Qualitätsunterschiede: Kulturphänomenologie als kritische Theorie 9783787339648, 9783787339631

Quantifizierung macht Unterschiede zum Zweck des Messens zählbar, Digitalisierung macht Differenzen für Musterkennungen

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German Pages 205 [206] Year 2021

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Qualitätsunterschiede: Kulturphänomenologie als kritische Theorie
 9783787339648, 9783787339631

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Qualitäts­unterschiede Kulturphänomenologie als kritische Theorie Ralf Becker

Meiner

Ralf Becker

Qualitätsunterschiede Kulturphänomenologie als kritische Theorie

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3963-1 ISBN eBook 978-3-7873-3964-8

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­­papier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Einleitung

Qualitätsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwartsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsunterschiede II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwartsarchäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensweltapriori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 11 17 21 26 29

Kapitel 1 Kulturphänomenologie als kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Phänomenologie der kulturellen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturphänomenologie und Methodischer Kulturalismus . . . . Kulturphänomenologie und Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftsphilosophie als Wissenschaftskritik . . . . . . . . . . . .

31 37 40 46

Kapitel 2 Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Mythos zum Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Logos zum Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 54 57 59 62

Kapitel 3 Phänomenologie der Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Vom Bekannten zum Unbekannten : Technik im Übergang. . . . 67 Vom Mittel zur Norm : Ethiko-Teleologie der Technik . . . . . . . . 69 Von der Praxis zur Theorie : die Sinnverschiebung . . . . . . . . . . . . 72

Von Energie zu Information : die Mathematisierung   der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Vom Selbstverständlichen zum Selbstverständnis :   eine Mathematik vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Kapitel 4 Exkurs : Kant und die Außerirdischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Kapitel 5 Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie . . . . . . . . . . 97

Formbeschreibung und Kausalerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Zur Logik der lebendigen Form und der  Lebenswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Die Autonomie der Erscheinung : Faktor und Modal . . . . . . . . . . 103 Das Beispiel der Bierhefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Leben als normative Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Kapitel 6 Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . 111

Fundierungszusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Natur als angewandte Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Belebte Natur als angewandte Informatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Lebensform und lebendige Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Der Primat der Poiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Kapitel 7 Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft . . . . . . . . . . . . . 125

Die Berechenbarkeit des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Lebensbegriff und Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 »Leben versteht Leben« : Naturalisierung der Hermeneutik . . . . 130 Was ist Leben ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Was ist der Mensch ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Natur und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

6 | Inhalt 

Kapitel 8 Das Ganze und seine Teile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Der Teil und das Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Element und Ingredienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Fragment und Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Moment und Stück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Emergenz und Holismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Kapitel 9 Natürliche und kulturelle Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Die Kulturabhängigkeit natürlicher Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Das naturalistische Missverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Das kulturrelativistische Missverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Methode und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Schluss Maßnehmen und Maßhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Inhalt | 7

EINLEITUNG Einleitung Philosophen sind »zuständig für Qualitäten«. Paul Valéry1

Qualitätsunterschiede

Philosophie ist das Studium von Qualitätsunterschieden. Tatsachenfeststellungen haben eine andere Beschaffenheit (lat. qualitas) als ästhetische oder ethische Urteile, die ihrerseits durchaus verschieden beschaffen sind. Sätze in einem Roman und Sätze in einem Physik-Lehrbuch mögen die gleiche syntaktische Struktur haben, aber wer würde leugnen, dass sie anders geartet sind ? Einen Gegenstand mit den Sinnen wahrzunehmen, ist etwas anderes, als ihn sich bloß vorzustellen ; Farben haben eine ganz andere sinnliche Qualität als Töne oder Gerüche. Mensch und Affe unterscheiden sich genetisch nur geringfügig, und dennoch besteht zwischen ihren Lebensformen nicht bloß eine quantitative, sondern eine qualitative Differenz. Politische Entscheidungen sind keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Demokratische Gemeinwesen sind anders beschaffen als autoritäre. Die Liste dieser Beispiele aus der philosophischen Unterscheidungspraxis ließe sich beliebig verlängern. Gemeinsam ist ihnen nicht nur (1) die Form ›X ist anders beschaffen/geartet/bestimmt als Y‹, sondern darüber hinaus (2) die Begründung der Andersartigkeit durch inhaltliche Kriterien und (3) die Widersinnigkeit einer Übersetzung dieser Andersartigkeit in Zahlenverhältnisse. Demokratien sind von Diktaturen nicht durch die Anzahl von Gesetzen, Institutionen oder politischen Gewalten unterschieden ; ethisch richtige Handlungen lassen sich, entgegen den Verheißungen des Utilitarismus, nicht durch Berechnung ermitteln ; die ästhetische Qualität eines Kunstwerks ist nicht durch seinen Marktwert messbar usw.   9

Qualitätsunterschiede wie die genannten sind nicht sinnvoll quantifizierbar. Und das nicht bloß noch nicht, sondern gar nicht. Die Frage, was für eine Sache etwas ist (lat. qualis ?), hat eine andere kategoriale Beschaffenheit als die Frage, wie groß etwas ist (lat. quantus ?). Die Differenz zwischen Qualität und Quantität ist mithin selbst ein Qualitätsunterschied, der nicht sinnvoll quantifiziert werden kann. Außerdem sind je nach qualitativer Beschaffenheit eines Gegenstandes verschiedene Arten von Größe zu differenzieren : So können nach Kants berühmter Unterscheidung intensiver und extensiver Größen2 räumliche bzw. zeitliche Ausdehnungen in gleiche Teile zerlegt werden, während dies bei der Stärke von Sinnesqualitäten nicht möglich ist. Ein 100 Meter hoher Turm ist doppelt so hoch wie ein 50 Meter hoher Turm, eine einstündige Vorlesung ist nur halb so lang wie eine zweistündige ; aber Königsblau ist nicht doppelt so blau wie Himmelblau, und Eiscreme ist nicht halb so warm wie Tee. Erst die Übersetzung intensiver in extensive Größen, durch die räumliche Ausdehnung einer Quecksilbersäule oder der Wellenlänge in einem Cartesischen Koordinatensystem, macht die Intensität von Wärme/Kälte oder Farbe messbar. Das Gleiche gilt für Lautstärke oder Schärfe (einer Speise). Weil sie sich nicht unmittelbar in eine zählbare Menge von Teilen zerlegen lassen, sondern erst sekundär, eben durch Übertragung in die Extension von Messgeräten, werden sie in der Tradition missverständlich als sekundäre Qualitäten bezeichnet. Die Differenz von primär und sekundär bezieht sich jedoch nicht auf eine natürliche Rangordnung, so dass Intensitäten aus Extensionen abgeleitet wären (ein weit verbreiteter Irrtum), sondern auf eine Reihenfolge von Handlungen : Weil man, anders als bei Strecken, an Wärme kein Metermaß anlegen kann, muß Wärme zuerst in die Ausdehnung einer Quecksilbersäule überführt werden, die dann vermessen wird. Was gemessen wird, ist jedoch die mittelbar konstruierte Temperatur und nicht die unmittelbar gegebene Wärme. Es bleibt dabei, dass intensive Größen als Intensitäten einen Grad haben, der nicht in zählbare Teile zerlegt werden kann. Absolute Grenzen der Quantifizierung sind eine Zumutung für eine Zeit, die im Messen und Berechnen die Wissen schaffenden und Objektivität stiftenden Handlungen schlechthin sieht. Was sich nicht in Zahlen und Zahlverhältnissen ausdrücken lässt, das 10 | Einleitung 

scheint es nicht zu geben, zumindest nicht als Gegenstand der Wissenschaft. Vielleicht hat es die Philosophie deshalb so schwer, sich als Wissenschaft nicht sinnvoll quantifizierbarer begrifflicher Quali­tätsunterschiede zu behaupten. Wenn es um die spezifische Beschaffenheit unserer Gegenwart und deren qualitative Differenz zur Vergangenheit geht, so hat sie das Feld weitgehend der Soziologie überlassen. Freilich hat es auch eine Soziologie, die ihre Gegenwartsdiagnose nicht auf Zahlen und Statistiken stützt, ihrerseits nicht leicht. Gegenwartsdiagnostik

Mit Blick auf das ausgehende 20. Jahrhundert und unter dem Eindruck des Reaktorunfalls in Tschernobyl wählt Ulrich Beck 1986 für die in den 1970er Jahren einsetzende zweite Moderne den Ausdruck reflexive Modernisierung. Dabei handelt es sich um eine »Rationalisierung zweiter Stufe« : Haben Wissenschaft und Technik »religiöse Weltbilder« entzaubert, »so werden heute das Wissenschafts- und Technikverständnis der klassischen Industriegesellschaft entzaubert«. 3 Die Entzauberung von Wissenschaft und Technik kommt nicht von außen, sondern ist durch deren eigene Fortschritte motiviert. Sind sie im 19. Jahrhundert vor allem die Motoren der Produktion von Reichtum, so treten Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert zunehmend als Produktivkräfte von Risiken auf. Als der Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl am 26. April 1986 explodiert, hat Beck die Arbeit an seinem Buch Risikogesellschaft bereits abgeschlossen. Doch bereits vor dem größten anzunehmenden nukleartechnischen Unfall gab es genügend Anschauungsmaterial für die Risiken und Nebenwirkungen moderner Industrieproduktion. Die Grenze wissenschaftlicher Rationalität zeigt sich gerade dort, wo die Risiken solcher Unfälle in Form von Wahrscheinlichkeiten quantifiziert werden sollen. Die Kernenergie eignet sich besonders dazu, diese Grenze zu verdeutlichen : Denn auch »eine noch so gering gehaltene Unfallwahrscheinlichkeit ist dort zu hoch, wo ein Unfall die Vernichtung bedeutet«. In Risikodiskussionen werden, so Beck, daher »Risse und Gräben zwischen wissenschaftlicher  Einleitung | 11

und sozialer Rationalität im Umgang mit zivilisatorischen Gefährdungspotentialen deutlich«.4 Freilich müssen auch Kernenergiegegner auf wissenschaftliche Expertise zurückgreifen, deshalb haben wir es mit einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis unterschiedlicher Rationalitätsformen zu tun : »Wissenschaftliche ohne soziale Rationalität bleibt leer, soziale ohne wissenschaftliche Rationalität blind.«5 Überdies macht die quantifizierende Risi­ koforschung bereits von qualitativer sozialer Rationalität durch die Definition von Risiken Gebrauch : Risiken bleiben »selbst dort, wo sie wortlos in Zahlen und Formeln gekleidet einherkommen, prinzipiell standortgebunden, mathematische Verdichtungen verletzter Vorstellungen vom lebenswerten Leben. […] Trotz aller Unkenntlichkeit kann dieser normative Horizont, in dem erst das Risikohafte des Risikos anschaubar wird, letztlich nicht wegmathematisiert oder wegexperimentiert werden. Hinter allen Versachlichungen tritt früher oder später die Frage nach der Akzeptanz hervor und damit die alte neue Frage, wie wollen wir leben ? Was ist das Menschliche am Menschen, das Natürliche an der Natur, das es zu bewahren gilt ?«6 In die statistische Berechnung von Risiken gehen ethische, anthropologische und politische Unterscheidungen zwischen dem Wünschenswerten und dem zu Verhindernden ein, die nicht ihrerseits statistisch erhoben oder begründet werden können. Der von Beck eingeführte Begriff reflexiver Modernisierung bezeichnet den Selbstbezug der Moderne auf ihre eigenen Bedingungen und Effekte. Charakteristisch für die zweite Moderne ist daher auch die reflexive Verwissenschaftlichung : »Die industrielle Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse schafft nicht nur Probleme, die Wissenschaft stellt auch die Mittel  – die Kategorien und das Erkenntnisrüstzeug – zur Verfügung, um die Probleme überhaupt als Probleme erkennen und darstellen zu können (bzw. erscheinen zu lassen) oder eben nicht. Schließlich stellt die Wissenschaft auch noch die Voraussetzungen für die ›Bewältigung‹ der selbstverschuldeten Gefährdungen zur Verfügung.«7 So führt auch in Fragen des unsere Zeit so sehr beschäftigenden Klimawandels an Wissenschaft und Technik kein Weg vorbei – weder epistemisch, z. B. durch die Erhebung von Daten und die Modellierung von Szenarien, noch strategisch, z. B. durch die Entwicklung neuer Antriebstechnologien oder Verfahren zur Speicherung atmosphärischen Kohlenstoffs. 12 | Einleitung 

Während Gefahren für das eigene Leben in Form von Risikoversicherungen externalisiert werden, besitzen Risikoabschätzungen auch eine »Internalisierungsmacht«. 8 Das pränataldiagnostisch berechnete Risiko schwerer Erkrankungen setzt werdende Eltern unter den Entscheidungsdruck, die Schwangerschaft gegebenenfalls abzubrechen ; das Risiko einer erblich bedingten Krebserkrankung hat die Schauspielerin Angelina Jolie dazu veranlasst, sich vorsorglich beide Brüste entfernen zu lassen ; das Risiko irreversibler intensivmedizinischer Versorgung motiviert die Absicherung des rechtzeitigen Todes in Patientenverfügungen usw. Wir haben die Parameter der Risikogesellschaft so erfolgreich internalisiert, dass jeder als verantwortungslos gilt, der sich nicht nur nicht gegen Risiken durch entsprechende Policen absichert, sondern auch nicht durch die angemessene Lebensführung vorsorgt, d. h. sich ausgewogen ernährt, hinreichend bewegt, tief genug schläft usw. Dies ist der Hintergrund für die Figur des quantifizierten Selbst, das sich in seiner Bemühung der optimierten Lebensweise durch elektronische Schrittzähler, Puls- und Blutdruckmesser, Schlaf-Apps und vieles mehr helfen lässt. Dieser individuelle »Quantifizierungskult« ist freilich nur Symptom einer »umfassenden Quantifizierung des Sozialen«, die Steffen Mau in seinem Buch Das metrische Wir (2017) beschreibt.9 Das »Regime der Quantifizierung«10 transformiert »qualitative Unterschiede in quantitative Ungleichheiten« und verändert da­durch »unsere Ungleichheitsordnung, weil bislang Unvergleichbares miteinander vergleichbar gemacht und in ein hierarchisches Verhältnis gebracht wird«.11 Mau führt als Beispiele des Ungleichheiten produzierenden Quantifizierungsregimes Ratings und Rankings an, Scorings und Screenings, Noten für Produkte, Dienstleistungen oder Personen und nicht zuletzt im Bereich der Wissenschaft die leistungsorientierte Mittelvergabe. »Alles kann, soll oder muss vermessen werden  – ohne Zahlen geht nichts mehr. Die gesellschaftliche Semantik, verstanden als die Art und Weise, wie sich die Gesellschaft selbst beobachtet und beschreibt, bezieht sich zunehmend auf die messbare Seite der Welt und des Lebens.«12 Was nicht unmittelbar messbar ist, wird messbar gemacht, so dass das Inkommensurable kommensurabel wird. Das Paradigma dieser Funktion ist Geld, das qualitatives Anderssein in ein quantitatives  Einleitung | 13

Mehr- oder Wenigersein transformiert. Das Gleiche leisten Punkte in einem Ranking oder arithmetisch gemittelte Bewertungen eines Hotels. Nach Maus Einschätzung befinden wir uns auf dem Weg »zu einer datengetriebenen Prüf-, Kontroll- und Bewertungsgesellschaft, die nur noch das glaubt, was in Zahlen vorliegt.«13 Dabei werden »Vergleichbarkeitsfiktionen in Bezug auf Sachverhalte« geschaffen, »die eigentlich unvergleichbar sind«.14 Im gesellschaftlichen Raum sind Zahlen nicht neutral, sondern implementieren politische Agenden. Ihre Funktion als Steue­ rungsinstru­mente untersucht der Philosoph Oliver Schlaudt in seiner Studie Die politischen Zahlen (2018). Schlaudt erinnert an den historischen Ursprung der Zahlen und der Mathematik in Verwaltung und politischer Steuerung. »Als erste Zahlzeichen identifizierten Forscher Marken auf Lehmtafeln, die im Mesopotamien des vierten vorchristlichen Jahrtausends wohl ökonomische Transaktionen verbrieften«. Die im 17. Jahrhundert entwickelte Wahrscheinlichkeitsrechnung, »deren Anwendung ein entscheidender Schritt in der Umwandlung von ›Gefahren‹ in ›Risiken‹ darstellt, entstammt […] dem Versuch, den geschäftsmäßigen Umgang mit Gefahren durch die Entwicklung einer universellen Methode zu rationalisieren und zu ›domestizieren‹«.15 Das in der Neuzeit aufkommende Versicherungswesen ist darauf angewiesen, Gefahren als Risiken zu quantifizieren, und die Stochastik liefert dafür die Methodik. Mathematische Verfahren sind von Menschen für bestimmte Zwecke ersonnene Techniken. Auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wissenschaft und Technik, das dem weit verbreiteten Irrtum entgegensteht, Technik sei bloß angewandte Wissenschaft, wird mit Blick auf die Naturwissenschaften noch zurückzukommen sein. In Hinsicht auf ›politische Zahlen‹ steht dagegen die »›Soziotechnik‹ des Verwaltens und Regierens«16 im Mittelpunkt. In der Covid-19-Pandemie 2020 konnte man die Dialektik politischer Zahlen gut beobachten. Einerseits waren alle Regierungen gut beraten, die frühzeitig den Rat von Epidemiologen und Virologen eingeholt haben, um möglichst schnell Maßnahmen gegen die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 zu ergreifen. Andererseits erfolgte ebenso schnell eine politische Fetischisierung epidemiologischer Bezugsgrößen – wie Verdopplungszeit, 14 | Einleitung 

Basisreproduktionszahl (»R Null«), die relative Zahl der Neuinfektionen pro Zeit oder die Kapazität verfügbarer Intensivbetten – mit zeitlich wechselnder Relevanz. Gelegentlich sahen sich medial besonders präsente Virologen genötigt, die Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass Wissenschaftler keine politischen Entscheidungen fällen, sondern lediglich Grundlagen für dieselben bereitstellen. So boten die Wochen, in denen eine ganze Bevölkerung gebannt auf ›die neuen Zahlen‹ wartete, nicht nur eine Möglichkeit, etwas über die Logik wissenschaftlicher Forschung und die ihr inhärente epistemische Produktivität von Irrtümern zu lernen, sondern auch, sich den Qualitätsunterschied zwischen wissenschaftlichen und politischen Fragen klarzumachen. Spätestens die Mahnung des Bundestagspräsidenten, dem Lebensschutz nicht alles andere unterzuordnen, eröffnete eine Debatte über genuin politische Ziele, die nicht sinnvoll mit Zahlen geführt werden kann. Qualitätsunterschiede spielen auch in den neuesten Gegenwartsdiagnosen von Hartmut Rosa (2018) und Andreas Reckwitz (2019) eine bedeutende Rolle. Nach Rosa ist der moderne Mensch darum bemüht, die Welt beständig in Reichweite zu bringen und in einem vierfachen Sinne verfügbar zu machen : Das Unsichtbare soll sichtbar, das Unzugängliche erreichbar, das Unbeherrschbare beherrschbar und das Natürliche nutzbar werden. Beherrschen und Berechnen verwendet Rosa durchweg als Hendiadyoin : »Verfügbarmachung der Welt bedeutet, sie berechenbar und beherrschbar zu machen«.17 Die »Effekte« einer Resonanzbeziehung, für Rosa Ausdruck eines gelingenden Selbst- und Weltverhältnisses, lassen sich dagegen »weder berechnen noch beherrschen«.18 Dieselben Mittel, die der moderne Mensch einsetzt, um sich in der Welt einzurichten, verhindern daher, dass er dieses Ziel erreicht, wenn die Mittel an die Stelle der Zwecke treten. Für Reckwitz ist die Spätmoderne durch Singularisierung charakterisiert : »Während die industrielle Moderne […] auf der Reproduktion von Standards […] basierte und man von einer ›Herrschaft des Allgemeinen‹ sprechen konnte, ist die spätmoderne Gesellschaft an der Verfertigung von Besonderheiten und Einzigartigkeiten, sie ist an der Prämierung von qualitativen Differenzen, Individualität, Partikularität und dem Außergewöhnlichen orientiert.«19 Reckwitz zeigt damit, dass nicht nur Zahlen, sondern auch Quali Einleitung | 15

tätsunterschiede einen Fetischcharakter annehmen können. Man denke nur an die Bedeutung der ›feinen Unterschiede‹ (Bourdieu) von Produkten und Ereignissen, Reisen und Wohnungseinrichtungen, Ess- und Trinkgewohnheiten, Kleidungsstilen, Film- und Musikgeschmäckern und was sie über Personen aussagen, die sich darüber unterscheiden wollen, indem sie jeweils das Besondere, Einzigartige und Außergewöhnliche suchen. Nicht selten werden aber gerade auch die solcherart zu Scheinsingularitäten fetischisierten Qualitätsunterschiede in Zahlen gemessen : sei es der höhere Preis, den man für ein Tablet auszugeben bereit ist, sei es die niedrigere Zahl der Individualreisenden im Gegensatz zur Masse der Pauschaltouristen oder sei es der Unikatstatus eines maßgeschreinerten Möbelstücks. In seiner »Theorie der digitalen Gesellschaft« (2019)20 leitet Armin Nassehi die Quantifizierung aus einer fundamentalen Digitalisierung ab. Die Digitalisierung lässt er nicht erst mit dem Einsatz von Computertechnologie beginnen : »Nicht der Computer hat die Datenverarbeitung hervorgebracht, sondern die Zentralisierung von Herrschaft in Nationalstaaten, die Stadtplanung und der Betrieb von Städten, der Bedarf für die schnelle Bereitstellung von Waren für eine abstrakte Anzahl von Betrieben, Verbrauchern und Städten/Regionen.«21 Deshalb verortet Nassehi den Beginn der Digitalisierung der Gesellschaft in der »Frühzeit der Moderne« und sieht das »Bezugsproblem für die Entstehung einer digitaltechnischen Verarbeitung von Informationen […] weniger in dem quantitativen Aspekt einer Erhöhung von Berechnungsbedarf«, sondern »eher in der qualitativen Veränderung gesellschaftlicher Komplexitätslagen«.22 Unter Komplexität versteht Nassehi »die Musterhaftigkeit des Verhältnisses von Merkmalen zueinander«.23 Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine Steigerung solcher Merkmalsbeziehungen (in Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Recht, Politik, Arbeit usw.) aus, deren Muster durch Digitaltechniken wie Sozialstatistik allererst freigelegt werden müssen, um sie steuern zu können. Nassehi macht quantifizierende Verfahren von der Digitalisierung der Gesellschaft abhängig und nicht umgekehrt. »Die digitale, statistische Entdeckung der Gesellschaft findet die quantifizierbare Form der Gesellschaft nicht einfach vor, sondern muss diese 16 | Einleitung 

Quantifizierungen durch Kategorien erst zählbar machen.«24 Für Maus Kritik am ›metrischen Wir‹ hat Nassehi folglich nicht viel übrig : »[E]s ist ein großes Missverständnis, unter der Digitalisierung schlicht nur die Zählbarkeit und die Quantifizierung des Sozialen zu verstehen.«25 Mit anderen Worten : das ›Quantifizierungsregime‹ ist selbst ein Effekt eines tieferliegenden Qualitätsunterschieds zwischen modernen, digitalen und vormodernen, analogen Gesellschaften. Qualitätsunterschiede II

Die Differenz zwischen Quantifizierung und Digitalisierung verweist auf einen weiteren Qualitätsunterschied, der mit Blick auf die folgenden Untersuchungen begrifflich erfasst sein will. Unter Quantifizierung (von lat. quantum für ›Größe‹ und facere für ›machen‹) soll ganz allgemein das Herstellen einer zählbaren Größe verstanden werden. In einem sehr weiten Sinne kann man jeden Zählvorgang als eine Form der Quantifizierung auffassen. Es scheint jedoch etwas übertrieben, das Abzählen der im Kühlschrank befindlichen Eier als einen Akt des Quantifizierens zu beschreiben, muss hier doch die Zahlform nicht erst hergestellt werden, da jedes Ei eine von jedem anderen Ei klar abgegrenzte Einheit bildet. Etwas anderes ist es dagegen, den Wert einer Packung Eier durch ein Geldquantum, den Preis zu bestimmen. Auch die Messung einer Strecke durch die Anzahl von Schritten ist etwas anderes als die ›Messung von Wärme‹ durch die Ablesung eines Thermometers. Nicht extensive, wohl aber intensive Größen können im engeren Sinne quantifiziert werden, da für Wärme, Lautstärke, Schärfe oder Farbintensität die Zahlenförmigkeit allererst hergestellt, eben gemacht werden muss, während Ausdehnung bereits ein Quantum besitzt. Quantifizierende Handlungen verfolgen das Ziel, qualitative Unterschiede in quantitative Differenzen zu übersetzen. Es liegt hier eine echte metabasis eis allo genos, ein Übergang in eine andere Gattung vor. Das Wort Digitalisierung leitet sich vom lateinischen digitus für ›Finger‹ ab. Die Metapher verweist auf das Abzählen diskreter Einheiten an Fingern. Kinder lernen auf diese Weise den Sinn von  Einleitung | 17

Zahlen kennen. Stellvertretend für unsere Finger operieren wir üblicherweise, weil es praktischer ist, mit Ziffern. Der Mathematiker Claude Shannon hat 1948 den Ausdruck binary digit eingeführt, um eine Maßeinheit für den Informationsgehalt einer Nachricht zu finden. Die kleinste Einheit ist demnach 1 Bit, das ist der elementarste Informationsgehalt, der in einem von zwei möglichen Zuständen enthalten ist, z. B. ja oder nein (siehe Kap. 3). In gewisser Hinsicht ist Digitalisierung daher die Quantifizierung von Information. Der Ursprung in der Nachrichtentechnik legt jedoch nahe, Digitalisierung als ein Phänomen sui generis zu begreifen, und dies aus mindestens zwei Gründen : Zum einen hat der Informationsbegriff im Zuge der Digitalisierung eine solche Ausdehnung erfahren, dass es nicht sinnvoll erscheint, die Reihe : intensive Größen, Wertrelationen u. dgl. einfach durch ›Information‹ zu erweitern. Vielmehr wird nun alles, das mit digitaler Technik erfasst und bearbeitet werden kann, zur Information erklärt. Der andere Grund, Digitalisierung von Quantifizierung zu unterscheiden, liegt in der jeweiligen technischen Umsetzung. Das klassische Instrument zur Quantifizierung ist das Messgerät, in dem zuvor erwähnten Beispiel das Thermometer für die Quantifizierung von Wärme. Das Werkzeug der Digitalisierung hingegen ist der Computer, ein Hilfsmittel zur Ausführung von Berechnungen (von lat. computare für ›berechnen‹). Vereinfacht gesagt dient Quantifizieren dem Messen, während Digitalisieren dem Berechnen dient. Die Quantifizierung macht etwas (für Messungen) zählbar, die Digitalisierung berechenbar. Wenn Hannah Arendt von der »Berechenbarkeit menschlicher Angelegenheiten«26 spricht, die in der Neuzeit gestiftet wird, dann lässt sich die Herstellung dieser Berechenbarkeit daher als Digitalisierung beschreiben. Die Idee des Computers reicht weit zurück. Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. und Raimundus Lullus im 13. Jahrhundert formulierten Ideen für logische bzw. symbolische Maschinen, die logische Kalküle abarbeiten können. Formalisierte Anweisungen für eine endliche Abfolge von Schritten zur Lösung eines Pro­blems, vor allem für Berechnungen, heißen Algorithmen. Der Ausdruck geht auf den latinisierten Namen des arabischen Mathematikers Al-Chwarizmi zurück, der im 8./9. Jahrhundert in Bagdad lebte. Symbolische Maschinen arbeiten mit Algorithmen. Digitalisierbar 18 | Einleitung 

ist grundsätzlich jede Handlung, die an eine symbolische Maschine delegiert werden kann.27 Ein griffiges Beispiel dafür ist der Taschenrechner, ein Werkzeug, das so konstruiert ist, dass es menschlichen Benutzern Ergebnisse für Rechenaufgaben liefert. Computer selbst rechnen jedoch nicht. Rechnen ist ein zielgerichtetes Handeln, und Maschinen sind keine Akteure.28 Daher ist diese Bezeichnung für Maschinen irreführend, ursprünglich wurden so menschliche Rechnerinnen und Rechner (z. B. bei der NASA) genannt. Der Doppelaspekt der Formalisierung (in bloße Zeichenkombinationen) und Algorithmisierung (in programmierbare Zeichenoperationen) markiert den Eigensinn der Digitalisierung gegenüber der Quantifizierung. Als einer der ersten hat Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes (1900) das historisch gewachsene Erkenntnisideal identifiziert, »alle qualitativen Bestimmtheiten der Wirklichkeit in rein quantitative aufzulösen«.29 Auch Simmel führt als Beispiel die Wärmemessung durch Thermometer an. Der paradigmatische Fall, an dem sich der »Übergang von dem qualitativ bestimmbaren zu dem quantitativ symbolischen Ausdruck«30 nachvollziehen lässt, ist jedoch das Geld. Die monetäre Symbolisierung der Wirklichkeit steht stellvertretend für eine immer umfassendere Rationalisierung des Lebens durch Zählen, Messen und Berechnen. Messen ist Wissen lautet die Parole dieses Denk- und Lebensstils. Das Geld repräsentiert das »messende, wägende, rechnerisch exakte Wesen der Neuzeit«.31 Die Geldwirtschaft »bewirkt von sich aus die Notwendigkeit fortwährender mathematischer Operationen im täglichen Verkehr. Das Leben vieler Menschen wird von solchem Bestimmen, Abwägen, Rechnen, Reduzieren qualitativer Werte auf quantitative ausgefüllt«. 32 Aus der Analyse des Geldwesens gewinnt Simmel sein »Stilbild der Gegenwart« : »Die geistigen Funktionen, mit deren Hilfe sich die Neuzeit der Welt gegenüber abfindet und ihre inneren – individuellen und sozialen – Beziehungen regelt, kann man großenteils als rechnende bezeichnen. Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein großes Rechenexempel zu begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in einem System von Zahlen aufzufangen«.33 Von diesem Intellektualismus zeugt auch und gerade die »rechnerisch-exakte Naturdeutung« :34 Die moderne Naturwissenschaft  Einleitung | 19

begreift »die Erscheinungen nicht mehr durch und als besondere Substanzen, sondern als Bewegungen […], deren Träger gleichsam weiter und weiter ins Eigenschaftslose abrücken«, und löst schrittweise die Weltinhalte »in Bewegungen und Relationen« auf.35 Was sich wie eine Vorwegnahme der fünf Jahre später publizierten Einsteinschen Relativitätstheorie (bzw. von Ernst Cassirers zehn Jahre später erschienenem Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff ) liest, lässt sich ebenso an der Definition physikalischer Größen nach dem Internationalen Einheiten-System (SI-Einheiten) unter Verwendung von Naturkonstanten belegen. So ist beispielsweise das Kilogramm als Einheit für Masse (m) durch die Plancksche Konstante mit Hilfe der Definitionen von Meter und Sekunde festgelegt. Das physikalische Maßsystem bestimmt Maßeinheiten nicht mittels Substanzen (man denke z. B. an das Pariser Urmeter), sondern durch Beziehung zu anderen Maßeinheiten. Es ist kein Zufall, dass die Bedeutungsdimension von physis als das Wesen einer Sache aus dem modernen Naturverständnis völlig herausgefallen ist. Was als natürlich gelten kann, gibt sich nicht mehr substantiell, sondern wird allein in Relation zu messenden und rechnenden Erkenntnishandlungen bestimmt. Natürlichkeit ist ein Widerstandskoeffizient, der über die rein logische Widerspruchsfreiheit hinaus den Verknüpfungsspielraum von Messgrößen begrenzt. Die folgenden Untersuchungen beleuchten das Erkenntnisideal der ›Welt als einem großen Rechenexempel‹ von der ›rechnerischexakten Naturdeutung‹ her. Damit bewegen sie sich nicht außerhalb der zuvor skizzierten mehr oder weniger gesellschaftskritischen Gegenwartsdiagnosen. Vielmehr gründen die in diesem Buch versammelten Studien in der Hypothese, dass sich in gesellschaftlichen Verhältnissen ein Naturverhältnis des Menschen artikuliert. Diese systematische Voraussetzung ist freilich nicht neu – leitet sie doch bereits die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und A ­ dorno (1944). Die beiden Autoren rekonstruieren bekanntlich die europäische Geschichte als eine Geschichte der Naturbeherrschung. Wir haben es daher nicht mit einer Alternative zu tun : entweder Gesellschaft oder Natur, sondern beide Dimensionen sind auf intrikate Weise ineinander verschlungen, die sowohl dem Kulturrelativismus als auch dem Naturalismus Hohn sprechen. Weder ist Natur bloß ein gesellschaftliches Konstrukt noch Gesell20 | Einleitung 

schaft ein Naturereignis. Vielmehr sind sie Aspekte der einen Welt des Menschen, die sowohl gesellschaftlich als auch natürlich verfasst ist. Mit Ernst Wolfgang Orth soll diese Welt des Menschen als Kultur bestimmt werden.36 Es mag auf den ersten Blick irritieren, Natur als Aspekt oder Dimension von Kultur aufzufassen. In einem wohlverstandenen Sinne bekenne ich mich durchaus zu einem moderaten Kulturalismus (siehe Kap. 1). Gegenwartsarchäologie

Simmels Formulierung des neuzeitlichen Erkenntnisideals, das nicht zuletzt in der Geldwirtschaft eine materielle Grundlage hat, führt von der Diagnostik der Gegenwart auf ihre Archäologie zurück. Die Idee, »alle qualitativen Bestimmtheiten der Wirklichkeit in rein quantitative aufzulösen«, ist charakteristisch für die europäische Neuzeit und Moderne. Weder in der Antike noch im Mittelalter war dies die beherrschende wissenschaftliche Weltansicht. Mit Blick auf das Naturverhältnis tauchen in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung immer wieder zwei prominente Namen auf : Leonardo da Vinci (1452 – 1519) und Galileo Galilei (1564 – 1642). Diese beiden stehen emblematisch für einen Epochenbruch in der Naturforschung, der sich am Anfang der Neuzeit im 16. und 17. Jahrhundert vollzogen hat. Paul Valéry erkennt in Leonardo den Vorläufer einer Wissenschaft, deren Wesen darin besteht, »das Wissen vom Können abhängen zu lassen«. Die moderne Wissenschaft definiert Valéry als »die Gesamtheit der Rezepte und Verfahren […], die immer gelingen […] : alles andere ist Literatur«. »Ihr Vertrauen beruht einzig und allein auf der Gewißheit, ein bestimmtes Phänomen mittels bestimmter wohldefinierter Handlungsschritte reproduzieren oder wiedersehen zu können.« Das Herstellen übernimmt die »Bürgschaft« für das Wissen. »Wir wissen, was wir können. Alles übrige ist nur Austausch von Worten.«37 Die Philosophie, »zuständig für Qualitäten«, mit dem Wort als »Mittel und Zweck«, wandert somit von der Seite der Wissenschaft auf die der Literatur.38 Leonardo verstand unter »echtem Wissen nur etwas, dem irgendein Handlungsvermögen entsprach. Schöpferisches Tätigsein, Konstruieren  Einleitung | 21

waren für ihn untrennbar von Erkennen und Verstehen.« Mit diesem Denken »schlug er einen Weg ein, auf dem unser Geist sich heute bewegt«.39 Die »Arbeit des Geistes« hat »nicht mehr eine letzte Schau zum Ziel« ;40 der aktive Geist löst den kontemplativen ab, und eine seiner wesentlichen Aktivitäten ist das Experiment. Im Experiment wird das Naturphänomen mittels Apparaten hergestellt. Die Technik ist das neue Prinzip der Naturerkenntnis. Für diesen Primat des Könnens steht in Valérys Rekonstruktion der modernen Episteme Leonardo Pate : »Das Trachten nach dem Automaten, nach Erkenntnis durch Konstruktion behauptete in seinem Denken die oberste Stelle.«41 Das von Vico zugunsten der erst später sogenannten Geisteswissenschaften ins Feld geführte Axiom von der Austauschbarkeit des Wahren und des Gemachten trifft nach Valéry ebenso gut, wenn nicht noch besser auf die experimentierenden Naturwissenschaften zu : »Ich verstehe nur, was ich zu machen verstehe.«42 Aber auch die Theoretische Physik ist keine kontemplative Schau der Natur – erlauben die von ihr verwendeten mathematischen Gleichungen es doch, einen Naturvorgang durch Berechnung in Gedanken herzustellen. Das Experiment entscheidet dann über die Belastbarkeit der Formel in der äußeren Natur. Die Wissenschaft im Geiste Leonardos ist eine Wissenschaft von Handlungen.43 »›Ich kann‹, ›Wir können‹ – ist wesentlich für die Naturwissenschaften, insbesondere für die Mathematik.« 44 Messen und Berechnen, Quantifizieren und Digitalisieren sind diejenigen Handlungen, die das Naturverhältnis der modernen Wissenschaften prägen. Valéry pointiert das Originelle dieser neuartigen Weltbeziehung in dem Satz : »Einzig Vermögen und Voraussicht sind also das wahre, solide Objekt der Wissenschaft und nicht die Erkenntnis, die Anschauung der Welt.«45 Es ist nicht nur der Finger (digitus), es ist die ganze Hand (manus), die zum Begreifen nötig ist. Wissenschaftliche Erkenntnis erhält somit manipulativen Charakter. Dieses technische Naturverhältnis, das die Neuzeit prägt, ist in der Lesart Hans Blumenbergs eine Reaktion auf den Nominalismus, der für das ausgehende Mittelalter charakteristisch ist. »So sind die Begriffe nur ›nomina‹, nicht ›conceptus‹, und ›richtig‹ und ›falsch‹ drücken nur die ökonomische Funktion des innerweltlichen SichEinrichtens und Sich-Zurechtfindens aus. Damit aber hat unser Er22 | Einleitung 

kenntnisvermögen von vornherein einen Charakter erhalten, den man getrost als ›technischen‹ ansprechen kann : es ist nicht vernehmend hingegeben an das Seiende, das ihm doch verschlossen ist, sondern es ist originär schöpferisch, eine ganz und gar menschliche, nur auf die menschliche Weltaufgabe hingeordnete Einheit von Begriffen und Gesetzen produzierend.« Auch für Blumenberg ist Leonardo eine »Schlüsselgestalt der beginnenden Neuzeit«.46 Nach dieser Interpretation ist die moderne Orientierung wissenschaftlicher Theorie an der Poiesis Ausdruck einer Entfremdungserfahrung. Während das Wesen der Dinge der theoretischen Erkenntnis unerreichbar bleibt, werden sie zum Material der praktischen Verfügbarkeit. Nicht Nominalismus, sondern gerade einen Platonismus sieht Ernst Cassirer bei Galilei am Werk, der die Platonische Unterscheidung einer Welt des Seins von einer Welt des Werdens durch Mathematik überwindet. Fortan erfassen Maß und Zahl nicht mehr nur das Unveränderliche, sondern auch den Bereich des Veränderlichen.47 Zugleich fällt die Aufteilung des Kosmos in eine sublunare, terrestrische und eine supralunare, himmlische Sphäre – das Universum lässt sich durch eine Mechanik beschreiben und deren Sprache ist die Mathematik. Außerdem verschwimmt die von Platon gezogene Grenze zwischen reiner und angewandter Mathematik.48 Es ist also gerade diese neoplatonische Mathematisierung der Natur, durch die sich nach Cassirer die Neuzeit vom Mittelalter unterscheidet.49 Die Mathematik war zwar schon lange vor der Renaissance ein Element der Kultur, aber erst durch Denker wie Leonardo oder Galilei wurde sie zu einer »neuen kulturellen Macht«. Mathematik ist fortan nicht bloß ein Feld, sondern das einzig gültige Kriterium des Wissens.50 Für die neuzeitlich-moderne, »wissenschaftsgestützte techni­ sche« Kultur hat Jürgen Mittelstraß den Ausdruck Leonardo-Welt vorgeschlagen, die als solche »Produkt« und »Werk des Men­schen« ist.51 Das Neuartige dieser mit der Renaissance anhebenden neuzeitlichen Welt sieht Mittelstraß wie Valéry in der »methodische[n] Verbindung von technischem Können und theo­ retischer Ver­ 52 nunft«. Charakteristisch für die Leonardo-Welt, in der wir nun seit 500 Jahren leben, ist die gegenüber Antike und Mittelalter neue Form instrumenteller, hergestellter Erfahrung auf der Grundlage  Einleitung | 23

technischer Konstruktionen. Mittelstraß unterscheidet zugespitzt zwischen dem Aristotelischen und dem Galileischen Erfahrungsbegriff : »Kennzeichnend für den Aristotelischen Erfahrungsbegriff ist […], dass er in Form einer noch vor-theoretischen Praxis […] sowohl Basis als auch Begründungsmittel einer theoretischen Praxis, der Praxis empirischer Wissenschaften ist.«53 Die Begriffe und Lehrsätze der Physik des Aristoteles werden aus der Alltagssprache gebildet, und die alltägliche Lebenspraxis ist es auch, die sie bestätigen soll. In der neuzeitlichen Naturwissenschaft tritt mit der systematischen Einführung des Experiments an die Stelle »der vor-theoretischen Lebenspraxis […] die technische Praxis« des Herstellens von Experimentalanordnungen, Messgeräten und letztlich auch von Erfahrung selbst. Der Galileische Erfahrungsbegriff ist im Gegensatz zum Aristotelischen »an die Bedingungen einer messenden Physik gebunden ; als empirisches Wissen tritt nicht mehr auf, was sich als ein vor-theoretisches Wissen theoretisch fassen läßt, sondern was mit den Instrumentarien einer physikalischen bzw. technischen Praxis […] gewonnen wurde«.54 Angesichts dieses veränderten Verständnisses von Empirie verlieren die empirischen Wissenschaften methodologisch das »Interesse an einer vor-theoretischen Erfahrungsbasis«. Der vortheoretische Erfahrungsbegriff »gilt nunmehr als ›unwissenschaftliches‹ Pendant zur wissenschaftlichen, d. h. auf eine Theorie des Messens gegründeten Empirie«. 55 Im Gegenzug wird jene Erfahrung als ›bloß subjektiv‹ abqualifiziert. Mittelstraß versucht, den vor-messtheoretischen Aristotelischen Erfahrungsbegriff methodologisch zu rehabilitieren, und übernimmt das für diesen Zweck von Friedrich Kambartel eingeführte Konzept des »lebensweltlichen Apriori«, das seinerseits auf Edmund Husserl zurückgeht. Der Galileische Erfahrungsbegriff soll durch den Aristotelischen nicht substituiert, sondern vielmehr supplementiert werden. Das Ziel ist die »Ergänzung« der ›Galileischen‹ theoretischen Praxis »um ihre vor-theoretischen […] Voraussetzungen«.56 Zu diesen vortheoretischen Voraussetzungen zählt Mittelstraß einerseits die »sprachliche Unterscheidungs- und Orientierungspraxis«, die auch eine Argumentationspraxis einschließt, und andererseits die »technische Praxis«, die ein elementares Herstellungswissen implementiert.57 Beides lässt sich, wie wir 24 | Einleitung 

noch sehen werden, sehr gut an Husserls Rekonstruktion der Geometrie aus der Feldmesspraxis nachvollziehen. Genauso geeignet ist aber wiederum die Messbarmachung von Wärme als Temperatur. Die Erfindung des Thermometers setzt nicht nur ein Unterscheidungswissen über die Differenz zwischen warm und kalt voraus, sondern auch ein Herstellungswissen für die Produktion von Glasröhren usw. Naturwissenschaftliche Theorie ist undenkbar ohne verlässliche Messtechnik, und Messtechnik ist undenkbar ohne die kundige Herstellung von Messgeräten. Zielgerichtetes und interessegelei­tetes Herstellungshandeln mit der ihm eigenen Normativität von Gelingen und Scheitern ist jedoch kein Naturvorgang, sondern eine menschliche Praxis. Allerdings ist festzuhalten, dass der von Mittelstraß beschriebene »Galileische Erfahrungsbegriff« beim Übergang von der Neuzeit in die Moderne eine doppelte Transformation durchlaufen hat : Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Abkopplung des Messens vom Erleben (z. B. Wellenschreiber, sog. Kymographen) und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Einsatz von Computersimulationen. Das vielleicht elaborierteste Beispiel für die Abkopplung des Messprozesses von jeglicher Anschauung ist heutzutage ein Teilchenbeschleuniger, der zwar ein Messgerät ist, jedoch keinerlei sinnliche Beobachtung ermöglicht. Die Forscher lesen vielmehr abstrakte Zeichen auf Computermonitoren ab. Gerade die Physik – zu denken wäre etwa an den Nachweis von Gravitationswellen durch Laserinterferometer – macht deutlich, in welch hohem Maße die moderne naturwissenschaftliche Empirie von der Ingenieurskunst abhängig geworden ist. Wer über die moderne Naturwissenschaft spricht, darf über Ingenieurswissenschaft nicht schweigen. Man könnte diesen Transformationsprozess auch als ein zunehmendes Blackboxing (Bruno Latour) der technischen Mittel beschreiben, die in empirischen Wissenschaften zum Einsatz kommen. In gewisser Hinsicht wandert die Erfahrung selbst in die Black Box der Mess- bzw. Simulationsapparatur. Die wissenschaftsgeschichtliche Fortentwicklung des »Galileischen Erfahrungsbegriffs« lässt damit fragwürdig erscheinen, wieweit in der Moderne überhaupt noch sinnvoll von Empirie als Erfahrung gesprochen werden kann.58

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Lebensweltapriori

Die Erinnerung an das »lebensweltliche Apriori« ist zugleich eine Erinnerung an Husserl. Dessen Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) ist für die folgenden Untersuchungen ein wiederkehrender Bezugspunkt. In § 36 findet sich jene Bemerkung, an die Kambartel und Mittelstraß anknüpfen : Demnach ist »alles objektive Apriori« der Wissenschaften »auf ein entsprechendes lebensweltliches Apriori« notwendig zurückbezogen.59 Sämtliche in den Wissenschaften erhobenen Geltungsan­sprüche lassen sich letztlich nur aufgrund ihrer epistemischen Verankerung in der Lebenswelt einlösen. Die Lebenswelt definiert Husserl kurz zuvor als »die raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrenen hinaus als erfahrbar wissen. Wir haben einen Welthorizont als Horizont möglicher Dingerfahrung.«60 Würde es Husserl bei dieser Definition belassen, wäre der Schulterschluss zwischen Konstanz und Freiburg perfekt. Schon Rüdiger Welter hat jedoch ausführlich auf die grundlegenden Differenzen zwischen den Lebensweltkonzepten des Phänomenologen und der Konstruktiven Wissenschaftstheorie hingewiesen.61 Sie müssen deshalb nicht noch einmal hervorgehoben werden. Husserls Theorie der Lebenswelt ist von ihren bewusstseinsphilosophischen Grundlagen bis zu ihren ontologischen Ambitionen ein derart anders angelegtes Projekt, dass sich die anfänglich bemerkte Nähe auf den zweiten Blick mehr als eine von Schlagworten als von Begriffen herausstellt. Freilich stehen philosophische Begriffe nicht unter Patentschutz, und Husserl hält nicht die Rechte an dem der Lebenswelt. Ein Aspekt, der zu den zahllosen Anschlussunternehmungen beigetragen hat, liegt gerade in der Unschärfe des Husserlschen Lebensweltbegriffs, dessen Bestimmung als »Welthorizont« zudem den Charakter einer absoluten Metapher im Sinne Blumenbergs hat. Prägnanz gewinnt er am ehesten durch die Angabe dessen, was Lebenswelt nicht ist. Sie fällt zum einen nicht mit dem zusammen, was Husserl (historische) Umwelt nennt und was wir heute am ehesten als Kultur im Plural bezeichnen würden.62 Zum anderen ist sie die Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaft26 | Einleitung 

lichen Leben erfahren. Damit markiert das universale Lebenswelt­ apriori methodologisch eine Grenze zum Kulturrelativismus wie zum Positivismus. Lebenswelt ist das Korrelat zu einer Erfahrung, die weder durch einen spezifischen kulturellen Kontext einfach hintergangen noch durch die Wissenschaften übertroffen werden kann. Die letztgenannte Grenze wird durch den bereits genannten praktischen Fundierungszusammenhang zwischen theoretischer und vortheoretischer Erfahrung deutlich, die erstgenannte durch die Möglichkeit der Übersetzung und der Verständigung zwischen verschiedenen Sprachen und kulturellen Praxisformen sowie durch die Ausbreitung technischer Erfindungen über Ländergrenzen hinweg. Auch wenn es zweifellos Wechselwirkungen zwischen der in Europa entstandenen modernen technisch-wissenschaftlichen Kultur und der lebensweltlichen Erfahrung gibt, so wird die Lebenswelt doch so lange nicht zu einer Kolonie jener Kultur, wie eine Verständigung über deren Eigensinn noch möglich ist. Die Tatsache des Redens über die Leonardo-Welt belegt die Gültigkeit des lebensweltlichen Apriori. Anders gewendet, das Faktum der Vermittlung impliziert die Vermittelbarkeit in einem seinerseits unmittelbar gegebenen Raum der Unterscheidung und Orientierung. Wenn im Folgenden von der Lebenswelt die Rede ist, dann im Sinne dieses intersubjektiv geteilten Raums von Erfahrungsweisen und Praxisformen (die Poiesis eingeschlossen), die zwar vor- und außerwissenschaftlich gewachsen, aber gleichwohl universalisierbar sind. Die vorwissenschaftlichen Voraussetzungen wissenschaftlicher Theoriebildung umfassen neben dem Komplex aus Unterscheidungs- und Orientierungswissen sowie Argumentationspraxis auch technisches Know-how. Man verfehlt das Wesen moderner Naturwissenschaft, wenn man sie als theoretische Grundlage von Technik und diese bloß als deren Anwendung ansieht. Vielmehr gilt umgekehrt, dass Naturwissenschaft ohne die Verwendung von Mess-, Rechen- und Experimentaltechnik arbeitsunfähig ist. Das Experiment ist keine Frage, auf die die Natur antwortet. Laboratorien sind durchweg künstliche Szenarien, die mit erheblichem Aufwand hergestellt und von Störungen reingehalten werden müssen. Valérys Aperçu, Wissenschaft sei die Gesamtheit der Rezepte und Verfahren, die immer gelingen, trifft einen wesentlichen Punkt. Was wir über die Natur wissen, wissen wir durch die Zuverlässigkeit,  Einleitung | 27

mit der die im Experiment eingesetzte Technik innerhalb eines akzeptablen ›Konfidenzintervalls‹ die erwarteten Messwerte liefert. Natur ist demgegenüber, was diese Harmonie stört, was für unerwartete Ergebnisse sorgt, was Widerstand leistet. Die sogenannten Naturgesetze sind methodisch gesehen, wie Holm Tetens pointiert, »Apparategesetze«.63 Sie sind Handlungsanweisungen für den Experimentator : Tue das, und du wirst jenes erhalten. Auf den Qualitätsunterschied zwischen »normierender Regelung und kausaler Regelung« hat bereits Husserl in seinen Logischen Untersuchungen (1900) nachdrücklich hingewiesen. »Das Beispiel der Rechenmaschine macht den Unterschied völlig klar. Die Anordnung und Verknüpfung wird naturgesetzlich so geregelt, wie es die arithmetischen Sätze für ihre Bedeutungen fordern. Aber niemand wird, um den Gang der Maschine physikalisch zu erklären, statt der mechanischen die arithmetischen Gesetze heranziehen.«64 Apparategesetze sind ein Fall von (Wissenschaftlerhandlungen) normierender Regelung, Naturgesetze ein Beispiel für kausale Regelung. Hier gilt es zunächst, die »mythische Rede von den Naturgesetzen als waltenden Mächten des natürlichen Geschehens« abzuwehren – »als ob die Regeln ursächlicher Zusammenhänge selbst wieder als Ursachen, somit als Glieder eben solcher Zusammenhänge sinnvoll fungieren könnten«.65 Die Reifikation von Naturgesetzen beruht auf einem Kategorienfehler, der Regeln und Ursachen auf eine Stufe stellt. Sodann muss beachtet werden, dass die kausale Regelung in der normierenden methodisch fundiert ist. Kausalzusammenhänge werden nicht einfach beobachtet, sondern empirisch gesättigt hergestellt. Die naturwissenschaftliche Exploration eines Kausalnexus verlangt die Befolgung normierender Regeln für das Wissenschaftlerhandeln bei der Konstruktion von Experimentalanordnungen. Als promovierter Mathematiker war sich Husserl darüber im Klaren, dass selbst der Mathematiker »in Wahrheit nicht der reine Theoretiker ist, sondern nur der ingeniöse Techniker, gleichsam der Konstrukteur, welcher, in bloßem Hinblick auf die formalen Zusammenhänge, die Theorie wie ein technisches Kunstwerk aufbaut«. 66 Auch seine ›Einsichten‹ sind von normierenden Regelungen abhängig, die seine Konstruktionen anleiten. Was es jedoch bedeutet, einer Regel zu folgen, lernt der Mathematiker nicht erst im Mathematikstudium, so wenig, wie der Experimentalwissenschaft28 | Einleitung 

ler erst im Labor lernt, Gebrauchsanweisungen zu lesen. Die Differenz zwischen normativen Regeln und Kausalzusammenhängen ist Teil jenes lebensweltlichen Unterscheidungs- und Orientierungswissens, das die Philosophie als Studium von Qualitätsunterschieden auf Begriffe bringt. Übersicht

Die nachfolgenden Untersuchungen erinnern einige Unterschiede, die in der spätmodernen technisch-wissenschaftlichen Kultur gelegentlich verwischt werden. Seit dem Beginn der Neuzeit bestimmt das Bild, das Menschen insbesondere von den Naturwissenschaften haben, auch das Bild, das sie sich von sich selbst und ihrer Stellung in der Welt machen. Das Rezept zum Erfolg der Physik als Normalwissenschaft im Sinne Kuhns liegt in der Quantifizierung und Digitalisierung ihrer Gegenstände, also in der Herstellung von Messbarkeit und Berechenbarkeit. Dieser Erfolg färbte nicht nur auf andere Wissenschaften ab, zuerst auf andere Natur-, dann auf Sozial- und Geisteswissenschaften, sondern auch auf das Weltbild der von diesen Wissenschaften so stark geprägten Kultur. Die Selbstverständigung über diese technisch-wissenschaftliche Kultur benötigt deshalb eine »Hermeneutik der Zahl«. 67 Denn das Paradigma der Mathematisierung mit den Spielarten von Quantifizierung und Digitalisierung tritt nicht nur in Zahlen und Algorithmen in Erscheinung. Es begegnet uns sozusagen subkutan auch dort, wo kategoriale bzw. qualitative Unterschiede zu graduellen bzw. quantitativen herabgestuft werden. Zahlen machen wie Geld Inkommensurables kommensurabel. Das normalwissenschaftliche Paradigma wirkt in bezug auf Qualitätsunterschiede entdifferenzierend. In diesem Sinn verstehen sich die folgenden Kapitel als Angebote zur Redifferenzierung. Kapitel 1 skizziert die Methodologie des bereits eingestandenen moderaten Kulturalismus, dem die Einzelstudien verpflichtet sind. Das in dieser Einleitung bloß Angedeutete erhält im Methodenkapitel schärfere Konturen. In den Kapiteln 2 bis 4 stehen wissenschaftsgeschichtliche Übergänge der fortschreitenden Mathe­matisierung der Wirklichkeit zu einer Welt  Einleitung | 29

der Maße im Mittelpunkt. Das Ziel ist dabei die Rekonstruktion des modernen Zahlenmythos, demzufolge nur dasjenige objektiv fassbar ist, was sich zählen oder berechnen lässt. Die Physik ist in der Neuzeit zum Vorbild nahezu aller Wissenschaften geworden. Am schwierigsten gestaltet sich das Mathematisierungsprogramm jedoch bei lebendigen Wesen. Kapitel 5 bis 7 behandeln daher den Eigensinn der Lebenswissenschaften. Auch wenn Teile der Biologie, wie die Genetik, erfolgreich mit mathematischen Methoden operieren, ist es unmöglich, den Qualitätsunterschied zwischen lebendigen und nicht-lebendigen Objekten aus der Physik abzuleiten. Die Beziehungen zwischen den Wissenschaften werfen die Frage nach dem Verhältnis von Teilen und Ganzen auf. Denn nach einem weit verbreiteten Missverständnis beschäftigt sich die Physik mit den (kleinsten) Teilen, aus dem sich alles andere – unter anderem auch der Mensch – zusammensetzt. Kapitel 8 versucht sich daher an einer kleinen Mereologie, die zwischen Element und Ingredienz, Fragment und Komponente sowie Moment und Stück unterscheidet. Kapitel 9 korrigiert naturalistische wie kulturrelativistische Ontologien, die natürliche und kulturelle Tatsachen entdifferenzieren, und insistiert auf der Unterscheidung zwischen Methode und Sein. Das Schlusskapitel widmet sich der Ambivalenz der Mathematisierung. In dem Maße, in dem der Mensch die Natur mittels Messen und Berechnen beherrscht, steigert er zugleich das Bedürfnis nach dem Anderen des Vermessenen und Berechneten. So fördern paradoxerweise gerade Quantifizierung und Digitalisierung den Bedarf an Qualitätsunterschieden. Das vorliegende Buch ist insofern selbst Ausdruck dieser Ambivalenz.

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K APITEL 1 Kulturphänomenologie als kritische Theorie »The mystique of science proclaims that numbers are the ultimate test of objectivity. […] If […] quantitative data are as subject to cultural constraint as any ­other aspect of science, then they have no special claim upon final truth.« Stephen Jay Gould : The Mismeasure of Man (1981) 68

Phänomenologie der kulturellen Praxis

Die folgenden Studien sind einem moderaten Kulturalismus verpflichtet. Kulturalistisch ist der hier vertretene Ansatz insofern, als er in der Kultur eine notwendige, unhintergehbare Bedingung von Objektivität identifiziert. Menschen humanisieren ihre Umwelt von Bedeutsamkeiten zu einer Welt von Bedeutungen durch spezifisch menschliche Tätigkeiten wie Arbeit, Kultus, künstlerische Produktion, sprachliche Begriffsbildung, wissenschaftliche Erkenntnis und vieles mehr. Die Kategorie der Bedeutsamkeit verweist auf den Vitalbereich der unmittelbaren Lebensbewältigung, Bedeutung setzt dagegen die geistige Aktivität des Abstandnehmens durch symbolische Repräsentation voraus. Nahrung ist bedeutsam für jedes Lebewesen, die Repräsentation von Nahrungsmitteln auf einem Einkaufszettel, in einer Kalorientabelle oder in einer Koch-Show vermittelt Bedeutungen von etwas als etwas für jemanden. Kultur ist nicht nur die Welt dieser Bedeutungen, sondern auch und zumal der Praktiken, die Bedeutungen zwischen Menschen verbreiten. Die Inter-Subjektivität solcher symbolischer Tauschprozesse ermöglicht erst Objektivität. Es gibt keine andere Objektivität von Aussagen über die Wirklichkeit als Intersubjektivität (und Transsubjektivität, wie wir noch sehen werden). Objektive Geltung kann nur eine Behauptung für sich   31

beanspruchen, die der Prüfung durch andere standzuhalten vermag. Freilich entscheidet intersubjektive Anschlussfähigkeit allein, systemtheoretisch ausgedrückt : die erfolgreiche Anschlusskommunikation, nicht über berechtigte Geltungsansprüche. Die Wirklichkeit muss sich unsere Grillen auch gefallen lassen – sie ist nicht einfach ein gesellschaftliches Konstrukt. In Abgrenzung vom Kulturrelativismus wird im Weiteren von einem moderaten Kulturalismus ausgegangen. Moderat ist dieser insofern zu nennen, als er die Kultur nicht für eine hinreichende Bedingung von Objektivität hält. Menschliche Aktivitäten vollziehen sich nicht nur in einem geistigen, sondern auch in einem Horizont natürlicher Vorgegebenheiten. Ein sinnfälliges Beispiel für diese Außengrenze kultureller Praxis liefert die Technik. So mögen die Zwecke, zu denen Werkzeuge erfunden werden, kulturell und historisch variieren – die Erfolgsbedingungen für ihre Funktionalität tun es nicht : Das Wozu ihres Einsatzes verweist auf Gründe, das Warum ihrer Wirksamkeit auf Ursachen, die in der Natur beschlossen liegen. Die kulturübergreifende Kumulativität technischen Know-hows ist ein starkes Argument gegen den Kulturrelativismus.69 Das Rad muss nicht immer neu erfunden werden, und spätestens in der Moderne machen technische Errungenschaften schnell die Runde um den Globus. Die Ubiquität von Technologie ist so stark, dass die weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen den Kulturen, in denen sie Verwendung findet, nur allzu leicht übersehen werden. Mit Platon könnte man die beiden Aspekte, die der moderate Kulturalismus als konstitutive Faktoren menschlichen Handelns anerkennt, Gründe (aitiai, wörtlich : Ursachen) und Ursachen (syn­ aitiai, wörtlich : Mitursachen) nennen. Letztere sind genau jene Wirkmechanismen, ohne die Erstere keine Ursachen sein können. Dort, wo man sich eines Mittels bedient, um etwas zu tun, muss dieses Mittel auch wirksam sein. Platon dehnt diese Zweckrationalität sogar auf den menschlichen Körper aus : Aus welchen Gründen ich auch immer handele, das Gelingen der Handlung hängt auch davon ab, ob ich bestimmte körperliche Bewegungen oder Leistungen auszuführen in der Lage bin. Es ist jedoch absurd zu behaupten, Sokrates sitze im Kerker, weil sein Körper die Zelle nicht verlassen habe ; so wie es ebenfalls absurd wäre zu meinen, ich befinde mich 32 | Kapitel 1 

im Kino, weil meine Beine mich dorthin geführt hätten.70 Dieser Absurdität macht sich der Naturalismus schuldig. Die zentrale These des moderaten Kulturalismus könnte man auch auf den Satz zuspitzen : Gründe sind nicht aus Ursachen ableitbar. Die Anerkennung des Eigensinns natürlicher Mitursachen setzt dagegen einem starken Kulturalismus Grenzen, dem zufolge die Welt des Menschen ausschließlich durch Bedeutungen verfasst sei. Methodisch versteht sich der skizzierte moderate Kulturalismus als Kulturphänomenologie71 und orientiert sich konkret an den genealogischen Überlegungen, die Husserl Mitte der 1930er Jahre zur Geometrie angestellt hat, ohne ihnen dogmatisch zu folgen. Gemäß dem leitenden Erkenntnisinteresse werde ich die Kulturphänomenologie mit Blick auf die Wissenschaften als eine Phänomenologie kultureller Praxis darstellen. Wissenschaft ist eine menschliche Tätigkeit zur Humanisierung der Welt, die wie jede andere Praxisform ein teleologisches Profil aufweist und gemeinsam mit anderen Praxisformen in die Kultur als humanisierte Welt eingebettet ist. Unter einer Phänomenologie kultureller Praxis verstehe ich eine Kulturphilosophie, die wenigstens diese fünf Bedingungen erfüllt : Sie folgt, erstens, dem Intentionalitätsparadigma. Die kulturstiftenden Leistungen und Tätigkeiten sind intentionale Akte, die einen Richtungssinn haben. Erfahrung ist keine bloß passive Aufnahme eines An-sich-Gegebenen, sondern ein interessegeleitetes Tätigsein : »Alles Erfahren als ein Tätigsein ist interessiert, ist Tun in Interessen, auf Ziele, unmittelbare oder mittelbare, hin.« Insofern ist die »objektive Erfahrungswelt« eine »Welt der Praxis«. Auch Wissenschaft ist stets von Erkenntnisinteressen geleitet, die Theorie selbst eine »eigenartige wissenschaftliche Praxis«.72 Die Bezugnahme (z. B. Erfahren) hat den systematischen Vorrang vor den Bezogenen. Intentionalität ist keine statische Struktur, sondern ein zeitlicher sowie geschichtlicher Vollzug ; die Tradition bestimmt den Vollzugssinn mit. Deshalb wird die Wissenschaftsgeschichte für die folgenden Untersuchungen immer wieder eine wichtige Rolle spielen. Die Phänomenologie kultureller Praxis betreibt, zweitens, Kon­ sti­tutionsanalyse, die die Kultur als Welt des Menschen aus Leistungen und Tätigkeiten rekonstruiert. Dementsprechend leitet Husserl die naturwissenschaftliche Theorie aus der Messpraxis und aus der Idealisierung der Maße ab ; Objektivität ist eine Erkenntnisleistung,  Kulturphänomenologie als kritische Theorie | 33

die Methoden voraussetzt.73 Die Konstitution von Kultur zu analysieren, heißt, die Humanisierung der Welt schrittweise gedanklich abzubauen (Reduktion) und anschließend wieder aufzubauen (Rekonstruktion). Wenn der Horizont der Kultur durch tätiges Leben aufgespannt wird, dann impliziert der Lebensbegriff immer auch die biotisch-naturale Seite jener vitalen Bedeutsamkeiten und materiellen Mitursachen (synaitiai), von denen bereits die Rede war. Die Phänomenologie kultureller Praxis geht, drittens, vom Korrelationsapriori zwischen Gegenstand und Gegebenheitsweise aus. Zum »Aufbau einer humanen Umwelt« gehört je schon (a priori) »die Korrelation der Humanisierung und der humanisierenden Subjektivität«, die ihre humane Umwelt tätig konstituiert.74 Dieses wechselseitige Aufeinander-verwiesen-Sein von Erfahrungsgegenstand und Erfahrungsgegebenheit ist unhintergehbar und kann weder einseitig auf die Objekt- noch auf die Subjektseite reduziert werden (Objektivismus bzw. Subjektivismus). Das Korrelationsapriori ist letztlich eine Explikation jenes Vorrangs der Beziehung vor den Bezogenen und fungiert zugleich als Korrektiv gegen einen Platonismus, der die Welt in die beiden Sphären des Subjektiv-Rela­ tiven und des Objektiv-an-sich-Seienden aufteilt. »Objektivierung ist Sache der Methode, fundiert in vorwissenschaftlichen Erfahrungsgegebenheiten. Mathematische Methode ›konstruiert‹ aus anschaulicher Vorstellung ideale Gegenständlichkeiten und lehrt, diese operativ und systematisch zu behandeln. […] Ideen entspringen durch eine eigenartige Geistesleistung : durch Idealisierung.«75 Auch die Ideenwelt entgeht dem Korrelationsapriori nicht. Die Phänomenologie kultureller Praxis erkennt, viertens, die Ab­ hängigkeit eines jeden »objektiven Apriori« von einem entspre­ chenden »lebensweltlichen Apriori« an.76 Jeder theoretische Geltungsanspruch wird in Handlungen eingelöst (oder nicht), die nicht in der Welt des reinen Raums der Geometrie oder der reinen Kausalgesetze der Physik stattfinden, sondern in der kulturellen Lebenswelt. Anschaulicher formuliert : Der Physiker liest seine Messgeräte nicht in einem n-dimensionalen Vektorraum ab, sondern in dem Labor, das ihm von seiner Universität zur Verfügung gestellt wird, in dem er einen Teil seiner Berufszeit verbringt und bemüht ist, sogenannte Artefakte (unbeabsichtigt verfälschte Messergebnisse) zu vermeiden usw. 34 | Kapitel 1 

Die Phänomenologie kultureller Praxis operiert, fünftens, in kritischer Einstellung gegen den Verlust des Ursprungssinns der Produkte tätigen Lebens. Ihr Anliegen ist es, eine Rationalität zur Vernunft zu bringen, die hinter den von Menschen hervorgebrachten Erzeugnissen eben jene Menschen mit ihren Interessen und Zielen ausblendet. In jeder Tatsache steckt eine Tat, und diese darf nicht zugunsten bloßer Funktionalität und vermeintlicher Objektivität den handelnden Personen streitig gemacht werden. Außerdem bleibt die Phänomenologie der arbeitenden Subjekte eingedenk, die sie selbst hervorbringen. Kritische Einstellung ist ohne kritische Reflexion des eigenen Standortes nicht zu haben. In Erfahrung und Urteil bemerkt Husserl, »daß zur Welt, wie sie uns, erwachsenen Menschen unserer Zeit, vorgegeben ist, alles mitgehört, was die Naturwissenschaft der Neuzeit an Bestimmungen des Seienden geleistet hat. Und wenn wir auch selbst nicht naturwissenschaftlich interessiert sind und nichts von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wissen, so ist uns doch das Seiende vorweg wenigstens so weit bestimmt vorgegeben, daß wir es auffassen als prinzipiell wissenschaftlich bestimmbar.«77 Wenn Kulturphänomenologie die Konstitution der humanisierten Welt rekonstruiert und die wissenschaftliche Weltauffassung zum Kernbestand der neuzeitlich-europäischen Kultur gehört, dann wird die Wissenschaft nicht bloß als eine kulturelle Praxisform unter anderen zum Gegenstand der Kulturphänomenologie, sondern weil sie die für unsere Kultur charakteristische »Horizontvorzeichnung«78 von Erkenntnisgegenständen überhaupt darstellt. Eine Phänomenologie kultureller Praxis kommt nicht umhin, die »gefährliche[n] Sinnverschiebungen«79 zu reflektieren, die mit einer Ontologisierung wissenschaftlicher Methoden verbunden sind. Mit Husserl ist daran zu erinnern, dass auch die Theorie eine Praxis ist, die sich in einem Interessenhorizont vollzieht. Die beschriebene Sinnverschiebung von einer Welt-für-Menschen hin zu einer Welt-an-sich macht aus einer »Welt als Horizont« eine »Welt als Gegenstand« naturwissenschaftlicher Forschung. 80 Genau hier setzt Husserls (unfertig gebliebenes) Krisis-Werk an. »Die mathematische Naturwissenschaft ist eine wundervolle Technik, um Induktionen von einer Leistungsfähigkeit, von einer Wahrschein­lichkeit, Genauigkeit, Berechenbarkeit zu machen,  Kulturphänomenologie als kritische Theorie | 35

die früher nicht einmal geahnt werden konnten.« Es ist aber genau diese Leistungsfähigkeit der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die dazu führt, dass der Wissenschaftler als »arbeitende[s] Subjekt« vergessen wird, dessen Empirie wie jede Erfahrung interessegeleitet ist. 81 Die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode hat den Zweck, die innerhalb der vorwissenschaftlichen Erfahrung bloß möglichen »rohen Voraussichten […] zu verbessern« und mittels mathematischer Formeln die Welt für uns Menschen »durch Kon­ struktion beherrschbar« zu machen. 82 Wird das »Sinnesfundament« der Wissenschaft in der Lebenswelt vergessen, dann verliert Wissenschaft ihre »Lebensbedeutsamkeit«. 83 Entkoppelt von den ursprünglichen Interessen, verselbständigt sie sich zu einer bloßen »Tatsachenwissenschaft«, 84 die vermeintlich eine an sich bestimmte Wirklichkeit abbildet. Statt mit Mitteln, die zu vernünftigen Zwecken eingesetzt werden können, hat man es nur noch mit Sachzwängen zu tun, die die technisch errungenen Freiheiten einzuschränken und Verantwortung abzuschieben helfen. Gegen die Logik von Sachzwängen hält die Kulturphänomenologie am Primat der Praxis vor der Theorie fest. Husserl zeigt am Beispiel der Geometrie, wie die mathematische Methode durch Idealisierung einer »realen Praxis«85 entstanden ist. Ihren Sitz im Leben hat die Geometrie dem Wortsinne nach in der empirischen Feldmesskunst und wurde beispielsweise im alten Ägypten eingesetzt, um nach dem regelmäßig wiederkehrenden Nilhochwasser die Felder neu auszumessen. Es lässt sich in einer genealogischen Erzählung mühelos verständlich machen, wie eine solche Messkunst durch die Festlegung von Maßen, die Erzeugung rechter Winkel und die Bestimmung von Längen und Flächen immer weiter verfeinert wird, bis als Ideale solcher Verbesserungen sogenannte »Limes-Gestalten«86 auftauchen : z. B. ein rechter Winkel, der nicht ›noch rechtwinklinger‹ sein kann, ein zwar praktisch unerreichbarer, aber die Messpraxis anleitender rechter Winkel von genau 90°. Im Interesse der Verfahrensverbesserung operiert man mit ›reinen Formen‹, hinter denen aber nicht etwa selbständige Objekte, sondern Vorschriften stehen : ›Wenn Du einen rechten Winkel erzeugen willst, dann mußt Du … tun‹. Durch »Idealisation und Konstruktion« werden aus den Limesgestalten schließlich »Idealgebilde«, 87 denen die Unterstellung zugrunde liegt, dass das Herstellungsziel 36 | Kapitel 1 

idealer Formen erreicht ist. Erst wenn der hypothetische Charakter dieser Idealitäten vergessen wird, entsteht das Selbstmissverständnis einer zweckfreien Wissenschaft. 88 Kulturphänomenologie und Methodischer Kulturalismus

Der von Husserl beschriebene Idealisierungsprozess ist ein Fall dessen, was in der Erlanger Schule Konstruktiver Wissenschaftstheorie »Hochstilisierung« heißt. Paul Lorenzen wusste, was er Husserl und der Phänomenologie zu verdanken hat : »Erst im Anschluß an Dilthey und Husserl haben Misch einerseits und Hei­degger andererseits deutlich gemacht, was das heißt, daß das Denken vom Leben, von der praktischen Lebenssituation des Menschen, auszugehen hat. Alles Denken ist eine Hochstilisierung dessen, was man im praktischen Leben immer schon tut.« 89 ›Hochstilisierung‹ ist hier natürlich positiv gemeint als methodische Verbesserung und Verfeinerung von Messverfahren und Prognosen. Husserl stellt diesen Vorgang für unser lebensweltliches Kausalwissen folgendermaßen dar : »Auf Voraussicht, wir können dafür sagen, auf Induktion, beruht alles Leben. […] Alle Praxis mit ihren Vorhaben impliziert Induktionen, nur daß die gewöhnlichen, auch die ausdrücklich formulierten und ›bewährten‹ induktiven Erkenntnisse (die Voraussichten) ›kunstlose‹ sind gegenüber den kunstvollen ›methodischen‹ […] Induktionen.«90 Wissenschaft ver­ dankt sich einer Hochstilisierung lebensweltlicher Praxis 91 mit dem Ziel, eine objektive Erkenntnis »für jedermann«92 zu ermöglichen. Ihre Objektivität besteht in Transsubjektivität, das heißt, es kommt nicht darauf an, wer ein bestimmtes (z. B. Mess-)Verfahren anwendet, weil begründet sichergestellt ist, dass es ceteris paribus verlässliche Ergebnisse liefert. In der modernen Experimentalwissenschaft spiegelt sich dieser Trans­subjektivitätsanspruch in der Norm, dass Messergebnisse (auch von anderen Forschern) replizierbar sein müssen. Lorenzen will zeigen, »daß die theoretische [d. i. erkennende] Vernunft selber ein normatives Fundament hat«. In diesem wohlverstandenen Sinne beginnt die Philosophie damit, praktische »Vernunft in die Wissenschaften zu bringen«.93 Genauer versteht  Kulturphänomenologie als kritische Theorie | 37

Lorenzen darunter, erstens die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis an ihrer Transsubjektivität festzumachen und zweitens diese Transsubjektivität auf die Praxis ihrer Sicherstellung zurückzuführen. Der Anspruch auf objektive, d. h. transsubjektive Geltung wissenschaftlicher Aussagen wird methodisch gesichert durch Experiment, Auswertung von Archivmaterialien und dergleichen mehr. Das Erlanger Programm sieht vor, Wissenschaft als eine Praxis des Redens und Handelns zu rekonstruieren, in der Normen durch Begründung gegenüber Anderen kritisch angeeignet werden. Argumente sind, nach einer Formulierung Karl-Otto Apels, »Sinn- und Geltungs-Ansprüche, die nur im interpersonalen Dialog expliziert und entschieden werden können«.94 Eine Behauptung, die mehr ist als eine bloße Meinung, hat demnach prinzipiell die folgende implizite Struktur : Ein Proponent beansprucht gegenüber einem Opponenten mit Gründen die Geltung einer Aussage. Jemand, der eine Behauptung aufstellt, so formuliert den gleichen Gedanken Jürgen Habermas, »muß über eine ›Deckungsreserve‹ guter Gründe verfügen, um erforderlichenfalls seine Gesprächspartner von der Wahrheit der Aussage zu überzeugen und ein rational motiviertes Einverständnis herbeiführen zu können«.95 Diskursive Behauptungen erheben einen Anspruch auf Geltung gegenüber einem Anderen, der dazu berechtigt ist, Gründe für diesen Anspruch einzufordern. Es sind nicht nur der diskursive Ansatz und der Begriff des Geltungsanspruchs, die eine Nähe zwischen Konstruktiver Wissen­ schaftstheorie und Kritischer Theorie begründen. Im Kern verbindet beide die (letztlich Kantische) Überzeugung, dass die Vernunft praktisch ist. Gegen den gemeinsamen Gegner des Positivismus machen sie den Primat praktischer Vernunft geltend. Nachdem Lorenzen und Habermas 1969 in Düsseldorf auf dem Deutschen Kongress für Philosophie zum Kongressthema »Philosophie und Wissenschaft« gesprochen hatten, war sogar von einer »Großen Koalition« zwischen Erlanger und Frankfurter Schule die Rede.96 Die Konstruktive Wissenschaftstheorie ist freilich nicht in Erlangen verblieben. Die Lorenzen-Schüler Jürgen Mittelstraß und Peter Janich gründeten in den 1970er bzw. 1980er Jahren die Konstanzer bzw. Marburger Schule. Janich wählte für seine Weiterentwicklung des Erlanger Programms die Bezeichnung Methodischer Kulturalis38 | Kapitel 1 

mus. Den pragmatistischen Ansatz, der theoretisches Kennen aus einem methodischen Können rekonstruiert, ergänzt Janich um die kulturalistische These, dass das methodische Können der Wissenschaften stets in einen kulturellen Kontext eingebettet ist. Der Janich-Schüler Michael Weingarten stellt einen Zusammenhang zwischen der kulturalistischen Wende der Konstruktiven Wissenschaftstheorie mit der Husserlschen Phänomenologie her : »Die Wendung vom ›Kennen‹ zum ›Können‹ muß also weitergeführt werden zur Rekonstruktion der Art und Weise der kulturellen Einbettung wissenschaftlichen Tuns ; Husserl hat mit seinen Überlegungen zu Wissenschaft und Lebenswelt dazu das Stichwort gegeben.«97 Naturwissenschaften kulturalistisch zu verstehen, bedeutet nach Janich, Kultur nicht naturalistisch zu einem »Teilbereich der Natur« zu erklären, sondern vielmehr umgekehrt, »Natur als Gegenstand menschlicher Praxis, von Ackerbau und Viehzucht bis zum Gegenstandsbereich moderner Naturwissenschaft« zu betrachten.98 Janich weist darauf hin, dass der Kulturbegriff etymologisch (von lat. colere für ›bebauen, bearbeiten, Ackerbau betreiben‹) mit dem Naturbegriff über die Landwirtschaft verbunden ist : Natur ist das vom Menschen nicht Gemachte, auf das sich menschliches Machen zweckorientiert bezieht. Anders formuliert : Natur ist das an den Mitteln Unverfügbare,99 wie z. B. das Wachsen und Gedeihen oder Eingehen und Verdorren der Feldfrüchte. Für den Methodischen Kulturalisten unterscheidet sich dieses Naturverhältnis nicht substantiell von dem der Naturwissenschaften. Auch in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis erscheint Natur als das Unverfügbare an den zu bestimmten Zwecken eingesetzten methodischen Mitteln. Der Methodische Kulturalismus neigt mit seinem Primat der Methode vor der Sache allerdings dazu, das Natürliche allzu sehr auf das Widerständige im Gelingen oder Misslingen von Handlungen zu reduzieren. In seiner Erwiderung auf einen Einwurf von Hermann Schmitz stellt Janich den »Widerfahrnischarakter des Gelingens und Mißlingens« als passiven Aspekt »an jeder Einzelhandlung« gegenüber den aktiven Aspekten der Zielsetzung und Mittelergreifung heraus.100 Während sich der Methodische Konstruktivismus stärker mit dem aktiven Handlungsaspekt beschäftigt, steht zumindest in der sogenannten Neuen Phänomenologie eher  Kulturphänomenologie als kritische Theorie | 39

der passive Aspekt im Fokus. Beide Philosophien, so Janich, arbeiten »an zwei komplementären Aspekten ein und derselben Sache […], an einem philosophischen Verständnis nämlich des Menschen und seiner kulturellen Hervorbringungen«. »Das ›Machen‹ z. B. der Gegenstände von Wissenschaft ist nichts, was einem Roboter oder einer Maschine übertragen werden könnte, sondern ist immer eine aus vielen Einzelhandlungen bestehende Kulturleistung, die ohne den Einfluß des Sensiblen nicht zustande kommen könnte.«101 Freilich ist Komplementarität leichter gesagt als getan. Nicht jedes Widerfahrnis setzt eine Handlung voraus. Nicht jedes Handeln ist an klare Gelingensbedingungen geknüpft. Die Sache der Kulturphänomenologie : der Mensch und seine kulturellen Hervorbringungen, ist eingelassen in Horizonte, die in Handlungsbegriffen nicht adäquat zu beschreiben sind. Die Konstitutionsanalyse führt, wie bereits erwähnt, auf eine naturale Dimension unmittelbarer, elementarer Bedürfnisse, die wir auch mit Tieren gemeinsam haben. Auf der anderen Seite wirkt die jeweilige Kultur, in der wir leben, wie eine zweite Natur, die jedoch kein »Einfluß des Sensiblen« ist. Der Begriff des Menschen lässt sich nur »in Begriffen menschlicher Kultur« bestimmen.102 Eine Phänomenologie der kulturellen Praxis muss daher ausgehen vom Menschen als »SubjektObjekt der Kultur und als Subjekt-Objekt der Natur«.103 Natur und Kultur sind nicht bloße Komplemente ; im Menschen sind sie inein­ ander verschlungen. Kulturphänomenologie und Kritische Theorie

Die an Husserl anschließende Kulturphänomenologie besitzt nicht nur eine Familienähnlichkeit mit der Konstruktiven Wissenschaftstheorie, sondern auch mit der Kritischen Theorie. Weingarten erinnert als Vertreter des Methodischen Kulturalismus daran, dass sich Husserls Diagnose einer Krise der europäischen Wissenschaften mit den Einwänden der Kritischen Theorie deckt.104 Dafür spricht, dass unmittelbar nach Erscheinen der Krisis-Schrift Max Horkheimer im ersten Heft des Jahrgangs 1937 der Zeitschrift für Sozialforschung seine Wertschätzung für die Abhandlung in einer Fußnote von »Der neueste Angriff auf die Metaphysik« zum Aus40 | Kapitel 1 

druck bringt : »Bei aller Gegensätzlichkeit der Denkart Husserls zu der hier vertretenen Theorie hat seine Altersstudie mit ihrer höchst abstrakten Problematik mehr mit den gegenwärtigen geschichtlichen Aufgaben zu tun als der sich zeitgemäß dünkende Pragmatismus oder das vermeintlich dem ›Mann am Schraubstock‹ angepaßte Reden und Denken mancher jüngeren Intellektuellen, die sich schämen, es zu sein.«105 Da sich seine Arbeit am eigenen Aufsatz mit der Publikation der Krisis überschneidet, kann Horkheimer zwar nur einen flüchtigen Blick in die Neuerscheinung werfen, erkennt in Husserl aber einen Verbündeten gegen die Neopositivisten des Wiener Kreises, namentlich Carnap und Neurath. Rudolf Carnap reduziert in einer Reihe von Aufsätzen, die in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift Erkenntnis Anfang der Dreißigerjahre erscheinen, die Philosophie auf Wissenschaftstheo­ rie. Um griffige Formulierungen nicht verlegen, behauptet er : »Es gibt keine Philosophie als Theorie, als System eigener Sätze neben denen der Wissenschaft. Philosophie betreiben bedeutet nichts Anderes als : die Begriffe und Sätze der Wissenschaft durch logische Analyse klären.«106 Ein Aufsatz trägt den programmatischen Titel »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache« (1932). Darin erkennt er nur noch Sätze der Logik, der Mathematik und der empirischen Wissenschaften als sinnvolle Sätze an. Die Sätze der Metaphysik, zu der Carnap auch Wertphilosophie und Normwissenschaft (Praktische Philosophie und Ästhetik) zählt, erzeugen lediglich den Anschein, etwas Sinnvolles zu meinen, während sie mangels empirischer Überprüfbarkeit eigentlich sinnlos sind. Philosophen, die vorgeben, rational über Normen diskutieren zu können, missverstehen als Wissenschaft, was nur »Ausdruck des Lebensgefühls« ist. Dies leiste die Kunst jedoch wesentlich besser : »Kunst [ist] das adäquate, die Metaphysik aber ein inadäquates Ausdrucksmittel für das Lebensgefühl«. »Metaphysiker sind Musiker ohne musikalische Fähigkeit.« Metaphysik, so Carnaps vernichtendes Urteil, sei nur ein unzulänglicher Ersatz für die Kunst.107 Gegen die positivistischen Angriffe versucht Horkheimer ein Denken zu verteidigen, das sich nicht das Wollen versagt, eine Philosophie, die sich nicht zur Magd der Physik macht, und eine Vernunft, die sich auf mehr als bloßes Kalkulieren versteht. Die Reduktion der Philosophie auf Analyse physikalischer Sätze wiederholt  Kulturphänomenologie als kritische Theorie | 41

die Abstraktion »von allem Subjektiven, von der gesamten menschlichen Praxis«, die diesen Sätzen methodisch zugrunde liegt. Und genau in der Kritik dieser Abstraktion sieht sich Horkheimer in einer Allianz mit Husserl. Die »späte Publikation des letzten wirklichen Erkenntnistheoretikers« erklärt den »unkritische[n] Objektivismus« und »die Verabsolutierung der Fachwissenschaft« in einer historischen Rekonstruktion der mathematisierten Physik.108 Daran knüpft auch Herbert Marcuse in seiner Rezension der Krisis an : Husserl zeige, wie »Produkte einer wissenschaftlichen ›Methode‹ zum ›wahren Sein‹ hypostasiert werden« und wie Ra­ tio­nalismus und Empirismus gleichermaßen »von der ›vorwissen­ schaftlichen‹ Praxis, von den Subjekten als ›Personen‹ eines perso­nellen und kulturellen Lebens« abstrahieren, »ohne diese Ab­ strak­tion jemals zurückzunehmen«. Die Philosophie habe es dagegen »mit den von jener Abstraktion zurückgelassenen Subjekten zu tun«, die Phänomenologie wolle »wieder auf die vergessenen Subjekte zurückgehen«.109 In Husserls Worten lautet die Textstelle, die Marcuse hervorhebt : Galilei »abstrahiert von den Subjekten als Personen eines personellen Lebens, von allem in jedem Sinne Geistigen, von allen in der menschlichen Praxis den Dingen zuwachsenden Kultureigenschaften«.110 Wenige Seiten zuvor führt Husserl aus, wie eine über das Ziel hinausschießende Mathematisierung der Natur dazu führt, »daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist«, und vergessen, wozu die mathematische Methode in der Physik eigentlich da ist, nämlich zur Verbesserung des lebensweltlichen Prognosewissens. Der Zweck, dem die neuzeitliche Naturwissenschaft ursprünglich dienen sollte, liegt im außerwissenschaftlichen Leben und ist auf die menschliche Lebenswelt bezogen. Jede naturwissenschaftliche Beobachtung findet in der »Welt der wirklich erfahrenden Anschauung« statt, und in dieser Welt, in der »wir selbst gemäß unserer leiblich personalen Seinsweise« leben, »finden wir nichts von geometrischen Idealitäten, nicht den geometrischen Raum, nicht die mathematische Zeit mit allen ihren Gestalten«. Diese »Trivialität« ist verschüttet »durch jene Unterschiebung einer methodisch idealisierenden Leistung für das, was unmittelbar, als bei aller Idealisierung vorausgesetzte Wirklichkeit gegeben ist«.111 Eine solche Subreption dreht die wahren Verhältnisse um : Die Lebenswelt, aus der wissenschaftliche Objek42 | Kapitel 1 

tivität entspringt und von der sie methodisch abhängig bleibt, wird zur bloß subjektiven Erscheinung einer mathematisch idealisierten ›objektiven‹ Hinterwelt. Die Verselbständigung der Produkte gegenüber den Produktionsbedingungen bleibt nicht folgenlos für den Produzenten : »Ist die anschauliche Welt unseres Lebens bloß subjektiv, so sind die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen, entwertet.«112 Diese Entwertung des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens ist eine Folge des positivistischen Verdikts, streng zwischen Werturteilen und Erfahrungswissen zu unterscheiden, wie Max Weber es 1904 für die Sozialwissenschaften fordert.113 Ohne Webers Namen zu nennen, bezieht sich Husserl auf dessen Definition strenger Wissenschaft durch die Ausschaltung »alle[r] wertenden Stellungnahmen«. Nach diesem Forschungsprogramm ist »Wissenschaft, objektive Wahrheit […] ausschließlich Feststellung dessen, was die Welt, wie die physische so die geistige Welt tatsächlich ist«.114 Beschränkt man das Denken auf Probleme der Formalwissenschaften Mathematik und Logik einerseits sowie der Erfahrungswissenschaften andererseits und setzt erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis mit der Feststellung von Tatsachen gleich, dann fallen alle diejenigen Probleme aus dem Kreis des Denkbaren heraus, die das Faktische auf ein kontrafaktisches Sollen hin überschreiten. Husserl nennt diese Probleme Vernunftprobleme, weil sie sich nicht in der begrifflichen Strukturierung des Gegebenen erschöpfen, sondern über das bloß Gegebene hinaus Fragen nach epistemischer Wahrheit und moralischer Richtigkeit, Freiheit und Verantwortung stellen. Werden die Vernunftprobleme von der kulturell dominierenden epistêmê zur doxa und zu bloß subjektiven Befindlichkeiten relativiert, dann wirkt das wissenschaftliche Selbstverständnis auf das außerwissenschaftliche zurück : »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.«115 Sie verlieren den »Glauben an die ›Vernunft‹«. Verliert aber »der Mensch diesen Glauben, so heißt das nichts anderes als : er verliert den Glauben ›an sich selbst‹, an das ihm eigene wahre Sein, das er nicht immer schon hat«. Der Philosophie fällt angesichts dieser »Krisis des europäischen Menschentums« die Aufgabe zu, die »latente Vernunft zum Selbstverständnis ihrer Möglichkeiten zu bringen«.116  Kulturphänomenologie als kritische Theorie | 43

Die publizistische Gleichzeitigkeit von Husserls letzter Einführung in die Phänomenologie und Horkheimers erster programmatischer Begründung der Kritischen Theorie117 greift Habermas auf, als er 1965 Horkheimers Lehrstuhl in Frankfurt übernimmt. Den eigenen Positivismusstreit mit Albert ohne erfolgreiche Verständigung gerade hinter sich gebracht, entwickelt er seine Theorie der erkenntnisleitenden Interessen. Für die Antrittsvorlesung wählt er den Titel : »Erkenntnis und Interesse«. Mit Blick auf die Krisis urteilt Habermas so ausdrücklich wie unmissverständlich : »Husserl ließ sich damals von eben dem Theoriebegriff leiten, dem Horkheimer einen kritischen entgegenhielt.«118 Er kritisiere zwar den positivistischen Schein, der die Konstitution von Tatsachen verdeckt und »dadurch die Verflechtung der Erkenntnis mit Interessen der Lebenswelt nicht zu Bewußtsein kommen läßt«. Aber weil »die Phänomenologie das zu Bewußtsein bringt, ist sie selber, so scheint es, solchen Interessen enthoben ; der Titel der reinen Theorie, den die Wissenschaften zu unrecht reklamieren, gebührt mithin ihr. An dieses eine Moment, die Entbindung der Erkenntnis von Interesse, knüpft Husserl die Erwartung praktischer Wirksamkeit.«119 Indem Husserl den positivistischen Schein aufheben will, verfällt er selbst dem Schein reiner, das heißt von allen, auch emanzipatorischen Interessen reiner Theorie. Der Positivismus werde aber nicht »durch die Kraft einer erneuerten Theoria gebrochen, sondern allein durch den Nachweis dessen, was er verdeckt : des Zusammenhangs von Erkenntnis und Interesse«.120 Daher ergänzt Habermas die kritische Gesellschaftstheorie um eine kritische Wissenschaftstheorie, die Methoden mit erkenntnisleitenden Interessen korreliert. Er unterscheidet das technische Erkenntnisinteresse an der operativen Kontrolle vergegenständlichter Prozesse vom praktischen Interesse an (Selbst- und Fremd-)Verständigung sowie dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse an Mündigkeit. Habermas gesteht Husserl zwar zu, das technische Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaft rekonstruiert zu haben. Aber er bestreitet, dass Husserl mit der phänomenologischen Theoriearbeit selbst ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse verbindet. Eine interesselose Erkenntnis gibt es nur als Lippenbekenntnis, nicht in der Erkenntnispraxis. In der Wissenschaft gibt es keine unbeteiligten Zuschauer (siehe Kap. 5). Husserl 44 | Kapitel 1 

ist also auf halbem Weg stehen geblieben, als er die wissenschaftliche Theoriebildung in die vor- und außerwissenschaftliche Praxis zurückverfolgt, die eigene philosophische Theorie dagegen von lebensweltlichen Interessen durch epochê entkoppelt hat. Wer Husserls Wiener Vortrag »Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit« vom Mai 1935 kennt, weiß, dass er weiter gegangen ist. Da für Husserl die europäische Krise letztlich eine philosophische Krise ist, die »in einem sich verirrenden Rationalismus«121 wurzelt, geht er zu den Anfängen der Philosophie im antiken Griechenland zurück. Die geschichtsteleologische Betrachtung legt er aber nicht intellektualistisch, sondern volunta­ ristisch an, indem er sich an drei verschiedenen Einstellungen orientiert. Unter einer Einstellung versteht Husserl »einen habituell festen Stil des Willenslebens in damit vorgezeichneten Willensrichtungen oder Interessen«, in dem »das jeweilig bestimmte Leben« verläuft. »In irgendeiner Einstellung lebt die Menschheit (bzw. eine geschlossene Gemeinschaft wie Nation, Stamm usw.) in ihrer historischen Lage immer.«122 Die grundlegende Einstellung ist die ­natürliche Einstellung des praktischen Weltlebens, in der auch historisch die religiös-mythische Einstellung fundiert ist. Von allen praktischen Interessen sieht dagegen die rein theoretische Einstellung ab, die Husserl für eine genuine Erfindung der griechischen Antike hält. Es ist jener »Wechsel der Interessen«123 der sich von der praktischen Feldmesskunst hin zur reinen Geometrie vollzogen hat, die an die Stelle einer realen Messpraxis die »ideale Praxis eines ›reinen Denkens‹ [setzt], das sich ausschließlich im Reiche reiner Limesgestalten hält«.124 Diese Idealisierung vollzieht sich aufgrund einer »Umstellung des praktischen in ein rein theoretisches Interesse« am »wahre[n]«, »objektive[n] Sein der Welt«,125 unabhängig von praktischen Anwendungsmöglichkeiten. Doch mit dieser Gegenüberstellung von Praxis und Theorie hat es nicht sein Bewenden. »Denn es ist noch eine dritte Form der universalen Einstellung möglich […], nämlich die im Übergang von theoretischer zu praktischer Einstellung sich vollziehende Synthesis der beiderseitigen Interessen, derart daß die […] Theoria […] dazu berufen wird […], in einer neuen Weise der Menschheit, der in konkretem Dasein zunächst und immer auch natürlich lebenden, zu dienen. Das geschieht in Form einer neuartigen Praxis, der  Kulturphänomenologie als kritische Theorie | 45

der universalen Kritik alles Lebens und aller Lebensziele, aller aus dem Leben der Menschheit schon erwachsenen Kulturgebilde und Kultursysteme, und damit auch einer Kritik der Menschheit selbst und der sie ausdrücklich und unausdrücklich leitenden Werte«.126 Auf dieses kritische Interesse verpflichtet Husserl auch die Phänomenologie. »Es möchte mir scheinen, daß ich, der vermeintliche Reaktionär, weit radikaler bin und weit mehr revolutionär als die sich heutzutage in Worten so radikal Gebärdenden.«127 Radikal ist die Phänomenologie, weil sie an der Wurzel der Krise ansetzt, und revolutionär, weil sie die Enteignung des arbeitenden Subjekts umkehrt : »Indem die anschauliche Umwelt, dieses bloß Subjektive, in der wissenschaftlichen Thematik vergessen wurde, ist auch das arbeitende Subjekt selbst vergessen, und der Wissenschaftler wird nicht zum Thema. (Somit steht, von diesem Gesichtspunkt aus, die Rationalität der exakten Wissenschaften in einer Reihe mit der Rationalität der ägyptischen Pyramiden.)«128 Wer diese Bemerkung zu schnell als bloße Wissenschaftstheorie abtut, verkennt das weitergehende kritische Anliegen, hinter den Erzeugnissen die Subjekte zur Geltung zu bringen, die sie hervorgebracht haben. Mögen diese Erzeugnisse kulturelle Traditionen, wissenschaftliche Theorien oder die ägyptischen Pyramiden sein, als deren Erbauer allenfalls noch die Pharaonen bekannt sind, nicht aber die Heerscharen von Arbeitern und Sklaven, die sie errichteten. In jeder Tatsache steckt eine Tat, und diese darf nicht zugunsten bloßer Funktionalität und vermeintlicher Objektivität den handelnden Personen streitig gemacht werden. Husserls Idee einer universal verantwortlichen Wissenschaft129 hat in diesem Sinn etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Wissenschaftsphilosophie als Wissenschaftskritik

Die Kulturphänomenologie besitzt als kritische Wissenschaftsphilosophie ein Gespür für den dialektischen Umschlag der aus der griechischen Aufklärung hervorgegangenen Rationalität in die Irrationalitäten von Positivismus und Naturalismus. Es gibt auch einen geistigen Fetischcharakter der Ware, der sich ganz praktisch auf die Lebensverhältnisse der »Tatsachenmenschen« auswirkt : 46 | Kapitel 1 

Allein dasjenige, was sich zählen, messen und berechnen lässt, gilt als rational, weil kontrollierbar. Fragen nach dem, was vernünftig ist, werden dem Meinen überlassen, das erst in der demoskopischen Quantifizierung wieder Objektivität und politische Wirksamkeit erlangt. Phänomenologische Kritik ist demgegenüber als bestimmte Negation positivistischer Ontologien zu begreifen, um die in ihnen enthaltene Unvernunft aufzudecken. Phänomenologische Theoriebildung zielt auf die Praxis und erfolgt in kritischer Einstellung mit einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse. Als kritische Wissenschaftsphilosophie rekonstruiert die Phänomenologie kultureller Praxis den Sinn reiner Theorie aus einer vorwissenschaftlichen Praxis und außerwissenschaftlichen Bedürfnissen. In der kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule blieben die Naturwissenschaften unterbelichtet. Wenn Horkheimer den Chiasmus formuliert : »In der bürgerlichen Wirtschaftsweise ist die Aktivität der Gesellschaft blind und konkret, die des Individuums abstrakt und bewusst«130  – dann muss man jedoch die ›bürgerliche Wirtschaftsweise‹ nur durch ›wissenschaftliche Erkenntnis‹ ersetzen, um eine Brücke zur kritischen Wissenschaftstheorie zu schlagen. Bewusst ist dem Individuum nur die eigene Arbeit, nicht dagegen die Einwirkung eines jeweils historisch und gesellschaftlich sedimentierten Denk- und Willensstils. Die hervorgebrachten Elaborate verlieren den Produktcharakter und werden so zu kulturellen, gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Tatsachen. Genau diesen Prozess der Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache hat der polnische Arzt, Immunologe und Medizinhistoriker Ludwik Fleck in kritischer Absicht nur wenige Monate nach Husserls Wiener Vortrag rekonstruiert (siehe Kap. 9). In einem späten Manuskript über »Crisis in Science. Towards a Free and More Human Science«, das kurz vor seinem Tod entstanden ist, nennt Fleck seinen Ansatz »Drei-Komponenten-Modell« : »Zwischen dem Subjekt und dem Objekt gibt es ein Drittes, die Gemeinschaft. Es ist kreativ wie das Subjekt, widerspenstig wie das Objekt und gefährlich wie eine Elementargewalt.«131 Diese Gemeinschaft nennt Fleck Denkkollektiv, die einen spezifischen Denkstil kultiviert. Gefahr droht von der Erstarrung der denkkollektiven Koproduktion zur scheinobjektiven Widerspenstigkeit gegenüber  Kulturphänomenologie als kritische Theorie | 47

subjektiver Kreativität. Der Missbrauch solcherart geschaffener ›objektiver Wahrheit‹ zu Propagandazwecken ist nur ein Beispiel für die Krise, in die eine für ihre eigene Genese blinde Wissenschaft gerät. Fleck hingegen will dazu beitragen, dass sich die »wissenschaftliche Wahrheit […] von etwas Starrem und Stillstehendem in eine dynamische, entwickelnde, kreative menschliche Wahrheit wandeln«132 kann. In der »freien und menschlicheren Naturwissenschaft« ist die Aktivität des Denkkollektivs konkret und bewusst. Ein Mittel, das die Aktivität des Denkkollektivs konkret und bewusst macht, lässt sich dem von der Konstruktiven Wissenschaftstheorie formulierten Prinzip der methodischen Ordnung entnehmen. Dieser Grundsatz fordert, »in wissenschaftlichen Handlungszusammenhängen – in Analogie etwa zur pragmatisch erforderlichen Reihenfolge von Schritten beim Bau eines Hauses – nur von solchen Mitteln Gebrauch zu machen, die bereits kon­struktiv zur Verfügung stehen, und nur solche Resultate zu verwenden, die ihrerseits konstruktiv begründet wurden«.133 Nur dann, »wenn die Rekon­ struktion wissenschaftlicher Handlungen sich beschreiben läßt als Folge methodisch aufeinander aufbauender Schritte […], kann von begründeten wissenschaftlichen Aussagen gesprochen werden«.134 Gegen eine Wissenschaftstheorie, die sich als Magd der Wissenschaften versteht und damit begnügt, theoretische Satzsysteme auf ihre formale Kohärenz zu überprüfen, thematisiert die Konstruktive Wissenschaftstheorie »die Handlungen und Verfahrensweisen, die die Formulierung erst ermöglichen«. Im Rekurs auf Janich, Kambartel und Mittelstraß unterscheidet Weingarten zwischen deskriptiver und normativer Wissenschaftstheorie und spricht sich klar für Letztere aus : »Deskriptive Wissenschaftstheorie kann sich also gegenüber vorfindlichen Wissenschaften ausschließlich affirmativ, nicht aber kritisch verhalten.«135 Wissenschaftstheorie begreifen die vier Autoren ausdrücklich als Wissenschaftskritik. In diesem Punkt trifft sich die hier vertretene Kulturphänomenologie erneut mit dem Methodischen Kulturalismus. Wissenschaftliche Aussagen büßen ihren Anspruch auf objektive Geltung ein, wenn sie sich nicht zirkelfrei auf eine Reihe von Handlungen zurückführen lassen, die schrittweise aufeinander und am Ende auf lebensweltlichen Handlungs- und Herstellungszusammenhängen aufbauen. Valérys Wort von der Wissenschaft als Gesamtheit 48 | Kapitel 1 

der Rezepte und Verfahren, die immer gelingen, weist in die gleiche Richtung. Ebenso wie Husserls Bemühung – wie überzeugend sie im Detail auch sein mag –, die reine Geometrie aus der empirischen Feldmesskunst abzuleiten. Fleck wiederum hat eingehend die Zirkulation wissenschaftlicher Tatsachen vom Zeitschriftenaufsatz über Lehrbuch bis hin zur Popularisierung für Laien studiert und die Zunahme des Sachcharakters auf Kosten des Tataspekts nachgewiesen.136 Die in diesem Buch vorgebrachte Wissenschaftskritik bezieht sich daher auch nicht so sehr auf das, was der Forscher im Labor tut, sondern vielmehr darauf, wie darüber gesprochen wird. Oft genug ist es jedoch auch der Forscher selbst, der so spricht.

 Kulturphänomenologie als kritische Theorie | 49

K APITEL 2 Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück »Wie das Ohr dazu geschaffen ist, den Schall aufzunehmen, und das Auge, die Farbe wahrzunehmen, so ist der Geist geformt, nicht alles Mögliche, sondern Quantitäten zu verstehen. Er begreift ein gegebenes Ding um so klarer, in einem quantitativen Verhältnis, je näher es sich auf reine Quantitäten zurückführen läßt ; je weiter aber ein Ding sich von Quantitäten entfernt, desto mehr Dunkelheit und Irrtum wohnen ihm inne.« Johannes Kepler (1571 – 1630)137

Mythos

Nicht Zahlen, wohl aber zählbare Gegenstände und Ereignisse haben eine spezifische Qualität : Tore in einem Fußballspiel (je nach Mannschaftsperspektive), Schritte auf einem Weg (in Abhängigkeit vom Ziel), Kerzen auf einer Geburtstagstorte (zu viele ?), Bienen­ populationen (zu klein ?) und Hochzeitstage (Silber, Gold oder Diamant). Zahlen selbst sind abstrakte Quantitäten, die sich erst durch ein Maß auf konkret Gezähltes beziehen. Wenn Zahlen als solchen eine Qualität zugesprochen wird, erhalten sie einen mythischen Charakter. Dann sprechen wir etwa von unheilvollen Zahlen. In unseren Breiten hat die Zahl 13 einen besonders schlechten Ruf – in einigen Hotels folgt auf das 12. gleich das 14. Stockwerk ; und manche Menschen fürchten sich vor Freitagen, die auf den 13. Tag eines Monats fallen. Unserer Triskaidekaphobie entspricht in ostasiatischen Ländern die Tetraphobie : Das Unbehagen, das die Vier dort auslöst, hängt mit dem Klang des Zahlwortes zusammen, der dem des Wortes für Tod ähnlich ist. Andere Zahlen wie die Drei oder die Sieben gelten in etlichen Kulturen wiederum als Glückszahlen. Selbst Mathematiker sind vor Zahlenfetisch nicht gefeit. So bilden  51

die Eulersche Zahl, also die Basis des natürlichen Logarithmus, die Kreiszahl Pi, die imaginäre Wurzel aus -1, die Null und die Eins in den Augen vieler Mathematiker die »schönste« aller mathematischen Gleichungen : eiπ  + 1 = 0. Die Null, mit der man in Europa erst seit dem 17. Jahrhundert rechnet, definiert sogar ein Zahlentabu, schließlich darf man niemals eine Zahl durch Null teilen, weil sich ansonsten jede Zahl mit einer beliebigen anderen gleichsetzen ließe, folglich das Chaos im wohlgeordneten Zahlenkosmos ausbrechen würde. In der TV-Serie The Big Bang Theory verteidigt der Physiker Sheldon Cooper die These, die Zahl 73 sei die »beste« aller Zahlen und gibt die folgende Begründung : »Die 73 ist die 21. Primzahl, ihre Spiegelzahl, die 37, ist die 12., deren Spiegelzahl, die 21, ist das Produkt der Multiplikation von, haltet euch fest, 7 und 3.«138 Auch wenn andere Mathematiker diese Haltung teilen sollten – rein mathematisch gesehen gibt es keine guten oder schlechten, schönen oder hässlichen Zahlen. Wie die genannten Beispiele zeigen, begegnet uns Zahlenmystik auch außerhalb der Religion, wenn nicht im Herzen der Wissenschaft, so doch im Herzen romantisch veranlagter Wissenschaftler. Diesen eher psychologischen Befund werde ich aber nicht weiterverfolgen. Mir geht es stattdessen um die Frage, ob (und wenn ja, wo) in unserer Gegenwartskultur, nicht nur bei einzelnen Individuen, ein Mythos der Zahl wirksam ist. Hinsichtlich des Mythosbegriffs orientiere ich mich an der Kulturphilosophie Cassirers, der den zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen (1925) dem »mythischen Denken« gewidmet hat. Obwohl mythisches Denken charakteristischerweise in sogenannten archaischen Kulturen angetroffen wird, ist es, wie wir gesehen haben, keineswegs auf eine vorwissenschaftliche oder vormoderne Kulturform beschränkt. Cassirers »Phänomenologie«139 beschränkt den Mythos nicht auf Erzählungen, sondern beschreibt ihn als Denk-, Anschauungs- und Lebensform. Dem mythischen Bewusstsein korrespondiert eine mythische Bildwelt, die das Wahrgenommene ebenso gliedert wie die kultische Praxis. Für unsere Zwecke können wir vier Kennzeichen der mythischen Zahlauffassung unterscheiden : Die mythische Phantasie strukturiert die Welt nach dem »Grundgegensatz« von Heiligem und Profanem. Zahlen heiligen das Gezählte. Was an heiligen Zahlen teilhat, »das führt für das mythisch52 | Kapitel 2 

religiöse Bewußtsein schon kein bloßes irrelevantes Dasein mehr, sondern hat eben damit eine ganz neue Bedeutung gewonnen«.140 Das Heilige bestimmt Cassirer mit Rudolf Otto als mysterium tremendum und fascinans : Es erschüttert ebenso sehr, wie es in seinen Bann zieht. Die mythische Zahl ist überdies »niemals bloße Ordnungszahl […], sondern jede Zahl hat ihr eigenes Wesen, ihre eigene individuelle Natur und Kraft«, ja, eine »individuelle Physiognomie«141. Das mythische Bewusstsein hypostasiert die mit einem Gefühlswert verbundenen heiligen Zahlen zu selbstständigen Wesenheiten (Einheit, Zweiheit, Trinität usw.). »Für das Denken des Mythos findet hier nicht nur eine mittelbare Übertragung statt, sondern es erblickt mit anschaulicher Evidenz das eine im andern – es ergreift in jeder partikularen Vierheit die universelle Form der kosmischen Vierheit.«142 Die Teilhabe des Gezählten an der Zahl ist kein Verhältnis des Bezeichnens, sondern eines der Identität. Das mythische Denken identifiziert das Individuelle mit dem Allgemeinen. Das Allgemeine der Zahl vermag der Geist im Mythos aber »nicht als seine eigene Schöpfung zu begreifen und zu durchschauen, sondern es steht ihm als eine fremde, als eine dämonische Macht gegenüber«.143 Indem das dämonisierende Denken nicht klar zwischen bloß Vorgestelltem und Wirklichem, zwischen Subjektivem und Objektivem unterscheidet, fehlt ihm jegliche »Reflexionsdistanz«144 . Die »Magie der Zahl«145 verdankt sich also, so können wir zusammenfassen, der Heiligung, Hypostasierung, Identifizierung und Dämonisierung. Die Religion unterscheidet sich vom Mythos nun, auch wenn der Übergang historisch fließend ist, durch die Zunahme an Reflexionsdistanz zur mythischen Bildwelt. »Der reflektierte Umgang mit den Bildern ist das eigentliche Kriterium der Religion.«146 Namen und Bilder gewinnen mit fortschreitender Entwicklung den Zeichencharakter als (bloße) Namen und Bilder. An die Stelle der mythisch-magischen Identifikation tritt das Denken in Analogien. Damit einher geht die Vergeistigung und Distanzierung des Heiligen, bis hin zum verborgenen Gott, der gar nicht mehr sinnlich wahrnehmbar in Erscheinung tritt. Cassirer rekonstruiert die jüdisch-christliche Religion seit der Zeit der Propheten zudem als einen Prozess der Personalisierung und der Ethisierung. Der anbetende Mensch wie der angebetete Gott werden zu Individuen und  Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück | 53

moralisch verantwortlichen Personen. Trotz dieser Unterschiede bilden für Cassirer Mythos und Religion letztlich ein Kontinuum, an dessen einem Ende die völlig unreflektierte Bildwelt animistischer Allbeseelungsphantasie und an dessen anderem Ende die negative Theologie eines Nikolaus von Kues steht. Tatsächlich, und das heißt zumeist kultisch gelebte Religion wird jedoch niemals frei von mythischen Elementen sein. Die genannten Eigenschaften des mythischen Zahlverständnisses leiten die weiteren Überlegungen. Zunächst werde ich den Übergang vom Mythos zum Logos in der antiken Naturphilosophie am Beispiel von Platons Timaios skizzieren. Wie wir sehen werden, war dieser Übergang erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts wirklich vollzogen. Die neuzeitliche Naturwissenschaft verbannt die Qualitäten aus dem Reich der Zahlen und geometrischen Figuren. Auf dem Höhepunkt dieser Reinigung verpflichtet Kant jede Naturlehre, die sich Wissenschaft nennen will, auf Mathematik. Die Rationalisierung der Wissenschaft durch Mathematik unterliegt jedoch einer Dialektik, die den Rationalitätsbegriff selbst affiziert. Was zunächst eine Methode des Messens und Berechnens ist, wird zu einer Ontologie : Aus der Handlungsanweisung, Gegenstände der Physik messbar und berechenbar zu machen, wird die Seinslehre, dass nur dasjenige zur objektiven Wirklichkeit gehört, was sich in Zahlen fassen lässt. Alles andere fällt in den Bereich bloß subjektiven Meinens und disqualifiziert sich für rationale Erwägungen. Die Naturalisierung der Mathematik generiert einen neuen, einen modernen Zahlenmythos, der über die Naturwissenschaften hinaus auch die Sozialwissenschaften und unsere alltägliche Lebenswirklichkeit beherrscht. Dieser Spur werde ich am Leitfaden der Finanzökonomie folgen. Damit schließt sich der Kreis vom Mythos zum Logos und zurück. Vom Mythos zum Logos

»Heis, dyo, treis. Eins, zwei, drei.« Mit dem Abzählen der Anwesenden durch Sokrates beginnt Platons Spätdialog Timaios. Gemeinsam mit dem Pythagoreer Timaios von Lokroi, dem Feldherrn Hermokrates aus Syrakus sowie Platons Urgroßonkel Kritias 54 | Kapitel 2 

nimmt Sokrates den Gesprächsfaden dort wieder auf, wo sie ihn tags zuvor liegen gelassen haben. Über jene Begegnung berichtet die Politeia, Thema war die Gerechtigkeit beim Einzelnen und im idealen Gemeinwesen. Die ethisch-politische Ausrichtung prägt auch die Rede des Timaios, aus der das gleichnamige Werk hauptsächlich besteht. Die Abhandlung über das All bis zur Entstehung des Menschen ist zwar als solche ein Beitrag zur Naturphilosophie ; die Kosmologie soll aber zeigen, dass das Ganze, dessen Teil wir sind, gut geordnet ist. Die Einsicht in die vernünftige Einrichtung des Kosmos bringt die latente Vernunft in uns zum Selbstverständnis ihrer Möglichkeiten. Indem wir diesen inneren daimôn bilden, befreien wir uns von den Dämonen einer mythischen Welt unberechenbarer Mächte. Das Göttliche ist das Vernünftige, und die Bewegungen des Göttlichen am Himmel (Gestirne) entsprechen den Bewegungen des Göttlichen in uns (Denken). Daher versetzt die kundige Beobachtung der himmlischen Bewegungen die Vernunftseele ebenfalls in die rechte Bewegung. Erst so gelingt wahrhaft menschliches Leben. Die ethische Bedeutung der von Timaios entfalteten Naturphilosophie besteht also darin, den Kosmos als einen »wahrnehmbaren Gott« vorzustellen : »ein Abbild des mit dem Denken Erfassbaren, als größter, bester, schönster und vollendet­ ster einer Himmel hier, der einzigartig ist«.147 Dass wir mit Sokrates vier Gesprächspartner zählen (eine namentlich nicht genannte, fünfte Person fehlt), hat eine tiefere Bedeutung. Die Vierzahl, griechisch Tetraktys, spielt bei den Pythagoreern, aus deren Schule Timaios stammt, eine herausgehobene Rolle : Die Zahlen 1, 2, 3 und 4 ergeben in der Summe 10, Grundlage des Dezimalsystems und heilige Zahl. Der Demiurg konstruiert vier Elemente (Erde, Wasser, Luft und Feuer) aus vier regelmäßigen Körpern (Würfel, Ikosaeder, Oktaeder, Tetraeder). Für den verbleibenden fünften Platonischen Körper, das aus 12 Fünfecken bestehende Dodekaeder, hat Timaios keine rechte Verwendung. Aristoteles ordnet ihm das fünfte Element, die quinta essentia zu, die bis ins 19. Jahrhundert mit dem (letztlich nicht nachweisbaren) Äther identifiziert wird. Auch die Anordnung der sieben in Bezug auf die Fixsterne (die nur in der Gesamtheit, nicht aber untereinander die Position ändern) beweglichen Himmelskörper Mond, Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn folgt der Tetraktys : Aus  Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück | 55

den Einer-, Zweier- und Dreierpotenzen von Zwei und Drei ergeben sich die Zahlen 2 (21), 3 (31), 4 (22), 8 (23), 9 (32) und 27 (33 sowie 1+2+3+4+8+9). Die Eins steht für den Abstand zwischen Mond und Erde, es folgen gemäß den rein rechnerisch ermittelten Vielfachen : Sonne, Venus, Merkur, Mars, Jupiter und Saturn. Die Proportionen zwischen den Zweierpotenzen einerseits und den Dreierpotenzen andererseits liefern zudem musikalische Harmonien : zwischen 1 und 2, 2 und 4, 4 und 8 jeweils eine Oktave, zwischen 1 und 3, 3 und 9 sowie 9 und 27 in der Summe eine Oktave und eine große Sexte. Der Kosmos ist daher nicht allein nach mathematischen Prin­zipien, sondern auch harmonisch geordnet. Man sieht deutlich, wie stark sich die Platonisch-Pythagoreische Astronomie von der modernen unterscheidet. Position und Bewegung der sieben ›Wandelsterne‹ werden nicht durch Beobachtung ermittelt, sondern durch mathematische Spekulation zugeteilt. Die Mathematik, die hier streng nach ganzzahligen und letztlich in der Vierheit gründenden Prinzipien operiert, dient dem Nachweis einer tieferen Wahrheit, die das leibliche Auge nicht erkennen kann : Das All ist wohlgeordnet und rational gegliedert. Der Platonische Rationalismus verträgt sich aber hervorragend mit Pythagoreischer Zahlenmystik. Zahlen und Zahlverhältnisse besitzen Qualitäten, die auf eine Teleologie verweisen : Der Kosmos ist für seine Erforschung eingerichtet, der Grund seiner wissenschaftlichen Erkennbarkeit liegt in ihm selbst. Mathematik eignet sich derartig gut, um Physik zu treiben, weil der Weltenbauer selbst Mathematiker ist. Die Platonische Himmelskunde fällt in der Geschichte der Astronomie sozusagen auf Januar, da sie, wie der Kopf des Janus, mit einem Gesicht in die Zukunft einer Wissenschaft blickt, während sie mit dem anderen dem Mythos zugewandt bleibt. Die mythischen Elemente begleiten die Astronomie bis in die frühe Neuzeit. Der Timaios verliert seinen Status als Referenzwerk für die Physik erst mit Kepler. Noch Kopernikus bekennt sich, wie Imre Lakatos darlegt, zum Pythagoreisch-Platonischen Forschungsprogramm, dessen Grundsatz lautet : »Da die Himmelskörper vollkommen sind, sind alle astronomischen Erscheinungen […] durch eine Kombination von möglichst wenigen gleichförmigen Kreisbewegungen (oder gleichförmigen Sphärendrehungen um eine Achse)«148 zu beschreiben. Um dieses Programm zu retten, macht 56 | Kapitel 2 

Kopernikus aus der Erde einen Planeten. Das heliozentrische System resultiert aus dem Versuch, gegenüber Ptolemäus und seinen Nachfolgern die reinere Platonische Theorie wiederherzustellen. Eher »zufällig« erzielt Kopernikus dadurch »eine bessere Übereinstimmung zwischen Theorie und Beobachtung«149. Auch Kepler zeigt sich zunächst noch »von den Grundgedanken des ›Timäos‹ ganz erfüllt«150 und ist bemüht, die Abstände der Bahnen der seinerzeit bekannten Planeten mit Hilfe der Platonischen Körper zu bestimmen. Doch das Modell stimmt nicht mit den Beobachtungen überein. Kepler stellt fest, dass die tatsächliche Position des Mars um acht Bogenminuten (etwa ein Viertel des Vollmonddurchmessers) von der kopernikanischen Kreisbahn abweicht. Mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden Daten berechnet Kepler die elliptische Umlaufbahn des Mars und veröffentlicht seine Entdeckung 1609 in der Schrift De motibus stellae Martis. Mit diesem Schritt ist die Anschauung der Himmelsbewegungen »aus der Bildwelt der mythisch-religiösen Phantasie in die exakte Begriffswelt der wissenschaftlichen Erkenntnis übergetreten«.151 Kepler vollendet den Übergang vom Mythos zum Logos mit den Worten : »Von den Fesseln eines Rechnungsganges liegt nun umstrickt der Gott [Mars]«, »so haben diese 8’ [Bogenminuten] allein den Weg der Erneuerung der gesamten Himmelswissenschaft gebahnt.«152 Logos

Plastischer kann man den Sieg des mathematischen Logos über die mythische Bildwelt kaum erklären : der antike Gott des Krieges, von Zahlen gefesselt. Mars ist nicht mehr ein göttliches Wesen, sondern nur noch ein Gesteinsbrocken, der seine elliptische Bahn um die Sonne zieht. Die Zahlen, die den Rechnungsgang durchlaufen, sind die an Tycho Brahes Mauerquadranten abgelesenen Messdaten, Winkelab­messungen eines Viertelkreises, auf den die Position eines Sterns verlängert wird. Eine Ziffer ist hier ebenso viel wert wie die andere, keine Zahl erfährt eine Vorzugsbehandlung durch Proportionen und Harmonien. Der Satz des Pythagoras »Alles ist Zahl« erhält eine völlig neue Bedeutung – aus dem wohlgeordneten, schönen Kosmos mit verschieden beschaffenen Sphären  Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück | 57

wird ein Universum, in dem überall dieselben, qualitativ neutralen Naturgesetze gelten. Wenn Galilei 1623 festhält, das Buch der Natur sei »in mathematischer Sprache geschrieben, und die Schriftzeichen [seien] Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren«153 , dann legt er damit die Grundlage für seine resolutiv-kompositive (analytisch-synthetische) Methode, um physische Bewegungen mathematisch fassbar zu machen. Er zerlegt den Wurf einer Kugel in horizontale und vertikale Komponenten, um aus ihnen die Wurfbahn als eine Parabel wieder zusammenzusetzen. Auf diese Weise entdeckt Galilei den freien Fall als eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung, die auch in einem Wurf als vertikale Komponente enthalten ist. Fast zur gleichen Zeit von Galileis Experimenten entwickelt Descartes die analytische Geometrie, mit der jede Form mittels Eintragung in ein Koordinatensystem durch Zahlverhältnisse dargestellt werden kann. Galileis Schrift tauscht ihr Alphabet von geometrischen Figuren gegen das von Zahlen, Buchstaben und Operatorzeichen. Die Wurfparabel lässt sich in Paare von x- und y-Koordinaten übersetzen und schließlich durch eine algebraische Gleichung wiedererzeugen. Den anhand analytischer Geometrie möglich gewordenen Rechnungsgängen steht einstweilen alles im Wege, was sich nicht in seiner räumlich-zeitlichen Ausdehnung quantitativ beschreiben lässt. Zu dem, was der mathematischen Fesselung Widerstand leistet, gehören Wahrnehmungsqualitäten wie Farben und Töne. Zwar sind Farben räumlich und Töne zeitlich ausgedehnt, aber was Blau von Grün oder C-Dur von Fis-Moll unterscheidet, ist nicht selbst ein Unterschied räumlicher oder zeitlicher Extension. Hier bedient sich die neuzeitliche Wissenschaft eines Tricks, indem sie zwischen primären und sekundären Qualitäten differenziert. In Trennung und Reihung drückt sich bereits eine Bevorzugung des Zählbaren aus : Primär sind nämlich Ausdehnung, Gestalt, Anzahl und Bewegung oder Ruhe, sekundär dagegen Farbe, Ton, Geruch usw. Primär heißt das, was im Objekt selbst liegt, und das ist mathematisch greifbar, sekundär wird dasjenige genannt, was von der Beteiligung eines Wahrnehmungssubjekts abhängt. Diejenigen Objekteigenschaften, die den subjektiven Eindruck von Farbe oder Tonhöhe evozieren, sind jedoch ihrerseits als nicht unmittelbar wahrnehmbare Bewegungen und Gestalten der Messung und Be58 | Kapitel 2 

rechnung zugänglich. Der Trick, den schon Galilei anwendet und der von John Locke philosophisch kanonisiert wird, besteht also darin, den unmittelbaren Sinneseindruck zu psychologisieren und damit physikalisch zu marginalisieren, durch eine kausalmechanische Hypothese aber indirekt zu mathematisieren und damit wieder in das Feld der Physik zu repatriieren. Die sekundären Qualitäten sind Wirkungen primärer Qualitäten, z. B. der Wellenlänge von Licht (Farbe) bzw. Schall (Ton) oder der Bewegung von Molekülen (Wärme). Qualitäten werden zu Eigenschaften zweiten Ranges. Der Vorrang gebührt dem Quantifizierbaren. Der Erfolg der Mathematisierungsstrategie neuzeitlicher Physik ist unbestreitbar. Er lässt sich erstens an der innerwissenschaftlichen Ergebnissicherung ablesen, die (zumindest innerhalb eines herrschenden Paradigmas) einen tatsächlichen Erkenntnisfortschritt möglich macht. Es waren die zuverlässigen und exakten Messungen Tycho Brahes, die Kepler die Berechnung der Marsbahn erlaubten. Newton wiederum gelang es, Keplers Bewegungsgleichung aus dem Gravitationsgesetz abzuleiten usw. Zweitens schlägt sich der Erfolg auch im philosophischen Denken über die wissenschaftliche Methode nieder. In seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft schreibt Kant 1786 : »Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.«154 Die noch nicht mathematisierte Chemie gilt Kant daher als bloße »Experimentallehre«, die Biologie als unwissenschaftliche Naturbeschreibung. Drittens zeigt sich die Effizienz der Mathematisierung nicht zuletzt in technischen Erfindungen, die uns in unserem alltäglichen Leben begleiten. Der in unsere Navigationssysteme integrierte Term aus der Allgemeinen Relativitätstheorie, ohne den der Standort nicht annähernd so genau zu bestimmen wäre, ist nur ein Beispiel unter vielen. Vom Logos zum Mythos

Es gibt noch ein weiteres Indiz für den durchschlagenden Erfolg der mathematischen Naturwissenschaft : die weit verbreitete Überzeugung, Farbe sei eigentlich elektromagnetische Strahlung einer  Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück | 59

bestimmten Wellenlänge oder bei dem, was wir als Musik hören, handelte es sich in Wirklichkeit um Dichteschwankungen in der Luft. Wer so spricht, hat aus der methodischen Zurichtung eines Phänomens zu Zwecken physikalischer Beschreibung eine Ontologie gemacht. Eines ist es, zu sagen : »Behandle Farbe so, als ob sie eine Schwingung spezifischer Oszillation sei«, und etwas anderes, zu erklären : »Farbe ist eine Schwingung…«. Das erste ist eine Handlungsanweisung, das zweite eine Behauptung, eine falsche dazu, was leicht zu zeigen ist : Ein Blinder kann zwar den physikalischen Begriff der elektromagnetischen Oszillation verstehen, nicht aber den qualitativen Unterschied zwischen Rot und Blau, den derjenige kennen muss, der die entsprechenden Wellenlängen spektroskopisch misst. Wenn nun gesicherte Erkenntnis mit Wissenschaft zusammenfällt, wissenschaftlich erkennbar aber nur noch das Berechenbare ist, dann fällt alles Nichtberechenbare aus dem Bereich des sicher Erkennbaren heraus. Schließlich wird das im Medium der Zahl Beherrschbare mit dem Sein überhaupt gleichgesetzt : Was eine Tatsache war, ist oder erst noch sein wird, sagt die mathematisierte Wissenschaft. Dieser Positivismus affiziert in einer von den Wissenschaften so stark geprägten Kultur wie der unseren auch das Selbstverständnis der Nichtwissenschaftler. Die Mathematisierung der Natur schlägt zuerst in eine Naturalisierung der Mathematik um, und am Ende wird auch aus dem Mathematik allererst hervorbringenden Menschen ein Stück zahlenmäßig beherrschbare Natur. Diese Dialektik haben Horkheimer und Adorno eingehend analysiert. Ihre Zeitdiagnose fällt 1944 niederschmetternd aus : Die »vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«.155 Aufklärung schlägt auf ihrem Höhepunkt in den Mythos zurück. »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.«156 Und doch führt gerade ihr erfolgreichstes Mittel zu neuen Formen des Furchterregenden und der Verknechtung. Die Zahl »wurde zum Kanon der Aufklärung«. »Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent.«157 Mit Zahlen lassen sich Äquivalenzklassen bilden : die Klasse aller Waren im Wert von 100 Euro, aller Personen mit einem Haushaltseinkommen unter dem Median oder aller Men60 | Kapitel 2 

schen mit einem BMI über 30. Ein neuer Mythos der Zahl liegt vor, wenn sich Denken nur noch als Verrechnen betätigt und wenn Äquivalenz hypostasiert wird. Das mythische Denken identifiziert das Individuelle mit dem Allgemeinen. Das Besondere, Inkomparable am Einzelnen wird bedeutungslos. In ihrer schaurigsten Gestalt begegnet diese numerische Identifikation auf den tätowierten Unterarmen der Auschwitz-Häftlinge : die radikalste Form der totalen Verrechnung, der reinen Zahlidentität. Das Ziel der Aufklärung, Freiheit von Furcht und Zwang, ist eine geschichtliche Utopie, die einen qualitativ neuen, noch nie da gewesenen Zustand propagiert. Die mathematische Formel dagegen bleibt Bestehendem verhaftet, gerade dort, wo sie Zukünftiges vorhersagt. »In der Prägnanz des mythischen Bildes wie in der Klarheit der wissenschaftlichen Formel wird die Ewigkeit des Tatsächlichen bestätigt«158 . Wie sich physische Körper gemäß dem Gravitationsgesetz heute verhalten, so werden sie es auch in beliebiger Zukunft tun. Der Mythos der Zahl besteht daher in einer antiutopischen Affirmation des Bestehenden. Formalisierung und Quantifizierung wirken enthistorisierend und sabotieren genau dann, wenn sie selbst zum Mantra des fortschreitenden Denkens werden, den ursprünglichen Zweck der Aufklärung. Roland Barthes hat darin das »eigentliche Prinzip des Mythos«159 erkannt : »er verwandelt Geschichte in Natur«.160 Etwas, das von uns abhängt (Geschichte), wird zu etwas von uns Unabhängigem und Unabänderlichem (Natur), dem wir schicksalhaft unterworfen sind. Neben dem Hypostasieren von Äquivalenz und dem Identifizieren des Individuellen mit dem Allgemeinen haben wir mit der Enthistorisierung des Geschichtlichen ein drittes Element des neuen mythischen Denkens gefunden : die Dämonisierung eines menschlich Hervorgebrachten zu einer fremden Macht. Auf das Moment des Numinosen, das Schrecken und Faszination ineinander vereint, werde ich gleich zurückkommen. Zuvor möchte ich die Reflexionsfeindlichkeit des Zahlenmythos noch aus einer anderen Perspektive betrachten. Die Naturalisierung des Geschichtlichen kann man auch als ein Kennzeichen moderner Ambiguitätsintoleranz ansehen. Identifizierendes Denken ist disambiguierendes Denken : Es macht aus Mehrdeutigkeit vermeintliche Eindeutigkeit. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat in seinem Essay Die Vereindeutigung  Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück | 61

der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt eindrücklich das Schwinden der Toleranz gegenüber Ambiguitäten nachgezeichnet : »Als Erstes wird alles, was nicht eindeutig erscheint, alles Ambiguitätsgesättigte, alles, dessen Grenzen schwer zu umreißen sind, alles, was sich nicht in Zahlen umsetzen lässt, abgewertet. Ambiges scheint weniger wichtig zu sein. Dagegen erfährt alles, was klare, eindeutige Wahrheiten oder wenigstens exakte Zahlen hervorbringt oder hervorzubringen scheint, eine Steigerung des Ansehens. Da sich damit aber weniger gut gesellschaftlicher Zusammenhalt stiften lässt, übernimmt eine andere Instanz die Macht, nämlich der Markt, der über die magische Fähigkeit verfügt, allem und jedem einen exakten Wert bis auf viele Stellen hinter dem Komma zuzuordnen. Vielleicht lässt diese Entambigui­ sierungsfähigkeit verbunden mit der Furcht, sich auf ambigere Lebensleitbilder einzustellen, vielen den radikalen Marktkapitalismus, trotz all seiner Zumutungen, als alternativlos erscheinen.«161 Die »schwindende Ambiguitätstoleranz in durchbürokrati­sier­ten, hochtechnisierten und vor allem kapitalistischen Ge­sell­schaften«162 geht auffälligerweise mit einem Rückzug der traditionellen Religio­ nen einher. Bedenken wir einerseits, dass die Religion eine Reflexionsdistanz zu mythischen Bildern einnimmt, und andererseits, dass der reflektierte Umgang mit dem Bild als Bild eine Form ist, Ambiguität auszuhalten und nicht aufzulösen, leuchtet die Gleichzeitigkeit jener beiden Prozesse ein : das Wiedererstarken mythischen Zahlenkultes und ein Zurückgehen der großen Reli­gionen. Weil der dem Zahlenfetisch verfallene Mensch mit Opakheit schlecht umgehen kann, heiligt er Transparenz ; weil er ein ambiges Sowohl-als-auch nicht erträgt, sucht er die Exaktheit des binären Entweder-oder ; und weil er nicht in eine wirklich offene Zukunft, die Überraschungen bereithält, hineinzuleben vermag, muss er sie vorausberechnen. Mythos

In wohl keinem Bereich unseres alltäglichen Lebens entfaltet mythisches Zahlendenken eine so existentielle Wirksamkeit wie in der Ökonomie. Damit ist nicht die triviale Tatsache gemeint, dass Zah62 | Kapitel 2 

len ein effektives Instrument sind, um Güter, Dienstleistungen und Währungen konvertibel zu machen. Schon früh haben Menschen Geld für den Tauschhandel erfunden. Es werden nicht Waren gegen Waren, sondern Waren gegen Geld und Geld wieder gegen Waren getauscht. Dieses einfache, aus Marx’ Mehrwerttheorie bekannte Modell (W-G-W) ändert sich im kapitalistischen Wirtschaftssystem, in dem Investitionen in Produktionsmittel und Lohnarbeit für den Unternehmer einen Mehrwert generieren. Er tauscht das investierte Geld gegen Maschinen und Arbeitskraft (Lohn) und erzielt, wenn der Verkaufspreis des Produkts über den Herstellungskosten liegt, einen Profit (G-W-G’). Im Finanzkapitalismus ist Geld selbst die Ware, nicht Güter oder Dienstleistungen. Es würde also naheliegen, das Schema G-G’-G’’-… für die Logik eines Tauschgeschäfts anzusetzen, in dem Geld investiert wird, um zu einem späteren Zeitpunkt mehr Geld zu erhalten, das reinvestiert werden kann usw. Jeder Fondssparplan ist so konstruiert. Und doch fehlt eine wesentliche Variable. Finanzprodukte quantifizieren Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung von Märkten. Noch vergleichsweise einfach, weil konkret, ist die Aktie. Der Aktionär erwirbt Anteile an Unternehmen, für deren Produkte er genügend Abnehmer erwartet, so dass sich seine Investition durch Dividenden oder beim Verkauf der Aktien rentiert. Die Aktie ist, vereinfacht ausgedrückt, eine Wette auf zukünftige Produktivität. Komplizierter dagegen sind Finanzderivate, bei denen Wetten auf zukünftige Preise abgeschlossen werden : Der Preis ist hier die Ware. Diese Preise können den zukünftigen Wert von Gütern, Devisen oder von anderen Finanzprodukten beziffern. Wetten auf die Zukunft basieren auf Informationen, die naturgemäß in der Gegenwart verfügbar sein müssen. Neben Geld investieren Anleger also grundsätzlich Informationen, so dass das Schema des Finanzkapitalismus I-G-G’ lauten müsste. Das mythische Denken kommt genau dort ins Spiel, wo der Glaube besteht, die zukünftige Zukunft als gegenwärtige Zukunft einpreisen und damit in der Gegenwart beherrschen zu können. Der Finanzkapitalismus beruht auf dem irrationalen Glauben (hothand fallacy), dass sich die Zukunft gleichförmig mit der Gegenwart verhält : Es wird immer so weitergehen wie bis jetzt. Die sogenannte Subprime-Krise von 2007 macht das deutlich : Eine Prämisse, die  Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück | 63

in den Ruin führte, war, dass der Immobilienmarkt auch weiterhin so florieren wird wie bisher. Der gesunde Menschenverstand müsste eigentlich sagen, dass nur endlich viele Menschen endlich viele Häuser erwerben und dafür endlich viele Darlehen aufnehmen können. Doch Finanzderivate, die aus Hypotheken bestehen, verkauften sich derart gut, dass die Darlehen mit guten Bonitäten irgendwann nicht mehr ausreichten, so dass auch mit Hypotheken von Kreditnehmern geringer Bonität gehandelt wurde. Als der Hypothekenmarkt, trotz Einschluss von Verträgen mit hohem Ausfallrisiko, nicht noch mehr hergegeben hat, weiteten sich die Investitionen auf den Markt für Hypothekenversicherungen aus, der am Ende ein um den Faktor 20 größeres Volumen als der eigentliche Hypothekenmarkt hatte. Das Ergebnis ist bekannt : Nachdem genügend Hausbesitzer ihre Hypothekenraten nicht mehr zahlen konnten, ging die Kaskade in die umgekehrte Richtung und das Kartenhaus stürzte zusammen. Perfiderweise konnte man auch Derivate konstruieren, mit denen man genau auf den Zusammenbruch des Häusermarktes wetten und am Ende von der Finanzkrise profitieren konnte. Während die einen ihre Häuser und ihre Pensionsanwartschaften verloren, tauchten auf den Konten der anderen, wie aus dem Nichts, Zigmillionenbeträge auf. Geldschöpfung ist eine creatio ex nihilo. Aus Zahlen ohne Inhalt werden Zahlen mit Inhalt. Doch wie der Finanzmarkt gibt, so nimmt er auch. Mit derselben Macht, mit der er aus dem Nichts zu schöpfen vermag, vernichtet er. Die Finanzökonomie ist ein Feld, auf dem Theorien, über vermittelnde Institutionen wie Zentralbanken, Börsen und Kredit­ institute, die Wirklichkeit schaffen, die sie zu beschreiben vorgeben. Joseph Vogl hat diese Naturalisierung 2010 in Das Gespenst des Kapitals rekonstruiert. An der sogenannten Black-Scholes-Gleichung, die für die Entwicklung neuer Finanzderivate eine kaum zu überschätzende Rolle spielt, macht Vogl deutlich, wie mathematische Modellierung und der Mythos »irdischer Providenz«163 einhergehen. Der Grundgedanke ist der, dass die »Ungewissheit der Zukunft schon in der Jetztzeit kalkulierbar und kompensiert« wird, sofern es gelingt, »den Preis künftiger Risiken in aktuelle Zahlungen zu verwandeln«.164 Die Formel folgt dem »Vorbild von Differentialgleichungen für Wärmeleitung und Diffusion in der statistischen Mechanik«165. Nach dem Ende des Abkommens von Bretton Woods 64 | Kapitel 2 

1973 (Abschaffung des Goldstandards) explodierte der Handel mit Finanzderivaten, die es vor 1970 nicht oder nur unter Ausnahmebedingungen gab, und wurde zum weltweit größten Markt überhaupt : »Vom jährlichen Wert weniger Millionen Dollar Anfang der siebziger Jahre stieg sein Volumen auf 100 Milliarden im Jahr 1990, dann auf ca. 100 Billionen Dollar um die Jahrtausendwende an und erreichte das Dreifache des weltweiten Umsatzes an Verbrauchsgütern.« Die »Apotheose« des Finanzmarktes folgt dem »Prinzip einer Risikoverlagerung und somit der Erwartung, Preisrisiken mit der Streuung von Preisrisiken, spekulative Geschäfte mit spekulativen Geschäften zu versichern«.166 Höhere Risiken bedeuten höhere Preise. Die Logik der Warenwerdung von Preisen spitzt Vogl wie folgt zu : »Jemand, der eine Ware nicht hat, sie weder erwartet noch haben will, verkauft diese Ware an jemanden, der diese Ware ebenso wenig erwartet oder haben will und sie auch tatsächlich nicht bekommt.«167 Der Glaube an die Absicherung (engl. hedging) jeder möglichen Zukunft, an die mathematisch modellierbare Vorsehung »eines alles umfassenden und alles ausgleichenden Marktes« ist der legitimierende Mythos für eine »Oikodizee«168 , die den Markt zum Numinosen schlechthin macht, mysterium tremendum et fascinans : geheimnisvoll wirkende Übermacht (invisible hand) und (bis zum Taumel) lockend Wundervolles zugleich : »Vor dem mir graut – zu dem michs drängt.«169 Die schwindelerregende Magie der »Finanzialisierung« scheint keine Grenzen zu kennen. Neuerdings hat sogar die »Bestäubungsleistung« von Honigbienen einen Marktpreis. Vogl plädiert dagegen für ein Ende der Oikodizee : »Konsumgüter und Vermögenswerte, Arbeitskraft, Gesundheit, Ausbildung oder natürliche Ressourcen lassen sich nicht nach ein- und derselben Marktlogik vertreiben, sie lassen sich nicht gleichermaßen durch einen alles (de)regulierenden Marktmechanismus ›kapitalisieren‹.«170 Die »Behauptung, dass ›reine ökonomische Theorie eine Wissenschaft ist, die den physikalisch-mathematischen Wissenschaften in jeder Hinsicht ähnelt‹«171, ist so falsch wie folgenreich. Denn anders als bei naturgesetzlich determinierten Vorgängen gilt in der gesellschaftlichen Sphäre das Luhmann’sche Wort : »Aber der Teufel will, daß die künftigen Gegenwarten nicht unbedingt der gegenwärtigen Zukunft entsprechen müssen.«172 Dieser Diabologik Rechnung  Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück | 65

tragend, schließt Vogls hellsichtige Analyse mit der Rückkehr einer mythischen Gewalt : »Haben sich moderne Vorsorgegesellschaften einmal über die Verwandlung von Gefahren in Risiken und über die Bändigung des Zufalls formiert, so ist nun das Zufällige, die Gefahr, ein ungebändigter Ereignissturm in die Mitte dieser Gesellschaften zurückgekehrt, als tychê oder Zufall in einer archaischen Gestalt : irregulär, gestaltlos und von Nicht-Wissen umspielt.«173 Erneut schlägt Aufklärung in Mythologie zurück. Die mythischen Elemente moderner Finanzmathematik  sind weitaus mehr als das Palimpsest jenes »religiös bedingten Ge­bil­ des«174 , aus dem Weber einst den Kapitalismus abgeleitet hat. Diese Einsicht ist keineswegs neu. Bereits 1921 hält Walter Benjamin in einem Fragment über den »Kapitalismus als Religion« fest, dass dessen Struktur eine »essentiell religiös[e] Erscheinung« sei. Der Kapitalismus ist Benjamin zufolge »eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat«. Er ist nicht nur auf Dauer gestellt  – kein Wochentag, der nicht Festtag wäre –, sondern »vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus«.175 Nicht Sühne ist das Ziel, sondern die Universalisierung der Schuld. Zu dieser Logik passt auch die Umkehrung jener Formel, die im 18. Jahrhundert alle Versuche einer Oikodizee getragen hat : Aus private vices, public benefits wurde im spätmodernen Finanzkapitalismus : private benefits, public risks. Die mythogene Autosuggestion, zumeist verbunden mit dem Ruf nach progressiver Deregulierung, Privatisierung und Kapitalisierung, will, dass die Verschuldung bloß krisenbedingt und durch unvollständige Marktautonomie zustande kommt. Nicht strengere Regeln, sondern weniger Regeln sollen die Risiken einhegen. Gegen diesen Mythos kann nur eine Aufklärung helfen, die nicht ihrerseits mythischen Kontrollphantasien aufsitzt. Das gilt übrigens auch für das Gegenmodell einer staatlichen Planfinanzwirtschaft. Aufgeklärtes Denken weiß um die Unbeherrschbarkeit von Kontingenz, die Nicht­berechenbarkeit der Zukunft und die notorische Unvollkommenheit menschlichen Handelns. Die christliche Tradition hat für die Haltung, die dieses Wissen abverlangt, eine Tugend reserviert, die nur dann nicht erniedrigt, wenn sie nicht gegenüber Menschen geübt wird : Demut. Sie steht für eine maßvolle Haltung gegenüber denjenigen Maßen, die in Zahlen gefasst werden. 66 | Kapitel 2 

K APITEL 3 Phänomenologie der Übergänge »I will not go so far as to say that to construct a history of thought without profound study of the mathematical ideas of successive epochs is like omitting Hamlet from the play which is named after him. […] But it is certainly analogous to cutting out the part of Ophelia. […] For Ophelia is quite essential to the play, she is very charming – and a little mad.« Alfred North Whitehead : Science and the Modern World (1925)176

Vom Bekannten zum Unbekannten : Technik im Übergang

Wissenschaft ist in weiten Teilen modellgeleitetes Erklären. Das Modell, wodurch wir ein Phänomen erklären, ist uns bereits bekannt, während uns die Wirkursache dieses Phänomens selbst unbekannt ist. Ein Beispiel : Als Darwin den Variantenreichtum von Lebewesen erklären wollte, leitete ihn das Modell der Domestikation. So wie ein Züchter durch künstliche Zuchtwahl die Reproduktion von Individuen mit bestimmten Eigenschaften in einer Population begünstigt und andere benachteiligt, selektiert ›die Natur‹ durch natürliche Zuchtwahl solche Individuen, die hinsichtlich ihres Fortpflanzungserfolgs aufgrund bestimmter Eigenschaften (›fitness‹) geringere Überlebenschancen haben. Wir müssen daher sorgfältig das Modell als erklärendes Prinzip (künstliche Selektion) von der Ursache als wirkendem Prinzip (›natürliche‹ Selektion) unterscheiden. Aristoteles nannte ersteres das für uns Bekanntere und Klarere, letzteres das der Natur nach Klarere und Bekanntere. »Es ergibt sich damit der Weg von dem uns Bekannteren und Klareren zu dem in Wirklichkeit Klareren und Bekannteren.«177 Dieser Weg ist »grundsätzlich unumkehrbar«.178 Das kann man aus dem genannten Beispiel leicht ersehen : Man muss nichts von natürli  67

cher Zuchtwahl wissen, um Tiere domestizieren zu können. Aber man muss ein Vorwissen über künstliche Zuchtwahl besitzen, um das Prinzip der natürlichen Selektion verstehen zu können. Der Bereich, aus dem Darwin sein Modell entnommen hat, ist – wie bei vielen anderen wissenschaftlichen Erklärungsmodellen auch – die Technik. Züchtung ist eine Kulturtechnik, die Menschen seit der Jungsteinzeit beherrschen. Andere Beispiele wären etwa die Automaten, anhand derer Descartes die Funktionsweise tierischer Organismen erklärt, das Schlüssel-Schloss-Prinzip in der Biochemie oder die Schrift, die das gängige Modell für die Molekulargenetik liefert. Überall sind es technische Artefakte oder technische Tätigkeiten und ihre jeweiligen Funktionen und Leistungen, die der Modellierung dienen. Den Übergang von dem uns Bekannteren zu dem uns Unbekannteren bahnt die Wissenschaft also mit Hilfe der Technik. Sie schöpft in ihrer Theoriebildung immer schon, und das heißt auch vor den Zeiten systematischer Experimente, aus dem Reservoir technischer Erfindungen. Damit wir uns jedoch überhaupt auf den Weg zur Erklärung eines Phänomens machen, muss dieses erst einmal als erklärungsbedürftig auffallen. Und hier kommt Husserls »Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten« ins Spiel, mit dem er die Welt im weiter oben beschriebenen Sinne der Lebenswelt bezeichnet (siehe Einleitung).179 Lebensweltlich gegeben ist uns das selbstverständlich Vorgegebene, solange wir nicht nach seinem Grund fragen : Warum ist das so und nicht anders ? Wenn wir diese Frage stellen, wechseln wir unsere Einstellung und aus dem, nach Heideggers Unterscheidung, fraglos Zuhandenen wird ein fragwürdig Vorhandenes. Dieser Übergang ist die Voraussetzung für jede Wissenschaft bzw. ursprünglich für die Philosophie. Wir müssen daher zwei Übergänge unterscheiden : den Übergang von der Lebenswelt zur Wissenschaft und den Übergang innerhalb der wissenschaftlichen Einstellung von dem uns Bekannteren zu dem uns Unbekannteren. Am Anfang steht ein selbstverständlich Vertrautes, aber hinsichtlich seiner Prinzipien Unbekanntes, das fragwürdig, weil auffällig wird ; am Ende soll eine Erklärung vorliegen, die die Wirkursache des Phänomens anhand eines Modells ermittelt, das seinerseits der technischen Sphäre der Lebenswelt, z. B. der Agrikultur, entnommen ist. Als das verbindende Moment bei68 | Kapitel 3 

der Übergänge erweist sich die Technik, die sowohl der Lebenswelt als auch der Wissenschaft angehört und dem Weg vom Vertrauten (Ursprung) über das Bekannte (Mittel) zum Unbekannten (Ziel) Einheit und Richtung gibt. In diesem Prozess bleiben Ursprungsund Zielgebiet übrigens nicht unverändert dieselben. Denn auch wenn wissenschaftliche Erklärungen begründungslogisch von den Modellen abhängig sind, die wiederum zumeist dem Bereich lebensweltlicher Techniken entnommen werden, fließen die Theorien gleichwohl auch in jenes Universum der Selbstverständlichkeiten ein, in dem wir uns jederzeit bewegen. Somit ist die vor- und außerwissenschaftliche Lebenswelt unmittelbarer Anschauung schon bis zu einem gewissen Grad durch wissenschaftliche Begriffe überformt. Mit anderen Worten, es findet eine doppelte Technisierung statt : eine durch Artefakte und Apparate und eine andere durch Begriffe und Ideen. Die Phänomenologie, deren Aufgabe es ist, das Selbstverständliche verständlich zu machen,180 muss diesen Übergang von der technischen Begriffsbildung zur Lebenswelt zurück besonders ins Auge fassen. Da das technische Mittel der wissenschaftlichen Erklärung seit der Neuzeit in immer weiter zunehmendem Maße die Mathematik ist, hat die Technisierung seit dem 17. Jahrhundert die Gestalt der Mathematisierung angenommen. Vom Mittel zur Norm : Ethiko-Teleologie der Technik

Die fundamentale Bedeutung der Technik für das menschliche Selbst- und Weltverhältnis in praktischer wie theoretischer Hinsicht geht prägnant aus einer idealtypischen Unterscheidung hervor, die Cassirer zwischen zwei Kulturstufen des Menschen vornimmt. Sie ist in ihrer Zuspitzung mit Hobbes’ Konstruktion eines status naturalis vergleichbar, der nur um der Darstellung des status civilis willen ersonnen wurde. Denn ebenso wenig wie den Naturzustand hat es wohl jemals in der Kulturgeschichte den vortechnischen magischen Menschen, den homo divinans gegeben, dessen Bewusstsein von reinem Wunschdenken geprägt war und der »im gewissen Sinne an die Allmacht des Ich«181 glaubte, das nur den richtigen Zauberspruch zu sagen oder die richtige rituelle Handlung auszuführen braucht, um die unmittelbare Erfüllung des Wunsches zu  Phänomenologie der Übergänge | 69

erleben. Solch magisches Denken sieht »die erfahrbare Wirklichkeit nicht in ihren Ordnungen und Regeln«. Erst wenn die »Macht des Willens« an die Stelle der »Macht des bloßen Wunsches«182 tritt und der homo faber den homo divinans ablöst, begegnet das Ding als ein selbständiges Sein in seiner eigenen Gesetzmäßigkeit. Nicht der Magier, sondern der Techniker weiß um die Obligation der Dinge. Ihr Gegen-Stands-Charakter eröffnet sich dem Willen des Herstellers, dem sie sich als wider-ständig erweisen. So kann Cassirer sagen, dass sich im Werkzeug »die Götterdämmerung der magischmythischen Welt« ankündigt.183 Der technische Mensch muss die Natur erklären können, um sie beherrschen zu können ; um sie sich aber zu erklären, muss er ihr gehorchen. Schon Francis Bacon, dessen repressive Metaphorik Cassirer auffällig unkritisch übernimmt, wusste, dass der Weg von der Interpretation zur Herrschaft über das Dienen führt. Um eine gewünschte Wirkung hervorzubringen, muss ich die dafür notwendige Ursache kennen. Dies bewerkstellige ich aber nur dadurch, dass ich mich dem natürlichen Kausalzusammenhang unterwerfe ; anders gesagt : will ich die Natur nötigen, ihre Gesetze preiszugeben, muss ich mich allererst an diese halten. »Der Sieg über die Natur läßt sich nur auf dem Wege des Gehorsams gegen sie erreichen. Durch diesen Gehorsam, der die Kräfte der Natur walten läßt, der sie nicht mehr magisch zu bannen und zu unterjochen versucht, wird nun auch im rein ›theoretischen‹ Sinne eine neue Gestalt der Welt heraufgeführt.«184 Diese beginnt nämlich, dem Menschen in ihrer eigenen Gestalt zu begegnen. Dienstbarkeit ist daher das eine wesentliche Moment der Technik – der Ingenieur verhält sich gegenüber der Natur, die er bearbeitet, nicht anmaßend, wie oft behauptet wird, sondern ergeben ; er entfremdet sich nicht von ihr, sondern lernt sie erst eigentlich kennen. Zugleich ist mit dieser Selbstverpflichtung zum Dienst aber auch, als das andere Moment der Technik, Freiheit verbunden. Weil der Konstrukteur die Natur zuerst studieren muss, bevor er sie sich zunutze machen kann, treten im technischen Prozess Wille und Ziel notwendigerweise auseinander. »Im Werkzeug und seinem Gebrauch […] wird gewissermaßen zum ersten Male das erstrebte Ziel in die Ferne gerückt. Statt wie gebannt auf dieses Ziel hinzusehen, lernt der Mensch von ihm ›abzusehen‹ – und ebendieses Ab70 | Kapitel 3 

sehen wird zum Mittel und zur Bedingung seiner Erreichung.«185 Homo faber ist das Wesen, das entsagen kann : Verzicht und Aufschub sind die Bedingungen für die Erfüllung seiner Ziele. Um die Natur beherrschen zu können, muss der Mensch erst einmal seinen eigenen Willen zu beherrschen lernen. Cassirer spricht hier – im Anschluss an Goethe – vom »Gesetz der Entsagung« : Der gereifte Wille weiß, »daß er sein Ziel nur dadurch zu erreichen, ja daß er es nur dadurch aufzustellen vermag, daß er auf alles naiv-triebhafte Glücksverlangen verzichtet«. Genau darum, weil Naturbeherrschung Selbstbeherrschung voraussetzt, wird die Technik der Menschheit zum »Vehikel […] ihrer Selbstbefreiung«,186 der Befreiung von einem fruchtlosen wishful thinking. Den Zusammenhang zwischen dem Gehorsam gegenüber der Natur und der Selbstbefreiung von einem naiven Glücksverlangen, das nicht durch die Schule der Wirklichkeit gegangen ist, bringt Cassirer mit dem Radiologen und Politiker Friedrich Dessauer auf die Formel : »Freiheit durch Dienstbarkeit«.187 Die Technik ist nicht nur die »Bezwingerin der Naturgewalten«, sondern auch die »Bezwingerin der chaotischen Kräfte im Menschen selbst«.188 Mit Freiheit geht Verantwortung einher. In dem Maße, wie der Mensch sich und seinen Willen im technischen Tun entdeckt, entwickelt er ein Bewusstsein der Verantwortung für dieses Tun und die Werke, die aus ihm hervorgehen. Aber, und das ist Cassirers entscheidende Einsicht, eine solche Verantwortung für die Werke der technischen Produktion kann der Mensch nur übernehmen, weil er durch die Technik überhaupt erst ein Verantwortungsbewusstsein erworben hat. Der homo divinans unterscheidet ja noch gar nicht zwischen sich und seinen Erzeugnissen ; weshalb er sich für diese auch nicht verantwortlich zu fühlen in der Lage ist. Wenn Cassirer daher in der »Ethisierung der Technik« »eines der Zentralprobleme unserer gegenwärtigen Kultur« erkennt,189 dann wird dieses zum einen allererst möglich, weil die Technik das Vehikel zu Freiheit und Verantwortung ist. Die Ethisierung ist aber zum andern notwendig, weil die Technik nicht nur auf »ihrer eigenen Norm« beharrt, sondern »diese Norm absolut zu setzen und sie den andern Gebieten [der Kultur] aufzuzwingen« droht.190 Die Technik kann die Ziele, um derentwillen sie eingesetzt wird, nicht selbst setzen, »wenngleich sie an ihrer Verrichtung mitarbei Phänomenologie der Übergänge | 71

ten kann und soll ; sie versteht ihren eigenen Sinn und ihr eigenes Telos am besten, wenn sie sich dahin bescheidet, daß sie niemals Selbstzweck sein kann«.191 Wir haben es mit einem weiteren Übergang zu tun, dem von bloßen Mitteln zu letzten Zwecken und absolut geltenden Normen. So schließt Cassirer seine Würdigung der Technik mit der Forderung, dass diese sich »jener echten und endgültigen Teleologie einzuordnen hat, die Kant als Ethiko-Teleologie bezeichnet«.192 Die Ethiko-Teleologie verweist auf die Person als absolute Grenze der Technisierung. Ich werde darauf am Ende dieses Kapitels zurückkommen. Von der Praxis zur Theorie : die Sinnverschiebung

Um die Rolle der Technik für den Übergang vom Bekannteren zum Unbekannteren in der Wissenschaft näher zu bestimmen, bietet sich erneut Husserls Rekonstruktion der exakten Naturwissenschaft aus der antiken Feldmesskunst an. »Messen gehört zu jeder Kultur, nur in Stufen von primitiven zu höheren Vollkommenheiten. Etwas Maßtechnik […] sichert Fortbildung der Kultur, also auch Kunst der Aufrisse für Bauten, der Ausmessung von Feldern, von Wegelängen usw. dürfen wir immer voraussetzen«.193 Den Anfang machen einzelne Körper, die als Maße an andere Körper gehalten werden. Mit der Zeit werden Verfahren entwickelt, um die Messung von Längen, Flächen, Volumina und Gewichten zu verbessern. Dieses Voranschreiten lässt die Idee von vollkommenen Maßen als Limesgestalten aufkommen, denen selbst keine realen Körper mehr entsprechen.194 Die Idealisierung (siehe Kap. 1) begründet die reine Geometrie, die zwar noch im Namen ihren Ursprung aus der Messkunst verrät, jene empirische Messpraxis aber wesensmäßig hinter sich lässt – hat sie es doch nur noch mit den idealen Formen wie der Gerade und der Fläche zu tun, und eine ideale Gerade gibt es in der Natur ebenso wenig wie ein ideales Dreieck mit der Winkelsumme von 180 Grad. Der Übergang der Idealisierung vollzieht sich daher vom Reich der Körper, in dem ein konkretes Objekt Maß für beliebige andere konkrete Objekte sein kann, zum Reich der Formen, in dem abstrakte Gestalten sich selbst genügen. Janich modifiziert diese von Husserl beschriebene Idealisierung, indem er die Limes72 | Kapitel 3 

gestalten mit den Zielen einer homogenen Erzeugung von Formen und Gestalten gleichsetzt.195 Entscheidend für die historische Rekonstruktion bleibt, dass die »ideale Praxis eines ›reinen Denkens‹, das sich ausschließlich im Reiche reiner Limesgestalten hält«,196 aus einer realen Praxis (des Messens oder der Formerzeugung) hervorgegangen ist. Der nächste Schritt nach der Idealisierung der Maße ist die Anwendung der geometrischen Formen und Gesetze auf die empirische Wirklichkeit, indem beispielsweise der Erdumfang mit Hilfe der Mathematik des Kreises bestimmt wird. Die mathematische Definition von Bewegungen zu Beginn der Neuzeit ist vor allem mit dem Namen Galilei verbunden, der zu diesem Zweck seine resolutiv-kompositive Methode entwickelt hat (siehe Kap. 2). Die Anwendung der reinen Geometrie auf die Natur in der Physik bedeutet eine Realisierung des Idealen ohne methexis : Die ursprünglich aus der Messung physischer Körper entwickelten idealen Limesgestalten werden mit Hilfe der skripturalen Konstruktion der Buchmetapher – des Entwurfs einer selbst geometrisch verfassten Natur – auf diese Körper zurückübertragen. Die abstrakten Gestalten verlieren ihren Status als Ideale und werden zum Prinzip der empirischen Wirklichkeit selbst. Nicht der reale Körper ist eine Annäherung an das irreale Maß, sondern die Messung ist eine technisch unvollkommene Annäherung an die reale Gestalt. Descartes vollzog die Arithmetisierung der Geometrie, die eine weiteren Formalisierung bezeichnet : Wenn man eine geometrische Form erst einmal durch geordnete Paare von x- und y-Koordinaten der einzelnen Punkte, aus denen sie zusammengesetzt ist, arithmetisieren kann, dann ist man auch in der Lage, eine Gerade allgemein durch die algebraische Formel auszudrücken : ax + by + c = 0. Arithmetisierung und Algebraisierung sind die entscheidenden Erweiterungen der analytischen Geometrie, die ihren Ursprungssinn einer Messkunst noch weiter verschieben. Denn nun sind es weder konkrete Körper noch abstrakte Gestalten, die das Maß angeben, sondern algebraische Gleichungen, deren Elemente (Zahlen, Buchstaben und Operatorzeichen) radikal unanschaulich sind.197 Idealisierung, Realisierung, Arithmetisierung und Algebraisierung sind die Stationen auf dem Weg zur mathematischen Naturwissenschaft. Allerdings beschränkt sich der Anwendungsbereich  Phänomenologie der Übergänge | 73

bislang nur auf den Gestaltaspekt der Natur, also ihre Ausdehnung, die sich durch raumzeitliche Messung geometrisch und quantitativ beschreiben lässt. Damit bleibt derjenige Aspekt ausgeblendet, den Husserl »sinnliche Fülle« nennt und zu der die Sinnesqualitäten Farbe, Ton, Geruch usw. gehören.198 Wenn die Natur vollständig exakt erforscht werden soll, dann darf die Mathematisierung nicht bei den Gestalten stehen bleiben, sie muss sich auch der sinnlichen Füllen annehmen, die jedoch unmittelbar qualitativ gegeben sind und sich daher einer direkten Messung entziehen. Die Aufgabe einer indirekten Mathematisierung der Füllen müssen wir uns heute erst eigens vergegenwärtigen, da es uns aufgrund »unserer früheren wissenschaftlichen Schulerziehung« ganz selbstverständlich geworden ist, das, was »wir im vorwissenschaftlichen Leben als Farben, Töne, Wärme […] an den Dingen selbst erfahren«, auf »Tonschwingungen, Wärmeschwingungen, also reine Vorkommnisse der Gestaltenwelt« zurückzuführen.199 Die Mathematisierung erfolgt durch eine kausalmechanische Interpretation der nun bloß sekundäre Qualitäten genannten Eigenschaften der Gegenstände als Wirkungen primärer Quantitäten wie Wellenlänge (Farbe und Ton) oder Bewegung (Wärme). Nach Galilei ist die Gestalt objektiv und die Fülle subjektiv. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir heute nur das als physikalische Tatsache anerkennen, was sich in der Sprache der Mathematik sagen lässt, indiziert eine Sinnverschiebung, die sich durch den Übergang von der Lebenswelt in eine »Formelwelt«200 vollzieht. Denn das Vehikel der Formalisierung stammt zwar ursprünglich aus der lebensweltlich verankerten Messkunst, aber genau dieser Ursprung wird vergessen und stattdessen die idealisierte Natur für die »vorwissen­schaftlich anschauliche Natur« ausgegeben.201 Die mathematisch idealisierte Natur ist jedoch nichts anderes als die theoretisch naturalisierte Idealität jener Limesgestalten der praktischen Messtechnik. Die wissenschaftliche Theorie gründet in einer technischen Praxis. Den technischen Charakter der Mathematik betonen übrigens fast zeitgleich die Mathematiker Hilbert und Husserl. So schreibt jener große Vertreter der Formalisierung am 29. Dezember 1899 an Frege : »Ja, es ist doch selbstverständlich eine jede Theorie nur ein Fachwerk oder Schema von Begriffen nebst ihren nothwendi74 | Kapitel 3 

gen Beziehungen zu einander, und die Grundelemente können in beliebiger Weise gedacht werden. Wenn ich unter meinen Punkten irgendwelche Systeme von Dingen, z. B. das System : Liebe, Gesetz, Schornsteinfeger …, denke und dann nur meine sämmtlichen Axiome als Beziehungen zwischen diesen Dingen annehme, so gelten meine Sätze, z. B. der Pythagoras auch von diesen Dingen. Mit anderen Worten : eine jede Theorie kann stets auf unendlich viele Systeme von Grundelementen angewandt werden.«202 Dazu passt Husserls Einschätzung der Mathematik im ersten Band seiner Logischen Untersuchungen von 1900 : »So wie der praktische Mechaniker Maschinen konstruiert, ohne dazu letzte Einsicht in das Wesen der Natur und ihrer Gesetzlichkeit besitzen zu müssen, so konstru­iert der Mathematiker Theorien der Zahlen, Größen, Schlüsse, Mannigfaltigkeiten, ohne dazu letzte Einsicht in das Wesen von Theorie überhaupt und in das Wesen ihrer sie bedingenden Begriffe und Gesetze besitzen zu müssen.«203 Daran ist so lange nichts auszusetzen, wie das mathematische Fachwerk, das die Physik unter der Natur einzieht, nicht selbst naturalisiert wird. Genau das geschieht aber. »In der geometrischen und naturwissenschaftlichen Mathematisierung messen wir so der Lebenswelt […] ein wohlpassendes Ideenkleid an […] Das Ideenkleid ›Mathematik und mathematische Naturwissenschaft‹, oder dafür das Kleid der Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien, befaßt alles, was wie den Wissenschaftlern, so den Gebildeten als die ›objektiv wirkliche und wahre‹ Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist«.204 Weil die Symbolisierung Entdeckungen nur durch Transformation der zu entdeckenden Gegenstände ermöglicht, ist Galilei für Husserl »zugleich entdeckender und verdeckender Genius«.205 Die Verdeckung besteht genau darin, dass die technische Erfindung (das ›Fachwerk‹), die bestimmte ›Entdeckungen‹ allererst möglich macht, selbst wie ein Stück Natur angesehen wird. Mit Husserl lässt sich dieser Verdeckungszusammenhang gut an Galileis Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten demonstrieren. Denn die Subjektivierung der qualitativen Phänomeneigenschaften verdankt sich einer technischen Praxis, die methodisch immer schon in die anschauliche Natur investiert hat, was sie an mathematischer Natur als Dividende erhält. Diese Ökono Phänomenologie der Übergänge | 75

mie behält in dem Maße ihr volles Recht, wie sie die Grenzen ihrer Währung kennt – der Physiker zahlt in ihr für das Übersetzen vom bekannten Ufer zum unbekannten, für den Rückweg jedoch sind seine Taschen leer. Von Energie zu Information : die Mathematisierung der Kultur

Die neuzeitliche Naturwissenschaft setzt mit der Mathematisierung der Natur bzw. der Naturalisierung der Mathematik ein. Wir haben gesehen, wie aus dem Modell geometrischer Formen die Ursachen unserer vor- und außerwissenschaftlichen Wahrnehmung abgeleitet wurden. Die unmittelbar erlebten gegenständlichen Qualitäten wandelten sich so zu subjektiven Sinnesdaten, die heute in einer fortgeschrittenen Naturalisierung als neuronale Daten zur Grundlage von Informationen gemacht werden. Der Informationsbegriff markiert den aktuellen Stand der Mathematisierung. An ihm lässt sich der Übergang von der Praxis zur Theorie und zurück gut studieren. Die Informationstheorie ist ein wesentlicher Baustein jenes Denk­ paradigmas, das in den 1940er Jahren als Kybernetik prominent wurde. Das Prinzip des Regelkreises wird zum Inbegriff eines Kontrolldenkens, das mittels Information, Schaltalgebra und Feedback­ schleifen wenigstens eine Zeitlang alles regulieren wollte : Maschinen, Institutionen, ja die Gesellschaft als ganze. Norbert Wiener trifft mit seiner Diagnose 1948 den Nagel auf den Kopf : »Wenn das 17. und das frühe 18. Jahrhundert das Zeitalter der Uhren war und das späte 18. und das 19. Jahrhundert das Zeitalter der Dampf­ maschinen, so ist die gegenwärtige Zeit das Zeitalter der Kommunikation und der Regelung.«206 Wiener wollte nach dem Zweiten Weltkrieg die ›Kriegswissenschaft‹ der Steuerungslehre zu einer neuen Universalwissenschaft, einer wahren mathesis universalis, irenisieren. Seine beiden Hauptwerke Cybernetics or control and communication in the animal and the machine (1948) sowie The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society (1950) entwerfen nicht nur technische Mittel zur Steuerung und Nachrichtenübertragung ; Maschine, Organismus und Gesellschaft werden selbst zu Systemen, die Steuerung durch Kommunikation be­treiben. 76 | Kapitel 3 

Mit der gleichen Lust und mit der gleichen Unbescheidenheit wie Freud sieht Wiener in seiner eigenen Theorie eine weitere Kränkung des menschlichen Narzissmus nach Kopernikus und Darwin.207 Demnach hat Kopernikus uns aus dem Zentrum des Universums verbannt, Darwin hat uns die Krone der Schöpfung abgenommen, Freud spricht unserem Ich ab, Herr im eigenen Haus zu sein. Und so wie Freud auf das technische Modell eines psychischen Apparats und eine von der Thermodynamik inspirierte Theorie der Triebenergien zurückgreift, orientiert sich Wiener an der Nachrichtentechnik und an Marschflugkörpern. Der Mensch ist nicht nur ein Affe und wird nicht nur von seinem Unbewussten gesteuert – er ist auch eine organische Maschine. Am Anfang steht freilich nur der Vergleich – aber es ist ein Vergleich mit, in der Sprache der Kybernetik selbst ausgedrückt, Rückkopplungseffekt. Zunächst sollen genuin menschliche Leistungen wie Informieren oder Rechnen nur mit Hilfe von Maschinen erbracht werden, doch die maschinelle Effizienz kehrt die Reihenfolge um, und es ist nicht mehr bloß der Mensch, der die Technik macht, sondern die Technik, die das Bild für den Menschen liefert. Auf diese Weise verschiebt sich der Ursprungssinn von Information, der in der Praxis menschlicher Sprachspiele angesiedelt ist, vom Quellbereich in den Zielbereich seiner Anwendung und es findet das statt, was Janich die »Naturalisierung der Information« nennt.208 Plötzlich ist auch in der Natur Information – als Erbinformation in den Genen oder als neuronale Informationsverarbeitung in Gehirnen. Diese Naturalisierung der Technik hat weitreichende Folgen, wie Hans Jonas bereits 1953 in seiner Kritik an der Kybernetisierung209 beobachtet. Es liegt eine »Ironie« darin, »daß Naturwissenschaftler, so lange die geschworenen Feinde der anthropomorphistischen Todsünde, heute am freigebigsten mit der Verleihung menschlicher Züge an Maschinen sind«.210 Den Grund für diese fragwürdige Freigiebigkeit sieht Jonas in einer »starke[n] und, wie es scheint, unwiderstehliche[n] Neigung« des menschlichen Verstandes, »menschliche Funktionen in den Kategorien der sie ersetzenden Artefakte und Artefakte in den Kategorien der von ihnen versehenen menschlichen Funktionen zu deuten«.211 So schlägt die anthropomorphe Beschreibung der Maschine am Ende in eine  Phänomenologie der Übergänge | 77

technomorphe Selbstbeschreibung des Menschen um – die Idee einer künstlichen Intelligenz ist dann geradezu unausweichlich. Entwickelt wurde der technische Informationsbegriff Anfang der 1940er Jahre an den Bell Laboratorien von dem Mathematiker Claude Shannon, der nach einer allgemeinen Beschreibung für Nachrichtenübertragungen zwischen einem Sender und einem Empfänger suchte. Eine Nachrichtenquelle wählt aus einer Menge möglicher Nachrichten eine aus, die dann, von einem Apparat, dem Sender (z. B. Telefon), in ein Signal (z. B. elektrische Impulse) übersetzt, als solches durch einen Kanal (z. B. Draht) zum Empfänger (z. B. anderes Telefon) übertragen wird, der es wieder in eine Nachricht zurückverwandelt und diese an das Nachrichtenziel weitergibt. Zwischen Sendung und Empfang kann es zu Störungen (Rauschen) aus Störquellen kommen, die technisch zu minimieren sind. Shannon klammert Fragen des inhaltlichen Verstehens explizit aus und interessiert sich lediglich für technische Probleme wie die notwendige minimale Redundanz, die ein Code aufweisen muss, damit eine Nachricht möglichst störungsfrei übertragen werden kann. Um solche Problem technisch lösen zu können, war es wichtig, von dem ›analogen‹ Inhalt einer Nachricht abzusehen und stattdessen allein ihren binär kodierten Informationsgehalt zu berücksichtigen. Shannons eigentlich mathematische Innovation besteht deshalb in der Messbarmachung von Information anhand der Auswahl einer Nachricht bzw. eines Zeichens in einer Reihe von Ja-Nein-Entscheidungen. Eine einzige solche Entscheidung produziert einen Informationsgehalt von einem Bit (Kurzform von binary ­digit). In unserem standardmäßigen 8-Bit-Code kann ein Zeichen 256 verschiedene Zustände (Buchstaben, Ziffern, Sonderzeichen usw.) annehmen. 8 ist der Logarithmus von 256 zur Basis 2 (Ja/Nein bzw. 0/1). Bei einem 7-Bit-Code hat man entsprechend 128 Möglichkeiten für ein Zeichen usw. Die Gesamtinformation einer Nachricht ist proportional zur Zahl der notwendigen Einzelentscheidungen sowie der jeweiligen Wahrscheinlichkeit für die Wahl eines bestimmten Zeichens. Ist die Übertragung aller Zeichen des Binärcodes gleich wahrscheinlich, dann ist der Informationsgehalt der Nachricht gering, er steigt mit ihrer Unwahrscheinlichkeit bzw. Unsicherheit. Bei sinnvollen Zeichengruppen (Wörter, Sätze usw.) haben wir es mit einer Summe aus Teilwahrscheinlichkeiten zu 78 | Kapitel 3 

tun, bei denen jede Folgewahrscheinlichkeit von der vorangehenden Auswahlentscheidung abhängig ist (sogenannte Markoff-Ketten). Dadurch verringert sich natürlich der Freiheitsgrad der weiteren Auswahl. Je niedriger die Auftrittswahrscheinlichkeit einer Nachricht ist, desto größer ist ihr Informationsgehalt. Das Maß für die Zahl der Bits, die pro Zeichen zur Verfügung stehen, nennt Shannon – einem Tip John von Neumanns folgend – Entropie. Auch der mathematische Formalismus ist der gleiche, obwohl es hier um Thermodynamik (Energie) und dort um Nachrichtentechnik (Information) geht.212 Sachlich hat das eine so viel mit dem anderen zu tun wie Hilberts Schornsteinfeger mit Pythagoras’ Dreiecken. Doch die symbolische Größe bestimmt jeweils den Logarithmus aus der Anzahl der Möglichkeiten, einen bestimmten Makrozustand aus einer Komplexion von Mikrozuständen zusammenzusetzen. Dass der Makrozustand einmal Temperatur, das andere Mal eine Nachricht ist, stört den Mathematiker ebenso wenig wie der Unterschied zwischen den Mikrozuständen Ort bzw. Impuls auf der einen Seite und Zeichen auf der anderen. Die Rede von einer Informationsentropie insinuiert, dass Information neben Materie und Energie eine physikalische Größe ist, dass es folglich so etwas wie Information in der Natur gibt. Shannon selbst war mit derartigen Übertragungen überaus vorsichtig und beschränkte sich völlig auf die technischen Probleme der Nachrichtenübertragung. Es war Warren Weaver, ebenfalls Mathematiker und Direktor der Abteilung für Naturwissenschaften bei der Rockefeller Foundation, der die Sinnverschiebung durch Universalisierung des nachrichtentechnischen Modells der Kommunikation entscheidend befördert hat. Er publizierte Shannons Aufsatz, der zunächst unter dem Titel »A Mathematical Theory of Communication« (1948) erschienen war, zusammen mit einer eigenen allgemeinverständlichen Darstellung in Buchform, nun den unbestimmten durch den bestimmten Artikel ersetzend : The Mathematical Theory of Communication (1949). Während Shannon Probleme der Semantik methodisch ausblendet, ordnet Weaver sie den technischen Problemen nach. Weaver unterscheidet drei Ebenen, auf denen Kommunikationsprobleme behandelt werden können : Technik, Semantik und Effizienz. Janich erkennt darin Charles Morris’ semiotische Trias von  Phänomenologie der Übergänge | 79

Syntax, Semantik und Pragmatik wieder.213 Weaver führt allerdings diese Unterscheidung nur ein, um sie gleich wieder zu kassieren : Die »Wechselbeziehungen zwischen den drei Ebenen [sind] so beträchtlich […], daß die Trennung in die drei Ebenen letzten Endes als künstlich und unerwünscht erscheint«.214 Am Anfang steht die noch vorsichtig formulierte Behauptung, »daß die mathematische Theorie der Kommunikation […] obwohl diese scheinbar nur auf die Probleme der Ebene A [d. i. die technische oder syntaktische Ebene] anwendbar ist, tatsächlich hilfreich und anregend auch für die Probleme der Ebenen B [d. i. Semantik] und C [d. i. Effizienz bzw. Pragmatik] ist«.215 Dann lässt sich Weaver aber von der Deutung der Entropie als einem Maß für Ordnung dazu hinreißen, in der mathematischen Theorie der Kommunikation die Grundlage einer allgemeinen Theorie der Kommunikation zu sehen. Shannons Theorie spreche »nicht nur die Sprache der Arithmetik«, sondern »auch die Sprache der Sprache«.216 In Weavers Augen ist es mit Shannons Informationsmodell möglich geworden, Probleme der Semantik und der Pragmatik auf solche der Syntax zu reduzieren ; eine Möglichkeit, die auch den strukturalistischen Linguisten Roman Jakobson offenbar sehr begeistert hat.217 Bedenkt man außerdem, dass Weaver den Kommunikationsbegriff sehr weit fasst und unter ihm nicht nur »Sprache in Wort und Schrift«, sondern auch »Musik, Malerei, Theater und Ballet«, kurz : »alles menschliche Verhalten« subsumiert,218 dann wird deutlich, wie die Mathematisierung von der Natur auf die Kultur übergreift. Waren es dort wahrnehmbare Qualitäten (z. B. Wärme), die auf messbare Quantitäten (z. B. Ausdehnung) reduziert wurden, so ist es hier verstehbare Bedeutung, die zur Information wird. Um selbst die vorwissenschaftliche, lebensweltliche Sprache mathematisch zu formalisieren, musste zuerst die Physik den Schritt von der klassischen zur statistischen Mechanik vollziehen, die es nicht mehr mit einzelnen Körpern, sondern mit Kollektiven und Massen zu tun hat. Doch auch ihre Beschreibung durch ein mathematisches Modell konstituiert ein methodisches Abhängigkeitsverhältnis, das unumkehrbar ist. Der Physiker behandelt ein Gas oder eine Flüssigkeit so, als ob es aus Molekülen bestehen würde und als ob deren jeweilige Zustände eine ›mikrokanonische Gesamtheit‹ bilden würden. Der Nachrichtentechniker behandelt Information so, als ob sie 80 | Kapitel 3 

in einem Auswahlprozess aus einem bestehenden Zeichenvorrat generiert würde und als ob es auf ihren Inhalt nicht ankäme. Dass gerade dies in der Praxis nicht der Fall ist, zeigt der simple Umstand, dass die Diagnose technischer Fehlfunktionen vom Nichtverstehen oder Missverstehen ankommender Nachrichten abhängt. Dieser Praxistest fehlt jedoch der reinen Theorie. Umso folgenreicher ist daher die Sinnverschiebung, wenn sich das Theoriedesign verselbständigt und zu einem eigenen Paradigma gegenüber seiner technischen Herkunft wird.  om Selbstverständlichen zum Selbstverständnis : V eine Mathematik vom Menschen

Aufschlussreich an dem kybernetischen ›Denkstil‹ ist, dass sich das ›Denkkollektiv‹ (Fleck) aus beiden der sogenannten Wissenskulturen science und humanities (C.P. Snow) zusammensetzt. An den Macy-Konferenzen zur Kybernetik in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren nahmen nicht nur Ingenieure, Mathematiker und Naturwissenschaftler teil, sondern auch Linguisten, Psychologen und Sozialwissenschaftler.219 Hier ist nicht der Ort, um die Wirkung des Informationsparadigmas in den Lebens- und Sozialwissenschaften nachzuzeichnen.220 Die Titel von Wieners Werken zur Kybernetik führen ja bereits programmatisch Maschine, organisches Leben und Gesellschaft durch das Modell der Regelung mittels Kommunikation zusammen. Weniger bekannt ist ein programmatischer Text jener Zeit, den Claude Lévi-Strauss 1954 als Einleitung für ein Themenheft des von der Unesco herausgegebenen Bulletin international des Sciences sociales zu »Mathematik und Sozialwissenschaften« verfasst hat. In seinem Beitrag »Die Mathematik vom Menschen« begrüßt der strukturalistische Anthropologe die Mathematisierung der Humanwissenschaften ; seine Beispiele entnimmt er Psychologie, Demographie und Wirtschaftswissenschaften. Allerdings sieht Lévi-Strauss im Messbarmachen nur einen ersten Schritt, der noch nicht hinreicht, um die eigentliche Mathematik vom Menschen zu begründen : »Zweifellos gibt es in unseren Disziplinen viele Dinge, die man messen kann, direkt oder indirekt ; aber es ist keineswegs gewiß, ob es die wichtigsten sind.«221  Phänomenologie der Übergänge | 81

Was zunächst wie eine Kritik an der Anwendung mathematischer Methoden in diesen Disziplinen klingen mag, erweist sich aber schnell als ein eindringliches Plädoyer, von der bloßen Quantifizierung zur eigentlichen Mathematisierung überzugehen : »Was man den experimentellen Psychologen zu Anfang dieses Jahrhunderts, den traditionellen Ökonomen und Demographen vorwerfen könnte, ist sicher nicht, daß sie zu sehr nach der Mathematik schielten, sondern eher, daß sie es nicht genug taten«.222 Ihr Mangel besteht nach Lévi-Strauss darin, dass sie die neuere Mathematik von Mengenlehre, Gruppentheorie, Topologie und Spieltheorie nicht oder nicht genügend zur Kenntnis genommen haben. Die Aufzählung dieser Felder zeigt erneut, dass die Mathematisierung sich nicht im Messen, Konstruieren und Rechnen erschöpft, sondern auf die Formalisierung von Beziehungen zwischen Klassen von Elementen zielt, um diese Beziehungen in Gleichungen und Funktionen beschreiben zu können. Ein Beispiel, an dem sich der Unterschied zwischen einfacher Quantifizierung und mathematischer Formalisierung demonstrieren lässt, ist die Messung von Intelligenz in einer IQ-Skala einerseits und der Versuch, Intelligenz in Computern künstlich zu erzeugen, andererseits. Während es beim Intelligenzquotienten darum geht, ein qualitatives Fähigkeitsspektrum quantitativ messbar und durch die Konstruktion eines indirekt quantifizierbaren ›geistigen Alters‹ kommensurabel zu machen, will man bei der Künstlichen Intelligenz die Intelligenz selbst von ihrem menschlichen Träger isolieren, ihn sozusagen zum Argument einer eigenen (Intelligenz-)Funktion machen. Dass gerade die Träger der Eigenschaft ›Intelligenz‹ bei der Entwicklung der IQ-Skala Anfang des 20. Jahrhunderts die entscheidende Rolle spielten, hat Stephen Jay Gould in seiner Studie Der falsch vermessene Mensch dargelegt ; Frauen, bestimmte ›Rassen‹ und Schichten sollten, so das in die Forschung übertragene Vorurteil nicht weniger Psychologen, von Geburt an ein geringeres Maß an Intelligenz besitzen als die jeweilige Vergleichsgruppe.223 Die funktionale Formalisierung von Intelligenz dagegen ist bestrebt, die Intelligenzleistung in trägerunabhängige Algorithmen, also logische Kalküle zu transformieren, man könnte auch sagen : aufzulösen. Lévi-Strauss’ Mahnung, »daß die jungen Sozialwissenschaftler künftig eine solide und moderne mathematische Grundlage besit82 | Kapitel 3 

zen müssen, um nicht von der wissenschaftlichen Szene hinweggefegt zu werden«,224 ist zweifellos erhört worden. Es ist das neue Paradigma einer breit angelegten – mathematischen oder nach dem Muster der Mathematik operierenden – Formalisierung, die Foucault 1966 das ›Ende des Menschen‹ verkünden und Lyotard 1979 die condition postmoderne bestimmen lässt.225 Der Mensch denkt sich nicht nur nach dem Vorbild seiner eigenen technischen Artefakte – er denkt sich als das Argument einer technisch modellierbaren Funktion, die er lediglich sättigt. An seine Stelle tritt das »anonyme System ohne Subjekt«, in dem »Ensembles von Strukturen« unser Selbstverständnis modulieren.226 Die ›Mathematik vom Menschen‹ ist keineswegs auf das Feld der Humanwissenschaften beschränkt, sondern dringt in der »informatisierten Gesellschaft« (Lyotard) auch in das »Universum der Selbstverständlichkeiten« ein. In ihrem Horizont geht es um nichts Geringeres als unser Selbstverständnis als menschliche Personen. Einen Sonderfall unter den Humanwissenschaften stellt allerdings die Medizin dar. Bereits Aristoteles hat ihr unter den Techniken (bzw. Künsten), gemeinsam mit der Rhetorik, einen spezifischen Status zuerkannt. Um dies verstehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass Aristoteles teleologisch zwei Arten von Vorgängen unterscheidet : solche, die ihr Ziel in sich enthalten, wie Leben, Denken oder Handeln, und solche, die lediglich zu einem Ziel hinführen, wie Abmagern, Lernen oder Bauen. Einen Vorgang der ersten Art nennt Aristoteles energeia, einen Vorgang der zweiten Art kinêsis.227 Für eine kinêsis charakteristisch ist, dass sie genau zu dem Zeitpunkt endet, zu dem der von ihr herbeigeführte Zustand zu sein beginnt ; das Ziel bleibt ihr also äußerlich, während es einer energeia inhäriert, hier ist die Tätigkeit vielmehr selbst das Werk, das sie bezweckt. Die Medizin ist nun als Technik eine kinêsis, die jedoch in ein Wesen eingreift, das als lebendiges selbst die Prozesslogik der energeia aufweist. Sie ist daher nicht eine Technik wie jede andere. Der Arzt ›macht‹ nicht Gesundheit, wie der Tischler einen Tisch herstellt, sondern er unterstützt mit seinen Interventionen die Selbstheilung des erkrankten Körpers. Medizin ist so gesehen Hilfe zur Selbsthilfe. Das Analoge gilt auch für den Redner, der bei seinem Publikum nicht Überzeugung ›macht‹, sondern dessen Denken lediglich anregt.228  Phänomenologie der Übergänge | 83

Die ärztliche technê kann daher, wie Heidegger bemerkt, der »physis nur entgegenkommen, kann die Gesundung mehr oder weniger fördern ; sie kann jedoch als technê niemals die physis ersetzen und selbst an ihre Stelle zur archê der Gesundheit [als solcher] werden. Das träfe nur dann zu, wenn das Leben [als solches] zu einem ›technisch‹ herstellbaren Gemächte würde ; in demselben Augenblick gäbe es auch keine Gesundheit mehr, so wenig wie Geburt und Tod. Bisweilen sieht es so aus, als rase das neuzeitliche Menschentum auf dieses Ziel los : daß der Mensch sich selbst technisch herstelle ; gelingt dies, dann hat der Mensch sich selbst, d. h. sein Wesen als Subjektivität in die Luft gesprengt«.229 Heidegger weist auf die Bedeutung der teleologischen Differenz von Leben und Technik für unser Selbstverständnis als personale Subjekte hin. Und in der Tat setzen Leben und Denken den Techniken der Medizin und der Rhetorik Grenzen, da sie ein Werk nicht einfach produzieren, sondern bei der Werkbildung auf die Kooperation der Selbstorganisation eines organischen bzw. vernünftigen Wesens angewiesen sind. Dort, wo Technik beansprucht, Leben oder Denken selbst herstellen zu können, wird sie notwendigerweise ihr Ziel verfehlen, weil das, was sie hervorbringt, prozesslogisch weder Leben noch Denken sein kann. Die Teleologie von Medizin und Leben einerseits sowie von Rhetorik und Denken/Sprechen andererseits230 führt zu einer Grenze der Mathematisierung : die Person mit ihren eigenen, unveräußerlichen Zielen. Von den beiden Formen der Technisierung durch Artefakte und Apparate einerseits sowie durch Begriffe und Ideen andererseits wirkt letztere auf einer tieferen Ebene von der wissenschaftlichen Theorie auf unser lebensweltliches Selbstverhältnis zurück. Nach Cassirer besteht die Struktur der Technisierung darin, ein Ziel dadurch zu erreichen, dass man von ihm zugunsten der Mittel seiner Herbeiführung absieht. Die Entsagung wird zum Selbstzweck. So ist auch die mathematische Methode der Formalisierung zweifellos ein probates Mittel der wissenschaftlichen Theoriebildung, doch droht sie zum Fetisch zu werden, wenn ihr Mittelcharakter in Vergessenheit gerät. Dass sich nun weder der Heilungs- noch der Überzeugungsprozess  – aller Unterstützung durch Bio- und Informationstechnologie zum Trotz  – automatisieren lässt, rückt wieder den Stellenwert von Zielen in den Mit84 | Kapitel 3 

telpunkt der Betrachtung. Wenn die Technisierung gerade darin besteht, von Zielen abzusehen, dann bedarf es einer eigenen komplementären Tätigkeit, um diese Ziele selbst sowohl ins Verhältnis zueinander zu setzen als auch auf oberste Ziele zu beziehen. Diese Tätigkeit könnte man Besinnung nennen, da sie die dianoetische Seite einer ethischen Tugend bezeichnet, die nach Aristoteles die Mitte (mesotês) hält zwischen der nihilistischen Maßlosigkeit der Mittelverwendung und der asketischen Entsagung vom Genießen : die Besonnenheit.231 Blumenberg hat einmal gesagt, das Ziel der Technik sei Zeitgewinn. Doch sei es nicht immer ausgemacht, »daß die kürzeste Verbindung zweier Punkte auch der humane Weg zwischen ihnen sei«.232 Wer etwa glaubt, man könne der bedrückenden Allianz von Unübersichtlichkeit und Zeitdruck mit Techniken der Professionalisierung, neudeutsch : Kompetenzen, abhelfen, der bekundet seine völlige Ahnungslosigkeit und Atemlosigkeit. Jeder Zeitgewinn, der durch Technik errungen wird, wird durch Technik sogleich wieder aufgebraucht. Daher ist ein eigenes Medium der verzögerten Reaktion nötig, und dieses Medium ist eben die Besinnung : der jeder Abkürzung in die Quere kommende Prozess der Bewusstwerdung, der für uns Menschen lebenswichtig ist. »Der Mensch […] wird sich selbst gegenwärtig, indem er seine Sache vor sich selbst zur Sprache bringt. […] Sprachwerdung ist Humanisierung.«233 Genau darin liegt die Aufgabe der Philosophie : Sie hilft dem Menschen bei seiner Humanisierung, indem sie seine Sache zur Sprache bringt. Nicht obwohl, sondern gerade weil dies zu Verzögerungen im Betriebsablauf führt. Die Philosophie bewahrt vor naturalistischen Fehlschlüssen wie dem von der mathematischen Naturbeschreibung auf eine an sich mathematisch verfasste Natur. Ihr Beitrag zur Humanisierung besteht in der Rücknahme der Naturalisierung des von Menschen Gemachten und insofern Geschichtlichen. Sie erinnert an verdrängte Übergänge.

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K APITEL 4 Exkurs : Kant und die Außerirdischen »Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht.« Edmund Husserl (1934)234

Kant spekuliert im dritten Teil seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) über die »Bewohner der Gestirne«. Als Motto für diese kosmologische Spekulation wählt er, wohl nicht ohne Augenzwinkern, eine Passage aus Alexander Popes Essay on Man, in der die große Kette der Wesen (the great chain of being) auf die Vielheit der Welten ausgedehnt wird : »He, who thro’ vast immensity can pierce, / See worlds on worlds compose one universe, / Observe how system into system runs, / What other planets circle other suns, / What vary’d being peoples ev’ry star, / May tell, why Heav’n has made us as we are.«235 Kant ist der Meinung, dass zwar nicht notwendigerweise alle Planeten bewohnt sein müssten, hält es aber für eine »Ungereimtheit«, dies »in Ansehung aller, oder auch nur der meisten zu leugnen«. Denn das Gegenteil widerspreche ganz und gar dem »Zwecke der Natur, nämlich der Betrachtung vernünftiger Wesen«.236 Dieses Argument, das wir das Beobachterargument nennen kön­nen, ist neben dem Analogieargument, auf das ich gleich zu sprechen kommen werde, eine typische Begründungsfigur des physikotheologischen Zeitalters : Welchen Nutzen hätte es, ein so großes und vielfältiges Universum mit so vielen erdähnlichen Himmelskörpern zu erschaffen, wenn es niemanden gäbe, der in seiner Wohlgeordnetheit und Schönheit die Weisheit des Schöpfers zu preisen imstande wäre ? Da selbst die besten Teleskope dem Umfang des für uns Sichtbaren Grenzen setzen, muss es andere Zuschauer geben, die das dem menschlichen Betrachter Unsichtbare des Weltbaus sehen. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht in Zukunft – so mag   87

auch unsere Erde schon »tausend oder mehr Jahre vorhanden gewesen sein, ehe sie sich in Verfassung befunden hat, Menschen, Thiere und Gewächse unterhalten zu können«.237 Kant denkt naturgeschichtlich : Die Weltbetrachter müssen nicht alle zur selben Zeit ihren jeweiligen Posten beziehen, auf dem sie wie der Türmer Lynkeus den Gesang anstimmen, »Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt« zu sein.238 Freilich gibt es in einem aus vielen Welten zusammengesetzten Universum keinen privilegierten Standpunkt mehr. Die erst spät als solche empfundene Kopernikanische Kränkung, die schon Fontenelle als heilsame Demütigung der menschlichen Eitelkeit ansieht, weist den kosmologischen Narzissmus auch bei Kant in seine Schranken : »Die Unendlichkeit der Schöpfung faßt alle Naturen, die ihr überschwenglicher Reichthum hervorbringt, mit gleicher Nothwendigkeit in sich.«239 Unter der Voraussetzung, dass die meisten Planeten bewohnt sind oder es irgendwann sein werden, macht sich Kant daran, Mutmaßungen über das Wesen der Bewohner anderer Planeten anzustellen. Dabei greift er auf das seinerzeit weit verbreitete Analogieargument zurück, das von dem Verhältnis zweier bekannter Gegenstände das Verhältnis zwischen einem weiteren bekannten und einem unbekannten Objekt herleitet. Im vorliegenden Fall schließt Kant zunächst von unserer Belebung durch die Sonneneinstrahlung auf die leibliche Beschaffenheit der Außerirdischen und sodann auf ihre geistigen Fähigkeiten, indem er unsere eigene Leib-Seele-Relation zugrunde legt. Für den ersten Zusammenhang ergibt sich, dass die Leiber der Be­wohner der sonnenfernen Planeten Jupiter und Saturn aus einem leichteren und feineren Stoff bestehen müssen als die der Menschen, »damit die geringe Regung, womit die Sonne in diesem Abstande wirken kann, diese Maschinen eben so kräftig bewegen könne, als sie es in den unteren Gegenden verrichtet«.240 Wenn aber ihre Nervenfasern elastischer als die unsrigen sind und sie selbst nicht unter derselben Trägheit ihres Körpers ächzen wie wir, dann wird ihre geistige Regsamkeit vermutlich größer als die unsrige sein. Die »Trefflichkeit der denkenden Naturen, die Hurtigkeit in ihren Vorstellungen, die Deutlichkeit und Lebhaftigkeit der Begriffe, die sie durch äußerlichen Eindruck bekommen, samt dem Vermögen, sie zusammen zu setzen, endlich auch die Behendigkeit in der wirk­ 88 | Kapitel 4 

lichen Ausübung, kurz, der ganze Umfang ihrer Vollkommenheit« steht »unter einer gewissen Regel«, nach der die Planetenbewohner im »Verhältniß des Abstandes ihrer Wohnplätze von der Sonne immer trefflicher und vollkommener werden«.241 Diese Regel harmoniert zudem mit den sehr unterschiedlichen Rotationsperioden der Planeten : Während ein Tag auf dem Jupiter und dem Saturn jeweils bloß zehn Stunden dauert, auf Erde und Mars hingegen ungefähr 24 Stunden anhält, drehen sich Merkur und Venus in über 58 bzw. 116 Erdentagen nur einmal um die eigene Achse. So reichen dem hurtigen Jupiterbewohner fünf Stunden für das, was uns trägere Menschen zwölf Stunden beschäftigt. Von den indolenten kosmischen Nachbarn auf Merkur und Venus ganz zu schweigen. Aus alledem ergibt sich das folgende Bild : Sowohl die leibliche als auch die geistige Vortrefflichkeit der Bewohner nimmt von Merkur bis Saturn zu und in umgekehrter Richtung ab. Der Mensch hat »in der Leiter der Wesen gleichsam die mittelste Sprosse inne«242 – zusammen mit den Marsianern, die unter ähnlichen Bedingungen wie wir ihr Leben führen müssen. Jupiter und Saturn besetzen die höheren, Merkur und Venus die unteren Sprossen (die Planeten Uranus und Neptun sollten erst 1781 bzw. 1846 entdeckt werden). »Welch ein verwunderungswürdiger Anblick !« ruft der Philosoph aus : »Von der einen Seite sahen wir denkende Geschöpfe, bei denen ein Grönländer oder Hottentotte ein Newton sein würde ; und auf der andern Seite andere, die diesen als einen Affen bewundern.«243 Die Beantwortung der Frage, welche Auswirkungen die dezentrierte planetarische Mittelstellung für die moralische Beschaffenheit der Erdenbewohner zwischen den sonnenferneren Wesen einerseits und den sonnennäheren andererseits hat, überlässt Kant dem geneigten Leser. Nur drei Jahre zuvor veröffentliche Voltaire seine satirische Erzählung Micromégas (1752), die davon handelt, dass ein Bewohner des Siriussystems in Gesellschaft eines Saturnianers der Erde am 5. Juli 1737 einen Besuch abstattet. Die beiden sind etwa 4000mal bzw. 1200mal so groß wie ein Mensch, werden um ähnlich große Faktoren älter und verfügen außerdem über viel mehr als nur unsere fünf Sin­ne (nämlich etwa 1000 im Falle des Sirianers und 72 beim Saturnia­ner). Nach ihrer Ankunft entnehmen sie der Ostsee ein Schiff mit Entdeckern und Philosophen, die sie allerdings erst  Exkurs : Kant und die Außerirdischen | 89

mit Hilfe eines Mikroskops erkennen. Der Name ›Micromégas‹ spielt also nicht nur auf die Größe des Fremden an, sondern verweist auch auf die Instrumente, durch die man das Unsichtbare in Makro- und Mikrokosmos zu erforschen in der Lage ist : Teleskop und Mikroskop, die beide um 1600 erfunden werden. Zuerst halten die beiden Besucher die Schiffsmannschaft für vernunftlose »Maden«, bis sie bemerken, dass die »denkenden Atome« unter­einander kommunizieren. Schließlich gelingt es ihnen sogar, mit einer entsprechenden Vorrichtung den Erstkontakt herzustellen. Sie staunen über die Fähigkeit der Menschen, die Riesen zu vermessen. Maße spielen in der gesamten Erzählung eine wesentliche Rolle : Das Vermögen zu messen gilt als wesentlicher Ausweis von Intelligenz. Als jedoch einer der an Bord befindlichen Philosophen mit Thomas von Aquin dafür argumentiert, dass alles im Universum nur für den Menschen gemacht sei, geraten die beiden Reisenden vor Lachen so aus dem Gleichgewicht, dass das Schiff vom Nagel des einen in die Hosentasche des andern fällt und sich erst nach einiger Zeit wieder auffinden lässt. Verblüfft darüber, dass »unendlich kleine Wesen« einen nahezu »unendlich großen Hochmuth« besitzen, setzen sie das Gespräch noch eine Weile fort, bis sie sich verabschieden und wieder auf die Reise machen.244 Die Vermessung des Makrokosmos mit Hilfe des Teleskops, die ja auch Kants Überlegungen erst möglich macht (ohne Einsatz dieses Werkzeugs wüssten wir weder die Abstände der Planeten von der Sonne noch ihre Rotationsperioden), verführt Christian Wolff im dritten Band seiner Elementa matheseos universae (1735) dazu, die Körpergröße der Jupiterbewohner zu berechnen. Er geht von der Größe der menschlichen Pupille und der Intensität der Sonneneinstrahlung auf der Erde sowie von dem Größenverhältnis zwischen Auge und Körper beim Menschen aus und ermittelt per analogiam mittels der Entfernung des Jupiters von der Sonne die Größe seiner Einwohner. Legt man den dort zu erwartenden niedrigeren Sonnenlichteintrag zugrunde, kommt man nach Wolffs mathematischer Methode auf eine Körpergröße der Jovicolae von etwa vier Metern.245 Eine solche Berechnung, sosehr sie uns auch amüsieren mag, fußt auf ganz ernsthaften Messungen, wie sie im 17. Jahrhundert etwa Christiaan Huygens durchgeführt hat. Mit dem von ihm ver90 | Kapitel 4 

besserten Teleskop entdeckt er 1655 Titan, den ersten überhaupt nachgewiesenen Saturnmond ; er interpretiert die merkwürdigen ›Ausbuch­tungen‹ des Saturns richtig als Ringe ; er entdeckt die Rotationsbewegung des Mars und berechnet die Dauer eines Marstages. Schließlich äußert er die Vermutung, dass die Fixsterne andere Sonnen seien, um die mit einiger Wahrscheinlichkeit auch andere Planeten kreisen. All dies veranlasst Huygens’ letztes Werk, den erst postum erschienenen ΚΟΣΜΟΘΕΩΡΟΣ , sive de terris coelestibus, earumque ornatu conjecturae (1698). Der Titel ist Programm : Der Weltbeschauer blickt in den Himmel und sieht dort andere Erden (terrae coelestis), über deren Ausstattung (ornatus) mit Lebensformen er Mutmaßungen (conjecturae) anstellt. Indem er auf diese Weise seinen Blick von unten nach oben richtet, lenkt er ihn zugleich von dem extraterrestrischen Punkt wieder zurück auf unsere Heimat, die jetzt nur noch eine unter vielen Erden ist. Die Erde gehört »unter die Planeten« und ist »an Würde und Zierde nicht vortreflicher […] als die übrigen«.246 Damit teilt Huygens Fontenelles Dankbarkeit gegenüber Kopernikus, weil dieser »die Eitelkeit der Menschen gedemütigt hat, die sich an den schönsten Ort des Weltalls gestellt hatten«. Auch empfindet er wohl dasselbe »Vergnügen, daß die Erde gegenwärtig zur Menge der Planeten gehört«.247 Bei Huygens ist ganz in diesem Sinn vom Stolz und der Eigenliebe der Menschen die Rede, die sie dazu bringt, wissenschaftlich denkende Weltbeschauer auf anderen Planeten zu leugnen. Mehr als zwei Jahrhunderte später wird Freud die Ahnenreihe, die Kopernikus begründet hat, mit Darwin und sich selbst fortsetzen. Huygens wendet bei seinen Mutmaßungen dieselben beiden Prinzipien wie nach ihm Kant an : den Analogieschluss und das Beobachterargument. Das Denken in Analogien lässt ihn – unter der Prämisse der Gleichförmigkeit des Naturverlaufs – im Sichtbaren das Unsichtbare ahnen. Ganz so, wie Galilei von der Bewegung der Jupitermonde um den Jupiter auf die Bewegung der Erde um die Sonne geschlossen hat, geht Huygens von der in Teleskopen sichtbaren Oberflächenbeschaffenheit des Mondes und der anderen Himmelskörper unseres Sonnensystems aus, die eine Topographie von Tälern und Bergen (manche ›sahen‹ gar Flüsse und Ozeane) zeigt, und setzt sie ins Verhältnis zur Erdoberfläche. Wo nun die  Exkurs : Kant und die Außerirdischen | 91

extraterrestrische Topographie der irdischen hinreichend ähnlich ist, sieht Huygens zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit für Vegetation und Fauna gegeben. Durch das Analogieverfahren schließt er vom (im Teleskop) Sichtbaren auf das Unsichtbare (Vegetation und Fauna) – um in einem zweiten Schritt das für uns Unsichtbare in ein für andere Sichtbares zu transformieren. Das Beobachterargument führt er an, um die Wahrscheinlichkeit vernunftbegabter Geschöpfe (die gleichwohl keine Menschen sind) zu demonstrieren, die den Himmel von ihrem Weltwinkel aus betrachten. Was wäre der ganze Schmuck (Schmuck ist eine Bedeutung von kosmos) ohne Beobachter ? Denn wir können ihn ja nur in einem kleinen Ausschnitt wahrnehmen. Die ganze restliche Fülle wäre also umsonst, »ohne Zweck und Ueberlegung […] angebracht worden«, gäbe es nicht auch jemanden Anderen, »der die Schönheit dieser Dinge erkennete, sie genösse, und die Weisheit ihres großen Urhebers bewundern könnte«.248 Huygens erweitert das Beobachterargument allerdings um einen entscheidenden Aspekt : Wir dürfen uns selbst »und unsere Sachen nicht für besser halten«.249 Es ist nicht nur unwahrscheinlich, dass wir die einzigen Beobachter sind – unser Standpunkt zeichnet sich durch nichts von einem beliebigen anderen aus. Hier spricht ein Suprakopernikaner, der nicht bloß die Erde, sondern auch die Sonne aus dem Mittelpunkt des Universums rückt. Und Huygens geht noch weiter : »Denn was wäre die bloße Beschauung dieser Dinge, ohne die Wissenschaften ?«250 Daher sind die Weltbeschauer auf anderen Planeten aller Wahrscheinlichkeit nach Kosmologen. Die Welt ist geschaffen, um geschaut, vermessen und erklärt zu werden. Keine Astronomie, keine Wissenschaft aber ohne Technik (Beobachtungs- und Messinstrumente). In dieser Hinsicht wird die Vernunft der Außerirdischen der unseren ähnlich sein, sie werden auch schriftkundig sein müssen, und weil die Mathematik überall gleich wahr ist, können sie ebenfalls im Buch der Natur lesen, das Galilei zufolge in geometrischen Figuren verfasst ist. Die Bewohner der himmlischen Erden sind nicht allein Sternbeschauer, sondern Sternkundler, und Huygens macht sehr deutlich, was den Kundigen vom Schauenden unterscheidet, nämlich der Einsatz mechanischer Instrumente, Mess- und Berechnungsverfahren. Der Kosmotheoros ist ein technitês. Nur derjenige 92 | Kapitel 4 

kann wirklich etwas über die Welt herausfinden, der (z. B. Teleskop und Mikroskop) zu erfinden imstande ist. Bernard Le Bovier de Fontenelles Gespräche über die Vielzahl der Welten (1686) zwischen einem Gelehrten und einer vornehmen Dame variieren den Gegenstand auf ihre Weise, indem sie im Titel nicht die Erde (wie Huygens), sondern die Welt in den Plural setzen. Der Gedanke ist hier jedoch derselbe und lässt sich als ein Dreischritt beschreiben : Am Anfang steht die Planetarisierung der Erde (die Erde ist ein Planet, ein ›Wandelstern‹), die im Umkehrschluss eine Terranisierung der Planeten motiviert. Beherbergen diese nun Zuschauer (Weltbeschauer), dann führt dies zur Pluralisierung der Welt. Jeder bewohnte Planet ist eine Welt für seine Bewohner. Gerade das Wohnen führt die Vielheit herbei. Nur der kennte die eine Welt, der nicht zugleich ihr Bewohner wäre : »Man müßte einfach ein Beobachter der Welt und nicht ihr Bewohner sein.« Wir nehmen »immer einen ungünstigen Standpunkt ein. Wir wollen über uns urteilen, und wir sind uns selbst zu nahe ; wir wollen über die anderen urteilen, und wir sind zu weit von ihnen entfernt.«251 Da Fontenelles Text den uns inzwischen wohlbekannten Geist des Analogiedenkens und des Beobachterarguments atmet, möchte ich nur eine Formulierung aufnehmen (übrigens kommt Fontenelle bei seiner Betrachtung der Planetenbewohner zum genau entgegengesetzten Ergebnis wie Kant, sind ihm doch die Merkurianer die lebhaftesten, die Saturnianer hingegen die trägsten Kreaturen) : Von den Gelehrten heißt es an einer Stelle, dass sie »täglich mit Fernrohren«252 zum Mond reisen. Auch wenn es uns technisch unmöglich ist, leibhaft die Reise durch das All anzutreten, können wir uns immerhin eines anderen Vehikels bedienen. Und so reisen auch die beiden Gesprächspartner in ihrem ko(s)mischen Flirt sozusagen huckepack auf einem Teleskop. Dieses Fortbewegungsmittel führt zur letzten Station dieses kurzen Exkurses in die Geschichte der Astronomie. Wir begeben uns nach Florenz in das Jahr 1587, genauer an die Accademia Fiorentina, wo der 23 Jahre junge Galilei – gute 20 Jahre bevor er erstmalig das von ihm verbesserte Fernrohr für astronomische Beobachtungen einsetzt – über Dantes Inferno referiert. Er interpretiert den Text weder theologisch noch poetologisch, weder historisch noch politisch – Galilei betätigt sich vielmehr als Landvermesser  Exkurs : Kant und die Außerirdischen | 93

und doziert über Lage, Form sowie Ausmaße der von Dante beschriebenen Höllenregionen. Akribisch berechnet er aufgrund der im Text gemachten Angaben, dass die Ebenen der Böswilligen, die sogenannte innere Hölle (beginnend mit dem 6. Höllenkreis) vom neunten Höllenkreis, in dessen ewigem Eis Dante die Verräter leiden lässt, 81,5 Meilen entfernt sind. Selbst die Größe Luzifers, der im Erdmittelpunkt feststeckt und dort die Erzverräter Judas Ischariot, Brutus und Cassius immer wieder aufs Neue zermalmt, berechnet Galilei. Demnach verhält sich die Größe Dantes zu derjenigen Satans wie 3 zu 44. Durs Grünbein hat dieses Procedere sehr treffend auf den Punkt gebracht : »Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen«. Wie ein Emblem prangt jene Rede vor der Florentiner Akademie über einer neuen Epoche. »Den Jüngern Galileis genügt der exakte Flurplan, sie treffen sich vorm Katasteramt wieder. […] Ihr neuer Höllenführer heißt Galilei. Er hat den Platz Vergils eingenommen und sein Herz an die Maße gehängt.«253 Das Herz des neuzeitlichen Physikers hängt an den Maßen. Die Quantifizierung ist sein Purgatorio, die Divina Commedia legt er aus der Hand, damit er freie Sicht für das Buch der Natur hat. Der Blick aber geht nach oben, in den Himmel, der kein Empyreum mehr birgt. Um ihn zu vermessen, bedarf es mehr als aufmerksamer Lektüre – der Himmelsstürmer muss werktätig werden und Linsen schleifen. In der Erfindung des Teleskops erkennt Hannah Arendt neben der Entdeckung Amerikas und der Reformation eines der drei großen Ereignisse, die an der Schwelle der Neuzeit stehen und die »Physiognomie ihrer Jahrhunderte« bestimmen.254 Nachdem die Barriere zwischen sublunarer und supralunarer Welt gefallen und aus dem Kosmos ein Universum geworden ist, in dem überall dieselben Naturgesetze walten, wird der Weg frei für die exzentrische Beobachtung. Der mit dem Teleskop bewaffnete und zum Himmel emporblickende Astronom hat den »archimedischen Punkt« gefunden, um die Erde aus ihrer Verankerung in der Mitte der Welt zu heben. Der Hebel aber ist das Fernrohr selbst. Nun kann der Erfinderentdecker von einem beliebigen extraterrestrischen Ort aus – z. B. vom Jupiter – auf die Erde schauen und sie als einen Planeten unter Planeten identifizieren. Der Weg wird außerdem frei für ein

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weitgespanntes Analogiedenken : Wie auf Erden, so im Himmel. Und im Himmel weitere Erden. Die Erde ist nach Huygens »an Würde und Zierde nicht vortreflicher […] als die übrigen« Himmelskörper.255 »Erdentfremdung«256 lautet der Begriff, den Arendt dafür verwendet, und er benennt auch das Motiv, welches sich durch die Spekulationen über die Bewohner der Gestirne zieht. Es geht nicht darum, wie ernst oder satirisch die Erwägungen Kants, Voltaires, Wolffs, Huygens’ und Fontenelles gemeint sein mögen – indem sie in die Augen fremder Wesen schauen, blickt nur die eigene Fremdheit zurück. Wir sind zu »Weltallbewohnern«257 geworden, die ihren eigenen Sinnen lediglich so weit trauen können, wie sie die primären Qualitäten, also mathematisch formalisierbaren Eigenschaften der Gegenstände mitteilen. Alles andere ist zweifelhaft. Diese Kritik der sinnlichen Wahrnehmung ist gleichsam das Palimpsest, auf das jene Digressionen aufgetragen sind, wie viele Sinne die Planetenbewohner wohl besitzen mögen. Als beobachterinvariant und insofern universell darf nur der Sinnesapparat gelten, der zu messen erlaubt – jeder andere Sinn ist fragwürdig und deshalb sekundär. Mit der Erde hat sich auch der Beobachter zu bewegen begonnen. Und in dieser Bewegung, die er durch seinen eigenen Erfindungsreichtum und sein Herz für Maße in Gang gesetzt hat, gibt es kein Halten mehr. Schließlich werden auch raumzeitliche Anschauung und Verstand von der Kopernikanischen Wende, die eigentlich eine Galileische Wende ist, erfasst. So schreibt der kritische Kant in der Transzendentalen Ästhetik, dass wir »nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen etc. reden« können. »Denn wir können von den Anschauungen anderer denkenden Wesen gar nicht urtheilen, ob sie an die nämlichen Bedingungen gebunden seien, welche unsere Anschauung einschränken und für uns allgemein gültig sind.«258 Und in einem Brief an Marcus Herz vom 26. Mai 1789 heißt es : »wir können aber allen Verstand nur durch unseren Verstand und so auch alle Anschauung nur durch die unsrige beurtheilen.«259 Selbst wenn der bestirnte Himmel über mir von anderen intelligenten Lebensformen bevölkert ist, erkenne ich in ihrer Intelligenz nur die eigene. Und diese Erkenntnis kann schon ernüchternd genug sein.

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K APITEL 5 Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie »Man mag also die ursächliche Methode noch so hoch bewerten, sie bedarf zu ihrer Ergänzung und Unterbauung der urbildlichen Behandlungsart, wenn anders die Biologie, statt sich einer einseitigen theoretischen Forderung zu verschreiben, den Blick für die Totalität ihres Objektes offen zu halten willens ist.« Wilhelm Troll/Lothar Wolf : Goethes morphologischer Auftrag (1940)260

Formbeschreibung und Kausalerklärung

»Wann sagt man von einem Stück Materie, es lebe ?«261 Mit dieser Frage wendet sich der Physiker Erwin Schrödinger 1943 an sein Publikum am Institute for Advanced Studies in Dublin. Zehn Jahre zuvor hatte er den Physik-Nobelpreis für seine Arbeiten zur Quantenmechanik erhalten, nun widmet er sich also den Grundlagen der Biologie. Was ist Leben ? (What is Life ?) heißt die Schrift, die aus jenen Dubliner Vorträgen hervorgegangen und 1944 in erster Auflage erschienen ist. Dass diese Frage so prononciert nicht von einem Biologen, sondern von einem Physiker gestellt wurde, wirft ein Licht auf die Anfänge der modernen Biologie, an deren Begründung Physiker maßgeblich beteiligt waren. Zu nennen wäre zunächst Max Delbrück, der als Physiker 1969 (zusammen mit Hershey und Luria) mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für seine Erforschung der Vermehrungsmechanismen genetischer Strukturen bei Viren ausgezeichnet wurde. George Gamov, Theoretischer Physiker und Kosmologe, gründete 1954 gemeinsam mit James Watson den RNA-Krawatten-Club, dem unter anderen auch Richard Feynman angehörte. Ziel dieser ein wenig skurrilen Forschergruppe war die   97

Lösung des sogenannten Codierungsproblems ; dabei geht es um die Bildung von Proteinen aus Aminosäuren nach den Nukleotidsequenzen der RNA. Watson hatte mit Francis Crick, einem weiteren Mitglied in Gamovs RNA-Krawatten-Club und ebenfalls Physiker, 1953 die Doppelhelixstruktur der DNA präsentiert (Nobelpreis 1962), die für das Verständnis der Vererbungsprozesse und die Interpretation des ›genetischen Codes‹ von entscheidender Bedeutung ist. Der Begriff ›genetischer Code‹ geht wiederum auf Schrödinger zurück, den dieser in seinen Dubliner Vorträgen erstmals einführt. In Chromosomen, so Schrödingers Formulierung, »ist in einer Art Code das vollständige Muster der zukünftigen Entwicklung des Individuums und seines Funktionierens im Reifezustand enthalten«.262 Als Vorbild dient der Morsecode : Einer Serie von Morsezeichen entspricht eine Anordnung von Molekülen auf einem Chromosomabschnitt ; der übertragenen Nachricht entspricht die Bildung bestimmter Zellstrukturen. Schrödinger hat freilich noch nicht die Synthese von Aminosäuren im Blick. Aber die Übertragung sprachlicher Vorgänge auf biochemische Prozesse ist mit dem Codemodell angebahnt. Sie prägt die Objektsprache der Molekulargenetik bis heute, man denke nur an die Rede von Translation und Transkription, von Bote (mRNA) und Expression, von Kopieren und Entschlüsseln. Der Begriff der Erbinformation hat eine Selbstverständlichkeit erlangt, die nahelegt, Moleküle würden tatsächlich Informationen aneinander weitergeben. Der Begriff der Information gestattet allerdings, so ist kritisch anzumerken, nur dort rechtmäßige Verwendung, wo es um die Weitergabe von Sinnstrukturen geht : Informationen können wahr oder falsch sein, chemische Strukturen nicht ; Informanten können irren, Moleküle nicht. Auch wenn Schrödinger selbst nicht von genetischer Information spricht, führt seine Antwort auf die von ihm gestellte Frage genau an die Grenze, an der nur wenige Jahre später Shannon in formaler Analogie zur physikalischen Energieentropie den Informationsgehalt einer Nachricht mathematisch bestimmt (siehe Kap. 3). Um es so kurz und einfach wie möglich zu machen : Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der sogenannte Entropiesatz, beschreibt, dass eine kalte Tasse Tee nicht ohne äußere Energiezufuhr wieder heiß wird. Wenn man Wärme als Bewegung von Materieteilchen auffasst, dann besagt der Entropiesatz, dass ein geschlossenes 98 | Kapitel 5 

thermodynamisches System in the long run zu einem unbewegten Gleichgewichtszustand tendiert. Ein Organismus erscheint Schrödinger »deshalb so rätselhaft, weil er sich dem raschen Verfall in« diesen »unbewegten ›Gleichgewichtszu­stand‹ entzieht«.263 Und das bewerkstelligt er, »indem er seiner Umwelt fortwährend Entropie entzieht«.264 Lebende Materie ernährt sich von ›negativer Entropie‹. Auch Shannons Informationsentropie hat ein negatives Vorzeichen. Der Weg zur Modellierung des organischen Lebens als Genese von Information ist von hier aus kurz. »Der Kunstgriff, mittels dessen ein Organismus sich stationär auf einer ziemlich hohen Ordnungsstufe (einer ziemlich tiefen Entropiestufe) hält, besteht in Wirklichkeit aus einem fortwährenden ›Aufsaugen‹ von Ordnung aus seiner Umwelt.«265 Indem Schrödinger dieses ›Aufsaugen von Ordnung‹ mathematisch mittels des Boltzmann-Formalismus (mit einem Minus davor) auffasst, bereitet er, ohne es zu wissen, die Beschreibung des Lebens in Begriffen der Informatik vor. Leben, so können wir Schrödingers Antwort zusammenfassen, ist Aufrechterhaltung von Ordnung durch genetische Strukturen auf molekularer Ebene. »Die erstaunliche Gabe eines Organismus, […] aus einer geeigneten Umwelt ›Ordnung zu trinken‹, scheint mit der Anwesenheit […] der Chromosomenmoleküle zusammenzuhängen, die zweifellos den höchsten uns bekannten Ordnungsgrad von Atomverbindungen zeigen. […] Wir nehmen also wahr, daß eine waltende Ordnung die Kraft besitzt, sich selbst zu erhalten und geordnete Vorgänge hervorzurufen.«266 Dass »eine kleine, aber hochorganisierte Atomgruppe fähig ist, in dieser Weise zu wirken«, ist ein einmaliger Tatbestand, »der ausschließlich bei der lebenden Substanz vorkommt«.267 Damit hat Schrödinger einen Weg gefunden, die Biologie methodisch an die Physik anzuschließen. Die Beschreibung von Prozessen, die im Organismus ablaufen, lässt sich in die Sprache der Physik (Thermodynamik und Atomphysik) übersetzen. Es bedarf nach diesem Modell keiner neuen, nicht-physikalischen Gesetze, um Leben zu erklären. Heißt das aber, dass die Antwort auf die Frage, was das Leben sei, selbst von der Physik gegeben werden kann ? Jede Erklärung besteht aus zwei Teilen : der zu erklärenden Sache (explanandum) und den erklärenden Aussagen (explanans). Das Explanandum hat gegenüber dem Explanans im Erkenntnis Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie  | 99

prozess den methodischen Primat : Das zu Erklärende ist logisch früher als das Ensemble erklärender Aussagen. So ist auch Schrödingers Hypothese von den ordnungsstiftenden Chromosomen abhängig von einer Formbeschreibung des Lebendigen : Der Organismus ›ernährt sich‹ von Ordnung, ›trinkt‹ Ordnung. Sowohl die Tätigkeit der Aufrechterhaltung von Ordnung durch Stoffwechsel mit der Umwelt als auch die Unterscheidung von Ordnung und Unordnung selbst sind vorphysikalische Begriffe, die in die physikalische Erklärung investiert werden müssen. Anders gesagt, über die Frage, wann wir von ›einem Stück Materie sagen, es lebe‹, muss vorphysikalisch schon entschieden sein, um sie physikalisch durch entsprechende Faktoren auf molekularer Ebene beantworten zu können. Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, die von Schrödinger beschriebene negative Entropie würde sich auch an Materie nachweisen lassen, die nicht das Verhalten zeigt, wie es für Lebewesen charakteristisch ist. Dann würden wir wohl sagen, dass Leben physikalisch betrachtet nur ein Fall von Entropieentzug sei. Die weiteren Überlegungen sind geleitet von dem Qualitäts­unter­ schied zwischen Kausalerklärung und Formbeschreibung des Lebens. Es geht nicht um die Möglichkeit, Lebensvorgänge mittels physikalischer Theorien zu erklären, sondern um die eigene Aufgabe einer Beschreibung der lebendigen Form. Unter der lebendigen Form verstehe ich die dynamische Einheitsgestalt in der raumzeitlichen Erscheinung eines lebendigen Körpers, also dasjenige, was den erscheinungsmäßigen Unterschied zwischen unbelebtem Stoff und einem Lebewesen ausmacht. Meine These lautet, dass die Erscheinung des lebendigen Körpers gegenüber seiner Kausalanalyse autonom ist. Belebte Materie unterscheidet sich von unbelebter Materie nicht naturgesetzlich, sondern dadurch, wie sie in Erscheinung tritt. Die Erscheinung des Lebendigen muss von seiner Kausalerklärung methodisch immer schon vorausgesetzt werden. Die lebendige Form besitzt daher den erkenntnislogischen Primat gegenüber dem belebten Stück Materie.

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Zur Logik der lebendigen Form und der Lebenswissenschaften

Niemand versucht ernsthaft, sich in einen Stein zu versetzen, wohl kommt es aber vor, dass wir versuchen, uns in ein Tier versetzen zu wollen.268 Natürlich wissen wir nicht – um eine bekannte Formulierung aufzugreifen –, wie es ist, beispielsweise eine Fledermaus zu sein.269 Aber sie liefert uns durch ihr Verhalten genügend Anhaltspunkte, um Bedürfnisse zu erkennen, die die Fledermaus in ihrer Umwelt zu stillen versucht. Ihre Bewegungen sind nicht – wie bei einem Stein – das bloße Resultat auf sie einwirkender Kräfte, sondern auf Ziele gerichtet. Sie umfliegt Hindernisse und erhascht Beute. Am Tag und im Winter ruht sie ; erst bei einer bestimmten Temperatur und wenn Insekten umherschwirren, wird sie aktiv. Gewisse Frequenzen im Ultraschallbereich stören ihre Wahrnehmung, bei der die Echoortung eine wichtige Rolle spielt. Kurz, die Fledermaus steht in einer Beziehung zu ihrer Umwelt, die von dem Verhältnis des Steins zu seiner Umgebung so grundverschieden ist, dass die Frage, wie es wohl ist, eine Fledermaus zu sein, überhaupt sinnvoll wird. Und auch wenn wir eine Antwort nur um den Preis zu geben in der Lage wären, dass wir aufhörten, Menschen zu sein (und somit auch keine sprachliche Antwort mehr geben könnten), überwiegen – verglichen mit dem Stein – die generischen Gemeinsamkeiten die spezifischen Unterschiede. Lebendige Körper sind also durch ein Umweltverhältnis charakterisiert, das unbelebten Körpern fehlt. Diese Differenz macht sich auch in der Sprache bemerkbar. Um Zustände, Zustandsänderungen und Relationen in der Sphäre unbelebter Objekte zu beschreiben, verwenden wir häufiger Metaphern, die wir aus der Sphäre belebter Körper entnehmen. So ist es keineswegs metaphorisch, von einem hungrigen oder satten Hund, wohl aber (in der Chemie) von einer gesättigten Lösung zu sprechen. Das Gleiche gilt für die Aussagen, dass in einem thermodynamisch geschlossenen System alle Zustände ein Gleichgewicht ›anstreben‹, dass ein Elektron ›Freiheitsgrade‹ besitzt oder dass die Erde auf einer stabilen Umlaufbahn um die Sonne ›verharrt‹. Von all den Akteursbildungen, die uns täglich über die Lippen gehen, ganz zu schweigen : ›die Natur‹, ›die Evolution‹, ›der Markt‹, ›die Politik‹ … und nicht zuletzt auch ›das Leben‹. Wir sprechen öfter so, als handelte es sich bei ihm um  Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie  | 101

eine eigene Macht, eine Art Metasubjekt mit eigenen Intentionen. Doch sollten wir vorsichtig sein und den lebendigen Körper von der lebendigen Form unterscheiden, die diesen Körper gegen andere, unbelebte Körper abgrenzt. Eine Form handelt oder verhält sich nicht, ein Körper schon. Die ›lebendige Form‹, also das, was einen lebendigen Körper erscheinungsmäßig von einem unbelebten unterscheidet, leitet unser Reden über Objekte und Objektrelationen – und zwar auch dort, wo wir unbelebte Dinge beschreiben ; dann wird die lebendige Form zu einer Metapher. Die genaue Erfassung der lebendigen Form möchte ich ›Logik‹ nennen, weil es um eine Rede bzw. ein Sprachspiel geht, die bzw. das über sich selbst aufgeklärt werden soll. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Logik der lebendigen Form (Plessner270) einer Logik der Lebenswissenschaften vorgeordnet ist. Denn die Unterscheidung zwischen lebendigen und unbelebten Körpern ist ja keineswegs eine wissenschaftlich gemachte, sondern geht vielmehr in die wissenschaftliche Untersuchung immer schon ein. Die angesprochene Eigenart lebendiger Körper – eben dass wir überhaupt sinnvollerweise versuchen können, uns in ein Tier, nicht aber, uns in einen Stein zu versetzen – überträgt sich deshalb auf die Disziplinen, die sich mit lebendigen Körpern beschäftigen, wie Biologie, Medizin und Psychologie. Das Schlagwort, das immer wieder gerne angeführt wird, um die Widerständigkeit des Gegenstandes der Lebenswissenschaften gegen die Reduktion auf unbelebte Strukturen und Gesetze hervorzuheben, heißt ›Emergenz‹ (siehe Kap. 8). Begriffsgeschichtlich im 19. Jahrhundert beheimatet und der Sache nach von John Stuart Mill vorbereitet, kam dieser Ausdruck in Gebrauch, um den Übergang von der Physik zur Chemie zu bezeichnen. Man unterschied resultante von emergenten Eigenschaften eines Stoffs, die sich an dem einfachen Beispiel von Wasser erläutern lassen : Die Masse von Wasser resultiert aus der Zusammenfügung der entsprechenden Teile Sauerstoff und Wasserstoff. Dass Wasser aber bei einer Temperatur unter Null Grad Celsius fest ist, darüber flüssig wird und jenseits von hundert Grad in den gasförmigen Zustand übergeht, lässt sich aus den Eigenschaften von Sauerstoff und Wasserstoff nicht ableiten. Deshalb sprach man davon, dass diese Besonderheiten ›emergieren‹, das heißt unerklärlicherweise auftreten. Die Emergenzhypothese galt so lange, bis mit 102 | Kapitel 5 

Hilfe der Quantenmechanik erklärbar wurde, was zuvor unerklärlich war. Mit der Quantenphysik erlebte der vor allem von britischen Forschern geprägte ›Emergentismus‹ dem Wissenschaftsphilosophen Brian P. McLaughlin zufolge einen Niedergang, bevor er seit den 1980er und 1990er Jahren eine Renaissance erfährt.271 Auf deutscher Seite entspricht dem britischen Emergenzdiskurs der zeitgleich geführte Streit zwischen Mechanismus und Vitalismus in der Biologie, bei dem es um die Möglichkeit ging, die Physiologie als eine Physik des Organischen zu betreiben. Einer der Wortführer, Hans Driesch, insistierte auf der Eigengesetzlichkeit lebendiger Körper, für die er den Aristotelischen Ausdruck ›Entelechie‹ wählte. Demnach wirkt in Organismen zusätzlich zu den physikalischen Kräften auch ein eigener Naturfaktor, den man freilich, so Drieschs Eingeständnis, unterstellen muss, nicht aber experimentell nachweisen kann. Es wundert nicht, dass sich der Neovitalismus wissenschaftlich nicht durchzusetzen vermochte. Indessen verweist die Entelechie als Analogon zur Emergenz auf ein noch heute diskutiertes Problem, das über den historischen Ort des Vitalismusstreits hinausweist : Lässt sich die Domäne der Biologie bruchlos an die Domäne der Physik (und der Chemie) anschließen, oder gelten für lebendige Körper Gesetze, die für unbelebte Körper nicht gelten und sich aus diesen nicht ableiten lassen ? Die Autonomie der Erscheinung : Faktor und Modal

Lebendige (zumindest animalische) Körper bewegen sich nicht nur, sie verhalten (benehmen) sich. Beim Verhalten bilden – im Gegensatz zur bloßen Bewegung  – Anschaulichkeit und Verständlichkeit (Anschauung und Sinn) eine ursprüngliche Einheit, die dazu führt, dass »Verhalten nicht wahrgenommen werden kann, ohne im Ansatz wenigstens (ev. falsch) gedeutet zu werden«.272 Verhalten kann also richtig oder falsch gedeutet werden. Dies wirft mit Blick auf die Logik der Lebenswissenschaften die Frage nach der Objektivierbarkeit einer solchen Deutung auf. Der Philosoph und Zoologe Helmuth Plessner bringt diese Frage auf den Punkt : »Sind die Qualitäten objektiv ? Ja […], die Modalitäten sind Funktionen der Objektivierung.«273 Es geht also darum, dass in der Wissenschaft  Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie  | 103

Objektivität nicht zwingend an Quantität gebunden ist. Mathematisierung ist nur eine Möglichkeit, wissenschaftliche Tatsachen zu konstituieren. Daneben steht mit eigenem Recht das Anliegen, die qualitativen Aspekte der Gegenstände wissenschaftlich zu untersuchen – ohne dadurch in direkte Konkurrenz zum mathematischen Ansatz zu treten. Dies versucht Plessner an den Modalitäten oder Modalen als »Funktionen der Objektivierung« deutlich zu machen. Den Terminus Modal übernimmt Plessner von dem Biologen Adolf Meyer-Abich, der sich seinerseits auf Hermann von Helmholtz’ Wahrnehmungstheorie beruft. Sinnliche Empfindungen lassen sich nach Intensität, Qualität und Modalität unterscheiden.274 Modalitäten gibt es so viele, wie es verschiedene Wahrnehmungssinne gibt, also Farbe, Ton, Geruch, Geschmack und Getast ; Qualitäten bezeichnen die Differenzen innerhalb einer Modalität, also z. B. Blau, Grün, Gelb, Rot usw. Die Ausprägung einer Qualität ist schließlich die Intensität einer Empfindung (z. B. tiefes Blau oder ein lauter Ton usw.). Meyer-Abich erweitert den wahrnehmungspsychologischen Begriff der Modalität auf die Biologie und spricht in seiner Habilitationsschrift Logik der Morphologie im Rahmen einer Logik der gesamten Biologie (1926) von »organischen Modalen«. Damit meint er »solche qualitative Letztheiten, die einstweilen nicht durch Reduktion auf andere Qualitäten weiter analysiert werden können. Demnach hört ein organisches Modal in dem Augenblick auf[,] als solches zu existieren, in dem es physikalischchemisch restlos aufgelöst worden ist, d. h. wenn es gelungen ist, seine organische Gestalt […] von einfacheren physischen Gestalten abzuleiten.«275 Für Plessner ist ein organisches Modal eine »qualitative Letztheit […], die nicht durch Reduktion auf andere Qualitäten weiter analysiert werden kann«. Er will ausdrücklich eine »apriorische Theorie der Modale« entwickeln.276 Beispiele für solche organischen Modale sind : Wachstum, Ernährung und Entwicklung (Altern). A priori fungieren die Modale begrifflich im Sinne eines Vorverständnisses von Lebendigkeit in der Begegnung mit Lebewesen. Mit Blick auf dieses Vorverständnis ist zwischen einer außer- und einer vorwissenschaftlichen Dimension zu unterscheiden : Außerwissenschaftlich sind Begriffe wie die genannten (Wachstum, Ernährung und Altern), die in keiner Weise von wissenschaftlichen 104 | Kapitel 5 

Praxisformen (z. B. Experiment) abhängen. Vorwissenschaftlich sind dagegen Begriffe, die zwar in das Alltagsverständnis des Lebendigen eingegangen und somit aus rezenten wissenschaftlichen Geltungsprüfungen ausgenommen sind, aber ihren historischen Ursprung in der wissenschaftlich geleiteten Beschäftigung mit Lebewesen haben, wie z. B. Stoffwechsel oder Reaktionsfähigkeit. Für »die exakte Analyse« ist, so Plessners Prognose im Jahr 1966, »die Zurückführung der Wesensmerkmale des Belebten auf Gesetzmäßigkeiten anorganischer Materie nur eine Frage der Zeit«. Diese Zurückführung bedeutet die »Auflösung« der Wesensmerkmale des Belebten allerdings »nur im operativen Sinn. Erscheinungsmäßig werden sie dadurch nicht angetastet«. Als Erscheinungen bleiben die Modale unauflösbar und irreduzibel. Es sind also sorgfältig zwei komplementäre Erkenntnisinteressen zu unterscheiden : die Aufklärung des »Zustandekommens« der organischen Modale und die »Aufklärung ihres logischen Ortes und Beitrags für das Phänomen des Lebendigen«.277 Ganz in diesem Sinn differenziert Plessner auch die »Darstellung der Bedingungen, unter welchen Leben als Erscheinung möglich wird«, und die Ermittlung seiner »Wirklichkeitsbedingungen«.278 Letzteres ist Aufgabe der Naturwissenschaften, Ersteres Aufgabe der Philosophie. Sie hält an der »phänomenalen Eigenständigkeit des ›Lebens‹« fest : »Autonom sind die Lebenserscheinungen als Erscheinungen.«279 Denn als solche leiten sie bereits die naturwissenschaftliche Untersuchung der Wirklichkeitsbedingungen des Lebendigen. Daher kann die physikalischchemische Erklärung der Vererbung auch nicht die phänomenale Gegebenheit dieses Vorgangs ersetzen. Die wissenschaftliche Erforschung des Lebendigen kann mithin aus zwei Perspektiven erfolgen : einer kausalanalytischen und einer formanalytischen. Wäre Plessner unsere heutige Emergenzdebatte bekannt gewesen, so hätte er wohl keine Schwierigkeit gehabt, sich auf die Seite der Reduktionisten zu schlagen und trotzdem an der Irreduzibilität der lebendigen Form festzuhalten. In diese Richtung weist auch Plessners Aufsatz von 1964 : »Ein Newton des Grashalms ?«. Der Titel spielt auf Kants Bonmot aus der Kritik der Urteilskraft an, dass es keinen Newton geben werde, »der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde«.280 Plessner sieht kein Problem darin,  Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie  | 105

die ›Erzeugung‹ eines Lebewesens mit rein biochemischen Mitteln erklären zu können. In dieser Hinsicht hält er eine Reduktion auf Naturgesetze, »die keine Absicht geordnet hat«, für möglich und in Ansätzen bereits für durchgeführt. Was er von dieser Rückführung ausnimmt, ist vielmehr die Formschicht des Organischen, die auch der Biochemiker immer schon voraussetzen muss, wenn er nach den Bedingungen fragt, die erfüllt sein müssen, »damit bei einem chemisch definierbaren Gebilde von Lebendigkeit gesprochen werden kann […]. Was Lebendigkeit meint, leitet dabei auch den Biochemiker. Irgendein Leitbild braucht er, um den Grad der Annäherung im Fortgang seiner Analyse bestimmen zu können.«281 Beispiele für solche Leitbilder sind : Reproduktion, Vererbung, Reagibilität oder Stoffwechsel. Da ein solches ›Bild‹ von Lebendigkeit jede (legitime) reduktionistische Untersuchung notwendigerweise leitet, kann man sagen, dass die lebendige Form als Form nicht derselben Kausalität unterworfen ist wie der lebendige Körper : Die lebendige Form mag geschichtlich bedingt sein, aber sie hat keine Naturgeschichte. Denn die Rekonstruktion der Evolution lebendiger Körper (u. a. anhand von Fossilien) setzt ein Leitbild der lebendigen Form voraus. So müssen schließlich auch Fossilien als Versteinerung ehemals lebendiger Körper allererst gedeutet werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Umgang mit Dinosaurierknochen : dass es sich um die Überbleibsel eines Lebewesens handelt, war über Jahrhunderte hinweg unstrittig, wie der Körper dieses Lebewesens jedoch ausgesehen hat (die Bandbreite reicht vom Drachen bis hin zu modernen Rekonstruktionen), ließ und lässt reichlich Raum zur Spekulation. Die formale Beschreibung lebendiger Körper erfolgt durch eine Analyse organischer Modale. Die materielle Rückführung des lebendigen Körpers auf die Bedingungen seines Zustandekommens identifiziert Faktoren. »Die exakte Biologie als Physik des Organischen zeigt, wenn überhaupt, nur das System der Bedingungen und Anlässe für das Auftreten der in ihrer Qualität irreduziblen organischen Modale.«282 Mit der Unterscheidung von Modalen und Faktoren lässt sich auch der Streit zwischen Mechanismus und Vitalismus auflösen : Der Fehler der Vitalisten war, dass sie für einen Faktor genommen haben, was eigentlich ein Modal ist.

106 | Kapitel 5 

Das Beispiel der Bierhefe

Die Unterscheidung von Faktor und Modal, die Plessner in den 1920er Jahren eingeführt hat, kann auch dabei helfen, auf dem Feld der Synthetischen Biologie unserer Tage etwas klarer zu sehen. 2014 berichteten zahlreiche Medien darüber, dass es Forschern aus Baltimore mit der Bier- oder Bäckerhefe (Saccharomyces cerevisiae) gelungen war, zum ersten Mal einem eukaryotischen Organismus ein künstlich erzeugtes Chromosom ins Erbgut einzubauen. Eine solche künstliche Herstellung lebendiger Strukturen ermöglicht es Biologen, synthetisch tätig zu werden, wo sie bisher nur analysieren konnten. Obwohl das Mikroskop bereits im 17. Jahrhundert erfunden worden war, entdeckte man erst im 19. Jahrhundert, dass Pflanzen und Tiere aus Zellen zusammengesetzt sind. Fast weitere hundert Jahre dauerte es, bis man Chromosomen als Träger von Genen und die DNA als ihre chemische Substanz identifizierte. All diese zell- und molekularbiologischen Theorien beschränken sich jedoch auf die Analyse bereits bestehender komplexer Strukturen und Funktionen. Auch die Rekombination von genetischem Material greift auf funktionale Einheiten naturwüchsiger Organismen zurück. Etwas anderes ist hingegen die Synthetisierung von Genen, so wie es die genannten Forscher bei der Bierhefe getan haben. Sie entwarfen das komplette Chromosom am Computer und setzten es dann Schritt für Schritt chemisch zusammen. Die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt sieht sich in der Süddeutschen Zeitung daher zu der Aussage veranlasst : »Leben kann erstmals auch aus völlig Unbelebtem entstehen. Dem Menschen könnte also endgültig die Wandlung vom Homo faber zum Homo creator gelingen.«283 Das ist sicher etwas hoch gegriffen. Abgesehen davon, dass sich das Leben auch ohne den Menschen vor langer Zeit aus unbelebter Materie gebildet haben muss, darf man skeptisch bleiben, ob es sich bei dem Zusammenbasteln eines künstlichen Chromosoms wirklich um einen schöpferischen Akt handelt, bei dem Leben aus Nichtleben geschaffen wird. Immerhin bleibt auch der Bioingenieur darauf angewiesen, dass ihm die bereits lebenden Hefezellen so weit entgegenkommen, ihr eigenes Erbgut »durch einen natürlichen genetischen Prozess […] mit den künstlichen Sequenzen [zu] ersetzen«.284  Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie  | 107

Wendet man die Differenz von Faktor und Modal auf den Fall der Bierhefe an, so zeigt sich : In Kenntnis wichtiger systemischer Bedingungen für lebendige Körper ist es den Forschern gelungen, einen Faktor (Chromosom) so zu manipulieren, dass der genetisch veränderte Organismus lebensfähig war. Die einzelnen Nukleotide, die sie zu dem neuen Chromosom zusammengesetzt haben, sind zwar Lebensfaktoren, selbst aber keineswegs lebendig, weshalb es in diesem Sinn durchaus richtig ist, zu behaupten, es sei aus Unbelebtem Belebtes hervorgegangen. Was aber die Lebendigkeit der manipulierten Bierhefe angeht, so hängt diese ihrer Qualität nach von kategorial völlig anderen Kriterien als der Anordnung von Basenpaaren ab – z. B. von Vermehrung, Vererbung und Stoffwechsel. Erst wenn der Biologe diese Prozesse bei der Bierhefe feststellt, wird er sein Experiment der künstlichen Chromosomerzeugung als erfolgreich betrachten dürfen. Die Bedingungen des Erfolgs bleiben daher an die auf materielle Faktoren irreduzible lebendige Form gebunden. Die Erforschung der Wirklichkeits­bedingungen des lebendigen Körpers sind logisch abhängig von den Erscheinungsbedingungen der lebendigen Form in einem praktischen Handlungszusammenhang (des Experiments), in dem Erfolg und Misserfolg über den Wahrheitsgehalt einer wissenschaftlichen Theorie entscheiden. Die Beschreibung dieser Erscheinungsbedingungen der lebendigen Form ist etwas kategorial anderes als die kausalanalytische Erklärung von Prozessen des lebendigen Körpers. Leben als normative Qualität

Lebendigkeit ist eine normative Qualität von Erscheinungen. Unter einer Norm können wir im Bereich der belebten Natur etwas bescheiden eine »bevorzugte, statistisch häufiger zu beobachtende Haltung [verstehen], die dem Verhalten eine [gegenüber physikalischen Vorgängen] neuartige Einheit verleiht«.285 Auch in der unbelebten Natur gibt es Minima (z. B. Planck-Länge und -Zeit) und Maxima (z. B. Lichtgeschwindigkeit), aber nur das Leben kennt ein Optimum.286 E. coli-Bakterien bewegen sich von Bereichen geringer zu solchen höherer Zuckerkonzentration. Die Verteilung sowie die 108 | Kapitel 5 

Zusammensetzung der Saccharose ist eine chemische Eigenschaft des Milieus, nicht aber ihr Nahrungscharakter. Diesen gewinnt die Saccharose erst durch und in Anwesenheit eines E. coli-Bakteriums. Das Attribut ›Nahrung‹ ist abhängig von dem lebensformspezifischen Gutsein für einen Organismus : Weil das Zuckermolekül für den Stoffwechsel von E. coli-Bakterien gut ist, erhält es über seine chemischen Merkmale hinaus auch noch die relationale Bedeutung von Nahrung.287 Die normative Qualität des Lebendigen im Gegensatz zum Leblosen veranlasst Philippa Foot dazu, gar von »natürlichen Normen« zu sprechen. So kann etwa das Wurzelwerk einer Eiche sinnvollerweise als gut bewertet werden, wenn es ihr den Halt verleiht, den sie als ein Baum benötigt, der ganz andere Anforderungen an seine Wurzeln stellt als eine Schlingpflanze an ihre Haftorgane. Entsprechendes gilt für die Nachtsicht einer Eule, die Farben eines Pfauenrades, den Bewegungsapparat eines Fluchttiers oder die Koopera­tions­f ähigkeit eines Wolfsrudels. Foot verankert natürliche Normen in der jeweiligen Lebensform einer Spezies. »Die Art und Weise, wie ein Individuum sein sollte, wird durch das festgelegt, was für Entwicklung, Selbsterhaltung und Fortpflanzung notwendig ist«. Foot versteht unter Normen ein solches Seinsollen gemäß den lebensformspezifischen Notwendigkeiten. »Durch die Anwendung dieser Normen auf ein Exemplar der betreffenden Spezies urteilen wir, daß es (dieses Individuum) so ist, wie es sein sollte, oder aber, daß es in einer bestimmten Hinsicht mehr oder weniger defekt ist.«288 Dann ist etwas mit ihm nicht in Ordnung. Ein Organismus, so formuliert Georges Canguilhem, ist »eine Fluktuation um Normen herum«.289 Darauf beruht auch unsere Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit, die eine normative Dimension nicht nur im Handeln, sondern auch im Verhalten hat : Auf der einen Seite steht das immer schon kulturell wie historisch geprägte Behandeln von ›Kranken‹, also der Umgang, den wir mit ihnen pflegen, wovon die medizinische Intervention nur eine Praxisform darstellt ; denkbar sind auch, je nach Zeit und Kultur, Isolation oder die rituelle Verehrung. Auf der anderen Seite steht das Verhalten des Betroffenen, wie z. B. Husten und Niesen, das gegebenenfalls, z. B. bei einem Infekt oder einer Allergie, sachgerecht – das heißt mit Blick auf die typische Lebensform – und ohne  Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie  | 109

kulturelle ›Überschreibung‹ als defizient beschrieben werden darf : Etwas ist mit dem Organismus nicht in Ordnung. Die Unterscheidung von guter und schlechter Funktionsweise organischer Prozesse zeigt, dass die lebendige Form auch durch Normen bestimmt ist. Zweifellos hilft die zergliedernde Analysis eines Ganzen in den Strukturzusammenhang funktionaler Teile dabei, organische Prozesse zu erklären und zu steuern. Sie liefert das Explanans der positiven Erfahrungswissenschaften. Wenn es aber um die Konstitution des Explanandum geht, die zu erklärende Sache in ihrem Sachgehalt, dann greift der empirische Lebenswissenschaftler auf ein Vorverständnis der lebendigen Form zurück, in das zudem immer schon normative Orientierungsbegriffe einer kulturellen Praxis eingehen. Genau diese doppelte Aufklärung von Begriffen und Normen ist die Aufgabe der verstehenden Lebenswissenschaft oder philosophischen Biologie, die Plessner konzipiert hat (siehe Kap. 7). Damit ergibt sich eine klare Aufgabenteilung : »Der Philosoph muß die Erforschung der veranlassenden Bedingungen für das Auftreten der organischen Erscheinungen ganz dem empirischen Forscher überlassen.« Aber die empirische Forschung ruht ihrerseits, »was den Bestand an spezifisch biologischen Kategorien angeht, auf Voraus­setzungen, die nur der Philosoph untersuchen kann«.290 Die spezifisch lebenswissenschaftlichen Kategorien können auf qualitative Beschreibungen nicht verzichten, auch wenn die eigentliche Bemühung der kausalanalytischen Reduktion auf physikalisch-chemische Gesetze und quantitativ messbare Funktionen gilt. Qualitäten sind deshalb nicht per se weniger objektiv als Quantitäten. Die Voraussetzungen, denen lebenswissenschaftliche Kategorien unterliegen, sind in der außerwissenschaftlichen Lebenswelt als Anschauungsgewissheiten und Vorverständnisse verankert. Ihre philosophische Untersuchung muss den jeweiligen Transfer von einer Praxisform in eine andere bedenken : die vielfältigen Interaktionen (Verhalten und Handeln) in der Sphäre des alltäglichen Zusammenlebens, in den Operationen der Wissenschaften und Techniken. Um ihre Pragmatik studieren zu können, muss man eine Praxis der eigenen Lebendigkeit kultivieren. Denn nur wer mitspielt im Spiel des Lebens, vermag Leben zu verstehen.

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K APITEL 6 Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften »Latinis ›verum‹ et ›factum‹ reciprocantur, seu […] convertuntur.« Giovanni Battista Vico : De Antiquissima Italorum Sapientia (1710)291

Fundierungszusammenhänge

Die Begriffe ›Lebenswelt‹ und ›Lebensform‹ scheinen nicht auf dasselbe Leben zu zielen. Wird der Ausdruck ›Lebenswelt‹ meistens verwendet, um das genuin menschliche Welt(er)leben zu bezeichnen, denkt man bei Lebensformen, wenn es nicht um individuelle menschliche Lebensweisen geht, wohl in der Regel an verschiedene Arten von Lebewesen. Die Mehrdeutigkeit ist im Lebensbegriff selbst angelegt, der von alters her sowohl das naturwüchsige, zumal animalische Lebendigsein (zôê) als auch die bewusst durch Handeln gestaltete Biographie eines Menschen (bios) umfasst. Es liegt nahe, diese Äquivokation in ein Begründungsverhältnis aufzulösen, demzufolge der Mensch ein Lebewesen ist, das sein Leben führen muss. Nach diesem Verständnis hätte die Lebenswelt ein natürliches Fundament in der biologisch definierten Lebensform des Menschen. Einmal auf diese Spur gebracht, könnte man auf die Idee verfallen, die Biologie oder allgemeiner die Lebenswissenschaften (Biologie, Psychologie, Medizin) leisteten eine Art Grundlagenforschung für jene Disziplinen, die sich mit der Lebenswelt befassen. Und erscheint es nicht plausibel, dass das menschliche Welt(er)leben letztlich in der organischen Natur des Menschen, seinen Genen und seinem Gehirn, gründet ? In diesem Kapitel möchte ich zeigen, dass die Annahme eines solchen Fundierungszusammenhangs falsch ist. Der Versuch, die Lebenswelt aus einer ›natürlichen‹ Grundlage abzuleiten, verkehrt   111

die logische Reihenfolge, da jede Rede über Natur, sei sie vorwissenschaftlich oder wissenschaftlich, bereits mehrfach lebensweltlich fundiert ist : Tatsachen gelten nicht ohne Handlungen (siehe Kap. 9), Handlungen gelingen nicht außerhalb einer Praxis und jede Praxis ist nur verständlich als Teil einer Lebensform. Unter der Lebensform verstehe ich im Folgenden den weiteren Kontext einer Lebensbeschreibung, unter der lebendigen Form die dynamische Einheitsgestalt in der raumzeitlichen Erscheinung eines lebendigen Körpers, also dasjenige, was den erscheinungsmäßigen Unterschied zwischen unbelebtem Stoff und einem Lebewesen ausmacht (siehe Kap. 5). Lebensform und lebendige Form sind jeder lebenswissenschaftlichen Analyse von biotischen Prozessen in und an Organismen vorgelagert. Es gehört zur Logik der Lebenswissenschaften, dass ihr Sinnfundament in der menschlichen Lebenswelt liegt. Diesen Gedanken möchte ich in vier Schritten entwickeln. Ausgehend von Husserls Kritik am Naturalismus versuche ich, die in der Krisis am Leitfaden der Physik geleistete Rekonstruktion für die Lebens­ wissenschaften fortzuschreiben. Zeigt sich für Galilei die Natur als ange­wandte Mathematik, so konzipieren moderne Genetik und Kog­nitionswissenschaft Leben als angewandte Informatik. In beiden Fällen wird eine Praxis (Messen und Rechnen bzw. Informieren und Informiertwerden) naturalisiert, die ihren Sinn erst durch die menschliche Lebensform erhält. Der Naturalist setzt an die Stelle der Lebensform (als dem sinnstiftenden Kontext jeder Praxis) den Organismus und vertauscht so Bedingung und Bedingtes. Deshalb müssen wir das Verhältnis von Lebensform und Organismus näher betrachten. Die Objekte der Lebenswissenschaften sind lebendige Körper. Was sie von unbelebter Materie unterscheidet, ihre lebendige Form, lässt sich wiederum nicht unabhängig von unserer eigenen Lebensform angeben, da wir dem Lebendigen nur in Handlungszusammenhängen begegnen. Dieser Sachverhalt setzt jeder menschlichen Beschreibung nichtmenschlichen Lebens Grenzen, die ich abschließend zumindest andeuten möchte.

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Natur als angewandte Mathematik

Den Einsatz der neuzeitlichen Naturwissenschaft bringt Husserl auf die Formel : Natur ist angewandte Mathematik. Diese anfangs befremdliche »Konzeption«292 war eine Tat, die die Sachen der Physik erst zu messbaren und berechenbaren Tatsachen ernannt hat und die Husserl mit dem Namen Galilei verbindet. Ihre Befremdlichkeit müssen wir heute eigens wieder bewusst in uns wecken, da sie uns aufgrund unserer Schulbildung zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Denn was könnte befremdlicher sein als der Gedanke, nicht die Naturwissenschaft als eine menschliche Praxis, sondern die vor- und außermenschliche Natur selbst wende Mathematik an, eine andere menschliche Praxis ? Nur wer daran glaubt, ein Mathematikergott habe die Welt erschaffen und sie in einer Formelsprache chiffriert, mag die Galileische Konzeption unmittelbar plausibel finden. Aber heute glaubt das niemand mehr, und trotzdem wundert sich keiner über die reichlich schiefe These. Für die Beschreibung des Übergangs von der Befremdlichkeit zur Selbstverständlichkeit wählt Husserl die geologische Metapher der Sedimentierung : Ein aus menschlicher Arbeitsleistung entsprungener »Kulturerwerb«293 bleibt durch Weitergabe und wiederholte Anwendung verfügbar, auch ohne dass der Vorgang der Sinnbildung, der den Kulturerwerb allererst einbrachte, stets aufs Neue wiederholt werden müsste. Unsere technische Kultur bietet ein reichhaltiges Angebot, um diesen Sedimentierungsprozess zu illustrieren. Kaum einer wird sich die Erfindung oder die Herstellung einer Uhr vergegenwärtigen, wenn er auf ihr die Zeit abliest ; ganz zu schweigen von ungleich diffizileren Instrumenten wie Navigationssystemen oder Smartphones. Während uns die Herkunft technischer Artefakte aus einem menschlichen Handlungszusammenhang selbst bei Unkenntnis über die genauen Umstände evident erscheint, verhält es sich mit wissenschaftlichen Theorien auffälligerweise anders. Hier geht es uns nur allzu leicht von den Lippen, dass dasjenige, was wir subjektiv als Farbe wahrnehmen, physikalisch und das heißt synonym : eigentlich Lichtwellen seien. Diese Selbstverständlichkeit versucht Husserl wieder befremdlich werden zu lassen. Denn zunächst begegnen uns Farben als Oberflächeneigenschaften an Dingen, die  Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften | 113

wir gar nicht sehen könnten, wenn sie farblos wären – und eben nicht als Zustände von etwas, das wir gerade nicht sehen (Lichtwellen). Husserl geht es nun nicht darum, die physikalische Optik als verfehlt zu brandmarken, sondern darum, sie als das aufzufassen, was sie ist : eine kulturelle Praxis mit einer eigenen Teleologie, in deren Licht Objekte erst zu Gegenständen von Theorien werden. Seine Kritik gilt also nicht primär den Theorien selbst, sondern unserer Praxisvergessenheit in der Rede über wissenschaftliche Theo­rien. Wir sprechen nämlich häufig so, als sei eine Theorie nicht von der menschlichen Praxis abhängig, die sie hervorbringt, sondern eine Beschreibung der von menschlichem Tun unabhängigen Wirklichkeit. In dieser Redeform, die uns alltäglich in populärwissenschaftlichen Darstellungen von der Buchhandlung bis zum Frisiersalon begleitet, verschiebt sich der Sinn der praktischen Mittel jeder Theoriebildung, und es wird für »wahres Sein« genommen, »was eine Methode ist«.294 Erst wenn der spezifische Praxischarakter der Geometrie vergessen wird, ist der Weg zu jener Mathematisierung der Natur frei, die eine Naturalisierung der Mathematik voraussetzt. Genau mit dieser Naturalisierung vollzieht sich die bereits angesprochene Sinnverschiebung von praktischen Mitteln zu theoretischen Aussagen über die Wirklichkeit. Die Formelsprache der modernen Physik ist keineswegs die ›Sprache der Natur‹. Vielmehr besteht der ursprüngliche »Formelsinn«295 in der verbesserten Vorhersage von Ereignissen. Formeln leisten zunächst nichts anderes als die überprüfbare Prognose von Messungen. Auch hier darf man wieder an lebensweltlich motivierte Berechnungen wie die statischen von Stützlasten oder die kalendarischen von Feiertagen denken. Die Güte der jeweils herangezogenen Formel bemisst sich nach dem Erfolg oder Misserfolg, der sich nach Eintritt oder Ausbleiben des Vorhergesagten in einem Handlungszusammenhang einstellt. In der modernen Physik verdankt sich nicht nur die Vorhersage, sondern auch die Herbeiführung des Vorhergesagten menschlicher Aktivität, namentlich der Konstruktion von Messapparaten, der Herstellung von Präparaten und der Anordnung von Experimenten – all dies in einer eigenen Laborpraxis, die zeitgleich mit Husserls Krisis von Fleck nach ihren Denkstilen in Denkkollektiven beschrieben wurde. 114 | Kapitel 6 

Die Ansicht, Natur sei angewandte Mathematik, so können wir zusammenfassen, resultiert aus einer Naturalisierung menschlichen Handelns in einer kulturellen Lebenswelt. Diese Lebenswelt ist das »Sinnesfundament«296 der Naturwissenschaft (siehe Kap. 1). Denn sie ist der Boden jener Vorschriften und Gesetze, praktischen Mittel und Zwecke, die es allesamt in der Natur nicht gibt und von denen der Naturwissenschaftler gleichwohl in seinem mit Geltungsansprüchen auftretenden Handeln vielfältig Gebrauch macht. Wie Fleck und Horkheimer hebt Husserl die prinzipielle Abhängigkeit wissenschaftlicher Tatsachen von menschlichem Tun hervor. Dass die Folgen der Naturalisierung menschlichen Handelns nicht auf das Bereden von Theorien beschränkt bleiben, sondern weit darüber hinaus auch unser Selbstverständnis und unsere gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmen – dies diagnostiziert Husserl sehr genau, wenn er aus reinen Tatsachenwissenschaften »bloße Tatsachenmenschen«297 hervorgehen sieht (siehe Kap. 1). Der bloße Tatsachenmensch hat seinen Sinn für ein mögliches Anderssein des Bestehenden eingebüßt, weil er darauf eingestellt ist, nur das mit den Methoden der positiven Wissenschaften Feststellbare als Gegenstand rationalen Denkens gelten zu lassen. Man darf davon ausgehen, dass diese Gefahr wächst, wenn das von Husserl beschriebene ›Galilei-Projekt‹ der Mathematisierung von der toten Materie auf die belebte Natur ausgedehnt wird. Belebte Natur als angewandte Informatik

Es dürfte daher lohnen, die Krisis-Schrift an dieser Stelle gewissermaßen für die Lebenswissenschaften fortzuschreiben. Im Lichte der Wissenschaftsgeschichte, die auf diesem Gebiet erst nach Husserls Tod einsetzt, müsste man den Ausgangssatz freilich abwandeln. Die Prämisse, die dem Mainstream mindestens der modernen Genetik und der Kognitionswissenschaft zugrunde zu liegen scheint, lautet : Belebte Natur ist angewandte Informatik. Die Rede von Erbinformationen, die in der DNA abgelegt sind, ist uns ebenso geläufig wie die Rede von der Entschlüsselung des genetischen Codes, der Lesbarkeit von Genomen und dem Buch des Lebens, das in den Buchstaben A, C, T (bzw. U) und G verfasst sei. Die che Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften | 115

mische Synthese komplexer Molekülketten in Zellen wird mit Begriffen beschrieben wie Kopieren, Schreiben und Lesen, ohne dass die verwendeten Ausdrücke in Anführungszeichen gesetzt würden (siehe Kap. 5) : Auch wenn sie Metaphern sind, werden sie nicht als Metaphern verstanden, sondern so, als würden sie tatsächlich Vorgänge einer zellularen Nachrichtenübertragung beschreiben. Das Vorbild lieferte in der Zeit, als die frühen Molekulargenetiker diese Sprache noch im Bewusstsein ihres Modellcharakters prägten, die Technik zur Verschlüsselung und Fernübertragung von Botschaften, wie sie im Zweiten Weltkrieg auf allen Seiten eingesetzt wurde. Ganz ähnlich entwickelte sich in der Psychologie der Kognitivismus, der das Input-Output-Modell des Behaviorismus durch die ›Schaltzentrale‹ der zerebralen ›Datenverarbeitung‹ erweiterte. Auch hier liefert das Vorbild die Nachrichtentechnik, genauer : das Sender-Empfänger-Modell, wie es einer der Gründerväter der modernen Informatik, der Mathematiker Shannon, 1948 entworfen hat. Wie weiter oben beschrieben (siehe Kap. 3), überträgt Warren Weaver Shannons zu rein nachrichtentechnischen Zwecken konstruiertes apparatives Modell auf den menschlichen Organismus : »Bei der gesprochenen Sprache ist die Nachrichtenquelle das Gehirn, der Sender sind die Stimmbänder, die den sich ändernden Schalldruck (das Signal) erzeugen, der durch die Luft (den Kanal) übertragen wird.«298 Nicht eine Person ist demnach die Nachrichtenquelle, sondern das Gehirn, das selbst ein informationsverarbeitendes System ist. Kaum in der Welt, ist die Informatik bereits naturalisiert. Heute hat die Kybernetik ihren Höhepunkt zwar lange überschritten, aber das bedeutet keineswegs, dass sie zum alten Eisen geworfen wurde. Der Grundgedanke, Probleme der Semantik in Probleme der Syntax aufzulösen, ist tief in die Kapillaren beider sogenannter Wissenskulturen eingedrungen. Das erkennt man leicht, wenn man ein beliebiges Buch zur Hirnforschung aufschlägt, die ja nur allzu gerne auch von jenen Disziplinen herangezogen wird, die sich einmal als Geisteswissenschaften verstanden ; die zahllosen Komposita mit ›Neuro‹ im Namen legen für diesen Trend ein beredtes Zeugnis ab. Stellvertretend für viele populärwissenschaftliche Publikation soll hier die kritische Auseinandersetzung des amerikanischen Hirnforschers Gregory Hickok mit dem »Mythos 116 | Kapitel 6 

der Spiegelneuronen« stehen. Hickok schreibt : »Wer immer einen Blick ins Innere des Gehirns wirft, kommt nicht um die Tatsache herum, dass es Informationen verarbeitet. Dazu braucht man noch nicht einmal weiter zu blicken als auf ein einzelnes Neuron. Ein Neuron erhält Signalinputs von Tausenden anderer Neuronen, die exzitatorisch (fördernd) oder inhibitorisch (hemmend) sein und stärker oder schwächer ausfallen können. Der Output des Neurons ist nicht einfach eine Kopie seines Inputs : Er stellt eine gewichtete Kombination aller Inputs dar. Das Neuron leistet eine Transformation der neuronalen Signale, die bei ihm eingehen. Neuronen verrechnen. Genau das ist Informationsverarbeitung, und dazu kommt es in jedem einzelnen Neuron und bei jedem neuronalen Prozess, egal ob sensorisch, motorisch oder ›kognitiv‹.«299 Für Hickok ist bezeichnenderweise der Computer ein Modell für die Informationsverarbeitung des Gehirns, deren eigener Modellcharakter dem Hirnforscher entgeht, weil für ihn einfach feststeht, dass ›neuronale Netzwerke‹ Informationen erwerben, erhalten und weitergeben.300 Die Beispiele der Genetik und der Kognitionswissenschaft zeigen, dass sich auch in der Sprache der Lebenswissenschaften eine Sinnverschiebung vollzogen hat, die menschliche Leistungen naturalisiert. Denn Informationen zu erwerben, auszutauschen und zu überprüfen ist natürlich eine genuin menschliche Praxis, bei deren Ausübung sich Menschen durch Apparate helfen lassen können. Zellen hingegen informieren sich genauso wenig, wie sie etwas verrechnen. Was die Kritik an der Naturalisierung der Information angeht, hat Janich das Maßgebliche gesagt. Dem habe ich an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Mir geht es um einen anderen Gesichtspunkt : Die naturalistische Rede vom Lebendigen als informationsverarbeitendem System beruht auf einer doppelten Metonymie : (1) ein Organ (›Werkzeug‹) steht für die mittels seiner ausgeführte Leistung und (2) der Organismus steht für die Lebensform. Menschen könnten zweifellos ohne Gehirn keine Informationen verarbeiten, aber deshalb zu behaupten, das Gehirn selbst verarbeite Informationen, macht aus ihm einen Homunkulus, der all das noch einmal tut, was der ›Große Mensch‹ macht. Die erste Metonymie verkehrt also Teil und Ganzes sowie Mittel und Zweck. Die zweite Metonymie setzt an die Stelle der Lebens Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften | 117

form, in die jene Praxis des Informierens und Informiertwerdens eingebettet ist, den Organismus, also das Zusammenspiel aller Organe und des gesamten Körpers mit seiner Umwelt. Entscheidend ist nun der folgende Sachverhalt : Organ und Organismus tauchen lebensweltlich in der Regel erst dann auf, wenn Leistungen gestört sind oder in der Lebensform etwas nicht in Ordnung ist. Es ist deshalb vor allem der medizinische Kontext, in dem wir auf unsere ›organische Natur‹ aufmerksam werden. ›Organ‹ und ›Organismus‹ (beides ja technische Metaphern) sind vermittelt über die Kunst (technê) der Medizin begrifflich später gegenüber Leistung und Lebensform. Genauso verhält es sich auch mit dem erweiterten Begriff vom ›organischen Leben‹, der fundiert ist in den technischen Handlungszusammenhängen des Sammelns und Jagens bzw. des Ackerbaus und der Viehzucht, durch die wir ursprünglich mit Wachstum, Gedeihen und Verhalten zu tun haben. Lebensform und lebendige Form

Die naturalistische Metonymie, die den Organismus an die Stelle der Lebensform setzt, blendet gerade den Kontext aus, der dem Organismus seinen Sinn verleiht : Weil es zur Lebensform des Menschen gehört, z. B. auf zwei Beinen zu gehen, zu sprechen und Gekochtes zu essen, wird der menschliche Organismus genau dann thematisch, wenn der aufrechte Gang, die Sprachfähigkeit oder die Ernährung dysfunktional sind oder auf andere Weise lebensformspezifisch auffällig werden. Jede Beschreibung des Organismus setzt die Kenntnis der Lebensform voraus. Die Lebensform, so können wir mit Michael Thompson sagen, ist der weitere Kontext einer Lebensbeschreibung. 301 So wie man das Fußballspiel kennen muss, um eine Handlung als Freistoß oder Abseits verstehen zu können, erfordert die Beschreibung der Vererbungsvorgänge Kenntnisse z. B. über Ähnlichkeiten zwischen Eltern und ihren Kindern. Mit dem Lebensformbegriff wendet sich Thompson gegen den »Fetischcharakter der DNA«, 302 also den Glauben, eine Spezies primär anhand ihres Genoms beschreiben zu können. Im Folgenden möchte ich den weiteren Kontext einer Lebensbeschreibung als das Geflecht von Geschichten interpretieren, in die ein Lebewesen verstrickt ist. 118 | Kapitel 6 

Die Lebensform lässt sich daher sehr gut anhand von Wilhelm Schapps Begriff des ›In-Geschichten-Verstricktseins‹ erläutern. Für Schapp »tritt an die Stelle des Lebens das In-GeschichtenVerstricktsein. In Geschichten verstrickt sind Menschen, Götter, Dämonen, Teufel, Tiere, Pflanzen«.303 Leben heißt, in Geschichten verstrickt zu sein – leblose Gebilde wie Werkzeuge und Steine kommen in Geschichten nur vor, sind aber nicht in sie verstrickt. Hinsichtlich des Leblosen unterscheidet Schapp zwischen den instrumentellen Wozudingen und dem Auswas der Wozudinge, dem Stoff, aus dem sie gefertigt sind. Die Verstrickung in eine Geschichte setzt eine Beteiligung durch Verhalten, Handeln (zu dem auch Unterlassen gehört) bzw. Interaktion voraus. Zuletzt sind alle Geschichten menschliche Geschichten, in die Götter, Dämonen und Teufel, Tiere und Pflanzen verstrickt sind und in denen Wozudinge vorkommen. Der an einer Geschichte Beteiligte oder das in Geschichten Vorkommende ist nur durch Geschichten und in Geschichten, wer er bzw. was es ist. Die Naturwissenschaften gewinnen ihre Erkenntnisgegenstände, indem sie von den Geschichten absehen, in die Gebilde ursprünglich eingebettet sind. Der Gegenstand von Physik und Chemie ist der Stoff, das Auswas der Wozudinge, die in Geschichten vorkommen ; der Gegenstand der Biologie ist der Leib der Lebewesen, die in Geschichten verstrickt sind. Um das Herauslösen der Gegenstände aus den Geschichten zu charakterisieren, greift Schapp auf die Metapher der Abblendung zurück. Nehmen wir als Beispiel ein Gebilde aus Gold. Der Chemiker blendet konsequent sowohl die Wozudinglichkeit als auch die Geschichte ab, in der das Objekt vorkommt, und blendet lediglich seine stoffliche Beschaffenheit auf. Es geht ihm nicht darum, dass es sich um ein Schmuckstück handelt, das Person X von Erblasser Y vermacht wurde, dass es die Grabbeigabe für einen ägyptischen Pharao gewesen ist oder ähnliches. Der Physiker teilt nicht das Interesse des Goldschmieds, der möglichst reines Gold kunstmäßig verarbeiten möchte und den Feingehalt des Edelmetalls durch Königswasser überprüft usw. All diese Zusammenhänge, die erst die Frage nach dem »Auswas« aufkommen lassen, bleiben »in Dämmerung oder Dunkelheit« abgeblendet.304 Ganz entsprechend verfährt der Biologe mit Lebewesen : »Der sogenannte Gegenstand der Biologie, Leib und Leben im Sinne der  Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften | 119

Biologie, ist eine Abblendung.«305 Für Schapp hat der Leib ebenso wenig eine eigenständige Existenz wie der Stoff der Wozudinge. Ein Leib tritt ursprünglich nur in Geschichten auf, z. B. indem uns ein Gesicht etwas erzählt : eine Lebensgeschichte, einen Kummer oder eine durchzechte Nacht. Auch tote Körper erzählen noch Geschichten, z. B. über ein Verbrechen. Der Leib des Menschen (wie auch der tierische Leib) ist »ein Ausdrucksfeld für Geschichten«. 306 An die Stelle des Menschen »von Fleisch und Blut […] drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches«. »Die Geschichte steht für den Mann.«307 Der Biologe blendet das Ausdrucksfeld des Leibes und damit die Geschichten, die er ausdrückt, ab. Die Abblendung kann so weit gehen, dass nur einzelne Zellen oder Zellbestandteile auf dem Objektträger des Mikroskops liegen. Und dennoch bleiben auch die Chromosomen Teil einer Reihe, zu der der ganze Mensch mit seiner Haarfarbe und seinen Geschichten gehört.308 Gegen das Verfahren der Abblendung, aus der Erkenntnisgegenstände hervorgehen, ist als solches nichts einzuwenden. Problematisch wird die methodische Isolation dann, wenn »von dem Abgeblendeten aus ins Blaue hinein eine Art Welt konstruiert« wird und der Wissenschaftler »aus der Abblendung nicht den Weg zu dem zurückfindet, wovon sie die Abblendung ist«. Dies ist ein Zeichen von »Dekadenz«.309 Die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Theorie von einer kulturellen Praxis bringt es mit sich, dass es in einem bestimmten Sinne keine Naturgeschichte vom Menschen geben kann. Denn jede Theorie über seine natürliche Herkunft muss bereits auf die eine oder andere Praxis der menschlichen Lebensform zurückgreifen. Auch die Naturgeschichte ist eine Geschichte. Den Menschen als Naturgegenstand erfassen zu wollen, heißt, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Diese Einschränkung gilt wohlgemerkt nur für den ganzen Menschen. Selbstverständlich kann der Biologe methodisch den menschlichen Leib ebenso aus menschlichen Geschichten herauslösen wie der Chemiker den Stoff aus den Geschichten der Wozudinge. Es ist für diese Wissenschaften konstitutiv, ihre Gegenstände so zu behandeln, als ob es auf den weiteren, kulturellen Kontext nicht ankommen würde. Für die chemisch-physikalische Beschreibung des Goldes kommt es eben nicht auf Eigentumsverhältnisse oder Schürftechniken an. Aber daraus folgt zugleich, 120 | Kapitel 6 

dass Gold dann auch nicht darin aufgeht, ein chemisches Element mit der Ordnungszahl 79 zu sein. Für die biologische Beschreibung des Menschen kommt es nicht darauf an, dass er sich in der moralischen Praxis vom Tier unterscheidet. Aber dann ist diese Praxis folgerichtig von der biologischen Modellbildung ausgenommen und kann nicht durch Soziobiologie künstlich wieder eingeholt werden. Eine solche beliebige Weltkonstruktion aus Abblendungsfragmenten ist tatsächlich ein Zeichen für »Dekadenz«, weil das Bewusstsein für jenes Verfahren verfällt, Gegenstände nach einer methodischen Vorschrift zu konstituieren. Die Geschichtlichkeit der Lebensform bietet auch ein Kriterium für die Identifikation von Simulakren. Ein plötzlich sich materialisierendes Wesen, das alle physischen Merkmale eines Menschen hätte und sogar menschliche DNA besäße, wäre so wenig ein Mensch, wie Falschgeld ein Zahlungsmittel ist. Ein falscher Taler, so Schapps Beispiel, ist nicht aufgrund seines Wesens oder des Wesens echter Taler falsch, sondern weil er nicht zu der Serie gehört, »die unter staatlicher Kontrolle geprägt ist«. Der einzelne echte Taler führt »in seiner Geschichte auf die Serie« zurück, in der für die Fälschung »kein Platz« ist.310 Jeder Mensch ist mit der gesamten Menschheit durch seine Biographie verbunden, die sich in die Geschichten verschiedener Menschengruppen (beginnend bei der eigenen Familie) und letztlich in die Menschheitsgeschichte einfügt. Aus diesem Grund ist eine Maschine als ein in Geschichten vorkommendes Wozuding etwas ganz anderes als ein Lebewesen, das in Geschichten verstrickt ist. Die lebendige Form, also das­ jenige, was erscheinungsmäßig ein lebendiges Wesen von unbelebtem Stoff unterscheidet, ist daher begrifflich von der Lebensform, dem In-Geschichten-Verstricktsein von Lebewesen, abhängig. Indem wir aber grundsätzlich mit anderen Lebewesen immer über unsere eigene, menschliche Lebensform verstrickt sind, bleibt diese die Grundlage für jede Rede über Lebendiges. Die Konsequenzen dieses Fundierungszusammenhangs wollen eigens bedacht werden.

 Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften | 121

Der Primat der Poiesis

Die lebendige Form ist die notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung, um etwas als lebendig wahrzunehmen. Denn erst die geschichtlich vermittelte Zugehörigkeit des lebendigen Wesens zu einer Reihe anderer lebendiger Wesen derselben Lebensform entscheidet darüber, ob es sich tatsächlich um ein Lebewesen handelt oder um ein bloßes Simulakrum. Da wir aber über unsere eigene Lebensform mit anderen Lebewesen verstrickt sind, ist unser Zugang zum Lebendigen auch durch die Eigenart menschlicher Praxis bestimmt. Man darf bei der Beschreibung der lebendigen Form daher nicht den Fehler machen, den weiteren Kontext dieser Beschreibung auszublenden. Dann entsteht leicht der Glaube, als hätten wir einen rein theoretischen, detachierten, bloß schauenden Zugang zu dem, was ein Wesen lebendig macht. Dass wir mit einem solchen Glauben in die Irre gehen, hat eindrücklich Valéry in seinem Essay »Der Mensch und die Muschel« (1937) gezeigt : Wir begreifen zwar den Aufbau eines belebten Körpers, was wir aber nicht begreifen können, ist seine Entstehung. Wir sind unfähig, Wachstum anders als in Begriffen des Herstellens, menschlicher poiêsis zu denken. Valéry versetzt sich in die Situation, erstmals eine Muschelschale in den Händen zu halten. Die erste Frage, die ihm in den Sinn kommt, lautet : »Wer hat das nur gemacht ?« »Meine erste Verstandesregung dachte ans Machen. Die Vorstellung des Machens ist die erste und menschlichste. ›Erklären‹ ist niemals etwas anderes als eine Art des Machens beschreiben, in Gedanken noch einmal machen.«311 Das Machen als Erklärung des Entstehens ist durch den Aufbau der Muschel motiviert, die so aussieht, als ob ihrer Form eine leitende Idee zugrunde liegen würde, die dann nach und nach ausgeführt worden ist. Sämtliche historischen Konzeptionen des Lebendigen tragen tatsächlich diese poietische Signatur : sei es die Aristotelische Entelechie, das christliche Geschöpf (Kreatur) oder selbst die biochemische Synthese (z. B. von Proteinen)  – all diese Begriffe haben menschliches Werkschaffen zum Vorbild. Der Homo faber ist das Maß der lebendigen Dinge. Das Muster liefert allenthalben die Formung eines Stoffes am Leitfaden einer vom Werk getrennten Idee, die die Hand des Herstellers Schritt für Schritt leitet. 122 | Kapitel 6 

Der Primat der Poiesis in unserem Zugang zum Lebendigen äußert sich auch im Naturbegriff : »Natur, das heißt : die Zeugende oder die Hervorbringende. Ihr überlassen wir hervorzubringen, was wir selbst nicht zu machen verstehen, was uns aber dennoch gemacht erscheint.«312 (Von dieser anthropomorph personifizierten Macht hat unser moderner Naturbegriff nichts eingebüßt. Man achte nur auf Redeformen wie die, nach denen die Natur oder wahlweise die Evolution Lebewesen und die Vielfalt des Lebens überhaupt krea­ tiv hervorgebracht hat.) Wir verstehen nur, so adaptiert Valéry Vicos verum-factum-Prinzip, was wir zu machen verstehen. Aber obwohl wir selbst »auf dem Wege unmerklichen Wachstums gemacht oder gebildet sind, vermögen wir auf diesem Wege nichts hervorzubringen«. 313 Daher lässt uns die Entstehung des Lebe­ wesens keine Ruhe, weil es Gelebtes und nicht etwas Gemachtes ist und wir es genau deshalb nicht erklären können, weil Erklären eben bedeutet, eine Art des Machens zu beschreiben, es in Gedanken noch einmal zu machen. »Wir können uns vom Prozeß des Lebens eine Vorstellung nur bilden, indem wir ihn in ein Verhalten kleiden, das von uns abgenommen ist, aber rein gar nichts mit dem zu tun hat, was in dem beobachteten Geschöpf vor sich geht …« 314 Das Ideen­k leid der mathematischen Formelsprache, das wir nach Husserls Worten der Lebenswelt ›anmessen‹, stammt vom selben Schneider : Denn auch Berechnen ist eine Form der antizipierten Hervorbringung, des in Gedanken schon einmal Machens. Die Erfindung dessen, »was wir die lebende Natur genannt haben«, 315 die lebendige Form, spiegelt daher unsere eigene Lebensform : Wir begegnen dem Lebendigen im Lichte unseres Handelns. Wachstum, Gedeihen, Bewegung usw. als Kennzeichen der lebendigen Form sind unauflöslich verquickt mit Handlungsweisen wie Sammeln und Jagen, Anbauen und Züchten, Heilen und Pflegen und sehr spät schließlich auch der Laborpraxis der Lebenswissenschaften. Der praxisvergessene Naturalist macht aus den Handlungen, von denen unser Naturverständnis abhängt, Naturvorgänge und aus den Handlungsmitteln, die die Erkenntnisgegenstände der Naturwissenschaften allererst konstituieren, Naturgegenstände. Er weiß nicht, was er tut. Das fundamentale Missverständnis, wissenschaftliche Theorien ontologisch zu deuten, beruht auf dieser Naturalisierung menschlicher Praxis und Produktion.  Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften | 123

Husserls Erinnerung an die Lebenswelt lässt uns naturalistische Selbstverständlichkeiten wieder befremdlich werden. Ein solches Befremden ist notwendig, um den Blick für die Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen im Horizont der sie ernennenden Handlungszusammenhänge frei zu bekommen. An diesem Blick kann in unserer so beispiellos stark von den Wissenschaften geprägten Lebenswirklichkeit nicht nur die Wissenschaftsphilosophie ein Interesse haben. Tatsächlich ist die wissenschaftliche Theoriebildung nicht nur in der Lebenswelt fundiert, sie wirkt auf diese auch in vielfältiger Weise zurück. Daher sollte man sich hüten, die Lebenswelt als ein vor- und außerwissenschaftliches Refugium auf einen radikal vortheoretischen Welterfahrungsraum zu verkürzen. Zu dem »Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten«316 gehören längst die kulturell sedimentierten Gemeinplätze szientistischer Rede dazu. Die Aufgabe der Kritik ist es, zu zeigen, dass solche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten eigentlich unverständlich sind. Denn Tatsachen gelten nicht ohne Handlungen, Handlungen gelingen nicht außerhalb einer Praxis und jede Praxis ist nur verständlich als Teil einer Lebensform.

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K APITEL 7 Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft »Das Bleibende aber im Wechsel, die Qualität der Naturerscheinungen läßt sich nicht physikalisch und chemisch verstehen.« Helmuth Plessner : Die Einheit der Sinne (1923)317

Die Berechenbarkeit des Lebens

Im letzten Kapitel habe ich zwischen dem gestalteten Leben der eigenen Biographie (bios) und dem naturwüchsigen Leben als Gegenstand der Biologie (zôê) unterschieden. Die Frage, wie ich mein Leben führen sollte, damit es als spezifisch menschliches gelingen kann, ist die Frage der antiken Ethik. Für die Eigenverantwortlichkeit im Ethischen steht Platons Mythos von Er, nach dem wir pränatal im Jenseits unsere Lebensform (bios) wählen, die wir im Diesseits verwirklichen. »Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. […] Die Schuld ist des Wählenden ; Gott ist schuldlos.«318 Umso wichtiger ist es daher, unterscheiden zu können zwischen der guten und der schlechten Lebensweise. »Hierauf nun eben«, sagt der Platonische Sokrates zu dem PlatonBruder Glaukon, »beruht alles für den Menschen, und deshalb ist vorzüglich dafür zu sorgen, daß jeder von uns mit Hintansetzung aller anderen Kenntnisse nur dieser Kenntnis nachspüre und ihr Lehrling werde : wie einer dahin komme, zu erfahren und aufzufinden, wer ihn dessen fähig und kundig machen könne, gute und schlechte Lebensweise unterscheidend, aus allen vorliegenden immer und überall die beste auszuwählen«.319 Kein Wissen ist wichtiger als dasjenige, das uns zu ermessen erlaubt, ob beispielsweise Schönheit oder Reichtum etwas zur »Tüchtigkeit des Lebens« (pros aretên biou) wirklich beitragen können. Den ethischen Wert solcher Glücksgüter (bona fortunae) einzuordnen, ist für die Schüler   125

des Sokrates die Grundlage einer selbstbestimmten (autarken) Lebensführung. Zu diesen äußeren Gütern, deren Beitrag für ein gelingendes Leben letzten Endes unberechenbar ist (adêla) und die deshalb von den Stoikern zu den ethisch gleichgültigen Dingen (adiaphora) gezählt werden, gehörte für die antiken Denker auch alles, was in den Bereich des Körperlichen gehört, wie die eigene Gesundheit. Xenophon berichtet von einem Gespräch, in dem Sokrates seinem Schüler Euthydemos darlegt, wie selbst Gesundheit Grund eines Übels sein kann, wenn z. B. die physisch Vitalen bei einer unheilvollen Seefahrt oder in einer schmachvollen Schlacht ums Leben kommen, während die Schwachen überleben, weil sie zu Hause zurückgelassen wurden. Wer um Reichtum, politische Macht oder etwas Ähnliches bittet, bittet nach Sokrates »um nichts anderes, als wenn er um Erfolg im Würfelspiel bäte, in einer Schlacht oder in etwas anderem von dem, dessen Ausgang offenkundig ungewiß« ist.320 Genau darin liegt der Sinn des viel zitierten und oft missverstandenen Sokratischen Nichtwissens, das sich ausschließlich auf die Bedeutung der Glücksgüter für die Lebensführung bezieht. 321 Dagegen unterscheidet Sokrates zwei Domänen, in denen sehr wohl gesichertes Wissen zu erlangen ist : das Fachwissen der technai und das ethische Wissen über das gute Handeln (praxis). Es ist nun gerade die technê der modernen Lebenswissenschaften, die jene Unterscheidung zwischen dem naturwüchsigen und dem menschlich gestalteten Leben unterminiert, was auch bedeutet, dass das Naturwüchsige aufzuhören beginnt, ein adêlon, ein Unberechenbares, Unverfügbares zu sein. Damit verbunden ist ein Weiteres : Die Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Beherrschung des vormals Unbeherrschbaren begünstigen den Umschlag technischer Mittel in praktische Zwecke. Auf diese Weise erhalten Methoden eine normative Kraft über ihren spezifisch eigenen Normenbereich der technê hinaus und gewinnen den Status einer Ontologie. Sein Leben zu führen, heißt dann, seine steuerbaren ›Parameter‹ mittels entsprechender Bio- und Kommunikationstechnologie zu kontrollieren. Wie sich die Expansion bereichsspezifischer Normativität von einer Methode auf eine Ontologie vollzieht, lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen. In seinen Metaphysischen Anfangsgründen 126 | Kapitel 7 

der Naturwissenschaft (1786) bringt Kant das methodische Prinzip der neuzeitlichen Physik auf den Punkt : »Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.«322 Gemäß diesem Kriterium bleibt der Biologie zu Kants Lebzeiten der Weg zur »eigentlichen Wissenschaft« versperrt. Erst die quantitative Genetik 323 im 19. und die Molekulargenetik im 20. Jahrhundert ermöglichen eine recht weitgehende Mathematisierung des Biotischen, wie sie in einer aussagekräftigen Definition des Nobelpreisträgers Joshua Lederberg zum Ausdruck kommt : Der Mensch ist »sechs Fuß einer bestimmten molekularen Sequenz von Kohlenstoff-, Wasserstoff, Sauerstoff-, Stickstoff- und Phosphoratomen«.324 Dies sagt er 1963, also nahezu vierzig Jahre vor der vollständigen Sequenzierung des Humangenoms. Das genannte Maß von umgerechnet ca. 1,80 m beziffert die Gesamtlänge des DNA-Strangs eines vollständigen diploiden Chromosomensatzes in einem beliebigen Zellkern des menschlichen Körpers außerhalb der Keimbahn. Lederbergs Vortrag hat die »biologische Zukunft« des Menschen zum Thema, die heute nicht mehr allein der natürlichen Evolution überlassen bleibt. Seine anthropologische Miniatur ist daher mehr als die zugespitzte Übersetzung fachwissenschaftlicher Expertise. Vielmehr steht folgende Gedankenkette im Hintergrund : Wenn objektivierbares Wissen (epistêmê) mit erfahrungswissenschaftlichem Wissen (technê) zusammenfällt, eigentliche Wissenschaft aber mathematisierte Wissenschaft ist, dann beschränkt sich das objektivierbare Wissen vom Leben auf das mittels mathematischer Methode Aussagbare. Das so erworbene Wissen dient zugleich als Herrschaftswissen, indem es auf eine kulturelle Praxis trifft, die Leben führt, indem sie seine messbaren und formalisierbaren Parameter kontrolliert. Gegen diese doppelte Gleichsetzung von Wissen mit erfahrungswissenschaftlichem Wissen und von wissenschaftlichem Wissen mit mathematisierbarem Wissen soll in diesem Kapitel Plessners Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft profiliert werden. Wenn wir uns selbst als Naturwesen definieren, hat unsere Naturauffassung Folgen für unser Selbstverständnis. Einem rein positivistischen Begriff vom Lebendigen stellt Plessner ein hermeneutisches Lebensverständnis gegenüber. Dabei greift er auf die Le Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft | 127

bensphilosophie der Dilthey-Schule zurück. Plessners eigener, mit den Mitteln einer hermeneutischen Phänomenologie gewonnener Lebensbegriff liefert die Grundlage für die Beschreibung des Menschen als ein Naturwesen, das über die Natur hinaus existiert. Lebensbegriff und Lebensführung

Von den Nazis als »Halbjude« eingestuft, musste Plessner 1933 Deutschland verlassen und fand mit Hilfe des holländischen Physiologen Frederik Jacobus Johannes Buytendijk in den Niederlanden Exil. Dort entstehen einige gemeinsame Arbeiten ; die letzte ist ein Aufsatz über die Differenz zwischen »Tier und Mensch« und kann 1938 in der Neuen Rundschau nur unter dem Namen Buytendijks erscheinen. Acht Jahre später wählt Plessner für seinen ersten Vortrag auf deutschem Boden nach der »Machtergreifung« genau diesen Text, den er kürzt und neu bearbeitet. Er wendet sich an seine Zuhörer mit den Worten, dass er über eine Frage spreche, »deren Aktualität wir alle am eigenen Leibe erlebt haben, die Frage nach der Grenze zwischen Tier und Mensch, nach der Sonderstellung des Menschen in der Natur«. 325 Diese Virulenz erläutern die beiden Verfasser bereits 1938 : Die Entwicklung des Selbstvertrauens des Menschen in seine Fähigkeiten stehe in einem merkwürdigen Missverhältnis zur Selbsteinschätzung seines Wertes. Je größer demnach die Macht, desto geringer das Selbstwertgefühl. »Die Entgötterung des Lebens, im Zeichen der Erhöhung des Menschen begonnen, rächt sich an ihm, da sie im Zeichen seiner Erniedrigung endet.« Das Freiheitsbewusstsein tritt hinter ein bloßes Könnensbewusstsein zurück, und dies führt schließlich zur »dämonische[n] Abwertung der Menschenidee zugunsten der untermenschlichen Kräfte«.326 Die Abwertung besteht genau darin, dass die Idee des Menschen mit der »Idee des menschlichen Körpers gleichgesetzt« wird. »Als Körper wird der Mensch zum Tier«.327 Problematisch ist die Reduktion des Menschen auf seine physischen Merkmale deshalb, weil damit zugleich seine kognitiven Fähigkeiten auf technische Intelligenz beschränkt werden. Wie Scheler unterscheiden die Autoren zwischen Geist (bzw. Vernunft) und Intelligenz : »Intelligenz ist eine 128 | Kapitel 7 

biologische Kategorie […] Geist dagegen ist eine transbiologische Größe«.328 Darauf zielt auch die Kritik am ökonomistischen Prinzip des Darwinismus, der »alles dazu getan hat, die Sapientia zur Prudentia, zum technisch-rechnerischen Verstande zu verarmen«.329 Der Geist interessiert sich nicht für die Funktionswerte der Dinge, er entdeckt ihren Seinswert. Dadurch befreit er den Menschen aus der tierischen Umwelt und öffnet ihn für die Welt, deren Interieur nicht nur einen Funktionswert, sondern einen Sachgehalt besitzt. Voraussetzung für diese Versachlichung ist aber die Freiheit von der animalischen Trieb- und Instinktbindung. Die beiden Texte von 1938 und 1946 stimmen – von einigen Kürzungen und Reformulierungen abgesehen  – weitgehend überein. Nur in einer Hinsicht offenbart sich eine aufschlussreiche Differenz, die einen Unterschied im Denken der beiden Autoren offenbart. Der frühere Text interpretiert den Gegensatz von tierischer Umweltgebundenheit und menschlicher Weltoffenheit am Leitfaden der »zugleich bindenden und distanzierenden Beziehung« der Liebe, während Plessner 1946 »nur in der Abstandnahme« den sachlichen Charakter der Welt begründet.330 Kulminiert der Aufsatz im Pathos der Bindung, so endet der Vortrag mit einem Pathos der Distanz. Ist der Mensch dort das liebend-geliebte Ich in einer Welt, in der ihm der Andere als ein anderes Ich begegnet, vermag er hier »von allem Abstand zu nehmen und gerade darum zu allem eine sachliche, eine hingebende Beziehung zu finden«.331 Einmal gründet die Sachlichkeit in der Liebe, das andere Mal die Liebe in der Sachlichkeit. Die Gemeinschaft beschränkt Plessner auf den lebensweltlichen Nahbereich (wie Partnerschaft, Familie oder Freundschaft) und grenzt sie von der Gesellschaft ab, deren Aufgabe gerade darin besteht, die Menschen auf einen für die Freiheit aller bekömmlichen Abstand zu halten. Die Ausdehnung des Gemeinschaftsgedankens auf die gesellschaftliche Sphäre führt in den sozialen Radikalismus, den der liberale Plessner in der linken wie in der rechten Variante ablehnt. 1946 blickt er auf die unselige Beschwörung von ›Blut und Boden‹ zurück, durch die Menschen an eine Heimat gebunden werden sollen, die sie nie hatten noch haben werden. Steht Boden für vegetative Orts- und Blut für animalische Sippengebundenheit, so ist dem Menschen aufgrund der Indirektheit seines Weltbezugs  Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft | 129

beides versagt : Als geistige Wesen erfassen wir Sachen und Werte vermittelt durch Kategorien- und Normensysteme ; als handelnde Wesen agieren wir im gesellschaftlichen Raum auf Distanz durch soziale Rollen. Konstitutionell wurzellos, ist der Mensch ein »Emigrant der Natur«, 332 der sich seine Heimat erst schaffen muss. Der Verlust der tierischen Umweltbindung bringt uns in die prekäre Lage, kompensieren zu müssen, was die Natur uns versagt hat. Darin beruht sowohl die geistige Freiheit zur Gestaltung als auch die Gefahr der Überkompensation. Die regressive Tendenz zur Naturalisierung seiner selbst verlangt daher nach einer Besinnung auf die natürliche Künstlichkeit des Menschen, der noch in der Leugnung der Autonomie des Geistigen seine biologische Heimatlosigkeit unter Beweis stellt. Ein Emigrant der Natur ist der Mensch, weil er weder körperlich noch psychisch noch geistig naturalisiert leben kann. Er steht in einem Verhältnis zu seiner Natur und ist damit zugleich über sie hinaus, als Körperding, als Seele und als Geist. Daher macht es Plessner zur Aufgabe seiner Naturphilosophie, die Grenzen jeder Naturalisierung aufzuzeigen, die die physisch-psychisch-geistige Einheit des Menschen auseinanderreißt. »Leben versteht Leben« : Naturalisierung der Hermeneutik

Dieses Anliegen verfolgt Plessner durch die Legitimation eines eigenen wissenschaftlichen Zugangs zum Lebendigen, der als ein hermeneutischer gleichberechtigt neben dem mathematisierenden bestehen kann. Dafür greift er auf die Lebensphilosophie der Dilthey-Schule zurück. Plessners Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch versucht, die Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften durch eine »Philosophie des Menschen« und diese durch eine »Philosophie der Natur« zu begründen.333 Naturphilosophie, Anthropologie und Geisteswissenschaften sollen also eine Begründungsreihe konstituieren, in der einer verstehenden Biologie die Schlüsselrolle zukommt. Damit naturalisiert Plessner gewissermaßen die Hermeneutik, um einer falschen Naturalisierung des Geistes Einhalt zu gebieten. Der Grundgedanke ist der folgende : Wenn der Mensch in seiner Ganzheit zur 130 | Kapitel 7 

Natur gehört, dann besitzt die Natur der Möglichkeit nach auch seelische und geistige Qualitäten. Dies impliziert das »anthropologische Grundgesetz« der natürlichen Künstlichkeit : Der Mensch ist von Natur aus auf Kultur angelegt. Wenn aber die Grammatik der Kultur nicht im Berechenbaren und Messbaren aufgeht, dann hat es damit auch in der Beschreibung der Natur nicht sein Bewenden. Und wenn die Logik der Kultur Normativität einschließt, dann ist die Rede von natürlichen Normen nicht per se ein ›naturalistischer Fehlschluss‹. Der »Impuls« der Diltheyschen Lebensphilosophie besteht darin, »das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen«. 334 Dilthey meint mit diesem Leben jedoch einzig und allein das Erleben des menschlichen Geistes, das in Werke der Kultur, vor allem Schriftdokumente, einfließt. Die Natur hingegen, die belebte eingeschlossen, »ist uns stumm [und] fremd. Denn sie ist uns nur ein Außen, kein Inneres. Die Gesellschaft ist unsere Welt.«335 Den Abgrund zwischen einem Innen und einem Außen überbrückt nur der Ausdruck, paradigmatisch der sprachliche Ausdruck, durch den sich ein Inneres (Gefühl oder Gedanke) nach außen kundzutun vermag. Bedingung für das Verstehen von Ausdrücken ist die Gleichartigkeit des sich ausdrückenden Inneren, das heißt die »Identität der Vernunft«, der im Äußeren ein objektiv(iert)er Geist korrespondiert. Dilthey nennt diese objektive, expressive »Sphäre von Gemeinsamkeit« geistige Welt. 336 Sie definiert den Objektbereich der Geisteswissenschaften, in denen das Subjekt des Wissens eins ist mit seinem Gegenstand. »Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er.«337 Der Inbegriff dessen, was der Mensch nicht geschaffen hat : die Natur, »kann nur konstruiert, aber nie verstanden werden«. Oder in einer anderen bekannten Formulierung : »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.«338 Verstehen heißt Rückübersetzen des werkgewordenen, zeichenhaften in das lebendige Erleben, des Objektiven in das Subjektive, des Gemachten in den schöpferischen Prozess der Hervorbringung. Erklären heißt Hinzufügen (Konstruktion) von Begriffen und Sätzen, Apparaten und Prozeduren zu einem unabhängig von uns stattfindenden Naturverlauf. Die Naturwissenschaft Biologie erfasst vormenschliches Leben daher nur von außen und »nach der Analogie der psychologischen  Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft | 131

Tatsachen«, während der Gegenstand der Psychologie auch »von innen gegeben« ist.339 Die Möglichkeit des Verstehens knüpft Dilthey an das Vorliegen eines geistigen Selbst, von dem Tiere lediglich ein Analogon besitzen. Das Objekt des Wissens muss mit seinem Subjekt eins sein, um durch seine Werke verstanden werden zu können. Genau diese Bedingung, die Verstehen an die sprachliche Äußerung eines geistigen Selbst in Werken bindet, wirft Plessner über Bord. Diltheys »Leben erfaßt hier Leben« gibt er damit eine völlig neue Bedeutung, wenn er im Sinne seiner verstehenden Biologie umformuliert : »Leben versteht Leben«. 340 Geht es bei Dilthey um die Deutung von Texten, hat Plessner vielmehr Wahrnehmungsvermögen und Verhalten von Lebewesen im Auge. An die Stelle der geistigen Welt tritt die Umwelt. Einen Gewährsmann für seine naturphilosophische Ausweitung des Dilthey-Programms sieht Plessner in Diltheys Schüler und Schwiegersohn Georg Misch. Misch tritt seinerseits für eine »Erweiterung der logischen Fundamente« ein. Damit meint er zunächst eine Logik des Ausdrucks. Das Ausdrucksphänomen begründet die logische Eigenart der Geisteswissenschaften. Deren Aufgabe ist es, Objekte, die von sich aus zu uns sprechen können, »zur Aussprache dieses ihres Wissens von sich selber, des Wissens des Lebens von sich selber« zu bringen.341 Auch Misch bindet also das Ausdrucksverstehen an kulturelle Werke einerseits und geistige Subjekte andererseits. Aber er interpretiert Diltheys Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als Spiegel einer »zweiseitige[n] Wirklichkeit«, deren geistige Seite eben die Geistes- und deren »Naturseite« die Naturwissenschaften ergründen.342 Die Antithese des Lehrers will der Diltheyschüler in einer Synthese aufheben und die logischen Fundamente »so breit« anlegen, »daß der uns quälende Gegensatz von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft […] nicht mehr die Wissenschaftslehre zerreißt«. Es scheint für Misch vielmehr so zu sein, »daß auch dieser Gegensatz […] ein bloß zeitläufiger, also vorübergehender ist«, den es »produktiv […] zu überwinden« gelte.343 Plessners Naturphilosophie setzt genau bei der Innen-AußenDifferenz an, von der Dilthey ausgeht. In einem Brief an seinen Freund Josef König formuliert Plessner die Problemstellung so : »Welcher Sachverhalt […] bedingt, daß das Angeschaute im Dop132 | Kapitel 7 

pelaspekt [von Außen und Innen] erscheint –, ohne die Einheit des Blicks zu zerstören – ohne also [eine] alternative Blickstellung (äußere und Selbstwahrnehmung) zu fordern ?« Plessners Antwort : »das Lebendige«. 344 Der lebendige Körper bringt die Unterscheidung eines Inneren und eines Äußeren anschaulich, das heißt in unmittelbarer Erscheinung zum Austrag. Für diesen Sachverhalt wählt Plessner den Begriff der Grenze. Nach Dilthey haben es die Naturwissenschaften mit einem bloß dinglichen Außen ohne Innendimension und die Geisteswissenschaften mit einer rein menschlichen, geistigen Innerlichkeit zu tun, die allerdings nur auf dem Umweg über kulturelle Werke, in denen sie sich vornehmlich schriftlich artikuliert, zu haben ist. Für Plessner hingegen ist das Lebendige genau der Fall, in dem Innen und Außen nicht allererst zusammengebracht werden müssen, sondern immer schon die gegenständliche Einheit von Aspekten bilden, der also eine einheit­ liche »Erfahrungsstellung«345 erlaubt. Was ist Leben ?

Der Begriff der Grenze führt ins Zentrum von Plessners verstehender Biologie, die unser Vorverständnis des Lebendigen artikuliert : Lebewesen regeln aktiv den Grenzverkehr, den sie mit ihrer Umwelt pflegen. Dabei schließen sie sich einerseits von dem sie umgebenden Medium durch eine Körperoberfläche ab, um diese andererseits für bestimmte Stoffe zu öffnen. Was jeweils diesseits oder jenseits der Grenze gehalten wird, bestimmt der Organismus und nicht die Umwelt. Indem er seine eigene Grenze zieht, positioniert er sich innerhalb ihrer so, dass er zugleich über sie hinaus ist, um beispielsweise Nahrung aufnehmen oder seine Reproduktion organisieren zu können. Wenn ein Körper auf diese Weise einen Ort im Raum nicht nur einnimmt, sondern behauptet und über die Zeit bringt, dann ist er belebt. An seiner Grenze kommt die Divergenz der beiden Richtungen eines In-sich-hinein und eines Über-sichhinaus zum Austrag. Das ist der Fall bei einer Pflanze, die über Spaltöffnungen ihren Wasserhaushalt reguliert ; das ist der Fall bei einer Amöbe, die mit ihrem Schleimfuß Nahrung (und nur solche) umschließt ; das ist der Fall bei unserer Haut, durch die wir u.a. un Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft | 133

sere Körpertemperatur ausgleichen. Auch in der unbelebten Natur gibt es Schranken – Grenzen in dem beschriebenen Sinne hingegen kennt nur das Leben. Indem ein Körper seine eigene Grenze vollzieht, findet ein Übergang vom bloßen »Ausdehnungssein in das Innensein« statt.346 Aus der Grenzrealisierung folgt außerdem ein ganz spezifisches Verhältnis von Teil und Ganzem, das Leben definiert. Die kontrollierte Divergenz von In-sich-hinein und Über-sich-hinaus konstituiert ein physisches Selbstverhältnis. Jeder Organismus steht zu seinem Körper in einer Beziehung, durch die sich dieser schon bei einzelligen Lebewesen in Teile differenziert. Allerdings hat ein Lebewesen diese seine Teile (Organellen oder Organe) völlig anders, als die Erde Kontinente hat. Denn anders als ein unbelebter Körper hat sich ein belebter mittels seiner Teile. Das bedeutet, das Ganze ist in jedem seiner Teile gegeben, indem jedes Organ auf die Einheit des Organismus bezogen ist. So besitzt die Haut ihre charakteristischen Eigenschaften der Stoffaufnahme und -abgabe nur, weil der Gesamtorganismus kraft dieser Eigenschaften seine Grenze realisieren und sich innerhalb ihrer gegenüber der Umwelt behaupten kann. Dort, wo sie diese Funktion einbüßt und die Regeneration versagt, verwandelt sich das Lebewesen nicht einfach in ein defektes (wie das bei einer Maschine der Fall wäre), sondern es vollzieht sich ein Unterschied ums Ganze, eine wahrhafte Transsubstantiation, nicht eine bloße Transfinalisation : Es hört auf, ein Lebewesen zu sein und wird unbelebte Materie. Lebendige Körper sind »systemhafte« Ganzheiten, 347 die sich selbst regulieren, regenerieren und reproduzieren können, weil sie nicht einfach nur sind, sondern sich haben. Ein Lebewesen, so formuliert es Plessner, ist ein »Selbst, das haben kann«.348 Freilich müssen wir von diesem »Selbst« zunächst jedes Bewusstsein und jede Absicht abziehen. Gemeint ist jene fundamentale Rückbezüglichkeit, die grenzrealisierende Wesen auszeichnet. Sie sind sich selbst als Körper zu eigen. Daher bevorzugt fast zur gleichen Zeit Martin Heidegger den Ausdruck »Eigentümlichkeit«, 349 um den Austritt aus der Welt des Seins in die des Habens terminologisch zu bestimmen. Sinnfällig demonstriert er dies an den sogenannten »Augenblicksorganen« der Amöbe, die bei Bedarf funktionale Einheiten zur Nahrungsaufnahme und -verarbeitung bildet und wie134 | Kapitel 7 

der zurückbildet. Heidegger betont vor allem, dass die Amöbe das betreffende »Organ« jeweils nur hat, weil sie Nahrung aufnehmen und umwandeln kann. Plessner interpretiert dieses Können auf der Grundlage des animalischen Leibhabens. Beide haben jedoch dasselbe Phänomen im Blick, das ich zuvor Bedeutsamkeit genannt habe (siehe Kap. 1) : Leben geht es um etwas – um das eigene Leben nämlich. Life matters. Was ist der Mensch ?

Leben ist demnach schon als solches ein Selbstverhältnis. Das spezifisch menschliche Selbst- und Weltverhältnis bestimmt Plessner durch den Terminus exzentrische Positionalität. Zentrische Positionalität bedeutet, dass ein Objekt für ein Subjekt gegeben ist, exzentrische Positionalität hingegen, dass das Subjekt in einem Verhältnis zu diesem Subjekt-Objekt-Verhältnis und damit zur Gegebenheit des Objekts selbst steht. Da die zentrische Positionalität in die exzentrische eingebettet ist, spricht Plessner jeweils von einem Doppelaspekt, in dem wir Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt perspektiviert erleben. So nehmen wir Dinge und Ereignisse einerseits konzentrisch auf unseren eigenen Körper als absolutes Zen­trum bezogen wahr : Sie befinden sich vor oder hinter uns, über oder unter uns, rechter oder linker Hand, sie waren eben noch da und sind es jetzt nicht mehr oder wir erwarten sie noch. Andererseits können wir Dingen, unseren eigenen Körper eingeschlossen, auch exzentrisch GPS-Koordinaten zuweisen und Ereignisse nach Uhrzeit und Kalender terminieren. In dieser Außenwelt gibt es keinen absoluten Ort mehr, sondern nur noch relative Raum- und Zeitverhältnisse. Sich selbst in dieser Weise exzentrisch von außen zu sehen, beherrscht bereits jedes Schulkind, das sich im Sitzplan der Lehrerin einträgt. Die exzentrische Struktur der Außenwelt besteht in einer Beobachtung des eigenen Standortes als Aufenthaltsort eines beliebigen, austauschbaren Körpers. Ebenso wie die physische Welt der Objekte erleben wir auch die psychische unserer Erlebnisse unter einem Doppelaspekt : zum einen konzentrisch auf ein aktuelles Befinden bezogen. Jederzeit ist mir irgendwie zumute und alles das, was ich hier und jetzt emp Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft | 135

finde, erlebe und denke, kann ich weder delegieren, noch kann ich mich seinem Einfluss auf mein Handeln radikal entziehen. Andererseits kenne ich mich exzentrisch als jemanden mit einem ganz bestimmten Temperament, mit Anlagen und Charaktereigenschaften, die auch von anderen erfasst werden können, möglicherweise sogar besser als von mir selbst. Die Innenwelt ist daher keineswegs eine nur von ›innen‹, exklusiv mir selbst zugängliche Sphäre, vielmehr dringt mir meine Persönlichkeit sprichwörtlich aus allen Poren, was ja gerade die Möglichkeit therapeutischer Konsultation belegt. Und nur eine Person kann anderen oder auch sich selbst etwas vormachen. Die exzentrische Struktur der Innenwelt zeigt sich ebenfalls schon im kindlichen Rollenspiel, wenn das Kind so tut, als ob es jemand anderes wäre. Schließlich erscheint auch die Mitwelt unter einem Doppel­ aspekt. Einerseits erlebe ich egozentrisch den Andern von meinem eigenen Erleben aus und auf mich hin. Andererseits kenne ich uns exzentrisch »in der Wir-Form«.350 Bemerkenswert an Plessners Beschreibung der Mitwelt ist die Primordialität dieser Wir-Form, die sich nicht additiv aus einzelnen Personen zusammensetzt, sondern »jeder Aussonderung in der ersten, zweiten, dritten Person Singularis und Pluralis zugrunde liegt«. In der Mitwelt ist »das Mitverhältnis zur Konstitutionsform einer wirklichen Welt des ausdrücklichen Ich und Du verschmelzenden Wir geworden«. 351 Plessner bezeichnet in Hegelscher Tradition mit ›Geist‹ diese selbständige Sphäre, die es »nur als Einen Menschen«, 352 aber eben nicht als Ich (cogito), sondern als Wir gibt, und betont den originär pluralen Charakter dieses Prinzips. Wenn daher die »Möglichkeit der Objektivation seiner selbst und der gegenüberliegenden Außenwelt […] auf dem Geist« beruht, dann heißt das nichts anderes, als dass die außen- wie innenweltliche Exzentrizitätsstruktur durch die mitweltliche bedingt ist.353 Sich selbst als Körper unter Körpern bzw. als Person mit verschiedenen Rollen zu reflektieren, spiegelt (reflektiert) noch einmal die Reflexion von Mitverhältnissen in einem Wir-Bewusstsein. Das exzentrische Weltverhältnis ist ein Verhältnis zu einem Verhältnis. Zum exzentrischen Strukturprinzip gehört die Form der Reflexion, welche die Form der Vernunft ist.

136 | Kapitel 7 

Natur und Geist

Plessners Projekt einer verstehenden Lebenswissenschaft ist die Antwort auf eine doppelte Herausforderung : die Entdifferenzierung des Lebensbegriffs und die Expansion der mathematischen Methode. Da Letzteres ein Mittel für Ersteres ist, greift das Paradigma der Berechenbarkeit auch auf jene Domäne über, die vormals durch einen eigenen Lebensbegriff (bios) abgegrenzt war. Mit anderen Worten : Indem menschliches Leben zunehmend als natürlicher Prozess, Natur aber nach dem Muster der Physik (der eigentlichen Wissenschaft, da man in ihr Mathematik antrifft) aufgefasst wird, gerät ausgerechnet die Eigengesetzlichkeit auch jenes Lebens in Gefahr, um dessentwillen die neuzeitliche Naturforschung den ›sicheren Weg der Wissenschaft‹ überhaupt angetreten war. Bacon und Descartes, die am Anfang der Neuzeit die Natur von okkulten Qualitäten – wozu Bacon auch die Zweckursachen zählt – befreit und auf die messbare Materie reduziert haben, um das Leben der Menschen zu verbessern, hätten sich wohl nicht träumen lassen, dass der beispiellose Erfolg ihrer Methoden (der experimentellen Bacons und der mathematischen Descartes’) schließlich die Teleologie selbst unterminiert. Bacons salomonische Wissensgesellschaft und Descartes’ provisorische Moral übernehmen die Maßstäbe guten Lebens problemlos aus dem Christentum. Denn gutes Leben heißt für sie mehr als Entlastung von körperlicher Arbeit, materieller Wohlstand und Gesundheitsfürsorge. Der Entdifferenzierung, durch die zôê und bios, das naturwüchsige und das gestaltete Leben, begrifflich ineinander übergehen, begegnet Plessner nun gewissermaßen mit einer Gegenübertragung. Die Übertragung der Methode für das Leblose auf das Lebendige konterkariert er durch die Übertragung der Methode für das Geistige auf das Lebendige. Er stellt die kontinuumstiftende Entdifferenzierung sozusagen vom Kopf auf die Füße. Dabei spielt er die mathematische und die hermeneutische Methode keineswegs gegeneinander aus. Vielmehr geht es ihm darum, ihnen ihr jeweils zustehendes Recht widerfahren zu lassen. Zweifellos hilft die zergliedernde Analysis eines Ganzen in den Strukturzusammenhang funktionaler Teile dabei, organische Prozesse zu erklären und zu steuern. Sie liefert das Explanans der positiven Erfahrungswis Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft | 137

senschaften. Wenn es aber um die Konstitution des Explanandum geht, die zu erklärende Sache in ihrem Sachgehalt, dann kann auch der empirische Lebenswissenschaftler nicht auf die hermeneutische Methode verzichten, die unser Vorverständnis vom Lebendigen aufklärt und dabei auch die normative Einbettung unserer Orientierungsbegriffe in eine kulturelle Praxis bedenkt. Genau diese doppelte Aufklärung von Begriffen und Normen ist die Aufgabe der verstehenden Lebenswissenschaft oder philosophischen Biologie, die Plessner konzipiert hat. Insofern wir uns selbst als Teil der Natur begreifen, gründet auch die systematische Selbstverständigung über das Humanum, die Anthropologie, in Naturphilosophie. Der Mensch ist ein Naturwesen, das immer schon über bloße Natur hinaus (und deshalb ein ›Emigrant der Natur‹) ist, weil es Natur denken kann. Diese Fähigkeit der Distanzierung macht ihn zu einem Exzentriker. Und in seiner Exzentrizität liegt zugleich seine Freiheit. Wir sind Distanzprofis. Als Lebewesen (zôa) realisieren wir eine Grenze zwischen uns und unserer Umwelt, als geistige Wesen (bios) ziehen wir Grenzen nach Begriffen. Genau das heißt es, sein Leben zu führen : durch Begriffe geleitet Grenzen zu ziehen, für Abstand zwischen sich und der bedrängenden Wirklichkeit zu sorgen, Distanz zwischen mir und meinem Milieu zu schaffen, um sie als Lebenswelt gestalten zu können. Zu solchen Grenzziehungen gehören auch die zwischen dem Naturwüchsigen und dem Gemachten, Mitteln und Zwecken, Berechenbarem und Unberechenbarem, Qualität und Quantität usw. Das wichtigste Unterscheidungswissen ist und bleibt aber dasjenige, das uns erlaubt, die gute und die schlechte Lebensweise auszuwählen. Diese Wahl kann uns niemand abnehmen. Die Schuld liegt bei uns Wählenden.

138 | Kapitel 7 

K APITEL 8 Das Ganze und seine Teile »Der Teil ist doch wohl Teil eines Ganzen.« Platon : Parmenides 137c

Der Teil und das Ganze

Zu den fundamentalen begrifflichen Unterscheidungen, durch die wir uns im Denken orientieren, gehört die Differenz von Teil und Ganzem. Diese Einsicht lässt sich bis zu Platons Dialog Parmenides zurückverfolgen, in dessen Deduktionen aus dem Sein des Einen das Teil-Ganzes-Verhältnis immer an erster Stelle steht. An ihm entscheidet sich, ob es Zahlen gibt : Nur dann, wenn das Eine (hen) zugleich ein Ganzes (holon) ist, hat es mindestens zwei Teile, da ein Ganzes stets aus Teilen besteht. Mit zwei Teilen sowie dem Ganzen, das sie bilden, hat man aber neben der Einheit und der Zweiheit bereits die Dreiheit. Aus ihnen lassen sich durch Addition bzw. Multi­ plikation alle weiteren natürlichen Zahlen bilden, durch Division die rationalen Zahlen ; dass bestimmte Teilverhältnisse (z. B. das Verhältnis der Hypotenuse zur Kathete im Einheitsquadrat) irrationale Zahlen produzieren, die sich nicht als Quotienten natürlicher Zahlen darstellen lassen, war schon den Pythagoreern bekannt. Welche Bedeutung die Mathematik für Platon besitzt, muss nicht eigens betont werden. Zahlen ziehen Grenzen im Unbegrenzten (apeiron) und verleihen dem Kosmos seine Ordnung. Zählbare Vielheit kann es nur geben, wenn die Einheit des Seienden zugleich eine Ganzheit ist. Die Zahl (Eins für das Ganze, Vielzahl für die Teile) ist jedoch nur ein Fall der Einteilung eines Ganzen : die Zerstückelung in Anfang, Mitte und Ende liefert gleich zwei weitere grundlegende Ordnungsschemata – ein räumliches (Ort) und ein zeitliches (Alter). Wenn es eine Mitte gibt, ist Rotation, wenn es   139

Anfang und Ende gibt, Translation möglich – die beiden Arten der Ortsbewegung, die Platon unterscheidet. Messen lassen sich Bewegungen wiederum mit Zahlen. Diese wenigen Andeutungen sollen den ontologischen Stellenwert des Teil-Ganzes-Verhältnisses in den Anfängen der abendländischen Philosophie vergegenwärtigen. Seine logische Bedeutung zeigt sich im Platonischen Verfahren der Dihairese, das die Begriffsanalysen im Parmenides und, wenig später, im Sophistês trägt. Über Platons Lehre von den Teilen zerbrach sich auch der junge Werner Heisenberg den Kopf. Als 17-jähriger Schüler studierte er in den Wirren des Nachkriegsjahrs 1919 auf dem Dach des Münchner Priesterseminars den Timaios, um vor Wiederaufnahme des Schulbetriebs seine Griechischkenntnisse aufzufrischen. Von der Irritation ob der Idee, die Materie sei aus kleinsten Dreiecken geformt, berichtet er in seinem autobiographischen Werk Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik (1969).354 Die Coda zu der Jugenderinnerung bildet ein Dialog, den Heisenberg Anfang der 1960er Jahre mit seinem Mitarbeiter Hans-Peter Dürr und Carl Friedrich von Weizsäcker führt. Aus dem Teenager in der Dachrinne ist der Nobelpreisträger und Max-Planck-Direktor geworden. Platon aber ist sein Begleiter geblieben. Groß war offenbar die Faszination, die von dem Gedanken ausging, dass die sichtbare Materie aus unsichtbaren geometrischen Formen zusammengesetzt sei. Tatsächlich passt der Platonische Strukturalismus ganz gut zur Quantenmechanik, die den Mikrokosmos mittels einer Wellenfunktion (Schrödingergleichung) beschreibt. Die Rede von Elementarteilchen im Sinne kleinster Korpuskeln ist bloß eine ungenaue Analogie für Zustandsvektoren in einem Phasenraum. »Elementarteilchen und Platonische Philosophie«, so der Titel eben jenes Schlusskapitels von Der Teil und das Ganze, 355 markieren nicht nur für Heisenberg ein intellektuelles Anregungsfeld. Der bereits erwähnte Hans-Peter Dürr wählt für seinen Festvortrag zum 80. Geburtstag Carl Friedrich von Weizsäckers, mit ausdrücklicher Anspielung auf Platons Parmenides, den Titel : »Das Eine, das Ganze und seine Teile« und bekennt : »Für einen Physiker wie mich, der sich vornehmlich mit den fundamentalen Gesetzen der Materie und hierbei konkret mit Problemen einer einheitlichen Quantenfeldtheorie der Elementarteilchen beschäftigt hat, spielen 140 | Kapitel 8 

allgemeine Reflexionen über das Eine, das Ganze und seine Teile eine zentrale Rolle.« Und allgemeiner stellt Dürr, an den Jubilar gerichtet, fest : »So haben Fragen der Beziehung der Teile zum Ganzen und die Frage nach den Bedingungen, unter denen dieses Ganze sogar als ›Eines‹ betrachtet werden muß, die Generation von Physikern, die unsere Lehrer und Meister waren, besonders fasziniert und beschäftigt.«356 Insbesondere deshalb, weil man ein Elementarteilchen »nicht als ein winziges Sandkörnchen« auffassen dürfe : »Beim Abstieg aus unserer Lebenswelt in die Mikrowelt verlieren vielmehr die materiellen Objekte unseres Alltags schrittweise eine Eigenschaft nach der anderen – sie werden bedeutungslos – so dass am Ende nur etwas übrig bleibt, was kaum mehr der Materie ähnelt, sondern eher mit Gestalt zu tun hat oder gar an die Offenheit des Geistigen erinnert.«357 Freilich ist mit dem physikalischen Begriff des Elementarteilchens nur ein spezifisches Teil-Ganzes-Verhältnis angesprochen, das die stoffliche Zusammensetzung von Dingen betrifft. In meiner kleinen Mereologie möchte ich in diesem Kapitel die Frage nach der Beziehung von Teilen zu einem Ganzen auf die Felder des Lebens, der Wahrnehmung und der Kultur ausdehnen. Außerdem werde ich zwischen selbständigen und unselbständigen Teilen unterscheiden : Element, Fragment und Moment sind unselbständige, Ingredienz, Komponente und Stück selbständige Teile eines Ganzen. Unselbständige Teile sind das Resultat einer Teilung (Isolation, Destruktion, Abstraktion) – sie gehen aus einer Analyse hervor, die an einem vorliegenden Ganzen vollzogen wird, und sind prinzipiell ergänzungsbedürftig. Selbständig nenne ich dagegen vorliegende Teile, die ein Ganzes allererst generieren, indem sie in seine Synthese eingehen. Hier ist es das Ganze, das ergänzungs­ bedürftig bleibt, wenn ihm ein bestimmter selbständiger Teil fehlt. Unter Analyse und Synthese verstehe ich menschliche Tätigkeiten. Kulturphänomenologisch orientiere ich mich an der Beschreibung geschichtlich gewachsener Kulturtechniken, die Menschen zielgerichtet anwenden : beim Kuchenbacken oder im Chemielabor, als Anatom oder als Transplantationsmediziner, im Erfinden oder in der Kunst. Die Wissenschaft ist eine kulturelle Praxis neben anderen, die nicht weniger von menschlichem Handeln abhängig ist als andere Praxisformen auch.  Das Ganze und seine Teile | 141

In kritischer Absicht möchte ich für mereologische Fehlschlüsse sensibilisieren, die gerade in der populären Aufbereitung wissenschaftlicher Begriffe immer wieder unterlaufen, wenn das Periodensystem der Elemente als Legokasten aufgefasst, das Gehirn anstelle der Person für Handlungen verantwortlich gemacht oder die Wahrnehmung aus vermeintlichen Sinnesdaten zusammengesetzt wird. Stets werden unselbständigen Teilen fälschlicherweise Eigenschaften und Funktionen des Ganzen zugeschrieben, weil man die analytische Handlung verschleiert oder schlicht außer acht lässt, die Teile als Teile eines vorliegenden Ganzen allererst liefert. Das Ergebnis einer menschlichen Analyse wird für die Basis einer natürlichen Synthese genommen. Aber wo Analyse möglich ist, muss nicht zuvor eine Synthese stattgefunden haben. Die folgenden Überlegungen gliedern sich in vier (selbständige) Teile : Zuerst wende ich mich der Teilung von Stoffen in Elemente und der Mischung von Stoffen aus Ingredienzen zu. Dafür lohnt ein erneuter Blick auf Platons Elementelehre. Anschließend geht es um die funktionale Differenz zwischen Fragment und Komponente : Fragmente sind Teile, die durch Trennung von einem Ganzen ihre Funktion verlieren, Komponenten Teile, die durch Einsetzen in ein Ganzes Funktionen übernehmen. Das technische Modell von Lebewesen als Organismen begreift Organe als Komponenten. Dieses Modell hat seine Tücken, woran mit Kant erinnert sei. In einem dritten Schritt gehe ich auf Husserls Unterscheidung zwischen Momenten und Stücken ein, die er an Objekten der Wahrnehmung sowie an sprachlichen Ausdrücken erläutert. Am Ende steht eine kurze Schlussbetrachtung zu Emergenz und Holismus, zwei Begriffen, die häufig mit Blick auf Teil-Ganzes-Verhältnisse diskutiert werden. Auch hier wird die kulturphänomenologische Beschreibung helfen, mereologische Kurzschlüsse zu vermeiden. Element und Ingredienz

In die kollektive Erinnerung an die Schulzeit geht wie kaum ein anderes Emblem sicher das Periodensystem der Elemente ein, das in keinem Chemiesaal fehlen darf. Die Vereinten Nationen haben 2019 sogar zum »Internationalen Jahr des Periodensystems der 142 | Kapitel 8 

chemischen Elemente« erklärt  – aus Anlass seines 150. Geburtstages : 1869 publizierte Dmitri Iwanowitsch Mendelejew seine einschlägige Arbeit »Über die Beziehungen der Eigenschaften zu den Atomgewichten der Elemente«. Auch wenn Mendelejew weder der Einzige noch der Erste war, der die Idee hatte, Elemente nach Atomgewichten (Zeilen) und chemischen Eigenschaften (Spalten) anzuordnen, trug doch er den Ruhm davon. In einer ihm gewidmeten Ausgabe ihres Wissenschaftsteils adelt ihn die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zum »Darwin der Chemie«. 358 Eine Erklärung für die Periodizität lieferte erst die Atomphysik des 20. Jahrhunderts (die chemischen Eigenschaften werden durch die Zahl der ›Außenschalenelektronen‹ bestimmt, die bei allen Elementen einer Spalte gleich ist). Auch hat sich die Zahl der Elemente in den letzten 150 Jahren von 63 auf 118 annähernd verdoppelt. Aber noch jeder dieser ›Grundstoffe‹ hat seinen Platz in der Tafel gefunden, die von Mendelejew und anderen entwickelt wurde. Alle Elemente, die dort auftauchen, haben gemeinsam, dass es sich bei ihnen um Stoffe handelt, »die mit chemischen Mitteln nicht mehr in andere zerlegt werden können«.359 Physikalisch ist die Umwandlung eines chemischen Elementes in ein anderes durch natürlichen radio­ akti­ven Zerfall bzw. künstliche Spaltung oder Verschmelzung von Atomkernen in Reaktoren oder Teilchenbeschleunigern durchaus möglich. Der Traum der Alchemisten erfüllt sich in der modernen Kernphysik. Der Begriff des chemischen Elements ist daher in Abhängigkeit von der technischen Zerlegung mit chemischen Mitteln definiert. Elementarer als die chemischen Elemente sind aus physikalischer Sicht die Elementarteilchen, aus denen Atome bestehen. Diese Relativierung führt zu Platon zurück, der gegen die von Empedokles eingeführte Vier-Elemente-Lehre anführt, dass noch niemand die Entstehung von Feuer, Wasser, Luft und Erde rekonstruiert habe. »Als ob man wüßte, was denn eigentlich das Feuer und jedes andere von ihnen sei, nennen wir sie Prinzipien (archas) und setzen sie als Elemente (stoicheia) des Alls, während es ihnen noch nicht einmal zukäme, zu Recht mit der Gestalt von Silben (syllabês) verglichen zu werden«. 360 Der griechische Ausdruck für Element, stoicheion, bedeutet, wie auch das lateinische elementum, wörtlich Buchstabe. Platons Vorwurf an die Lehre des Empedokles lautet :  Das Ganze und seine Teile | 143

Die vier sogenannten Elemente sind nicht nur keine solchen, sie verhalten sich nicht einmal wie Silben zu Buchstaben. Sie sind aus Teilen von Teilen zusammengesetzte Ganzheiten. Konsequent verwendet Platon, wenn er von Feuer, Erde, Wasser und Luft spricht, nicht den Ausdruck stoicheion, sondern sôma für Körper. Zwar sieht auch er in diesen vier Körpern die grundlegenden Bestandteile alles Geschaffenen, aber sie sind keineswegs einfache, sondern zusammengesetzte Teile. Die eigentlichen ›Buchstaben‹ der Materie bilden zwei Arten rechtwinkliger Dreiecke – sie sind sozusagen das Alphabet, aus dem regelmäßige Polygone (die ›Silben‹) bestehen, die ihrerseits als Grundflächen regelmäßiger Polyeder fungieren : Aus gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecken bestehen die sechs Quadrate eines Würfels (Hexaeder), der stereometrischen Struktur des Erdstoffs. Aus ungleichseitigen rechtwinkligen Dreiecken sind die gleichseitigen Dreiecke der vier Seitenflächen des Tetraeders, der acht des Oktaeders und der 20 des Ikosaeders geformt  – die räumlichen Strukturen von Feuer, Luft und Wasser.361 Da sie aus demselben Dreiecktyp bestehen, sind Umwandlungen zwischen diesen drei Stoffen möglich – der beste Beleg dafür, dass es keine echten Elemente sind. Nur die aus Quadraten bestehende Erde wird immer wieder zu Erde. Zu irgendeinem dieser vier Körper sind die Elementardreiecke jedoch immer geformt, sie sind keine selbständigen, sondern unselbständige Teile. Außerdem wurden sie gemacht. Die Formung der Polygone und Polyeder erfolgt im Platonischen Timaios durch den Demiurgen, eine Art Handwerkergott, der den Kosmos nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern einem amorph gefüllten Raum Form gegeben hat. Das Mittel dieser Formgebung ist Unterscheidung. So wie der Demiurg die Grundbestandteile alles Stofflichen durch ideengeleitete Unterscheidung gleichschenkliger und ungleichseitiger rechtwinkliger Dreiecke modelliert, so kreiert Theuth die Buchstabenschrift durch die Distinktion verschiedener Phoneme.362 Beide bestimmen Unbestimmtes, die chôra hier, die phônê dort, indem sie es (ein)teilen. Eine Grenze findet die Analyse dort, wo nicht weiter sinnvoll unterschieden werden kann : Das Dreieck ist die einfachste von Geraden begrenzte geometrische Form, Buchstaben sind die letzten bedeutungsunterscheidenden, aber selbst bedeutungslosen Bestandteile der geschriebenen Sprache.363 Um diese Teile durch 144 | Kapitel 8 

Abtrennung bilden zu können, muss bereits ein Ganzes vorliegen : Raum bzw. Sprache. Wem die Platonische Kosmogonie zu spekulativ ist, dem mag der Hinweis weiterhelfen, dass auch die Elemente der modernen Chemie Elaborate sind, in der Regel sogar im Wortsinne, da die meisten Elemente entweder nicht in Reinform oder gar nicht in der beobachtbaren Natur vorkommen, sondern im Labor hergestellt werden. Letzteres gilt für alle Elemente mit der Ordnungszahl über 94. Obwohl in Teilchenbeschleunigern erzeugt und extrem instabil, spricht man beim Nachweis trotzdem gerne von Entdeckung. Diese Redeweise sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Chemiker mal mehr, mal weniger aufwendige Prozeduren der chemischen Analyse durchführen müssen, um ›gediegene‹ Elemente zu isolieren. Auf der Erde kommen die meisten Stoffe entweder mit anderen verbunden vor, oder sie sind so flüchtig, dass man ihrer nur schwer habhaft werden kann. Auch das reinste Gold hat einen Reinheitsgrad unter 100 Prozent. Elemente, so können wir also festhalten, resultieren aus einer Scheidung, einer Analyse – chemische Elemente aus einer chemischen Analyse, sprachliche Elemente aus einer linguistischen Analyse (grammatikê). Wir sollten daher Elemente als unselbständige Teile eines vorliegenden Ganzen (chemisch unreiner Stoff, sinnvolle Spracheinheiten usw.) sorgfältig von Ingredienzen unterscheiden. Eine Ingredienz ist ein selbständiger Teil, der in eine Mischung hineinkommt (von lat. ingredior : hineingehen) und daran beteiligt ist, ein Ganzes hervorzubringen, zu synthetisieren. Im Alltag kennen wir dergleichen vom Kochen und Backen, wenn wir verschiedene Zutaten nach einem Rezept und in einer bestimmten Reihenfolge zusammenfügen und daraus im gelingenden Fall eine Speise wird. Ein anderes Beispiel sind die Inhaltsstoffe einer Arznei, die im Beipackzettel aufgeführt sind. Die Zerlegung eines bestehenden Ganzen liefert Elemente, die Zusammenfügung bestehender Teile benötigt Ingredienzen. Ingredienzen können freilich selbst hergestellt sein, und häufig sind sie auch aus Teilen zusammengesetzt. Handelt es sich um selbständige Teile, haben wir es mit Ingredienzen zu tun, sind es unselbständige Teile, sprechen wir von Elementen. Die chemischen Elemente sind keineswegs »Bausteine unserer Welt«, 364 sondern Produkte ihrer Zerlegung durch Chemiker, die chemi Das Ganze und seine Teile | 145

sche Mittel einsetzen. Andernfalls stellt sich die Frage nach dem Baumeister und seinen Plänen, denn Bauen ist ein zielgerichtetes Handeln. Der suggestive, in diesem Kontext aber missverständliche, weil teleologische Ausdruck ›Baustein‹ verweist bereits auf den Begriff der Komponente. Fragment und Komponente

Die missbräuchliche Verwendung des Ausdrucks ›Baustein‹ für die Partikel, in die Chemiker und Physiker Stoffe zerlegen, ist häufig Teil einer kurzen Geschichte von allem, und die geht so : Materie besteht aus Atomen und diese aus Elementarteilchen, Atome setzen sich zu Molekülen zusammen, womit zugleich die Zuständigkeit von der Physik in die Chemie wechselt. Beginnen hinreichend komplexe Molekülketten, sich selbst zu reproduzieren, tritt die Biologie auf den Plan ; wenn sich Nervenzellen bilden, so dass Organismen empfindungsfähig werden und Verhalten zeigen, schlägt die Stunde der Psychologie. Die Interaktionen menschlicher Kollektive erforscht schließlich die Soziologie. Janich hat das enzyklopädische Prinzip dieser Hierarchie von Wissenschaften treffend als »Baukastenprinzip« bezeichnet und zugleich den »Denkfehler«, 365 der ihm zugrunde liegt, identifiziert : »›Bestehen aus‹ in Wendungen wie ›Moleküle bestehen aus Atomen‹ oder ›Organismen bestehen aus Zellen‹ und damit die Baukastenmetapher […] stützt sich auf den Bereich des menschlichen Handwerks, bei dem Geräte aus Komponenten zusammengesetzt werden. Das heißt, ein Uhrmacher muß erst die Einzelteile herstellen, um diese dann zu einer Uhr zusammenzusetzen. Ersichtlich geht er so vor, weil er den Zweck von Uhren kennt und verfolgt, und weil er einen Plan von der Funktion des komplexen Geräts, also der Uhr, hat und realisieren möchte. Dazu ersinnt er Komponenten derart, daß deren kausales Zusammenwirken […] die ›komplexe‹ Funktion der Uhr ergibt.«366 Komponenten (von lat. componere : zusammensetzen) sind Gebilde, die, für einen bestimmten Zweck eigens hergestellt, als Einzelteile zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Ich möchte sie daher noch stärker als Janich von bloßen Zutaten unterscheiden, die zwar, beispielsweise von der Lebensmittelindustrie, heutzutage 146 | Kapitel 8 

häufig ebenfalls produziert werden, aber nicht zwingend hergestellt sein müssen. Allerdings gilt für Komponenten wie für Zutaten (Ingredienzen) gleichermaßen, dass sie nicht durch Teilungshandlungen zurückgewonnen werden können : Komponieren ist nicht die Umkehrung des Teilens : Aus dem Zerteilen des Kuchens gewinnen wir ebenso wenig die einzelnen Zutaten wieder wie funktions­ fähige Komponenten durch Zertrümmern einer Uhr. Diese müsste vielmehr vorsichtig und mit Fingerspitzengefühl dekomponiert werden, um wieder einen vollständigen Bausatz für eine neue Uhr zu erhalten. Die niedrigen Recyclingquoten von Smartphones verdeutlichen die Schwierigkeit dieses Unterfangens. Jedenfalls stellt der Uhrmacher seine Zahnräder nicht »durch Zerteilen von Uhren« her.367 Dekomponieren ist etwas anderes als bloßes Zerlegen. Schlagen wir mit einem Hammer auf eine Uhr, so erhalten wir keine Komponenten, sondern Fragmente (von lat. frangere : zerbrechen). Fragmente sind unselbständige Teile, die ihre Funktion für ein Ganzes eingebüßt haben. Fragmentierung ist nicht durch Komposition rückgängig zu machen. Zu kleinsten Schnipseln geschredderte Akten sind unwiderbringlich verloren. Die berühmten Fragmente der Vorsokratiker sind Bruchstücke, die sich nie wieder zu den Texten zusammensetzen lassen, aus denen sie stammen und deren ursprünglicher Sinn daher verschüttgegangen ist. Fragmente unterscheiden sich von Elementen dadurch, dass sie nicht bloß aus einer Teilung, sondern aus einer Zerstörung, einer Korruption resultieren. Sie sind die dysfunktionalen Überbleibsel einer Sache, die sich nur mit teleologischen Ausdrücken angemessen beschreiben lässt. Oder salopper formuliert : Fragmente sind kaputte Teile. Es liegt nahe, das Komponentenmodell auf lebendige Körper zu übertragen. Demnach wären funktionsfähige Teile Organe, funktionslose Bruchstücke wie Hautschuppen, ausgefallene Haare oder abgeschnittene Fingernägel Fragmente. Aber Organismen sind keine Maschinen und Organe keine Komponenten, auch wenn die Begriffe dies nahelegen (von griech. organon : Werkzeug). Denn erstens bilden Lebewesen ihre Organe selbst und zweitens werden transplantierte oder künstliche Organe erst dann zu Komponenten, wenn der Körper des Empfängers sie annimmt – etwas, das einen Organismus klar von einer Uhr unterscheidet. Diesen Un Das Ganze und seine Teile | 147

terschied hat keiner so klar und deutlich herausgestellt wie Kant : »In einer Uhr ist ein Theil das Werkzeug der Bewegung der andern, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung des andern ; ein Theil ist zwar um des andern willen, aber nicht durch denselben da. Daher ist auch die hervorbringende Ursache derselben und ihrer Form nicht in der Natur (dieser Materie), sondern außer ihr in einem Wesen, welches nach Ideen eines durch seine Causalität möglichen Ganzen wirken kann, enthalten. Daher bringt auch nicht ein Rad in der Uhr das andere, noch weniger eine Uhr andere Uhren hervor, so daß sie andere Materie dazu benutzte (sie organisirte) ; daher ersetzt sie auch nicht von selbst die ihr entwandten Theile, oder vergütet ihren Mangel in der ersten Bildung durch den Beitritt der übrigen, oder bessert sich etwa selbst aus, wenn sie in Unordnung gerathen ist : welches alles wir dagegen von der organisirten Natur erwarten können.«368 Uhren bringen sich nicht selbst hervor, sondern werden von einem Uhrmacher ideengeleitet konstruiert ; weder produzieren Teile von Uhren weitere Teile noch ganze Uhren andere Uhren ; Uhren vermögen nicht, fehlende Teile selbständig zu ersetzen oder wenigstens funktional zu kompensieren, sie reparieren sich nicht selbst. All dies aber ist bei Lebewesen der Fall : Sie wachsen, pflanzen sich fort und können sich, in gewissen Grenzen, wieder ›ganz machen‹. Sie besitzen nicht nur die Kraft, sich und ihre Teile zu bewegen, sondern diese auch allererst zu bilden. Keine Maschine ist ein »organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen«.369 Deshalb kann man Organe nur per analogiam als Komponenten betrachten, die als Einzelteile eine Funktion für das Ganze ausführen. Sinnvoll ist diese Analogie beispielsweise in der Medizintechnik für die Konstruktion von Prothesen. Im Gegensatz zu ›Lebewesen‹ ist der Ausdruck ›Organismus‹ eine Metapher, die technisches Tun auf die Natur überträgt. 370 Nimmt man ihn wörtlich, dann handelt man sich die gleichen Probleme wie mit den ›Bausteinen der Materie‹ ein. Man müsste die Frage beantworten, wer hier nach welchem Plan Teile zu einem Ganzen zusammensetzt. Komponenten werden zielgerichtet hergestellt. Ein nach einem solchen Plan komponiertes Ganzes ist ein System, andernfalls wäre es ein bloßes Aggregat (wie z. B. ein Sandhaufen) : »denn im System ist das Ganze eher da als die Theile, im 148 | Kapitel 8 

Aggregat hingegen sind die Theile eher da«.371 Bei Artefakten ist das Ganze vor den Teilen als Idee, im Kopf des Konstrukteurs oder als Bauanweisung, gegeben. Doch was entspricht der Idee im Falle von Naturobjekten ? Lebewesen setzen sich nicht bewusst nach einem vorgängigen Plan zusammen, das unterscheidet sie ja gerade von menschengemachten Gegenständen. Die moderne Biologie könnte nahelegen, dass der Konstruktionsplan in den ›Genen‹ liegt. Wenn man so antwortet, begeht man aber wieder den Fehler, Teilen und Zusammensetzen als kommutative Vollzüge aufzufassen. Gene sind funktional bestimmte unselbständige Abschnitte der DNA, die, sofern sie ›aktiv‹ sind, bei der Bildung von Proteinen in Zellen eine Rolle spielen. Ihre Funktion für den Organismus ist schlechterdings unbestimmbar, wenn sie bloß isoliert betrachtet werden. Hat man ein Genom vollständig sequenziert, weiß man zunächst einmal gar nichts über Gene. Vielmehr fängt für den Genetiker die Arbeit jetzt eigentlich erst an. Einzelne Abschnitte müssen aktiviert oder inaktiviert werden, um die Auswirkungen auf den Stoffwechsel, die Ausbildung bestimmter Zellstrukturen oder den gesamten Phänotyp zu ermitteln. Außerdem korrelieren makroskopische Eigenschaften häufig mit zahlreichen Genen, epigenetischen und nicht zuletzt Umweltfaktoren, was die Zuordnung erheblich erschwert ; bei Menschen verbietet die Moral die hierfür nötigen Versuche. Die Vorstellung einer biochemischen Blaupause im Zellkern ist daher reichlich naiv. Produktion, Reproduktion und Reparatur vollziehen sich überdies bereits auf molekularer Ebene, so dass die ›bildenden Kräfte‹ des ganzen Lebewesens auch in seinen kleinsten Teilen anzutreffen sind, weshalb die Teile jene Kräfte nicht zu erklären vermögen. Schließlich wird aus isolierter DNA nicht von selbst wieder ein ganzes Lebewesen (Klonen), sondern nur dann, wenn man mit viel Geschick und noch mehr Glück eine entkernte Eizelle befruchtet und diese einem ganzen Tier einsetzt. Das Komponentenmodell des lebendigen Körpers bleibt daher ein bloßer Analogieschluss von künstlichen auf natürliche TeilGanzes-Verhältnisse für bestimmte technische Zwecke. Die Sache (Leben) selbst trifft das Modell nicht.

 Das Ganze und seine Teile | 149

Moment und Stück

Was Eigenschaften hat, das hat auch Teile. Rot und glatt sind Teilbestimmungen eines Dinges, hoch und laut Teilbestimmungen einer Melodie, schnell und geradlinig Teilbestimmungen einer Bewegung. Logisch betrachtet handelt es sich um Prädikate eines Subjekts (Ding, Melodie, Bewegung), phänomenologisch um unselbständige Aspekte der Erscheinung einer Sache : Farbe kann nicht losgelöst von Ausdehnung erscheinen und Ausdehnung nicht ohne Färbung ; ein Ton hat immer eine bestimmte Lautstärke, aber Lautstärke tritt nur an Tönen in Erscheinung usw. Solche »ab­ strakten Teilinhalte«, die prinzipiell ergänzungsbedürftig bleiben, nennt Husserl Momente im Gegensatz zu Stücken, »welche auch für sich gesondert erscheinen können«.372 Beispiele für Stücke sind Hand, Kopf oder der einzelne Ton einer Melodie ; Momente sind die Farbe einer Hand, die Kopfform bzw. die Tonhöhe. »Jeden relativ zu einem Ganzen G selbständigen Teil nennen wir ein Stück, jeden relativ zu ihm unselbständigen Teil ein Moment (einen ab­ strakten Teil) dieses selben Ganzen G.«373 Momente und Stücke lassen sich als solche jeweils durch Variation eines Ganzen identifizieren : Ich kann mir zwar vorstellen, dass ein Ball nicht rot, sondern weiß ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er gar keine Farbe hat ; wäre er absolut durchsichtig, wäre er unsichtbar. Andererseits kann ich mir problemlos einen Arm ohne Hand oder einen Kopf ohne Rumpf vorstellen. Die Variation von Momenten beschränkt sich auf die Substitution durch andere Momente desselben Typs, die Variation von Stücken erlaubt darüber hinaus auch die Substitution durch Stücke eines anderen Typs (auf diese Weise bilden wir Chimären) oder gar die ersatzlose Elimination (wie bei einer Amputation). Die Stücke eines Ganzen sind nicht einfache Glieder einer Menge, sondern weisen Verbindungseigenschaften auf. »Darin liegt beschlossen, daß das Ganze mehr ist als die bloße Summe seiner Teile.«374 Husserl erinnert an das gestaltpsychologische Prinzip der Übersummation, das richtig formuliert allerdings lautet : »Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile.« Denn, so Wolfgang Metzger weiter : »Es kommen nicht etwa nur zu den – unveränderten  – Teilen Gestaltqualitäten hinzu, sondern alles, was zu 150 | Kapitel 8 

einem Teil eines Ganzen wird, nimmt selbst neue Eigenschaften an.«375 Gestalten sind Ganzheiten, deren Eigenschaften sich nicht additiv aus den Eigenschaften ihrer Teile zusammensetzen lassen, da jeder Teil einer Gestalt seinerseits durch seine »funktionale Bedeutsamkeit« für das Ganze bestimmt ist.376 Daher trifft es nicht zu, dass dieselben Teile in unterschiedliche Ganzheiten eingehen – mit ihrer funktionalen Bedeutsamkeit verändern sie nämlich zugleich ihre Eigenschaften und werden erscheinungsmäßig zu etwas Neuem. Gestalttheoretisch betrachtet sind die Teile einer Gestalt also Momente und nicht Stücke. Die Isolation von Teilen eines gestalthaften Ganzen richtet diese Teile als Stücke allererst her. Eine Verbindungseigenschaft oder Gestaltqualität ist weder ein selbständiger noch ein unselbständiger Teil, sondern nach Husserl vielmehr eine »mittelbare Bestimmung des Ganzen […] ein mittelbares Moment, das kein unmittelbares Moment des einen oder anderen Teiles ist, sondern ihres Zusammen. Es kann nur hervortreten, wenn das Zusammen als Zusammen gegeben ist, das heißt, wenn das Ganze in seine Teile expliziert und somit in sie eingeteilt ist.«377 Dieser letzte Satz ist entscheidend, weil er ein weiteres Mal die Nichtrückführbarkeit des Teilens in das Zusammensetzen, der Analyse in die Synthese vor Augen führt. Gestaltqualitäten treten erst in der Explikation eines Ganzen hervor. Hervortreten bedeutet hier ex post an einem vorliegenden ›Zusammen‹ abheben. Wir nehmen immer schon Gestalten wahr und Empfindungen sind ihre bloß unselbständigen Teile. Der Sinnesdatenatomismus beruht auf einem mereologischen Fehlschluss. Husserl bezieht die Differenz von Moment und Stück ausdrücklich auf »raum-dingliche Gegenstände äußerer Wahrnehmung« und betont, dass sie »nicht ohne weiteres durch eine Formalisierung auf die in ihnen fundierten Gegenständlichkeiten höherer Art, z. B. Kulturobjekte, übertragen werden [könne] ; obzwar an diesen in einer spezifisch ihnen eigenen Art auch Verhältnisse wie die von Ganzem und Teil […] aufweisbar sein müssen«. 378 Dennoch baut er selbst eine Brücke, über die man von der Phänomenologie der Wahrnehmung in die Kulturphilosophie gehen kann, und diese Brücke ist die sprachphilosophische Unterscheidung zwischen synkategorematischen und kategorematischen Ausdrücken. Synkategorematische Ausdrücke sind unselbständige und ergän Das Ganze und seine Teile | 151

zungsbedürftige »Bedeutungsmomente«, »die nach einer gewissen Ergänzung verlangen«, wie z. B. : »aber«, »des Vaters«, »gleich«, »in Verbindung mit«, »und«, »oder«, »größer«.379 Im Gegensatz dazu sind »Mensch«, »Vater« und »Viereck« kategorematische Ausdrücke mit einer eigenen Bedeutung. Die Bildung eines Bedeutungsganzen aus kategorematischen und synkategorematischen Ausdrücken illustriert Husserl an dem Gegensatz von Unsinn und Widersinn. Die Verknüpfung »ein rundes Viereck« ist zwar widersinnig, da ihr ein begrifflicher Widerspruch zugrunde liegt, liefert aber »eine einheitliche Bedeutung«, die sich darin zeigt, dass wir sie zu dem sinnvollen Satz »Ein rundes Viereck gibt es nicht« ergänzen können. Demgegenüber liegt mit den synkategorematischen Phrasen »ein rundes oder« bzw. »ein Mensch und ist« echter Unsinn vor : Es handelt sich um bloße »Worthaufen«, die »einheitlich überhaupt nicht zu verstehen« sind.380 Dass sich die Unterscheidung von Moment und Stück auch kulturphilosophisch nutzen lässt, demonstriert Cassirer. In Manuskripten, die zeitgleich mit dem dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen entstanden sind, formuliert Cassirer das »Gesetz der (symbolischen) Praegnanz« : »Jedes Element (unselbständige Moment) eines Sinngefüges kann als Träger des Ganzen dieses Sinngefüges fungieren, – kann die Einheit des Gefüges als solche darstellen u[nd] ausdrücken.«381 Mit der Bezeichnung ›Moment‹ greift Cassirer Husserls Terminologie auf, um sie auf Kulturobjekte zu übertragen. Jeder Teil eines geistigen Werks ist von dem Ganzen seines Sinnes durchdrungen, so dass das bloße »Anklingen« eines Momentes genügt, um das Ganze zu repräsentieren. Wenn ich »Über allen Gipfeln ist Ruh’« ausspreche, ist nicht nur das ganze »Wandrers Nachtlied« gegenwärtig, sondern auch der Goethesche Stil und in gewisser Weise sogar der ›ganze Goethe‹, sein gesamtes dichterisches Werk. Aber Cassirer interessiert sich weniger für die Durchdringung der Werkteile vom Werkganzen als für das Verhältnis von Werk und symbolischer Form. Symbolische Formen sind, verkürzt gesagt, künstliche Medien, durch die der Mensch seine verschiedenartig vermittelten Selbst- und Weltverhältnisse aufbaut. Beispiele für solche symbolischen Formen sind Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft. Es ist »ein gemeinsames Charakteristikum aller symbolischen Formen, daß sie auf je152 | Kapitel 8 

den beliebigen Gegenstand angewendet werden können. Nichts ist für sie unzugänglich oder undurchdringlich«.382 Man kann über alles sprechen, alles mythisch oder religiös betrachten, künstlerisch oder wissenschaftlich ausdrücken. Das Gesetz der symbolischen Prägnanz besagt für symbolische Formen, dass jedes Werk als Träger eines ganzen Sinngefüges dessen Einheit als solche darzustellen vermag : In einem einzelnen Ritual ist eine ganze mythische Weltanschauung, in einer Redewendung eine ganze Sprache, in einer Formel die ganze Wissenschaft gegenwärtig ; und symbolische Formen offenbaren ihrerseits den »Lebenszusammenhang«, das »Lebensganze«383 einer bestimmten Kultur mit ihrem spezifischen Charakter. Die Kultur gleicht daher einem Hologramm, dessen Gesamtbild in jedem Teilstück enthalten ist. Freilich gelten diese Aussagen ausschließlich für den Formcharakter der Kulturobjekte : Wenn ich weiß, dass etwas ein Kunstwerk ist, erfasse ich noch lange nicht seine Bedeutung. Aber um an die Deutung zu gehen, muss ich zuerst wissen, dass es sich überhaupt um ein Kunstwerk handelt. Hilfreich ist außerdem, wenn ich den Lebenszusammenhang, beispielsweise der Renaissance, kenne, in den das einzelne Werk einzuordnen ist. Umgekehrt setzt sich die Renaissancekultur nicht einfach aus den erhaltenen Kunstwerken und Denkmälern zusammen. Wir haben auch hier vielmehr eine Gestaltqualität vor uns, die unselbständiges und mittelbares Moment eines einheitlichen Sinngefüges ist. Zur Kulturphilosophie gehört daher eine Morphologie symbolischer Gestaltqualitäten. Emergenz und Holismus

In philosophischen Analysen von Teil-Ganzes-Verhältnissen tauchen immer wieder zwei Begriffe auf, denen ein hohes Klärungs­ potential zugetraut wird : Emergenz und Holismus. Unter Emergenz (siehe Kap.  5) versteht man das Auftauchen (lat. : emergere) von Eigenschaften eines Ganzen, die nicht Eigenschaften von Teilen dieses Ganzen sind. Gemäß dieser Definition haben wir mit den Gestaltqualitäten bereits einen Fall von Emergenz kennengelernt, in dem die Verbindungseigenschaften eines Ganzen weder in den Stücken noch in den unmittelbar erscheinenden Momenten schon  Das Ganze und seine Teile | 153

enthalten sind. Das Auftauchen bezog sich dort allerdings auf das Hervortreten in einer Explikation, der das Ganze vorliegen muss. Meist wird der Emergenzbegriff jedoch so verwendet, dass man von den Teilen her einen Prozess der Zusammensetzung entwirft, aus dem am Ende besagte Verbindungseigenschaften erklärungsbedürftig hervorgehen sollen. Diese werden dann als neuartig, unerwartet, auf die Teile irreduzibel oder aus ihnen nicht erklärbar beschrieben. Emergenztheorien sind daher grundsätzlich antireduktionistisch. Die Unterscheidung zwischen schwacher und starker Emergenz orientiert sich am Erklärungsaspekt, insofern emergente Eigenschaften entweder auf einen bestimmten Wissensstand bezogen oder schlechterdings als unerklärlich angesehen werden. Auch stehen ontologische Modelle neben methodologischen  – je nachdem ob ein Vorgang in der Wirklichkeit oder der Übergang zwischen Theorien bzw. wissenschaftlichen Disziplinen im Fokus steht. Sinnfällig gemacht werden Emergenzen gerne durch die Technik des Rauszoomens : Man beginnt bei Wasserstoff- und Sauerstoffatomen, die jeweils für sich nicht die Eigenschaften des Wassers erklären, dann schreitet man eine Stufe der in Zehnerpotenzen angelegten Skala nach der anderen ab, über Molekülketten zu Einzellern (Leben als emergente Eigenschaft von Kohlenstoffverbindungen) bis zum Gehirn mit dem Bewusstsein und schließlich der Gesellschaft als emergenter Eigenschaft von Kollektiven aus Individuen. Welchen Begriff von Emergenz man auch immer bevorzugt – solange man mit seiner Hilfe das Ganze von seinen Teilen her zu denken versucht, muss man sich klarmachen, dass Zusammensetzen etwas anderes ist als die Umkehrung des Teilens. Will man nicht zusätzliche Faktoren, beispielsweise eine eigene Lebenskraft, stipulieren, haben Emergenztheorien ohnedies keinen Erklärungswert. Sie können allenfalls als Anreiz dienen, noch unbekannte Kausalzusammenhänge zu explorieren. Ansonsten genügt die Erinnerung, dass Ganzheiten nicht aus Teilen bloß zusammengestückt sind, sondern auch, und zwar als mittelbare Momente, Verbindungseigenschaften aufweisen. Momente sind aber anders als Stücke unselbständige Teile, die erst abstraktiv abgehoben werden müssen, weshalb nicht anschließend so getan werden darf, als seien sie Stücke. Nur in Aggregaten sind die Teile eher da als das Ganze. 154 | Kapitel 8 

Dies führt zum zweiten Schlüsselbegriff : Als Holismus bezeichnet man eine Position, die dem Ganzen (griech. to holon) eine ontologische oder epistemologische Eigenständigkeit gegenüber seinen Teilen zuspricht. Systemtheorien sind grundsätzlich holistisch, insofern für sie das Ganze (System) mindestens einen methodischen Primat hat. Außerdem sind sie antiatomistisch und antimechanistisch, da sich Systemeigenschaften nicht auf Eigenschaften der Teile und die Art ihres Zusammenwirkens zurückführen lassen. Systemtheoretische Ansätze finden sich vorzugsweise in Biologie (Ökologie), Psychologie und Soziologie. Gemäß dem Übersummationsprinzip stellen sie den Eigensinn ihrer Erkenntnisgegenstände heraus : Leben ist nicht die Addition biochemischer Prozesse, Gesellschaft nicht die Anhäufung von Individuen usw. Margaret That­ cher äußerte sich in ihrer berühmten Kampfansage an Gesellschaftstheorien dezidiert antiholistisch : »There is no such thing as society. There are only individuals and families.« Ein mereologisch sinnvoller Holismus berücksichtigt, dass Ganzheiten selbst Stücke sind, das bedeutet phänomenologisch : Ganzheiten können »auch für sich gesondert erscheinen« ; psychologisch : Gestalten heben sich von einem Hintergrund ab ; systemtheoretisch : Systeme haben immer eine Umwelt. Missachtet man die Stücknatur des Ganzen, wird der Holismus totalitär : Es geht dann um das ›große Ganze‹, das All (lat. totum), das naturgemäß keinen Hintergrund und keine Umwelt besitzt. Der totalitäre Holismus ist zugleich metaphysisch, da er innerweltlich die Welt als Totalität zu denken versucht. In populärer Form humorvoll pointiert dargestellt finden wir einen solch hypertrophen Holismus in der US-amerikanischen Komödie »I Heart Huckabees« des Regisseurs David O. Russell (2004) : Der orientierungslose Albert Markovski (gespielt von Jason Schwartzman) wendet sich an die »existentiellen Detektive« Bernard und Vivian (Dustin Hoffman und Lily Tomlin), die ihn davon überzeugen wollen, dass alles mit allem zusammenhängt, alle Wesen miteinander verbunden sind, alles eins und von Bedeutung ist und es keine Zufälle gibt. Schon bald gerät der Patient jedoch in den Bann der französischen Nihilistin Caterine Vauban (Isabelle Huppert) und ihrer Philosophie der absoluten Kontingenz alles Seienden, der zufolge die Leere zwischen den Individuen dominiert und nichts von Bedeutung ist. Die eine  Das Ganze und seine Teile | 155

Seite behauptet also, alles sei ein einziges System, die andere, alles sei ein einziges Aggregat. Am Ende entscheidet sich der Protagonist für ein Mischmodell. Während Emergenztheorien die explikative Abhebung mittelbarer Momente eines Ganzen mit ihrem spontanen Auftauchen in einem Prozess des Zusammensetzens verwechseln, verfehlt der metaphysische Holismus die Stücknatur von Ganzheiten, indem er alles zu einem singulären System macht, das in seiner Totalität nicht gesondert in Erscheinung zu treten vermag. Hier wie dort wird ein mereologischer Fehlschluss begangen : Im ersten Fall unterstellt man Kommutativität der Akte des Teilens und des Zusammensetzens – und wundert sich anschließend, dass das geteilte Ganze sich, wie Humpty Dumpty, aus den Teilen nicht wieder zusammensetzen lässt. Im zweiten Fall wird Ganzheit mit All-Einheit gleichgesetzt. Ein dritter mereologischer Trugschluss liegt vor, wenn einem Teil, z. B. dem Gehirn, Eigenschaften oder Funktionen des Ganzen, im Beispiel das Lebewesen oder die Person, zugeschrieben werden. Gegen alle diese Denkfehler hilft eine sorgfältige Beschreibung von Teil-Ganzes-Verhältnissen wie den hier vorgestellten : Elemente sind keine Ingredienzen, Fragmente keine Komponenten und Momente keine Stücke. Bereits der Platonische Parmenides ermahnt uns, zu unterscheiden, ob etwas an sich (kath’ auto) etwas ist oder nur auf ein anderes hin (pros ti) das ist, was es ist. Selbständige Teile lassen sich nicht durch unselbständige ersetzen, unselbständige Teile treten nur an selbständigen in Erscheinung. Ganzheiten gehen ihrer Teilung physisch und ihrer Zusammensetzung teleologisch voran. Solche phänomenologischen und praktischen Fundierungsverhältnisse muss jeder beachten, wenn er sich im Ganzen und seinen Teilen zurechtfinden will.

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K APITEL 9 Natürliche und kulturelle Tatsachen »Das Höchste wäre : zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist.« Johann Wolfgang von Goethe : Maximen und Reflexionen384

Die Kulturabhängigkeit natürlicher Tatsachen

Zu behaupten, dass Tatsachen von Handlungen abhängen, und dadurch den Tataspekt an einem Sachverhalt hervorzuheben (siehe Kap. 1, 6), ist riskant in der Gegenwart von alternative facts, fake news und fake science. Dieser Komplex besitzt Ähnlichkeit mit dem, was Harry Frankfurt Mitte der achtziger Jahre bullshit nannte : Dem Bullshitter kommt es nicht auf den Wahrheitsgehalt seiner Behauptungen an, da er sich gar nicht bemüht, den Tatsachen gerecht zu werden. Das unterscheidet ihn vom Lügner, der in der Lüge den Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit anerkennt – ihm muss der bestehende Sachverhalt, den er verschleiert, schließlich bekannt sein. Daher wird auf Bullshit besonders dort gerne zurückgegriffen, wo jemand über etwas spricht, von dem er zu wenig weiß. Post-truth politics dagegen ordnet strategisch Tatsachen der Affektsteuerung unter und fingiert sie nach Belieben um. Das Aktive am Faktischen zu betonen, heißt jedoch nicht automatisch, die Grenze zwischen Faktum und Fiktion zu verwischen. Der seriöse Streit über Tatsachen setzt vielmehr die Einhaltung ethischer und dianoetischer Standards voraus. Die Diskutanten müssen sowohl willens als auch befähigt sein, ihre Tatsachenbehauptungen diskursiv zu verantworten, d. h. die erhobenen Geltungsansprüche auf Nachfrage einlösen zu ­können. Auf der Grundlage des vorangestellten disclaimers soll es in diesem Kapitel über den Qualitätsunterschied zwischen natürlichen  157

und kulturellen Tatsachen gehen. Unter einer Tatsache verstehe ich mit Wittgenstein ganz allgemein einen bestehenden Sachverhalt.385 In einem nicht-›postfaktischen‹ Sinn könnte man ›alternative Fakten‹ daher schlicht als nur hypothetisch bestehende Sachverhalte bestimmen, wie sie beispielsweise in Gedankenexperimenten vorkommen : »was wäre, wenn …« ; »nehmen wir einmal an, dass …«. Die Ausdrücke ›Natur‹ bzw. ›natürlich‹ und ›Kultur‹ bzw. ›kulturell‹ bezeichnen Reflexionsbegriffe, 386 mittels derer wir über Objekte oder Vorgänge reflektieren. Es gibt Dinge, die von Natur aus vorhanden sind, und es gibt Dinge, die hergestellt wurden. Zu den Naturdingen zählt Aristo­ teles Pflanzen, Tiere sowie die vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser ; als Beispiele für Artefakte nennt er Liege, Kleid und Haus. Das Natürliche (to physikon) ist dadurch bestimmt, dass es das Prinzip (archê) seiner Veränderung (kinêsis) und seines Bestandes (stasis) in sich selbst (en heautô/kath’ auto) hat. Entsprechend liegt bei einem Werk (to technikon) der Grund seiner Herstellung (poiêsis) außerhalb seiner. 387 Was von Natur aus ist, besteht und verändert sich von selbst, d. h. ohne das Zutun eines Herstellers. Dagegen gründen Bestand und Veränderung eines Artefakts in einer Fertigung (technê). Holz, sich selbst überlassen, nimmt niemals die Form einer Liege an. Dinge hervorbringen (poiein) können auch Tiere, wie die Spinne ihr Netz oder die Ameisen ihren Bau. Kunstfertigkeit (technê) aber besitzt nach Aristoteles nur der Mensch, da sie Absicht (bulêsis) und Untersuchung (zêtêsis) voraussetzt.388 Typische Artefakte sind neben den genannten handwerklichen Erzeugnissen auch Texte, Bilder und Skulpturen. Tanz- und Theateraufführungen bringen kein sie selbst überdauerndes Werk hervor, vielmehr vollziehen sie das menschlich Hervorgebrachte nur für die Dauer der Aufführung. Ein Garten ist zwar absichtsvoll angelegt und bewusst gestaltet, zur Verwirklichung aber auf das Entgegenkommen natürlicher Prozesse – das Gedeihen der Pflanzen – angewiesen. Ähnliches gilt auch für die Medizin, die zwar eine Technik ist, Patienten genesen zu lassen, aber Gesundheit selbst nicht zu machen imstande ist. Die medizinische Intervention leistet nach Aristoteles eigentlich nur Hilfe zur Selbsthilfe des organischen Körpers (siehe Kap. 3).389 158 | Kapitel 9 

Wie diese Beispiele zeigen, provoziert Aristoteles’ Unterscheidung zwischen physis und technê in ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall zum Nachdenken. Das gilt umso mehr für eine Zeit, in der die Technik so massiv in natürliche Bestände und Prozesse eingreift, dass sie gar beansprucht, Organe und Organismen herzustellen (siehe Kap. 5) oder Hybride aus natürlich Gewachsenem und künstlich Gemachtem zu erschaffen.390 Es liegt nahe, die Differenz von Naturding und Artefakt zur Grundlage zweier Tatsachen­t ypen zu machen. Demnach wären Tatsachen, die Naturdinge betreffen, natürliche und solche, die Artefakte zum Gegenstand haben, artifizielle oder kulturelle Tatsachen. Beispiele für die erste Klasse wären : ›Menschen haben (normalerweise) zwei Augen‹ (Bestand) oder : ›Aus Kaulquappen werden (normalerweise) Frösche‹ (Veränderung). Beispiele für die zweite Klasse wären : ›Ein Stuhl hat (üblicherweise) vier Beine‹ (Bestand) oder : ›Goethe vollendete 1831 den zweiten Teil des Faust‹ (Veränderung). So weit, so gut. Aber wie verhält es sich mit den folgenden beiden Sätzen ? ›Der Erdumfang beträgt am Äquator ca. 40.000 km‹ (Bestand) und : ›Die Erde ist vor ca. 4,5 Milliarden Jahren entstanden‹ (Veränderung). Zwar betreffen diese Aussagen Naturdinge (in beiden Fällen die Erde), aber sie werden erst durch Artefakte möglich. Bei der Bestimmung des Erdumfangs greift im dritten vorchristlichen Jahrhundert bereits Eratosthenes auf Messtechnik und Messinstrumente wie das Gnomon zur Ablesung des Schattens zurück, um aus dem Winkel, in dem die Sonnenstrahlen auf einen Punkt (Alexandria) treffen, und aus dem Abstand zu einem Vergleichsort (Syene) Radius und Umfang der Erde zu berechnen. Noch ausgetüftelter sind die Methoden, derer sich moderne Geologen bedienen, um aus bestimmten Isotopen chemischer Elemente auf das Erdalter zu schließen. Hinzu kommt, dass abhängig von Vorannahmen, eingesetzten Methoden und Instrumenten auch die Messdaten variieren, so dass die hier zur Diskussion stehenden Tatsachenbehauptungen keineswegs so feststehen, wie es zunächst scheint, sondern geschichtlich bedingt sind. Man kann daher gute Gründe anführen, um Tatsachen, die wir durch Messungen an Naturdingen feststellen, auch als kulturelle Tatsachen zu beschreiben. Dasselbe gilt a fortiori für die experimentelle Forschung, da das Experiment im Labor allererst das Phänomen hervorruft, das er Natürliche und kulturelle Tatsachen | 159

klärt werden soll. Die Apparatur des Experimentators, ohne die er sein Experiment gar nicht durchführen kann, ist kein Naturding, sondern ein Artefakt. Die Kulturabhängigkeit ›natürlicher‹ Tatsachen zeigt sich auch bei allen Aussagen über die Naturgeschichte. Da man nicht die Vergangenheit selbst, sondern nur gegenwärtig vorhandene Objekte beobachten kann, die man als Spuren von Vergangenem deutet, entwickelt man im Lichte einer passenden ›Erzählung‹ Theorien über selbst nicht beobachtbare Ereignisfolgen (nichts anderes gilt übrigens auch für die Kulturgeschichte, deren Erforschung auf aktuell verfügbare Dokumente und Monumente angewiesen ist). Dass feststehende Interpretationen gelegentlich dazu führen können, Artefakte für Naturdinge zu halten, wirkliche Naturdinge hingegen zu ignorieren, zeigt eindrücklich das Beispiel des Piltdown-Man : 1912 wurde nahe des südenglischen Piltdown ein Schädel gefunden und für den Überrest eines stammesgeschichtlichen Vorfahren des modernen Menschen gehalten. Weil die Schädelform die herrschende Vorstellung bestätigte, dass die Menschwerdung mit einer Hirnvergrößerung einsetzte und dieser Prozess außerdem von Europa ausgegangen sei, verweigerten viele in der scientific community dem ersten, 1924 in Südafrika gefundenen Rest eines Australopithecus die Anerkennung als Überbleibsel eines Vormenschen. Neben dem Fundort auf dem ›falschen‹ Kontinent spielte eine Rolle, dass der Schädel auf ein Wesen schließen ließ, das sich zwar aufrecht hielt, aber noch das Hirnvolumen eines Schimpansen besaß. Wie sich schließlich herausstellte, war der Piltdown-Man eine geschickte Täuschung, zusammengesetzt aus einem mittelalterlichen Menschenschädel und dem Unterkieferknochen eines Affen, nebst weiteren Zugaben. Das Artefakt galt als Naturding, weil es der vorherrschenden Theorie besser entsprach. Sehen wir einmal davon ab, dass die sprachliche Äußerung einer Tatsache (Aussage) ja eo ipso etwas menschlich Hervorgebrachtes ist, ist auch der behauptete Sachverhalt gar nicht festzustellen ohne den Einsatz von Artefakten, wie bei der Messung, im Experiment und in der naturgeschichtlichen Narration. Selbst die einfache Beobachtung ist in eine kulturelle Praxis eingebettet, die die Distinktion von natürlichen und kulturellen Tatsachen problematisch erscheinen lässt. Was der Aristotelischen Begriffsklärung zu160 | Kapitel 9 

folge für Naturdinge gilt, gilt nicht ebenso für Tatsachen, die Naturdinge betreffen : dass das, was sie zu Tatsachen macht (ihre archê), allein im Natürlichen selbst enthalten sei. Zumindest teilweise ist das Feststellen von Tatsachen ein Herstellen. 391 Es hieße freilich, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wollte man Tatsachen, die Naturdinge betreffen, in menschlichen Fertigungen aufgehen lassen. Vielmehr kann die genauere Kennzeichnung dessen, was an behaupteten natürlichen Tatsachen gerade nicht natürlich ist, dabei helfen, im Lichte kultureller Tatsachen natürliche Faktizität besser zu verstehen. Der folgende Gedankengang hat drei Schritte. Zuerst geht es um das naturalistische Missverständnis ›natürlicher Tatsachen‹. Es besteht grob gesagt darin, Tatsachenbehauptungen über Naturdinge wie Naturdinge zu behandeln. Wir treffen auf dieses Missverständnis allenthalben, nicht nur, aber gerade in der populären Darstellung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die oft vorgetragen werden, als ob ein ohne menschliches Zutun vorliegender Sachverhalt durch aufwendige Forschungsbemühungen lediglich aufgefunden worden sei : ›Die Wissenschaft hat festgestellt‹. Der Antinaturalist muss sich freilich seinerseits mit dem drohenden kulturrelativistischen Missverständnis auseinandersetzen, dass jede Aussage über Naturdinge allein von kulturellen Faktoren abhängig sei. Ein solcher Kulturrelativismus würde menschliche Produktivität von den Bedingungen abkoppeln, denen sie unterworfen, und aus den Situationen lösen, in die sie eingebettet ist. Paradoxerweise wird so aus Kultur Natur : etwas, das Anfang und Ursache seines Bestehens und seiner Veränderung in sich selbst hat. Die Diskussion beider Missverständnisse legt ihre gemeinsamen Voraussetzungen frei und führt zugleich im dritten und letzten Schritt auf die Frage zurück, welchen Sinn die Rede von natürlichen und kulturellen Tatsachen haben kann. Das naturalistische Missverständnis

Naturalistisches Denken kennt viele Formen. 392 Ich beschränke mich auf das naturalistische Missverständnis von Tatsachen, die Naturdinge betreffen. Es liegt dann vor, wenn für Aussagen über  Natürliche und kulturelle Tatsachen | 161

Natürliches ein Geltungsanspruch erhoben wird, der unabhängig von einer kulturellen Praxis erfüllbar sein soll. Solche Reden erklingen allerorten, wo über Atome gesprochen wird, als könne man sie mit einer starken Brille sehen, über ›die Evolution‹, als sei man dabei gewesen, oder über Naturgesetze, als offenbare sich uns ›die Natur‹ selbst durch mathematische Chiffren. Beispiele dieser Art Reden sind Legion, man muss nur die populärwissenschaftliche Berichterstattung verfolgen. Doch ist das naturalistische Missverständnis keineswegs auf den Wissenschaftsjournalismus begrenzt, es findet sich auch unter Wissenschaftlern und Philosophen, die gerne naturwissenschaftliches Wissen zur Grundlage ihrer Erkenntnistheorie machen, oft genug, ohne allzu viel von empirischer Forschung zu verstehen. So ist denn auch das naturalistische Missverständnis nicht wissenschaftlich begründet, sondern beruht vielmehr auf einer Ontologie, die stillschweigend vorausgesetzt wird. Um die Fehlannahmen des Naturalismus methodologisch aufzuklären, lohnt es sich, an eine Kritik zu erinnern, die ein Kenner naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden geübt hat : Fleck legt in dem seinerzeit wenig beachteten Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935) dar, wie abhängig unsere Tatsachenüberzeugungen von einem »Denkstil« in einem »Denkkollektiv« sind. In unserem Sinne dezidiert antinaturalistisch hält der Naturforscher Fleck fest : »In der Naturwissenschaft gibt es gleichwie in der Kunst und im Leben keine andere Naturtreue als die Kulturtreue.«393 Was Fleck damit meint, lässt sich anschaulich an sogenannten ›naturgetreuen‹ Abbildungen der menschlichen Anatomie zeigen. Diese ändern über die Jahrhunderte hinweg und in verschiedenen Kulturen (Fleck zieht auch ältere persische und arabische Darstellungen heran) ihr Aussehen nicht nur nach Detailfülle, sondern auch nach Charakteristika wie der Anordnung der Körperteile, der Symbolik (z. B. Todesmotive bei Darstellungen des Skeletts), der Symmetrie, der Bedeutung von Anzahlen oder dem Figur-GrundVerhältnis. Der Wandel hält bis in die Gegenwart (z. B. bei der Darstellung von Zellen) an. Anatomische Abbildungen, selbst wenn sie, wie heute üblich, vermeintlich naturgetreuere bildgebende Verfahren nutzen, sind nach Fleck grundsätzlich Sinnbilder. Der Unterschied zwischen den mittelalterlichen und den modernen Sinn162 | Kapitel 9 

bildern »beruht nicht einfach darauf, daß wir mehr wissen« ; die älteren sind nicht in größerem Maße Sinnbilder als die heutigen. Vielmehr berichten sie mehr von dem, »was in ihrer Wirklichkeit mehr Wert besitzt als in unserer«.394 Anatomische Lehrbücher zeigen nicht einfach das, was man sieht, sondern das, was man sehen soll, genauer : was der Medizinadept sehen soll. Der Schüler, der in eine Wissenschaft eingeführt wird, erwirbt nicht nur Wissens­ bestände, sondern erlernt auch ein »gerichtetes Wahrnehmen«, das Fleck »Denkstil« nennt.395 »Es gibt kein anderes Sehen als das Sinn-Sehen und keine anderen Abbildungen als die Sinn-Bilder. In allen osteologischen Figuren der modernen Anatomie klingen technisch-mechanische Motive mit. So wird das Knochensystem zum Stützgerüst gemacht. Diese Auffassung ist uns aus der Schule und aus unserem Denkstil so geläufig, daß sich hier jedem ein Ausruf geradezu aufzwingt : ›Es ist ja auch das Stützgerüst !‹ Sicher ist es das Stützgerüst  – wenn man im modernen wissenschaftlichen Denkstil denkt. Doch ist es nicht schwer, sich ein Wissenssystem vorzustellen, für das das Skelett kein Stützgerüst des Körpers wäre.« Man könnte z. B. die Stütze des Körpers bei »luftigen und feurigen Geisterlein […] suchen, die hinaufstreben und den Körper aufrecht erhalten. Die Knochen wären dann eigentlich das Widerstrebende, das Tote, ›Metallische‹, Nicht-›Begeistete‹. […] Als unbegeistetes Prinzip des Körpers, als Ballast fände das Skelett viel weniger Beachtung und würde anstatt des Gerüstes der heutigen Anatomiebilder als Knochenhaufen etwa abgebildet werden. Etwa so wie heute Fettgewebe nicht als zusammenhängendes System, sondern als eine Art Negativ an anatomischen Bildern zu sehen ist : als das, was wegpräpariert wurde.«396 Auch »das einfachste Beobachten« ist »denkstilbedingt«, d. h. »an eine Denkgemeinschaft gebunden«, Denken daher »eine soziale Tätigkeit katexochen«.397 Die Prägung durch einen Denkstil übt einen sanften Zwang auf den Wahrnehmenden aus, die entsprechenden Gestalten unmittelbar zu sehen. Fleck spricht bei diesem Vorgang der Einführung in einen Denkstil überspitzt von Dressur.398 Hat sich die Sehgewohnheit etabliert, kommen dem »naiv vom eigenen Denkstil befangenen Forscher« »fremde Denkstile wie freie Phantasiegebilde vor, da er nur das Aktive, fast Willkürliche an ihnen sieht. Der eigene Denkstil erscheint ihm dagegen als das  Natürliche und kulturelle Tatsachen | 163

Zwingende, da ihm zwar eigene Passivität bewußt, eigene Aktivität aber durch Erziehung, Vorbildung und durch Teilnahme am intrakollektiven Denkverkehr selbstverständlich, fast unbewußt wie das Atmen wird.«399 Der emblematische Fall der Abbildungen in Anatomiebüchern demonstriert ganz grundsätzlich, dass Erkenntnis an einen bestimmten Denkstil in einem Denkkollektiv gebunden ist. Unter dem Denkkollektiv versteht Fleck die »Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen«. Das Denkkollektiv ist der »Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles«.400 Im Rahmen seiner eigenen Fallstudie zur Geschichte eines SyphilisNachweisverfahrens widerspricht Fleck den Logischen Empiristen und bestreitet, dass es so etwas wie einfache Protokollsätze gibt. Bereits der Begriff der Syphilis, ihre Einordnung als »Lustseuche« und ihre Beschreibung durch einen Komplex von Symptomen ist einem historisch-sozialen Denkstil in einem Überzeugungssystem mit eigener Beharrungstendenz unterworfen : »›Syphilis an sich‹ existiert nicht.«401 Alle Erkenntnisse über die Krankheit dieses Namens, ihre Ursachen und Wirkungen sind in den Rahmen einer wissenschaftlichen, therapeutischen und allgemeinen (ethischen) Praxis eingebettet, aus dem man sie nicht als etwas Eigenständiges herauslösen kann. Bündig definiert Fleck eine wissenschaftliche Tatsache als »denkkollektives Widerstandsaviso«, das größten Denkzwang bei kleinster Denkwillkürlichkeit ausübt. 402 Als Tatsache gilt, »was nicht anders gedacht werden kann«, ohne in Widersprüche zu anderen Kenntnissen zu geraten. Tatsachenbehauptungen erheben einen Geltungsan­spruch : Aussagen über Tatsachen beanspruchen, wahr zu sein. Gemäß seinem Tatsachenbegriff bestimmt Fleck Wahrheit als »stilgemäße[n] Denkzwang«.403 Sie ist das stets vorläufige Ergebnis einer sozialen Tätigkeit. Wer dies ausblendet, verfällt dem naturalistischen Missverständnis, Geltungsansprüche außerhalb einer kulturellen Praxis erheben und erfüllen zu können. Zu dieser Praxis zählen : das (ab)gerichtete Wahrnehmen des »Sinn-Sehens« (Beobachtung), wissenschaftliche Modellbildung, Experiment, Messung, naturgeschichtliche Interpretation, die Ver164 | Kapitel 9 

öffentlichung von Ergebnissen in Fachzeitschriften, Handbüchern und populären Darstellungen, Bildungseinrichtungen wie Schule und Hochschule, poietische Kontexte wie die ärztliche Praxis und nicht zuletzt gesellschaftliche Handlungsräume mit ihren Werten und Normen. Das kulturrelativistische Missverständnis

Angesichts ihres stilmäßigen Zwangscharakters stellt Fleck die wissenschaftliche Tatsache in eine Reihe mit Sachverhalten in Mythos und Kunst : »Jedes Produkt geistiger Schöpfung enthält […] Beziehungen, ›die gar nicht anders sein können‹ und die den zwangsweisen, passiven Koppelungen in den wissenschaftlichen Sätzen entsprechen.«404 Der Begriff der ›passiven Koppelung‹ leitet zur Diskussion des dem naturalistischen analogen kulturrelativistischen Missverständnisses über, jede Tatsache sei eine soziale Konstruktion, eine bloß geistige Schöpfung. Ein solcher Kulturrelativimus ist das genaue Spiegelbild zum zuvor beschriebenen Naturalismus. Blendet dieser den Anteil der kulturellen Praxis (von Fleck ›soziale Tätigkeit in einem Denkkollektiv‹ genannt) aus und führt den Zwangscharakter des Faktischen allein auf den Naturzusammenhang zurück, so identifiziert der Kulturrelativist den Zwang mit sozialem Zwang. Das Widerständige einer Tatsache ist dann nur der Widerstand der Anderen im Denkkollektiv, den jeder Andersdenkende für seine Häresie zu spüren bekommt. Erneut können wir bei Fleck studieren, wie man dem natura­ lis­tischen Missverständnis entkommen kann, ohne dem kultur­ relativist­ischen zu verfallen. Dies führt auf den Begriff der passiven Koppelung zurück. Fleck unterscheidet aktive und passive Koppelungen im Erkenntnisprozess. Zu den aktiven Koppelungen zählen die in einem Denkkollektiv gemachten Voraussetzungen, sie bilden den »kollektiven Anteil des Erkennens«. Die passiven Koppelungen bilden demgegenüber das, »was als objektive Wirklichkeit empfunden wird« :405 Zusammenhänge im Erkenntnisinhalt, »die weder psychologisch (individuell- und kollektivpsychologisch), noch geschichtlich erklärbar sind. Sie muten deshalb wie ›reale‹, ›sachliche‹, ›wirkliche‹ Beziehungen an.«406  Natürliche und kulturelle Tatsachen | 165

Das Ineinandergreifen von aktiven und passiven Anschlüssen bzw. Koppelungen illustriert Fleck an einem Beispiel aus der Chemie. »Die Zahl 16 für das Atomgewicht des Sauerstoffs ist fast bewußt konventioneller, willkürlicher Herkunft. Wird aber für das O das Atomgewicht 16 angenommen, so ergibt sich für das H das Atomgewicht 1,008 mit zwangsläufiger Notwendigkeit. Die Verhältniszahl beider Gewichte ist also ein passives Wissenselement.« Eine wissenschaftliche Tatsache lässt sich daher inhaltlich nie allein aus »geschichtlichen, individuell- und kollektiv-psychologischen Standpunkten« konstruieren.407 Erkennen bedeutet für Fleck, »bei bestimmten aktiv vorgenommenen Voraussetzungen die zwangsmäßig, passiv sich ergebenden Zusammenhänge festzustellen«.408 In diesem Prozess sind die passiven und aktiven Elemente »weder logisch noch geschichtlich […] vollständig voneinander zu trennen«.409 Genau diesen logischen wie historischen Fehler begehen Naturalismus wie Kulturrelativismus gewissermaßen nur mit unterschiedlichen Vorzeichen : Der Naturalist beleuchtet allein die passiven Elemente und blendet die aktiven aus, der Kulturrelativist verfährt umgekehrt. Diese Kritik trifft freilich nur Ontologien, die Tatsachen auf bloße Konstruktionen reduzieren, und somit ausdrücklich nicht den methodischen Kulturalismus, wie er von Janich und seiner Marburger Arbeitsgruppe entwickelt wurde. Der methodische Kulturalismus wird von seinen Vertretern seinerseits als eine Kulturkritik verstanden, die sich in unserer wissenschaftlich geprägten Welt gleichermaßen gegen Natur- wie gegen Kulturontologien wendet.410 In der nachmetaphysischen Moderne haben wir eine starke Neigung, Natur- oder Kulturwissenschaften metaphysisch aufzuladen und aus ihren Theorien Repräsentationen der ›Wirklichkeit an sich‹ zu machen. Diese ist dann wahlweise entweder das, was uns die Naturwissenschaften sagen, oder eine kulturrelative soziale Konstruktion. Die methodischen Kulturalisten packen solche Metaphysik an ihrer Wurzel und sehen in Theorien keine »strukturisomorphe[n] oder adäquate[n] Bilder« einer beobachterunabhängigen Realität, sondern ein »empirisch bewährtes technisches Bewirkungs- und Prognosewissen«.411 Wissenschaften sind selbst Praxisformen, die unter erkenntnisleitenden Interessen zu bestimmten Zwecken spezifische Mittel einsetzen. Die Mittel sind genau dann zweckdien166 | Kapitel 9 

lich, wenn sich mit ihrer Hilfe zutreffende Vorhersagen machen oder gewünschte Effekte erzielen lassen. Eine wissenschaftliche Theorie ist ein Instrument »zur Systematisierung von Handlungswissen. […] Der Handlungserfolg determiniert also die theoretische Wirklichkeit, nicht umgekehrt.«412 Ein Erklärungsmodell ist dann und nur dann erfolgreich, wenn sich mittels dieses Modells das zu erklärende Phänomen (realiter oder virtuell) erzeugen lässt. Das bedeutet, dass das Herstellen des Phänomens über den Erfolg des eingesetzten Modells entscheidet. »Der [methodisch-] kulturalistische Versuch läuft darauf hinaus, alles Wissen auf Handlungserfolg und Mißerfolg zurückzuführen bzw. aus diesem zu begründen.«413 Der Geltungsanspruch einer wissenschaftlichen Theorie wird durch erfolgreiche Handlungen eingelöst. Daher sind die Vollzüge von Handlungen, die die Gültigkeit einer Theorie belegen, »theoretisch nicht hintergehbar«.414 Gegen die Umkehrung dieses Abhängigkeitsverhältnisses fordert das Prinzip der methodischen Ordnung (siehe Kap. 1), »beim Reden über Handlungsabfolgen nicht anders zu reden, als es der pragmatischen Ordnung entspricht, die durch den für die Handlungsabfolge jeweils zugrundeliegenden Zweck vorgegeben ist«.415 Im alltäglichen Leben wohlbekannt (etwa bei Rezepten : erst marinieren, dann braten) und nachgerade trivial (erst die Weinflasche entkorken, dann einschenken), kommen Verstöße gegen dieses Prinzip in szientifischer Rede regelmäßig vor ; z. B. wenn behauptet wird, Farben seien ›in Wirklichkeit‹ elektromagnetische Wellen bestimmter Länge (während man zuerst sichtbare und qualitativ unterscheidbare Farbproben benötigt, um sie dann spektrometrisch zu vermessen) oder das Gehirn würde rechnen (während man zuerst richtige von falschen Rechnungen unterscheiden muss, bevor man anhand des Rechnermodells kognitive Leistungen beschreiben kann) usw. Wo Gelingen ist, da ist auch Scheitern. Stützt sich die Gültigkeit von Theorien auf erfolgreiche Handlungen, so geht sie durch wiederholte Misserfolge verloren. Genau an diesem Punkt widersetzt sich der methodische Kulturalismus dem zuvor diskutierten kulturrelativistischen Missverständnis von Tatsachen, indem er das »Widerfahrnis des Scheiterns« als »außerdiskursives Element« anerkennt.416 Es liegt auf der Hand, darin den natürlichen Anteil in Tatsachenbehauptungen über Naturdinge zu identifizieren. Ent Natürliche und kulturelle Tatsachen | 167

sprechend versteht Janich unter Natur »dasjenige, was bzw. insofern es vom Menschen nicht handelnd verändert wird, bzw. ohne sein Zutun von selbst geschieht«.417 Handlungen, die Theorien bewähren sollen, können scheitern. Das ändert zwar nichts an der skizzierten methodischen Ordnung, erinnert aber daran, dass das Feststellen von Tatsachen nicht im Herstellen aufgeht, sondern mit Widerständen rechnen muss, ja, dass es gerade diese Widerstände sind, die die wissenschaftliche Praxis am Leben erhalten. Die Grabungsarbeit über dem ›festen Boden der Tatsachen‹ gibt es, wie bei Fleck zu lesen ist, deshalb nur als Fortsetzung, nie als Ende.418 Methode und Sein

Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück, ob es sinnvoll ist, zwischen natürlichen und kulturellen Tatsachen zu unterscheiden, wenn ›natürliche Tatsachen‹ Naturdinge und ›kulturelle Tatsachen‹ menschliche Werke betreffen. Die Schwierigkeit, mit der wir uns auseinandergesetzt haben, ergibt sich daraus, dass das Feststellen auch von ›natürlichen Tatsachen‹ häufig, wenn nicht meistens, seinerseits durch ein Herstellen bedingt ist : sei es das Herstellen von Sinnbildern und Instrumenten (wie Mikroskop und Teleskop) in der Beobachtung, sei es das Herstellen von Messgeräten in der Vermessung, sei es das Herstellen einer Apparatur (und des zu untersuchenden Phänomens) im Experiment, sei es das Herstellen einer Geschichte in der naturhistorischen Interpretation. Die nachträgliche Ablösung des aktiven Prozesses der Herstellung (der Tat) vom scheinbar passiven der Feststellung (der Sache) führt leicht entweder zum naturalistischen oder zum kulturrelativistischen Missverständnis. Entweder wird der Aspekt des Hervorbringens oder der des Widerständigen wegpräpariert. Bevor man aber den Begriff der natürlichen Tatsache angesichts dieser Verwicklungen aufgibt, sollte man bedenken, dass die Verselbständigung des hervorbringenden oder des widerständigen Konstituens auch kulturelle Tatsachen infiziert. Denn so wie wir den poietischen Anteil an der Feststellung natürlicher Tatsachen betont haben, so sind umgekehrt auch die widerständigen Aspekte kultureller Tatsachen in ihrer ganzen Ambivalenz zu bedenken. 168 | Kapitel 9 

Zum einen gibt es, wie Fleck bemerkt, auch in Kunstwerken stilgemäße und narrative Zwänge, die dem Verhältnis zweier Atomgewichte nahekommen (etwas, das sich gleichsam ›von selbst einstellt‹, weil es ›gar nicht anders sein kann‹). In diesem Sinn spricht Aristoteles etwa von der natürlichen Form der Tragödie.419 Außerdem ist zu bemerken, wie erfolgreich mathematische Modelle, die in Naturwissenschaften entwickelt wurden, in Sozialwissenschaften, z. B. bei Netzwerkanalysen, eingesetzt werden können. Zum anderen wird der naturale Anteil an kulturellen Tatsachen oft genug für ideologische Naturalisierungen in den Dienst genommen und als naturgesetzlicher Zwang ausgewiesen, was eigentlich auf menschlichem Handeln beruht (z. B. ›der Markt‹). Darauf haben die Kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule zu Recht immer wieder hingewiesen. Wir müssen keineswegs die Distinktion zweier Typen von Faktizität aufgeben, solange wir sie nicht hypostasieren, d. h. Tatsachen nicht wie Dinge behandeln. Stattdessen ist es gerade Aufgabe der Kulturphänomenologie, Verdinglichungen beider (naturalistischer wie kulturrelativistischer) Couleurs über sich selbst aufzuklären, damit wir nicht »für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist«.420 Die Unterscheidung von Methode und Sein wird in besonderer Weise da virulent, wo sich Tatsachenüberzeugungen auf wissenschaftliches (ob nun natur- oder kulturwissenschaftliches) Wissen gründen, wie es in unserer von den Wissenschaften stark durchdrungenen Welt der Fall ist. Aber sie greift auch dort, wo das Gestiftetsein von gesellschaftlichen Denkstilen mit ihrer handlungsnormierenden Kraft verschleiert wird. Abschließend lassen sich natürliche und kulturelle Tatsachen mit Hilfe der scholastischen Unterscheidung von Formalobjekt (obiectum formale), der »Methode«, und Materialobjekt (obiectum materiale), dem »Sein«, bestimmen. Das Formalobjekt bezeichnet den Aspekt, unter dem ein Gegenstand, das Materialobjekt, betrachtet wird. ›Natur‹ und ›Kultur‹ sind Reflexionsbegriffe, d. h. sprachliche Mittel, um sich über Objekte und Vorgänge zu orientieren. Als Materialobjekte habe ich eingangs Naturdinge (bzw. Naturvorgänge) und Artefakte (bzw. menschliche Tätigkeiten) unterschieden. Die Differenz natürlicher und kultureller Tatsachen ist dagegen auf der Ebene von Formalobjekten angesiedelt : Das Formalobjekt natürli Natürliche und kulturelle Tatsachen | 169

cher Tatsachen sind passive Kopplungen, während es bei kulturellen Tatsachen die aktiven Kopplungen sind. Die kulturphänomenologische Aufklärung verschiedener Faktizitätstypen kann dabei helfen, in Tatsachen aktive und passive Koppelungen zu identifizieren, also in kulturellen Tatsachen die naturalen, außerdiskursiven und in natürlichen Tatsachen die poietischen, denkkollektivabhängigen Elemente aufzuweisen. Die Kulturphilosophie hilft dabei, das Aktive am eigenen Denkstil zu erkennen und anzuerkennen und ihm dadurch etwas von dem Zwingenden zu nehmen, das von ihm ausgeht. Wenn die eigene Aktivität tatsächlich, wie Fleck formuliert, »fast unbewußt wie das Atmen wird«, dann geht es darum, das denkkollektiv Unbewusste bewusst zu machen. Ex negativo heben sich durch diese Bewusstwerdung auch die naturalen Anteile am Faktischen ab. Die Kulturphilosophie könnte man daher auch als negative Naturphilosophie auffassen. Ihr Anliegen ist die Besinnung auf das, was wir gemeinsam tun.

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SCHLUSS Maßnehmen und Maßhalten »Das erste [Gut siedelt] irgendwo [im Gebiet] von Maß, Angemessenem und Passendem sowie allem, von dem man annehmen muß, daß es am Ewigen teilhat.« Platon : Philebos 66a

Der Leitfaden für die voranstehenden Studien ist ein Naturverhältnis, das mit Anbruch der Neuzeit entstanden ist. Seither versucht der Mensch, die Natur rechnend zu beherrschen. Diese dominante Einstellung kann mit Blumenberg als Ausdruck eines Selbstbehauptungssyndroms verstanden werden : Mit dem Ausgang des Mittelalters tritt die menschliche »Werkwelt« als eine autonome Sphäre der göttlichen »Naturwelt« gegenüber. Der Mensch behauptet sich selbst »durch Beherrschung der Wirklichkeit«.421 Das Mittel dieser Herrschaft ist die Technik. Durch sie dringt die Werkwelt nicht nur in die Naturwelt ein – dies war bereits in früheren Zeiten der Fall ; mittels technischer Invention unterwirft der Mensch die Ordnung der Natur vielmehr der Ordnung seiner Werktätigkeit. Emblematisch für diesen Vorgang ist die Erfindung des Teleskops und seine Weiterentwicklung durch Galilei Anfang des 17. Jahrhunderts. Das Teleskop macht, wie das zeitnah erfundene Mikroskop, das Nichtsichtbare sichtbar und erweitert zunächst den Bereich der Vermessung der Natur. Sodann dient es als Instrument, um den eigenen Standort im Makrokosmos (bzw. mit Hilfe des Mikroskops im Mikrokosmos) durch Skalierung zu bestimmen. Schließlich ist es aufs engste mit der Geschichte der Optik verknüpft, die die Lichtbrechung für die systematische Konstruktion geeigneter Linsen quantitativ ermitteln können muss. Ohne die Technik des Linsenschleifens wäre die neuzeitliche Astronomie undenkbar. Keine Entdeckung ohne Erfindung – so lautet der neuartige Bedingungszusammenhang. In freier Variation von Bacon : Die Bedeu­   171

tung des Magnetkompasses für die Überquerung der Ozeane, des Experiments für die Naturforschung, des Messgeräts für das Experiment und nicht zuletzt des Buchdrucks für die Zirkulation des Neuentdeckten zeigen die Abhängigkeit des Findens vom Erfinden deutlich. Mindestens ebenso wichtig sind jedoch die Erfindungen der Mathematik : Ohne die Analytische Geometrie und die Wahrscheinlichkeitsrechnung im 17. oder die Infinitesimalrechnung im 18. Jahrhundert wäre die fortschreitende Eroberung der Naturwelt ins Stocken geraten. Mathematik kommt zudem nicht erst bei der Theoriebildung, sondern bereits bei der Konstruktion von Beobachtungs- und Messinstrumenten zum Einsatz. In der Einleitung habe ich auf die Bedeutung des Rechnens in der gesellschaftlichen Sphäre hingewiesen. Die Bevölkerungspolitik der von Foucault sogenannten Bio-Macht wäre nicht möglich gewesen ohne statistische Methoden. Doch ist für die Argumentation der Studien dieses Buches entscheidend, dass Natur und Gesellschaft Aspekte der einen Kultur als Welt des Menschen sind. Die Kultur der europä­ ischen Neuzeit verklammert Natur und Gesellschaft im Modus des Rechnens als einer Herrschaftsform. Selbstbehauptung findet statt sowohl gegenüber der »Natur in uns« als auch gegen die »Natur außer uns«, wie Kant unterscheidet. Das Bewusstsein der Überlegenheit gegenüber beidem erzeugt in uns das Gefühl der Erhabenheit. Alles, »was dieses Gefühl in uns erregt, wozu die Macht der Natur gehört«, die unsere Kräfte herausfordert, heißt nur im uneigentlichen Sinne erhaben.422 Eigentlich aber ist nichts in der Natur, weder in der äußeren noch auch in der inneren Natur unserer selbst als animalische Wesen, wirklich erhaben, sondern einzig und allein unsere Fähigkeit, der Macht dieser doppelten Natur durch Seelenstärke zu widerstehen. Erhabenheit ist nach Kant das Gefühl der eigenen »Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz andrer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann«.423 Gemeint ist die Selbsterhaltung nicht des animalischen, sondern des vernünftigen Wesens, das sich von moralischen Ideen leiten lässt. Freilich muss das moralische Gefühl kultiviert sein, damit sich das ästhetische Gefühl des Erhabenen einstellen kann. Wer nicht weiß, was es bedeutet, an einer Überzeugung gegen äußere wie innere Widerstände 172 | Schluss 

festzuhalten, und deshalb der Natur unterliegt, vermag auch nicht die Überlegenheit der Vernunft gegenüber der Natur zu spüren. Der Gedanke der Selbstbehauptung bzw. der Selbsterhaltung geht mit der Idee einher, gerade in der eigenen Nichtnatürlichkeit frei zu sein. Wie eng der Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung, Selbstbehauptung und dem Maßnehmen ist, zeigt der Umstand, dass Kant das Schöne und das Erhabene anhand der Begriffe von Qualität und Quantität unterscheidet : Das »Wohlgefallen« ist beim Naturschönen »mit der Vorstellung der Qualität«, beim Erhabenen hingegen mit »der Quantität verbunden«.424 Erhaben nennt Kant das, was »schlechthin, absolut« und »über alle Vergleichung« groß ist.425 Das bedeutet, dass der Maßstab seiner Größe im Erhabenen selbst liegen muss, da es ansonsten nur relativ, im Vergleich zu einem anderen groß wäre. Zu messen heißt zu vergleichen : Bei der Messung einer Größe ermitteln wir das Verhältnis einer Vielheit (Zahl) zu einer Einheit (Maß). Wenn wir die Höhe eines Raumes bestimmen wollen, halten wir ein Metermaß an und messen, wie oft diese Einheit sich an die Wand zwischen Fußboden und Decke anlegen lässt. Die Angabe von 320 cm bedeutet praktisch also, die Messgröße (Raumhöhe) mit einer Maßeinheit (Zentimeter) zu vergleichen. Ein Zentimeter ist freilich schon das Beispiel einer abstrakten Maßeinheit. Anschaulicher wird das Vergleichsmoment, wenn wir stattdessen in Ellen oder Fuß und die Längen zweier Gegenstände aneinander messen : die Deckenhöhe an der Länge eines menschlichen Körperteils. Wenn das Erhabene nun »über alle Vergleichung« groß sein soll, dann kann es nicht an ein anderes als Maßeinheit ›angehalten‹ werden, es ist sein eigenes Maß. Schlechthin und nicht bloß vergleichsweise groß ist aber das Unendliche. Mit ihm verglichen ist alles andere klein. »Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt.«426 Dies ist der Fall, wenn die Größe des Gegenstandes die Grenzen unserer Einbildungskraft sprengt, wie z. B. bei der Ausdehnung des bestirnten Himmels über uns. Die Entfernungen zwischen Erde und Sonne, der Sonne und dem Zentrum der Milchstraße, der Milchstraße und der Andromedagalaxie usw. lassen uns schwindeln bei dem Gedanken, dass es immer so weiter geht ins  Maßnehmen und Maßhalten | 173

Grenzenlose. Die Größenordnungen, mit denen die moderne Kosmologie operiert, vermitteln eindrücklich diese Überforderung unseres Vorstellungsvermögens. Allerdings ist es wiederum nicht die unermessliche Natur, die eigentlich erhaben ist, sondern erneut die Überlegenheit der Vernunft »über das größte Vermögen der Sinnlichkeit«, die in den kosmischen Entfernungen anschaulich gleichsam angespielt wird.427 Die »Unangemessenheit unseres Vermögens der Größenschätzung der Dinge der Sinnenwelt« weckt das Gefühl »eines übersinnlichen Vermögens in uns«.428 Denn im Gegensatz zur Einbildungskraft, die im Endlichen siedelt, geht die Vernunft aufs Ganze und bildet Ideen von dem, was alles Endliche übersteigt : Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Indem sie die anschauungsgebundene Größenschätzung in ihre Schranken weist, leitet die Vernunft in ein Gebiet von Maßen über, die nicht durch einen quantitativen Vergleich gebildet werden und sich nicht in Zahlen fassen lassen. Kants Lehre vom Erhabenen hilft, die andere Seite des Quantifizierungs- und Digitalisierungsregimes zu beleuchten, das mit dem neuzeitlichen Selbstbehauptungssyndrom verbunden ist. Die Präponderanz der quantitativen Größenmessung lenkt den Blick auf Größen, die sich ihr widersetzen, weil sie nicht die Form der Vielheit einer Einheit haben. Die Mathematisierung, die Zählbarkeit durch Quantifizierung und Berechenbarkeit durch Digitalisierung herstellt (siehe Einleitung), zeigt daher eine besondere Ambivalenz – ist es doch gerade die fortschreitende Verbreitung dieser Prozesse, die die Wertschätzung nichtquantifizierbarer und nichtdigitalisierbarer Qualitäten fördert. Freilich setzt diese doppelte Größenschätzung eine kultivierte Urteilskraft voraus. Wer nicht den Wert des Unvergleichbaren kennt, weiß auch nicht um die Aussichtslosigkeit, seine Größe durch eine Zahl anzugeben. Ein Gebiet, auf dem sich diese Ambivalenz nachvollziehen lässt, ist die Ethik. Der Utilitarismus, der das moralisch und politisch Gute mit dem größtmöglichen Nutzen der größtmöglichen Zahl gleichsetzt, ist bezeichnenderweise eine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts. Jeremy Bentham hat seinen felicific calculus erstmals 1789 vorgestellt. In das hedonistische Kalkül gehen Intensität, Dauer, Wahrscheinlichkeit des Eintretens und Nähe bzw. Ferne einer Lust (Freude) oder Unlust (Leid) bereitenden Empfindung ein, 174 | Schluss 

die Wahrscheinlichkeiten, dass Empfindungen derselben Art bzw. nicht Empfindungen entgegengesetzter Art folgen, sowie die Anzahl der betroffenen Personen. Wenn alle Parameter für alle Betroffenen ermittelt (Quantifizierung) und in einer Buchführung nach Freude und Leid addiert werden, kann die eudemische Bilanz gezogen und der moralische Wert der in Frage stehenden Handlung berechnet werden (Digitalisierung). Bekanntlich hat John Stuart Mill diese einfache Mathematisierung durch qualitative Differenzierung auf Seiten der Lust zurückgewiesen. Nach der berühmten Formulierung hält es Mill für besser, ein unzufriedener Mensch als ein zufriedengestelltes Schwein zu sein, und das Leben eines unzufriedenen Sokrates für erstrebenswerter als das eines zufriedenen Narren. Bereits innerhalb des Utilitarismus motiviert also die Bemühung, Glück zu messen, zur Anerkennung von Qualitätsunterschieden. Umso stärker fällt die Opposition moderner Ethikkonzeptionen aus, sei es deontologischer, neoaristotelischer oder wertethischer Provenienz. Der Utilitarismus ist zwar immer noch recht populär, aber sein eigentlicher Wert scheint darin zu liegen, dass er die philosophische Ethik provoziert, die wahre Größe des Guten zu schätzen.429 Ein anderes Feld, das dem Zählen und Rechnen Grenzen zieht, haben wir mit Kants Lehre vom Erhabenen schon betreten : die Ästhetik. Sie ist als eine eigene philosophische Disziplin vergleichsweise jung und wurde erst im 18. Jahrhundert zunächst als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis begründet, die dann der Beurteilung des Schönen mehr und mehr Raum gibt. Hat indes noch für Kant das Naturschöne einen höheren Wert als das Kunstschöne, rückt in der modernen Ästhetik der Maßstab des Schönen zugunsten einer Theorie der Kunst in den Hintergrund. Kunst muss nicht schön sein. Aber sie muss formbildend sein. Die Beschreibung und Einordnung von Kunstwerken bedarf vor allem der Kategorie der Form. Und dasjenige, was an der künstlerischen Form ästhetisch am wenigsten interessiert, sind ihre messbaren Aspekte. Auf der anderen Seite mögen empirische Wissenschaftler anhand von Proportionsanalysen herausfinden, welche Maßverhältnisse von einer Mehrzahl an Probanden als schön empfunden werden. Sie zielen mit dem Begriff der Schönheit aber nicht einmal mehr auf das Zentrum der Ästhetik.  Maßnehmen und Maßhalten | 175

Die Kunst, die wir erst seit der Renaissance begrifflich von der Technik unterscheiden, scheint die symbolische Form schlechthin zu sein, die in der Moderne das Andere des Vermessenen und Berechneten verkörpert. Sie könnte damit eine These Blumenbergs bestätigen : »die Abkehr von der Anschauung steht ganz im Dienst der Rückkehr zur Anschauung. […] aber diesmal einer nicht aufgezwungenen, sondern aufgesuchten«.430 Je mehr sich die Wissenschaften von der Anschauung abwenden (siehe Einleitung), desto größer wird das Bedürfnis nach einer Rückkehr zur Anschauung, die jedoch nicht von der empirischen Naturerkenntnis aufgezwungen, sondern ästhetisch ausgesucht wird. Die Anschauung verliert in der Moderne, wie Claus-Artur Scheier pointiert, »nur ihre für den Begriff des Wissens paradigmatische Bedeutung«.431 Damit ist die Anschauung sozusagen für andere Dienste freigestellt. Theoriegeschichtlich passt in dieses Tableau auch die philosophische Strömung der Phänomenologie seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist kein Zufall, dass die Verpflichtung auf originäre Anschauungen in der Philosophie mit dem Abschied von der unmittelbaren Anschaulichkeit in den Wissenschaften zeitlich zusammenfällt. Beispiele für Letzteren liefern Relativitätstheorie und Quantenmechanik in der Physik oder, etwas später, die Molekulargenetik in der Biologie. Die in diesem Buch skizzierte Kulturphänomenologie von Qualitätsunterschieden reiht sich somit in die unvollständige Aufzählung der Domänen ein, die sich dem Zählbar- und Berechenbarmachen widersetzen. Sie bietet gewissermaßen ein Gegenmodell zur Mathematisierung an. Der Begriff der Messgröße verweist auf einen letzten Qualitätsunterschied, der am Ende meiner Überlegungen benannt sein will : Maßnehmen und Maßhalten. Es handelt sich um zweierlei Maße, die genommen bzw. gehalten werden sollen. Wenn wir Maß nehmen, dann vergleichen wir, wie zuvor dargestellt, eine Messgröße mit einer Maßeinheit. Auf diese Weise resultiert das Maßnehmen in einer Maßzahl. Wenn wir Maß halten, dann richten wir unser Denken und Handeln an einer Idee des Maßvollen, Angemessenen oder Passenden aus. Das Maßhalten resultiert in einem Tun, das darin besteht, sich zurückzuhalten, zu widerstehen oder den rechten Augenblick abzupassen. Dazu gehört nicht zuletzt auch das Wissen, woran jene Maße des Maßnehmens überhaupt sinnvoll 176 | Schluss 

gehalten werden können. Manch einer glaubt, noch das philosophische Gewicht eines Werkes mit der Waage bestimmen zu können. Maß nehmen wir mit Hilfe des Verstandes, die Vernunft dagegen gibt die Maße, die wir zu halten haben. Maß zu halten entspricht einer Haltung, die in der Antike sôphrosynê genannt wurde und wohl am besten mit Mäßigung oder Besonnenheit übersetzt wird. Letztere verweist auf den reflexiven Akt der Besinnung, des Sichbesinnens. Insbesondere mit dem Maßnehmen Maß zu halten, d. h. nicht alles und jedes dem quantitativen Vergleich zu unterwerfen, erfordert daher nicht nur Standfestigkeit und Zielsicherheit im Wollen, sondern auch Urteilskraft im Erkennen. Urteilskraft oder Klugheit (phronêsis) weiß die Zuständigkeiten zu unterscheiden zwischen dem rechnenden Verstand und der maßgebenden Vernunft. Sie ist eine unerlässliche Tugend für das gewissenhafte Studium von Qualitätsunterschieden.

 Maßnehmen und Maßhalten | 177

Danksagung

 V

iele Überlegungen der hier versammelten Studien reichen in meine Zeit als Gastprofessor am Humboldt-Studienzentrum für Philosophie und Geisteswissenschaften der Universität Ulm zurück. Ich danke den Kolleginnen, Kollegen und Studierenden dieses anregenden Umfeldes, mit denen ich in Seminaren und nach Vorträgen eingehend diskutieren durfte. Seit 2016 habe ich die Möglichkeit, diese Gespräche an meiner neuen Alma Mater, der Universität Koblenz-Landau, in Landau fortzuführen. Den hiesigen Mitdenkenden verdanke ich viele hilfreiche Hinweise zum Weiterdenken. Einige Kapitel sind die Aus- und Umarbeitungen von Vorträgen, die ich in Berlin, Bochum, Braunschweig, Bremen, Danzig, Guangzhou, Heidelberg, Mainz, Münster, Padua und Rot an der Rot gehalten habe. Den Personen, die mich eingeladen bzw. die mit mir diskutiert haben, bin ich zu Dank verpflichtet. Für die sorgfältige und kritische Lektüre einzelner Teile oder des ganzen Buches danke ich Benjamin Bedersdorfer, Christian Bermes, Christian Hauck, Nikolai Mähl, Nikola Mirković, Lukas von Maltitz, Andreas Sandner, Simon Schüz, Christian Sternad, Astrid von der Lühe, Dirk Westerkamp sowie Marcel Simon-Gadhof vom Felix Meiner Verlag.

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Nachweise Kapitel 2 : revidierte Fassung von »Zahlen – Vom Mythos zum Logos und zurück«, in : Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 44,1 (2019), 45 – 60. Kapitel 3 : überarbeitete und erweiterte Fassung von »Lebenswelt und Mathematisierung. Zur Phänomenologie der Übergänge«, in : Zeitschrift für Kulturphilosophie 7,2 (2013), 235 – 253, unter Berücksichtigung von »Zahl und Bedeutung. Die Mathematisierung der Kultur«, in : Archiwum Historii Filozofii i Myśli Społecznej. Archive of the History of Philosophy and Social Thought 59 (2014), 305 – 318. Kapitel 6 : überarbeitete Fassung von »Lebensform und lebendige Form. Zum Sinnfundament der Lebenswissenschaften«, in : Phänomenologische Forschungen 2015, 33 – 46. Kapitel 7 verwendet Textpassagen aus »Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. J. J. Buytendijk lesen im Buch der Natur«, in : Zwischen den Kulturen. Plessners ›Stufen des Organischen‹ im zeithistorischen Kontext, hg. von Kristian Köchy und Francesca Michelini, Freiburg i. Br./München 2015, 65 – 89 ; »›Leben erfaßt hier Leben‹. Zur Bedeutung von Leiblichkeit und kultureller Praxis in der Tierforschung«, in : Philosophie der Tierforschung, Bd. 3 : Milieus und Akteure, hg. von Matthias Wunsch, Martin Bühnert und Kristian Köchy, Freiburg i.Br./München 2018, 121 – 138 ; »Lebenserfahrung und Selbstverständnis. Begriffe einer konkreten Naturphilosophie des Menschen«, in : Lebensführung. Festschrift für Günter Ropohl, hg. von Nicole Karafyllis, Berlin 2014, 183 – 196 ; »Geteilte Intentionalität und exzentrische Positionalität : die soziale Form der Vernunft«, in : Phänomenologische Forschungen 2013, 17 – 28. Kapitel 9 : revidierte und erweiterte Fassung von »Kulturelle und natürliche Tatsachen«, in : Geschichte  – Gesellschaft  – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 28. September – 2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kolloquienbeiträge, hg. von Michael Quante, Hamburg 2016, 743 – 752.

  179

Anmerkungen

Anmerkungen

Einleitung

S. 9

  Paul Valéry : Leonardo da Vinci. Essays, übers. von Karl August Horst und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M. 2019, 122. 2  Vgl. Immanuel Kant : Kritik der reinen Vernunft (im Folgenden : KrV), in : Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (im Folgenden : Akad.-Ausg.), Bd. 3, Berlin 21911, 149 f., 153 f., B 203 f., B 210 f. ; ders. : Metaphysik L2, in : Akad.-Ausg., Bd. 28, Berlin 1970, 525 – 609 : 562. 3  Ulrich Beck : Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 232016, 14. 4  Ebd., 39. 5  Ebd., 40. 6  Ebd., 37 ; vgl. ebd., 76. 7  Ebd., 265 f. 8  Andreas Bernhard : »Kontrolliert«, in : Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. Mai 2015, 37. 9  Steffen Mau : Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 32018, 10. 10  Ebd., 14. 11  Ebd., 17 f. 12  Ebd., 25. 13  Ebd., 46. 14  Ebd., 59. 15  Oliver Schlaudt : Die politischen Zahlen. Über Quantifizierung im Neoliberalismus, Frankfurt a. M. 2018, 13, 64. 16  Ebd., 13. 17  Hartmut Rosa : Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 62020, 129. Max Weber hatte die »Entzauberung der Welt« auf »das Wissen davon oder den Glauben daran« zurückgeführt, dass man »alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne.« (»Wissenschaft als Beruf«, in : ders., Schriften 1894 – 1922, hg. von Dirk Kaesler, Stuttgart 2002, 474 – 511 : 488) 18  Ebd., 44. 19  Andreas Reckwitz : Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 42020, 19. 1

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  Armin Nassehi : Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019. 21  Ebd., 62. 22  Ebd., 63. 23  Ebd., 57. 24  Ebd., 58. 25  Ebd., 146. 26  Hannah Arendt : Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 82010, 53. 27  Vgl. Sybille Krämer : Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß, Darmstadt 1988 ; Bernhard Siegert : Passage des Digi­talen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500 – 1900, Berlin 2003. 28  Peter Janich : Handwerk und Mundwerk. Über das Herstellen von Wissen, München 2015, 314, unterscheidet zwischen der (menschlichen) Handlung des Rechnens und der leistungsgleichen Substitution des Rechnens durch Maschinen. »Die Konstruktion, der Bau und die Verwendung solcher ›kognitiver‹ Maschinen beruht […] auf einem Störungsvermeidungs- oder Störungsbeseitigungs-Wissen der Handwerker und Techniker, etwa relativ zum semantischen Wissen kompetenter Sprecher oder zum mathematischen Wissen kompetenter Rechner.« Vgl. ders. : »Medienphilosophie der Kommunikation«, in : Systematische Medienphilosophie, hg. von Mike Sandbothe und Ludwig Nagl, Berlin 2005, 83 – 98 : 94. 29  Georg Simmel : Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe, Bd. 6, Frankfurt a. M. 52000, 168 f. 30  Ebd., 169. 31  Ebd., 613. 32  Ebd., 614. 33  Ebd., 612. 34  Ebd., 616. 35  Ebd., 95. 36  Vgl. Ernst Wolfgang Orth : Was ist und was heißt »Kultur« ? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung, Würzburg 2000. 37  Valéry, Leonardo da Vinci, a. a. O., 123 f., 133, 144. 38  Ebd., 122, 129. 39  Ebd., 148, 129. 40  Ebd., 125. Und weiter : »im Gegenteil : dem Geist selber erscheint seine Arbeit als vermittelnde Tätigkeit zwischen zwei Erfahrungen oder zwei Erfahrungszuständen : von denen der erste gegeben, der zweite vorhergesagt ist.« (125 f.) 41  Ebd., 130. Auch Weber, »Wissenschaft als Beruf«, a. a. O., 491, sieht in Leonardo da Vinci einen »Bahnbrecher« der Neuzeit, indem er, wie Galilei, »das Experiment zum Prinzip der Forschung als solcher erhoben« hat. 42  Valéry : »Der Mensch und die Muschel«, in : Werke. Frankfurter Ausgabe 20

182 | Anmerkungen



in 7 Bänden, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1989, 156 – 180 : 171. 43  Ders. : »Persönliche Ansichten über die Wissenschaft«, ebd., 268 – 2 80 : 279. 44  Ders. : Cahiers/Hefte, hg. von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1992, 336. Ebd., 377 : »Wissenschaft ist nicht Wissen – sie ist Können.« 45  Ebd., 396. 46  Hans Blumenberg : »Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem«, in : ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 52017, 253 – 265 : 262 f. 47  Vgl. Ernst Cassirer : »Mathematische Mystik und mathematische Naturwissenschaft. Betrachtungen zur Entstehungsgeschichte der exakten Wissenschaft«, in : Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki (im Folgenden : ECW), Bd. 22, Hamburg 2006, 284 – 303 : 294. 48  Vgl. ders.  : »Galileo’s Platonism«, in : ECW, Bd. 24, Hamburg 2007, 335 – 354 : 349. Zu Platons Unterscheidung vgl. Philebos 56e-57a. 49  Vgl. Cassirer, »Mathematische Mystik und mathematische Naturwissen­ schaft«, a. a. O., 294. 50  Ders. : »Some Remarks on the Question of the Originality of the Renaissance«, in : ECW, Bd. 24, a. a. O., 175 – 183 : 177 : »Mathematics had been an element in culture long before the Renaissance ; but in the Renaissance, with thinkers like Leonardo or Galileo, it became a new cultural force. […] For him [i.e. Galileo] mathematics is not one field of knowledge, but the only valid criterion of knowledge – the norm by which all else that is called knowledge is to be measured and before which it must past its tests.« 51  Jürgen Mittelstraß : Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1992, 12, 14. 52  Ebd., 14 f. 53  Ders. : Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1974, 65. 54  Ebd., 65 f. 55  Ebd., 66 f. 56  Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft, a. a. O., 74. 57  Ebd., 76, 79. 58  Nach Bernhard Siegert : »Das Leben zählt nicht. Natur- und Geisteswissenschaften bei Dilthey aus mediengeschichtlicher Sicht«, in : (Me’dien)i : dreizehn Vortraege zur Medienkultur, hg. von Claus Pias, Weimar 1999, 161 – 182 : 171 f., führen Messtechniken »ab 1850 ein neues Dispositiv von Wahrheitsprozeduren herauf. Beobachtung wird ersetzt durch Ablesen. Die Meßtechniken der klassischen Physik waren auf die Sinne bezogen […] Meßtechnik und Experiment waren gekoppelt im Erleben eines Beobachters.« Johannes Lenhard : Mit allem rechnen – Zur Philosophie der Computersimulation, Berlin/Boston 2015, 183, geht noch einen Schritt weiter und sieht in der Technik der Compu Anmerkungen | 183

termodellierung eine »Umkehrung« dessen, was er das »Leonardo-Bacon-Galilei-Programm« nennt und womit auch er die »systematische Nähe« zwischen Wissenschaft, Ingenieurskunst und Technologie meint. Zur Umkehrung dieses Programms kommt es deshalb, weil die in der Computersimulation eingesetzten »mathematischen Modelle selbst nicht transparent sind«, indem sie »zu komplex und damit opak werden.« (189) 59  Edmund Husserl : Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (im Folgenden : Krisis), hg. von Walter Biemel, Husserliana. Gesammelte Werke (im Folgenden : Hua), Bd.6, Haag 1954, 143. Und weiter : »Diese Rückbezogenheit ist die einer Geltungsfundierung.« Die »mathematische Evidenz [hat] ihre Sinn- und Rechtsquelle in der lebensweltlichen Evidenz.« 60  Ebd., 141. 61  Vgl. Rüdiger Welter : Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt, München 1986, 186 – 203. Zu Husserls Begriff der Lebenswelt vgl. außerdem Christian Bermes : ›Welt‹ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 2004, 226 – 236. 62  Vgl. Husserl, Krisis, 548 f. : »Dagegen unsere Umwelt und die der Papua sind grundverschieden […] Die Umwelt des europäischen Menschentums ist eine ganz andere als die Umwelt der Hinduvölker oder die der Chinesen mit allen ihren nationalen Besonderungen. Umwelt ist durch und durch ein geistiger Begriff, er bezeichnet ein Gebilde der Historie und Tradition der betreffenden Menschheit. Sie hat aus sich und in sich diese Umwelt geschichtlich aufgebaut.« 63  Holm Tetens : »›Der Glaube an die Weltmaschine‹. Zur Aktualität der Kritik Dinglers am physikalischen Weltbild«, in : Methodische Philosophie. Beiträge zum Begründungsproblem der exakten Wissenschaften in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler, hg. von Peter Janich, Mannheim/Wien/Zürich 1984, 90 – 100 : 96. 64  Husserl : Logische Untersuchungen. Erster Band : Prolegomena zur reinen Logik, Hua, Bd. 18, hg. von Elmar Holenstein, Den Haag 1975, 80, 79. 65  Ebd., 78. 66  Ebd., 254 f. 67  Vera King et al. : »Psychische Bedeutungen des digitalen Messens, Zählens und Vergleichens«, in : Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 73 (2019), 744 – 770 : 752. Kapitel 1 · Kulturphänomenologie als kritische Theorie

S. 31

  Stephen Jay Gould : The Mismeasure of Man, New York 1996, 58 f.   Vgl. Janich : Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, München 1997, 199 : »Technisches Vermögen ist strikt kumulativ.« 70  Vgl. Platon : Phaidon 98b ; Politikos 281e ; Timaios 46c-e. 68 69

184 | Anmerkungen



  Vgl. Orth : »›Lebenskrisis‹ und ›Lebensbedeutsamkeit‹ als Motive der Husserlschen Kulturphänomenologie«, in : Studien zur interkulturellen Philosophie 7 (1997), 175 – 187. 72  Husserl : Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916 – 1937), hg. von Rochus Sowa, Hua, Bd. 39, Dordrecht 2008, 307, 149, 309 f. 73  Vgl. ders., Krisis, 360. 74  Ders., Die Lebenswelt, a. a. O., 312. 75  Ders., Krisis, 361. 76  Ebd., 143 (meine Hervorhebung). 77  Ders. : Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, redigiert und hg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg 1999, 39. 78  Ebd., 39. 79  Ders., Krisis, 46. 80  Janich : »Die Galileische Geometrie. Zum Verhältnis der geometrischen Idealisierung bei E. Husserl und der protophysikalischen Ideationstheorie«, in : Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie, hg. von Carl Friedrich Gethmann, Bonn 1991, 164 – 179 : 179 ; ders. : Handwerk und Mundwerk, a. a. O., 351. 81  Husserl, Krisis, 343. 82  Ebd., 52, 33. 83  Ebd., 49, 3. 84  Ebd., 4. 85  Ebd., 23. 86  Ebd. 87  Ebd., 33, vgl. 361. 88  Vgl. Janich : »Natur und Handlung. Über die methodischen Grundlagen naturwissenschaftlicher Erfahrung«, in : Vernunft, Handlung und Erfahrung. Über die Grundlagen und Ziele der Wissenschaften, hg. von Oswald Schwemmer, München 1981, 69 – 84. 89  Paul Lorenzen : Methodisches Denken, Frankfurt a. M. 31988, 26. 90  Husserl, Krisis, 51. 91  Vgl. Janich : Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, a. a. O., 22 ff. 92  Husserl, Erfahrung und Urteil, a. a. O., 43. 93  Lorenzen : »Das Problem des Szientismus«, in : 9. Kongreß für Philosophie. Düsseldorf 1969 : Philosophie und Wissenschaft, hg. von Ludwig Landgrebe, Meisenheim am Glan 1972, 19 – 34 : 23. 94  Karl-Otto Apel : »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft«, in : ders., Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 72015, 358 – 435 : 401. 95  Jürgen Habermas : Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 52004, 29. 71

 Anmerkungen | 185

  Friedrich Kambartel : »Wie ist praktische Philosophie konstruktiv möglich ? Über einige Mißverständnisse eines methodischen Verständnisses praktischer Diskurse«, in : Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, hg. von Friedrich Kambartel, Frankfurt a. M. 1974, 9 – 33 : 9. Kambartel leitete auf dem Kongress das Kolloquium »Wissenschaft und praktische Philosophie«, in dem Habermas seinen Vortrag hielt. 97  Michael Weingarten : Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik. Beiträge zur kulturalistischen Wende in der Philosophie, Bonn 1998, 7. Weitere Verhältnisbestimmungen zwischen Phänomenologie und Konstruktiver Wissenschaftstheorie finden sich in Lebenswelt und Wissenschaft, a. a. O., sowie darin Gethmann : »Phänomenologie, Lebensphilosophie und Konstruktive Wissenschaftstheorie. Eine historische Skizze zur Vorgeschichte der Erlanger Schule«, 28 – 77 ; vgl. außerdem Wechselwirkungen. Zum Verhältnis von Kulturalismus, Phänomenologie und Methode, hg. von Peter Janich, Würzburg 1999. 98  Janich : Grenzen der Naturwissenschaft. Erkennen als Handeln, München 1992, 13. 99  Vgl. Weingarten, Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik, a. a. O., 167. 100  Janich : »Gestaltung und Sensibilität. Zum Verhältnis von Konstruktivismus und Neuer Phänomenologie«, in : ders., Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus, Frankfurt a. M. 1996, 154 – 177 : 176. 101  Ebd., 177. 102  Cassirer : An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, ECW, Bd. 23, Hamburg 2006, 71. 103  Helmuth Plessner : Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (im Folgenden : Stufen), Gesammelte Schriften, hg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (im Folgenden : GS), Bd. 4, Frankfurt a. M. 1981, 70. 104  Weingarten, Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik, a. a. O., 10. 105  Max Horkheimer : »Der neueste Angriff auf die Metaphysik«, in : Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 22009, 108 – 161 : 122. 106  Rudolf Carnap : »Die neue und die alte Logik«, in : Erkenntnis 1,1 (1930), 12 – 16 : 26. 107  Ders. : »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«, in : Erkenntnis 2,4 (1932), 219 – 241 : 238 ff. 108  Horkheimer, »Der neueste Angriff«, a. a. O., 122. 109  Marcuse  : [Rezension von :] Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transcendentale Phänomenologie [usw.], in : Zeitschrift für Sozialforschung 6,2 (1937), 414 f. : 415. 110  Husserl, Krisis, 60. 111  Ebd., 50 f. 112  Ebd., 54. 96

186 | Anmerkungen



  Vgl. Webers programmatischen Aufsatz von 1904 bei Übernahme der Herausgabe des Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik : »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in : ders., Schriften 1894 – 1922, a. a. O., 77 – 149. 114  Husserl : Krisis, 4. 115  Ebd. 116  Ebd., 10 f., 13. 117  Horkheimers »Traditionelle und kritische Theorie« erschien im zweiten Heft des Jahrgangs 1937 der Zeitschrift für Sozialforschung. Nun in : Gesammelte Schriften, Bd. 4, a. a. O., 162 – 216. 118  Habermas : »Erkenntnis und Interesse«, in : ders., Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a. M. 1968, 146 – 168 : 147. 119  Ebd., 152 f. 120  Ebd., 167. 121  Husserl, Krisis, 337. 122  Ebd., 327. 123  Ebd., 22. 124  Ebd., 23. 125  Ebd., 25. 126  Ebd., 329. 127  Ebd., 337. 128  Ebd., 343. 129  Vgl. ebd., 346. 130  Horkheimer, »Traditionelle und kritische Theorie«, a. a. O., 174. 131  Ludwik Fleck : »Krise in der Wissenschaft. Zu einer freien und menschlicheren Naturwissenschaft«, in : ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1983, 175 – 181 : 178. 132  Ebd., 180. 133  Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. von Jürgen Mittelstraß, Bd. 3, Stuttgart 1995, 344. 134  Weingarten, Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik, a. a. O., 143. 135  Ebd. Vgl. Janich, Kambartel und Mittelstraß : Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik, Frankfurt a. M. 1974, 22 – 27. 136  Vgl. dazu vom Verf. : »Thesen zur prekären Verbindlichkeit der Wissenschaft«, in : Verbindlichkeit. Stärken einer schwachen Normativität, hg. von Michaela Bauks, Christian Bermes, Thomas M. Schimmer, Jan Georg Schneider und Marion Steinicke, Bielefeld 2019, 71 – 82. 113

 Anmerkungen | 187

Kapitel 2 · Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück

S. 51

  Zitiert nach Lewis Mumford : Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, übers. von Liesl Nürenberger und Arpad Hälbig, Frankfurt a. M. 1977, 395. 138  The Big Bang Theory, Staffel 4, Folge 10 (USA 2010), 00 : 01 : 01–00 : 01 :12. 139  Cassirer : Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil : Das mythische Denken, ECW, Bd. 12, Hamburg 2002, 44. 140  Ebd., 170. 141  Ebd., 168 f. 142  Ebd., 174. 143  Ebd., 171. 144  Birgit Recki : Cassirer, Stuttgart 2013, 57. 145  Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, a. a. O., 179. 146  Recki, Cassirer, a. a. O., 60. 147  Platon : Timaios, übers. von Thomas Paulsen/Rudolf Rehn, Stuttgart 2013, 213, 92c. 148  Imre Lakatos : »Warum hat das Kopernikanische Forschungsprogramm das Ptolemäische überrundet ?«, übers. von Helmut Vetter, in : ders., Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme. Philosophische Schriften, Bd. 1, hg. von John Worrall/Gregory Currie, Braunschweig/Wiesbaden 1982, 182 – 208 : 194. 149  Ebd., 197. 150  Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, a. a. O., 163. 151  Ebd., 166. 152  Zitiert nach Horst Bredekamp und Claudia Wedepohl : Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne, Berlin 2015, 54. Aby Warburg sieht, wie Cassirer, Kepler »als Übergangstype zwischen mythischem und mathematischem Denken« (ebd.). 153  Galileo Galilei : Il Saggiatore, in : Le Opere, nuova ristampa della edizione nazionale, hg. von Giuseppe Saragat, Bd. 6, Florenz 1968, 199 – 372 : 232 : »Egli [l’universo] è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche«. 154  Kant : Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in : Akad.Ausg., Bd. 4, Berlin 21911, 465 – 566 : 470. 155  Horkheimer und Theodor W. Adorno : Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Adorno, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt a. M. 2003, 19. 156  Ebd. 157  Ebd., 23. 158  Ebd., 44. 159  Roland Barthes : Mythen des Alltags, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 2012, 278. 137

188 | Anmerkungen



  Ebd.   Thomas Bauer : Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018, 38. 162  Ebd., 40. 163  Joseph Vogl : Das Gespenst des Kapitals, Zürich, 4 2011, 110. 164  Ebd., 97. 165  Ebd., 103. 166  Ebd., 90. 167  Ebd., 94. 168  Ebd., 110 f., 114. 169  Rudolf Otto : Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 2014, 42. 170  Vogl, Das Gespenst des Kapitals, a. a. O., 176. 171  Ebd., 174. 172  Niklas Luhmann : Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1988, 271. 173  Vogl, Das Gespenst des Kapitals, a. a. O., 178. 174  Zitiert nach Walter Benjamin : »Kapitalismus als Religion«, in : Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, 100 – 103 : 100. 175  Ebd. 160 161

Kapitel 3 · Phänomenologie der Übergänge

S. 67

  Alfred North Whitehead : Science and the Modern World, Cambridge 1953, 26 f. 177  Aristoteles : Physik. Vorlesung über die Natur, Griechisch-Deutsch, übers. von Hans Günter Zekl, 2 Bde., Hamburg 1987/1988, 3, 184a 16 – 18. Vgl. außerdem De anima 413a 11 – 12 ; Topik 156a 5 f., oder auch Nikomachische Ethik 1095b 2 ff. Zur Interpretation vgl. Wolfgang Wieland : Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 31992, 69 – 85. 178  Ebd., 80. Gutmann spricht daher treffend von »Geltungsasymmetrie«. Vgl. dazu Mathias Gutmann, Benjamin Rathgeber und Tareq Syed : »Warum vertrauen wir auf Wissenschaften ? Überlegungen zu Kriterien erzwungener Verlässlichkeit«, in : Vertrauen – zwischen sozialem Kitt und der Senkung von Transaktionskosten, hg. von Matthias Maring, Karlsruhe 2010, 45 – 70. 179  Husserl, Krisis, 183. 180  Vgl. ebd., 184. 181  Cassirer  : »Form und Technik«, in : ECW, Bd. 17, Hamburg 2004, 139 – 183 : 155. 182  Ebd., 156. 176

 Anmerkungen | 189

  Ebd., 160.   Ebd., 157. 185  Ebd., 159. 186  Ebd., 173. 187  Ebd., 183 ; Friedrich Dessauer : Philosophie der Technik. Das Problem der Realisierung, Bonn 1927, 86. 188  Cassirer, »Form und Technik«, a. a. O., 183. 189  Ebd., 182. 190  Ebd., 173. 191  Ebd., 182. 192  Ebd. 193  Husserl, Krisis, 384. 194  Die Bildung solcher Limesgestalten markiert einen Übergang eigener Art, der noch genauer zu beschreiben wäre, als es Husserl getan hat. 195  Vgl. Janich, »Die Galileische Geometrie«, a. a. O. 196  Husserl, Krisis, 23. 197  Zur Arithmetisierung und Algebraisierung der Geometrie vgl. auch Manfred Sommer : Lebenswelt und Zeitbewußtsein, Frankfurt a. M. 1990, 19 – 58. 198  Husserl, Krisis, 27. Die sinnliche Fülle des Phänomens ist gerade nicht identisch mit sogenannten sekundären Qualitäten oder den Qualia der philosophy of mind. 199  Husserl, Krisis, 35. 200  Ebd., 48. 201  Ebd., 50. Vgl. auch Sommer, Lebenswelt, a. a. O., 107 : »Herkunftsvergessenheit ist Sinnverlust. Daran, so Husserl, leidet Galilei. Und wir mit ihm.« 202  Gottlob Freges Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell, sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges, hg. von Gottfried Gabriel, Friedrich Kambartel und Christian Thiel, Hamburg 1980, 13. 203  Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band, a. a. O., 254 f. 204  Husserl, Krisis, 51 f. 205  Ebd., 53. Und weiter : »Ich nenne Galilei natürlich ganz im Ernste auch weiterhin an der Spitze der größten Entdecker der Neuzeit«. 206  Norbert Wiener : Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf/Wien 1992, 74. Claus Pias : »Die kybernetische Illusion«, in : Medien in Medien, hg. von Claudia Liebrand und Irmela Schneider, Köln 2002, 51 – 66 : 51, bezeichnet die Kybernetik als »das vielleicht folgenreichste wissenschaftshistorische Ereignis der Nachkriegsgeschichte«. 207  Vgl. Wiener : God and Golem, Inc. A Comment on Certain Points where Cybernetics Impinges on Religion, Cambridge, Mass. 1964, 47 : »If it is an offense against our self-pride to be compared to an ape, we have now got pretty well over it ; and it is an even greater offense to be compared to a machine.« 208  Janich : Kultur und Methode. Philosophie in einer wissenschaftlich ge183

184

190 | Anmerkungen



prägten Welt, Frankfurt a. M. 2006, 213 ff. ; vgl. außerdem ders. : Was ist Information ? Kritik einer Legende, Frankfurt a. M. 2006. 209  Zwei Zeitgenossen der Kybernetisierung seien hier aufgerufen, um diesen technikgeschichtlichen Übergang zu kennzeichnen. Max Bense sieht 1951 in der Kybernetik eine »Metatechnik« und »Tiefentechnik«, die »in keiner Weise mehr isoliert (objektiviert) betrachtet werden [kann] vom Weltprozeß und seinen soziologischen, ideologischen und vitalen Phasen«. (»Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine«, in : Ausgewählte Schriften in vier Bänden, hg. von Elisabeth Walther, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 1998, 429 – 4 46 : 436.) In seinem Vortrag »Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens« betrachtet Heidegger 1967 den »kybernetische[n] Weltentwurf« mit Nietzsche als den »Sieg der Methode über die Wissenschaft«, der eine »durchgängig gleichförmige und in diesem Sinn universale Berechenbarkeit, d. h. Beherrschbarkeit der leblosen und der lebendigen Welt« ermöglicht (in : Gesamtausgabe, Bd. 80.2, hg. von Günther Neumann, Frankfurt a. M. 2020, 1311 – 1326 : 1318). 210  Hans Jonas : Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, in : Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas, Bd. I/1, hg. von Horst Gronke, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2010, 1 – 359 : 223. Gegenstand von Jonas’ Kritik ist der Aufsatz von Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener und Julian Bigelow : »Behavior, Purpose and Teleology«, in : Philosophy of Science 10 (1943), 18 – 24. Jonas erkennt, dass eine kybernetische ›Teleologie‹ lediglich Simulakren von Lebewesen beschreiben kann, nicht aber diese selbst. 211  Jonas, Organismus und Freiheit, a. a. O., 207. Heinz von Foerster : »Wahrnehmung«, in : Philosophien der neuen Technologie, hg. von ARS ELECTRONICA, Berlin 1989, 27 – 40 : 33, hat hierfür den treffenden Ausdruck »anthropomorphia inversa« geprägt. 212  Zu diesem Übergang vgl. Siegert : »Am Ende der Kräfte. Von der thermodynamischen zur nachrichtentheoretischen Welt«, in : Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800 – 1900, hg. von Thomas Brandstetter und Christof Windgätter, Berlin 2008, 273 – 285. 213  Vgl. Janich, Was ist Information ?, a. a. O., 39, 77 f. 214  Claude Elwood Shannon und Warren Weaver : Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, übers. von Helmut Dreßler, München 1976, 35. 215  Ebd. 216  Ebd., 39. 217  Vgl. dazu Slava Gerovitch : »Roman Jakobson und die Kybernetisierung der Linguistik in der Sowjetunion«, in : Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, hg. von Michael Hagner und Erich Hörl, Frankfurt a. M. 2008, 229 – 274, insbes. 233 – 256. 218  Shannon/Weaver, Mathematische Grundlagen, a. a. O., 12. Die weitere Aufzählung verrät den militärischen Kontext, in dem die mathematische Informationstheorie entstanden ist : Vorgänge, »durch die eine Maschine (z. B.  Anmerkungen | 191

ein Automat, der ein Flugzeug aufspürt und dessen wahrscheinliche Position berechnet) eine andere Maschine beeinflusst (z. B. eine Lenkwaffe, die dieses Flugzeug verfolgt)«. An dem genannten Projekt arbeitete im Zweiten Weltkrieg unter anderen auch Wiener. Vgl. dazu Axel Roch und Bernhard Siegert : »Maschinen, die Maschinen verfolgen. Über Claude E. Shannons und Norbert Wieners Flugabwehrsysteme«, in : Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. von Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen, München 1999, 219 – 230. 219  Vgl. dazu Pias : »Zeit der Kybernetik – Eine Einstimmung«, in : Cybernetics/Kybernetik. The Macy-Conferences 1946 – 1953, Bd. 2 : Essays und Doku­ mente, hg. von Claus Pias, Zürich/Berlin 2004, 9 – 41. Vgl. außerdem die Dokumentation Cybernetics/Kybernetik. The Macy-Conferences 1946 – 1953, Bd. 1 : Protokolle, hg. von Claus Pias, Zürich/Berlin 2003 ; sowie Isabelle Clerc : Am Quellcodes des Verhaltens. Die Macy-Konferenzen und die Kybernetisierung verhaltenswissenschaftlicher Theorien, Heidelberg 2009. Zur Bedeutung der Kybernetik für die Humanwissenschaften vgl. Die Transformation des Humanen, a. a. O. Eine umsichtige Diskursanalyse hat Rainer C. Becker : Black Box Computer. Zur Wissensgeschichte einer universellen kybernetischen Maschine, Bielefeld 2012, vorgelegt. 220  Für die Molekularbiologie vgl. Lily E. Kay : Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code ?, übers. von Gustav Roßler, München/Wien 2001 ; für die Sozialwissenschaften vgl. Die Transformation des Humanen, a. a. O. Vgl. außerdem Menschenbilder und Metaphern im Informationszeitalter, hg. von Michael Bölker, Mathias Gutmann und Wolfgang Hesse, Berlin 2010, sowie Information und Menschenbild, hg. von Michael Bölker, Mathias Gutmann und Wolfgang Hesse, Heidelberg 2010. 221  Claude Lévi-Strauss : »Die Mathematik vom Menschen«, in : Kursbuch 8, hg. von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a. M. 1967, 176 – 188 : 181. 222  Ebd., 182. Und weiter : »Der Grund für die großen Schwierigkeiten in der Vergangenheit war der qualitative Charakter unserer Studien. Um sie einer quantitativen Behandlung unterziehen zu können, mußte man entweder mogeln oder sie hoffnungslos arm machen. Heute jedoch gibt es zahlreiche Zweige der Mathematik (Mengenlehre, Gruppentheorie, Topologie), deren Gegenstand es ist, strenge Beziehungen herzustellen zwischen Klassen, deren Individuen durch unstetige Werte voneinander getrennt sind ; gerade diese Unstetigkeit ist eine der wesentlichen Eigenschaften der Gesamtheiten, die im Verhältnis zueinander qualitativ sind, und darin lag ihr angeblich ›unwägbarer‹, ›unaussprechlicher‹ Charakter.« (183) 223  Vgl. Gould : Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a. M. 52007. 224  Lévi-Strauss, »Die Mathematik vom Menschen«, a. a. O., 188. 225  Michel Foucault : Les mots et les choses, Paris 1966 ; Jean-François Lyotard : La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979. Zu ergänzen wäre noch Roland Barthes : Le bruissement de la langue, Paris 1984. Anders 192 | Anmerkungen



als Shannon, von dem er auch das Auswahlprinzip (der den Autor ersetzende leidenschaftslose Schreiber schöpft nicht aus Stimmungen, Gefühlen oder Eindrücken, sondern aus einem Wörterbuch) übernimmt, ist Barthes gerade nicht an einer Beseitigung des Rauschens interessiert. 226  Foucault : Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1 (1954 – 1969), hg. von Daniel Defert und François Ewald, übers. von Michael Bischoff u.a., Frankfurt a. M. 2001, 666, 779. 227  Vgl. Aristoteles : Metaphysik 1048b 28 – 3 4, sowie Christoph RehmannSutter : Leben beschreiben. Über Handlungszusammenhänge in der Biologie, Würzburg 1996, 141 f. 228  Vgl. Aristoteles : Physik 92b 23 – 27, sowie Friederike Rese : Praxis und Logos bei Aristoteles. Handlung, Vernunft und Rede in ›Nikomachischer Ethik‹, ›Rhetorik‹ und ›Politik‹, Tübingen 2003, 234 f. 229  Heidegger : »Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles, Physik B,1«, in : Gesamtausgabe, Bd. 9, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 31996, 239 – 301 : 257. 230  Zum Verhältnis von Rhetorik und Technik vgl. Blumenberg : »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«, in : ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1999, 104 – 136. 231  Vgl. Friedrich Nietzsche : Nachgelassene Fragmente 1885 – 1887, in : Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 12, München 1999, 350 : »Nihilism : es fehlt das Ziel ; es fehlt die Antwort auf das ›Warum  ?‹«. 232  Blumenberg, »Anthropologische Annäherung«, a. a. O., 122. 233  Ders., »Weltbilder und Weltmodelle«, in  : Nachrichten der Giessener Hochschulgesellschaft 30 (1961), 67 – 75 : 67 f. Kapitel 4 · Exkurs : Kant und die Außerirdischen

S. 87

  Husserl : »Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur«, in : Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, hg. von Marvin Farber, New York 1968, 307 – 325 : 307 (Anm.). 235  Alexander Pope : Vom Menschen. Essay on Man, Hamburg 1993, 18, 20 (I, 23 – 28). 236  Kant : Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, in : Akad.-Ausg., Bd. 1, Berlin 21910, 215 – 368 : 352. 237  Ebd., 352 f. 238  Johann Wolfgang von Goethe : Faust. Der Tragödie zweiter Teil in fünf Akten, in : Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 3, München 1988, 146 – 364 : 340, Vv. 11288 f. 234

 Anmerkungen | 193

  Kant, Allgemeine Naturgeschichte, a. a. O., 354.   Ebd., 358. 241  Ebd., 359. 242  Ebd. 243  Ebd., 359 f. 244  Mikromegas, eine philosophische Historie. Aus dem Französischen des Herrn von Voltaire übersetzt, Herßfeld 1768, 35, 45, 52. 245  Christian Wolff : Elementa matheseos universae (editio nova), Bd. 3, Halle 1753, 576 f. Vgl. dazu Eberhard Knobloch : »Vielheit der Welten – extraterrestrische Existenz«, in : Ideale Akademie. Vergangene Zukunft oder konkrete Utopie ?, hg. von Wilhelm Voßkamp, Berlin 2002, 165 – 186 : 167. Außerdem vom Verf. : Der menschliche Standpunkt. Perspektiven und Formationen des Anthropomorphismus, Frankfurt a. M. 2011, 147. 246  Christian Huygens : Weltbeschauer, oder vernünftige Muthmaßungen, daß die Planeten nicht weniger geschmükt und bewohnet seyn, als unsere Erde. Aus dem Lateinischen übersezt, Zürich 1767, 74. 247  Bernard Le Bovier de Fontenelle : Gespräche über die Vielzahl der Welten, in : ders., Philosophische Neuigkeiten für Leute von Welt und für Gelehrte. Ausgewählte Schriften, Leipzig 1989, 12 – 119 : 28. 248  Huygens, Weltbeschauer, a. a. O., 38. 249  Ebd., 105. 250  Ebd., 72. 251  Fontenelle, Gespräche, a. a. O., 40. 252  Ebd., 45. 253  Durs Grünbein : »Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen«, in : ders., Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989 – 1995, Frankfurt a. M. 1996, 89 – 104 : 96, 101. 254  Arendt, Vita activa, a. a. O., 318. 255  Huygens, Weltbeschauer, a. a. O., 74. 256  Ebd., 337. 257  Ebd., 336. 258  Kant, KrV, 55 f., B 42 f. 259  Kant an Marcus Herz vom 26. Mai 1789, in : Akad.-Ausg., Bd. 11, Berlin/ Leipzig 21922, 48 – 55 : 51. 239

240

Kapitel 5 · Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie

S. 97

  Wilhelm Troll/Lothar Wolf : Goethes morphologischer Auftrag. Versuch einer naturwissenschaftlichen Morphologie (Die Gestalt. Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie, hg. von Wilhelm Pinder, Wilhelm Troll und Lothar Wolf, Heft 1), Leipzig, 1940, 19. 261  Erwin Schrödinger : Was ist Leben ? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, übers. von L. Mazurcak, München/Zürich 62003, 123. 260

194 | Anmerkungen



  Ebd., 56.   Ebd., 124. 264  Ebd., 126. 265  Ebd., 129. 266  Ebd., 134 f. 267  Ebd., 138. 268  Vgl. Heidegger : Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Gesamtausgabe, Bd. 29/30, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 21992, 304. 269  Vgl. Thomas Nagel : »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein ?«, in : Analytische Philosophie des Geistes, hg. von Peter Bieri, Bodenheim 21993, 261 – 275. 270  Vgl. Plessner : Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, 6. 271  Brian P. McLaughlin : »The Rise and Fall of British Emergentism«, in : Emergence. Contemporary Readings in Philosophy and Science, hg. von Mark A. Bedau und Paul Humphreys, Cambridge, Mass./London 2008, 19 – 59. 272  Frederik Jacobus Johannes Buytendijk und Plessner : »Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs«, in : Plessner, GS, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1982, 67 – 130 : 84. 273  Josef König und Plessner : Briefwechsel 1923 – 1933, hg. von Hans-Ulrich Lessing und Almut Mutzenbecher, Freiburg/München 1994, 72 ; vgl. Plessner : Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, in : GS, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1980, 7 – 315 : 24. 274  Vgl. Hermann von Helmholtz : »Die Tatsachen in der Wahrnehmung«, in : ders., Abhandlungen zur Philosophie und Geometrie, hg. von Sabine S. Gehlhaar, Cuxhaven/Dartford 1987, 133 – 156 : 136. 275  Adolf Meyer : Logik der Morphologie im Rahmen einer Logik der gesamten Biologie, Berlin 1926, 30. 276  Plessner, Stufen, 158. 277  Ebd., 32 ; zur Irreduzibilität vgl. auch ebd., 159. 278  Ebd., 428 f. 279  Ebd., 32, 428. 280  Kant : Kritik der Urtheilskraft, in  : Akad.-Ausg., Bd. 5, Berlin 21913, 165 – 485 : 400 (§ 75). 281  Plessner : »Ein Newton des Grashalms ?«, in : GS, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1983, 247 – 266 : 264. Die modalen Aspekte der lebendigen Form fasst Plessner in diesem Aufsatz, 264 ff., unter den Begriff der »immateriellen Dimensionierung«. 282  Plessner, Stufen, 161. Vgl. ebd., 30 ff. 283  Christina Berndt : »Was den Mensch zum Menschen macht«, in : Süddeutsche Zeitung vom 31. März 2014, 4. 284  Wolfgang Däuble : »Gen-Lego mit Hefezellen. Erstes künstliches Chro262

263

 Anmerkungen | 195

mosom in einen Zellkern verpflanzt«, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland vom 9. April 2014, N2. 285  Maurice Merleau-Ponty : Die Struktur des Verhaltens, Berlin/New York 1976, 183 (meine Hervorhebung). 286  Vgl. ebd., 170. 287  Zu diesem Beispiel vgl. Evan Thompson : Mind in Life. Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind, Cambridge, Mass./London 2007, 74, 158. 288  Philippa Foot : Die Natur des Guten, übers. von Michael Reuter, Frankfurt a. M. 2004, 53 und 54 : Solche allgemeinen Aussagen über artgemäßes Verhalten, die »statt statistischer Normalitäten Normen beschreiben«, nennt Foot »Aristotelian categorials«. 289  Merleau-Ponty : Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège des France 1956 – 1960, hg. von Dominique Séglard, übers. von Mira Köller, München 2000, 252. Merleau-Ponty bezieht sich hier auf Georges Canguilhems medizinische Dissertation Das Normale und das Pathologische von 1943. Freilich sensibilisieren Canguilhem und in der Folge auch Foucault für die Geschichtlichkeit des Maßstabs, an dem gesund/krank bzw. normal/defizient gemessen werden. Doch setzt die Messung (an einem Maßstab) ein Messbares (die Differenz selbst) voraus. 290  Plessner, Stufen, 169. Kapitel 6 · Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften

S. 111

  Zitiert nach Karl Löwith : »Vicos Grundsatz : verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen«, in : Sämtliche Schriften, Bd. 9, Stuttgart 1986, 195 – 227 : 200. 292  Husserl, Krisis, 36. 293  Ebd., 23. 294  Ebd., 52. 295  Ebd., 43. 296  Ebd., 48 ff. 297  Ebd., 4. 298  Shannon/Weaver, Mathematische Grundlagen, a. a. O., 16. 299  Gregory Hickok : Warum wir verstehen, was andere fühlen. Der Mythos der Spiegelneuronen, München 2015, 161. 300  Vgl. dazu kritisch Käte Meyer-Drawe : »Der Mensch – eine neuronale Maschine ?«, in : Phänomenologie und Philosophische Anthropologie, hg. von Christian Sternad und Günther Pöltner, Würzburg 2011, 77 – 94. Zum kybernetischen Hintergrund ebenfalls kritisch dies. : »›Sich einschalten‹. Anmerkungen zum Prozess der Selbststeuerung«, in : Steuerungsprobleme im Bildungswesen. Festschrift für Klaus Harney, hg. von Ute Lange, Sylvia Rahn, Wolfgang Seitter und Randolf Körzel, Wiesbaden 2009, 19 – 34. 301  Michael Thompson : Leben und Handeln. Grundstrukturen der Praxis 291

196 | Anmerkungen



und des praktischen Denkens, übers. von Matthias Haase, Frankfurt a. M. 2011, 77. Vgl. außerdem vom Verf. : »Der Mensch als Lebensform«, in : Die Natur der Lebensformen. Perspektiven in Biologie, Ontologie und praktischer Philosophie, hg. von Martin Hähnel und Jörg Noller, Paderborn 2020, 57 – 75. 302  Thompson, 74. 303  Wilhelm Schapp : Philosophie der Geschichten, Frankfurt a. M. 1981, 218. 304  Ders. : In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953, 195. 305  Ebd., 194. 306  Ebd., 193. 307  Ebd., 105, 100. 308  Vgl. ders., Philosophie der Geschichten, a. a. O., 88 f. 309  Ders., In Geschichten verstrickt, a. a. O., 195. 310  Ebd., 57. 311  Valéry, »Der Mensch und die Muschel«, a. a. O., 162. 312  Ebd., 169. 313  Ebd., 157. 314  Ebd., 175. 315  Ebd., 172. 316  Husserl, Krisis, 183. Kapitel 7 · Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft

S. 125

  Plessner, Die Einheit der Sinne, a. a. O., 24.   Platon : Politeia, übers. von Friedrich Schleiermacher, Werke in acht Bänden, hg. von Gunther Eigler, Bd. 4, Darmstadt 1990, 865, 617d–e. 319  Ebd., 867, 618bc. 320  Xenophon : Erinnerungen an Sokrates, übers. von Peter Jaerisch, München 21977, 47 (I,3,2). 321  Vgl. Norbert Hinske : »Der Sinn des Sokratischen Nichtwissens«, in : Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung 110,4 (2003), 319 – 332. 322  Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, a. a. O., 470. 323  Vgl. Diethard Tautz : »In der Menge liegt die Wahrheit«, in : Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2. Juni 2019, 54 f. Tautz ist Direktor am MaxPlanck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön. 324  Joshua Lederberg : »Biological Future of Man«, in : Man and his Future, hg. von Gordon Wolstenholme, London 1963, 263 – 273 : 263. 325  Plessner : »Mensch und Tier«, in : GS, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1983, 52 – 65 : 52. 326  Buytendijk  : »Tier und Mensch«, in : Neue Rundschau 98,1 (1938), 313 – 337 : 313, 315. 327  Plessner, »Mensch und Tier«, a. a. O., 53 f. 317

318

 Anmerkungen | 197

  Buytendijk, »Tier und Mensch«, a. a. O., 331.   Ebd., 325. 330  Ebd., 337 ; Plessner, »Mensch und Tier«, a. a. O., 64. 331  Ebd. 332  Plessner, »Mensch und Tier«, a. a. O., 64. 333  Ders., Stufen, 63. 334  Wilhelm Dilthey : »Vorrede«, in : Gesammelte Schriften (im Folgenden : GS), Bd. 5, hg. von Georg Misch, Stuttgart/Göttingen 61974, 3 – 6 : 4. 335  Ders. : Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grund­ legung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band, GS, Bd. 1, hg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart/Göttingen 61966, 36. 336  Ders. : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, GS, Bd. 7, hg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart/Göttingen 41965, 147 ; »Beiträge zum Studium der Individualität«, in : GS, Bd. 5, a. a. O., 241 – 316 : 250. 337  Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt, a. a. O., 148. 338  Ders. : »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«, in : GS, Bd. 5, a. a. O., 139 – 240 : 144. 339  Ebd., 173. 340  Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt, a. a. O., 136. Plessner, Stufen, 59, 42. 341  Georg Misch : »Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften«, in : ders., Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Dil­ theys, Frankfurt a. M. 1947, 37 – 51 : 49. 342  Ders.  : »Vorbericht des Herausgebers« in : Dilthey, GS, Bd. 5, a. a. O., XCIX, CV. 343  Ders., »Die Idee der Lebensphilosophie«, a. a. O., 47 f., 51. 344  König/Plessner, Briefwechsel, a. a. O., 130. 345  Plessner, Stufen, 49. 346  Ebd., 217. 347  Ebd., 218. 348  Ebd., 232. 349  Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, a. a. O., 340. 350  Plessner, Stufen, 377. 351  Ebd., 382. 352  Ebd., 378. 353  Ebd., 379. 328 329

198 | Anmerkungen



Kapitel 8 · Das Ganze und seine Teile

S. 139

  Vgl. Werner Heisenberg : Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1969, 19 f. 355  Ebd., 307 – 319. 356  Hans-Peter Dürr : »Das Eine, das Ganze und seine Teile« (Vortrag vom 26. Juni 1992), in : Perspektiven und Begegnungen – Carl Friedrich von Weizsäcker zum 100. Geburtstag, hg. von Ulrich Bartosch und Reiner Braun, Berlin 2012, 53 – 62 : 53. 357  Ebd., 54. 358  Ulf von Rauchhaupt : »Ein Darwin der Chemie«, in : Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6. Januar 2019, 51 – 54. 359  Adolf Lumpe : »Element«, in : Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, hg. von Joachim Ritter, Basel/Stuttgart 1972, Sp. 440 (meine Hervorhebungen). 360  Platon, Timaios, a. a. O., 85, 48b. 361  Das fünfte und letzte regelmäßige Polyeder, das Dodekaeder, bestehend aus zwölf regelmäßigen Fünfecken, fällt hier noch aus der Reihe – Platon ordnet ihm die Form des Kosmos als Ganzem zu. Seit Aristoteles steht es für das fünfte Element, die quinta essentia, den Äther. 362  Vgl. Platon : Philebos 18b-d. Die beiden Bedeutungen von stoicheion begegnen uns auch im Periodensystem durch die Symbole für die einzelnen Elemente, die aus einem oder zwei Buchstaben bestehen. Zu denken wäre außerdem an die Buchstabenschrift für die Nukleinbasen von DNA und RNA, gerne auch als ›Alphabet des Lebens‹ apostrophiert. 363  Vgl. Platon : Theaitetos 203a : Silben haben eine Erklärung (logos), Buchstaben aber nicht. 364  So der deutsche Untertitel des sehr informativen und ästhetisch ansprechenden Buches von Theodore Gray : Die Elemente. Bausteine unserer Welt, übers. von Stephan und Andreas Gebauer, Köln 2011. Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem nicht minder ambitionierten Titel The Elements. A Visual Exploration of Every Known Atom in the Universe, New York 2010. 365  Janich, Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, a. a. O., 108. 366  Ebd., 109. 367  Ebd. 368  Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. a. O., 374 (§ 65). 369  Ebd. 370  Vgl. vom Verf. : »Methodischer Mechanismus und instrumentelle Vernunft. Warum Lebewesen keine Organismen sind«, in : Deutsche Zeitschrift für Philosophie 68,5 (2020), 734 – 749. 371  Kant : Physische Geographie, Akad.-Ausg., Bd. 9, Berlin 1923, 151 – 4 36 : 158. 354

 Anmerkungen | 199

  Husserl : Logische Untersuchungen. Zweiter Band/Erster Teil : Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnus, Hua, Bd. 19/1, hg. von Ursula Panzer, The Hague/Boston/Lancaster 1984, 198. 373  Ebd., 272. 374  Husserl, Erfahrung und Urteil, a. a. O., 165. 375  Wolfgang Metzger : »Was ist Gestalttheorie ?«, in : Gestalttheorie und Erziehung, hg. von Kurt Guss, Darmstadt 1975, 1 – 17 : 6. 376  Aron Gurwitsch : Das Bewußtseinsfeld, übers. von Werner D. Fröhlich, Berlin/New York 1975, 101. 377  Husserl : Erfahrung und Urteil, a. a. O., 170. 378  Ebd., 167. 379  Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band/Erster Teil, a. a. O., 315, 323. 380  Ebd., 334, 342. 381  Cassirer : Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 4, Hamburg 2011, 81 f. – Ganz ähnlich ist Simmels Überzeugung gelagert, »daß sich von jedem Punkte der gleichgültigsten, unidealsten Oberfläche des Lebens ein Senkblei in seine letzten Tiefen werfen läßt, daß jede seiner Einzelheiten die Ganzheit seines Sinnes trägt und von ihr getragen wird.« (Philosophie des Geldes, a. a. O., 719) 382  Cassirer : Vom Mythus des Staates, Hamburg 2002, 49. 383  Ders., Symbolische Prägnanz, a. a. O., 8 f. 372

Kapitel 9 · Natürliche und kulturelle Tatsachen

S. 157

  Goethe : Maximen und Reflexionen, in : Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 12, München 1988, 365 – 547 : 432 (Nr. 488). 385  Vgl. Ludwig Wittgenstein : Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus, in : Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 101995, 7 – 85 : 11 (Nr. 2). 386  Vgl. Christoph Hubig : »›Natur‹ und ›Kultur‹. Von Inbegriffen zu Reflexionsbegriffen«, in : Zeitschrift für Kulturphilosophie 5,1 (2011), 97 – 119. 387  Vgl. Aristoteles, Physik, 192a 8 – 32. 388  Vgl. ebd., 199a 20 – 23. 389  Zum Beispiel der Medizin vgl. ebd., 192a 23 – 27. Grundsätzlich ist Handeln von bloßem Verhalten und unter dem so abgegrenzten Handeln noch einmal Hervorbringung (poiêsis) von Handlung im engeren Sinne (praxis) zu unterscheiden. 390  In diesem Zusammenhang ist auch die Erzeugung sogenannter Biofakte eine Tätigkeit, die gerade an der Grenze von physis und technê diese Grenze selbst aufscheinen lässt. Zum Begriff und zur Systematik der Biofakte vgl. die einschlägigen Arbeiten von Nicole Karafyllis : Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, hg. von Nicole Karafyllis, Paderborn 384

200 | Anmerkungen



2003, insbes. 11 – 26 ; dies. : »Hybride und Biofakte. Ontologische und anthropologische Probleme der aktuellen Hochtechnologien«, in : Herausforderung Technik. Philosophische und technikgeschichtliche Analysen, hg. von Hans Poser, Frankfurt a. M. u.a. 2008, 195 – 216. 391  Vgl. Janich : Kultur und Methode, a. a. O., 179. 392  Vgl. Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne, hg. von Dirk Hartmann und Peter Janich, Frankfurt a. M. 1996, 14 – 27. 393  Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt/M. 92012, 48. 394  Ebd., 183. 395  Ebd., 130. 396  Ebd., 186 f. 397  Ebd., 129. 398  Vgl. ebd., 66. 399  Ebd., 185 f. 400  Ebd., 54 f. 401  Ebd., 55. 402  Ebd., 129. 403  Ebd., 131. 404  Ebd., 132. 405  Ebd., 56. 406  Ebd., 16. 407  Ebd., 110. 408  Ebd., 85. 409  Ebd., 125. 410  Vgl. Methodischer Kulturalismus, a. a. O., 12, 26, 30, 69 ; sowie Die Kulturalistische Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, hg. von Dirk Hartmann und Peter Janich, Frankfurt a. M. 1998, 21. 411  Methodischer Kulturalismus, a. a. O., 21. 412  Die Kulturalistische Wende, a. a. O., 20. 413  Methodischer Kulturalismus, a. a. O., 33. 414  Janich, Kultur und Methode, a. a. O., 65. 415  Methodischer Kulturalismus, a. a. O., 46. 416  Ebd., 29 ; Die Kulturalistische Wende, a. a. O., 19. 417  Methodischer Kulturalismus, a. a. O., 39. 418  Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung, a. a. O., 125. 419  Vgl. Aristoteles : Poetik, 1449a 15. 420  Husserl, Krisis, 52.

 Anmerkungen | 201

Schluss · Maßnehmen und Maßhalten

S. 171

  Blumenberg : »Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Weltverhalten im Werden der technischen Epoche«, in : ders., Geistesgeschichte der Technik, hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Frankfurt a. M. 2009, 99 – 136 : 131, 124. 422  Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. a. O., 264 (§ 28). 423  Ebd., 261 f. (§ 28). 424  Ebd., 244 (§ 23). 425  Ebd., 250, 248 (§ 25). 426  Ebd., 254 f. (§ 26). 427  Ebd., 257 (§ 27). 428  Ebd., 250 (§ 25). 429  Zu Bentham und Mill sowie zur Kritik am Utilitarismus vgl. Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenössische Texte, hg. von Otfried Höffe, Tübingen/Basel 42008. Ein zeitgenössisches Beispiel für eine Ethik des Rechenschiebers liefert John Broome mit Weighing Lives, Oxford/ New York 2004. 430  Blumenberg : Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 32018, 27. 431  Claus-Artur Scheier : Luhmanns Schatten. Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne, Hamburg 2016, 110. 421

202 | Anmerkungen



Personenregister Adorno, Theodor W.  20, 60, 188 Al-Chwarizmi 18 Albert, Karl  44 Apel, Karl-Otto  38, 185 Arendt, Hannah  18, 94 f., 182, 194 Aristoteles  24, 55, 67, 83, 85, 158 f., 169, 189, 193, 199–201 Bacon, Francis  70, 137, 171, 184 Barthes, Roland  61, 188, 192 f. Bauer, Thomas  61, 189 Beck, Ulrich  11 f., 181 Becker, Rainer C.  192 Becker, Ralf  187, 194, 197, 199 Benjamin, Walter  66, 189 Bense, Max  191 Bentham, Jeremy  174, 202 Bermes, Christian  184, 187 Berndt, Christina  107, 195 Bernhard, Andreas  181 Bigelow, Julian  191 Blumenberg, Hans  22 f., 26, 85, 171, 176, 183, 193, 202 Bölker, Michael  192 Bourdieu, Pierre  16 Brahe, Tycho  57, 59 Bredekamp, Horst  188 Broome, John  202 Buytendijk, Frederik Jacobus ­Johannes  128, 179, 195, 197 f. Canguilhem, Georges  109, 196 Carnap, Rudolf  41, 186 Cassirer, Ernst  20, 23, 52–54, 69–72, 84, 152, 183, 186, 188–190, 200 Clerc, Isabelle  192

Crick, Francis  98 Däuble, Wolfgang  195 Dante Alighieri  93 f., 194 Darwin, Charles  67 f., 77, 91 Delbrück, Max  97 Descartes, René  58, 68, 73, 137 Dessauer, Friedrich  71, 190 Dilthey, Wilhelm  37, 128, 130–133, 183, 198 Dingler, Hugo  184 Driesch, Hans  103 Dürr, Hans-Peter  140 f., 199 Einstein, Albert  20, 188 Empedokles 143 Eratosthenes 159 Feynman, Richard  97 Fleck, Ludwik  47–49, 81, 114 f., 162–166, 168–170, 187, 201 Foerster, Heinz von  191 Fontenelle, Bernard Le Bovier de  88, 91, 93, 95, 194 Foot, Philippa  109, 196 Foucault, Michel  83, 172, 192 f., 196 Frankfurt, Harry  157 Frege, Gottlob  74, 190 Freud, Sigmund  77, 91 Galilei, Galileo  21, 23–25, 42, 58 f., 73–75, 91–95, 112 f., 115, 171, 182, 184 f., 188, 190, 194 Gamov, George  97 f. Gerovitch, Slava  191 Gethmann, Carl Friedrich  185 f.   203

Goethe, Johann Wolfgang von  71, 97, 152, 157, 159, 193 f., 200 Gould, Stephen Jay  31, 82, 184, 192 Gray, Theodore  199 Grünbein, Durs  94, 194 Gurwitsch, Aron  200 Gutmann, Mathias  189, 192 Habermas, Jürgen  38, 44, 185–187 Hartmann, Dirk  201 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  136 Heidegger, Martin  37, 68, 84, 134 f., 191, 193, 195, 198 Heisenberg, Werner  140, 199 Helmholtz, Hermann von  104, 195 Hershey, Alfred Day  97 Herz, Marcus  95, 194 Hesse, Wolfgang  192 Hickok, Gregory  116 f., 196 Hilbert, David  74, 79, 190 Hinske, Norbert  197 Hobbes, Thomas  69 Höffe, Otfried  202 Hoffman, Dustin  155 Horkheimer, Max  20, 40–42, 44, 47, 60, 115, 186–188 Hubig, Christoph  200 Huppert, Isabelle  155 Husserl, Edmund  24–26, 28, 33, 35–37, 39–47, 49, 68, 72, 74 f., 87, 112–115, 123 f., 142, 150–152, 184–187, 189 f., 193, 196 f., 200 f. Huygens, Christian  90–93, 95, 194 Jakobson, Roman  80, 191 Janich, Peter  38–40, 48, 72, 77, 79, 117, 146, 166, 168, 182, 184–187, 190 f., 199, 201 Jolie, Angelina  13 Jonas, Hans  77, 191 Kambartel, Friedrich  24, 26, 48, 186 f., 190 204 | Personenregister 

Kant, Immanuel  10, 54, 59, 72, 87–91, 93, 95, 105, 127, 142, 148, 172–175, 181, 188, 193–195, 197, 199, 202 Karafyllis, Nicole  179, 200 Kay, Lily E.  192 Kepler, Johannes  51, 56 f., 59, 188 King, Vera  184 Knobloch, Eberhard  194 König, Josef  132, 195, 198 Kopernikus, Nikolaus  56 f., 77, 91 Krämer, Sybille  182 Kuhn, Thomas S.  29 Lakatos, Imre  56, 188 Latour, Bruno  25 Lederberg, Joshua  127, 197 Leibniz, Gottfried Wilhelm  18 Lenhard, Johannes  183 Leonardo da Vinci  21–23, 182 ff. Lévi-Strauss, Claude  81 f., 192 Locke, John  59 Löwith, Karl  196 Lorenzen, Paul  37 f., 185 Luhmann, Niklas  65, 189, 202 Lullus, Raimundus  18 Lumpe, Adolf  199 Luria, Salvador Edward  97 Lyotard, Jean-François  83, 192 Marcuse, Herbert  42, 186 Marx, Karl  63 Mau, Steffen  13 f., 17, 181 McLaughlin, Brian P.  103, 195 Mendelejew, Dmitri Iwanowitsch 143 Merleau-Ponty, Maurice  196 Metzger, Wolfgang  150, 200 Meyer-Abich, Adolf  104 Meyer-Drawe, Käte  196 Mill, John Stuart  102, 175, 202 Misch, Georg  37, 132, 198 Mittelstraß, Jürgen  23–26, 38, 48, 183, 187

Morris, Charles  79 Mumford, Lewis  188 Nagel, Thomas  195 Nassehi, Armin  16 f., 182 Neumann, John von  79 Neurath, Otto  41 Newton, Isaac  59, 89, 105 Nietzsche, Friedrich  191, 193 Nikolaus von Kues  54 Orth, Ernst Wolfgang  21, 182, 185 Otto, Rudolf  53, 189 Pias, Claus  183, 190, 192 Platon  23, 32, 54, 125, 139 f., 142–144, 171, 183 f., 188, 197, 199 Plessner, Helmuth  103–105, 107, 110, 125, 127–130, 132–138, 179, 186, 195–198 Pope, Alexander  87, 193 Ptolemäus 57 Pythagoras  57, 75, 79 Rathgeber, Benjamin  189 Rauchhaupt, Ulf von  199 Recki, Birgit  183, 188 Reckwitz, Andreas  15, 181 Rehmann-Sutter, Christoph  193 Rese, Friederike  193 Roch, Axel  192 Rosa, Hartmut  15, 181 Rosenblueth, Arturo  191 Russell, David O.  155 Schapp, Wilhelm  119–121, 197 Scheier, Claus-Artur  176, 202 Scheler, Max  128 Schlaudt, Oliver  14, 181 Schmitz, Hermann  39 Schrödinger, Erwin  97–100, 194 Schwartzman, Jason  155

Shannon, Claude Elwood  18, 78–80, 98 f., 116, 191–193, 196 Siegert, Bernhard  182 f., 191 f. Simmel, Georg  19, 21, 182, 200 Snow, Charles Percy  81 Sokrates  32, 126, 175 Sommer, Manfred  190 Syed, Tareq  189 Tautz, Diethard  197 Tetens, Holm  28, 184 Thatcher, Margaret  155 Thomas von Aquin  90 Thompson, Evan  196 Thompson, Michael  118, 196 f. Tomlin, Lily  155 Troll, Wilhelm  97, 194 Valéry, Paul  21–23, 27, 48, 122 f., 181 f., 197 Vico, Giovanni Battista  22, 111, 123, 196 Vogl, Joseph  64–66, 189 Voltaire  89, 95, 194 Warburg, Aby  188 Watson, James  97 f. Weaver, Warren  79 f., 116, 191, 196 Weber, Max  43, 66, 181 f., 187 Wedepohl, Claudia  188 Weingarten, Michael  39 f., 48, 186 f. Weizsäcker, Carl Friedrich von  140, 199 Welter, Rüdiger  26, 184 Whitehead, Alfred North  67, 189 Wieland, Wolfgang  189 Wiener, Norbert  76 f., 81, 190–192 Wittgenstein, Ludwig  158, 200 Wolf, Lothar  97, 194 Wolff, Christian  90, 95, 194 Xenophon  126, 197

 Personenregister | 205