beeinflussten Pantheisten als die Ursache des nihilistischen Verfalls der Moral und der Werte kritisiert hatten. Im Gegensatz dazu gilt es für Nietzsche, nicht nur die Differenzen zwischen dem theoretischen Optimismus und dem Pessimismus der Moderne, sondern auch die zwischen dem resignativen Fatalismus bei Schopenhauer und dem »Freudigen Fatalismus« 85 bei Spinoza und Goethe zu artikulieren. In dieser Hinsicht ist an Nietzsches Interpretation bemerkenswert, dass Spinozas »bejahende Stellung« (NL 7[4]) sowohl als eine Konsequenz als auch als eine mögliche Lösung der Problematik betrachtet werden kann, die der europäische Nihilismus hervorgehoben hat. Dadurch wird die Spannung der spiegelartigen Parallele zwischen Nietzsche und Spinoza deutlicher. Denn Nietzsche hat seine eigene Philosophie als eine Antwort auf den Nihilismus seiner Zeit bzw. als die »Selbstüberwindung des Nihilismus« 86 verstanden. Genau vor diesem Hintergrund stellte die spinozistische Bejahung für Nietzsche eine große Herausforderung dar. Besonders deswegen, weil der spinozistische Optimismus und dessen ›bejahende Stellung‹ eine starke und sinnvolle Konkurrenz zu seinem eigenen Projekt der »Selbstüberwindung des Nihilismus« 87 bedeutete.
der moral[ische] Weltauslegung die keine Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus »Alles hat keinen Sinn« […] Buddhistischer Zug, Sehnsucht in’s Nichts. […] Die philosophischen Versuche, den ›moralischen Gott‹ zu überwinden (Hegel, Pantheismus)./ 4. […] Oder die Anti-wissenschaftlichkeit? Kritik des Spinozismus […] Es fehlt eine Kritik der christlichen Moral.« 83 Vgl. Jacobis Kritik an Spinozas ›atheistischen Fatalismus‹ im Abs. 3.3.2. 84 Vgl. WWV, II, § 47, S. 755. Siehe Abschnitt 4.1.1. 85 NL 9[178], Herbst 1887, KSA 12, S. 443. 86 Vgl. NL 9[164], Herbst 1887, KSA 12, S. 432: »Der Wille zur Macht […] Drittes Buch: Die Selbstüberwindung des Nihilismus, Versuch Ja zu sagen zu Allem, was bisher verneint wurde.«; vgl. auch »Die Selbstüberwindung des Nihilismus« in NL 9[127], Herbst 1887, KSA 12, S. 410. 87 Vgl. NL 9[164], Herbst 1887, KSA 12, S. 432 und NL 9[127], Herbst 1887, KSA 12, S. 410.
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6.4 Fazit
Verschiedene Grundzüge und Deutungsrichtungen bei Nietzsches Spinozainterpretation kamen bereits in den ersten Jahren der Rezeption zum Ausdruck. Seine bewusste und fokussierte Auseinandersetzung mit der Frage, welche Bedeutung der Fall Spinoza für den Nihilismus der Moderne hat, begann jedoch mit dem »Chaos sive natura«-Entwurf zwischen 1881 und 1882. Hier wurden verschiedene und miteinander verflochtene Leitmotive seiner SpinozaRezeption skizziert, die der weiteren Auseinandersetzung mit Spinoza nach der mittleren Schaffensphase die Stoßrichtung gegeben haben. Dabei handelt es sich schließlich um die Frage: Inwieweit und in welchem Sinne kann das ›Chaos sive natura‹ die spinozistische Formel ›Deus sive natura‹ widerlegen bzw. ersetzen? Die Parallele zwischen Nietzsche und Spinoza wird nach der mittleren Schaffensphase noch deutlicher. Nietzsche thematisiert die Bejahung der Zufälligkeit des Leidens 88 oder »der Sinnlosigkeit des Leidens« 89 in Bezug auf den europäischen Nihilismus noch stärker und experimentiert mit dem Gedanken der »ewigen Wiederkunft des Gleichen« 90 und der Schicksalsliebe (›amor fati‹). Auf die Frage, ob die spinozistische Bejahung des Leidens bzw. der spinozistische »Pantheismus« 91 einen »Glauben an die ewige Wiederkunft« (ebd.) erfordert, will Nietzsche nun antworten. Bei Spinoza besteht das Besondere darin, dass eine »Ja-Stellung zu allen Dingen« (ebd.) immer noch möglich ist, obwohl die bisherige »christliche Moral-Hypothese« (NL 5[71]) für ungültig erklärt wurde. Eine solche Bejahung wird ohne theoretischen Widerspruch erreicht, indem ein »Gott ohne »die Zweckvorstellung« (ebd.) »jenseits von Gut und Böse« (ebd.) konzipiert wurde. So gewann »Spinoza […] eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat.« 92 In welchem Kontext distanziert sich Nietzsche jedoch von Spinoza? Denn er bezeichnet den Fall Spinoza als »nur ein[en] Einzel-Fall« 93, direkt nach Vgl. NL 18[16], Juli – August 1888, KSA 13, S. 536–537. GM, III, 28, KSA 5, S. 411. 90 »Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ›die ewige Wiederkehr‹. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ›Sinnlose‹) ewig!«, NL 5[71], Der europäische Nihilismus, Lenzer Heide, 6, KSA 12, S. 213. 91 »Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn ›Alles vollkommen, göttlich, ewig‹ zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die ›ewige Wiederkunft‹.«, a. a. O., 7, S. 213. 92 NL 5[71], Der europäische Nihilismus, Lenzer Heide, den 10. Juni 1887, 7, KSA 12, S. 214. 93 »Aber sein [Spinozas; JY] Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der 88 89
Fazit
seiner Anerkennung der »bejahenden Stellung« Spinozas im Hinblick auf den Nihilismus. Die Antwort auf diese Frage findet man bereits in Nietzsches eigener Formulierung – ›Einzel-Fall‹. Es kommt bei der Bejahung des Leidens darauf an, welchen Wert das Leiden nicht im Allgemeinen, sondern für einen Einzelnen hat. Wie der Einzelne mit seinem eigenen Leiden umgeht, ist jedes Mal ein Fall, ein Ereignis, ein Experiment. Ödipus und Prometheus aus der Antike waren gute Beispiele für Nietzsche, da sie bei ihrem selbstbestimmten Umgang mit dem Leiden ihre Individualität behielten. Ihre dionysische Bejahung des Leidens gilt ausschließlich für sie selbst. An diesem Punkt grenzt sie sich von der Sühne Christi ab, dessen Ausgleichleistung über den Einzelnen im Leiden hinaus die Menschen im Allgemeinen beeinflussen bzw. durch seine ›stellvertretende‹ Sühneleistung erlösen soll. Ödipus und Prometheus in ihrer souveränen Einsamkeit definierte deren Größe. In diesem Sinne beinhaltet der Fall Spinoza doppelseitige Dimensionen. 94 Er zeigt sowohl die Größe eines leidenden, freien Einzelnen als auch den Trugschluss der Verallgemeinerung auf. Nicht nur, weil das Wort ›Einzel-Fall‹ bei Nietzsche eigentlich keinen eindeutigen Einwand bedeuten muss 95, sondern auch, weil Nietzsche bei Spinoza die kompromisslose Bejahung eines Einzelnen 96 entdeckt hat, drückt ›Einzel-Fall‹ im Lenzer-Heide-Entwurf sowohl seinen Vorbehalt gegenüber Spinoza als auch seine Hochachtung aus. Während Nietzsche der Tatsache große Anerkennung zollt, dass das Leiden Spinozas sein Denken als den ›Wert des Leidens‹ (MA I, 157) hervorgebracht hat, distanziert er sich zugleich von ihm, da Spinozas Denken nach Nietzsche jedem Geschehen zu Grunde liegt, der sich an jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphirend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, werthvoll, mit Lust empfindet NL 5[71], Der europäische Nihilismus, Lenzer Heide, den 10. Juni 1887, 8, KSA 12, S. 214; Vgl. Wurzer (1975), S. 96 f. 94 Vgl. a. a.O., S. 110: »Spinoza, weder Idealist noch Sensualist, ist der Grenzfall im Übergang von der Antike zur Moderne und vom Süden zum Norden. Bei ihm kehren sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Sinnen und den Ideen sichtlich um. Spinoza mißtraute noch den Sinnen – aber auch schon den Ideen. Er fürchtete eine Verführung nach beiden Seiten, nach der Seite der Ideen, weil sie gefährliche Wunschvorstellungen sein können, aber auch nach der Seite der sinnlichen Affekte, weil sie solche Ideen hervorrufen.« 95 Vgl. Stegmaier (2004), S. 118: »Er wendet ein, Spinozas Fall sei ›nur ein Einzel-Fall‹ gewesen – ein für Nietzsche merkwürdiger Einwand. Denn gerade für ihn wird amor intellectualis Dei oder, mit seinem Begriff, amor fati immer nur Einzelnen möglich sein, so wie immer nur Einzelne fähig sein werden, den Gedanken der ewigen Wiederkunft im Denken ernstzunehmen und ihm standzuhalten.« 96 Einem Philosophen wird dabei eine besondere Aufgabe zugeordnet. Vgl. JGB, VI, 212, KSA 5, S. 147.
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nur als dessen eigene Antwort, als die eines Einzelnen zu seinem eigenen Leiden gilt. Sobald der Charakter des Logikers bei Spinozas ›bejahender Stellung‹ dazu führt, dass Spinoza das Leiden (pati) aufgrund jener ›großen überpersönlichen Schmerzen‹ als die allgemeine Bedingung des Menschen (conditio humana) aufgreift und den gelingenden Umgang damit logisch begreifbar in seiner Philosophie darstellt, nimmt der kritische Geist in Nietzsches Spinoza-Rezeption überhand, und seine Spinozabewunderung zeigt ihre scharfe Grenze auf. Spinozas Bejahung erhielt nur in der Hinsicht volle Anerkennung, als dass sie keinen allgemeinen Wert besitzt. Dadurch macht Nietzsche auf den Aspekt ›der eigenen Tugend‹ 97 eines Denkenden und die perspektivische Struktur des Denkens aufmerksam. Trotz Einschränkungen bei der partiellen Erfahrung und den unterschiedlichen sozio-politischen Bedingungen des Einzelnen zielt sein Denken jedoch auf Allgemeingültigkeit ab. Ganz unabhängig davon, ob man sie unter der subjektiven Allgemeinheit nach Kant oder unter der konkreten Allgemeinheit nach Hegel u. a. thematisiert, bedingt diese paradoxale Konstellation das Dasein und die Freiheit des einzelnen Menschen. Um jedoch darüber hinaus im Handeln und Denken eine soziale Kommunizierbarkeit bzw. eine Streitbarkeit zu erreichen, muss der Einzelne seinen Wahrheitsanspruch zumindest so weit relativieren, wie er es von anderen Menschen für sich erwartet. Dadurch entsteht eine soziale und kulturelle Kapazität zum Konflikt. Erst dadurch, dass sich der Einzelne im gesellschaftlichen Kontext konfliktfähig erweist, wird seine eigene Individualität in der Kommunikationsfähigkeit verankert. Die Selbstbestimmung eines Individuums hängt also von seinem Umgang mit diesen Faktoren ab – sowohl im Denken als auch im Leben. 98 Gelingt es, so würde Spinoza meinen, nähert sich das Individuum dem spinozistischen Ziel der Ethik, seine eigene Ursache (causa sui) 99 und Herr seines Lebens zu werden. In diesem Zusammenhang stellen sich die verbleibenden Fragen des Lenzer-Heide-Entwurfs: Wie kann man (s)ein Denken betreiben, das das Leiden und den Zufall des Lebens bejahrt, ohne dabei eine metaphysische Verallgemeinerung zu veranlassen? Wie sind die Zufälligkeit und die Notwendigkeit zu verstehen? Wie ist eine Bejahung möglich, wenn das Leben in der Welt, ohne die optimistische Annahme der Notwendigkeit, als Unglück (»Mal-
Vgl. ZA, II, Von den Tugendhaften, KSA 4, S. 121. Vgl. Himmelmann (2001), S. 149. 99 Gegen solipsistische Interpretation dieser Aussage argumentiert Gerhardt in Gerhardt (2000), ›Eigene Gründe‹, S. 253–254. 97 98
Fazit
heurs« 100), die Welt als ein Komplex der zufälligen Erscheinungen, der Mensch selbst nur als ein »Glückswurf« 101 erscheint? Im vorletzten Abschnitt des Lenzer-Heide-Entwurfes schreibt Nietzsche dazu abschließend: »Der Mäßigsten, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Werthes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten – Menschen die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußten Stolze repräsentieren.« 102
Amor fati (Liebe zum Schicksal) 103 statt amor dei (Liebe zum Gott): Es kommt beim modernen Menschen darauf an, nicht den Zufall allgemein, sondern seinen eigenen Zufall als sein Schicksal (fatum) zu bejahen. Er soll den Zufall darüber hinaus »nicht nur zugestehen, sondern lieben« (ebd.) – Die dionysische Bejahung ist nur dann möglich. Liebe dein Schicksal, »nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen […] sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein« 104 – Das war Nietzsches Antwort auf Spinoza in seiner letzten Schaffensperiode. Hatte die Spinoza-Rezeption von Nietzsche konkrete Konsequenzen für seine eigene Philosophie? Wenn ja, welche? Kann man Leitmotive dieser Rezeption feststellen, woraus sich der denkgeschichtliche Kontext von Nietzsches Spinoza-Rezeption erschließen lässt? Welche Bedeutung hat Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza für das Verständnis des Menschen und der Gesellschaft von heute? Das Ziel des Buches war es, diese Fragen zu beantworten. ›Nietzsche contra Spinoza‹ – Nietzsches Spinoza-Rezeption war primär seine Konfrontation mit Spinoza. 105 Er kannte nicht nur die geteilte »GesammtNL 5[71], a. a. O., 15, KSA 12, S. 217. GM, KSA 5, S. 323, »Der Mensch zählt seitdem mit unter den unerwartesten und aufregendsten Glückswürfen, die das »grosse Kind« des Heraklit, heisse es Zeus oder Zufall, spielt, – er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Versprechen sei …« 102 NL 5[71], a. a. O., 15, KSA 12, S. 217; vgl. Stegmaier (2004), S. 119. 103 Vgl. Babich (2002), S. 110. 104 GD, Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, S. 160. 105 Vgl. Schacht (1995), S. 264; auch vgl. Stegmaier (2004), S. 112: »Er [Nietzsche; J. Y.] setzte sich nun unentwegt mit ihm auseinander, und seine Auseinandersetzungen mit Spi100 101
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tendenz« 106 und die gemeinsamen »Hauptpunkte« (ebd.) mit seinem »Vorgänger« (ebd.), ihm wurde der »Unterschied der Zeit, der Cultur und der Wissenschaft« (ebd.) zwischen ihnen immer deutlicher, was zu ihrem agonalen Verhältnis geführt hat. Nietzsches Spinoza-Rezeption war mehr als eine Rezeption. Das Spiegelbild Spinoza verlieh Nietzsche die kritische Selbst-Distanz und erzeugte die schöpferische Spannung innerhalb Nietzsches Philosophie. In diesem Sinne glaubte Nietzsche nicht, Spinoza ›überwunden‹ zu haben. In Spinozas Leben und Denken hat Nietzsche sein eigenes philosophisches Projekt auf die Probe gestellt und in diesem Labor sein Experiment fortgesetzt. Damit hat Nietzsche Spinozas Fragestellung nicht nur in seine eigene Problematik umgewandelt, sondern auch für das moderne Zeitalter der Demokratie neu kontextualisiert. Kurzum: Nietzsches Spinoza-Rezeption gilt als ein selbstkritisches Zwischenresümee der Moderne über deren anfänglich lebensbejahenden Optimismus. Nietzsches selbstgesetzte Aufgabe war es, die modernen Menschen in ihrer Selbstzufriedenheit mit seinem Aufruf zu alarmieren, ohne das Verdienst und die Leistungen – den Entwurf und die Verwirklichung einer mehr humanen Staats- und Lebensform – gänzlich zurückzustellen. Der Fall Spinoza war für Nietzsche daher ein besonderer ›Einzel-Fall‹, der im Hinblick auf die konformistische Moderne als einzigartig mahnende Figur gelten konnte. In seinen ernstesten Distanzierungsversuchen war Nietzsche mit seinem Vorgänger am nächsten verbunden – in einem produktiven, agonalen Verhältnis.
noza waren immer auch Auseinandersetzungen mit sich selbst oder, in seiner Sprache, Versuche zu Selbst-Überwindungen.« 106 KSB 6, Nr. 135, an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, S. 111.
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung 1: M-III-1, S. 7, 76a: »Non ridere non lugere«-Stelle, ausgefallen in NL 11[194], KSA 9, S. 519 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 2: M-III-1, S. 8, 76b: »Non ridere non lugere«- Stelle und »Ego contra Spinozan«-Stelle, ausgefallen in NL 11[194], KSA 9, S. 519 . Abbildung 3: M III-1, S. 4: die erste »Chaos sive natura«-Stelle. Vgl. NL 11[197], »zum ›Entwurf einer neuen Art zu leben‹«, KSA 9, S. 519 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 4: M-III-1, S. 3. Vgl. NL 11[195], ›Mittag und Ewigkeit‹, KSA 9, S. 519 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 5: M-III-2, S. 226: die zweite »Chaos sive natura«-Stelle. Vgl. NL 21[3], ›55. Chaos sive Natura‹, KSA 9, S. 686 . . . . . . . . Abbildung 6: M-III-1, S. 18, 71b. Vgl. NL 11[205, 206 und 204], KSA 9, S. 524 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 7: M-III-1, S. 14, 73b. Vgl. NL 11[201], KSA 9, S. 522 ( J. Y.s Korrektur von Colli-Montinaris Angabe als NL 11[199]) . . . Abbildung 8: M-III-1, S. 20, 70b. Vgl. NL 11[211], KSA 9, S. 525 . . . . . Abbildung 9: M-III-1, S. 34, 63b. Vgl. NL 11[225], KSA 9, S. 528 . . . . . Abbildung 10: M-III-1, S. 49, 55a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 11: M-III-1, S. 50, 55b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 12: M-III-1, S. 74, 43b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 13: M-III-1, S. 113, 23a. Vgl. NL 11[60], KSA 9, S. 463 . . . . .
47 48
53 54 60 65 67 68 72 73 74 75 78
Siglenverzeichnis und Zitierweise 1. Nietzsche, Friedrich: Digitale Faksimile Gesamtausgabe (DFGA), nach den Originalmanuskripten und Originaldrucken der Bestände der Klassik Stiftung Weimar, herausgegeben von Paolo D’Iorio. Verfügbar unter: http://www.nietzschesource.org –: M-III-1: In braunen Deckel gebundenes Großoktavheft (16 � 23). 160 Seiten. Aufzeichnungen zu Die Fröhliche Wissenschaft. Dispositionen und Fragmente. Frühjahr-Herbst 1881. GSA 71/128 (Foto: DFGA/M-III-1 mit freundlicher Publikationsgenehmigung der Klassik Stiftung Weimar) –: M-III-2: Schwarzes Großoktavheft (13,5 � 21,5). 240 Seiten. Dispositionen und Fragmente. Sommer 1882, Sommer 1883. GSA 71/129 (Foto: DFGA/M-III-2 mit freundlicher Publikationsgenehmigung der Klassik Stiftung Weimar)
2. Werkausgaben Nietzsches Werkausgaben nach den Kritischen Werk-/Briefausgaben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff. und 1980. KGW KGB KSA KSB
Kritische Gesamtausgabe, Werke Kritische Gesamtausgabe, Briefe Kritische Studienausgabe, Werke Kritische Studienausgabe, Briefe
3. Siglen einzelner Werke Nietzsches AC CV DS EH FW GD GM GMD GT HL JGB M MA
Der Antichrist Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemäße Betrachtung 1) Ecce Homo Die dionysische Weltanschauung Götzen-Dämmerung Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Betrachtung 2) Jenseits von Gut und Böse Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches (I und II)
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Siglenverzeichnis und Zitierweise
NL NW SE WA WB ZA
Nachlass / Nachgelassenen Fragmente Nietzsche contra Wagner Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtung 3) Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtung 4) Also sprach Zarathustra
4. Siglen und Zitierweise der Werke Spinozas E
1–5 Praef P I A L D C S Ax Def Post Ex
Ethica, ordine geometrico demonstrata (Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt). Zitiert aus Bartuschats deutscher Übersetzung von 1999 (PhB, Bd. 2) mit Seitenangabe, wenn nicht anders angegeben. Pars (Teil) I – V der Ethik Praefatio (Vorrede) Propositio (Lehrsatz) Introductio (Einleitung zu Begrinn von Teil II und III) Appendix (Anhang) Lemma (Lehnsatz) Demonstratio (Beweis) Corollarium (Folgesatz) Scholium (Anmerkung) Axioma (Axiom) Definitio (Definition) Postulatum (Forderung) Explicatio (Erläuterung)
Zitierbeispiele:
TP TTP
E 4A2 = Ethica, Pars IV, Appendix, Caput II E 2P44C1 = Ethica, Pars II, Propositio XLIV, Corrolarium I S. xxx: Seitenangabe von der deutschen Übersetzung, bzw. dem lateinischen Text der entsprechenden Ausgabe
Tractatus politicus (Politischer Traktat). Zitiert aus Bartuschats deutscher Übersetzung von 1994 (PhB, Bd. 5.2) mit Seitenangabe, wenn nicht anders angegeben. Tractatus Theologico-Politicus (Theologisch-Politischer Traktat). Zitiert aus der Ausgabe von Gawlick und Niewöhner 1979 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1. Bd.) mit Seitenangabe, wenn nicht anders angegeben.
5. Siglen einzelner Werke Schopenhauers WWV I/ II
Die Welt als Wille und Vorstellung I/II. Zitiert von der Suhrkamp-Ausgabe mit der Seitenangabe
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Über den Autor Dr. Jean Yhee ist ein in Berlin lebender Kulturwissenschaftler und Philosoph aus Südkorea. Er ist Gründungsdirektor des »Instituts Politik+Kultur« und External Cooperation Manager bei der »Korea Democracy Foundation«. Seit über 15 Jahren schreibt er über die demokratische Streit- und Erinnerungskultur in geteilten Nationen. Seinen zuletzt erschienenen Büchern »Berlin. Paradox der Konflikte« (Eeunbook, 2021) und »Konfliktfähig. Die politische Streitkultur in Nietzsches Spinoza-Rezeption« (Meiner, 2022) folgt 2023 ein Kinderbuch über Menschenrechte und Demokratie in der aktuellen globalen Krise.