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German Pages 377 [380] Year 2013
Katrin Nolte Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil
Phenomenology & Mind
Edited by Arkadiusz Chrudzimski and Wolfgang Huemer
Volume 16
Katrin Nolte
Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil
Zur Kritik eines philosophiegeschichtlichen Dogmas
ONTOS
ISBN 978-3-11-033492-0 e-ISBN 978-3-11-033557-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
INHALT
I
EINLEIT UNG
I.1 I.2 I.3 I.4
Zwei Extrempositionen 4 Die Urteilstheorien 6 Der Gang der Problemanalyse 12 Lösungsvorschlag 17
II
ARISTOTELES UND DER EMPIRISMUS
II.1
Aristoteles zur Wahrnehmung. Die Begründung eines Dogmas 31 II.1.1 Wahrnehmung als Unterscheidungsfähigkeit 31 II.1.2 Der Status der Einzelheit 38 II.1.3 Zusammenfassung 48
II.2
Lockes Konzeption von Wahrnehmung und Erfahrung 50 II.2.1 Unbeurteilte Wahrnehmung und deutendes Urteil 51 II.2.2 Die Einfachheit und Unaussprechlichkeit des sinnlich Gegebenen 59
II.3
Hume zu sinnlicher Wahrnehmung 74 II.3.1 Dreifache Unterscheidung von Perzeptionen 74 II.3.2 Die Atomisierung der Bewusstseinsgegenstände 77 II.3.3 Die Verknüpfung der Vorstellungen 80 II.3.4 Fazit zu Hume und Vergleich mit Locke 88
II.4
Berkeleys sensibilia 90 II.4.1 Vorbemerkung 90 II.4.2 Der Sensualismus Berkeleys 90 II.4.3 Die Konzeption der minima sensibilia 92 II.4.4 Berkeleys Kritik an abstrakten Ideen 95
II.5
Zusammenfassung der Untersuchung des klassisch-empiristischen Ansatzes 98
III
KANT UND HEGEL
III.1 Hegel zur sinnlichen Gewissheit 103 III.1.1 Vorbemerkung 103 III.1.2 Die sinnliche Gewissheit 104 III.2 Kant zu Anschauungen und Begriffen 113 III.2.1 Vorbemerkung 113 III.2.2 Kants Wahrnehmungsbegriff 115 III.2.2.1 Die konstitutionsanalytische Unterscheidung von Anschauung und Begrifflichkeit 115 III.2.2.2 Die konstitutive Funktion des Verstandes 120 III.2.2.3 Die Einzelheit der Anschauung als konstitutionsanalytisches Element 128 III.2.2.4 Diskussion von möglichen Einwänden 130 III.2.2.5 Zusammenfassung des kantischen Wahrnehmungsbegriffs 146 III.2.3 Kants Urteilstheorie 148 III.2.4 Fazit 153 IV
DIE URTEILSTHEORIEN
IV.1 Systematische Vorbemerkung 157 IV.2 Die Synthesistheorie des Urteils 159 IV.3 Die Gebrauchstheorie der Bedeutung 167 V
DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
V.1 V.2
Einleitung und Begriffsklärung 175 Mittelstraß und die Wiederkehr des Gleichen 183 V.2.1 Überleitung zu Davidson 185 Die Rolle der Wahrnehmung bei Davidson 187 V.3.1 Fazit 205 Abschließende Charakterisierung und Kritik der nominalistischen Extremposition 206
V.3 V.4
2
VI
PRO BLEMANA LYS E UND KRITIK
VI.1 Die Problematik zweier Extrempositionen 211 VI.2 Das Dogma: Die Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände als einzelne 221 VI.3 Problemanalyse und Kritik der dogmatischen Festlegung 226 VI.4 Fazit 232 VII
HERMENEUTIK ALS VERMITTLUNGSPOSITION
VII.1 Heideggers Kritik an der Ontologie der Vorhandenheit 237 VII.1.1 Vorbemerkung 237 VII.1.2 Die vorprädikative Erschlossenheit 237 VII.1.3 Formen der Wahrnehmung 241 VII.1.4 Reine Wahrnehmung 249 VII.1.5 Instrumentalistisches oder konstitutives Sprachverständnis Heideggers 252 VII.1.6 Wahrnehmung von Einzelnem 261 VII.2 Gadamers Position der Vermittlung 266 VII.2.1 Vorbemerkung 266 VII.2.2 Systematische Voraussetzungen von Gadamers Wahrnehmungsbegriff 266 VII.2.3 Vorgriff des Verstehens: Vorurteil, Anwendung und Wirkungsgeschichte 271 VII.2.4 Die sprachliche Vermitteltheit der Erfahrung 277 VII.2.5 Lebendiger Vollzug und Konventionalität der Sprache 285 VII.3 Fazit: Der Wahrnehmungsbegriff Heideggers und Gadamers 297 VIII LÖSUNGS ANS ATZ : M C DOWELL VIII.1 Wahrnehmung und empirischer Gehalt 305 VIII.1.1 Einleitung 305 VIII.1.2 Zwei logische Räume 307 VIII.1.3 Die Begrifflichkeit der Erfahrung 312 VIII.1.4 Präzisierung und Verteidigung von McDowells Wahrnehmungsbegriff 318 VIII.1.5 Was leistet der Lösungsansatz McDowells? 338
VIII.2 Zusammenfassung des Lösungsvorschlages 343 IX
SCHLUS SBEMERKUNG 345
LITERATURVERZEICHNIS 353
4
I EINLEITUNG
2
EINLEITUNG
In dieser Arbeit geht es um das Verhältnis von Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen, genauer: um die Erklärung der Vermittelbarkeit von sinnlichen und sprachlichen Gehalten in philosophischen Theorien. Es scheinen sehr verschiedene Voraussetzungen zu sein, unter denen das besagte Vermittlungsverhältnis betrachtet wurde und betrachtet werden kann: Auf der einen Seite ist die Rede von einem unmittelbaren sinnlichen Gehalt, welcher sich sprachlich nicht vermitteln lässt. Auf der anderen Seite wird der Gehalt von Wahrnehmungen selbst schon als ein sprachlich strukturierter Gehalt, das heißt von vornherein als möglicher Gehalt von Urteilen, aufgefasst. Mir geht es um die systematische Untersuchung einer Problematik innerhalb der Erklärung dieses Vermittlungsverhältnisses, die in den beiden angesprochenen Auffassungen zu finden ist. Ich vertrete dabei die These, dass sowohl die Behauptung einer Kluft zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten als auch die Annahme einer sprachlichen Struktur von Wahrnehmungen eine Voraussetzung teilen. Diese Voraussetzung ist dafür verantwortlich, dass das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten zu einem Problem gerät.
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EINLEITUNG
Zwei Extrempositionen
I.1
In der Philosophiegeschichte lassen sich zwei Extrempositionen in Bezug auf das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil ausmachen. Auf der einen Seite steht eine Position, die von der unmittelbaren und nichtbegrifflichen Gegebenheit sinnlicher Gehalte in der Wahrnehmung ausgeht. Sie findet sich insbesondere innerhalb der empiristisch geprägten Phänomenologie. Kennzeichnend für diese Position ist zusätzlich, dass die sprachliche Vermittlung von Wahrnehmungsgehalten einen Verlust bzw. eine Entfremdung dieser ursprünglich-sinnlichen Gehalte darstellt. Die erste Extremposition besteht also in der Annahme eines programmatischen oder konsequenten Scheiterns der sprachlichen Vermittlung sinnlicher Gehalte. So stellt sich zum Beispiel auch für einen empiristischen Ansatz das Problem, wie die Vermittlung zwischen der Allgemeinheit sprachlicher Begriffe und den in der Wahrnehmung gegebenen einfachen Ideen zu erklären ist. Dieses Problem behandele ich in den Kapiteln II.2 bis II.5. Hegel beschreibt in der Phänomenologie des Geistes die Unvereinbarkeit von sinnlicher Gewissheit und sprachlichem Ausdruck folgendermaßen: „Wenn sie wirklich dieses Stück Papier, das sie meinen, sagen wollten, und sie wollten sagen, so ist dies unmöglich, weil das sinnliche Diese, das gemeint wird, der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen, angehört, unerreichbar ist. Unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, würde es daher vermodern …“1
Wie ist das Sagen-Wollen und Nicht-Sagen-Können der sinnlichen Gewissheit zu verstehen? Es erinnert an das mittelalterliche Diktum: Individuum est ineffabile. Gleichwohl stellt sich die Frage, was Sagen bzw. E ffari hier überhaupt bedeuten soll. Geht es um ein Bezeichnen, ein Beschreiben oder gar darum, einen Gegenstand in allen seinen Eigenschaften zu bestimmen? Man könnte meinen, dass es doch genügt, durch den sprachlichen Ausdruck „dieses Stück Papier“ auf ein spe1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 77.
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ZWEI EXTREMPOSITIONEN
zifisches sinnliches Erlebnis zu verweisen und es durch den Gebrauch eines solchen indexikalischen Ausdruckes eindeutig identifizieren zu können. Doch Hegel zufolge würde dieser, nur einen Moment später geäußert, nicht mehr genau den Eindruck bezeichnen, der die ursprüngliche Sinneserfahrung ausmachte. Es scheint das Ideal eines Abbildverhältnisses zwischen sinnlicher Erfahrung und sprachlichem Ausdruck zu sein, an dem das Sagen der Sprache gemessen wird. Zwischen der sinnlichen Erfahrung und dem sprachlichen Ausdruck tut sich also eine Kluft auf, die eine enorme Erklärungsleistung von einer philosophischen Theorie fordert.2 Die zum anderen Extrem neigende Position besteht zunächst in einer Kritik der Behauptung eines ursprünglichen und sprachlich nicht vermittelbaren sinnlichen Gehaltes. Das heißt, dass sie eine Reaktion auf die erste Extremposition darstellt. Das dabei geltend gemachte Argument lautet, dass außerhalb sprachlicher Bezugnahme solche ursprünglich-sinnlichen Gehalte gar nicht individuiert werden können. Sie äußert sich unter anderem in der vielfachen Kritik am sogenannten „Mythos des Gegebenen“3, welcher die unmittelbare sinnliche Erfahrung als ein Fundament von Gewissheit und Erkenntnis zu installieren versucht. Mit dieser Kritik verbunden ist die Betonung der Sprachlichkeit unserer Gedanken und Überzeugungen, das heißt auch der erkenntnisrelevanten Wahrnehmungsgehalte. Diese Position ist insbesondere mit dem linguistic turn, das heißt mit dem Einfluss von Frege, Wittgenstein und der sprachanalytischen Philosophie, verknüpft. Die zweite Extremposition zeichnet sich aber nicht allein durch die Annahme einer sprachlichen Vermittelbarkeit sinnlicher Gehalte aus. Zusätzlich besteht sie in einem spezifischen Verständnis dieser begriffli2
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Man könnte die erste Extremposition daher als „Inkommensurabilitäts-These“ bezeichnen. Ich verzichte aber auf ein solches Etikett, da es meines Erachtens nicht spezifisch genug ist. Es geht mir, wenn ich von dieser Position spreche, eher um die Benennung ihrer These selbst. Vgl. zur kritischen Verwendung dieses Begriffs Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel IV, § 26.
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EINLEITUNG
chen Vermitteltheit sinnlicher Gehalte. Kennzeichnend dafür ist die Einseitigkeit der Bestimmung dieses Verhältnisses. Die Vermittlung zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten wird als allein durch sprachliche Strukturen bestimmt aufgefasst. Als erkenntnisrelevante Wahrnehmungsgehalte gelten propositionale Gehalte, welche gleichzeitig schon Gehalte von Überzeugungen und mögliche Gründe für andere Überzeugungen darstellen. Wahrnehmungsgehalte, die dieser Struktur entbehren, stellen demgegenüber, zum Beispiel für Davidson, bloße Spracheingangszüge bzw. nur kausale Anlässe für sprachliche Äußerungen dar. Als solche sind sie inhaltlich nicht ausschlaggebend für die sich anschließenden Urteile und Überzeugungen. In der Konsequenz werden mögliche sinnliche Unterscheidungen auf prädikative Unterscheidungen zurückgeführt, wie zum Beispiel bei Mittelstraß4. Diese Extremposition bezeichne ich als „nominalistische Extremposition“. Sie wird ausführlich im Kapitel V behandelt. Die auf der Unhintergehbarkeit der Sprache beharrende nominalistische Position steht also im Widerspruch zu der auf einer gewissen Evidenz gestützten Position sinnlicher Gewissheit. Gegen diese zwei extremen Alternativen sprechen einige elementare Intuitionen. Mit dem linguistic turn5 in der Philosophie ist der Zugang zur Welt als ein sprachlich vermittelter zu verstehen, so dass die Annahme einer Kluft zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Sprache obsolet wirkt. Gleichwohl erscheint es problematisch, Wahrnehmungsgehalte auf immer schon getroffene sprachliche Unterscheidungen zurückzuführen. Die Urteilstheorien
I.2
Für die Auffassung des Wechselverhältnisses von sinnlichen und sprachlichen Gehalten ist die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke bzw. sprachlich artikulierter Urteile von großem Gewicht.
4 5
Jürgen Mittelstraß, Die Prädikation und die Wiederkehr des Gleichen, S. 87–95. Vgl. zum linguistischen Paradigma in der Philosophie Herbert Schnädelbach, Philosophie, S. 68ff.
6
DIE URTEILSTHEORIEN
Da diese Erklärung eng mit der Theorie sprachlicher Urteile zusammenhängt, untersuche ich im Kapitel IV zunächst die Synthesistheorie des Urteils. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, ob die Bedeutung allgemeiner Begriffe durch Bezug auf mentale Bedeutungsentitäten, durch Regeln ihrer Anwendung und insbesondere auch durch den Bezug auf Wahrnehmungsgehalte überzeugend erklärt werden kann. Die Antwort darauf hat entscheidende Konsequenzen für die Auffassung des Vermittlungsverhältnisses zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Die auf Aristoteles und die scholastische Tradition zurückgehende klassische Synthesistheorie des Urteils besagt, dass das Urteil eine Synthesis, das heißt eine Verbindung sprachlicher Ausdrücke ist. Diese Ausdrücke stehen für Begriffe, Vorstellungen oder Ideen, also für mentale Gegenstände, die die Bedeutung dieser Ausdrücke ausmachen. Kant zum Beispiel fasst das Urteil als eine Einheit von Vorstellungen auf, welche durch den Verstand hergestellt wird. Mit ihr, das heißt durch Urteile, wird zugleich begriffliche Allgemeinheit konstituiert. Da Einheit von Vorstellungen erst durch den urteilenden Verstand hergestellt wird und offenbar in der Anschauung selbst nicht schon gegeben sein kann, ist die Synthesistheorie des Urteils verknüpft mit der Annahme, dass die begriffliche Ordnung eine äußere Instanz der Verarbeitung und Strukturierung des sinnlich gegebenen Materials darstellt. Wenn aber die Bedeutung allgemeiner Ausdrücke durch das Verfügen über eine Bedeutungsentität, so zum Beispiel die Vorstellung von etwas Allgemeinem6, erklärt wird, dann stellt sich ein Problem der Vermittlung zwischen den als einzeln aufgefassten sinnlichen Eindrücken und der durch den Verstand konstituierten Allgemeinheit sprachlicher Ausdrücke. Ich verfolge also die These, dass die Synthesistheorie des Urteils und die mit ihr verbundene Gegenstandstheorie der Bedeutung in einem 6
Das könnte die Vorstellung eines allgemeinen Merkmales sein, welche Kant repraesentatio per notas communis nennt. Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch zu den Vorlesungen, § 1.
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EINLEITUNG
systematischen Zusammenhang steht mit einer Position, welche den sprachlichen Ausdruck als einen äußeren Zugriff und im Extrem als Verlust des ursprünglich-sinnlichen Gehaltes auffasst. Dies setzt allerdings zusätzlich voraus, dass die sprachunabhängige Gegebenheit eines solchen „ursprünglich-sinnlichen Gehaltes“ angenommen wird. In welchem Verhältnis steht dazu die nominalistische Extremposition? Mit dem linguistic turn wurde die Gegenstandstheorie zugunsten einer Gebrauchstheorie bzw. einer funktionalen Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke aufgegeben. Grundlegend dafür ist, dass nicht mehr einzelne Ausdrücke, sondern der Satz als kleinste Bedeutungseinheit der Sprache angesehen wird. Die Bedeutung eines Satzes kann folglich nicht mehr als die Zusammengesetztheit von Bedeutungen seiner Teilausdrücke erklärt werden. Vielmehr wird sie – innerhalb einer Gebrauchstheorie der Bedeutung7 – durch die Bedingungen seiner Verwendung erklärt. Die Kritik an der Synthesistheorie des Urteils geht insbesondere auf Frege und Wittgenstein zurück. Ein sprachlicher Ausdruck wird im Zuge dieser Kritik nicht mehr als eigenständige Bedeutungseinheit, sondern als funktionaler Ausdruck aufgefasst, welcher erst in der Ergänzung durch andere Ausdrücke, das heißt im ganzen Satz, einen sinnvollen Ausdruck ergibt. Der allgemeine Ausdruck wird also nicht mehr als Bezeichnung für einen mentalen Gegenstand, son-
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Ich verwende den Ausdruck „Gebrauchstheorie des Urteils“ in einem weiteren Sinne, ohne damit eine Fokussierung auf die sozialen Bedingungen dieses Gebrauchs implizieren zu wollen. Die Bedingungen des Gebrauchs von Urteilen als grundlegend für die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke anzusehen, bedeutet demnach, sprachliche Ausdrücke aus ihrer Funktion in Sätzen und gleichzeitig aus den Bedingungen bzw. den Regeln ihrer Verwendung heraus zu verstehen. Zu diesen Bedingungen gehören folglich auch Wahrnehmungssituationen. Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 180f., 197, 199f. u. 209ff. Im Unterschied zu Wittgensteins Ansatz in den Philosophischen Untersuchungen betont Tugendhat, dass es möglich ist, die Verwendungsregel sprachlicher Ausdrücke nicht nur intersubjektiv, sondern auch subjektiv, das heißt sich selbst zu erklären.
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DIE URTEILSTHEORIEN
dern allein aus seiner Charakterisierungsfunktion heraus verstanden. Charakterisieren heißt klassifizieren und unterscheiden nach einem Kriterium. Gegenstände werden dabei unter einen Begriff subsumiert und von anderen unterschieden. 8 Nun stellt sich jedoch sowohl für die Synthesistheorie des Urteils als auch für die Gebrauchstheorie der Bedeutung die Frage, was die Fähigkeit ausmacht, einen allgemeinen Begriff auf verschiedene Gegenstände, das heißt auch in neuen Situationen, anzuwenden. Auch wenn die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken nicht mehr durch den Bezug auf mentale Gegenstände, sondern im Hinblick auf ihre charakterisierende Funktion in Urteilen erklärt wird, bleibt fraglich, was die Fähigkeit dieser Anwendung letztlich ausmacht.9 Wenn es um Wahrnehmungsurteile geht, stellt die Situation, in der solche Urteile geäußert und verstanden werden, eine Wahrnehmungssituation dar. Ist hier nicht doch eine bestimmte Idee, zum Beispiel der Röte (jener Röte, die allen roten Dingen gemeinsam ist) die Voraussetzung dafür ist, einem Gegenstand das Gleiche zuschreiben zu können wie vorhin einem anderen, nämlich, dass er rot ist? Ist also das Verfügen über (sprachliche) Begriffe letztlich auch die Voraussetzung dafür, etwas als etwas, also zum Beispiel auch als rot oder als ein Haus wahrnehmen zu können? So lesen wir bei Wittgenstein: „Wie erkenne ich, daß diese Farbe Rot ist? – Eine Antwort wäre: ‚Ich habe deutsch gelernt.‘“10
An dieser Stelle – damit ist nicht Wittgensteins Erklärung gemeint, sondern der Versuch, die oben genannte Frage zu beantworten – entspringt die Tendenz der nominalistischen Extremposition, diese Fähig8 9 10
„Kriterium“ verweist in seinem Ursprung auf krínein, griechisch: trennen. Vgl. Tugendhat, a. a. O., S. 182. Vgl. zur Problematisierung dieser Frage für die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke Tugendhat, a. a. O., S. 201f. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 381, S. 400. Damit möchte ich Wittgenstein keinesfalls eine nominalistische Extremposition zuschreiben, auch wenn man isolierte Textstellen so verstehen könnte.
9
EINLEITUNG
keit als eine rein begriffliche Fähigkeit aufzufassen. Ich muss zum Beispiel über die Begriffe rot oder morbide verfügen, um etwas überhaupt als rot oder morbide wahrnehmen zu können. Dies führt zu der Annahme, dass die Struktur sinnlicher Gehalte eine sprachliche Struktur ist.11 Die Wahrnehmung von Gleichartigem wird dabei schon als eine sprachliche Fähigkeit aufgefasst. Damit wird das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten als ein einseitiges Bestimmungsverhältnis verstanden, indem sinnliche Eindrücke auch hier eine Art Material darstellen, das durch die Ausübung begrifflicher Fähigkeiten strukturiert wird. Die Annahme, dass Wahrnehmungsgehalte in sprachlichen Beschreibungen vollständig aufgehoben sein sollen bzw. dass Gegenstand und Inhalt unserer Wahrnehmung selbst von sprachlichen Unterscheidungen bestimmt sein sollen, hat in der Philosophie zu vielfachem Widerspruch und zu längst nicht abgeschlossenen Debatten über Begrifflichkeit oder Nichtbegrifflichkeit von Wahrnehmung geführt.12 Gegen die These, dass es stets begriffliche Fähigkeiten sind, welche die sinnliche Unterscheidungsfähigkeit bestimmen, spricht der Befund, dass es bereits eine vorprädikative sinnliche Unterscheidungsfähigkeit gibt. Ein überzeugendes Argument gegen die Annahme einer rein sprachlich konstituierten Unterscheidungsfähigkeit besteht in dem Hinweis darauf, dass sprachliche Zeichen zunächst als gleichartige und wiederholbare Eindrücke wahrgenommen werden können müssen, damit Sprache überhaupt erlernt werden kann.13 Bei der Betrachtung der Synthesistheorie des Urteils und ihrer Überwindung durch eine Gebrauchstheorie der Bedeutung zeigt sich, 11 12
13
Eine solche Auffassung findet sich beispielsweise bei Mittelstraß und in einer bestimmten Lesart auch bei Gadamer. Vgl. Kapitel V.2 und VII.2. In der aktuellen Debatte vertreten Philosophen wie Fred Dretske, Micheal Tye, Gareth Evans, Christopher Peacocke oder Tim Crane die Nichtbegrifflichkeit von Wahrnehmungsgehalten; John McDowell, Hilary Putnam, Sonia Sedivy und Bill Brewer dagegen gehen von ihrer Begrifflichkeit aus. Vgl. z.B. Tugendhat, a. a. O., S. 202.
10
DIE URTEILSTHEORIEN
dass die Erklärung der Bedeutung allgemeiner Ausdrücke selbst mit dem Verweis auf ihre Verwendung in Urteilen und ohne Rückgriff auf mentale Gegenstände noch eine Erklärungslücke offen lässt. Diese Erklärungslücke betrifft die Fähigkeit zur Anwendung sprachlicher Begriffe auf Wahrnehmungsgegenstände. Die nominalistische Extremposition führt die dieser Anwendung zugrunde liegende sinnliche Unterscheidungsfähigkeit selbst noch auf begriffliche Unterscheidungen zurück. Während also die erste Extremposition eine Kluft zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten aufgrund ihrer strukturellen Verschiedenheit behauptet, fasst die nominalistische Extremposition das Vermittlungsverhältnis zu eng auf. Offenbar ist es nicht allein die Option, den Bezug auf einen mentalen Gegenstand bzw. die Idee einer den einzelnen Erscheinungen gemeinsamen Eigenschaft vorauszusetzen, welche die Vermittlung von Sinnlich-Einzelnem mit SprachlichAllgemeinem problematisch sein lässt Denn diese Option wird durch eine Gebrauchstheorie der Bedeutung ja ausgeschlossen. Problematisch scheint vielmehr die Konstellation selbst zu sein, das heißt: die Art der Gegenüberstellung der zu vermittelnden Gehalte. Da ich diesen Zusammenhang verfolge, schließt sich an die Untersuchung der Urteilstheorien die Darstellung der nominalistischen Extremposition an. Denn erst im Anschluss an die Untersuchung der Problematik der Synthesistheorie des Urteils und Gegenstandstheorie der Bedeutung sowie der sie ablösenden Gebrauchstheorie der Bedeutung kann deutlich werden, dass die Frage, was die Fähigkeit zur Anwendung allgemeiner Begriffe auf Wahrnehmungssituationen ausmacht, noch immer offen ist. Die nominalistische Extremposition, welche im Kapitel V dargestellt wird, beantwortet diese Frage durch den Hinweis auf die sprachliche Struktur der Wahrnehmung. Erst nachdem diese Art der Beantwortung als – nominalistische – Extremposition herausgestellt worden ist, kann nach dem eigentlichen und gemeinsamen Grund beider Extrempositionen gefragt werden.
11
EINLEITUNG
I.3
Der Gang der Problemanalyse Daher geht es im Kapitel VI um die kritische Analyse einer beiden Extrempositionen gemeinsamen Voraussetzung. Diese Voraussetzung führt zwar nicht notwendig zu der einen oder der anderen genannten Extremposition, provoziert aber einen Erklärungsnotstand, auf den beide Extrempositionen zu reagieren versuchen. Sie besteht in einem altehrwürdigen Dogma, nämlich der Annahme, dass die Wahrnehmung sich auf Einzelnes richtet bzw. Einzelnes erfasst. Der Einzelheit sinnlicher Gehalte steht die in der Sprache ausgedrückte Allgemeinheit diametral gegenüber. Ich lenke deshalb bereits im Kapitel II, in der Darstellung des Wahrnehmungsbegriffes bei Aristoteles, Locke, Hume und Berkeley das Augenmerk auf eben jene Bestimmung: dass in der Wahrnehmung Einzelnes erkannt werde. Diese Aussage findet sich mehrfach bei Aristoteles, bei den klassischen Empiristen, jedoch auch noch bei Kant und Hegel, wie ich im Kapitel III darstelle. Dabei ist es wichtig, deutlich zu machen, wie diese Einzelheit zu verstehen ist: Sie könnte erstens ontologisch verstanden werden, und zwar in dem Sinne, dass äußere, raumzeitlich einzelne Gegenstände und ihre Eigenschaften wahrgenommen werden. Zweitens könnte sie erkenntnistheoretisch gedeutet werden: Demnach entbehren die Gehalte sinnlicher Erfahrung jeglicher erkenntnisrelevanter Verbindungen. Eine dritte Möglichkeit stellt die logische Deutung der Einzelheit dar. Einzelheit wird dann in logischer Abhängigkeit und Gleichursprünglichkeit mit der Allgemeinheit prädikativer Ausdrücke angesehen. So könnten einzelne sinnliche Eindrücke (dieses Rot) als Instanziierungen allgemeiner Begriffe (rot) aufgefasst werden. Ich argumentiere dafür, dass sich schon die aristotelische Aussage, die Wahrnehmung richte sich auf Einzelnes, nicht auf die ontologische These reduzieren lässt, dass es in der Welt raumzeitliche Einzeldinge gibt, die aufzunehmen unsere Wahrnehmungsorgane geeignet sind. Sie lässt sich auch nicht als logische These auffassen, da Aristoteles zufolge Wahrnehmung der Erfahrung und somit der Erkenntnis von Allgemei12
DER GANG DER PROBLEMANALYSE
nem voraus liegt und von ihr unabhängig ist. Es scheint sich also um eine psychologische oder erkenntnistheoretische These zu handeln. Die erkenntnistheoretische Annahme, dass Wahrnehmung Einzelnes erfasst, findet sich besonders deutlich in den Positionen des klassischen Empirismus wieder. Dies lässt sich auf den Ansatz zurückführen, dass nicht schon vorausgesetzt werden kann, dass wir uns durch unsere Vorstellungen oder Ideen auf Dinge in der Welt beziehen, sondern in der Untersuchung menschlicher Erkenntnis zunächst nur von der Existenz dessen ausgegangen werden kann, was dem Geist unmittelbar gegenwärtig ist: das sind die Ideen oder Vorstellungen, welche sinnlich gegeben oder durch die Operationen des Verstandes gebildet worden sind. Sinnlich gegebene Ideen sind zunächst einzeln, Verbindungen zwischen ihnen werden erst durch den Verstand hergestellt. Bei Kant findet sich in der konstitutionsanalytischen Unterscheidung zweier Erkenntnisvermögen die gleiche Festlegung: Während Begriffe allgemein sind und sich vermittelst eines gemeinsamen Merkmals auf Gegenstände richten, beziehen sich Anschauungen unmittelbar auf einen Gegenstand und sind einzeln.14 Das durch die Sinne gegebene Material wird zugleich charakterisiert als ein Mannigfaltiges, dessen Einheit durch den Verstand hergestellt wird. Kant stimmt mit den Empiristen insofern überein, als er daran festhält, dass Verbindung in der sinnlichen Wahrnehmung nicht gegeben sein kann, sondern auf die Tätigkeit des Verstandes zurückzuführen ist. Letztlich findet sich auch bei Hegel die These, dass die sinnliche Gewissheit stets Einzelnes weiß. Dieses ist der Sprache, „dem an sich Allgemeinen“, unzugänglich und somit auch unaussprechlich. Im Zuge der Darstellung der jeweiligen Charakterisierung der Ebene sinnlicher Wahrnehmung durch Einzelheit gehe ich auch der Frage nach, wodurch die Charakterisierung jeweils motiviert ist, welche Funktion sie systematisch, zum Beispiel für die erkenntnistheoretische Fragestellung, erfüllt und zu welchen Konsequenzen und Problemen sie führt. Das gilt für die Darstellung der epistemischen Genealogie Aristo14
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A320, B377.
13
EINLEITUNG
teles’, der klassisch-empiristischen Ansätze Lockes, Humes und Berkeleys im Kapitel II und insbesondere auch für die Untersuchung der Rolle der kantischen Bestimmung von Anschauung und Begrifflichkeit im Kapitel III. In diesem Kapitel wird auch Hegels Begriff der sinnlichen Gewissheit skizziert. Die Auswahl dieser Autoren ist vorrangig systematisch motiviert. Dennoch bestehen zwischen diesen Positionen historische Bezüge, so dass sich in den verschiedenen Wahrnehmungsauffassungen bestimmte Traditionslinien erkennen lassen. Die klassisch-empiristischen Ansätze etwa können als geradezu exemplarisch für die Bestimmung der Wahrnehmungsgegenstände als einzelner gelten. Gleichzeitig setzt diese Charakterisierung, vermittelt durch die scholastische Tradition, offenbar die aristotelische Bestimmung der Wahrnehmung fort, wenn auch im Ausgang von einer spezifisch erkenntnistheoretischen Fragestellung, die Aristoteles fremd war. Kant wiederum greift diese Bestimmung auf, und es liegt nahe, diesen Ausgangspunkt auf seine Vertrautheit mit der gängigen Charakterisierung der Erkenntnisvermögen zurückzuführen, auch wenn Kant einen wichtigen Beitrag zur Überwindung eben dieses Dogmas geleistet hat. Es geht mir in den darstellenden Kapiteln nicht darum, die untersuchten Autoren bereits auf eine der beiden Extrempositionen festzulegen, sondern vielmehr um eine Untersuchung des jeweiligen Wahrnehmungsbegriffes, wobei ich bereits das Augenmerk auf den darin enthaltenen Vorstellungsatomismus lege, gleichzeitig aber auch der genaueren Bestimmung dieser Einzelheit und, soweit das in diesem Rahmen möglich ist, auch der Motivation für diese Bestimmung nachgehe. Das Kapitel IV stellt insofern einen Einschnitt dar, als die chronologisch angeordnete Darstellung der vorhergehenden Kapitel hier unter einem gemeinsamen Blickwinkel zusammengefasst und analysiert wird. Dabei verfolge ich die Frage, inwiefern gerade die Festlegung der Wahrnehmung auf Einzelnes, als Atomisierung von Bewusstseinsgegenständen, zum einen mit der Synthesistheorie des Urteils und der Gegenstandstheorie der Bedeutung, zum anderen aber auch mit dem
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DER GANG DER PROBLEMANALYSE
eigentlichen Vermittlungsproblem, demjenigen zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten, zusammenhängt. Die These, die ich vertrete, lautet, dass sowohl die Annahme einer Kluft zwischen Wahrnehmungsgehalten und sprachlichen Gehalten als auch die nominalistische Extremposition eine Folge der atomistischen Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände darstellt. Das bedeutet: Solange der Wahrnehmung die Kategorie der Einzelheit zugeschrieben wird, stellt sich das Problem, wie dieses Sinnlich-Einzelne mit dem Sprachlich-Allgemeinen vermittelt ist. Die Synthesistheorie des Urteils kann als eine Strategie zur Lösung eben dieses Problems angesehen werden, denn sie erklärt die Bedeutung allgemeiner Begriffe durch den Bezug auf mentale Gegenstände, zum Beispiel als Allgemeinvorstellungen. Diese Vorstellungen, ebenso wie die Verbindungen von Vorstellungen in einem Urteil, sind konstituiert durch den Verstand. Gleichzeitig werden Wahrnehmungsgehalte atomistisch, das heißt als unstrukturiert Gegebenes verstanden. Aufgrund dieser konstitutionsanalytischen Unterscheidung zwischen Wahrnehmungsvermögen und der verbindenden Tätigkeit des Verstandes kann der ursprünglich-sinnliche Wahrnehmungsgehalt nicht als ein sprachlich vermittelter aufgefasst werden. Damit tut sich die genannte Kluft zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten auf. Der sprachliche Ausdruck stellt eine äußere Instanz der Abstraktion und Verallgemeinerung des in der Wahrnehmung gegebenen Sinnlich-Einzelnen dar. So ist dann in Anlehnung an Hegel von einem „Todesschuss der sinnlichen Gewissheit“ in der Sprache die Rede, eine Auffassung, die in der französischen Hegelrezeption des 20. Jahrhunderts Widerhall gefunden hat. Das sinnlich Erfahrene gilt demnach als unaussprechlich.15 15
Diese Betonung findet sich beispielsweise in den ästhetischen Theorien George Batailles und Maurice Blanchots. Wie einige andere Zeitgenossen waren sie von Alexandre Kojèves Vorlesungen zu Hegels Phänomenologie des Geistes beeinflusst. Vgl. Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la Phénoménologie de l’Esprit professées de 1933 à 1939 à l’Ecole des Hautes Etudes.
15
EINLEITUNG
Auch die nominalistische Extremposition stellt eine Reaktion auf das Vermittlungsproblem zwischen dem Sinnlich-Einzelnen und dem Sprachlich-Allgemeinen dar. Diese Position geht zwar von einer sprachlichen Vermitteltheit der Wahrnehmung aus, versteht sie aber als einseitig bestimmt durch schon bestehende sprachliche Unterscheidungen. Die für Urteile relevanten Wahrnehmungsgehalte werden als einzelne Instanziierungen allgemeiner Begriffe aufgefasst. Der Grund für diese extreme Deutung liegt nun nicht allein in der sprachanalytisch motivierten Einsicht, dass der Bezug auf einzelne Wahrnehmungsgegenstände selbst schon vom Verfügen über allgemeine Begriffe abhängig ist, sondern zugleich in einem Residuum der atomistischen Wahrnehmungstheorie selbst. Denn solange an der Auffassung festgehalten wird, dass die Wahrnehmung Einzelnes erfasst, muss dieses in Abhängigkeit von der Struktur sprachlicher Allgemeinheit erklärt werden. Die Fähigkeit, Gleichartiges wahrzunehmen, leitet sich dann, mangels Alternativen, ebenfalls von dieser sprachlichen Struktur ab. Die gemeinsame Voraussetzung der beiden Extrempositionen, so meine These, besteht in der Projektion eines logischen Wechselverhältnisses auf ein kategoriales Wechselverhältnis. Was heißt das? Wahrnehmungs- und sprachliche Fähigkeiten können zwar eng verschränkt sein, prinzipiell gibt es jedoch auch eine von der Sprache unabhängige Wahrnehmungsfähigkeit. Wesen, die nicht über Sprache verfügen, können sinnlich etwas unterscheiden oder als ähnlich wahrnehmen. Im Gegensatz zu dieser kategorialen Unterscheidung handelt es sich bei der Unterscheidung zwischen Sinnlich-Einzelnem und Sprachlich-Allgemeinem um ein logisches Wechselverhältnis. Die Kategorien Einzelnes und Allgemeines sind auf Funktionen von Sätzen zurückzuführen und insofern funktional gleichursprünglich: Allgemeines wird von Einzelnem ausgesagt und Einzelnes ist stets ein Einzelfall von etwas Allgemeinem. Keines dieser Phänomene ist ursprünglicher oder sinnlicher als das andere. Insofern stellt sich die Frage, ob überhaupt zunächst beziehungslos nebeneinander stehende Einzelfälle oder nackte Beispiele sinnlich gegeben
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LÖSUNGSVORSCHLAG
sein können, die erst in zweiter Instanz – durch Begriffe – geordnet werden können. Lösungsvorschlag
I.4
Wenn ich im Kapitel VII eine Position der Vermittlung darstelle und im Kapitel VIII einen Lösungsansatz formuliere, so ist der Ansatzpunkt dieser Lösung und Vermittlung die kritische Hinterfragung jener offenbar selbstverständlich erscheinenden Bestimmung, dass in der Wahrnehmung Einzelnes erfasst wird: Ist es tatsächlich so, dass wir einzelne Sinneserfahrungen erst mithilfe der Sprache, also mithilfe unserer Begriffe nach Gesichtspunkten der Gemeinsamkeit strukturieren? Mein sich an Tugendhat anschließender Vorschlag lautet, Wahrnehmung nach Gleichartigkeit als eine natürliche Grundlage für die Verwendung von Begriffen anzusehen. Das heißt, dass nicht das Einzelne dem Gleichartigen und Allgemeinen gegenüber gestellt ist, sondern vielmehr Sinnlich-Gleichartiges auf der einen Seite dem Einzelnen und Allgemeinen auf der anderen Seite.16 Diese Gleichartigkeit entspricht zunächst der elementaren Intuition einer vorprädikativen Unterscheidungsfähigkeit. Ohne dass Lebewesen über Sprache verfügen, können sie Farbtöne oder Gestalten als gleichartige oder verschiedene erkennen. Der Atomismus der Wahrnehmung wurde bereits durch Husserl und die phänomenologische Tradition, so zum Beispiel Merleau-Ponty, insbesondere aber durch Heidegger und Gadamer kritisiert.17 Daher behandele ich Heideggers und Gadamers Auffassung von Wahrnehmung im Kapitel VII ausführlich. Sie sollen dabei als mögliche Positio-
16 17
Vgl. Tugendhat, a. a. O., S. 203. Auch in der Gestaltpsychologie der 30er Jahre wurde betont, dass die Wahrnehmung sich primär auf Ähnlichkeitsfelder richtet, während das Herausgreifen von Singulärem das Ergebnis einer speziellen Aufmerksamkeitsleistung darstellt und insofern derivativ ist. Psychologische und biologische Ansätze werden von mir allerdings nicht betrachtet, da es mir um die Konsequenzen des Wahrnehmungsbegriffes innerhalb der Philosophie, die Erklärung der Vermitteltheit sinnlicher und sprachlicher Gehalte betreffend, geht.
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EINLEITUNG
nen der Vermittlung erwogen werden, gleichzeitig aber auch daraufhin untersucht werden, ob sie zu einer der beiden Extrempositionen tendieren. Dafür sind auch ihre bedeutungstheoretischen bzw. urteilstheoretischen Aussagen relevant. Bezeichnenderweise gehen Heidegger und Gadamer nicht von einer erkenntnistheoretischen Fragestellung aus, sondern setzen bei der Funktionsweise der Wahrnehmung selbst an. Dies gilt insbesondere für Gadamer, dessen Werk Wahrheit und Methode mit der Frage beginnt, wie die Wahrnehmung von Kunst eine Objektivität und Vermittelbarkeit beanspruchen kann, die einen bloß subjektiven Charakter ästhetischer Erlebnisse übertrifft. Die Wahrnehmung, so Gadamer, richtet sich auf ein Allgemeines. Sie hebt also vertraute, wesensmäßige Züge hervor und lässt andere weg. In der Wahrnehmung ist demnach schon ein Prinzip der Abstraktion wirksam. Auch nach Heidegger kommt der Wahrnehmung nicht die Funktion zu, dem Verstand Eindrücke oder Ideen äußerer Gegenstände zu geben, von welchen aus er durch begriffliche Verarbeitung und Verallgemeinerung zur Erkenntnis gelangt. Vielmehr geht Heidegger ebenso wie Gadamer davon aus, dass die Wahrnehmung immer schon etwas als etwas erkennt. Die Wahrnehmung vermittelt nicht zwischen etwas Gegebenem und dem Bewusstsein, das heißt möglicher Erkenntnis von etwas. Die Heideggersche Kritik einer solchen „Ontologie der Vorhandenheit“ führt ihn auch zur Kritik eines Wahrnehmungsbegriffes, demzufolge Wahrnehmung eine bloße Aufnahme von etwas den Sinnen Gegebenem ist. Ein reines Gewahrwerden, das sich zum Beispiel im Anstarren, bzw. im Nicht-mehr-Verstehen vermuten lässt, wird von Heidegger und Gadamer als privative Form gegenüber einer stets etwas als etwas erfassenden Wahrnehmung erklärt. Die orientierend-erfassende Funktion der Wahrnehmung hat zugleich eine gegenstandskonstituierende Bedeutung, insofern sie Gegenstände in einer bestimmten Bedeutung für den Wahrnehmenden überhaupt erst gegeben sein lässt. Damit widersprechen Heidegger und Gadamer dezidiert jener traditionellen Bestimmung, derzufolge die Wahrnehmung Einzelnes er-
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LÖSUNGSVORSCHLAG
fasst. Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen besteht darin, dass Heidegger die Als-Struktur der Wahrnehmung nicht als eine ursprünglich sprachliche oder prädikative auffasst, während Gadamer mit der sprachlichen Erschlossenheit der Welt auch die sprachliche Struktur der Wahrnehmung betont. Das Allgemeine der Wahrnehmung ist also nicht notwendig ein Sprachlich-Allgemeines, sondern nach Heidegger aus der ursprünglichen Erschlossenheit des praktisch-Zuhandenen abzuleiten. Die Frage ist, ob dieses Als-etwas-Auffassen der Wahrnehmung gleichzeitig auch als ein sprachlich Bestimmtes oder ob es als ein gegenüber der sprachlichen Bestimmung verschlossenes verstanden wird. Ich erwäge beide mögliche Antworten mit Heidegger. In Bezug auf Gadamer stellt sich hingegen eher die Frage, ob sein Ansatz nicht selbst zu einer nominalistischen Extremposition tendiert, insofern jede mögliche sinnliche Unterscheidung von ihm als eine immer schon sprachliche aufgefasst wird. Denn Gadamer bestimmt die Sprache als universales Medium, das den Verstehenden mit dem Gegenstand des Verstehens verbindet. Die Sprachlichkeit als Bedingung jedes möglichen Verstehens wird so gedeutet, dass sie die Subjektivität sowohl des Sprechenden als auch des Interpreten prinzipiell übertrifft. Diese stark konventionalistische Deutung legt nahe, auch die sprachliche Struktur der Wahrnehmung im Sinne der nominalistischen Extremposition zu verstehen, dass es nämlich bereits konstituierte sprachliche Unterscheidungen sind, die mögliche sinnliche Unterscheidungen bestimmen. Entscheidend ist, dass Gadamer trotz dieser häufig kritisierten Tendenzen die Offenheit der Sprache zur Erfahrung betont. Die Erfahrung, so Gadamer, drängt selbst zum sprachlichen Ausdruck, insofern sie bereits auf Allgemeines geht. Dieses Allgemeine darf Gadamer und auch Heidegger zufolge nicht als prädikative Allgemeinheit verstanden werden, unter die Wahrnehmungsgegenstände dann lediglich subsumiert werden. Es ist also vielmehr die Struktur der Wahrnehmung selbst, welche es erlaubt, dass Wahrnehmungsgehalte als sprachlich vermittelbare Gehalte aufgefasst werden können. In diesem Sinne stellt der sprachli-
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EINLEITUNG
che Zugriff keine der sinnlichen Erfahrung gegenüber äußere Instanz dar, sondern eher ein Anschließen an eine der Wahrnehmung eigene Struktur. In einem eigentümlichen Widerspruch steht Heideggers deutliche Kritik des Vorstellungsatomismus der klassischen Wahrnehmungstheorien und die Tatsache, dass er von Husserl und der neukantianischen Tradition die Synthesistheorie des Urteils und mit dieser auch eine Gegenstandstheorie der Bedeutung übernimmt. Weder Heidegger noch Gadamer formulieren eine alternative Urteilstheorie, sondern verdrängen stattdessen den Aussagesatz aus seiner traditionsgemäß zentralen Rolle bei der Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Die Synthesistheorie des Urteils wird von Heidegger ontologisch in der vorprädikativen Erschlossenheit fundiert, das heißt als von dieser abkünftig aufgefasst. Obwohl, wie im Kapitel IV.2 dargelegt, eine Verbindung besteht zwischen dem Vorstellungsatomismus und der Synthesistheorie des Urteils, wird von Heidegger und Gadamer jedoch gerade der ursprüngliche Vorstellungszusammenhang, das heißt die vorprädikative Erschlossenheit bzw. die notwendige Bezogenheit auf die je eigenen Belange des Wahrnehmenden und Verstehenden betont. Der Wahrnehmungsgehalt wird weder als verworren und undifferenziert aufgefasst, wie bei Aristoteles und innerhalb der empiristischen Tradition, noch als ein Mannigfaltiges, das der begrifflichen Synthesis bedarf, um eine Erkenntnis darstellen zu können. Heidegger und Gadamer beschreiben die eigentliche Funktionsweise der Wahrnehmung als das Erkennen von etwas für den Wahrnehmenden Bedeutsamem, insofern auch schon von Gegenständlichem. Die hermeneutischen Ansätze Heideggers und Gadamers stellen also eine Abkehr vom Dogma der Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände dar. Dadurch entfällt das Problem, auf das die beiden Extrempositionen reagieren: Die Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände verstellt nicht die Möglichkeit, sinnliche und sprachliche Gehalte als vermittelte bzw. ineinandergreifende aufzufassen. Weder wird die ursprüngliche Mannigfaltigkeit des sinnlichen Gehaltes durch den
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LÖSUNGSVORSCHLAG
sprachlichen Zugriff auf Grund der Allgemeinheit sprachlicher Ausdrücke beschnitten, noch erfährt der sinnliche Gehalt erst durch die Sprache eine erkenntnisrelevante Struktur. Insofern geht es hier bereits um einen Ansatz zur Lösung des Dilemmas der beiden Extrempositionen. Dasselbe gilt auch für McDowell. Nicht zufällig bekennt McDowell die Nähe seines eigenen Ansatzes zur Hermeneutik Gadamers.18 Auch McDowell verfolgt keine erkenntnistheoretische Frage, sondern die dafür noch grundlegende Frage, wie unser Denken überhaupt auf Gegenstände in der Welt bezogen sein kann. Es geht ihm um die Möglichkeit eines empirischen oder repräsentationalen Gehaltes von Begriffen. Wahrnehmung ist nicht der eigentliche Gegenstand seiner Untersuchung, sondern stellt vielmehr ein Beispiel dar, an dem er einen Problemzusammenhang nachweist. So soll anhand des Wahrnehmungsbegriffes das Problem, welches dazu führt, dass der repräsentationale Gehalt von Begriffen überhaupt in Frage gestellt werden kann, therapiert werden. Ausgehend von der Normativität, die wir mit dem Gebrauch von Begriffen verbinden, geht McDowell der Frage nach, wie wir uns begründend auf sinnliche Erfahrungen beziehen können. Sinnliche Gründe sollen in dieser Beziehung Gründe und nicht nur kausale Ursachen sein, wie in Davidsons Auffassung. McDowell konstatiert hier ein Vermittlungsproblem zwischen dem sogenannten „logischen Raum der Gründe“ und dem „logischen Raum der Natur“. Der logische Raum der Gründe steht für die inferentiellen, das heißt die Begründungsbeziehungen zwischen Begriffen bzw. Urteilen, während der logische Raum der Natur für ein wissenschaftlich geprägtes Naturverständnis steht. Letzteres beeinflusst in entscheidendem Maße das Verständnis sinnlicher Wahrnehmung. Das von mir eingeführte Vermittlungsproblem zwischen sinnlichen und sprachlichen Fähigkeiten wird damit in einen weiteren Rahmen gestellt, lässt sich in diesem jedoch deutlich identifi18
John McDowell, Mind and World, S. 35f.
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EINLEITUNG
zieren. Auf das Vermittlungsproblem wird, so McDowell, reagiert, indem entweder der Raum der Gründe über das Begriffliche hinaus erweitert wird, wie durch den „Mythos des Gegebenen“, oder aber indem sinnliche Eindrücke außerhalb des Raumes der Gründe angesiedelt werden, wie innerhalb des sogenannten „Kohärentismus“. McDowell konstatiert als gemeinsame problematische Voraussetzung beider Positionen die Annahme, dass Wahrnehmung nichtbegrifflich sei. Sein Lösungsansatz lautet daher, Wahrnehmung als begrifflich strukturiert aufzufassen. Indem in die Natur des Menschen seine durch Bildung und Erziehung erworbenen begrifflichen Fähigkeiten integriert werden – McDowell zieht dafür den aristotelischen Begriff einer „zweiten Natur“ heran – könne der Dualismus zwischen dem logischen Raum der Gründe und dem logischen Raum der Natur überwunden werden. Interessant ist nun, wie diese begriffliche Vermitteltheit der Wahrnehmung von McDowell spezifiziert wird. Die zweite Natur umfasst sowohl sinnliche also auch begriffliche Fähigkeiten. In der Sinnlichkeit, so McDowell, werden begriffliche Fähigkeiten „in Anspruch genommen“, wobei es sich um eine passive Aktualisierung begrifflicher Fähigkeiten handelt, welche ihrerseits durch die aktive Ausübung begrifflicher Fähigkeiten konstituiert werden. Diese These einer semantischen Überzeugungsabhängigkeit bei gleichzeitiger epistemischer Überzeugungsunabhängigkeit der Erfahrung erläutere ich näher und untersuche sie auf ihre Plausibilität: Wie lässt sich die in der Wahrnehmung liegende sinnliche Rezeptivität vereinen mit ihrer Begrifflichkeit und ihrer Eignung, Gründe für Überzeugungen darzustellen? McDowell erscheint mir als besonders geeignet, zur Formulierung eines Lösungsansatzes beizutragen, da er von einem kokonstitutiven Verhältnis sprachlicher und sinnlicher Fähigkeiten ausgeht. Wie begriffliche Fähigkeiten und sinnliche Fähigkeiten ineinandergreifen, lässt sich McDowell zufolge nicht aus einer äußeren Perspektive, wie durch eine naturwissenschaftlich inspirierte Beschreibung kausal verursachter sprachlicher Reaktionen erklären, sondern allein aus der normativ-begriff-
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LÖSUNGSVORSCHLAG
lichen Perspektive selbst: Wie können wir uns begründend auf sinnliche Erfahrungen beziehen? Wie können sinnliche Erfahrungen für uns von Bedeutung sein? McDowells Position ist insofern eine hermeneutische, als sie konsequent von einer Innenperspektive begrifflicher Normativität ausgeht.19 McDowell vertritt also ebenfalls eine Position, die als Vermittlungsvorschlag, das heißt als Vorschlag zur Lösung des Vermittlungsproblems zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten angesehen werden kann. Dabei liegt seine Betonung darauf, dass sinnliche Gehalte nicht durch sprachliche Gehalte interpretiert werden, dass also nicht ein gegebener sinnlicher Gehalt durch ein Wahrnehmungsurteil diese oder jene Bestimmung erhält, sondern dass sinnliche Gehalte eine Bedeutung besitzen, die bereits eine sprachliche ist. Das heißt, sie werden schon als Erfülltheitsbedingungen für unsere Urteile wahrgenommen.20 Es werden nicht sprachliche Fähigkeiten auf ein sinnliches Feld angewendet, sondern sprachliche Fähigkeiten sind selbst gleichzeitig auch als sinnliche Fähigkeiten zu erklären. Ohne entsprechende sinnliche Erfahrungen könnten grundlegende Begriffe nicht eingeführt werden, und mit dem Gebrauch dieser Begriffe stehen wir immer auch in einem sinnlichen Bezug zur Welt. Sinnliche Fähigkeiten wiederum sind, einmal in die begrifflichen Fähigkeiten integriert, als Teil einer „zweiten Natur“, nicht mehr dieselben sinnlichen Fähigkeiten wie diejenigen sprachloser Wesen. Das sinnliche Unterscheidungsvermögen erfährt
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Mit „begrifflicher Normativität“ ist nicht nur gemeint, dass zwischen begrifflichen Gehalten inferentielle Relationen bestehen, denen wir ‚verpflichtet‘ sind. Vielmehr ist damit auch der repräsentationale Gehalt von Begriffen gemeint: Mit Überzeugungen bzw. Urteilen verbinden wir, dass es sich in der Welt tatsächlich so verhält, wie wir urteilen. Insofern können wir uns durch Erfahrungen auch aufgefordert fühlen, bestimmte Urteile zu fällen und andere zu revidieren. Sie können also in McDowellschem Sinne einen „rationalen Zwang“ auf uns ausüben. Vgl. Andrea Kern, Einsicht ohne Täuschung. McDowells hermeneutische Konzeption von Erkenntnis, S. 924.
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EINLEITUNG
durch mögliche begriffliche Unterscheidungen eine Prägung und Veränderung. Daraus wird deutlich, dass McDowell, der das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Fähigkeiten als ein gegenseitiges Konstitutionsverhältnis erklärt, nicht zur nominalistischen Extremposition tendiert. Zwar trifft er keine Aussagen über den Charakter und die Erkenntnisfunktion nichtsprachlicher Wahrnehmung, doch innerhalb des Vermittlungsverhältnisses spielt sinnliche Erfahrung nicht die Rolle nur kausaler Ursachen bzw. bloßer „Spracheingangsschritte“. Sie hat also eine Erkenntnisrelevanz, welche durch den Begriff einer zweiten Natur zugleich an eine begriffliche Struktur gebunden wird. Entscheidend ist, dass Wahrnehmungsgehalte innerhalb des als sehr eng angesetzten Vermittlungsverhältnisses nicht als Material, als nichtsprachliche, nur sinnliche Eindrücke gelten, welche erst durch Akte sprachlicher Interpretation oder Bestimmung eine Bedeutung erhalten. Ebenso wie Heidegger und Gadamer geht auch McDowell davon aus, dass der Wahrnehmung selbst Allgemeinheit – ebenso wie Einzelheit – zukommt, insofern sie als begrifflich strukturiert zu denken ist. Wenn ich mit den Worten diese Rose auf einen wahrnehmbaren Gegenstand zeige, so trägt dieser für mich bereits die allgemeinen Eigenschaften einer Rose, während er gleichzeitig ein einzelnes Exemplar seiner Art darstellt. Sinnliche Erfahrung markiert, so McDowell, nicht die Außenseite eines begrifflichen Raumes, welcher von einzelnen Objekten bevölkert ist; vielmehr ist sie als konstitutiver Bestandteil eines begrifflichen Raumes zu denken, innerhalb dessen Einzelheit und Allgemeinheit funktional gleichursprünglich und schlicht auf verschiedene mögliche Funktionen sprachlicher Ausdrücke zurückzuführen sind. Das heißt auch, dass Begrifflichkeit nicht mit prädikativer Allgemeinheit gleichzusetzen ist, sondern eine Mehrzahl möglicher Funktionen beinhaltet. Der allgemeine Lösungsvorschlag für das von mir eingeführte Vermittlungsproblem lautet: Wenn der Wahrnehmung nicht mehr die Kategorie der Einzelheit zugeschrieben wird, sondern Gleichartigkeit bzw.
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Allgemeinheit als ein der Wahrnehmung eigener Zug angenommen wird, muss der sprachliche Zugriff nicht als ein äußerer Zugriff aufgefasst werden, welcher entweder den ursprünglich-sinnlichen Gehalt der Wahrnehmung beschneidet oder aber eine Wahrnehmung von etwas als etwas überhaupt erst ermöglicht. In Bezug auf diesen Lösungsvorschlag bleibt zu fragen, ob damit eine Fundierung sprachlicher Allgemeinheit in der Gleichartigkeit von Wahrnehmungen behauptet werden soll und kann. Wenn jedoch mit Tugendhat sowohl das Einzelne als auch das Allgemeine dem Gleichartigen in der Wahrnehmung gegenüberzusetzen ist, so bedeutet das nicht, dass in der Wahrnehmung eine Entsprechung zur Allgemeinheit der Begriffe einfach postuliert wird, sondern lediglich, dass die Anwendung allgemeiner Begriffe auf Gegenstände der Wahrnehmung nicht zugleich noch die Möglichkeit einer Wahrnehmung von Gleichartigem zu erklären hat. Es soll lediglich die strukturelle Anschlussfähigkeit sprachlicher Begriffe an Wahrnehmungsgehalte behauptet werden. Für diese Behauptung genügt die Feststellung einer gleichartigen Reaktion auf gleichartige Reize. Die Unterscheidung zwischen bloßer Ähnlichkeit und prädikativer Allgemeinheit darf nicht verwischt werden, da mit dem Gebrauch von Sprache das gleichzeitige Verfügen über Begriffe von Allgemeinheit, Einzelheit und Identität verbunden ist.21 Im Unterschied zum bloß Gleichartigen wird erst dasjenige allgemein genannt, was vielen Einzeldingen gemeinsam ist. Dies lässt sich durch McDowells Argument bestärken, dass wir trotz des natürlichen Ursprungs unserer begrifflichen Fähigkeiten nicht darauf festgelegt sind, Wahrnehmung als ein gemeinsames Element zwischen nichtsprachlichen und sprachlichen Wesen anzunehmen. Auch wenn die Wahrnehmung grundsätzlich dazu geeignet
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Vgl. Williard van Orman Quine, Word and Object, S. 102: “The general term and the demonstrative singular are, along with identity, interdependent devices that the child of our culture must master all in one mad scramble.” Mit „Begriffen“ sind hier nicht Ideen, sondern sprachliche Funktionen gemeint.
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EINLEITUNG
ist, mit der zweiten Natur eine begriffliche Struktur anzunehmen, muss nicht mehr von einer gleich gearteten Wahrnehmungsfähigkeit die Rede sein. Sie kann sich sehr stark von der Fähigkeit unterscheiden, welche sie ursprünglich gewesen ist.22 So kann auch für die Erklärung prädikativer Allgemeinheit sinnliche Wahrnehmung von Gleichartigkeit nicht fundamental sein, sondern bloß eine Vorform darstellen. Diese strukturelle Anknüpfbarkeit ermöglicht es, dass die Wahrnehmung eine begriffliche Struktur annehmen kann, sie stellt aber selbst noch keine begriffliche bzw. prädikative Struktur dar. Begriffliche Fähigkeiten implizieren weitere und anders geartete Fähigkeiten, wie beispielsweise das Thematisieren der Wahrheit und Falschheit von Urteilen und das Erwägen verschiedener Folgerungsbeziehungen zwischen Urteilen. Diese Fähigkeiten sind mit der Wahrnehmung von Gleichartigem noch nicht gegeben. Mit dem Lösungsvorschlag dieser Arbeit beanspruche ich weder eine vollständige Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke zu liefern noch einen eigenen oder neuartigen Wahrnehmungsbegriff zu formulieren. Gerade innerhalb der Phänomologie und des Symbolismus wurde von Anfang an die in der Wahrnehmung liegende Erkenntnisfunktion betont, welche nicht von vornherein als eine Funktion sprachlicher Urteile aufgefasst werden kann. Vielmehr geht es mir um die Darstellung eines Problemzusammenhanges und um das Aufzeigen einer Lösung, die diese Probleme als Scheinprobleme offenbart. Es geht also um einen therapeutischen Vorschlag, der ein spezifisches Vermittlungsproblem zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten lösen soll. Indem die dafür grundlegende Voraussetzung aufgegeben wird, entfällt auch das Vermittlungsproblem, auf das die beiden angesprochenen Extrempositionen zu reagieren versuchen. Wenn Wahrnehmung von Gleichartigem bei der Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke vorausgesetzt werden kann, stellt sich nicht mehr die Forderung, zu erklären, wie wir allgemeine Ausdrücke 22
Vgl. McDowell, Mind and World, S. 69. Vgl. dazu Kapitel VIII.1.4, S. 325f.
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LÖSUNGSVORSCHLAG
überhaupt auf Wahrnehmungsgegenstände anwenden können. Gelöst wird damit das Problem, dass zum Allgemeinen eines Begriffes keine Entsprechung in der Struktur der Wahrnehmung gefunden werden kann, dass die Sprache also notwendig von außen, entweder aus einer Position der Entfremdung, oder aber aus einer einseitig aufgefassten Position der Vermittlung auf Wahrnehmungsgehalte Bezug nimmt. Das Verfügen über Begriffe muss nicht gleichzeitig noch die Fähigkeit erklären, Gleichartiges wahrnehmen zu können. Der Weg der Vermeidung der genannten Extrempositionen eröffnet einen neuen Blick auf die Vermitteltheit sinnlicher und begrifflicher Gehalte. Sie können als füreinander bestimmend oder spezifizierend aufgefasst werden, ohne dabei in die nominalistische Extremposition oder aber in einen Mythos des Gegebenen zurückzufallen. Die Vermittlung ist so zu erläutern, dass Wahrnehmungsgehalte Urteilsgehalte bestimmen und dass begriffliche Gehalte auch mögliche Wahrnehmungsgehalte spezifizieren können. Wahrnehmungsgehalte ‚sprechen‘ dabei nicht aus einer eigenen, nichtsprachlichen Struktur heraus, wie der Mythos des Gegebenen nahelegt. Ihre Begrifflichkeit besteht vielmehr darin, dass sie als Erfülltheitsbedingungen von Urteilen gelten können.
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II
ARISTOTELES UND DER EMPIRISMUS
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Aristoteles zur Wahrnehmung. Die Begründung eines Dogmas
II.1
Diese Untersuchung mit Aristoteles zu beginnen, ist historisch motiviert, da sich insbesondere auch die empiristische Tradition, welche ich im Anschluss behandele, vermittelt durch die scholastische Interpretation an die aristotelischen Begriffe von Wahrnehmung und Erfahrung anschließt. Diese Verbindung selbst wird nicht der Gegenstand meiner Betrachtung sein; sie wird sich lediglich in der vergleichenden Untersuchung der Begriffe von Wahrnehmung und Erfahrung finden lassen. Die Behandlung der für meinen Gegenstand relevanten Aussagen ist vorrangig systematischer Art: Sie dient der Bestimmung und Unterscheidung von Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil und dem damit zusammenhängenden Status von Einzelheit und Allgemeinheit. Ich orientiere mich daher zunächst an der Frage, ob der Wahrnehmungsgehalt von Aristoteles als begrifflich bzw. propositional aufgefasst wird und wie Aristoteles den Übergang zum begrifflichen Gehalt von Erfahrung bestimmt. In einem zweiten Teil wird der Status der Einzelheit, der Aristoteles zufolge den Gegenstand der Wahrnehmung ausmacht, erläutert. II.1.1
Wahrnehmung als Unterscheidungsfähigkeit Auf der Suche nach der aristotelischen Bestimmung von Wahrnehmung findet man in Metaphysik, aber auch in Analytica posteriora1, ein Stufenmodell der Erkenntnis, die „epistemische Genealogie“2, innerhalb derer
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Aristoteles, Metaphysik I 1, 980ff., Analytica posteriora II 19, 99 b 35–100 b 5. Vgl. David W. Hamlyn, Aristotelian Epagoge, S. 167–184. Der Ausdruck soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere Über die Seele, der Text, welcher am eingehendsten den Begriff der Wahrnehmung behandelt, nicht als erkenntnistheoretische Schrift, insbesondere nicht im Sinne des neuzeitlichen
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A RISTOTELES ZUR WAHRNEHMUNG
der Wahrnehmungsbegriff an Kontur gewinnt. Wahrnehmung (aísthesis) setzt sich ab von der Erinnerung (mnéme), der Erfahrung (empeiria) und der Einsicht (noũs) in die Prinzipien von Kunst und Wissen (archè téchnes kai epistémes). Diese Begriffe unterscheiden sich voneinander in der Art der Erkenntnis und im Grad von Weisheit und bauen aufeinander auf. Auf der ersten Stufe steht die Wahrnehmung, nämlich als eine Fähigkeit, welche nicht nur dem Menschen, sondern als auszeichnendes Merkmal allen Tieren zukommt. Diese Eigenschaft bezeichnet Aristoteles näher als „unterscheidungskräftige Fähigkeit“ (dýnamis kritiké).3 Das griechische Wort krínein, das in dieser Definition enthalten ist, bedeutet nicht allein ‚unterscheiden‘, sondern auch: ‚entscheiden‘ und in diesem juristischen Sinne: ‚urteilen‘. Man könnte Aristoteles also so verstehen, dass in der Wahrnehmung bereits Urteile gefällt werden. Da Wahrnehmung von ihm aber als eine Fähigkeit beschrieben wird, die auch Tiere besitzen, muss es sich zunächst um eine Unterscheidungsfähigkeit handeln, die nicht notwendig Urteilsfähigkeit impliziert. Der Vorgang des Wahrnehmens kann demnach als ein aktives, nichtpropositionales Unterscheiden beschrieben werden.4 Wahrnehmung ist nach Aristoteles prinzipiell auf Einzelnes gerich5 tet. Dabei ist nicht sofort klar, ob es sich um die Wahrnehmung von Einzeldingen oder um einzelne Wahrnehmungen als Ausübungen einer kognitiven Fähigkeit handelt. Der Zusammenhang zwischen dem Wahrnehmungsbegriff und dem Status der Einzelheit wird noch zu klären sein.6 Für die Darstellung der epistemischen Genealogie ist die Un-
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Ich-Bewusstseins zu lesen ist. Vgl. dazu Charles H. Kahn, Sensation and Consciousness in Aristotle’s Psychology, S. 43–81, sowie Aryeh Kosman, Perceiving that we perceive: On the soul III 2, S. 516f. Aristoteles, Analytica posteriora II 19, 99 b 35. Vgl. Wolfgang Detel, Anmerkungen, S. 867. Aristoteles, Analytica posteriora I 18, 81 b 6, I 24, 86 a 29; Physikorlesung I 5, 187 a 7, Metaphysik I 2, 982 a 25, Ethica Nicomachea II 9, 1109 b 23, V I9, 1142 a 27, VII 5, 1147 a 26, Über die Seele II 5, 417 b 22. Siehe Kapitel II.1.2.
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WAHRNEHMUNG ALS UNTERSCHEIDUNGSFÄHIGKEIT
terscheidung zwischen dem Akt der Wahrnehmung und ihrem Inhalt, dem Wahrgenommenen, nicht von Belang, da aufgrund der Flüchtigkeit der Wahrnehmungen ihre Inhalte zunächst an den Akt der Wahrnehmung gebunden bleiben. Wahrnehmungen sind für sich genommen unübersichtlich, unstet und dynamisch. Bei einigen Tieren sind sie bleibend, bei anderen vergänglich, da nicht alle Tiere Erinnerung haben. Erst in der Erinnerung werden ähnliche Wahrnehmungen festgehalten und gebündelt. Das heißt, dass sich in der Wahrnehmung bereits Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten zeigen, allerdings flüchtig und wenig zuverlässig; in einer Ordnung, aus der heraus sich noch keine begriffliche Allgemeinheit gewinnen lässt. Die Erfahrung erst stiftet eine Einheit, in der die vielen in der Erinnerung festgehaltenen Eindrücke zu einer Erfahrung bestimmter Art verschmelzen. „Es entsteht aber den Menschen aus der Erinnerung die Erfahrung; denn viele Erinnerungen an ein und denselben Sachverhalt bewirken das Vermögen einer Erfahrung.“7 Erfahrung bedeutet also eine „Bewahrung“ und „Orientierung in der Fülle der Daten“.8 Aristoteles veranschaulicht dies anhand des Stehenbleibens eines in Panik fliehenden Heeres. Zuerst bleibt einer stehen, dann ein zweiter, und weitere, bis endlich das gesamte Heer zum Stehen gekommen ist.9 Zuerst ist es eine gesetzlose, ungeordnete Bewegung, die sich aus vielen einzelnen Handlungen zusammensetzt. Irgendwann aber nehmen sie eine einheitliche Form an und gehorchen dem Gesetz bzw. Kommando. Gadamer weist auf die Doppeldeutigkeit dieses Ausdrucks (arché) hin: „Bei dem, was Aristoteles hier beschreibt, ist noch ein sehr feiner sprachlicher Scherz dabei. Kommando heißt nämlich auf griechisch Archē, das heißt Principium. Wann ist das Prinzip als Prinzip da? Durch welches
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Aristoteles, Metaphysik I 1, 980 b. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und des Formalismus, S. 73. Aristoteles, Analytica posteriora II 19, 100 a 12ff.
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A RISTOTELES ZUR WAHRNEHMUNG
Vermögen? – Das ist in der Tat die Frage nach dem Zustandekommen des Allgemeinen.“10
Auch die Erfahrung richtet sich, wie die Wahrnehmung, auf das Einzelne, denn sie ist der aristotelischen Bestimmung gemäß das Vermögen, Einzelnes zu erkennen. Der entscheidende Unterschied zur Wahrnehmung liegt aber darin, dass das Einzelne nun in seiner wiedererkennbaren, allgemeinen Eigenschaft gesehen wird. Erfahrung ist das punktuelle Innewerden eines Allgemeinen.11 Das Einzelne wird durch die Erfahrung nicht mehr unmittelbar, sondern vermittelst eines Allgemeinen erkannt. Die Verknüpfung des Einzelnen und Allgemeinen drückt sich aus in Erfahrungsurteilen. Erfahrungsurteile sind typischerweise elementare oder singuläre Urteile, welche einen singulären und einen allgemeinen Ausdruck enthalten. Es ist Sache der Erfahrung, Kallias als einen Sanguiniker zu erkennen oder ein konkretes Krankheitsbild einer allgemeinen Krankheit zuzuordnen. So drückt beispielsweise der Satz „Sokrates leidet an Gelbfieber“ ein Erfahrungsurteil aus. Das Einzelne wird dabei durch einen allgemeinen Begriff charakterisiert. Kambartel betont diesen Zusammenhang von Erfahrung und Begrifflichkeit und unterscheidet damit den aristotelischen Erfahrungsbegriff von einem empiristischen, insofern es sich bei ersterem gerade nicht um einen „unbestimmte(n) Gegebenheitsgrund vor aller Begriffsbildung“12 handelt. Die Erfahrung hebt sich damit als Ebene des Urteils von der Ebene bloßer ungeordneter Eindrücke ab. Das Wahrnehmungsvermögen dagegen wird von Aristoteles nicht als Urteilsfähigkeit verstanden. Wahrzu-
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Hans-Georg Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Phänomens, S. 229. Vgl. Otfried Höffe, Aristoteles, S. 89. Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und des Formalismus, S. 58. „Will man der Erfahrung im Sinne der reinen, unreflektierten Gegebenheit überhaupt ein Aristotelisches Gegenstück zuordnen, so hätte man es wohl bei der Sammlung jener Gedächtnismaterialien anzusetzen, deren viele nach Aristoteles eine Erfahrung allererst möglich machen.“ Ebd., S. 60.
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WAHRNEHMUNG ALS UNTERSCHEIDUNGSFÄHIGKEIT
nehmen heißt nicht, allgemeine Begriffe anzuwenden. Erfahrung hingegen beginnt überhaupt erst mit der Begriffsbildung und setzt eben jene Urteilsfähigkeit voraus. Wahrnehmungsurteile sind bei Aristoteles also immer schon Erfahrungsurteile, da Erfahrung erst in der Funktion von Begriffsbildung gesehen wird. Die in der Erfahrung gestiftete Einheit konstituiert eine Unterscheidung anderer Art als das in der Wahrnehmung Unterschiedene. Zuerst heben sich durch Erfahrung jene Gegenstände ab, die unter eine allgemeine Bestimmung fallen. Dann vermag Erfahrung Einzelnes innerhalb eines Allgemeinen zu unterscheiden.13 Das singuläre Urteil offenbart eine eigene Dialektik, die sich in Aristoteles’ Erfahrungsbegriff widerspiegelt: Einerseits wird das Besondere durch das Allgemeine charakterisiert: In der Erfahrung wird das Einzelne als Fall eines Allgemeinen erkannt. Andererseits wird das Allgemeine aus den vielen Besonderen erst gewonnen, wie der stufenweise Aufbau der Erkenntnis und das Prinzip der Induktion zeigt: Aus den Wahrnehmungen geht Erfahrung, aus den Einzelfällen ein Allgemeines hervor.14 Im letzteren Fall lässt sich das besondere Urteil als Definition oder Beispielgebung für einen allgemeinen Begriff verstehen, während es im ersten Fall eine Charakterisierung des Gegenstandes durch einen allgemeinen Begriff darstellt. Diese Dialektik drückt ein Wechselverhältnis zwischen der Wahrnehmung und dem Wahrnehmungs- oder Erfahrungsurteil aus, das nicht als bloße Verarbeitung eines sinnlich gegebenen Materials gedeutet werden sollte. In diesem Punkt unterscheidet sich die aristotelische Fassung von der späteren empiristischen Deutung dieses Verhältnisses.15
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Aristoteles, Analytica posteriora II 19, 100 a 1ff. Vgl. dazu Kambartel, a. a. O., S. 53. „Induktion“ im aristotelischen Sinne kann als Übergang von singulären Sätzen zu einem allgemeinen Satz verstanden werden. Vgl. Detel, Wahrnehmung und Induktion, S. 249. Vgl. S. 50, 62 und 85.
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A RISTOTELES ZUR WAHRNEHMUNG
Die Kunst und die theoretische Wissenschaft hingegen sind Aristoteles zufolge auf das Allgemeine gerichtet. Ihre Weisheit besteht in der Fähigkeit, Einzeltatsachen in allgemeine Zusammenhänge einordnen zu können. Das allgemeine Wissen, dass bei einer bestimmten Krankheit diese oder jene Heilmethode erfolgreich ist, kann beispielsweise auf die Erkrankung eines einzelnen Menschen angewendet werden. Dieses Wissen drückt sich in allgemeinen Urteilen aus, wie „Die Krankheit A kann geheilt werden durch das Mittel X.“ oder „Der Wal ist ein Säugetier.“ Zu ihnen gehören auch die analytischen bzw. mathematischen Sätze. Das allgemeine oder generelle Urteil zeichnet sich dadurch aus, dass es keine singulären Ausdrücke enthält. Um aber solches Wissen, wie das des Arztes, auf den konkreten Menschen anwenden zu können, reicht es nicht, das Allgemeine zu wissen, sondern bedarf es zugleich der Erfahrung, auch das unter es fallende Einzelne zu erkennen. Nach Aristoteles muss jemand, der Weisheit besitzt, nicht notwendigerweise auch Erfahrung haben.16 Denn es ist Gegenstand der Erfahrung, das Allgemeine im Einzelnen, das Einzelne als Fall des Allgemeinen zu sehen. Im Gegensatz zur Erfahrung aber, die um ein „Dass“ weiß, kennt der Künstler oder Wissenschaftler das „Warum“ eines Ereignisses; er kann also das Auftreten solcher Ereignisse in bestimmten Zusammenhängen erklären. Erklärt wird dabei das Einzelne aus dem Allgemeinen. Mit dieser Fähigkeit konstituiert sich die theoretische Wissenschaft als Erforschung von allgemeinen Zusammenhängen und Gründen. Wissen der ersten Prinzipien und Gründe zeichnet sich durch Fundiertheit und strenge Allgemeingültigkeit aus; Erfahrungswissen hingegen ist prinzipiell durch Gegenbeispiele widerlegbar. Das Allgemeine, das den Gegenstand der Kunst und Wissenschaft ausmacht, steht in dieser Ordnung am weitesten von der Wahrnehmung entfernt, während die Wahrnehmung am deutlichsten das
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Aristoteles, Metaphysik I 1, 981 a 21–24.
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WAHRNEHMUNG ALS UNTERSCHEIDUNGSFÄHIGKEIT
Einzelne erkennt. Wahrnehmung ist die konkreteste, Wissenschaft die allgemeinste Erkenntnis.17 Ähnliche Eindrücke können zwar in der Erinnerung festgehalten und in der Erfahrung auf einen Begriff gebracht werden; in der Wahrnehmung aber wird weder eine Ähnlichkeit noch eine gemeinsame Eigenschaft als solche, das heißt losgelöst von den ähnlichen oder gleichartigen Gegenständen, wahrgenommen. Erst in der Erfahrung kann eine gemeinsame Eigenschaft zum Gegenstand werden. In ihr wird die Ähnlichkeit der Wahrnehmungsgegenstände als Allgemeinheit auch begrifflich explizit.18 Die Wahrnehmung selbst gibt keine Strukturen vor, aus denen sich Allgemeinheit oder Wissenschaft begründen ließe. Zwar gibt sie Anlass zur Induktion, als eine Art Heuristik des Findens allgemeiner Zusammenhänge, ist aber weder der einzige Weg zu ihnen noch ein zuverlässiger.19 Im Unterschied zu einem empiristischen Ansatz wie bei Locke bleibt die Ordnung der Perzeptionen wahrnehmungsimmanent.20 Die Sinneswahrnehmung selbst gibt keine zuverlässigen, notwendigen Zusammenhänge vor. Darin besteht ihre wesentliche Verschiedenheit von der Erfahrung und der Vernunfterkenntnis. Wahrnehmung ist zwar eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für Wissen.
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Aristoteles, Metaphysik I 2, 981b–982a, Analytica posteriora I 2, 72 a 4–5. „Denn nicht nur wird in der Erfahrung die strukturelle Ähnlichkeit verschiedener Einzelfälle explizit festgestellt; eine derartige Feststellung setzt außerdem die Unterscheidung zwischen Einzelding und Form voraus und lässt sich kaum anders als in sprachlicher Form darstellen. … In der Erfahrung wird also das Allgemeine, welches bereits in wahrnehmbaren Qualia implizit enthalten ist und in Anhäufungen von Erinnerungen durchscheinen kann, insofern ausdifferenziert, als es in Form ähnlicher Strukturen oder Strukturbeziehungen in endlich vielen singulären Tatsachen explizit zur sprachlichen Darstellung kommt.“ Detel, Anmerkungen, S. 872f. Vgl. dazu Detel, Wahrnehmung und Induktion, S. 259–262. Vgl. Kambartel, a. a. O., S. 111. Kambartel vergleicht unter diesem Aspekt das aristotelische Programm theoretischer Wissenschaft mit der kantischen Auffassung empirischer Erkenntnis.
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A RISTOTELES ZUR WAHRNEHMUNG
II.1.2
Der Status der Einzelheit Die Wahrnehmung richtet sich auf das Einzelne. Diese Bestimmung kennzeichnet den aristotelischen Wahrnehmungsbegriff. Das Dogma der Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände begründet eine lange philosophische Tradition.21 Im Unterschied dazu ist das Allgemeine der aristotelischen Definition zufolge Gegenstand des Wissens und kann nicht wahrgenommen werden. Die Bestimmung findet sich in einer Vielzahl von Textstellen. Gleichwohl gibt es eine häufig diskutierte Passage am Ende des zweiten Buches von Analytica posteriora, die dieser üblichen Aussage widerspricht: „Wenn nämlich eines der undifferenzierten Dinge zum Stehen kommt, so gibt es ein ursprüngliches Allgemeines in der Seele – in der Tat nämlich wird zwar das Einzelne wahrgenommen, aber die Wahrnehmung richtet sich auf das Allgemeine, wie etwa auf Mensch, jedoch nicht auf Kallias den Menschen –, und wiederum in diesen Dingen kommt es zum Stehen, bis die Dinge ohne Teile zum Stehen kommen und die allgemeinen Dinge – wie etwa ein solches Tier, bis Tier, und in diesem ebenso.“22
Im Folgenden betrachte ich die mögliche Vereinbarkeit von Allgemeinheit und Einzelheit in der Bestimmung der Wahrnehmungsgegenstände. Dafür wird zunächst der Charakter der Allgemeinheit und danach der vieldeutige Status der Einzelheit zu erläutern sein. Eine genauere Bestimmung des „ursprünglichen Allgemeinen“ sowie des Einzelnen (unter der Bezeichnung „Dieses“) findet sich im ersten Buch der Analytica posteriora: „Auch wenn nämlich die Wahrnehmung sich auf das Quale und nicht auf ein Dieses richtet – wahrgenommen wird doch notwendigerweise ein Dieses, und zwar irgendwo und jetzt.“23
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Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 203. Aristoteles, Analytica posteriora II 19, 100 a 16ff. Aristoteles, Analytica posteriora I 31, 87 b 28ff.
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DER STATUS DER EINZELHEIT
Wahrgenommen wird eine Qualität, ein so und so Beschaffenes, das von Aristoteles als „Quale“ (toiónde) und in der späteren Tradition auch durch den allgemeineren Begriff „Qualia“24 bezeichnet wird. Ein solches wahrgenommenes Quale ist zum Beispiel jenes Weiße dort oder dieses Süße hier.25 So erfasst die Wahrnehmung, wenn sie Dunkles von Hellem, Bitteres von Süßem, Heißes von Kaltem unterscheidet, eine Qualität. Doch wird diese Qualität in der Wahrnehmung noch nicht als ein Allgemeines spezifiziert, von dem man der aristotelischen Definition gemäß sagen könnte: Es kommt vielen Einzelnen zu. Sie weist zwar Ähnlichkeiten mit anderen Gegenständen auf, diese Ähnlichkeiten müssen aber als solche, unabhängig von den wahrgenommenen Gegenständen, nicht wahrgenommen werden. Das Einzelne, so Aristoteles in der Kategorien-Schrift, liefert eine Wie-Beschaffenheit, nicht aber ein In-Bezug-auf.26 Es fehlt der vom sinnlichen Gegenstand ablösbare gemeinsame Bezugspunkt. Das Allgemeine, das in Form von Qualia wahrgenommen wird, kann nicht mit jenem Allgemeinen identisch sein, welches den Gegenstand von Wissen bildet. Denn Aristoteles betont, dass weder Wahrnehmen (aisthánestai) noch Wahrnehmung (aísthesis) bereits ein Wissen sei. Das als Quale wahrgenommene Allgemeine ist im Gegensatz dazu ein noch undifferenziertes Allgemeines. Seine Undifferenziertheit besteht darin, dass hier noch nicht zwischen individuellem und allgemeinem Aspekt unterschieden wird.27 Dieser Unterschied kann selbst nicht wahrgenommen werden. In der Beschreibung jenes Weiße dort oder die24
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„Qualia“ steht allgemein für eine Sinnesqualität, die sich nicht allein auf Gegenstände der Wahrnehmung beschränkt, sondern üblicherweise den phänomenalen Charakter jedes möglichen intentionalen Zustandes, also beispielsweise auch eines Gefühls von Schmerz, Furcht oder Zorn, bezeichnet. Detel verwendet im Kontext des aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs „Qualia“ für die wahrnehmbaren Eigenschaften äußerer Gegenstände. Vgl. Detel, a. a. O., S. 240. Vgl. Detel, a. a. O., S. 344. Vgl. Aristoteles, Kategorien 11 a 14–19. Vgl. Aristoteles, Analytica posteriora II 19, 99 b 32ff.
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ses Süße hier zeigt sich die gleichzeitige Charakterisierung des Quale als Einzelnes an einer bestimmten Raum- und Zeitstelle. Das Quale ist also nicht nur ein Solches, sondern zugleich auch ein Dieses. In der Physikvorlesung beschreibt Aristoteles den Gegenstand der Wahrnehmung als ein zusammengegossenes, undeutliches Allgemeines, das erst durch einen Differenzierungsprozess als das Allgemeine, auf das sich Wissen richtet, hervorgeht.28 Wie kommt es nun aber zur Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände als einzelne? Geht man von der Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände aus, so entsteht das Problem, wie ein solches Einzelnes als das Einzelne eines Allgemeinen aufgefasst werden kann, wie es überhaupt mit einem Allgemeinen vermittelt werden kann. Es muss also nicht nur die Einzelheit, sondern auch ihre gleichzeitige Vereinbarkeit mit dem Allgemeinen erklärt werden können. Damit komme ich zurück zur Frage, wie die gegensätzlichen Bestimmungen der Wahrnehmungsgegenstände erklärt werden können und wie sie miteinander vereinbar sind.29 Um also die Vereinbarkeit von Einzelheit und Allge28
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Aristoteles, Physikorlesung I 1, 184 a 22–184 b 14. Das unmittelbar Wahrnehmbare ist hier „Produkt eines Zusammenflusses“, in der Übersetzung von Karl Prantl, oder die „ungegliederte Mannigfaltigkeit“ bzw. die „Mannigfaltigkeit des Einzelnen“, in der Übersetzung von Hans Wagner. Einige Kommentatoren haben zur Beantwortung dieser Frage auf die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmen verwiesen. Während die Wahrnehmung als Ausübung einer kognitiven Fähigkeit oder facultas sentiendi ein bestimmtes Allgemeines (die visuelle Wahrnehmung beispielsweise von Farben) erfasse, sei der konkrete Wahrnehmungsakt, als actus sentiendi, auf etwas Einzelnes gerichtet. So viele antike Kommentatoren, aber auch Giacomo Zabarella, In duos Aristotelis libros posteriores Analyticos commentarii. Dies lässt allerdings den Status der Einzelheit noch ungeklärt. In ähnlicher Weise ordnet auch Detel die aristotelische Bestimmung der Wahrnehmungsgegenstände durch Einzelheit schlicht der Ebene „philosophischer Analyse“ zu, während die Allgemeinheit der Qualia den Inhalt der Wahrnehmung, als Ausübung einer kognitiven Fähigkeit, charakterisiert. Diese Aussage ist aber undeutlich, da philosophische Analyse sowohl eine logische, als auch eine ontologische Unterscheidung betreffen kann. Auch sie sagt über die Kategorie der Einzelheit selbst wenig aus. Vgl. Detel, a. a. O., S. 487f., S. 496.
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meinheit in der Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände diskutieren zu können, muss zunächst der vieldeutige Status der Einzelheit selbst geklärt werden. Die Bestimmung der Wahrnehmungsgegenstände durch Einzelheit scheint zunächst ontologischer Art zu sein. Das heißt, dass sie dem Gegenstand unabhängig von seinem Wahrgenommen-Werden zugesprochen wird. In der zitierten Stelle aus Analytica posteriora heißt es: „… wahrgenommen wird doch notwendigerweise ein Dieses, und zwar irgendwo und jetzt.“30 Gegenstände der Wahrnehmung sind demnach äußere, räumlich und zeitlich bestimmte Gegenstände. Sie sind Einzeldinge in Raum und Zeit. Da Aristoteles zwischen der Beschaffenheit äußerer Gegenstände und der Wahrnehmung dieser Gegenstände eine natürliche Übereinstimmung annimmt31, könnte der Status der Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände also auf diese Weise, als eine äußere Bestimmung derselben, erklärt werden. Eine weitere mögliche Deutung besteht darin, die Konzeption der Einzelheit selbst bereits als Aspekt des gefragten Passungsverhältnisses, das heißt als ein zur Funktion der Allgemeinheit passendes Element zu verstehen. Welsch schreibt, dass sich gerade in dieser aristotelischen Konzeption der Einzelheit die „Logomorphie“ des Aisthetischen“32 äußert. Schon die Charakterisierung der Wahrnehmung als unterscheidungskräftige Fähigkeit (krínein) drücke ihren inneren Erkenntnischarakter aus. Die äußere Festlegung auf Einzelnes sei ein weiteres Merkmal dieser epistemologischen Schematisierung.33 Damit erhalte die Wahrnehmung eine Komplementärgestalt gegenüber dem lógos. Unter lógos versteht Welsch allgemein das Artikulations- oder Explikationsvermögen. Das heißt, dass die Wahrnehmung, indem sie auf Einzelnes geht, als Allgemeines ausdrückbar werde. Aísthesis bleibe ein vorlo30 31 32 33
Aristoteles, Analytica posteriora I 31, 87 b 30–31. Vgl. Fußnote 40 auf S. 45. Wolfgang Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, S. 45. Ebd., S. 42.
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gisches Phänomen, ist zugleich aber dienstbar für den lógos.34 Wahrnehmbares könne so einerseits durch Allgemeines zusammengefasst und unter sprachliche Begriffe gebracht werden – andererseits dränge es selbst auf Allgemeines, indem es ihm gegenüber die logische Komplementärgestalt aufweist. Welschs Lösungsvorschlag lautet also, die Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände selbst schon als logisches Phänomen zu deuten. Das Problem, das damit gelöst werden soll, besteht darin, dass die Konzeption der Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände phänomenologisch unhaltbar ist.35 Die sinnliche Wahrnehmung vermag gar kein Einzelnes zu erfassen. Die physischen Gegenstände, die wir oder an denen wir etwas wahrnehmen, sind einzelne Gegenstände in Raum und Zeit, ihre Einzelheit ist aber nicht eine der für uns wahrnehmbaren Eigenschaften. Wahrnehmbar sind vielmehr Eigenschaften wie zum Beispiel Farbe, Gestalt und Verhältnismäßigkeit. Die Wendung Aristoteles’ an der zitierten Stelle am Ende der Analytica posteriora zeigt sein Bewusstsein dieser Problematik: Das, was die Wahrnehmung erfasst, ist zwar ein Dieses, muss aber zugleich ein so oder anders geartetes Solches sein, ein Quale, eine bestimmte Qualität. Das wahrgenommene Diese ist immer schon ein Solches.
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Ebd., S. 47. „Diese Festlegung [der Wahrnehmung auf das Einzelne, Anm. d. V.] erfolgt, weil der lógos die Komplementärgestalt der aísthesis – die eben damit zugleich spezifisch logischen Zuschnitt annehmen muss – essentiell braucht, um an der Problemstelle des Einzelnen weder in die Leere der Inhaltslosigkeit zu fallen noch dem Gesetz der Diffusion überantwortet zu werden.“ S. 48, Fußnote 25. „Und ebenso problematisch, offensichtlich logisch bedingt und überschreitungsbedürftig sind auch andere Formen der Fortschreibung des SimplizitätsDogmas, wie sie etwa in der strikten Festlegung der Wahrnehmung auf die Erfassung von Einzelnem oder in dem Punktualismus vorliegen, der dem faktischen Sinnesbezug unterstellt wird – ein Zug, bezüglich dessen sich Aristoteles selbst zunehmend zu einer Ergänzung, ja Revision genötigt sehen wird.“ Welsch, a. a. O., S. 48.
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DER STATUS DER EINZELHEIT
Bei genauerer Betrachtung zeigen sich also verschiedene Möglichkeiten, den Status der Einzelheit im Kontext des aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs zu deuten. Diese Bestimmung lässt sich erstens als eine ontologische These verstehen, dass die Gegenstände der Wahrnehmung gleichzeitig Gegenstände in Raum und Zeit sind. Möglich wäre zweitens eine logische Deutung, derzufolge das wahrgenommene Einzelne bereits ein Gegenstück zum sprachlichen Allgemeinen darstellt. Eine solche Lesart schlägt Welsch vor, wenn er von der „logizistischen“ Prägung der Wahrnehmung spricht.36 Man könnte sich also vorstellen, dass einzelne Instanziierungen allgemeiner Eigenschaften wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung könnte auf einzelne, raumzeitliche Gegenstände gerichtet sein und ihre Einzelheit gleichzeitig auch inhaltlich erfassen. In dieser Annahme wäre die ontologische mit der logischen These verknüpft. Die logische These besagt, dass Gegenstände als einzelne wahrgenommen werden können. Zumindest für die nichtbegriffliche Wahrnehmung lässt sich aber bestreiten, dass Einzelheit eine der wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen ist.37 Folgt man Detels Erläuterung, so sind die wahrgenommenen Qualia ebenso wenig, wie sie strenge Allgemeinheit aufweisen, auch keine Einzelgegenstände. In ihnen ist die Unterscheidung zwischen Substrat (Träger) und Eigenschaft aufgehoben.38 Das heißt, dass die logische Unterscheidung zwischen Einzelnem und Allgemeinem, wie sie auf der Ebene des Urteils getroffen wird, auf das wahrgenommene Quale noch nicht anzuwenden ist. Aristoteles’ Erläuterung lautet: „die Wahrnehmung richtet sich auf das Allgemeine, wie etwa auf Mensch, jedoch nicht auf Kallias den Menschen“. Die Wahrnehmung richtet sich hier nicht auf das Einzelne eines Allgemeinen, sondern vielmehr auf ein unbestimmtes Allgemeines. Daher kann auch das Einzelne noch nicht das
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Ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Vgl. Detel, Anmerkungen, S. 831.
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Einzelne eines Allgemeinen sein. Was macht aber dann die Einzelheit des Gegenstandes aus? Die Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände als einzelne lässt sich in einer dritten möglichen Deutung auch als phänomenologische Beschreibung der Wahrnehmung verstehen. So könnte von einzelnen Sinneseindrücken die Rede sein, welche flüchtig und ohne bleibende Verknüpfung miteinander sind. Dafür spricht Aristoteles’ Aussage, dass ein „Dieses, und zwar irgendwo und jetzt“39 wahrgenommen wird. „Irgendwo und jetzt“ stellt eine Kennzeichnung aus der Sicht des Wahrnehmenden dar. Die epistemische Genealogie stellt Wahrnehmungen in einer Flüchtigkeit dar, die erst die Erinnerung zu bündeln vermag und deren Einheit erst durch Erfahrung gestiftet wird. In dieser phänomenologischen Variante würden Wahrnehmungen als punktualisierte Erlebnisse aufgefasst werden. Mit der Unterscheidung zwischen Gegenstand und phänomenalem Gehalt der Wahrnehmung eröffnet sich zugleich die Perspektive für eine mögliche Lösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen Aristoteles’ Aussage, dass die Wahrnehmung auf Einzelnes geht, und seiner Aussage, dass sie Allgemeines erfasst. Das heißt, es zeigt sich eine mögliche Erklärung der Vereinbarkeit der widersprüchlichen Charakterisierungen: Es ist annehmbar, dass die Kennzeichnung als Einzelnes die physischen Gegenstände der Wahrnehmung betrifft, während die unterschiedenen allgemeinen Eigenschaften den phänomenalen Gehalt der Wahrnehmung ausmachen. Dies könnte erklären, warum die Wahrnehmung zwar einerseits auf Einzelnes – die äußeren Gegenstände – geht, andererseits aber in der Wahrnehmung Allgemeines, bestimmte Qualitäten, erfasst werden. Eine solche Unterscheidung zwischen Inhalt und Gegenstand, zwischen dem eigentlich Wahrgenommenen und dem, was den äußeren Anlass für eine Wahrnehmung darstellt, muss zwar keine Sinnesdatentheorie der Wahrnehmung nahelegen, da als Inhalt der Wahrnehmung keine subjektiven Bewusstseinszustände, sondern tat39
Aristoteles, Analytica posteriora I 31, 87 b 28ff.
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sächliche Eigenschaften äußerer Gegenstände angenommen werden können. Es stellt sich aber die Frage, von welcher Relevanz der Status der Einzelheit für die Gegenstände der Wahrnehmung ist, wenn die Einzelheit selbst gar nicht wahrgenommen werden kann. Gegen eine solche Unterscheidung würde auch die aristotelische Annahme eines natürlichen Entsprechungsverhältnisses zwischen der Beschaffenheit äußerer Objekte und unserer Wahrnehmung derselben sprechen. Aristoteles’ Realismus besagt, dass die Seele prinzipiell in der Lage ist, die Form eines Objektes aufzunehmen, und dass diese Form der Form des tatsächlichen Objektes entspricht.40 Nach der Erwägung dieser Möglichkeiten schlage ich nicht eine Lesart vor, die zur Lösung der widersprüchlichen Charakterisierung auf eine Zweideutigkeit des Wahrnehmungsbegriffs ausweicht. Aristoteles gibt, soweit ich sehe, keinen Hinweis darauf, dass der Bezug auf Einzelheit lediglich eine äußere Zuschreibung ist, während das in der Wahrnehmung Erfasste Allgemeines ist. Vielmehr beschreibt er mit dem „irgendwo und jetzt“ den Inhalt des Wahrnehmungserlebnisses selbst als ein einzelnes „Dieses“. Das „irgendwo und jetzt“ Wahrgenommene ist ein Einzelnes, das weder mit der Kategorie einzelner physikalischer Gegenstände noch mit der Kategorie logischer Subjekte gleichzusetzen ist. Es kann, in Abhängigkeit von der Perspektive des Wahrnehmenden, auch eine Situation, eine Oberfläche, einen Anblick oder eine Gruppierung von Gegenständen bezeichnen. Unabhängig von einer zusätzlichen ontologischen These über die Art der wahrgenommenen Gegenstände oder der Annahme eines logischen Passungsverhältnisses
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Wahrnehmen ist nach Aristoteles „ein Erleiden von seiten des … Gegenstandes … Also muß es aufnahmefähig sein für die … Form und in Möglichkeit ein solches sein (wie das Objekt der Form nach), aber nicht dieses (konkrete Objekt selbst) …“ Aristoteles, Über die Seele III 4, 429 a 14–17. Vgl. Hilary Putnam, The Threefold Cord, S. 22. Putnam konstatiert in diesem – durch Thomas von Aquin und die Scholastik interpretierten – aristotelischen Begriff von Wahrnehmung Züge eines direkten Realismus.
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zwischen wahrnehmbarem Einzelnen und Sprachlich-Allgemeinem ist der Inhalt der Wahrnehmung nach Aristoteles Einzelnes. Aus dieser inhaltlichen Konzeption der Einzelheit ergibt sich ein Vermittlungsproblem, das von Aristoteles selbst gesehen wurde: Wie kann das wahrgenommene Einzelne als das Einzelne eines Allgemeinen gesehen werden? Wie kommt es zur Konzeption von Allgemeinem auf der Stufe der Erfahrung, wenn die Wahrnehmung selbst nur Einzelnes erfassen kann? Das auf den höheren Stufen der epistemischen Genealogie erfasste Allgemeine soll Aristoteles zufolge ein Wissen darstellen, das nicht aus dem Leeren schöpft, sondern induzierend bei den einzelnen Wahrnehmungen ansetzt und in Bezug auf diese auch eine erklärende Funktion erfüllt.41 Die Konsequenz aus der Festlegung auf Einzelnes ist, dass das Wahrgenommene keinerlei Hinweis auf Ähnliches, Gleichartiges oder Wiedererkennbares enthalten kann. Die Kenntnis allgemeiner Eigenschaften müsste dann einer anderen Quelle entstammen. Das widerspräche jedoch der von Aristoteles betonten Erkenntnis initiierenden Funktion der Wahrnehmung. Am Ende der Zweiten Analytik stellt Aristoteles die Frage: Wie kommt es zur Kenntnis der ursprünglichen, unvermittelten Prinzipien, die aus der Demonstration selbst nicht zu gewinnen sind? Denn für eine Beweisführung mittels Demonstration müsste ihre Kenntnis bereits vorausgesetzt werden.42 Er antwortet mit dem Hinweis auf die Vorhandenheit jener unterscheidungskräftigen Fähigkeit: der Wahrnehmung. In ihr wird Allgemeines erfasst, ohne dass dieses Allgemeine schon von der erst zu gewinnenden
41 42
Aristoteles, Analytica posteriora II 19, 100 b 4f., sowie Metaphysik I 1, 981 a 28ff. Vgl. Detel, Wahrnehmung und Induktion, S. 260: „Wer induktiv geeignete Einzelfälle anführt oder auflistet, um entweder selbst etwas Allgemeines zu erkennen oder andere von einer allgemeinen These zu überzeugen, muss bereits beim Anführen, ja sogar vor dem expliziten Anführen der Einzelfälle das Allgemeine in diesen Fällen ‚gesehen‘ oder ‚erkannt‘ haben – sonst könnte er oder sie nicht die ‚geeigneten‘ Einzelfälle anführen.“
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Genauigkeit wäre.43 Aristoteles’ Versuch, die Frage zu beantworten, aus welcher Quelle das Allgemeine stammt, besteht also in einer ambiguen Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände. Die Charakterisierung erfolgt demnach als Reaktion auf die erste, problematische Festlegung. Das Vermittlungsproblem wird damit nur teilweise gelöst, da die Revidierung keine vollständige ist, sondern lediglich einen Zusatz zur ursprünglichen Festlegung darstellt. Das Vermittlungsproblem würde sich erübrigen, wenn man das aristotelische Postulat wie Welsch im Sinne eines schon vorausgesetzten logischen Passungsverhältnisses zwischen Sinnlich-Einzelnem und Sprachlich-Allgemeinem interpretiert. Doch gegen diese logische Funktionalisierung der Wahrnehmung sprechen die schon genannten phänomenologischen Einwände. Aristoteles selbst entkräftet eine solche Position, indem er die Wahrnehmung als Unterscheidungsfähigkeit beschreibt, die an ihrem Gegenstand bestimmte Qualitäten erfasst. Würden die Wahrnehmungsgegenstände dabei auf ein logisches Komplement zur Allgemeinheit von Erfahrung und Wissen reduziert werden, müsste die Kenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten schon vorausgesetzt werden. Denn nur in Abhängigkeit von der Kenntnis des Allgemeinen kann etwas als Einzelnes erfasst werden. Die Wahrnehmung würde damit auf eine Stufe mit der Erfahrung gehoben werden. Die These, dass die Wahrnehmung Einzelnes erfasst, führt also zu der Frage, wie von den Wahrnehmungen ausgehend Allgemeines erfasst werden kann. Entweder muss das wahrgenommene Einzelne als logisches Gegenstück zu Allgemeinem angenommen werden, oder aber das Allgemeine entstammt einer gänzlich anderen Quelle als der sinnlich erfahrbaren Welt. Gegen die erste Variante spricht die aristotelische Charakterisierung der Wahrnehmung als unterscheidungskräftige Fähigkeit, die noch nicht mit Urteilsfähigkeit gleichgesetzt wird. Die zweite Va43
Aristoteles, Analytica posteriora II 19, 99 b 33f. Eine weitere Quelle allgemeiner Gesetze ist die Einsicht (noũs). Durch diese können oberste Prinzipien und Begriffe erkannt werden.
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riante würde die epistemische Genealogie in Frage stellen, da sie eine Kluft zwischen der Wahrnehmung und der Erkenntnis von Allgemeinem impliziert. Der epistemischen Genealogie zufolge soll von den Wahrnehmungen ausgehend Allgemeines erfasst werden, das die Welt sinnlicher Erscheinungen begrifflich ordnet und erklärt. Das Postulat der Gerichtetheit der Wahrnehmung auf Einzelnes führt also zu einem Problem, unabhängig davon, ob es allein den sinnlichen Gehalt der Wahrnehmung betrifft oder ob es zugleich ontologisch oder logizistisch gedeutet wird. Die Vermittlung des sinnlich erfahrbaren Einzelnen mit einem Allgemeinen stellt entweder ein theoretisches Problem dar, oder aber die Kenntnis von Allgemeinem muss auf der Ebene der Wahrnehmung schon vorausgesetzt werden. Es kann nicht zunächst Einzelnes wahrgenommen werden, von dem ausgehend auf Allgemeines geschlossen wird. II.1.3
Zusammenfassung Die Kennzeichnung der Wahrnehmungsgegenstände als einzelne lässt sich verschieden deuten. Die verschiedenen möglichen Deutungen teile ich systematisch in drei Arten auf: Erstens lässt sich die Kennzeichnung als ontologische Annahme, dass das, was wahrgenommen wird, tatsächlich gegebene raumzeitliche Gegenstände sind, verstehen. Dies erscheint zunächst als eine bloß äußere Zuschreibung, welche verschiedene weitere Aussagen über den tatsächlichen Inhalt des Wahrgenommen erlaubt. Gemeinsam mit der Annahme eines natürlichen Passungsverhältnisses zwischen den Gegenständen und den auf sie bezogenen Wahrnehmungen führt diese Annahme auch zu einer inhaltlichen Deutung. Diese kann nun, das ist die zweite Variante, logizistisch gedeutet werden – in dem Sinne, dass das wahrgenommene Einzelne stets das Einzelne eines Allgemeinen ist, das heißt mit diesem Allgemeinem schon vermittelt und gleichursprünglich ist. Eine solche Deutung hat Welsch vorgeschlagen. Drittens kann der Inhalt der Wahrnehmungsgegenstände phänomenologisch als einzeln charakterisiert werden, in dem Sinne,
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ZUSAMMENFASSUNG
dass wir in der Wahrnehmung stets flüchtige und nur lose miteinander verbundene Sinneseindrücke haben. Die logizistische Deutung ist zu kritisieren, da Wahrnehmungsfähigkeit nach Aristoteles zunächst keine Urteilsfähigkeit impliziert, sondern bloß eine unterscheidungskräftige Fähigkeit darstellt, die unabhängig von möglichen Urteilen ist. Die inhaltliche Deutung stellt ebenfalls ein Problem dar. Zum einen ist sie phänomenologisch nicht haltbar, da Einzelheit keine sinnlich wahrnehmbare Eigenschaft darstellt. Zum anderen gerät die Vermittlung mit dem Allgemeinen, das auf der Ebene der Erfahrung und Einsicht in Prinzipien erfasst wird, zu einem Problem. Die Erkenntnis initiierende Funktion einzelner Wahrnehmungen selbst wird fraglich, wenn sie auf diese Weise der Allgemeinheit gegenüber gestellt wird. Dieses Problem scheint Aristoteles bewusst gewesen zu sein, denn er hat an entscheidenden Stellen Wahrnehmung gleichzeitig auch als das Erfassen von Allgemeinem bestimmt. Ich habe damit nicht die Vereinbarkeit zwischen der widersprüchlichen Bestimmungen der Wahrnehmungsgegenstände erklärt, sondern vielmehr diese Ambivalenz als Indiz für ein Vermittlungsproblem gedeutet, welches von Aristoteles selbst gesehen wurde. Demnach liegt die Problematik in der ursprünglichen, inhaltlich zu deutenden Festlegung der Wahrnehmungsgegenstände auf Einzelnes.
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Lockes Konzeption von Wahrnehmung und Erfahrung
II.2
John Locke bestimmt die Erfahrung als das Fundament der Erkenntnis. Einer traditionellen Locke-Interpretation zufolge fasst Locke diese Erfahrung als eine rein rezeptive Aufnahme des sinnlich Gegebenen auf, in die noch keine Urteilstätigkeit des Verstandes involviert ist. Nach Kambartel stellt dieses Unternehmen eine begriffsgeschichtliche Zäsur dar, da die mittelalterliche Aristoteles-Rezeption Erfahrung gerade als Produkt der Verstandestätigkeit und als Urteilsfähigkeit betrachtete.1 In der Funktion einer noch nicht begrifflich strukturierten Basiserfahrung fällt bei Locke der Begriff der Erfahrung (experience) mit dem Begriff der Wahrnehmung (perception) zusammen.2 Was ich anhand dieser Locke-Interpretation darstellen möchte, ist eine entscheidende Gemeinsamkeit beider Ansätze, die sich am Begriff der Wahrnehmung erweist. Sowohl Aristoteles als auch Locke zufolge richtet sich die Wahrnehmung auf das Einzelne. Dieses Einzelne ist unvermittelt gegeben; es wird noch nicht unter dem Hinblick einer All-
1 2
Vgl. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und des Formalismus, S. 50. “Perception then being the first step and degree towards knowledge, and the inlet of all the materials of it…” John Locke, An Essay on Human Understanding, II.9, § 15. (Im Folgenden: Essay.) Vgl. auch Kambartel, a. a. O., S. 50: „Lockes Gebrauch des Wortes ‘experience’ ist … durchaus doppelsinnig: ‘experience’ bezeichnet einerseits das reine Gegebene und ist so von ‘perception’ mit der Bedeutung einer rein passiven Aufnahme der einfachen oder der partikulären Ideen kaum unterschieden; andererseits wird auch die Komplementvorstellung dieses Erfahrungsbegriffes, nämlich das Produkt der Verstandesarbeit, das Urteil oder die Urteilsfähigkeit (judgement) mit ‘experience’ benannt oder doch mit Erfahrung in eine Reihe gebracht.“ Kambartel, a. a. O., S. 50.
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UNBEURTEILTE WAHRNEHMUNG UND DEUTENDES URTEIL
gemeinheit gesehen. Folgt man der Lesart Kambartels und liest den empiristischen Ansatz als einen naiven Empirismus, so wird das Allgemeine aus den unabhängig davon gegebenen einzelnen Wahrnehmungen gewonnen. Aus diesem Ansatz heraus ergibt sich aber das Problem, die Vermittlung zwischen den atomistisch verstandenen Wahrnehmungsgegenständen und der Allgemeinheit sprachlicher Begriffe zu erklären. Dieses Vermittlungsproblem und seinen Zusammenhang mit der atomistischen Wahrnehmungstheorie des Empirismus werde ich untersuchen. Dabei geht es mir weniger um eine Problemlösung und Plausibilisierung des allzu häufig nur problemorientiert und eher karikierend dargestellten klassisch-empiristischen Ansatzes, als vielmehr um die systematische Betrachtung der problematischen Konsequenzen aus dem atomistischen Ansatz Lockes. Lockes eigene Äußerungen, auch der Aufbau seines Essay, legen einen solchen Ansatz nahe und provozieren die genannte Lesart.3 Das Problempotential, um das es mir hier geht, ist also durchaus auf Lockes eigenen Ansatz zurückzuführen, auch wenn es möglich ist, diesen Ansatz anders zu interpretieren und damit eine Lösung der Problematik vorzuschlagen. Einen Vorschlag zu solcher Problemlösung behandele ich am Ende dieses Kapitels. II.2.1
Unbeurteilte Wahrnehmung und deutendes Urteil Lockes Essay Concerning Human Understanding beschreibt die natürliche Genese menschlicher Erkenntnis aus der Erfahrung. In einem dieser Beschreibung vorangehenden ersten Hauptteil (Buch I) entwickelt Locke seine grundlegende These, dass es keine eingeborenen Ideen und Prinzipien geben kann, um daraufhin die sinnliche Erfahrung als erste und alleinige Quelle der Erkenntnis zu bestimmen.4 Über die Einwir-
3
4
Dies räumt auch Lorenz Krüger, der sich um eine Plausibilisierung der von Locke beschriebenen und scheinbar zweideutigen und problematischen „Erfahrungsbasis“ bemüht, ein. Vgl. Krüger, Der Begriff des Empirismus, S. 38f., sowie Fußnote 30. Eine weitere Quelle der Erkenntnis, neben der sinnlichen Wahrnehmung (sensation), ist die Reflexion (reflection), welche nicht auf sinnlich gegebene Ideen,
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LOCKES KONZEPTION VON WAHRNEHMUNG UND ERFAHRUNG
kung äußerer Objekte liefert sie einfache, das heißt unteilbare Ideen sinnlicher Qualitäten.5 Diese einfachen Ideen sind allerdings nicht identisch mit den Ursachen, durch die ihre Wahrnehmungen hervorgerufen wurden. “Whatsoever the Mind perceives in it self, or is the immediate object of Perception, Thought, or Understanding, that I call Idea; and the Power to produce any Idea in our mind, I call Quality of the Subject wherein the power is.”6
Was wahrgenommen wird, sind nicht die materiellen Gegenstände oder ihre Eigenschaften selbst, sondern vielmehr Ideen, die sie repräsentieren. Auch wenn Locke eine Repräsentationstheorie der Erkenntnis vertritt7, beschreibt er den Wahrnehmungsprozess nicht als ein bloßes Abbildungsverhältnis zu äußeren Erscheinungen. Zwar sind jene äußeren Objekte oder bestimmte Eigenschaften dieser Objekte die konkreten kausalen Ursachen von Wahrnehmungen, doch gehört zur Wahrnehmung eine geeignete Konstitution der wahrnehmenden Organe und die Aufmerksamkeit des Geistes auf die durch jene Ursachen hervorgerufenen Wirkungen. Wahrnehmung wird beschrieben als Aufmerksamkeit auf bestimmte Ideen, welche sinnlichen Qualitäten der Erfahrung entsprechen.8 Die eigentlichen Ursachen der Empfindungen müssen dem
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sondern auf die Operationen des Verstandes bezogen ist. Gleichwohl kann der Verstand selbst zunächst kein anderes Material als die sinnlich gegebenen Ideen verarbeiten. Als Beispiele einfacher Ideen nennt Locke unter anderem Empfindungsqualitäten (simple ideas of sensation), die nur durch einen Sinn geliefert wurden. Essay II.1, § 4. Essay II.8, § 8. Vgl. Lambert Wiesing, Philosophie der Wahrnehmung, S. 24ff. “… having Ideas, and Perception being the same thing …” Essay II.1, § 9. Diese Auffassung von Wahrnehmung stellt ein Modell dar, nach dem Locke auch das Bewusstsein begreift. “Consciousness is the perception of what passes in a Man’s own mind.” Essay II.1, § 19. Der Unterschied zur sinnlichen Wahrnehmung liegt allein darin, dass die im Geist wahrgenommenen Ideen nicht kausal durch äußere Gegenstände hervorgerufen werden. Vgl. dazu Wiesing, a. a. O., S. 25.
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UNBEURTEILTE WAHRNEHMUNG UND DEUTENDES URTEIL
Geist dabei nicht unbedingt transparent sein. Sie können unbemerkt bleiben, zum Beispiel wenn sie privativer Art, das heißt mit der unmerklichen Veränderung einer gewohnten Eigenschaft der Umgebung verbunden sind. Hier würde lediglich die Wirkung dieser Veränderung bewusst werden, nicht aber ihre positive Ursache (zum Beispiel beim Eindruck des Hungers oder der Kälte). Unter Beachtung dieser Einschränkung und Präzisierung lässt sich Lockes Konzeption von Wahrnehmung charakterisieren: Reine Wahrnehmung ist ein passiver Akt, in dem die Sinne so wahrnehmen, wie sie veranlasst werden wahrzunehmen.9 Wenn die Wahrnehmungsorgane unter geeigneten Bedingungen in einer bestimmten Weise gereizt werden, kann der menschliche Geist sich diesem Eindruck nicht entziehen und ihm nichts hinzufügen. Anders ausgedrückt: Obwohl eine geeignete Konstitution der wahrnehmenden Organe und auch die Aufmerksamkeit des Verstandes nötig ist, um etwas wahrzunehmen, liegt in der Wahrnehmung gleichzeitig eine Passivität, das heißt eine Unweigerlichkeit des so-und-nicht-anders-Wahrnehmens, die für sie spezifisch ist. Einen weiteren möglichen phänomenologischen Einwand führt Locke an unter dem Stichwort: „sensations often changed by judgement“.10 Das Urteil kann den Gehalt einer Wahrnehmung beeinflussen. Dafür wird folgendes Beispiel angeführt: Die Erscheinung einer leuchtenden konvexen Fläche wird für eine goldene Kugel gehalten, die schon häufig gesehen wurde. In dieser Situation, so Lockes Analyse, interpretiert das Urteilsvermögen infolge langer Gewohnheit eine Erscheinung als Wirkung einer wohlvertrauten Ursache, die aber nicht ihre tatsächliche Ursache ist.11 Dabei wird die Wahrnehmung sogleich als Erscheinung einer bestimmten Idee (die goldene Kugel) genommen und diese Idee auf die eigentliche Wahrnehmung zurückprojiziert, ob-
9 10 11
“For in bare naked Perception, the Mind is, for the most part, only passive; and what it perceives, it cannot avoid perceiving.” Essay II.9, § 1. Essay II.9, §§ 8–10. Essay II.9, § 8.
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LOCKES KONZEPTION VON WAHRNEHMUNG UND ERFAHRUNG
gleich es sich um eine Erscheinung anderer Art handelt. Das Produkt des Urteilsvermögens ist hier der Schluss von der sinnlichen Wirkung auf die Ursache. Eine Idee der sinnlichen Erfahrung wird dabei unbewusst in eine Idee des Urteilsvermögens umgewandelt. Diese Erläuterung deutet darauf hin, dass Locke, obwohl er die mögliche Beteiligtheit des Urteilsvermögens des Verstandes an der Wahrnehmung zuzugesteht, von einer grundsätzlichen Trennbarkeit beider Arten von Ideen ausgeht. Reine Wahrnehmungen müssten sich unter geeigneten Umständen frei von jeglicher Urteilstätigkeit präsentieren lassen. Locke versteht den geschilderten Fall also als ungenügende Aufmerksamkeit auf die eigentliche Wahrnehmung. Nachdem die sinnliche Erfahrung als erster und einziger Eingang von Ideen in den menschlichen Geist ausgezeichnet wurde, lassen sich zwei Quellen von Ideen unterscheiden: Sinnliche Erfahrung (sensation) und Reflexion. Während sich bei einer sinnlichen Erfahrung die Aufmerksamkeit des Geistes direkt auf die Ideen bezieht, welche aktuell durch die Sinne geliefert werden, ist sie bei der Reflexion auf die Operationen des Geistes selbst gerichtet. Sie lässt sich daher mit „Selbstwahrnehmung“12 oder „Selbstbeobachtung“13 identifizieren.14 Daher ist auch von einem „äußeren“ und einem „inneren Sinn“ die Rede. Lockes Betonung liegt darauf, dass auch die Ideen der Reflexion keine frei erfundenen sind, sondern sich aus der Tätigkeit des Geistes während der Verarbeitung seiner Wahrnehmungen, wie bei der Erinnerung und der Verknüpfung jener durch Wahrnehmung gewonnenen einfachen Ideen, 12 13 14
Vgl. Günter Gawlick (Hg.), Empirismus, S. 84. Vgl. Alfred Klemmt, John Locke – Theoretische Philosophie, S. 46. Reflexion bedeutet also nicht so etwas wie Nachdenken, Verarbeiten, das heißt das Ordnen und Verarbeiten sinnlich gegebener Ideen auf einer MetaEbene, sondern bezeichnet in einem ganz abstrakten Sinne eine zweite mögliche Quelle von Ideen, welche durch die Beobachtung der eigenen Tätigkeiten des Geistes gewonnen werden können. Die vielfältigen Operationen des Geistes sind nicht der sinnlichen Erfahrung oder Reflexion selbst zuzuordnen, sondern stellen verschiedene Möglichkeiten des Bezugs auf die durch sinnliche Erfahrung und Reflexion gewonnenen Ideen dar.
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UNBEURTEILTE WAHRNEHMUNG UND DEUTENDES URTEIL
erst ergeben.15 Zu den Ideen der Reflexion gehören also die Operationen des Geistes selbst, wie beispielsweise die Ideen des Wahrnehmens, Denkens, Zweifelns, Glaubens und Wollens. Die an den sinnlich gewonnenen Ideen ausgeführten Operationen wie zum Beispiel Vergleich, Abstraktion und Zusammensetzung führen nicht nur zu einfachen (abstrakten), sondern auch zu komplexen Ideen, die Locke in drei Klassen einteilt: Modi wie zum Beispiel das Dreieck oder die Schönheit, Substanzen wie zum Beispiel ein Mensch oder eine Armee, sowie Relationen wie zum Beispiel Vater und Sohn oder Ursache und Wirkung. Solche Verarbeitung sinnlich gegebener einfacher Ideen ist jedoch nicht etwas, das notwendig jede Wahrnehmung begleitet, sondern stellt erst auf einer höheren Stufe eine Möglichkeit des spontan tätigen menschlichen Geistes dar. Während die Ordnung und Reihenfolge des Auftretens der einfachen Ideen in der Wahrnehmung vom Geist nicht beeinflusst werden kann, beginnt er auf der nächsten Stufe, in der Erinnerung, diese Anordnung aktiv zu gestalten. Hier erst werden Ideen nach Ähnlichkeiten geordnet. Bereits Tiere besitzen die Fähigkeit, Ideen aufzubewahren und sie nach bestimmten, abrufbaren Mustern zu ordnen. Das dem entsprechende Vermögen des menschlichen Geistes, Ideen assoziieren und wachrufen zu können, nennt Locke „Erfindungsgabe, Einbildungskraft und geistige Beweglichkeit“.16 Es stellt jedoch eine eigene Leistung des Urteilsvermögens dar, bloß ähnliche oder ungleiche Ideen zu unterscheiden und zu vergleichen und ihnen Identität oder Nichtidentität zuzuschreiben. Das Unterscheiden 15
16
“’Tis about these Impressions made on our Senses by outward Objects, that the Mind seems first to employ it self in such Operations as we call Perception, Remembring, Consideration, Reasoning, etc. In time, the Mind comes to reflect on its own Operations, about the Ideas got by Sensation, and thereby stores it self with a new set of Ideas, which I call Ideas of Reflection.” Essay II.1, §§ 23– 24. “But it is not in the Power of the most exalted Wit, or enlarged Understanding, by any quickness or variety of Thought, to invent or frame one new simple Idea in the mind, not taken in by the ways before mentioned: nor can any force of the Understanding, destroy those that are there.” Essay II.2, § 2. “Invention, Fancy, and quickness of Parts”, Essay II.10, § 8.
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und Vergleichen von sinnlich gegebenen Ideen nach bestimmten Kriterien wie zum Beispiel Größe, Gestalt oder Festigkeit, ist ein Akt des Urteilens, das heißt des Verknüpfens einfacher und komplexer, z.T. auch reflexiver Ideen.17 „Natürliche gleichförmige Eindrücke“18 stellen zwar die Grundlage für solche Unterscheidungen dar; das Unterscheidungsvermögen selbst basiert aber auf nichts anderem als auf der Schärfe der Urteilskraft. An die ursprünglichen unvollkommenen Unterscheidungen anknüpfend kann das Urteilsvermögen Ideen vergleichen und zusammensetzen.19 Auf diesem Wege werden die aus einfachen Ideen zusammengesetzten komplexen Ideen gebildet. Sofern komplexe Ideen sich nicht lediglich auf das sich wiederholende gleichzeitige Auftreten verschiedener einfacher Ideen beziehen, sondern allgemeine Ideen implizieren, die verschiedenen besonderen Ideen gemeinsam sind, kann von Abstraktion gesprochen werden. Im Zusammenhang mit der Abstraktion führt Locke eine weitere Differenzierung ein: Diejenige zwischen einfachen und besonderen Ideen. Im Stadium des Eintretens in den Geist ist die Idee eine besondere (particular idea). In ihr sind die Eigenschaften noch vielfältig und vermischt; besondere Ideen sind so etwas wie natürliche Ideenkomplexe. Die Qualitäten in den Dingen sind vielfache und vermischte; die durch sie erzeugten Ideen hingegen sind einzeln und unvermischt.20 Jedes äußere Objekt liefert dem Geist somit einen Komplex einfacher Ideen. Die einfachen Ideen sind dabei für sich genommen klar und bestimmt, solange die Wahrnehmung sie verlässlich als voneinander verschiedene Ideen präsentiert. Da es jedoch unzählig viele solcher Ideen gibt, die in der Wahrnehmung eines Objektes häufig vermischt vor17 18 19 20
Vgl. Essay II.11, §§ 3–4. “… native uniform Impressions”, Essay II.11, § 1. Vgl. Essay II.11, § 5. “Though the Qualities that affect our Senses, are, in the things themselves, so united and blended, that there is no separation, no distance between them; yet ’tis plain, the Ideas they produce in the Mind, enter by the Senses simple and unmixed.” Essay II.2, § 1.
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kommen und es unmöglich wäre, jede einzelne von ihnen zu benennen („names must be endless“21), setzt hier die Vernunft ein, um über die Abstraktion von möglichen begleitenden Eigenschaften eine abstrakte Idee zu bilden. Abstrakte Ideen repräsentieren allgemeine Eigenschaften, welche verschiedenen Einzeldingen zukommen können und sie nach Gattungen klassifizieren. Auch die allgemeinen oder abstrakten Eigenschaften werden, wenn sie sich auf wahrnehmbare Eigenschaften beziehen, ursprünglich durch die Sinne geliefert, doch nicht notwendig in der gleichen Klarheit und Unterschiedenheit von den sie begleitenden einfachen Ideen der sinnlichen Erfahrung. So kann ich einen Stuhl zwar ausmachen, doch sehe ich zugleich noch viel mehr als bloß einen Stuhl. Gleichzeitig mit der abstrahierenden Tätigkeit der Vernunft wird Sprache gebraucht, die Namen nicht nur für einfache Ideen, sondern vor allem auch für die allgemeinen Begriffe zur Verfügung stellt. Abstraktion und Sprache sind somit gleichursprünglich.22 Mit den Namen entsteht erst die Möglichkeit des Irrtums und der Verwirrung, wenn ihnen keine genügend komplexen Ideen oder nur verworren zusammengesetzte Ideen entsprechen. Die Unterscheidbarkeit von Ideen kann durch sprachliche Bezeichnungen nur vorgetäuscht sein, während die Klarheit einfacher Ideen der Wahrnehmung per definitionem untrüglich ist. In dieser Beschreibung der verarbeitenden Tätigkeit des Verstandes wird deutlich, dass der Erfahrungsbegriff Lockes sich nicht allein auf sinnliche Wahrnehmung beschränkt, sondern durchaus auch die Verarbeitung von Ideen und Bildung von Begriffen umfasst.23 Entscheidend 21 22 23
Essay II.11, § 9. Essay II.11, §§ 9–10. Dies macht auch Lockes Kommentar zu dem von ihm angeführten MolineuxRätsel deutlich: “This I have set down, and leave with my Reader, as an occasion for him to consider, how much he may be beholden to experience, improvement, and acquired notions, where he thinks, he has not the least use of, or help from them …” Essay II.9, § 8.
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ist aber, dass der Verstand sich letztlich auf nichts anderes als auf die sinnlich gegebenen Ideen und auf seine eigenen Operationen bei der Verarbeitung dieser Ideen beziehen kann. Da die sinnlichen Ideen zunächst und prinzipiell unabhängig von der verarbeitenden Tätigkeit des Verstandes in der Wahrnehmung gegeben sind, ist als Basisbegriff der Erfahrung die Wahrnehmung oder die sinnliche Erfahrung (sensation) zu verstehen, als eigentlicher und unabhängiger Lieferant des Erkenntnismaterials. Zwar kann das eigentliche Datum der Erfahrung bewusst oder unbewusst durch ein Urteil beeinflusst oder überschritten werden. Dies stellt jedoch keine notwendige Bedingung für die Wahrnehmung dar. Locke steht, zumindest in der auch von Kambartel vertretenen kritischen Lesart, für eine philosophische Denktradition, die sich durch das Grundpostulat der prinzipiellen Abtrennbarkeit von unbeurteilter Wahrnehmung und deutendem Urteil auszeichnet.24 Damit verbunden ist die Charakterisierung der Erfahrung als „reines Datum des Bewußtseins“, als eine „selbst begriffsfreie Basis aller Konstruktion von Unterscheidungssystemen“25.Die Aussagen Lockes über den Charakter der Wahrnehmung und die Herkunft der Ideen lassen sich folgenderweise zusammenfassen: 1) Einfache Ideen sind zunächst unabhängig von der Aktivität der Urteilskraft in der Erfahrung gegeben. Als Basiserfahrung gilt die Wahrnehmung, in der sinnliche Qualitäten als erste und einfache Ideen klar und bestimmt gegeben sind. Der Akt der reinen Wahrnehmung ist ein passiver Akt. 2) Auf der Grundlage dieser einfachen Ideen werden allgemeine und komplexe Ideen durch den Verstand gebildet. Die Aktivität des Ver24
25
Vgl. Kambartel, a. a. O., S. 18f. Kambartel charakterisiert anhand zweier Postulate den theoretischen Ansatz des Empirismus: „1. Es läßt sich ein unmittelbar Gegebenes vom Unterscheidungs- und Aussageapparat der natürlichen Sprache wie der Wissenschaftssprache rein ablösen. 2. Nur diejenigen Termini und Begriffe sind wissenschaftlich gerechtfertigt, deren Bedeutung bzw. Inhalt sich auf der Basis dieses Gegebenen konstituieren läßt.“ Ebd., S. 21. Ebd., S. 19.
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standes erstreckt sich auf die Erinnerung, Wiederholung, Unterscheidung, Vergleichung und Zusammensetzung von Ideen. Ähnlichkeit und Allgemeinheit gehören nicht notwendig zur Wahrnehmung, sondern werden auf einer davon unterschiedenen Ebene der Verarbeitung durch den Verstand konstituiert. 3) Erst mit dem urteilenden Verstand und mit der Sprache (mit den Namen für die gebildeten Ideen) kommen Irrtumsmöglichkeit und Falschheit ins Spiel. Namen haftet ein Makel in Form der grundsätzlichen Möglichkeit an, dass sie die Bezeichnung besonderer und allgemeiner Ideen vorgeben, ohne dass diese Ideen in genügender Präzision und Vollständigkeit tatsächlich von anderen Ideen unterschieden wären. Sie stehen daher in ihrer Klarheit und Bestimmtheit den einfachen Ideen der Wahrnehmung prinzipiell nach. II.2.2
Die Einfachheit und Unaussprechlichkeit des sinnlich Gegebenen Wie bestimmt Locke das Material, an dem die Verstandestätigkeit ansetzt und das selbst noch unberührt von jeder begrifflichen Tätigkeit oder Deutung ist? Es hat den Status eines erkenntnistheoretischen Primats, in Relation auf welches die Verarbeitung durch den Verstand eine sekundäre Aktivität darstellt. Locke zufolge liefert die Erfahrung einfache Ideen, welche vom Verstand erst unterschieden, verglichen und zu komplexen Ideen zusammengesetzt werden. Einfache Ideen werden von Locke zum Teil mit abstrakten Ideen identifiziert26, sie können aber auch als bestimmte, einzelne Aspekte besonderer Ideen verstanden werden. Die Weiße stellt einen Aspekt der wahrgenommenen Milchflasche dar, der in der Besonderheit der Milchflasche als einfache Idee sinnlich gegeben ist. Diese Aspekte einer Gemeinsamkeit verschiedener einzelner oder besonderer Fälle werden dann durch eine allgemeine Idee bzw. ihren Begriff (die Weiße) benannt und repräsentiert. Mit abstrakten Ideen identifiziert, würden ein-
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“Thus the mind has three sorts of abstract Ideas or nominal essences: First, simple Ideas, …” Essay II.31, § 12.
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fache Ideen jedoch Produkte der Abstraktionstätigkeit des Verstandes darstellen und nicht als Eingangsmaterial der Erfahrung gelten können. Doch auch als einzelne Aspekte besonderer Ideen stünden sie mit der Abstraktion bereits auf einer Stufe (da sie schon im Hinblick auf ihre Allgemeinheit und in Absehung von den besonderen Umständen ihres Auftretens aufgefasst sind) und könnten so kein bloßes Material, nicht der Nullpunkt für die Tätigkeit des Verstandes sein. Die Abstraktionstätigkeit setzt vielmehr bei den besonderen Ideen an. Besondere Ideen sind in der noch uninterpretierten Wahrnehmung (perception) in einer Fülle und Komplexität gegeben, die der Abstraktion bedarf, um Einfachheit zu erhalten. Nach der Abstraktion sind die einfachen Ideen aber bereits ein Produkt und nicht, wie eingeführt, das Primat der Erkenntnis. Dies führt zu einer Ambiguität in der Konzeption der „Gegebenheitsatome“27, der Erkenntnisbasis, die sich als Spannung zwischen einfachen und besonderen Ideen beschreiben lässt: Einerseits sind die in der Wahrnehmung gelieferten Ideen klar und bestimmt, scheinen als solche einfachen Ideen aber schon das Ergebnis einer Abstraktion zu sein. Andererseits sind sie sinnlich-komplex oder mannigfaltig, so dass es für die Erkenntnistätigkeit effizient und nötig erscheint, von den vielfachen begleitenden Umständen dieser besonderen Ideen zu abstrahieren und die dabei erhaltenen einfachen Ideen zu verallgemeinern.28 Da Locke an der Passivität des Verstandes in Bezug auf die Erfahrung als erste Quelle von Erkenntnis festhält, bestimmt er die ersten, noch uninterpretierten Materialien der Erfahrung als solche vermischten Ideenkomplexe, die einer Verarbeitung durch den Verstand noch bedürfen. Die besondere Idee einer weißen Flasche, wenn man von all ihren sonstigen begleitenden Eigenschaften absieht, führt durch Abstraktion zur 27 28
Vgl. Klemmt, a. a. O., S. 30ff. Auf diese Widersprüchlichkeit und die daraus resultierende Inkonsistenz der empiristischen Position Lockes weist auch Kambartel hin, a. a. O., insbesondere im Kapitel I: „Erfahrungsbasis und Verstandestätigkeit in Lockes Essay concerning human understanding“; S. 25ff.
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Idee von der Weiße, der sich wiederholenden allgemeinen Eigenschaft, weiß zu sein. Locke betont jedoch gleichzeitig, dass bereits die Betrachtung eines einzelnen (weißen) Gegenstandes die Eigenschaft der Weiße in vollkommener Klarheit vorführt.29 Diese Konzeption von Erfahrung birgt ein für den empiristischen Ansatz charakteristisches Problem: Da Abstraktion und Sprache gleichursprünglich sind30, verfügt der Verstand vor der abstrahierenden Tätigkeit über kein Mittel, um einfache Ideen zu identifizieren. Für die Identifizierung einfacher Ideen bedarf es der Sprache. Sinnliche Qualitäten bleiben daher in ihrer komplexen und unübersehbaren Struktur, als besondere Ideen, unaussprechlich.31 Als sinnliche Mannigfaltigkeit bleibt die Erfahrungsbasis notwendig unbestimmt. Mit dieser fehlenden Charakterisierbarkeit kann sie dem Anspruch, das Fundament der Erkenntnis zu sein, nicht genügen. Wenn sinnliche Erfahrung tatsächlich eine Quelle erkenntnisrelevanter Ideen sein soll, müssen die sinnlich gegebenen Ideen gleichzeitig klar, unterscheidbar und sprachlich artikulierbar sein. Als solche stellen sie jedoch bereits das Ergebnis von Abstraktion dar. Es scheint also ein Postulat zu sein, einfache Ideen, welche Abstraktionstätigkeit bereits voraussetzen, der Ebene uninterpretierter Wahrnehmung zuzuordnen. Von diesem Postulat hängt die erkenntnistheoretische Relevanz der Gegebenheitsbasis ab. Allgemeine und zusammengesetzte Ideen, so Lockes grundlegende Überzeugung, können nicht angeboren sein, sondern stellen ein Produkt der verarbeitenden Tätigkeit des Verstandes dar. Bei ihnen kann also der Erkenntnisprozess nicht beginnen, da der Verstand sonst in die 29 30 31
Vgl. Essay II.2, § 1, siehe Fußnote 20 auf S. 56. Vgl. Essay II.11, §§ 9–10, vgl. S. 56f. „Über die besonderen Dinge lassen sich Aussagen erst nach Abstraktion machen. In seiner unberührten, unendlich mannigfaltigen Gegebenheit (Kants ‚Gewühl der Empfindungen‘ klingt hier unmittelbar an) ist das Besondere unartikulierbar. … Das Erfahrungsgegebene mit den ‘particular ideas’ – unter Einschluß aller besonderen Umstände ihres Auftretens – zu identifizieren, bedeutet zugleich, es als es selbst unaussprechlich, uncharakterisierbar darzustellen.“ Kambartel, a. a. O., S. 26f.
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sinnliche Erfahrung schon involviert wäre oder diese Ideen gar als ein gänzlich erfahrungsunabhängiges Produkt des Verstandes gelten müssten. Die Verarbeitung, das heißt die Abstraktion und aktive Zusammensetzung von Ideen, muss daher als eine sekundäre Aktivität gelten. Daraus folgt zum einen die strukturelle Trennung der sinnlichen Ideen der Erfahrung von den durch den Verstand gebildeten komplexen Ideen, zum anderen aber auch das logische Passungsverhältnis zwischen ihnen. Das bedeutet, dass die Einfachheit der sinnlich gegebenen Ideen bereits das geeignete Material für die Zusammensetzung bzw. Abstraktion darstellt – denn Einfachheit und Allgemeinheit stellen logische Funktionen von Urteilen dar und sind als solche gleichursprünglich: Einfachheit kann nur als Fall von etwas Allgemeinem verstanden werden, und Allgemeinheit vereint stets verschiedene Einzelfälle. Wenn sinnlich gegebene Ideen einfach sind, können sie zum einen bereits als einzelne Instanziierungen allgemeiner Eigenschaften aufgefasst werden, zum anderen können sie durch den Verstand zu komplexen Ideen zusammengesetzt werden. Lockes atomistische Auffassung von Ideen dient also dazu, einfache Ideen als logische Bausteine komplexer und allgemeiner Ideen voraussetzen zu können, die vom Verstand verarbeitet werden können. Die Einfachheit der Ideen macht es möglich, dass sinnliche Qualitäten unterschieden und zusammengesetzt werden können und dass von ihren Begleitumständen abstrahiert werden kann.32 Gleichzeitig bestätigt die Projektion dieses logischen Wechselverhältnisses zwischen Einfachheit und Allgemeinheit auf das kategoriale Wechselverhältnis zwischen sinnlicher Erfahrung und Urteilstätigkeit die prinzipielle Abtrennbarkeit des sinnlich gegebenen Materials von der begrifflichen Struktu32
Locke weist am Ende des Buches IV darauf hin, dass es in der Einteilung der Wissenschaften auch um eine Logik der Ideen, als Zeichen oder Stellvertreter der Dinge, geht. Damit gewinnt der Begriff der Logik eine andere Bedeutung als die durch die Syllogismen der Scholastik geprägte. Ideen selbst werden von Locke als logische Bausteine möglicher Erkenntnis angesehen. Vgl. Essay IV.21, § 4.
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rierung desselben. Der Verstand erschafft auch durch die Abstraktion keine neuen Ideen.33 In der Wahrnehmung (perception) sind diese Bausteine bereits gegeben, ohne dass eine Beteiligtheit der Verstandestätigkeit an der Struktur des Erkenntnismaterials vorausgesetzt werden muss. Die atomistische Bestimmung der Wahrnehmungsgegenstände erfüllt also zum einen die Funktion, die strukturelle Abtrennbarkeit in Form einer kategorialen Unterscheidung zwischen dem sinnlich Gegebenen und dem sprachlich erfassten Allgemeinen festzuschreiben. Durch sinnliche Erfahrung werden Ideen unmittelbar, das heißt unabhängig von begrifflicher Interpretation gegeben. Da Locke durchaus von einer Vermittelbarkeit sinnlicher und sprachlicher Gehalte ausgeht, stellen die sinnlich gegebenen Einzeldaten gleichzeitig logische Gegenstücke zu allgemeinen Ideen dar. Die Charakterisierung sinnlicher Ideen als einfache bedeutet, dass das sinnliche Material klare und unterscheidbare Aspekte aufweist, die es für die darauf zugreifende abstrahierende und verallgemeinernde Tätigkeit des Verstandes geeignet sein lässt. Denn wenn Wahrnehmungsgehalte als vorsprachliche Gegebenheitsatome, das heißt allein als besondere Ideen, aufgefasst würden, entbehrten sie jeglicher vergleichbarer und sprachlich artikulierbarer Aspekte.34 Dennoch führt diese Bestimmung zu einer typischen Problematik. Zum einen ist sie mit dem Widerspruch verbunden, dass einfache Ideen sinnlich gegeben sein sollen und gleichzeitig jedoch als vom Verstand 33
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Locke betont, dass der Verstand bei der Bildung abstrakter Ideen nichts Neues herstellt: “Wherein they make nothing new; but only leave out the complex idea they had of Peter and James, Mary and Jane, that which is peculiar to each, and retain only what is common to them all.” Essay III.3, § 7. Vgl. Kambartel, a. a. O., S. 27: „Als unzerlegbare Gegebenheitsatome, nicht Abstraktionen, stünden die einfachen Ideen beziehungslos im Raum der Erfahrung und wären weder durch unterschiedliche Komponenten gegeneinander abzuheben noch auf übereinstimmende Komponenten hin zu sortieren. Dies erweist sich in Lockes Definitionstheorie. Hier stellen sich die Zeichen für einfache Ideen als selbst undefinierbare Grundtermini, auf die alle Definitionen zurückgehen müssen, heraus.“
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gemacht gelten müssen. Sie stellen bereits Produkte der Abstraktionstätigkeit des Verstandes dar, insofern sie nur in Absehung von den jeweils besonderen Umständen der Erscheinung überhaupt identifiziert werden können. Dies widerspricht dem Primat einer passiven Aufnahme einfacher Ideen durch sinnliche Erfahrung. Zum anderen führt die atomistische Bestimmung selbst zu einem Vermittlungsproblem zwischen den sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Denn die Frage ist, in welcher Weise einfache Ideen in den sinnlich gegebenen Ideenkomplexen enthalten sind. Nach Lockes Auffassung sind allgemeine Ideen, deren Namen allgemeine Ausdrücke sind, aus nichts anderem gemacht als aus einfachen sinnlich gegebenen Ideen. Das heißt, dass allgemeine Ideen die Art der Zusammengesetztheit und die tatsächlichen Eigenschaften sinnlich gegebener Ideen repräsentieren. In welcher Beziehung steht aber das Allgemeine zum Besonderen, um diese repräsentative Funktion erfüllen zu können? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob besondere Ideen als Ideenkomplexe oder bereits als bestimmte Aspekte des sinnlich Gegebenen gedeutet werden. In der ersten Variante würde das aus dem Besonderen zu gewinnende Allgemeine in der Identität von Teilen verschiedener Ideenkomplexe bestehen. Hier stellt sich das Problem, auf welche Art eine solche allgemeine Eigenschaft, beispielsweise die Rechtwinkligkeit, an einer sinnlich gegebenen dreieckigen Figur Teil hat. Sie könnte nur auf ungenaue Weise an ihr teilhaben. Um strenge Allgemeinheit und ihre Teilhabe am Besonderen erklären zu können, müsste Locke zusätzlich einen Begriffsrealismus vertreten, demzufolge die abstrakte Idee der Rechtwinkligkeit zum Beispiel in verschiedenen sinnlichen Körpern enthalten ist. Kambartel interpretiert die Aussage, dass wir in der Abstraktion von Allgemeinbegriffen aus besonderen Ideen nichts Neues machen, im Sinne eines solchen Begriffsrealismus. Die zweite Variante besteht darin, besondere Ideen bereits als bestimmte partikuläre Aspekte des sinnlich Gegebenen aufzufassen, die sich jeweils im Hinblick auf eine gemeinsame Eigenschaft ähneln. Hier müsste allerdings eine Art Muster (pattern) vorausgesetzt werden, über das
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der Verstand verfügt, um eine solche Ähnlichkeit oder Gemeinsamkeit ähnlicher Aspekte erfassen zu können. Das heißt, der Verstand wäre im Bezug auf die partikulären Basisideen nicht mehr rein passiv, sondern, wie bei Kant, durch eine formale Synthesis a priori selbst strukturgebend.35 Dann aber könnte von einer prinzipiellen Abtrennbarkeit bzw. Unabhängigkeit von unbeurteilter Wahrnehmung und deutendem Urteil keine Rede mehr sein, und es stellt sich die Frage, warum den in sinnlicher Erfahrung gewonnenen Ideen überhaupt Einzelheit und nicht gleichzeitig auch Allgemeinheit oder vielmehr zunächst nur Gleichartigkeit zugesprochen wird. Die empiristische Scheidung von Materialien und Produkten der Erkenntnis hat nicht nur die Unbestimmtheit der Erfahrungbasis zur Folge, sondern die Begriffsunabhängigkeit dieser Basis geht zugleich mit einer zu großen Autonomie der Verstandestätigkeit, einem „Gemachtsein“ der Begriffe einher. Dies stellt eine problematische Konsequenz des Ideenatomismus dar, welche auch von Kant wahrgenommen wurde.36 Laut Kambartel offenbart sich damit ein eigentümlicher Widerspruch innerhalb des empiristischen Ansatzes.37 Dort, wo komplexe Ideen die tatsächliche, das heißt die sinnlich-mannigfaltige Zusammengesetztheit von Eigenschaften der wahrgenommenen Gegenstände repräsentieren sollen, bleiben sie notwendig unvollständig und damit inadäquat. Die vom Verstand selbst gebildeten abstrakten Ideen der Modi und Relationen hingegen sind notwendig adäquat.38 Sie lassen sich aufgrund dieser Unbestimmtheit der Erfahrungsbasis nicht an etwas Wirklichem, sondern allein an ihrer Konsistenz, der logischen Möglichkeit 35 36 37 38
Ebd., S. 30–35. Vgl. das Kapitel III.2, insbesondere III.2.2.2. Vgl. dazu Kambartel, a. a. O., S. 36ff. Insbesondere S. 42. “These being such collections of simple Ideas, that the mind itself puts together, and such Collections, that each of them contains in it precisely all that the Mind intends it should, they are Archetypes and Essences of Modes that may exist; and so are designed only for, and belong only to such Modes, as, when they do exist, have an exact conformity with those complex Ideas. The Ideas therefore of Modes and Relations, cannot but be adequate.” Essay II.31, § 14.
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einer Koexistenz ihrer Teilideen messen. Der Maßstab der Äquivalenz wird also durch ihre eigene Definition vorgegeben. Die vom Verstand produzierten Muster bleiben, so Kambartels Fazit, wirklichkeitsunabhängig, da der Verstand der Wirklichkeit, im Unterschied zur aristotelischen Konzeption, rein passiv gegenübersteht. An dem Versuch, Lockes Ideenlehre zu interpretieren, zeigt sich, dass die Vermittlung einzelner, sinnlich gegebener Ideen mit den allgemeinen Ideen ein Problem darstellt.39 Einfache Ideen müssen bereits als Produkte der Abstraktionstätigkeit des Verstandes aufgefasst werden und sind als solche mit der sinnlichen Unmittelbarkeit der Erfahrung unvereinbar. Gleichzeitig sind sie zunächst in Form besonderer, das heißt sinnlich-komplexer Ideen gegeben. Als solche bleiben sie jedoch unaussprechlich, da sie der unterscheidenden und abstrahierenden Tätigkeit des Verstandes erst bedürfen, um als einzelne Instanziierungen allgemeiner Eigenschaften aufgefasst werden zu können.40 Die Teilhabe allgemeiner Ideen an sinnlichen Ideenkomplexen könnte durch die Annahme eines Begriffsrealismus erklärt werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Muster, nach denen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten erfasst werden, als formale Bedingung ihrer Wahrnehmung auf der Seite des Verstandes vorauszusetzen und damit seine strukturierende Beteiligtheit zuzugestehen. Da sowohl ein ideenatomistisch 39 40
Dieser Versuch schließt sich an Kambartels kritische Analyse und damit auch an die traditionelle Lesart an. Vgl. dazu auch Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, S. 198f.: Auch Engfer weist auf die Ambiguität der Bestimmung der Erfahrungsbasis hin: Zum einen sei sie durch einfache Ideen charakterisiert, die bereits als Produkte der Abstraktion anzusehen seien, zum anderen sollen partikulare, das heißt komplexe Ideen am Anfang stehen, die der Abstraktionstätigkeit des Verstandes bedürfen, um überhaupt erkenntnisrelevant zu sein. In jedem Fall sei der (abstrahierende oder kombinierende) Verstand grundlegend an dem beteiligt, was empirische Erkenntnis darstellt. Selbst sinnliche Wahrnehmung sei bereits ein Akt des Bewusstseins, der Aufmerksamkeit und Unterscheidung erfordert, sonst könnte sie gar keine einfachen, das heißt klaren und distinkten Ideen erfassen. Vgl. S. 194.
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fundierter Begriffsrealismus als auch die Behauptung einer strukturellen Beteiligtheit des Verstandes an der Bildung einfacher Ideen der Abstraktion streng genommen nicht mehr eine Erklärung der Genese von Begriffen aus der Erfahrung darstellen, bleibt das Passungsverhältnis zwischen sinnlich gegebenen Ideen und den durch Abstraktion und Zusammensetzung gebildeten komplexen Ideen innerhalb der Lockeschen Theorie rätselhaft. Wenn dagegen Lockes Aussagen im Sinne einer strukturierenden Beteiligtheit des Verstandes an der Bildung von Ideen verstanden werden, erscheint die Adäquatheit der vom Verstand gebildeteten Ideen als eine selbstreferentielle. Es kann dann nicht mehr von einem Repräsentationsverhältnis zwischen den vom Verstand gebildeten und den in der Erfahrung gegebenen einfachen Ideen die Rede sein. Als Ergebnis dieser Überlegungen lässt sich festhalten: Wenn die Erfahrungsbasis durch einfache bzw. besondere, passiv gegebene Ideen ausgezeichnet sein soll, gerät ihre Vermittlung mit den durch den Verstand erfassten abstrakten bzw. den von ihm gebildeten allgemeinen Ideen zu einem Problem. Hans-Hermann Hoppe formuliert dies so: „An einem derart (bezogen auf das Vorherige: unmittelbar und einmalig, Anm. d. V.) Gegebenen hat der Verstand, ebenso wie Gedächtnis und Einbildungskraft, keinerlei Ansatzpunkt für seine Operationen, denn Einzelvorstellungen, die an nicht wiederholbaren Namen festgemacht sind, sind nicht auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin vergleichbar, sie sind vielmehr isolierte, beziehungslose Elemente. Die dem Verstand vom Empirismus zugedachte Funktion: zu reproduzieren, zu antizipieren und zu kombinieren kann von diesem auf der Basis des so Gegebenen nicht wahrgenommen werden.“41
Zu dieser Lesart Lockes, für die die kritische Analyse Kambartels als repräsentativ gelten kann, gibt es jedoch auch alternative Vorschläge, die von Locke beschriebene Erfahrungsbasis zu verstehen. So versucht beispielsweise Lorenz Krüger das Problem der Zweideutigkeit und gleich41
Hans-Hermann Hoppe: Handeln und Erkennen. Zur Kritik des Empirismus am Beispiel der Philosophie David Humes, S. 19.
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zeitigen Unbestimmtheit einer Erfahrungsbasis aufzulösen, welche zugleich aus besonderen (komplexen) und aus einfachen Ideen bestehen soll. Es ist das oben behandelte Problem, dass besondere, das heißt unmittelbar erfahrene unendlich komplexe Ideen, nicht benennbar sind, die Erfahrungsbasis also unbestimmt bliebe, einfache Ideen hingegen bereits Produkte der Abstraktion durch den Verstand und als solche nicht unmittelbar erfahren werden können. Dieses Problem versucht Krüger als ein nur scheinbares Problem aufzuklären, indem er beide Aspekte konkretisiert und ihre Vereinbarkeit und gleichzeitige Gebundenheit an die Verwendung sprachlicher Ausdrücke deutlich macht.42 Die Einfachheit der in der sinnlichen Erfahrung gegebenen Ideen ist Krüger zufolge als das Ergebnis der Abstraktionstätigkeit des Verstandes und insofern auch als eine sprachlich bestimmte aufzufassen. Es handelte sich dabei nicht um unanalysierbare Gegebenheitsatome. Lockes Aussage, dass der Verstand bei der Bildung abstrakter bzw. komplexer Ideen „nichts Neues macht“43, meine, dass die Abstraktion nicht völlig beliebig, sondern auf der Basis natürlich gegebener einheitlicher Erscheinungen geschieht.44 Die Einfachheit der passiv gegebenen Ideen sinnlicher Qualitäten, welche zugleich das Ergebnis von Abstraktion sein sollen, erkläre sich durch die Tatsache, dass die Abstraktion bei ihnen an ein Ende kommt, dass es sich um nicht mehr zerlegbare erfahrbare Einheiten handelt. Nicht die fehlende Analysierbarkeit bzw.
42
43 44
Vgl. Lorenz Krüger, Der Begriff des Empirismus, § 5. Krüger kündigt an: „Die beiden Aussagen Lockes, einfache Ideen seien passiv aus der Erfahrung abzulesen und sie seien vom Verstande durch Abstraktion erst herzustellen, sind nur dem Wortlaut nach unverträglich, bilden aber, was die gemeinte Sache angeht, keinen Widerspruch.“ Ebd., S. 26. Vgl. auch Krüger, War John Locke ein Empirist? Essay III.3, § 7. Vgl. Krüger, Der Begriff des Empirismus, S. 26ff. Vgl. zu den „einheitlichen einförmigen Erscheinungen“ Locke: “… simple ideas; which, being each in itself uncompounded, contains in it nothing but one uni form appearance, or conception in the mind, and is not distinguishable into different ideas.” Essay II.2, § 1.
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Unbestimmbarkeit mache ihre Einfachheit aus. In die Erfahrung einfacher Ideen sei zwar Abstraktionstätigkeit des Verstandes involviert, gleichwohl gehe sie aber mit einer Irreduzibilität und Unausweichlichkeit einher, insofern durch die sinnliche Wahrnehmbarkeit der Möglichkeit weiterer Unterscheidungen eine natürliche Grenze gesetzt ist. In diesem Sinne bleibe der Verstand passiv. Diese Passivität ist aber, so Krüger, mit der Verwendung sprachlicher Ausdrücke und somit mit der Aktivität des Verstandes durchaus vereinbar. Dies erkläre auch die nur scheinbare Inkonsistenz, dass einfache Ideen einerseits unabänderlich gegeben, andererseits jedoch, als abstrakte Ideen, vom Verstand gemacht sein sollen.45 Was das spezifische Moment der Passivität ausmacht, sei also die Tatsache, dass einfache Ideen, wie beispielsweise die Röte, nicht durch Beschreibung, das heißt mithilfe anderer sprachlicher Ausdrücke, sondern nur ostensiv eingeführt werden können. Eine Beschreibung (beispielsweise eine Spektralanalyse des auf der Netzhaut einfallenden Lichtes) könne die direkte Erfahrung zumindest der besonderen Ideen wie zum Beispiel der einer Person zwar teilweise ersetzen46, dennoch stelle die primäre Gegebenheit der Erfahrung eine notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit solcher ersetzenden Beschreibungen dar. Die Besonderheit und zugleich Einzelheit des sinnlich Gegebenen erklärt Krüger durch den „genetischen Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie“ – dadurch, dass zunächst immer sinnliche Ideenkomplexe in einmaligen Erfahrungssituationen gegeben sind. Doch auch die besonderen Ideen könnten nur insofern als einzelne gelten, als sie durch ihre 45 46
Vgl. Krüger, War John Locke ein Empirist?, S. 75ff. Ich kann jemandem erklären, dass Peter jene Person ist, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort geboren wurde und sich durch diese und jene Eigenschaften auszeichnet. Ich könnte aber, so Locke, einem Blinden nicht erklären, was rot ist, ohne dass dieser jemals die Möglichkeit hätte, einen Rot-Ton wahrzunehmen, wie ich es tue. Vgl. Locke, Essay II.4, § 4., III.4., § 7 und III.4., § 14. Für den Begriff der „ostensiven Definition“ beruft sich Krüger auf Bertrand Russell, Human Knowledge. Its Scope and Limits, Teil II, Kapitel 2.
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Benennung bereits für einzelne Gegenstände, Individuen oder Ereignisse stehen. Krüger zufolge zeichnet sich also auch die durch besondere Ideen charakterisierte Erfahrungsbasis nicht durch Einfachheit im Sinne einer Nichtanalysierbarkeit oder Unbestimmbarkeit aus. Locke würde gerade nicht komplexe Sinnesdaten, sondern vielmehr schon einzelne Gegenstände an den Anfang der Erfahrung setzen.47 „Wahrscheinlich machte ihm die Verfügbarkeit von Namen für sie dieses Vorgehen selbstverständlich.“48 Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke und die sinnliche Erfahrung von Einzelnem bzw. Besonderem lässt sich Krüger zufolge nur aus einer wechselseitigen Abhängigkeit erklären: Eine Erfahrungssituation könne nur insofern als einzelne gelten, als sie bereits an die Verwendung sprachlicher Ausdrücke geknüpft ist. Gleichzeitig könnten bestimmte basale sprachliche Ausdrücke nur in Abhängigkeit von unmittelbarer Erfahrung eingeführt werden. „Keine Bedeutung kann vermittelt werden, ohne daß zunächst in jeweils einzelnen Erfahrungssituationen mehr oder minder komplexe Eindrücke mit einem Wort verknüpft werden; in diesem Sinne wäre es möglich zu sagen, daß die Bedeutung eines einführenden Wortes der Basis anfänglich immer etwas Einzelnes, eine ‚particular idea’ sei.“49 „Besondere Ideen bzw. die Bedeutungen von Wörtern, die etwas Einzelnes bezeichnen, kommen notwendig bei der Entstehung jeder Sprache vor und sind darüberhinaus natürlich in jeder fertigen Sprache, wenn sie brauchbar sein soll, enthalten.“50
Mit dieser Präzisierung sowohl der Einfachheit als auch der Besonderheit bzw. Einzelheit sinnlich erfahrener Ideen gibt Krüger der üblichen Interpretation der sprachunabhängigen Gegebenheit einfacher Ideen
47
48 49 50
Gleichwohl bemerkt auch Krüger, „daß Locke selbst zwischen besonderen Ideen in diesem Sinne und den Ideen von besonderen Gegenständen, das heißt Individuen, nirgends sauber unterscheidet.“ Vgl. War John Locke ein Empirist?, S. 72f. Krüger, Der Begriff des Empirismus, S. 33. Ebd., S. 34. Krüger, War John Locke ein Empirist?, S. 78.
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eine andere Deutung. Mit Sprach- bzw. Urteilsunabhängigkeit sei nicht gemeint, dass die Verwendung sprachlicher Ausdrücke tatsächlich eine nur sekundäre Aktivität in Bezug auf das passive Empfangen einfacher Ideen in der sinnlichen Erfahrung darstellt, sondern viel spezifischer, dass sich Bezeichnungen für solche einfachen Ideen nur ostensiv, das heißt in direkter Abhängigkeit von sinnlicher Erfahrung definieren lassen. Die Basisideen müssten also nicht durch ein „psychologisierendes Postulat punktueller reiner Bewußtseinsinhalte, bloßer namenloser Sinnesdaten“51 interpretiert werden, vielmehr könnten sie in Verknüpfung mit sprachlichen Ausdrücken passive und aktive Momente in sich vereinen. Diese Interpretation steht in einem direkten Widerspruch zu der von Kambartel als zentraler Zug eines jeden empiristischen Ansatzes herausgestellten Behauptung einer prinzipiellen Abtrennbarkeit von unbeurteilter Wahrnehmung und deutendem Urteil. In Lockes Essay finden sich Äußerungen, die die sprachunabhängige Gegebenheit einfacher Ideen durch die Wahrnehmung nahe legen, ebenso wie sich bei ihm auch ein Psychologismus in der Charakterisierung der sinnlich gegebenen Ideen konstatieren lässt.52 Doch selbst wenn man die Sprachgebundenheit des Bezugs auf einfache Ideen zugesteht, stellt sich auch für Krügers Lesart die Frage, weshalb sinnlichen Ideen gerade Einzelheit zugeschrieben wird. Selbst wenn die Benennung von Erfahrungssituationen jeweils einzelne, unverwechselbare Erfahrungssituationen voraussetzt, kann die Benennung gleichwohl nur erfolgen, wenn Gleichartiges wahrgenommen und wiedererkannt wird. Es lässt sich also kritisch einwenden, dass auf der Ebene sinnlicher Wahrnehmung Gleich51 52
Krüger, Der Begriff des Empirismus, S. 35. Krüger führt denjenigen Aspekt von Lockes Theorie, der eine den Wahrnehmungsdaten gegenüber prinzipiell nachträgliche Aktivität des verarbeitenden Verstandes behauptet, auf eine nur naturphilosophische bzw. genetische Betrachtungsweise Lockes zurück. Diese würde gleichsam nur von außen betrachten, wie der Mensch zur Erkenntnis kommt, nicht aber, wie etwas für ihn überhaupt eine Erkenntnis sein kann.
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LOCKES KONZEPTION VON WAHRNEHMUNG UND ERFAHRUNG
artigkeit vorauszusetzen ist, und Einzelheit nur in gleichursprünglicher Abhängigkeit von Allgemeinheit durch die Verwendung sprachlicher Ausdrücke erklärt werden kann – wie Krüger dies auch tut.53 Das heißt, dass sich auch mit Krügers Lesart nicht plausibel machen lässt, inwiefern Einzelheit ein Spezifikum der Ebene sinnlicher Erfahrung darstellt. Ein solches Spezifikum kann sich nicht darin erschöpfen, dass einzelne Wahrnehmungsakte immer mit besonderen Umständen einhergehen. Dies lässt sich beispielsweise auch von einzelnen Urteilsakten sagen. Auch die im Kapitel II.1.2 erwähnte ontologische Erklärung, dass die wahrgenommenen Gegenstände einzelne Gegenstände in Raum und Zeit sind, ist insbesondere für einen erkenntnistheoretischen Ansatz nur insofern von Relevanz, als diese Einzelheit als solche auch wahrgenommen wird, also mit zum Gehalt der Wahrnehmung gehört. Ich habe mich in meiner Darstellung des Wahrnehmungs- und Erfahrungsbegriffs John Lockes auf eine traditionelle und eher problemorientierte Lesart bezogen, um die Konsequenzen der Charakterisierung einer sprachunabhängigen Erfahrungsbasis durch die Einzelheit einfacher bzw. besonderer Ideen zu diskutieren. Es ging mir dabei weniger um eine exegetisch-historische Lesart Lockes, als vielmehr um den systematischen Zusammenhang zwischen der Identifizierung sinnlicher Er-
53
Krügers Überlegungen weisen in eine ähnliche Richtung: Die durch ostensive Definition eingeführten Namen könnten, je nach der Art ihrer weiteren Verwendung, sowohl für einzelne Individuen bzw. Ereignisse als auch für allgemeine Eigenschaften stehen. Vgl. ebd., S. 34f. Denn auch allgemeine Ausdrücke („abstrakte Namen“) ließen sich zunächst nur anhand von einzelnen Beispielen und Gegenbeispielen einführen. Vgl. War John Locke ein Empirist?, S. 78. Es scheint sich also bei den Ideen der Basis eher um Quasiprädikate wie Quines mass termini zu handeln, die zunächst nur kontinuative Eigenschaften, also z.B. Zustände oder Situationen bezeichnen. Auf einer höheren Stufe des Spracherwerbs können sich daraus, je nach ihrer Verwendung in Sätzen, sowohl singuläre als auch allgemeine Termini entwickeln. Vgl. Williard v. O. Quine: Word and Object, §§ 17–20. Sowohl Eigennamen als auch Prädikate können, so Krüger, „ebensoviel bzw. ebenso wenig unmi ttelbare Beziehung auf die Erfahrungsbasis haben“. Der Begriff des Empirismus, S. 35.
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DIE EINFACHHEIT UND UNAUSSPRECHLICHKEIT DES SINNLICH GEGEBENEN
fahrung mit der Gegebenheit einfacher Ideen und der Problematik ihrer Vermittlung mit sprachlich konstituierten allgemeinen Ideen. Ich zeige in der Problemanalyse im Kapitel VI, dass die Projektion des logischen Wechselverhältnisses zwischen Einzelnem und Allgemeinem auf das kategoriale Wechselverhältnis zwischen sinnlicher Erfahrung und Urteilstätigkeit zu einem charakteristischen Vermittlungsproblem zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten führt. In der kritischen Lesart zeigt sich dieses Problem bei Locke, insofern die Einfachheit bzw. Besonderheit sinnlich gegebener Ideen eine unbestimmte Basis für die Abstraktionstätigkeit des Verstandes darstellt. Andererseits kann das Vermittlungsverhältnis durch diese Projektion auch logizistisch gedeutet werden, wie Krüger das vorschlägt – indem einzelne sinnliche Eindrücke als Instanziierungen allgemeiner Begriffe, das heißt bereits als sprachlich strukturierte Gehalte aufgefasst werden.54
54
„Logizistisch“ verwende ich in dem von Welsch erläuterten Sinne. Siehe Kapitel II.1.2, S. 41ff.
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Hume zu sinnlicher Wahrnehmung
II.3
II.3.1
Dreifache Unterscheidung von Perzeptionen Der Ausdruck perceive dient Hume als ein Sammelbegriff für alle möglichen intentionalen Verben – nicht nur Sehen, sondern beispielsweise auch Wünschen, Hassen, Lieben, Denken und Fühlen. Hume interpretiert jede Operation des Geistes als ein Wahrnehmen von Ideen oder Vorstellungen.1 In diesem weiteren Sinne verstanden, umfasst der Begriff der Wahrnehmung (perception) alle Operationen des Geistes, und umgekehrt sind alle Bewusstseinsinhalte Perzeptionen. Das heißt, dass auch für den Fall der ‚eigentlichen Wahrnehmung‘, also der Wahrnehmung im engeren Sinne, nicht äußere physische Gegenstände, sondern geistige Entitäten die Objekte der Wahrnehmung sind. Die Perzeptionen, oder genauer ihre möglichen Objekte, unterteilt Hume in Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas). Hume gebraucht den Begriff perception sowohl für den Inhalt oder die möglichen Objekte als auch für den eigentlichen Akt der Wahrnehmung. Die verschiedenen Objekte der Wahrnehmung werden dabei entsprechenden Arten, wahrzunehmen, zugeordnet. Eindrücke sind Objekte der sinnlichen Wahrnehmung, während Vorstellungen oder Ideen Objekte des Denkens bzw. der Einbildungskraft oder der Erinnerung sind. So führt die Wahrnehmung eines Windhauches (als zugehöriger Akt) zu einem Eindruck oder einer Empfindung, während die Erinnerung an diesen Windhauch bloß eine Vorstellung von der erlebten Empfindung ist. Eindrücke werden passiv empfangen und sind gekennzeichnet von
1
“He calls a perception whatever can be present to the mind, whether we employ our senses, or are actuated with passion, or exercise our thought and reflection.” David Hume, An Abstract of A Book lately Published; entituled, A Treatise of Human Nature &c. (im Folgenden: Abstract), S. 12 (Original 8).
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DREIFACHE UNTERSCHEIDUNG VON PERZEPTIONEN
Stärke, Unmittelbarkeit und Frische. Vorstellungen stellen nur einen matten Abglanz davon dar. An der Ausnahmslosigkeit dieser charakterisierenden Unterscheidung lässt Hume keinen Zweifel: Auch die stärkste und lebhafteste Vorstellung wird hinter dem schwächsten und mattesten Eindruck zurückstehen.2 Das Verhältnis zwischen Eindrücken und Vorstellungen ist ein Abbild- oder Repräsentationsverhältnis. Hume betont, „… that all our simple ideas proceed either mediately or immediately, from their correspondent impressions.“3 Die Immanenz der Erfahrung und die Exklusivität ihrer Quelle, der sinnlichen Wahrnehmung, drückt sich darin aus, dass alle Vorstellungen mittelbar oder unmittelbar aus ihnen entsprechenden Eindrücken hervorgehen. Im Unterschied zu Locke vertritt Hume keine Repräsentationstheorie im hergebrachten Sinne, da Ideen nicht äußere Gegenstände, wie bei Locke, sondern sinnliche Eindrücke repräsentieren. Hume hält die Frage nach der Entstehung der Eindrücke selbst für keinen geeigneten Gegenstand philosophischer Untersuchung. Darüber, so Hume, können wir nichts wissen.4 Neben der ersten Unterteilung in Eindrücke und Vorstellungen unterscheidet Hume auch zwischen einfachen und komplexen Bewusstseinsinhalten. Einfache Sinneseindrücke oder Vorstellungen sind „solche, welche keine Unterscheidung oder Trennung zulassen; von den zusammengesetzten gilt das Gegenteil; sie können in Teile zerlegt werden. Obgleich eine bestimmte Farbe, ein bestimmter Geschmack und Geruch Eigenschaften sind, die sich in diesem Apfel vereinen, so sieht man doch leicht, dass sie nicht dasselbe, sondern wenigstens voneinander unterscheidbar sind.“5 Einfache Sinneseindrücke sind also dadurch gekennzeichnet, dass ihre Eigenschaften sinnlich nicht unterschieden 2
3 4 5
“The most lively Thought is still inferior to the dullest Sensation.” Hume, Philosophical Essays Concerning Human Understanding (im Folgenden: Enquiry), II.1, S. 21f. David Hume, Treatise on Human Nature (im Folgenden: Treatise), S. 316. Enquiry V.2, S. 90f. Treatise I.1.1, S. 312.
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HUME ZU SINNLICHER WAHRNEHMUNG
bzw. voneinander getrennt werden können.6 Die sie repräsentierenden Vorstellungen sind ebenfalls einfach. Komplexe Bewusstseinsinhalte sind jene, an denen sich sinnlich verschiedene Eindrücke bzw. Vorstellungen noch unterscheiden oder auch abtrennen lassen. Das können sowohl sinnliche Eindrücke oder Folgen von Eindrücken als auch die von der Einbildungskraft oder dem Verstand zusammengesetzten Vorstellungen sein. Eine Sonderstellung nehmen allgemeine Vorstellungen ein. Nach Hume sind allgemeine Vorstellungen notwendig individuell bzw. partikular, das heißt stets Vorstellungen von einer bestimmten Quantität und Qualität. Hume zufolge ist ein allgemeines Merkmal von seinem jeweiligen Träger nicht abtrennbar. Ihrer Funktion nach sind diese Vorstellungen dagegen allgemein, da mit ihnen Vorstellungen ähnlicher Gegenstände assoziiert sind.7 Insofern dabei eine einzelne wiederholbare Eigenschaft fokussiert wird, sind diese Vorstellungen also zugleich einfache Vorstellungen. Allgemeine Vorstellungen sind nach Hume folglich gleichzeitig sinnlich-komplex als auch einfach.8 Humes dritte Unterscheidung besagt, dass Eindrücke entweder aus der sinnlichen Wahrnehmung (impressions of sensation) oder aus der reflexiven Selbstwahrnehmung (impressions of reflexion) entstammen. Sinnliche Wahrnehmungen beziehen sich auf äußere Objekte oder deren Eigenschaften. Reflexive Selbstwahrnehmungen hingegen beziehen sich auf Gefühlszustände und Affekte, wie zum Beispiel Furcht oder Freude. Sie werden im Deutschen eher als “Empfindungen“ bezeichnet. Ähnlich wie bei Locke liefern also sinnliche und reflexive Eindrücke die 6 7
8
Vgl. dazu Streminger in: Streminger/Ernst Topitsch, Hume, S. 65. “Abstract ideas are therefore in themselves individual, however they may become general in their representation.” Treatise I.1.7, S. 327f. “This then is the nature of our abstract ideas and general terms; and ’tis after this manner we account for the foregoing paradox, that some ideas are particular in their nature, but general in their representation.” Treatise I.1.7, S. 330. Sie entsprechen demnach weniger den Lockeschen abstrakten Ideen als vielmehr den von Locke beschriebenen partikulären Ideen, die ebenfalls sinnlich komplex, aber zugleich sinnlich unzerlegbar und insofern einfach sind. Vgl. Streminger, a. a. O., S. 65.
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DIE ATOMISIERUNG DER BEWUSSTSEINSGEGENSTÄNDE
möglichen Inhalte von Vorstellungen, das heißt alle Ideen, die der menschliche Geist überhaupt zu fassen vermag: „Nur zu verbinden, zu trennen und mannigfach umzustellen vermag unser Geist seine Ideen, aber er ist unvermögend, aus eigener Kraft auch nur eine einzige spontan hervorzubringen.“9
Sinnliche Eindrücke sind den Eindrücken der Selbstwahrnehmung dabei prinzipiell vorangestellt, da sich aus ihnen Eindrücke der Lust oder Unlust und infolge dieser andere Affekte und Vorstellungen erst ergeben.10 Es gibt also nach Hume keinen geistigen Vorgang, ohne dass es Eindrücke der Sinneswahrnehmung gibt oder gab.11 Sinneseindrücke sind das erste Material, aus dem der menschliche Verstand schöpfen kann, um komplexe Vorstellungen und Gedanken zu bilden. II.3.2
Die Atomisierung der Bewusstseinsgegenstände Hume geht zunächst von der Grundannahme aus, dass alle Gegenstände in der Natur individuell und einzeln sind: „’tis a principle generally receiv’d in philosophy, that everything in nature is individual“, schreibt Hume in seinem Treatise of Human Nature12; „… everything, that exists, is particular“, heißt es in seinem Abstract.13 Einzeln im Sinne einer individuellen Ausprägung sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften sind aber nicht allein – in ontologischem Sinne – äußere Gegenstände, sondern zuallererst – in erkenntnistheoretischem Sinne – die Eindrücke und Vorstellungen, vermittels derer wir solche Gegenstände erst erkennen oder konstruieren. Hume vertritt, wie auch Locke, einen Ideenatomismus, der im Folgenden näher betrachtet werden soll.
9 10
11 12 13
Ebd., S. 137. Vgl. Enquiry II, S. 23f. “So that the impressions of reflexion are only antecedent to their correspondent ideas; but posterior to those of sensation, and deriv’d from them.” Treatise I.1.2, S. 317. Vgl. Barry Stroud, Hume, S. 22. Treatise I.1.7, S. 327. Abstract, S. 46 (Original 25).
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HUME ZU SINNLICHER WAHRNEHMUNG
“We know nothing but particular qualities and perceptions. As our idea of any body, a peach, for instance, is only that of a particular taste, colour, figure, size, consistence, etc.”14
Einzelne Ideen treten in der Wahrnehmung stets in Ideenkomplexen auf. Sinnliche Eindrücke werden also nicht nur durch Einzelheit, sondern gleichzeitig auch durch Partikularität, das heißt durch die Komplexität von Eigenschaften charakterisiert – welche gleichwohl als Nichtabtrennbarkeit dieser Eigenschaften zu verstehen ist. Man könnte also geneigt sein, Einzelheit mit der Partikularität, mit der Unverwechselbarkeit eines bestimmten Komplexes sinnlicher Ideen (wie der Apfel, den ich gerade sehe), zu identifizieren und zu erklären. Dass unsere ersten Vorstellungen von äußeren Gegenständen partikulär sind und dass uns auch abstrakte Ideen nur anhand von partikulären Beispielen verständlich sein können, ist zunächst nicht überraschend. Schließlich machen wir uns auf genau diese Weise klar, was ein Stuhl oder rot zu sein heißt: durch Beispiele für diese Begriffe. Eine solche Partikularität kann aber nur den Charakter von Ideenkomplexen erklären, nicht die Einzelheit einfachster Eindrücke und Vorstellungen. Das, wovon nun Einzelheit ausgesagt wird, nämlich Bewusstseinsinhalte überhaupt, das heißt zunächst jede mögliche sinnliche Qualität, ist weder ein physischer Gegenstand noch ein Beispiel für eine allgemeine oder abstrakte Eigenschaft, sondern etwas noch grundlegenderes oder einfacheres. Hier stellt sich die Frage, was solche Einzelheit von sinnlichen Qualitäten eigentlich begründet. Humes Erklärung lautet, dass es sich bei einfachen Ideen um kleinste unteilbare und sinnliche unterscheidbare Einheiten handelt. Ein Pfirsich stellt eine partikuläre Idee als Komplex verschiedener Ideen dar: Wir können an ihm Farbe, Form, Geschmack und Geruch unterscheiden. Dass aber solche Teilung nicht bis ins Unendliche fortgesetzt werden kann, garantiert das Kriterium der Unterscheidbarkeit. Wann immer bestimmte Qualitäten sinnlich unterschieden werden kön14
Abstract, S. 46 (Original 25).
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DIE ATOMISIERUNG DER BEWUSSTSEINSGEGENSTÄNDE
nen, lassen sich diese als voneinander unabhängige Entitäten (ideas) erfassen: „all ideas, which are different, are separable … as well as distinguishable“15. Teile eines winzigen Sandkornes wären für das menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar.16 Daher ist auch die unendliche Teilbarkeit physikalischer Körper nur behauptbar, aber nicht vorstellbar, und damit nicht existent.17 Gleichzeitig handelt es sich bei der Annahme kleinster sinnlich unterscheidbarer Einheiten um die Annahme einer Analogie zwischen sinnlich wahrnehmbaren und physikalischen Eigenschaften äußerer Gegenstände. Sie reicht, wie schon gesagt, über die oben genannte Partikularität von Ideenkomplexen hinaus. Es handelt sich dabei um die Vorstellung kleinster, unteilbarer Atome, wie sie in der Korpuskulartheorie konzipiert werden, die bereits durch Locke von Gassendi übernommen wurde.18 Analog zu den kleinsten unteilbaren und bewegten Einheiten, die die physikalischen Körper bilden, werden nun Sinneseindrücke verstanden, als kleinste qualitativ unterscheidbare Einheiten, aus denen sinnlich wahrgenommene Objekte zusammengesetzt sind. “That compound impression, which represents extension, consists of several lesser impressions, that are indivisible to the eye or feeling, and may be call’d impressions of atoms or corpuscles endow’d with colour and solidity”.19
Zimmermann führt diese These auf ein „atomar-ontologisches Paradigma“ zurück20, von dem ausgehend ein „atomistisch rein Rezipiertes“ 15 16
17 18 19 20
Treatise I.1.7, S. 332. “But whatever we may imagine of the thing, the idea of a grain of sand is not distinguishable, nor separable into twenty, much less into a thousand, ten thousand or an infinite number of different ideas”. Treatise I.2.1, S. 335. Vgl. Treatise I.2.1, S. 334f. Vgl. Gustav Klemmt, John Locke. Theoretische Philosophie, S. 324. Treatise I.2.3, S. 345. Vgl. Willi Zimmermann, Vom Bewusstsein zum Diskurs, S. 293f. FN81, sowie S. 296. Zimmermann verweist auf eine Reihe einschlägiger Interpretationen der Humeschen Eindrücke und Vorstellungen als logisch-atomistischer Einheiten.
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HUME ZU SINNLICHER WAHRNEHMUNG
den status naturalis als Legitimation der Erkenntnis ausdrückt. „In diesem status naturalis stecke nun die Vorstellung vom ‚Mythos des Gegebenen‘“. Das heißt, dass sich die durch Einzelheit auszeichnende sinnliche Erfahrung als nichtinferentielle, das heißt auch sprachunabhängig gewonnene Erfahrung auszeichnen lässt. Diese partikulären, zunächst unzusammenhängenden Gegebeneinheitseinheiten sollen die Basis sein, auf die sich Erkenntnis zurückführen lasse.21 Einzelne Sinneseindrücke erzeugen einzelne und gesonderte Vorstellungen, die wiederum nach Belieben getrennt und zusammengesetzt werden können. Auch Vorstellungen, als Abbilder von ursprünglichen Wahrnehmungen und Empfindungen, erben deren ontologisch-atomaren Charakter. „This however is certain, that we can form ideas, which shall be no greater than the smallest atom of the animal spirits …“.22 Ebenso wie die ersten Eindrücke einfach und unteilbar sind, sind es auch die ihnen entsprechenden Vorstellungen. Komplexe Vorstellungen können wieder in einfache zerlegt werden, und das Kriterium der Trennbarkeit ist ihre sinnliche Unterscheidbarkeit: „What consists of parts is distinguishable into them, and what is distinguishable is separable.“23 Die Einzelheit der Eindrücke und Vorstellungen ist an ihre Unterscheidbarkeit und Abtrennbarkeit geknüpft. II.3.3
Die Verknüpfung der Vorstellungen Gedanken und Vorstellungen lassen sich Hume zufolge in einfache Vorstellungen zergliedern, einfache Vorstellungen wiederum sind Abbilder
21
22 23
Zimmermann, a. a. O., S. 197. Vgl. zur kritischen Verwendung des Begriffs des „Mythos des Gegebenen“ Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel IV, § 26. Mit dem Mythos des Gegebenen schreibt Zimmermann Hume gleichzeitig das zweite Dogma des Empirismus im Sinne Quines zu, dass nämlich Erkenntnis sich auf eine Basis aus unteilbar Einfachem zurückführen lasse. Vgl. dazu auch Herbert Schnädelbach, Erfahrung, Begründung und Reflexion. Versuch über den Positivismus, S. 28. Treatise I.1.7, S. 336. Treatise I.2.1, S. 335.
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DIE VERKNÜPFUNG DER VORSTELLUNGEN
ursprünglicher Empfindungen oder Eindrücke.24 Sowohl sinnliche Eindrücke als auch die ihnen entsprechenden Vorstellungen sind demnach flüchtig und vereinzelt.25 “All Events seem entirely loose and separate. One Event follows another; but we never can observe any Tye betwixt them: They seem conjoin’d, but never connected.” 26
Die Verknüpftheit dieser Eindrücke wird nicht durch sie verursachende äußere Objekte, sondern durch Prinzipien des Verstandes, das heißt durch allgemein gültige Assoziationsprinzipien erklärt. Dazu gehören die Ähnlichkeit, das Kontiguitätsprinzip (Berührung in Raum und Zeit) und das Kausalitätsprinzip. Nach diesen Prinzipien sind sowohl Eindrücke und Vorstellungen untereinander, als auch Eindrücke mit Vorstellungen verknüpft. Die Verknüpfung der Eindrücke und Vorstellungen kann entweder passiv in der Wahrnehmung gegeben sein, oder aber durch eine Aktivität des Verstandes vollzogen werden. Eine solche Aktivität liegt bereits in der Verknüpfung von Vorstellungen in der Erinnerung und in der Einbildungskraft, der auch die Vernunft zugeordnet wird. Hume thematisiert außer den „natürlichen Relationen“ noch die „philosophischen Relationen“, welche außer den drei genannten Prinzipien noch weitere umfassen, wie das Prinzip der Identität, der Quantität, Grade einer Eigenschaft und das Prinzip des Widerspruchs. Philosophische Relationen werden aktiv hergestellt, wohingegen natürliche Relationen sowohl passiv als auch aktiv gegeben sind. Hume leugnet also nicht, dass bereits mit der sinnlichen Erfahrung Ähnlichkeit und Kontiguität gegeben sind, dass Eindrücke in einer losen, zum Beispiel raumzeitlichen Verknüpftheit auftreten. Dort allerdings, wo die Verknüpftheit keine
24
25 26
“When we analyse our Thoughts or Ideas, however compounded or sublime, we always find, that they resolve themselves into such simple Ideas as were copy’d from a precedent Feeling or Sentiment.” Enquiry II, S. 24. “Ideas entirely loose and unconnected”, Treatise I.1.4, S. 319. Enquiry V.2, S. 120.
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HUME ZU SINNLICHER WAHRNEHMUNG
bloß zufällige oder kontingente ist, sondern mit Notwendigkeit verbunden ist, lässt sie sich nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung ableiten. Hier wird die Einbildungskraft tätig. Während also die Verknüpfung von Wahrnehmungsgegenständen in passiver Weise gegeben ist, handelt es sich bei der assoziativen Anordnung von Vorstellungen um eine aktive Trennung, Vergleichung und Zusammensetzung. Sie unterliegt dem Vermögen der Einbildungskraft oder Imagination. Die notwendige Verknüpftheit der Vorstellungen stellt nicht einfach eine Repräsentation natürlicher Ideenkomplexe dar. Aus der bloßen raumzeitlichen Abfolge bestimmter Ereignisse zum Beispiel lässt sich nicht ableiten, dass diese in notwendiger Weise, das heißt auch in Zukunft so verknüpft sein werden. Auffällig ist, dass Hume die Prinzipien der Assoziation weitgehend als Prinzipien der Verknüpfung von Vorstellungen oder Gedanken beschreibt. Sie werden damit vornehmlich der Sphäre des aktiven Verstandes zugeordnet. 27 Im Folgenden geht es mir darum, inwiefern die Wahrnehmbarkeit sinnlicher Einzeldaten gegenüber der passiven oder aktiven Assoziation von Eindrücken grundlegend und von ihr unabhängig ist. Diese Unabhängigkeit soll anhand von Humes Äußerungen zur Ähnlichkeit erläutert werden. Nach Hume ist bereits mit den ersten Eindrücken und Vorstellungen Ähnlichkeit gegeben. Dennoch ist sie hier nur kontingent und nicht notwendig mit der sinnlichen Unterscheidbarkeit einzelner Eindrücke verbunden. Hume bringt ein Beispiel für das Primat 27
Vgl. dazu Zimmermann: „Diese Verbindungen zwischen Vorstellungen werden, auf der logischen Ebene, durch Prinzipien gemacht; diese werden durch die Assoziationstheorie von Hume dargelegt und gehören in die Dimension des aktiven Verstandes.“ A. a. O., S. 303f. Diese Assoziiertheit der Ereignisse kann allerdings auch passiv empfunden werden. Assoziation ist dann eher als ein Mechanismus bzw. als eine Gewohnheit zu verstehen, der unbewusst abläuft. Gleichwohl ist er nicht unabhängig von jeglicher Urteils- und Assoziationstätigkeit, sondern vielmehr als das Ergebnis von Assoziationstätigkeit zu verstehen. Diese Gewohnheit führt zu Wahrnehmungsüberzeugungen (beliefs), welche von Hume dem Glauben zugeordnet werden, das heißt beispielsweise nicht notwendig widerspruchsfrei sind. Vgl. den folgenden Abschnitt.
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DIE VERKNÜPFUNG DER VORSTELLUNGEN
distinkter konkreter Wahrnehmungen: Die Schattierungen der Farben sind unendlich und gehen ineinander über. Wenn jede einzelne Schattierung nicht unterschieden von der nächsten wäre, so dass ihr eine gesonderte, „von den übrigen unabhängige“ Vorstellung zukäme, lässt sich auch nicht begründet der Unterschied von der nächsten und der entferntesten behaupten, und das wäre unsinnig.28 Entscheidend ist Humes Zusatz „unabhängig“, der deutlich macht, dass die Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Farbtönen lediglich eine sekundäre ist. Die Wahrnehmung einer einzelnen Farbqualität ist somit unabhängig von der Wahrnehmung eines gemeinsamen Strukturmerkmals. Wenn wir sagen, dass wir einen „Rot-Ton“ wahrnehmen, wäre damit ein solches Strukturmerkmal ausgedrückt; diese Wahrnehmung setzt die Wahrnehmung einer übergreifenden Qualität (rot) voraus. Hume hingegen konzipiert das Erfassen eines solchen Merkmals, das die Ähnlichkeit ausmacht, als eine sekundäre Aktivität des Verstandes. Nicht nur, dass es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung eines einzelnen Sinnesdatums und der Erfassung allgemeiner Eigenschaften durch die Verstandestätigkeit, beispielsweise die Abstraktionstätigkeit, gibt; es gibt auch keinen notwendigen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung ursprünglich-einzelner Eindrücke und der Wahrnehmung übergreifender Qualitäten. Letztere ist vielmehr ein Begleitumstand, der kontingenterweise gegeben ist. In Humes Erkenntnistheorie ist die Wahrnehmung des Einzeldatums primär und unabhängig von den anderen. Dass Eindrücke in einer zeitlichen Folge und räumlichen Anordnung erscheinen, bedeutet weder, dass sie eines Bewusstseins dieser Folge und Anordnung bedürfen, um überhaupt als solche wahrgenommen werden zu können. Denn die primären Gegenstände der Wahr-
28
Enquiry II, S. 26. Das gleiche Argument bringt Hume im Treatise: “Now if this be true of different colours, it must be no less so of the different shades of the same colour, that each of them produces a distinct idea, independent of the rest.” I.1.1, S. 315.
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HUME ZU SINNLICHER WAHRNEHMUNG
nehmung sind singuläre Ereignisse (impressions), die unabhängig von ihrer Verknüpftheit gegeben sind. Noch bedeutet es, dass der Verstand aufgrund der bloßen Tatsache einer bestimmten Wahrnehmungsabfolge von einem notwendigen Zusammenhang ausgehen kann. Besonders deutlich wird dies am Prinzip der Kausalität, dem Hume längere Überlegungen widmet. Kausalität, so betont Hume, kann nicht aus der wiederholten Beobachtung einer bestimmten Abfolge von Ereignissen abgeleitet werden, denn sie könnte stets eine nur zufällige Verknüpfung sein. Sie wird vielmehr vom Verstand auf die beobachteten Ereignisse projiziert, wenn er das Eintreten einer gewohnten Wirkung oder Folge erwartet. Dies macht Hume auch anhand einer sprachlichen Unterscheidung, zwischen to conjoin und to connect, deutlich: “The first time a man saw the communication of motion by impulse, as by the shock of two billard-balls, he could not pronounce that the one effect was connected; but only that it was conjoin’d, with the other. After he has observ’d several instances of this nature, he then pronounces them to be connected.”29
Die Fähigkeit, welche notwendige Verknüpfungen zwischen den Vorstellungen herstellt, wird von Hume in einem Bereich lokalisiert, der zwischen der passiven Aufnahme einer Abfolge von Ereignissen und der sicheren Erkenntnis eines notwendigen Zusammenhanges durch die Vernunft liegt: die durch die Einbildungskraft assoziierten Verknüpfungen. Hume ordnet diese Assoziationstätigkeit der Kategorie des Glaubens (belief) oder Gefühls (feeling) zu.30 “This Connexion, therefore, which we feel in the Mind, or customary Transition of the Imagination from one Object to its usual Attendant, is the only Sentiment or Impression, from which we form the Idea of Power 29 30
Enquiry VII, S. 122f. Er nennt sie auch „Gewohnheit oder Übung“. “Reason can never satisfy us that the existence of any one object does ever imply that of another; so that when we pass from the impression of one to the idea or belief of another, we are not determin’d by reason, but by custom or a principle of association. But belief is somewhat more than a simple idea.” Treatise I.3.7, S. 397.
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DIE VERKNÜPFUNG DER VORSTELLUNGEN
or necessary Connexion. … When, therefore, we say, that one Object is connected with another, we mean only, that they have acquir’d a Connexion in our Thoughts, and give rise to this Inference, by which they become Proofs of each other’s Existence.”31
Die Bildung von Assoziationen bewirkt eine Geneigtheit, diese oder jene Verknüpfung von Ereignissen zu erwarten. Sie stellt keine Vernunftidee dar, da sie Assoziationen nicht nach der Maßgabe der Widerspruchsfreiheit konzipiert. Zudem ist die Widerlegung eines angenommenen kausalen Zusammenhangs durch die Erfahrung jederzeit möglich. Die „eingebildete“ und „gefühlte“ Assoziation von Vorstellungen ist dennoch kein passiv gewonnener Eindruck. Hume spricht zwar davon, dass aufgrund von Gewohnheit der Glaube an die Gesetzmäßigkeit eines bestimmten Zusammenhanges entsteht. Diese Annahme besteht aber nicht in der bloßen Übertragung von wahrgenommenen Verknüpfungen auf das in der Zukunft Erwartbare. Es liegt vielmehr ein aktives Moment in der Herstellung einer solchen Verbindung.32 Konstituierend für die Annahme eines kausalen Zusammenhangs ist eine Art „Glaube“. Dieser Glaube lässt sich nicht allein aus den Wahrnehmungen ableiten. Eine solche Instanz von aus der Gewohnheit gewonnenen Überzeugungen (beliefs) ist zugleich die Erklärung dafür, dass auch ein kausaler Zusammenhang passiv gegeben sein kann. Passiv bedeutet hier also nicht: gänzlich unabhängig von jeder Assoziationstätigkeit, sondern vielmehr: unabhängig von aktueller Assoziationstätigkeit. Obwohl mit der Kennzeichnung einer Ebene zwischen bloßer Wahrnehmung und Vernunfterkenntnis eine Vermittlungsinstanz einbezogen zu sein scheint, gibt es zwischen allen drei Arten des Erfassens von Eindrücken oder Ideen eine prinzipielle Unabhängigkeit. Wahr31 32
Enquiry VII, S. 122f. “The presence of this visible object, and the constant conjunction of that particular effect, render the idea different to the feeling from those loose ideas, which come into the mind without any introduction.” Abstract, S. 32f. (Original 18f.)
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HUME ZU SINNLICHER WAHRNEHMUNG
nehmung und Assoziationstätigkeit unterscheiden sich kategorial darin, dass Wahrnehmung dem Prinzip der Passivität zugeordnet und Assoziationstätigkeit auf eine Aktivität der Einbildungskraft zurückzuführen ist, auch wenn diese Aktivität sich passiv als eine (Wahrnehmungs-)gewohnheit äußern kann. Sie unterscheiden sich außerdem darin, dass sinnlich wahrgenommene Verknüpftheiten von Hume als zufällig und lose, die durch Einbildung assoziierten hingegen erst als notwendige charakterisiert sind. Beiden gemeinsam ist eine Art Eindrucks- oder Gefühlscharakter; gleichwohl lässt sich aufgrund der prinzipiellen Unabhängigkeit nicht sagen, dass die Assoziationstätigkeit aus der Wahrnehmung schöpfte. Assoziation und Vernunfterkenntnis unterscheiden sich wiederum darin, dass die assoziative Verknüpfung von Vorstellungen nicht den Prinzipien der Widerspruchsfreiheit und strengen Notwendigkeit wie beispielsweise in mathematischen Erkenntnissen unterliegt. In der Erfahrung dagegen können als notwendig angenommene Verbindungen, wie die Annahme, dass auf jeden Blitz ein Donner folgt, jederzeit widerlegt werden. Erst auf der Ebene der Vernunfterkenntnis kann von notwendigen, nicht mehr widerlegbaren Verbindungen die Rede sein. Aus den für unsere Erfahrung relevanten und unentbehrlichen Assoziationen ist keine Ableitung fundierter Erkenntnis oder sicheren Wissens möglich. Aufgrund der Unabhängigkeit der Anwendung der Assoziationsprinzipien tritt der Verstand auch bei Hume gleichsam von außen an das Material der Erfahrung heran. Die ihm damit zugesprochene Freiheit birgt zugleich ein skeptizistisches Potential, das sich in der fehlenden letzten Sicherheit ausdrückt, ob die aus der Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse allgemein, das heißt auch zukünftig gültig sind. Humes skeptischer Zweifel drückt sich zunächst in der These aus, dass der menschliche Verstand immer nur Perzeptionen und Beziehungen zwischen Perzeptionen, nicht aber Gegenstände oder Beziehungen zwischen Gegenständen erfassen kann. Es ist demnach ebenso unsicher, ob ein Gegenstand über eine gewisse Zeit (in der er nicht wahrgenommen wird) fortdauert und mit sich identisch ist, wie es unsicher ist, in wel-
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DIE VERKNÜPFUNG DER VORSTELLUNGEN
chen räumlichen Beziehungen er zu anderen Gegenständen tatsächlich steht. Gewiss können nur die sinnlichen Perzeptionen in ihrer Einzelheit sein.33 Dort, wo die Einbildungskraft aktiv wird und Assoziationen zwischen Perzeptionen herstellt, kann es keine Gewissheit geben, ob diese Verknüpfungen zwischen Gegenständen wirklich bestehen und durch künftige Erfahrung bestätigt werden. Diese Gewissheit fehlt auch, wenn Vorstellungen demonstrativ verglichen werden, da es nach Hume offen bleibt, ob diesen Vorstellungen tatsächlich etwas in der Welt entspricht. Es kann also nur von Relationen zwischen Vorstellungen bzw. Ideen ausgegangen werden. Das heißt, dass die festgestellte fehlende Ableitbarkeit der Vorstellungsverknüpfungen aus der Wahrnehmung sich auch im skeptischen Zweifel Humes ausdrückt. Dieser skeptische Zweifel wird nur durch die Annahme gelöst, dass es eine prästabilierte Harmonie zwischen unseren Assoziationen und dem tatsächlichen Ablauf der Erfahrung gibt.34 Doch auch diese Annahme kann sich nur auf Erfahrung stützen, welche weitgehend die durch uns erkannten Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten bestätigt. Sie kann nicht aus etwas anderem abgeleitet werden und heißt deshalb auch skeptische Lösung der Zweifel. Gäbe es eine notwendige Verbindung zwischen den Verknüpfungen von Eindrücken und den Verknüpfungen von Vorstellungen durch den Verstand, müsste nicht zusätzlich noch eine Harmonie zwischen beiden angenommen werden.
33
34
“The only existences, of which we are certain, are perceptions, which being immediately present to us by consciousness, command our strongest assent, and are the first foundation of all our conclusions. … But as no beings are ever present to the mind but perceptions; it follows that we may observe a conjunction or a relation of cause and effect between different perceptions, but can never observe it between perceptions and objects.” Treatise I.4.2, S. 499f. “Let it be taken for granted, that our perceptions are broken, and interrupted, and however like, are still different from each other; and let any one upon this supposition show why the fancy, directly and immediately, proceeds to the belief of another existence, resembling these perceptions in their nature, but yet continu’d, and uninterrupted, and identical”. Ebd., S. 500. Enquiry V.2, S. 90f.
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HUME ZU SINNLICHER WAHRNEHMUNG
II.3.4
Fazit zu Hume und Vergleich mit Locke Während es bei Locke eine teilweise Deckung des Wahrnehmungs- und Erfahrungsbegriffes gibt, macht Hume eine grundlegende Differenz zwischen beiden Bereichen deutlich: Erfahrung wird durch die genannten Assoziationsprinzipien konstituiert. Erst mittels dieser Prinzipien, insbesondere durch die Anwendung des Kausalitätsprinzips, wird der Fluss der Erscheinungen strukturiert. Die Erwartung des Eintretens eines gleichartigen Ereignisses infolge einer Ursache, die einer bereits beobachteten Folge von Ereignissen gleicht, macht Erfahrung aus. Wahrgenommen werden die Ereignisse jedoch zunächst als unzusammenhängende. Die Herstellung notwendiger Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen ist eine Leistung des Verstandes bzw. der Einbildungskraft; sie lässt sich nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung ableiten. Ähnlich wie bei Locke ist die Wahrnehmung erster und einfacher Ideen möglich, noch bevor der Verstand jene für die Erfahrung relevanten Verknüpfungen zwischen ihnen hergestellt hat. Die Anordnung, Verknüpfung und Gliederung stellt eine der Wahrnehmung nachgeordnete Funktion des Geistes dar. Es sind einzelne Eindrücke, die den ersten Stoff für die Weiterverarbeitung durch den Geist liefern. Wir haben es damit auch bei Hume mit der Konzeption einer reinen „Datenerfahrung“ zu tun, die nach Kambartel Erfahrung als „reines Datum des Bewußtseins, als selbst begriffsfreie Basis aller Konstruktion von Unterscheidungssystemen“35 auffasst. Bei Locke schwankt der Erfahrungsbegriff zwischen begriffsfreier Datenerfahrung, der Wahrnehmung, und der Erfahrung als Deutung und Ordnung des unmittelbar Gegebenen. Hume hingegen versteht Erfahrung ausschließlich im Sinne einer Strukturierung des sinnlich Gegebenen, und sein Begriff sinnlicher Wahrnehmung entspricht dem, was unter Lockes Erfahrungsbegriff in der ersten Deutung fällt. Sowohl Locke als auch Hume konzipieren einzelne Gegebenheitsatome als Objekte der Wahrnehmung. Bei Locke sind es die einfachen
35
Kambartel, a. a. O., S. 19.
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FAZIT ZU HUME UND VERGLEICH MIT LOCKE
Ideen, bei Hume die ersten Eindrücke und als Repräsentationen derselben die einfachen Vorstellungen. Die Charakterisierung der Gegenstände sinnlicher Erfahrung als einzelner lässt sich bei Hume in Gestalt eines erkenntnistheoretisch gedeuteten atomar-ontologischen Paradigmas darstellen. Ebenso wie Locke scheint auch Hume einen Ansatz zu vertreten, demzufolge einfache Ideen undefinierbar sind.36 Das heißt, dass sie nur durch Hinweis, nicht durch sprachliche Beschreibungen eingeführt werden können, was man mit Krüger37 wie schon bei Locke als eine Rechtfertigung ihrer Charakterisierung durch Einfachheit ansehen könnte. Demnach müsste Einfachheit nicht im Sinne einer sprachlichen Nichtanalysierbarkeit und Unbestimmtheit, sondern im Sinne einer Nichtreduzierbarkeit der Erfahrung für die hinweisende Definition, das heißt im Sinne einer notwendigen ursprünglichen Verknüpftheit sinnlicher Erfahrung und sprachlicher Bezeichung verstanden werden.38 Gleichwohl stellt sich auch in Bezug auf Hume die Frage, weshalb sinnliche Erfahrung, wenn ihre Einfachheit mit der hinweisenden Einführung sprachlicher Bezeichnungen verbunden wird, überhaupt durch Einfachheit bzw. logische Einzelheit und nicht gleichzeitig schon durch Allgemeinheit bzw. durch eine beiden logischen Kategorien vorausliegende sinnliche Gleichartigkeit charakterisiert wird. Auf diese Probleme komme ich im Kapitel VI zu sprechen und formuliere anschließend einen Lösungsvorschlag.
36
37 38
“To give a child an idea of scarlet or orange, of sweet or bitter, I present the objects, or in other words, convey to him these impressions”. Treatise I.1.1, S. 314. Vgl. Krüger, a. a. O., S. 33. Vgl. dazu S. 67ff. Streminger sieht eben jene Nichtdefinierbarkeit einfacher sinnlicher Eindrücke als ein Problem an. Vgl. Gerhard Streminger, Ernst Topitsch, Hume, S. 64.
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Berkeleys sensibilia
II.4
II.4.1
Vorbemerkung Berkeleys Werk steht historisch zwischen denjenigen Lockes und Humes. Berkeleys früher Aufsatz An Essay towards a New Theory of Vision wurde 1709 veröffentlicht, im folgenden Jahr sein Treatise concerning the Principles of Human Knowledge. 30 Jahre später erschien Humes Treatise of Human Nature. Ich stelle die Betrachtung von Berkeleys Ansatz aber an dritte Stelle, da er viele der Thesen, die auch Hume vertritt, eher anreißt oder pointiert als zu einem System ausbaut. Die Stoßrichtung von Berkeleys Philosophie besteht in der radikalen Kritik einer Metaphysik materieller Substanzen. Daher sind Einzelheiten eines Wahrnehmungsbegriffs bei Berkeley systematisch weniger entwickelt. Gleichwohl sind die für diese Untersuchung relevanten Punkte in exemplarischer Weise auch von ihm behandelt und sollen daher in diese Darstellung aufgenommen sein. Ich führe Berkeleys zentrale Argumente umrisshaft ein, um anschließend seine Aussagen zur Wahrnehmung und zur Bildung allgemeiner Begriffe auszuwerten.
II.4.2
Der Sensualismus Berkeleys Auch Berkeley vertritt die Ansicht, dass nicht äußere Gegenstände, sondern allein Ideen (ideas) Gegenstände der Wahrnehmung sind. Da seine Hauptthese lautet, dass das Sein einer Idee in ihrem Wahrgenommen-Werden besteht1, heißt die Erfassung aller möglichen Ideen, ebenso wie bei Hume, Wahrnehmung (perception). Gegenstände der Wahrnehmung können zum einen sinnlich gewonnene Ideen (sensations) und zum zweiten reflexiv gewonnene Ideen (reflections) sein. Eine
1
„Esse est percipi“. George Berkeley, A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge, § 3 (“Principles of Human Knowledge”).
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DER SENSUALISMUS BERKELEYS
dritte Art von Ideen wird durch das Gedächtnis oder die Einbildungskraft selbst gebildet. Mehr noch als Locke ist Berkeley Sensualist. Er folgt mit größerer Konsequenz dem empiristischen Grundprinzip, allein vom Erfahrbaren auszugehen. Berkeley weist strikt die Möglichkeit von der Hand, etwas hinter dem Erfahrbaren anzunehmen: Über Dinge an sich, die unabhängig vom Erfahrenwerden existieren, lässt sich nichts sagen. Mehr noch, der Begriff eines Dinges, unabhängig davon, ob es wahrgenommen wird, birgt einen Widerspruch in sich. Denn sobald wir einen solchen Begriff bilden, ist er bereits eine Idee im Geiste, also wahrgenommen. Der Verweis auf Dinge an sich besitzt keinen Erklärungswert für die Entstehung von Ideen, sondern verdoppelt das Problem und beschwört zusätzlich einen Skeptizismus in Bezug auf die Sinne herauf: Aufgrund der Zweiheit von äußeren Gegenständen und Ideen im Geiste kann überhaupt erst die skeptische Frage aufkommen, ob unsere Eindrücke und Ideen nur Täuschungen sind oder ob sie Dinge adäquat abbilden. Mit der alleinigen Rückführung der Ideen auf ihr WahrgenommenWerden hat Berkeley in radikaler Weise die Vorstellung des menschlichen Verstandes als eines Spiegels der äußeren Natur verworfen. Er verneint wie auch Hume, dass Ideen Abbilder äußerer Dinge seien. Daraus folgert Berkeley, ebenso wie Hume, dass es keine Ähnlichkeit zwischen Dingen und Ideen geben kann, sondern allein zwischen Ideen. Sinnliche Ideen werden Berkeley zufolge passiv gewonnen: “But whatever power I may have over my own thoughts, I find the ideas actually perceived by sense have not a like dependence on my will. When in broad day-light I open my eyes, it is not in my power to choose whether I shall see or no, or to determine what particular objects shall present themselves to my view; and so likewise as to the hearing and other senses, the ideas imprinted on them are not creatures of my will.”2
2
Ebd., § 29 (“Principles of Human Knowledge”). Vgl. auch § 25.
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BERKELEYS SENSIBILIA
Gleichwohl werden die sinnlichen Ideen nach Berkeley nicht deshalb passiv gewonnen, weil sie auf Einwirkungen äußerer Körper zurückzuführen sind. Alle Erfahrung ist innere Erfahrung. Da diese Ideen auch nicht durch andere Ideen hervorgebracht werden können, müssen sie auf eine geistige Substanz zurückgeführt werden. Demnach sind sinnliche Ideen als Effekte einer selbst nicht wahrnehmbaren Kraft oder Ursache anzusehen.3 II.4.3
Die Konzeption der minima sensibilia Was sind nun genau die Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung und welche Eigenschaften spricht Berkeley ihnen zu? Da sie nicht durch äußere Gegenstände verursacht werden, sind die Sinnesdaten selbst die ersten und eigentlichen Gegenstände der Erfahrung. Hinter den wahrnehmbaren Eindrücken stehen keine „Dinge an sich“, die das an ihnen Wahrnehmbare konstituieren. Folglich kann allein das sinnlich Wahrgenommene, die Sinneseindrücke, Auskunft über ihre Zusammensetzung geben. Da sinnliche Eindrücke nicht unendlich teilbar sind, folgert Berkeley, dass es kleinste wahrnehmbare unteilbare Einheiten geben muss. Diese nennt er, auf den Gesichtssinn bezogen, minima visibilia oder, allgemeiner, minima sensibilia. Sobald wir etwas wahrnehmen oder denken können, das kleiner als ein minimum sensibilium ist, müsste es selbst als ein solches anerkannt werden. “… the minimum visibile having (in like manner as all other the proper and immediate objects of sight) been shewn not to have any existence without the mind of him who sees it, it follows there cannot be any part of it that is not actually perceived, and therefore visible. Now for any object to contain several distinct visible parts, and at the same time to be a minimum visibile, is a manifest contradiction.”4
Die Gegenstände, die wir zu sehen glauben, sind, wie Berkeley bereits in seinem Aufsatz An Essay towards a New Theory of Vision behauptet, 3 4
Vgl. Robert Reininger, Locke, Berkeley und Hume, S. 98. Berkeley, An Essay towards a New Theory of Vision, § 81.
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DIE KONZEPTION DER MINIMA SENSIBILIA
Konstrukte des Sehenden. Aus einer Vielzahl minimaler optischer Empfindungen, jener minima visibilia, werden Objekte zusammengefügt. Zunächst ist nur der mehr oder weniger lose Zusammenhang einzelner Eindrücke gegeben.5 Gegenstände sind bei Berkeley nur Konglomerate von Einzelvorstellungen, die wir in Folge von Gewöhnung miteinander zu verbinden und als ein Ding wahrzunehmen pflegen. “… a cherry, I say, is nothing but a congeries of sensible impressions, or ideas perceived by various senses: which ideas are united into one thing (or have one name given them) by the mind; because they are observed to attend each other.”6
Jeder Gegenstand ist also bereits eine collection of ideas. Primär sind unmittelbare haptische und optische Elemente, welche langsam assoziativen Elementen weichen. Die eigentliche Assoziation geschieht durch ein Urteil des Verstandes und unterliegt seiner Einbildungskraft. Dass der Verstand die Verknüpfungen herstellt, zeigt sich insbesondere in jenen Fällen, in denen einzelne Wahrnehmungen durch gewohnte Begleitwahrnehmungen automatisch ergänzt werden. Berkeleys Beispiel dafür ist das Geräusch einer Kutsche, das wir unwillkürlich mit der Vorstellung der vorbeifahrenden Kutsche ergänzen, auch wenn wir sie nicht sehen. Diese unwillkürlichen Urteilsakte manifestieren sich in den Wahrnehmungsgewohnheiten, insbesondere darin, dass diese Gewohnheiten erworbene sind. So ist es für Berkeley nicht verwunderlich, dass ein Blinder, dem gerade der Star gestochen wurde, nicht sofort fähig ist, das, was er sieht, als die ihm über den Tastsinn vertrauten Objekte zu identifizieren. Er hätte zunächst einmal eine große Masse wimmelnder Gesichtsideen, die er nicht zusammenzufügen wüsste.7 So reformuliert Reininger Berkeleys Wahrnehmungsbegriff: 5
6 7
„Wirklich gegeben sind uns auf das unmittelbare Zeugnis unsereres Bewusstseins hin immer nur Einzelvorstellungen …“ Vgl. Reininger, a. a. O., S. 93. Vgl. auch S. 100. Berkeley, Three Dialogues between Hylas and Philonous, (III) S. 197. (Im Folgenden : Three Dialogues.) Vgl. Berkeley, An Essay towards a New Theory of Vision, § 79.
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BERKELEYS SENSIBILIA
„Was gewöhnlich ‚Anschauung‘ heißt, kommt also nur dadurch zustande, daß sich beständig Urteilsakte, die sich auf mannigfache Erfahrungen des Tastsinnes stützen, in unsere Gesichtswahrnehmungen einschieben. … Die sicht- und tastbaren ‚Dinge‘ sind nicht etwas, das der Wahrnehmung vorherginge und ‚empfunden‘ werden müßte, sondern sie sind selbst nichts anderes als Verschmelzungsgruppen von Gesichts- und Tastempfindungen.“8
Die ursprünglich wahrgenommenen sinnlichen Elemente sind einzeln und unzusammenhängend. Die Einzelheit ist auch bei Berkeley keine ontologische These über äußere, räumlich und zeitlich lokalisierte Gegenständen; vielmehr sind es die eigentlich wahrgenommenen Sinnesdaten, jene minima sensibilia, die von Berkeley als einzelne aufgefasst werden, das heißt als unabhängig von erkenntnisrelevanten Verknüpfungen gegeben. Die Zusammenfügung der Einzelempfindungen gilt als eine sekundäre Tätigkeit des Verstandes, dem die Sinnesdaten als Material dienen. Diese synthetisierende Funktion unterliegt der Erfahrung, während Wahrnehmung die unvermittelte Aufnahme einfacher und unzusammenhängender Empfindungen bedeutet. Die minima sensibilia sind nicht nur die kleinsten erfassbaren Gegenstände, sondern zugleich auch die einzigen eigentlichen Gegenstände der Wahrnehmung. “In short, those things alone are actually and strictly perceived by any sense, which would have been perceived, in case that same sense had then been first conferred on us. As for other things, it is plain they are only suggested to the mind by experience grounded on former perceptions.”9
Aufgrund der Elementarisierung oder Vereinzelung der Sinnesdaten wird auch in Berkeleys Konzept dem Verstand eine weitgehende Eigenmächtigkeit in der Verknüpfung und Strukturierung dieser Daten zugestanden. Die skeptizistischen Konsequenzen in Bezug auf die fehlende Entsprechung zu einer wahrnehmbaren Struktur oder Verknüpftheit äußerer Gegenstände löst Berkeley durch eine metaphysische Erklä-
8 9
Reininer, a. a. O., S. 96f. Three Dialogues, (I), S. 161.
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BERKELEYS KRITIK AN ABSTRAKTEN IDEEN
rung: Alle gegenwärtigen Ideen sind von Gott gefügt und bestehen in seinem Geist auch dann weiter, wenn kein menschlicher Geist sie wahrnimmt. Sowohl die Herkunft als auch die Ordnung der Ideen wird durch ein übergeordnetes Bewusstsein erklärt, und damit auch die weitgehende Übereinstimmung der von Gott vorhergesehenen Verknüpfungen und der durch den menschlichen Verstand hergestellten.10 II.4.4
Berkeleys Kritik an abstrakten Ideen Nach Locke werden Worte dadurch allgemein, dass sie als Zeichen für abstrakt-allgemeine Ideen stehen. Berkeley kritisiert diese Vorstellung, indem er darlegt, dass es dem menschlichen Geist unmöglich ist, auch nur eine einzige abstrakte Idee ohne Anschaulichkeit, das heißt in Absehung von irgendwelchen Besonderheiten, zu erfassen. Wie Hume ist auch er der Ansicht, dass jede Idee partikular, das heißt anschaulich sein müsse. Berkeleys Abstraktionstheorie besagt, dass allgemeine Ausdrücke als Zeichen für viele einzelne Ideen gebraucht werden, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit eine gemeinsame Behandlung erfahren. Das heißt, dass ein allgemeiner Name nicht eine abstrakte Idee, sondern immer gleichgültig eine Vielheit von Einzelnem bezeichnet. Dies setzt allerdings die Wahrnehmbarkeit von Ähnlichkeiten an verschiedenen Einzeldingen voraus. Während Locke versuchte, Gleichartigkeitserkenntnis durch den Bezug auf abstrakt-allgemeine Ideen zu erklären; muss Berkeley die Wahrnehmung von Gleichartigem als ein menschliches Grundvermögen schlicht voraussetzen. „Die Fähigkeit, Dinge bloß als so-und-so zu betrachten, wird von Berkeley nun als ein nicht weiter analysierbares, geschweige denn erklärbares, mithin nur konstatierbares Grundvermögen des menschlichen Geistes angesehen.“11
Berkeleys Kritik an abstrakten Gegenständen und seine radikal-nominalistische Lösung, innerhalb derer Gleichartigkeitserkenntnis als eine 10 11
Vgl. Berkeley, An Essay towards a New Theory of Vision, § 147. Arend Kulenkampff, George Berkeley, S. 93.
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BERKELEYS SENSIBILIA
natürliche Grundlage für die Verwendung allgemeiner Begriffe angenommen wird, ist bemerkenswert, insofern sie einige der Grundeinsichten der durch Frege und Wittgenstein geprägten Gebrauchstheorie der Bedeutung vorwegnimmt. Eine solche aus dem Kontext einer linguistisch gewendeten Erkenntnistheorie stammende Einsicht formuliert Quine wie folgt: “The words ‘houses’, ‘roses’, and ‘sunsets’ denote each of sundry individual entities which are houses and roses and sunsets; but there is not, in addition, any entity whatever, individual or otherwise, which is named by the word ‘redness’, nor, for that matter, by the word ‘househood’, ‘rosehood’, ‘sunsethood’. That the houses and roses and sunsets are all of them red may be taken as ultimate and irreducible, and it may be held that McX is no better off, in point of real explanatory power, for all the occult entities which he posits under such names as ‘redness’.” 12
Wenn man jedoch die Verbindung zwischen einzelnen Gegenständen nicht durch den Bezug auf abstrakte Gegenstände erklärt, sondern aufgrund einer sprachlich vollzogenen Gleichbehandlung dieser Gegenstände, wird es schwierig sein, diese Gleichbehandlung auf der Grundlage von etwas als ähnlich Wahrgenommenen gleichzeitig mit der ursprünglichen Vereinzeltheit von Wahrnehmungsgegenständen anzunehmen. Die sprachliche Funktion der Allgemeinheit müsste dann unabhängig von sinnlicher Erfahrung erklärt werden. Es stellt also ein Problem dar, einerseits von beziehungslosen Einzeldaten als den einzigen Wahrnehmungsgegenständen auszugehen, andererseits aber die Wahrnehmbarkeit von Ähnlichem vorauszusetzen, um die Verwendung allgemeiner Begriffe zu erklären. Dieses Problem lässt sich als das Vermittlungsproblem identifizieren, welches bereits im Kapitel zu Aristoteles, Locke und Hume herausgestellt wurde: Das Vermittlungsproblem zwischen dem Sinnlich-Einzelnen und dem Sprachlich-Allgemeinen. Es äußert sich darin, dass die Bildung abstrakter bzw. allgemeiner Ideen 12
Willard Van Orman Quine, On What There Is, S. 29f. Diese mit dem linguistic turn verbundene Kritik an einer sogenannten „Gegenstandstheorie der Bedeutung“ wird im Kapitel IV.3 behandelt.
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BERKELEYS KRITIK AN ABSTRAKTEN IDEEN
nicht an die sinnliche Erfahrung anknüpfen kann, sondern ihr autonom gegenübersteht. Gleichzeitig wird die Wahrnehmung selbst als unabhängig von der begrifflichen, das heißt innerhalb eines atomistischen Ansatzes unabhängig von der synthetisierenden Tätigkeit des Verstandes angenommen. Daraus resultiert, wie anhand von Humes Theorie deutlich wurde, ein Skeptizismus bezüglich der tatsächlichen Beschaffenheit dessen, was unsere Wahrnehmungen und die daraus abgeleiteten Überzeugungen verursacht.
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Zusammenfassung der Untersuchung des klassisch-empiristischen Ansatzes
II.5
Die Untersuchung der klassisch-empiristischen Ansätze hat gezeigt, dass sich aus der atomistischen Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände durch Einzelheit1 eine Kluft zwischen Wahrnehmung und Erfahrung bzw. Denken ergibt, insofern die durch den Verstand konstituierten Verbindungen nicht an eine Wahrnehmungsstruktur anknüpfen können, sondern beliebig bleiben. Die Abstraktionstätigkeit des Verstandes kann dann nur als eine äußere Instanz der Strukturierung und Verarbeitung des in der Erfahrung gegebenen Materials aufgefasst werden. Dies hat charakteristische skeptizistische Probleme zur Folge. Die These der ursprünglichen Vereinzeltheit von sinnlichen Eindrücken und ihrer Assoziation durch die Einbildungskraft bzw. den Verstand führt zur Frage ihrer tatsächlichen Verknüpftheit, das heißt unabhängig von ihrer Assoziiertheit durch das Subjekt. Würde man von einer notwendigen oder transzendentalen Verknüpftheit der Eindrücke ausgehen, stellte sich diese Frage gar nicht erst. Die Verknüpftheit von Eindrücken bzw. der Vorstellungszusammenhang ist dann entweder als eine eigene Struktur der Wahrnehmung oder als eine für die Wahrnehmung von etwas notwendige strukturierende Leistung des Verstandes anzusehen, wie Kant das vorschlägt. Die skeptizistischen Probleme, die sich Hume und den durch Hume beeinflussten Denkern stellten und die auch in der Auffassung Berkeleys zu finden sind, stehen also in einem systematischen Zusammenhang mit der Behauptung einer ur1
Tuschling spricht von „einem sensualistischen, auf das vermeintlich singuläre Unmittelbare fixierten Erfahrungsbegriff der angelsächsischen, im wesentlichen aber auf John Locke zurückgehenden Tradition“. Burkhard Tuschling/Marie Rischmüller, Kritik des logischen Empirismus, S. 134. Tuschling zählt zu dieser Tradition auch Kant hinzu.
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ZUSAMMENFASSUNG ZUM KLASSISCH-EMPIRISTISCHEN ANSATZ
sprünglichen Unabhängigkeit der sinnlich wahrgenommenen einzelnen Ereignisse und der durch die Assoziationstätigkeit des Verstandes konstituierten Verbindungen zwischen denselben. Aus der Festlegung von Wahrnehmungsgehalten auf Einzelnes resultiert, wie auch bei Aristoteles, ein Problem der Vermittlung zwischen den Gehalten sinnlicher Erfahrung und der durch die Sprache ausgedrückten Allgemeinheit. Der klassisch-empiristische Ansatz lässt sich insofern mit der von mir in der Einleitung exponierten ersten Extremposition in Verbindung bringen, als ein Vermittlungsproblem zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten zwar nicht explizit behauptet wird, wohl aber eine Konsequenz aus dem atomistischen Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände darstellt. In dieser Konsequenz bleibt die Synthesisleistung des Verstandes gegenüber der passiven Aufnahme sinnlicheinzelner Ideen autonom. Da der Gehalt der Wahrnehmung durch Einzelheit und zugleich durch sinnliche Mannigfaltigkeit gekennzeichnet wird, vermag er sprachlich nicht ausgedrückt zu werden. Vielmehr erfährt er durch die Urteilstätigkeit des Verstandes erst eine Strukturierung. Das eigentlich Individuelle des Wahrnehmungsgegenstandes wird durch die damit verbundene Abstraktionsleistung beschnitten. Es steht der Begrifflichkeit des Verstandes diametral gegenüber, wenn die Einzelheit nicht als das Ergebnis dieser Abstraktionstätigkeit verstanden wird. Dem empiristischen Ansatz gemäß sind die sinnlichen Ideen jedoch unmittelbar, das heißt unabhängig von der begrifflichen Strukturierung durch den Verstand, gegeben. In der Konsequenz kann aus diesen Ideen selbst nicht abgeleitet werden, wovon abstrahiert wird und in welcher Weise sie miteinander zusammenhängen.
99
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III
KANT UND HEGEL
101
102
III.1
Hegel zur sinnlichen Gewissheit
III.1.1
Vorbemerkung Da meine Skizzierung von Hegels Begriff der „sinnlichen Gewissheit“ hauptsächlich einem Vergleich mit dem klassisch-empiristischen Wahrnehmungsbegriff dient, stelle ich sie der eingehenderen Untersuchung zu Kant voran. Diese Reihenfolge ist auch dadurch motiviert, dass das Kant-Kapitel mit einer Betrachtung der Synthesistheorie des Urteils endet, welche im Kapitel IV wieder aufgenommen wird. Obwohl Hegel mit seiner Analyse der „sinnlichen Gewissheit“ eine Kritik an der Behauptung der Wahrheit und Gewissheit der sinnlichen Gegenstände übt, indem er zeigt, dass diese Gegenstände dem Wesen nach flüchtig und der Sprache unzugänglich sind1, teilt er in seiner Kritik grundlegende Voraussetzungen für die Konzeption dieser sinnlichen Gegenstände mit dem zu kritisierenden empiristischen Ansatz. Was Hegel unter „reiner Anschauung“ und „sinnlicher Gewissheit“ versteht, korrespondiert mit dem Begriff von sinnlicher Erfahrung oder Wahrnehmung, wie ihn Locke, Hume und Berkeley konzipierten. Gemeint ist die passive Aufnahme sinnlicher Eindrücke, welche noch unberührt
1
„In dieser Rücksicht kann denjenigen, welche jene Wahrheit und Gewißheit der Realität der sinnlichen Gegenstände behaupten, gesagt werden, daß sie in die unterste Schule der Weisheit, nämlich in die alten Eleusischen Mysterien der Ceres und des Bacchus zurückzuweisen sind …, denn der in diese Geheimnisse Eingeweihte gelangt nicht nur zum Zweifel an dem Sein der sinnlichen Dinge, sondern zur Verzweiflung an ihm; und vollbringt in ihnen teils selbst ihre Nichtigkeit, teils sieht er sie vollbringen.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 77. Die Kritik läuft letztlich darauf hinaus, den Inhalt der sinnlichen Gewissheit als das „Unaussprechliche … das Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeinte“ zu kennzeichnen. Vgl. ebd. S. 78.
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HEGEL ZUR SINNLICHEN GEWISSHEIT
sind von einer Strukturierung durch den Verstand bzw. durch die Sprache. In Hegels Konzeption der „sinnlichen Gewissheit“ finden sich also jene Züge, die ich an den klassisch-empiristischen Wahrnehmungskonzeptionen herausgestellt habe. Es handelt sich dabei um die Zuschreibung von erstens einer Passivität der Wahrnehmung, zweitens der Einzelheit ihres sinnlichen oder sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes und einer unendlichen Fülle seiner sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften und drittens der sprachlichen Nichtausdrückbarkeit dieser Eigenschaften2. Die Rezeption und Entwicklung dieses Ansatzes ist bestimmend für die empiristisch geprägten phänomenologischen Philosophien. Ich verstehe sie als eine weitere Spielart der ersten Extremposition. III.1.2
Die sinnliche Gewissheit „Sinnliche Gewissheit“ stellt in Hegels System eine erste Stufe des Wissens dar, von der die „Wahrnehmung“ sich reflektierend abzuheben hat und insofern unterscheidet. Während die sinnliche Gewissheit bloßes Aufnehmen ohne jegliches Begreifen ist, setzt die Wahrnehmung ihren Gegenstand als unabhängig von seinem Wahrgenommen-Werden. Sie richtet sich also auf Gegenstände, wie sie wirklich oder an sich sind. Dabei werden diese voneinander unterschieden und als mit sich selbst identische aufgefasst. Insofern es sich dabei um ein Für-Wahr-Nehmen des sinnlich Erfahrenen handelt, setzt Wahrnehmung bereits ein Urteilsvermögen voraus. Hegels Wahrnehmungsbegriff unterscheidet sich
2
Innerhalb des empiristischen Ansatzes wird nicht eine prinzipielle Nichtausdrückbarkeit sinnlicher Gehalte behauptet. Sie wird lediglich von jenen Wahrnehmungsgegenständen behauptet, die gleichzeitig als besondere, das heißt als absolut individuelle Erfahrungskomplexe gekennzeichnet werden, von denen Locke sagt: “names must be endless.” (Essay II.11, § 9) Die Nichtausdrückbarkeit ergibt sich aber als Konsequenz aus einem Vermittlungsproblem zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten, insofern die in sprachlichen Urteilen ausgedrückte Allgemeinheit in der Ordnung und Abfolge sinnlicher Erfahrungen keine Entsprechung findet.
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DIE SINNLICHE GEWISSHEIT
also von dem klassisch-empiristischen und auch von dem aristoteleischen. Gegenstände der sinnlichen Gewissheit sind äußere Gegenstände, die aufgefasst werden als „absolut einzelne, ganz persönliche, individuelle Dinge, deren jedes seines absolut gleichen nicht mehr hat“. 3 Nun geht es bei diesen absolut einzelnen und individuellen Dingen nicht um voneinander abgegrenzte und unterschiedene Dinge, da Unterscheidungen erst in der Wahrnehmung vorgenommen werden. Die reine Anschauung kennt keine Vergleiche oder Relationen.4 Wenn Hegel vom Gegenständen der sinnlichen Gewissheit spricht, muss unterschieden werden zwischen äußeren Dingen, auf die sich sowohl die sinnliche Gewissheit als auch die Wahrnehmung beziehen, und dem spezifischen Charakter dessen, was in der sinnlichen Gewissheit erfasst wird. Um den sinnlich erfahrenen Gehalt geht es, wenn es heißt, dass in der sinnlichen Gewissheit das Sinnliche als das gemeinte Einzelne enthalten ist.5 An diesem Gehalt sind noch keine Eigenschaften bestimmt, die es mit anderen Gegenständen gemeinsam haben könnte. Hegel bringt die Einzelheit mit der Bestimmungslosigkeit des Inhaltes in Verbindung. Sie ist das nichtsprachliche Andere der sprachlichen Allgemeinheit. Die sinnliche Gewissheit ist bloße, unbegriffene Unmittelbarkeit. Sie wird von Hegel als „reichste“ und zugleich „abstrakteste und ärmste“ Erkenntnis beschrieben.6 Da sie keine ausgemachten Teile und voneinander abgegrenzten Elemente besitzt, ist sie ebenso abstrakt wie das begrifflich Einzelne. Zugleich macht die unerschöpfliche Fülle ihrer sinnlichen Eigenschaften ihren Reichtum aus.
3 4
5 6
Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 77. „Ich bin reines Anschauen; Ich für mich bleibe dabei, das Itzt ist Tag, oder auch dabei, das Hier ist Baum; vergleiche auch nicht das Hier und Itzt selbst miteinander, sondern … halte an Einer unmittelbaren Beziehung fest: Das Itzt ist Tag.“ ebd., S. 74. Ebd., S. 80. Ebd., S. 69.
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HEGEL ZUR SINNLICHEN GEWISSHEIT
„Der konkrete Inhalt der sinnlichen Gewißheit läßt sie unmittelbar als die reichste Erkenntnis, ja als eine Erkenntnis von unendlichem Reichtum erscheinen, für welchen eben so wohl, wenn wir im Raume und in der Zeit, als worin er sich ausbreite, hinaus, – als wenn wir uns ein Stück aus dieser Fülle nehmen, und durch Teilung in dasselbe hineingehen, keine Grenze zu finden ist.“7
Das in der sinnlichen Gewissheit Gewusste ist zwar vermittelt durch das wahrnehmende Subjekt, gewusst wird es aber, aufgrund einer fehlenden vergleichenden Bestimmung, als „reines, unvermitteltes Dieses“. Dieses ist hier noch kein Dieses in Absetzung von Jenem, sondern schlicht das Gemeinte in seiner Totalität. Das Subjekt ist sich darin noch keiner Vermittlung und insofern auch keiner Unwahrheit bewusst. Der Gegenstand der sinnlichen Gewissheit unterliegt keiner Relation und Bestimmung – außer der, dass er gegenwärtig ist. „… die Sache ist; und sie ist, nur weil sie ist; sie ist, dies ist dem sinnlichen Wissen das Wesentliche, und dieses reine Sein oder diese einfache Unmittelbarkeit macht ihre Wahrheit aus.“8
Auf dieser Stufe reflektiert das Subjekt noch nicht auf sich selbst als vermittelndes. Das Subjekt der sinnlichen Gewissheit versteht sich nicht als ein von anderen unterschiedenes Ich, sondern es ist ein beziehungsloses, reines Dieses und als solches mit seinem Gegenstand verschmolzen. Es erinnert an die Wahrnehmung und an das fehlende IchBewusstsein eines ganz kleinen Kindes. „Das Bewußtsein ist Ich, weiter nichts, ein reiner Dieser; der Einzelne weiß reines Dieses, oder das Einzelne.“9
Die entscheidende Aussage Hegels liegt darin, dass der Gegenstand der sinnlichen Gewissheit nicht aussagbar ist. Da die Einzelheit des sinnlichen Gegenstandes von Hegel als Bestimmungslosigkeit und Unvermit-
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Ebd. Ebd., S. 69f. Ebd., S. 70.
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DIE SINNLICHE GEWISSHEIT
teltheit konzipiert wurde, ist er keiner sprachlichen Verallgemeinerung zugänglich: „Wenn sie wirklich dieses Stück Papier, das sie meinen, sagen wollten, und sie wollten sagen, so ist dies unmöglich, weil das sinnliche Diese, das gemeint wird, der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen, angehört, unerreichbar ist. Unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, würde es daher vermodern …“10
Wenn auf Dieses sprachlich verwiesen wird, ist es ein Dieses unter anderen, und damit kein einzelnes mehr, sondern vielmehr ein allgemeines. Die Sprache drückt das Wahre als das Allgemeine aus, daher „ist es gar nicht möglich, daß wir ein sinnliches Sein, das wir meinen, je sagen können.“11 Als Verallgemeinerung versteht Hegel nicht allein sprachliche Bedeutung, sondern bereits das schlichte in-Relation-Setzen von etwas unmittelbar Erlebten. Schon das Zeigen auf ein unmittelbar Erlebtes lässt es nicht mehr unmittelbar und einzeln sein. Es ist dann „allgemein gemacht“. Mit dem Zeigen tritt es mit anderem Zeigbaren in eine Beziehung. So wird auch die eigentliche Vermitteltheit des als unmittelbar Erlebten durch sein Subjekt deutlich. Das so aufgezeigte Allgemeine ist der Gegenstand der Wahrnehmung. Indem er als das im Moment des Zeigens nicht mehr Gegenwärtige gekennzeichnet wird (als das Nicht-Diese), ist das sinnlich Gegenwärtige negiert und damit ein vergleichbares, allgemeines geworden. Es handelt sich also um ein Einfaches, das mit dem Negiertsein im Anderssein verbleibt. So ist das jetzt gerade Erlebte, wenn auf es gezeigt wird, nicht mehr das jetzt gerade Erlebte. Es kann nur noch als ein in der Vergangenheit Erlebtes festgehalten werden. Auf diese Weise wird eine „einfache“ und „vermittelte“ Allgemeinheit gewonnen. Die einfache Gegenwärtigkeit ist mit dem Aufgezeigtsein vermittelt und allgemein geworden. Durch die Negation des Gegenwärtigen ist bereits eine Eigenschaft im Wahrgenommenen unterschieden und bestimmt worden. 10 11
Ebd., S. 77. Ebd., S. 72.
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HEGEL ZUR SINNLICHEN GEWISSHEIT
„Damit“, so Hegel, „sind zugleich viele solche Eigenschaften, eine die negative der andern, gesetzt.“12 Durch die Vereinigtheit verschiedener allgemeiner Eigenschaften im Einzelnen kann der Gegenstand nun überhaupt erst als ein dinglich einzelner wahrgenommen und zugleich charakterisiert werden. Erst auf der Ebene der Wahrnehmung werden die Prinzipien der Allgemeinheit und Negation wirksam, sodass auch die Identität eines Gegenstandes mit sich selbst und seine Unterschiedenheit von anderen gefasst werden kann.13 Erst hier geht es im eigentlichen Sinne um einen Gegenstand. Im Gegensatz zum sinnlich Gegenwärtigen ist das Wahrgenommene etwas Bedeutbares, Zeigbares, das vielerlei Beziehungen enthält und prinzipiell sprachlich vermittelbar ist. Die Wahrnehmung geht auf das Allgemeine.14 Da Hegel die Kategorie der Einzelheit der sinnlichen Gewissheit, die der Allgemeinheit aber dem Bewusstsein und der Sprache zuordnet, ist erst für den Gegenstand der Wahrnehmung die Voraussetzung erfüllt, dass er sprachlich vermittelt und festgehalten werden kann. Ein weiteres die Wahrnehmung von der sinnlichen Gewissheit abhebendes Merkmal besteht in der Objektivität, die Hegel ihr zuspricht. Während die Wahrheit der sinnlichen Gewissheit nur in der Meinung liegt, das heißt in einer reinen Gegenwärtigkeit für das Subjekt, ist in der Wahrnehmung der Gegenstand als das Wahre gesetzt. Der Gegenstand wird als unabhängig vom Wahrgenommen-Werden bestehend aufgefasst. Die Wahrnehmung richtet sich also auf den Gegenstand, wie er an sich ist. „Das Meinen ist verschwunden, und die Wahrnehmung nimmt den Gegenstand, wie er an sich ist; oder als Allgemeines überhaupt; die Einzeln-
12 13 14
Ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 82. „Die unmittelbare Gewißheit nimmt sich nicht das Wahre, denn ihre Wahrheit ist das Allgemeine, sie aber will das Diese nehmen. Die Wahrnehmung nimmt hingegen das, was ihr das Seiende ist, als Allgemeines.“ Ebd., S. 79.
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DIE SINNLICHE GEWISSHEIT
heit tritt daher an ihm, als wahre Einzelheit, als an sich Sein des Eins hervor, oder als Reflektiertsein in sich selbst.“15
Die Unwahrheit, oder vielmehr die Ursache für dieselbe, liegt beim Wahrnehmenden. Sie lässt sich erst aus einer der Wahrnehmung äußeren Perspektive feststellen. Wenn also das Subjekt der Wahrnehmung sich einer möglichen Täuschung bewusst sein kann, heißt das, dass die Beziehung zwischen dem Subjekt und seinem Gegenstand eine reflektierte ist. Das Subjekt weiß um die Vermitteltheit seiner Wahrnehmung. Um aber Wahrheit und Unwahrheit feststellen zu können, muss der Gehalt der Wahrnehmung, das, was sie als das Wahre setzt, propositionale Struktur besitzen. Das heißt, dass es sich auf der Stufe der Wahrnehmung, abgehoben von der sinnlichen Gewissheit, um eine Wahrnehmung, dass … handelt. Erst auf einer sprachlichen Ebene lässt sich Wahrnehmung verorten. Sowohl auf der Stufe der sinnlichen Gewissheit als auch auf der Stufe der Wahrnehmung, welche keine Täuschung ist, verhält sich der Wahrnehmende passiv; er nimmt den Gegenstand schlicht auf. Der Unterschied liegt nur in der Möglichkeit einer Täuschung, die dem wahrnehmenden Subjekt bewusst ist. Eine tatsächliche Täuschung ist auf den Wahrnehmenden, nicht aber auf den wahrgenommenen Gegenstand zurückzuführen. Für die ‚wahre‘ Wahrnehmung gilt: Das Bewusstsein hat den Gegenstand der Wahrnehmung „nur zu nehmen, und sich als reines Auffassen zu verhalten; was sich ihm dadurch ergibt, ist das Wahre“16. Auch die sinnliche Gewissheit hat ihren Gegenstand passiv gewonnen: „Sie erscheint … als die wahrhafteste, denn sie hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich.“17 Erst der Gegenstand der Wahrnehmung ist Hegel zufolge durch die im Urteil zu verortende Dialektik zwischen Einzelnem und Allge15 16 17
Ebd., S. 89f. Ebd., S. 82. Ebd., S. 69.
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HEGEL ZUR SINNLICHEN GEWISSHEIT
meinem bestimmt. Er ist ein „Ding von vielen Eigenschaften“18. Seine Dingheit, das heißt auch seine Einheit oder Einzelheit besteht in der Versammlung von Eigenschaften, die allgemeine und sprachlich ausdrückbare sind. Erst auf dieser Stufe kann der Gegenstand als anderes ausschließend und mit sich selbst identisch aufgefasst werden. Daher muss es sich bei der Einzelheit, die Hegel dem Gegenstand der sinnlichen Gewissheit zuspricht, um eine andere Kategorie handeln. Diese Einzelheit ist keine logische. Was heißt es, Einzelheit als logische Kategorie zu verstehen? Meiner Ansicht nach geschieht dies in der von Hegel selbst geschilderten dialektischen Beziehung, die sich anhand der Funktion sprachlicher Urteile erklären lässt: Im Urteil wird das Subjekt, ein einzelner Gegenstand, charakterisiert durch einen oder mehrere allgemeine Begriffe. Zum Beispiel: „Dieser Baum ist ein Eukalyptusbaum.“ Hier ist „dieser Baum“ das Einzelne eines Allgemeinen, der Gattung „Eukalyptus“. Neben konkreten sinnlichen Gegenständen kann das Einzelne auch ein substantivierter abstrakter Begriff sein, beispielsweise „Die Röte ist eine Farbe.“ Wir verstehen also konkrete oder abstrakte Gegenstände als einzelne, wenn wir sie durch allgemeine Begriffe charakterisieren können.19 Der sinnliche Gegenstand ist Hegel zufolge aber noch nicht durch allgemeine Eigenschaften charakterisiert. Vielmehr sind es gerade die Bestimmungslosigkeit und Unmittelbarkeit, die seine Abstraktheit oder Einzelheit ausmachen. Er entbehrt jeder aufzeigbaren Relation, außer der einen: dass er sinnlich gegenwärtig ist. Hegel spricht der sinnlichen Gewissheit allerdings auch zu, dass sie „abstrakteste Wahrheit“ sei. Könnte ihr Gegenstand vielleicht abstrakt und in diesem Sinn logisch 18
19
Ebd., S. 80. „Dies abstrakte allgemeine Medium, das die Dingheit überhaupt oder das reine Wesen genannt werden kann, ist nichts anderes als das Hier und Itzt, wie es sich erwiesen hat, nämlich als ein einfaches Zusammen von vielen, aber die vielen sind in ihrer Bestimmtheit selbst einfach Allgemeine.“ S. 80f. Vgl. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 203. Vgl. auch Tugendhat, Singuläre Termini, S. 146–167, insbesondere S. 160 und 164ff.
110
DIE SINNLICHE GEWISSHEIT
einzeln sein? Dann müsste dieser sinnliche Gegenstand bereits das Ergebnis einer Abstraktion sein. Die sinnliche Gewissheit aber „hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen“20, er ist ihr in der ganzen Fülle seiner sinnlichen Eigenschaften präsent. „Abstrakt“ heißt in Bezug auf die sinnliche Gewissheit, dass sie von ihrem Gegenstand nichts weiter sagen kann als dass: „er ist“.21 Die Einzelheit, die Hegel dem sinnlichen Gegenstand zuspricht, ist nicht das logische Gegenstück eines Allgemeinen, sondern etwas, das per definitionem nicht allgemein werden kann. In dem Moment, in dem versucht wird, sich sprachlich auf ihn zu beziehen, ist er, durch allgemeine Begriffe ausgedrückt, nicht mehr der eigentliche, ursprünglich behauptete Gegenstand der sinnlichen Gewissheit. Es handelt sich bei der so bestimmten Einzelheit des Gegenstandes der sinnlichen Gewissheit also nicht um eine logische, sondern vielmehr um eine erkenntnistheoretische Kategorie. Sie wird auf der Stufe der Wahrnehmung zwar letztlich aufgehoben, indem sie als vermittelte angesehen und damit allgemein gemacht wird; für die sinnliche Gewissheit aber, das heißt was die Gegebenheitsweise ihres sinnlichen Gegenstandes angeht, gibt es nur die Kategorie der unmittelbaren und sprachlich nicht ausdrückbaren Einzelheit. In der sinnlichen Gewissheit ist das Sinnliche als das gemeinte Einzelne enthalten.22 Hegel bemerkt zwar, dass sich gerade die Einzelheit nur auf „allerallgemeinste“ Weise sagen lässt.23 Da aber ein Nicht-Sagbares überhaupt Ausgangspunkt von Hegels Untersuchung ist, wird damit zugleich eine zweite, nicht-logische 20 21 22 23
Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 69. Ebd. Ebd., S. 80. „Wird von etwas weiter nichts gesagt, als daß es ein wirkliches Ding, ein äußerer Gegenstand ist, so ist es nur als das Allerallgemeinste, und damit vielmehr seine Gleichheit mit allem, als die Unterschiedenheit ausgesprochen. Sage ich ein einzelnes Ding, so sage ich es vielmehr ebenso als ganz Allgemeines, denn Alle sind ein einzelnes Ding … Genauer bezeichnet als dieses Stück Papier, so ist alles und jedes Papier, ein dieses Stück Papier, und ich habe nur immer das Allgemeine gesagt.“ Ebd., S. 78.
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HEGEL ZUR SINNLICHEN GEWISSHEIT
und als solche sprachlich nicht einholbare Einzelheit konzipiert. Diese Einzelheit macht den Gegenstand der sinnlichen Erfahrung aus. Wenn Hegel den Gegenstand der sinnlichen Gewissheit als begrifflos und damit als unwahr kennzeichnet, spricht er implizit der Sprache ein gewaltiges Entfremdungspotential zu, das so weit geht, das Gemeinte in Gestalt des unmittelbar Gewußten zu entstellen, „die Meinung unmittelbar zu verkehren, zu etwas anderem zu machen, und so sie gar nicht zum Worte kommen zu lassen“24. Das Wissen der sinnlichen Gewissheit ist damit nicht ad absurdum geführt; es erfordert lediglich einen geeigneten Umgang: Der Vergänglichkeit der sinnlichen Gewissheit werden Hegel zufolge jene am meisten gerecht, die ihre sinnliche Realität „verzehren“ wie die Tiere.25 Im Zusammenhang meiner Untersuchung ist es jedoch nicht entscheidend, welchen Stellenwert Hegel dem Wissen der sinnlichen Gewissheit letztlich beimisst. Mir geht es um den Zusammenhang zwischen der Festlegung der sinnlichen Gegenstände auf Einzelheit und der Feststellung, dass die Sprache, als „an sich Allgemeines“26, diese sinnlichen Gegenstände prinzipiell nicht auszudrücken vermag.
24 25 26
Ebd. Ebd., S. 77. Ebd.
112
III.2
Kant zu Anschauungen und Begriffen
III.2.1
Vorbemerkung
Vorbemerkung
Ein wichtiges Verdienst Kants liegt darin, Sinnlichkeit und Urteilsvermögen als aufeinander angewiesene Vermögen dargestellt zu haben. Seine Position stellt also eine Position der Vermittlung dar. Mir geht es in diesem Kapitel jedoch darum, einen mit dem empiristischen Ansatz gemeinsamen Aspekt der kantischen Charakterisierung von Wahrnehmung herauszustellen. Die Annahme, dass Wahrnehmung Einzelnes erfasst, findet sich auch in der kantischen Bestimmung von Anschauung, nämlich in seiner konstitutionsanalytischen Unterscheidung von Anschauungen und Begriffen. Diese Charakterisierung führt bei Kant zwar nicht zu einem Vermittlungsproblem, allerdings aber zur Annahme einer für die Erkenntnisrelevanz der Anschauung notwendigen Strukturierung des Sinnlich-Mannigfaltigen durch den Verstand. Diese Annahme soll nicht kritisiert werden. Es lässt sich jedoch durchaus in Frage stellen, weshalb der Anschauung die passive Aufnahme von SinnlichMannigfaltigem und gleichzeitig Einzelnem, dem Verstand dagegen die Verknüpfung und Strukturierung der sinnlich gegebenen Vorstellungen zukommt. Dieser – auf der Ebene der konstitutionsanalytischen Unterscheidung – dualistische Ansatz bedarf selbst einer Rechtfertigung. Daher untersuche ich im Folgenden die Rolle der kantischen Unterscheidung zwischen Anschauungen und Begriffen und den Status der Einzelheit von Anschauungen. Dazu führe ich zuerst die Kriterien an, anhand derer Kant Anschauungen und Begriffe unterscheidet. Da die Art dieser Unterscheidung und die Erklärung der Vermitteltheit beider Erkenntnisarten eng miteinander zusammenhängen, vollziehe ich daraufhin Kants Erklärung dieser Vermitteltheit nach. Kant behauptet nicht lediglich, dass Anschauungen und Begriffe miteinander kooperieren, sondern dass sie sich gegenseitig – als Grundlage von objektiver Er-
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
kenntnis – überhaupt erst ermöglichen. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass Anschauungen begrifflich strukturiert sein müssen, um Gegenstände vorstellen zu können. Den von Kant in der Transzendentalen Deduktion geführten Nachweis, dass jede Anschauung notwendig der Einheitsfunktion des Verstandes unterliegt, stelle ich im Kapitel III.2.2.2 dar, um im Kapitel III.2.2.3 die Vereinzeltheit der Anschauung als Voraussetzung dieses Beweisganges deutlich zu machen. Ich komme zu dem Ergebnis, dass Kant für die Behauptung der konstitutiven Funktion des Verstandes in Bezug auf mögliche Erkenntnis ein unstrukturiert Gegebenes als Gegenstück zur verbindenden Aktivität des Verstandes annehmen muss, nämlich die Einzelheit und Mannigfaltigkeit der Anschauung. Diese Art der Bestimmung des ursprünglichen Vermögens der Anschauung ist also ausschlaggebend für die Bestätigung der konstitutiven Funktion des Verstandes. Diese These gilt es gegen mögliche Einwände abzugrenzen, die sich ihrerseits auf die kantische Kritik des Vorstellungsatomismus und auf seine Behauptung einer notwendigen begrifflichen Vermitteltheit von Anschauungen berufen könnten. Mein Fazit lautet: Obwohl Kant sich kritisch gegen die Möglichkeit vereinzelter und von einer begrifflichen Struktur unberührter Wahrnehmungen wendet, setzt er deren Gegebenheit auf der transzendentalen Ebene als Gegenstück zur verbindenden Tätigkeit des Verstandes voraus. Im letzten Teil betrachte ich den systematischen Zusammenhang zwischen der atomistischen Auffassung der Anschauung und der Synthesistheorie des Urteils. Dabei geht es mir um jene Synthesistheorie des Urteils, die mit einer Gegenstandstheorie der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke einhergeht. Obwohl Kant Begriffe als Prädikate möglicher Urteile bestimmt1 und dem Urteil eine konstitutive Funktion zuspricht, erklärt er die Urteile als durch den Verstand hergestellte Einheiten von Vorstellungen. Gleichzeitig wird die Bedeutung von Begriffen durch 1
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A69, B94. Alle folgenden Angaben beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf dieses Buch.
114
DIE UNTERSCHEIDUNG VON ANSCHAUUNG UND BEGRIFFLICHKEIT
den Bezug auf mentale Vorstellungen erklärt, was für die Erklärung der Vermitteltheit von sinnlichen und sprachlichen Gehalten ein Problem darstellt. III.2.2
Kants Wahrnehmungsbegriff Die Unterscheidung von Anschauung und Begrifflichkeit
III.2.2.1
Die konstitutionsanalytische Unterscheidung von Anschauung und Begrifflichkeit Mit Descartes und den empiristischen Philosophien der Neuzeit teilt auch Kant den Ansatz, dass Philosophie, als Erkenntnistheorie, die Funktionsweise des menschlichen Erkenntnisapparates zu untersuchen habe. Der erkenntnistheoretische Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass der Bezug auf objektiv gegebene Gegenstände nicht von vornherein vorausgesetzt wird, sondern im Verlaufe der Untersuchung erst zu klären und zu versichern ist. So geht auch Kant, wie schon Descartes und auch Locke, Hume und Berkeley, von denjenigen Gegenständen aus, welche dem Geist unmittelbar gegenwärtig sind. Das sind zunächst geistige Gegenstände oder Gehalte, deren Bezug auf objektive Gegenstände noch ungewiss ist. Diese geistigen Gegenstände nennt Kant „Vorstellungen“. Unter den Vorstellungen unterscheidet Kant genau zwei Arten, nämlich Anschauungen und Begriffe. Diese Unterscheidung wird zum ersten anhand der verschiedenen Quellen von Vorstellungen geführt, denn Anschauungen entstammen der Sinnlichkeit, während Begriffe dem Verstandesvermögen entspringen. „Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch die Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben , durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedach t. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende
115
KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können.“2
Die genetische Unterscheidung betrifft zweitens auch die Art der Erkenntnis, denn jene Vorstellungen, die aus der Sinnlichkeit stammen, werden passiv gewonnen, während jene, die dem Verstand entspringen, aktiv gebildet werden. In der sinnlichen Anschauung empfangen wir Eindrücke von Gegenständen, ohne selbst etwas hinzuzutun. Das heißt, dass zumindest für diese Art von Vorstellungen gilt, dass etwas außerhalb dieser Vorstellungen gegeben sein muss und diese Vorstellungen hervorruft. Der Verstand hingegen bringt seine Begriffe selbst hervor und zeichnet sich dadurch als ein tätiges Vermögen aus. Jeder Begriff bezieht sich auf eine Vorstellung bzw. durch eine Allgemeinvorstellung (conceptus communis) auf mehrere Vorstellungen und lässt sich in einem Urteil mit anderen Vorstellungen verbinden. Begriffe sind nach Kant Prädikate möglicher Urteile.3 Das Urteil ist ein spontaner Akt des Verstandes, in dem er mithilfe von Begriffen zusammengesetzte Vorstellungen bildet. So bestimmt Kant den Verstand als das Vermögen, Vorstellungen hervorzubringen. Das Vermögen der Sinnlichkeit ist demzufolge durch Passivität (Rezeptivität), der Verstand hingegen durch Aktivität (Spontaneität) charakterisiert. Ein drittes unterscheidendes Merkmal betrifft die Art, wie sich Vorstellungen auf Gegenstände beziehen, also ihren Gegenstandsbezug. „Die Anschauung … bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln“; der Begriff „ist mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemeinsam sein kann“.4
Die Anschauung bezieht sich nicht vermittelt durch eine Vorstellung von einem gemeinsamen Merkmal, in der mehrere Gegenstände gedacht sind, sondern vielmehr direkt auf ihren Gegenstand. Da über den Gegenstand auf dieser Stufe der Erklärung noch keine Auskunft gege2 3 4
A50, B74, sowie A15, B30. A69, B94. A320, B377.
116
DIE UNTERSCHEIDUNG VON ANSCHAUUNG UND BEGRIFFLICHKEIT
ben werden kann, muss mit der Einzelheit die Empfindung selbst gemeint sein, welche besagt, dass in einer einzelnen Anschauung keine Bezüge auf andere Gegenstände gegeben sein können. Die Einzelheit betrifft also den sinnlichen Gehalt der Anschauung und ist nicht mit der Aussage zu verwechseln, dass die Anschauung sich auf raumzeitlich einzelne Gegenstände bezieht. Diese letztere Aussage würde einiges mehr behaupten, denn sie setzt zum einen die Gegebenheit raumzeitlicher Gegenstände voraus und behauptet zum anderen zugleich die direkte Wahrnehmbarkeit dieser Gegenstände. Sie wäre also zusätzlich noch eine ontologische Aussage und die Annahme eines direkten Realismus von Wahrnehmungen. Da jedoch auch Kant, dem erkenntnistheoretischen Ansatz gemäß, zuerst von der Gegebenheit geistiger Vorstellungen ausgeht, ist in dieser Kennzeichnung der Anschauung nur das im menschlichen Erkenntnisapparat angelegte Vermögen und noch nicht der Bezug auf objektive Gegenstände beschrieben. Im Gegensatz zur Anschauung stellt der Begriff eine Vorstellung dar, die zugleich mehrere Vorstellungen von gleichartigen Gegenständen umfasst.5 Es handelt sich also um eine allgemeine Vorstellung, die ein verschiedenen Gegenständen gemeinsames Merkmal erfasst. Begriffe können einzelne oder auch selbst schon zusammengesetzte Vorstellungen sein, das heißt unter einem bestimmten Aspekt zusammenfassen. Die begriffliche Ordnung ist daher nicht als eine einmalige Anwendung, sondern als aufeinander aufbauende, das heißt als eine hierarchische und zugleich dynamische Einheit von Vorstellungen zu verstehen. Zusammengesetzte Vorstellungen können wieder mit anderen verbunden werden und somit stets unter andere Begriffe fallen oder von ihnen aufgenommen werden. Bereits etablierte begriffliche Zusammenhänge können wieder aufgebrochen werden. 5
„Die analytische Einheit des Bewußtseins hängt allen gemeinsamen Begriffen, als solchen, an, z.B. wenn ich mir rot überhaupt denke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgendworan angetroffen, oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann … .“ B134.
117
KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
Eine vierte unterscheidende Kennzeichnung betrifft die Funktion des gegenseitigen Bezugs: Es handelt sich bei Anschauungen und Begriffen um „zwei sehr ungleichartige Elemente“ der Erfahrung, „nämlich eine Materie zur Erkenntnis aus den Sinnen und eine gewisse Form, sie zu ordnen, aus dem inneren Quell des reinen Anschauens und Denkens, die bei Gelegenheit der ersteren, zuerst in Ausübung gebracht werden, um Begriffe hervorbringen.“6 Das Materie-Form-Modell drückt also aus, dass für die Anwendung von Begriffen auf Anschauungen diese zunächst sinnlich gegeben sein müssen, während die bloße Gegebenheit einzelner Vorstellungen ihrerseits einer ordnenden Funktion der Begriffe bedarf. Das sinnlich Gegebene wird häufig auch als Mannigfaltiges charakterisiert, wobei Mannigfaltigkeit und Einzelheit in einem engen begrifflichen Zusammenhang stehen. Mannigfaltigkeit bezeichnet die Vielfalt einzelner Aspekte, die allein in der zeitlichen Einheit eines Eindrucks oder Momentes zusammengefasst sind.7 Sie bringt die Ungeordnetheit einzelner Eindrücke zum Ausdruck, welche erst noch in eine begriffliche Einheit zu bringen sind. Es ist der „rohe Stoff sinnlicher Eindrücke“8 oder ein bloßes „Gewühle von Erscheinungen“9. Mithilfe von Begriffen wird das Mannigfaltige zur Einheit und Bestimmtheit eines Gegenstandes gebracht. Dem Verstand kommt dabei die architektonische Aufgabe zu, einzelne Vorstellungen in eine Ordnung mit anderen Vorstellungen zu bringen. 10
6 7
8 9 10
A 78, B 104. „Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede: denn als in einem Augenb lick enthal ten , kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein.“ A99. B1. A111. Die Verworrenheit sinnlicher Eindrücke bezieht sich dabei nicht allein auf das gänzliche Fehlen begrifflicher Ordnung, sondern auch auf ihre Rolle innerhalb dieser Ordnung. Die Synthesis des Mannigfaltigen bringt, so Kant, anfangs Erkenntnisse hervor, die selbst noch roh und verworren sein können
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DIE UNTERSCHEIDUNG VON ANSCHAUUNG UND BEGRIFFLICHKEIT
Der erste Schritt der kantischen Erklärung der Möglichkeit von objektiver Erkenntnis besteht also in einer klaren Unterscheidung zweier Arten von Elementen und zweier Quellen, denen diese Elemente entspringen. Seine Untersuchung beginnt mit der Betrachtung des jeweiligen Beitrages zur Erkenntnis, den diese Vermögen bringen. Gegenstände, auf die sich objektive Erkenntnis richtet, sind Gegenstände, die nicht nur gedacht, sondern zugleich auch wirklich gegeben sein müssen. Anschauungen bedingen daher den begrifflichen Zugang auf Gegenstände insofern, als durch sie Gegenstände überhaupt erst gegeben sind. Nur durch Anschauungen können Begriffe sich auf etwas beziehen, also einen Inhalt haben.11 Ohne den Bezug auf mögliche Erfahrung lässt sich die Bedeutung eines Begriffes nicht verständlich machen. Strawson bezeichnet den Bezug von Begriffen auf die empirischen Bedingungen ihrer Anwendung als das „Sinnprinzip“.12 Anschauungen begrenzen das Feld dessen, wovon eine Erkenntnis überhaupt möglich ist.13 Begriffe dagegen sind nach Kant das Vermögen, einen Gegenstand zu denken. Als Prädikate möglicher Urteile stellen Begriffe Regeln der Synthesis in Urteilen und zugleich Regeln der Synthesis in der Anschauung dar. 14 Anhand dieser Regeln kann ein Gegenstand überhaupt als ein mit sich selbst identischer aufgefasst werden.15 Von Wahrnehmungen16 ohne die
11 12 13 14 15 16
und einer weiteren Analyse bedürfen. Vgl. A77, B103. Die begriffliche Ordnung ist daher nicht als eine einmalige oder statische Anwendung von Begriffen auf Anschauungen, sondern als aufeinander aufbauende, das heißt als eine hierarchische und zugleich dynamische Einheit von Vorstellungen zu verstehen. „Unsere sinnliche Anschauung kann ihnen [den Begriffen, Anm. d. V.] allein Sinn und Bedeutung verschaffen.“ B149. Im Original: “principle of significance”. Peter F. Strawson, The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, S. 16. Vgl. B147f. A79, B104f. Vgl. A104f. Je nach dem Stand der kantischen Argumentation werden Anschauungen entweder als bloße Erscheinungen, oder aber als Wahrnehmungen verstanden, wobei im Ergebnis der transzendentalen Deduktion auch Erscheinungen un-
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
„Synthesis nach Begriffen“ sagt Kant, sie würden „zu keiner Erfahrung gehören, folglich ohne Objekt, und nichts als ein blindes Spiel der Vorstellungen, d.i. weniger, als ein Traum sein.“17 Die konstitutive Funktion des Verstandes
III.2.2.2
Die konstitutive Funktion des Verstandes Die konstitutive Funktion des Verstandes
Begriffe leisten jedoch mehr als nur die Einordnung von Anschauungen in ein begriffliches System. Durch Begriffe kann ein Gegenstand nicht nur kontinuierlich wahrgenommen, sondern überhaupt auch erst als unabhängig von seinem Wahrgenommenwerden und insofern als außerhalb der Vorstellung selbst gedacht werden. Dies ist erst auf der Ebene von Urteilen möglich. Es kennzeichnet sowohl Erfahrungs- als auch Wahrnehmungsurteile, dass sie Objektivität beanspruchen.18 Was in einem Urteil behauptet wird, ist, dass etwas tatsächlich so ist, wie über es ausgesagt wurde. Durch Urteile drücken wir, wenn sie wahr sind, Tatsachen aus. Wir sprechen von einer Erkenntnis durch Erfahrung, wenn die Verbindung von Vorstellungen in einem Urteil nicht nur assoziativ oder subjektiv, sondern vielmehr objektiv ist. Erst auf der Grundlage dieser allgemeinen Funktion von Urteilen können Gegenstände als von ihrem Wahrgenommenwerden unabhängig gedacht werden. Umgekehrt kann nur von in dieser Weise aufgefassten Gegenständen überhaupt etwas Objektives ausgesagt werden. Mögliche Objektivität von Erfahrung wird also von Kant auf die Urteilsfunktionen des Verstandes zurückgeführt. Kant bezeichnet die Urteilsfunktionen als Kategorien. Dazu gehört zum Beispiel die Kate-
17 18
ter den Kategorien des Verstandes stehen und somit an Bewusstsein gebunden sind. „Das Erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt, (ohne das Verhältnis zu einem, wenigstens möglichen Bewußtsein, würde Erscheinung für uns niemals ein Gegenstand der Erkenntnis werden können, und also für uns nichts sein, und weil sie an sich selbst keine objektive Realität hat, und nur im Erkenntniss existiert, überall nichts sein).“ A120. A112. Vgl. § 19, B140–142.
120
DIE KONSTITUTIVE FUNKTION DES VERSTANDES
gorie der Kausalität oder die Kategorie der Notwendigkeit. So liegt in einer typischen Erfahrungserkenntnis wie beispielsweise in dem Urteil, dass einem Blitz stets ein Donner folgt, die Annahme, dass der Zusammenhang ein erwartbarer und in diesem Sinne ein notwendiger ist.19 Es ist Humes Verdienst, dargelegt zu haben, dass die Annahme der Notwendigkeit bzw. der gesetzmäßigen Verknüpftheit von Ereignissen in einer Erfahrungserkenntnis aus der bloßen sich wiederholenden wahrnehmbaren gleichartigen Abfolge von Ereignissen gar nicht abgeleitet werden kann. Er schreibt daher die Erwartung, dass Ereignisse in der gleichen Weise, in der sie in der Vergangenheit verknüpft waren, auch in der Zukunft verknüpft sein werden, der Gewohnheit kausaler Verknüpfung durch ein allgemeines Assoziationsvermögen zu. Kant stimmt mit Hume insofern überein, als er ebenfalls davon ausgeht, dass die Verknüpfung von Ereignissen und auch die Notwendigkeit solcher Verknüpftheit nicht in der Wahrnehmung selbst schon gegeben ist. Kant sieht jedoch in Humes Erklärung die Bedrohung durch einen fundamentalen Skeptizismus. Dieser Bedrohung setzt er die These entgegen, dass Objektivität nicht in einem Passungsverhältnis zwischen der Annahme einer bestimmten Verknüpftheit von wahrgenommenen Ereignissen und den tatsächlichen Verhältnissen zwischen diesen Ereignissen liegt20, sondern dass die Kategorien des Verstandes die Unterscheidung zwischen objektiver und nicht objektiver Erfahrung erst ermöglichen. Das heißt, dass es keinen von den Urteilsfunktionen unabhängigen Maßstab geben kann, an dem sich die Adäquatheit von Urteilen messen ließe. Obwohl ein einzelnes Urteil in dem, was es behauptet, 19
20
Damit ist nicht analytische Notwendigkeit gemeint. Ein Erfahrungsurteil ist zugleich stets fallibel. Dennoch wird in einem solchen Urteil behauptet, dass der ausgedrückte Zusammenhang ein objektiver und in diesem Sinne ein notwendiger ist. Die Überprüfung dieses Passungsverhältnisses würde, wenn es empirisch möglich wäre, stets fallibel bleiben. Die Dinge an sich, das heißt unabhängig von ihrer Gegebenheit für uns, sind uns Kant zufolge nicht zugänglich. „Alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung“ sind „ nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen.“ A490f., B518f.
121
KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
stets falsch sein kann, weil es sich tatsächlich anders verhält, kann die Gesamtheit unserer Urteile nicht fehlgehen, da sie selbst den Maßstab dafür angeben, woran die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils zu bemessen ist. Damit die Bedrohung durch den Skeptizismus aber tatsächlich abgewendet werden kann, müsste zusätzlich gezeigt können, dass jede mögliche Erfahrung notwendig den Urteilsfunktionen des Verstandes unterliegt. Ansonsten wäre es möglich, dass es Erfahrungen gibt, die unabhängig von den Urteilsfunktionen gegeben sind. Wenn das aber möglich ist, gäbe es kein verlässliches Mittel, zu entscheiden, welche Art von Erfahrungen objektiv und welche bloß subjektiv verbundene Vorstellungen sind. Kants Vorhaben besteht also darin, zu zeigen, dass es ein grundlegendes und nicht hintergehbares Prinzip der Einheit aller Erfahrungen gibt, so dass die Entscheidung über ihre Subjektivität und Objektivität nicht von einer Instanz aus zu treffen ist, die jenseits unserer Begrifflichkeit liegt und dem menschlichen Verstand dadurch (möglicherweise) prinzipiell unerreichbar wäre. Den Nachweis, dass jede mögliche Erfahrung der Einheitsfunktion des Verstandes unterliegt, führt Kant in der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Anschauungen, die erkenntnisrelevant sind, müssen notwendig bewusst sein. Dieses Kriterium der Bewusstheit, so Kant, ist zugleich an das Selbstbewusstsein gebunden. Er spricht daher auch von einer „transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins“. „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“21
Dieser „reine Apperzeption“ genannte Akt bewirkt, dass sinnliche Vorstellungen als meine aufgefasst werden können. Es ist demnach nicht möglich, dass ein Subjekt sich einzelner Vorstellungen überhaupt bewusst ist, die es nicht zugleich als ihm eigene erkennen kann. Das Selbst21
B131f.
122
DIE KONSTITUTIVE FUNKTION DES VERSTANDES
bewusstsein konstituiert also die Einheit eines an sich zerstreuten ‚Bewusstseins‘ verschiedener Empfindungen. Das Selbstbewusstsein geht aber den verschiedenen möglichen Bewusstseinsinhalten nicht voraus. Seine Einheit ist nur als Einheit empirischer Inhalte möglich, und zwar solcher, die der begrifflichen Funktion des Verstandes bereits unterliegen. Kant begründet dies damit, dass Vorstellungen, um als mir eigene Vorstellungen erkannt werden zu können, schon einer im Verstand begründeten Struktur entsprechen müssen. Da der Verstand ein Vermögen der Synthesis ist, müssen sie also bereits in einer Einheit von Mannigfaltigem gegeben sein.22 Verbindung von Vorstellungen ist stets „eine Verrichtung des Verstandes“23 und nicht mit den Anschauungen schon gegeben. Synthesis muss also schon hergestellt sein, damit der Verstand Vorstellungen als ihm eigene erkennen und die Einheit der Apperzeption auf sie anwenden kann. Das heißt, dass sich Synthesis von Mannigfaltigem und Einheit des Selbstbewusstseins gegenseitig bedingen. Wenn Kant dieser Nachweis gelungen ist, folgt daraus, dass jede Anschauung, die überhaupt zum Bewusstsein gelangen kann, notwendig schon der Einheitsfunktion des Verstandes unterliegt. Einheit von Vorstellungen wird aber, so Kant, in Urteilen hergestellt. Urteile werden von Kant nicht nur als formale Verbindung von Begriffen in sprachlichen Urteilen, sondern zugleich auch als psychologischer Akt des Verbindens von Vorstellungen aufgefasst. Denn Begriffe stehen ebenfalls für Vorstellungen, die entweder einzeln oder allgemein sind. Folglich ist die Tätigkeit des Urteilens, da sie Einheit von Vorstel-
22
23
„Die Möglichkeit aber, ja sogar die Notwendigkeit dieser Kategorien beruht auf der Beziehung, welche die gesamte Sinnlichkeit, und mit ihr auch alle möglichen Erscheinungen, auf die ursprüngliche Apperzeption haben, in welcher alles notwendig den Bedingungen der durchgängigen Einheit des Selbstbewußtseins gemäß sein muß, d.i. unter allgemeinen Funktionen der Synthesis stehen muß, nämlich der Synthesis nach Begriffen, als worin die Apperzeption allein ihre durchgängige und notwendige Identität a priori beweisen kann.“ A112. Vgl. auch B133. B134f.
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
lungen herstellt, unerlässlich dafür, dass Vorstellungen überhaupt unter die Einheit der Apperzeption gebracht werden können. „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt.“24
So kommt Kant zu dem Schluss, dass alles Mannigfaltige, damit es zu einem Bewusstsein kommen kann, unter einer der Urteilsfunktionen, das heißt unter den Kategorien stehen müsse.25 Das bedeutet aber, dass Anschauungen notwendig begrifflich strukturiert sind. Vorstellungen können dann als Vorstellungen des Verstandes erkannt werden, wenn sie seinen Begriffen gemäß sind. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesem Beweisgang Kants in Bezug auf die Kooperation zwischen Anschauung und Begrifflichkeit ziehen? Wenn jede Anschauung notwendig begrifflich strukturiert ist, muss die Kooperation nicht nur als eine Möglichkeit, die auf einen bestimmten Bereich von Erfahrungen beschränkt ist, sondern in transzendentalem Sinne als die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt aufgefasst werden. In dem prominenten Satz: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“26
drückt Kant nicht nur aus, dass beide Erkenntnisformen miteinander kooperieren, sondern dass sie als gegenseitige Ermöglichungsbedingungen zu verstehen sind. Die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand ist also nicht die zweier Arten vorfindbarer Elemente, sondern vielmehr eine konstitutionsanalytische Unterscheidung, die die konstitutive Funktion zweier Elemente oder Vermögen für jede mögliche Erkenntnis betont. Demnach können Gegenstände nur erkannt werden, wenn sie sowohl durch Anschauung gegeben als auch begrifflich be24 25 26
A79, B104f. Vgl. B143 (§ 20). Vgl. auch B161. A51, B75.
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DIE KONSTITUTIVE FUNKTION DES VERSTANDES
stimmt sind. Diese konstitutive Auffassung der Kooperation macht die Eigenart der kantischen Philosophie gegenüber der Tradition aus. „Denn das grundsätzlich Neue der kritischen Philosophie gegenüber den ihr vorhergehenden Positionen besteht nicht darin, daß in ihr Erfahrung und Vernunft neu oder gar zum ersten Mal miteinander verbunden würden, sondern darin, daß in ihr Erfahrung und Vernunft nicht mehr als zwei voneinander isolierte und getrennte Sphären der Erkenntnis bestimmt werden, die es erst nachträglich miteinander zu koordinieren gälte, sondern dass in ihr Erfahrung – ihrem vollen Begriff nach – immer schon durch Vernunft konstituiert ist, und daß umgekehrt die Vernunfterkenntnis auf die Sphäre der Erfahrung eingeschränkt wird.“ 27
Müssen aber nicht schon Anschauungen gegeben sein, bevor überhaupt Begriffe auf sie angewendet werden können? Welcher Art ist eine solche Anschauung und was heißt es, dass sie blind ist? Muss nicht zumindest auch eine vorprädikative Unterscheidungsfähigkeit angenommen werden? Anders gefragt: Wenn Begriffe als Prädikate möglicher Urteile definiert sind, heißt das, dass Wesen, die über keine Urteilsfähigkeit, das heißt über keine Sprache verfügen, auch keine Anschauungen besitzen? Ich denke, solchen Wesen muss sowohl Sinnlichkeit, als Vermögen der Anschauung, als auch eine vorprädikative Unterscheidungsfähigkeit zugesprochen werden. Kant gibt nicht nur die logische Möglichkeit von Anschauungen ohne Begriffe, sondern auch die zeitliche Vorgängigkeit in Bezug auf Begriffe klarerweise zu: „Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung.“28 „Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.“29
27 28 29
Vgl. Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, S. 357. B132. Zur logischen Möglichkeit vgl. A89ff., B122f., sowie B145. B1.
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
Anschauungen können also durchaus auch unabhängig von ihrer begrifflichen Verarbeitung gegeben sein, „… denn ohne Funktionen des Verstandes können allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden.“30 Kant zeigt allerdings in der Transzendentalen Deduktion, dass Anschauungen, die nicht unter der Synthesis des Verstandes stehen, zu keiner Anwendung auf die transzendentale Einheit der Apperzeption und somit zu keinem Bewusstsein kommen können. Dies erlaubt jedoch nicht die Schlussfolgerung, dass solche Anschauungen nicht möglich wären bzw. dass keine andere als eine begrifflich strukturierte Affizierung von Sinnen durch äußere Gegenstände möglich wäre. Kant gibt durchaus die Möglichkeit einer Anschauung zu, die eine Inkompatibilität gegenüber den Begriffen des Verstandes besitzt: „Denn es könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände, und alles so in Verwirrung läge, daß zum Beispiel in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regel der Synthesis an die Hand gäbe … Erscheinungen würden nichtsdestoweniger unserer Anschauung Gegenstände darbieten, denn die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise.“ 31
Da es in Kants Kritik der reinen Vernunft aber um die Möglichkeit von objektiver Erkenntnis geht, spielt diese Form von Anschauung darin keine große Rolle. Die Betonung einer notwendigen Kooperation von Verstand und Sinnlichkeit ist vielmehr auf die mögliche Erkenntnisrelevanz für den menschlichen Verstand bezogen. Für diesen gilt: „… die
30 31
A 90, B122. A 90f., B123. Irritierend ist, dass Kant hier schon von Gegenständen spricht, die erscheinen. Da, wie Kant nachweist, allein Begriffe objektiven Gegenstandsbezug möglich machen, müssten solche Anschauungen doch schon begrifflich strukturiert sein. Ich denke aber, dass das, was hier vermutlich mangels alternativer Begriffe als „Gegenstand“ bezeichnet wird, gleichwohl keine Erkenntnisrelevanz besitzt, dass es sich dabei also um gar keine Erfahrung handelt, sondern um „nichts als ein blindes Spiel der Vorstellungen“. Vgl. auch A112.
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DIE KONSTITUTIVE FUNKTION DES VERSTANDES
Rezeptivität kann nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnisse möglich machen.“32 Kants berühmte kopernikanische Umänderung der Denkart33 besteht also darin, die Konstituiertheit der Gegenstände der Erkenntnis durch den Verstand herauszustellen und Objektivität damit nicht mehr als Angemessenheit an unabhängig vom Verstand gegebene Gegenstände zu verstehen, sondern vielmehr als ein Bemessen der Erfahrung an dem, was vom Verstand selbst als objektive Erkenntnis anerkannt wird. „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt.“ 34
Im Gegensatz zu einem naiv-empiristischen Ansatz ist bei Kant der Verstand nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleich sinnlicher Erfahrungen sich Regeln zu machen, sondern er „ist selbst die Gesetzgebung für die Natur“35. Der Verstand ist „Urheber der Erfahrung, worin seine Gegenstände angetroffen werden“.36 Dieser Funktion gemäß, werden dem Verstand Attribute des Konstituierens, Machens, Herstellens oder Verbindens zugeschrieben. Begriffe entsprechen daher nicht Figuren der Anschauung, sondern sind Verfahren der Herstellung, der Erzeugung von Figuren in der Anschauung. Der Beitrag des Verstandes zur Erfahrung wird von Kant dabei als ein konstitutiver, nicht bloß als ein additiv hinzukommendes Vermögen aufgefasst. Die Verarbeitung des Materials der Sinne ist kein nachträgliches, sondern in der Erfahrung selbst immer schon wirksames. Ohne die Einheitsfunktion des Verstandes kann keine Anschauung zum Bewusstsein kommen und ein Gegenstand weder wahrgenommen noch vorgestellt werden. Element
32 33 34 35 36
A97. B XVI sowie B XXII. A125. A126. A94, B127.
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
III.2.2.3
Die Einzelheit der Anschauung als konstitutionsanalytisches Element Was ich im nun folgenden Schritt betrachte, ist die Einzelheit der Anschauung als strukturelle Voraussetzung für die Behauptung der Urheberschaft des Verstandes in Bezug auf mögliche Erfahrung. Diese Voraussetzung betrifft das Material, welches ohne den Beitrag des Verstandes gar keine Erfahrung bzw. für keine Erkenntnis relevant sein könnte. Ich komme nun also zu meiner eigentlichen These in Bezug auf die Einzelheit der Anschauung bei Kant. Kant bestimmt den Verstand als das Vermögen, zu urteilen. Da in einem Urteil Vorstellungen miteinander verbunden werden, wird er zugleich auch als das Vermögen der Synthesis bezeichnet. Als Gegenstück zur verbindenden Verstandesaktivität müssen nun dazu geeignete Elemente angenommen werden. Entscheidend ist, dass es sich hierbei um die Ebene der konstitutionsanalytischen Unterscheidung und somit der transzendentalen Erklärung handelt. Es geht also nicht um die Elemente, welche dem Verstand faktisch gegeben sind und auf die sich seine Aktivität tatsächlich richtet. Denn Kant zeigt ja gerade, dass eine Vorstellung, die überhaupt bewusst und in einer Erfahrung gegeben sein kann, notwendig bereits der Einheitsfunktion des Verstandes unterliegt. Die kantische Begründung der Urheberschaft des Verstandes hingegen ist eine transzendentale, nämlich die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung betreffend. Die Frage lautet also, welcher Art die Elemente sind, die auf der Ebene der transzendentalen Erklärung die vom Verstand zu verbindenden Elemente darstellen. Hier ist nochmals zu betonen, dass es sich um bloß konstitutionsanalytisch unterschiedene Elemente handelt, um jene Anschauungen, die Kant zu Beginn des zweiten Teiles der transzentalen Elementarlehre begrifflich einführt. Das Gegenstück zur strukturierenden Tätigkeit des Verstandes muss ein unstrukturiert Gegebenes sein. Es besteht in der bloßen Abfolge von Empfindungen, welche keinerlei Ordnung und Struktur, also nichts, was erkenntnisrelevant ist, erkennen lässt.
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DIE EINZELHEIT DER ANSCHAUUNG
Diese Abfolge, von Kant bezeichnet als „Gewühle von Erscheinungen“, kann selbst gar nicht zum Gegenstand von Erfahrung werden.37 Im Rahmen einer Erfahrung, die immer schon der Einheitsfunktion des Verstandes unterliegt, ist eine bloße Abfolge vereinzelter Empfindungen ohne alle sinnhaften Bezüge faktisch nicht gegeben.38 Selbst wenn also beide Momente, begriffliche (gegenständliche) und nicht begriffliche Anschauungen, tatsächlich nicht auseinandergehalten werden können, da das, was wir erkennen, durch Urteilsfunktionen oder Kategorien immer schon strukturiert ist, wenn uns also ein unstrukturiert Gegebenes gar nicht zugänglich ist, muss diese prinzipielle Verschiedenheit beider Momente vorausgesetzt werden, damit jene kopernikanische Wende überhaupt behauptet werden kann.39 Die Vereinzeltheit dessen, was in der Wahrnehmung gegeben wäre, wenn die Einheitsfunktion des Verstandes nicht darauf angewendet werden würde, ist die Voraussetzung dafür, dass der Verstand als alleiniger Urheber möglicher Verbindungen und somit als Urheber möglicher Erfahrung gelten kann. Auf der einen Seite dieser konstitutionsanalytischen Trennung steht die Rezeptivität des begrifflich Bestimmbaren, auf der anderen die Spontaneität eines Ver37
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Es geht hier auch nicht um relative Verwirrtheit von Vorstellungen, die innerhalb einer begrifflich strukturierten Erfahrung der Beurteilung, das heißt einer begrifflichen Ein- oder Neuordnung, noch bedürfen. Daher bilden Erfahrungen, die uns nicht sinnhaft oder verwirrt oder gegenstandslos erscheinen, keine wirkliche Ausnahme davon, da sie stets als Abweichung von den gewohnten Sinnzusammenhängen erfahren werden und insofern selbst noch als privativer Modus einer eigentlich gegenständlichen Erfahrung gelten müssen. Worum es mir hier geht, ist die bloße Abfolge einzelner Wahrnehmungen, welche gar nicht miteinander verknüpft sind. Im Ergebnis der Transzendentalen Deduktion hält Kant fest, dass Wahrnehmung durch Zusammensetzung des Mannigfaltigen überhaupt erst möglich sei. Vgl. B160. „Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien, und, da Erfahrung Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmung ist, so sind die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung.“ B161 Vgl. Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, S. 171ff.
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
standes, welcher durch die Anwendung von Begriffen Einheit herstellt. Die Mannigfaltigkeit der Anschauung steht der Einheit des Begrifflichen gegenüber. Wir finden also auch bei Kant die zumindest konstitutionsanalytische Unterscheidung zwischen einem passiv durch die Sinne aufgenommenen Material und der aktiven Verstandestätigkeit. Dabei wird, wie eingangs anhand der dritten Unterscheidung beider Vermögen dargestellt wurde, das sinnlich gegebene Material durch Einzelheit bzw. Mannigfaltigkeit charakterisiert, während Begriffen Allgemeinheit zugesprochen wird. In diesem Ansatz, so meine These, zeigt sich das Residuum eines empiristischen Konzepts reiner Datenerfahrung.40 Diese These soll nun anhand möglicher Einwände und Lesarten diskutiert und erhärtet werden. Diskussion von möglichen Einwänden
III.2.2.4
Diskussion von möglichen Einwänden Es scheint, als erwähnte Kant die mögliche Inkompatibilität von Anschauungen und Begriffen, um in der darauf folgenden Transzendentalen Deduktion zu zeigen, dass jede Empfindung, Anschauung und Wahrnehmung notwendig unter den Kategorien steht. Kant betont damit, dass ohne Verbindung von Vorstellungen nach Begriffen gar kein Gegenstandsbezug und kein Bewusstsein möglich ist. Aus diesem Ergebnis könnten sich eine Reihe von Bedenken gegen die oben formulierte These ergeben. Ein erster mögliche Einwand könnte der Atomismuskritik-Einwand sein. Kants Kritik, so lautet dieser Einwand, richtet sich gerade gegen die empiristische Annahme einer atomistischen Erfahrungsbasis. Denn Kant weist nach, dass einzelne Wahrnehmungen, die von den begrifflichen Funktionen des Verstandes unberührt sind, gar keinen objektiven Gegenstand haben können. Innerhalb eines empiristischen Ansatzes gelten primär die in der Wahrnehmung gegebenen einfachen Ideen als sich objektiv auf Gegenstände beziehende, während die Assoziation
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Vgl. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und des Formalismus, S. 95–100.
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DISKUSSION VON MÖGLICHEN EINWÄNDEN
von Vorstellungen letztlich subjektiv und zufällig ist. Dadurch wird aber, zumindest in der Sicht von Kant, ein Skeptizismus in Bezug auf objektives Wissen um Gesetzmäßigkeiten in der Natur heraufbeschworen. Dem setzt Kant entgegen, dass objektive Erkenntnis nur möglich ist, wo Verbindungen und Zusammenhänge schon hergestellt sind. Diese Einsicht lässt sich plausibel machen anhand der Tatsache, dass, wo immer wir uns auf einen Gegenstand beziehen, dieser Bezug stets mehr umfassen muss als ein augenblicklich Gegebenes. Mit ihm müssen verschiedene mögliche An- bzw. Hinsichten ebenso wie seine mögliche Nichtsichtbarkeit, das heißt das von der Wahrnehmung unabhängige Fortbestehen des Gegenstandes in Raum und Zeit gemeint sein. So ist beispielsweise beim Anblick eines Hauses auch das Innere dieses Hauses und seine Rückseite mitgedacht, ebenso wie der Baum noch als Baum gilt, wenn er sein Laub verloren hat. Der Wechsel der Perspektive und auch die Änderung seines Zustandes ändert nicht notwendig etwas daran, dass wir ihn als diesen oder jenen Gegenstand erkennen. Umgekehrt ist mit der objektiven Wahrnehmung eines Gegenstandes impliziert, dass diese nicht auf eine einzige Perspektive oder auf einen einzigen Kontext reduziert ist. Das gilt sogar, wenn wir uns auf einen Sinneseindruck beziehen. Sobald wir dies tun, haben wir einen gedanklichen oder begrifflichen Zugang zu ihm eröffnet, der seine augenblickliche Gegebenheit überschreitet. 41 „Die Rede von der Erhaltung von Erscheinungen trotz der Veränderung der Vorstellungen (wie sie auch Hume thematisiert) setzt also voraus, daß die Wahrnehmungen einen Gegenstand meinen, der von seiner jeweiligen Gegebenheitsweise unterschieden ist, das heißt der sich in den einzelnen
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Hegel hat diese Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem bereits im Zeigen auf einen einzelnen Sinneseindruck aufgewiesen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Abschnitt I.: „Die sinnliche Gewißheit; oder das Diese und das Meinen“, S. 77.
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wahrgenommenen Aspekten zwar darstellt, der sich darin aber gerade nicht erschöpft.“ 42
Feste Verweisungszusammenhänge zwischen Vorstellungen sind eine Voraussetzung für jeden Objektivitätsanspruch von Erfahrungsurteilen. Diese Bedingung für objektive Gegenstandserkenntnis widerspricht aber der kategorialen Einzelheit und Isoliertheit jener Vorstellungen, die sich auf ihn beziehen sollen. Beziehungen und Regeln solcher Beziehungen zwischen den Vorstellungen müssen schon hergestellt sein, damit der Bezug auf einen Gegenstand überhaupt möglich ist. Diese Beziehungen sind nach Kant begriffliche Beziehungen, welche durch den Verstand hergestellt werden. Erst durch die Einheit der Synthesis ist eine intentionale Gegenstandsbeziehung möglich. In diesem transzendentalen Sinne, das heißt als Bedingung der Möglichkeit eines Gegenstandsbezugs, ist die Verbindung von Vorstellungen keine subjektive oder zufällige, sondern eine notwendige.43 Daher lässt sich als die Quintessenz der kantischen Einsicht formulieren, dass Vorstellungszusammenhang und Gegenstandsbeziehung von Vorstellungen wesentlich zusammen gehören. Die kantische Erklärung der Bedingungen für eine mögliche Objektivität von Erfahrung stellt also eine Überwindung gerade jener „horizontlose(n) und kategoriale(n) Vereinzeltheit und Zerstreutheit“ 44 dar, die sich als Konsequenz aus der atomistischen Auffassung von Vorstellungen ergibt. Kants Widerspruch gegen den Vorstellungsatomismus der empiristischen Wahrnehmungstheorie liegt dabei jedoch nicht in einem phä-
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43
44
Hansgeorg Hoppe, Synthesis bei Kant. Das Problem der Verbindung von Vorstellungen und ihrer Gegenstandsbeziehung in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, S. 88. Die Notwendigkeit, dass zur Intentionalität eine mögliche Vielheit von Perspektiven in der Erfahrung gehört, wurde besonders von Husserl betont. Vgl. Edmund Husserl, Analysen zur Passiven Synthesis, S. 6. Versteht man die Beziehung als eine faktische, ist natürlich jederzeit ein Irrtum möglich. In faktischem Sinne ist die Verbindung keine notwendige, sondern eine zufällige oder fallible. Hoppe, a. a. O., S. 88ff.
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nomenologischen oder empirischen Befund.45 Es sind vielmehr erkenntnistheoretische Überlegungen, die seinen Widerspruch ausmachen. Diese betreffen die Bedingungen eines möglichen Bezugs auf Gegenstände und objektive Sachverhalte und die Bedingungen für Bewusstheit überhaupt. Damit ist eine erste Antwort auf den Atomismuskritik-Einwand gegeben. Kant stellt nicht die Voraussetzung der Gegebenheit einzelner Anschauungen in Frage. Diese Voraussetzung besagt, dass Wahrnehmung oder bloße Anschauung zunächst Einzelnes aufnimmt. Die einführende Bestimmung von Anschauung und Wahrnehmung wird auch nach der Deduktion der notwendigen Vermitteltheit von Anschauungen und Begriffen nicht vollständig aufgegeben.46 Was Kant anfechtet, ist vielmehr die erkenntnistheoretische Relevanz isolierter einzelner Eindrücke. Er stellt in Frage, dass Anschauungen ohne Vermitteltheit durch Verstandesbegriffe überhaupt auf Gegenstände gerichtet sein können. Somit betrifft die kantische Entgegensetzung nicht den atomistischen Ansatz im Ganzen, sondern vielmehr seine Geeignetheit, die intentionale Gegenstandsbeziehung und damit die Objektivität von Erfahrung erklären zu können. Kants Beweisgang bezieht sich stets auf diejenige Anschauung, in der Gegenstände gegeben sein sollen, das heißt auf die Erkenntnisfunktion der Anschauung. „Der Beweisgrund beruht auf der vorgestellten Einheit der Anschauung, dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welche jederzeit eine Synthesis des mannigfaltig zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt, und
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Ebd., S. 82. Vgl. B145, sowie A374. Wahrnehmung wird hier so charakterisiert, dass sie sich zwar auf äußere Gegenstände (im Gegensatz zu Empfindungen wie Lust und Schmerz) bezieht, diese aber noch nicht bestimmt. Das entspricht der anfänglichen Bestimmung von Wahrnehmung als einer sich einzeln und unvermittelt, das heißt nicht vermittelst eines begrifflichen Merkmals auf den Gegenstand beziehenden Erkenntnis.
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schon die Beziehung dieses letzteren auf Einheit der Apperzeption enthält.“ 47 „Objek t aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinig t ist.“ 48
Kant nennt die begriffliche Synthesis des Mannigfaltigen zum einen als grundlegende Bedingung des Bezugs einer Vorstellung auf die ursprüngliche Einheit der Apperzeption und in zweiter Instanz auch als Bedingung für die Erkenntnis von Gegenständen und für deren Objektivität. Anschauungen, die vor bzw. unabhängig von einer möglichen begrifflichen Strukturierung gegeben sind, sind damit aus der Betrachtung ausgeschlossen. Dass diese gleichwohl vorausgesetzt werden können und auch müssen, gibt Kant im Anschluss an die Paragraphen 20 und 21 der Transzendentalen Deduktion tatsächlich zu: „Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise doch nicht abstrahieren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse; wie aber, bleibt hier unbestimmt.“ 49
Dies bedeutet zum einen, dass für den menschlichen Verstand Anschauungen nur durch Begriffe zugänglich, das heißt gegenständlich werden können. Zum anderen ist dieses Eingeständnis ein Beleg dafür, dass die Einzelheit sinnlicher Empfindungen als das Material, bei dem die Synthesis des Verstandes ansetzt, von Kant vorausgesetzt werden muss. Diese Charakterisierung betrifft also nicht nur jene Anschauungen, die logisch für die Transzendentale Deduktion konstitutionsanalytisch vorausgesetzt sein müssen, indem sie eine Voraussetzung für den Beweisgang selbst darstellen. Sie betrifft zugleich auch konkret solche Anschauungen, die vom Beweisgang ausgeschlossen werden und denen eine Erkenntnisrelevanz abgesprochen wird, insofern sie gar nicht zu einem Bewusstsein kommen können und ihr Inhalt unbestimmt 47 48 49
B144. B137. B145.
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bleiben muss. In dieser Weise hält Kant also an der Mannigfaltigkeit und Vereinzeltheit der Anschauung fest. Daher stimme ich der Feststellung Engfers zu: Worin Kant „mit seinen empiristischen Vorgängern im grundsätzlichen übereinstimmt, das ist, dass er das noch unbearbeitete Empirische durch seine atomare Struktur bestimmt sieht: Was allen seinen Aussagen über das noch unbearbeitete Empirische trotz ihrer Abweichungen untereinander gemeinsam ist, das ist seine Bestimmung als das ‚Mannigfaltige‘, das ‚im Gemüt an sich zerstreuet und einzeln angetroffen‘ wird (A129) und bloß ‚einzelne Vorstellungen‘ enthält, die einander ‚ganz fremd‘ und voneinander ‚gleichsam isoliert‘ und ‚getrennt‘ sind (A97). Was uns die Rezeptivität jenseits der Spontaneität gibt und was die Materie jenseits der Form der Erkenntnis ausmacht, das ist für Kant hier das noch Unverbundene, voneinander Isolierte und Getrennte, das eben wegen dieses seines Charakters als ‚Mannigfaltiges‘ bezeichnet wird.“ 50
Ein zweiter, eher genereller Einwand betrifft die nur scheinbare genealogische Struktur der kantischen Erklärung von Erfahrung. Ich nenne ihn den Strategie-Einwand. Viele Interpreten rechtfertigen die anfängliche Charakterisierung der Anschauung als einzelne und nichtbegriffliche damit, dass es sich bei der Beschreibung von konstituierenden Elementen möglicher Erkenntnis gerade nicht um eine genealogische Stufenfolge, sondern um eine zunächst nur rhetorische Einführung bestimmter Begriffe in eigentlich kritischer Absicht handelt.51 Kant be-
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Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, S. 379. Engfer schränkt diese Feststellung Kants auf eine bestimmte, zu überwindende Stufe innerhalb der Argumentation Kants ein. Ich sehe diese Einschränkung zumindest für die transzendentale Argumentation nicht gegeben und bemühe mich in der folgenden Diskussion des zweiten Einwandes um eine Rechtfertigung meines Festhaltens an dieser These. Vgl. z.B. Helmut Holzhey, Kants Erfahrungsbegriff. Quellengeschichtliche und bedeutungsanalytische Untersuchungen, S. 208; Engfer, a.a.O, S. 360–400, insbes. S. 363; sowie Christian Helmut Wenzel, Spielen nach Kant die Kategorien schon in der Wahrnehmung eine Rolle? Peter Rohs und John McDowell. Vgl. S. 424: „Die ‚Deduktion von unten‘ ist eher empirischer und psychologischer
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stimmt demnach auf verschiedenen Stufen jeweils auf neue Weise die Konstitution von Erfahrung aus den in ihr liegenden Elementen. In diesem Hinweis liegt bereits das Eingeständnis, dass die Versuchung gegeben ist, die Synthesis des Mannigfaltigen durch den Verstand als einen Verarbeitungsprozess zu lesen, der einer atomistischen Erfahrungsbasis als Material tatsächlich bedarf. Viele Äußerungen Kants erwecken durchaus den Eindruck, dass begriffliche Fähigkeiten auf ein solches Material zuerst angewendet würden. Dies, so zum Beispiel Wenzel, legt eine Stufenfolge oder eine Art Baukastensystem von Erkenntnis nahe, die dem eigentlichen Beweisziel Kants jedoch widerspricht. 52 Die Pointe des Strategie-Einwandes liegt darin, dass es sich bei der kantischen Darstellung nicht um eine genealogische Beschreibung, sondern vielmehr um eine logische Analyse und transzendentale Argumentation handelt. In den Prolegomena äußert sich Kant allgemein über seine Vorgehensweise, insofern „nicht von dem Entstehen der Erfahrung die Rede ist, sondern von dem, was in ihr liegt“ 53. In der Erfahrung liegen also bestimmte Elemente, die als solche nicht vorfindbar sind, sondern erst im Zuge einer Analyse und zum Zwecke derselben hervortreten und untersucht werden. Die einführende Bestimmung von Anschauung wird demnach als ein bloß strategischer Zug aufgefasst, der dazu dient, dem Leser gewinnend entgegen zu kommen, um daraufhin den eigentlichen Beweis anzutreten, dass das Gegebene solcher Art nicht sein kann. Das Mannigfaltige stellt folglich einen ganz abstrakten Begriff dar, der selbst nur ein gänzlich Unbestimmtes bezeichnet und noch nicht einmal als das Material gelten kann, an dem die verarbeitende Tätigkeit des Verstandes tatsächlich ansetzt. Einzelne Anschauungen bzw.
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Natur. Sie ist für den Leser eingängiger, birgt aber die Gefahr, die Zusammenhänge genealogisch zu verstehen, was nicht Kants Anliegen ist, dem es letztlich um logische Bedingungsverhältnisse und keine Genealogie der Erfahrung geht.“ Vgl. Wenzel, a. a. O., S. 423. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, A87. A87.
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die Mannigfaltigkeit der Erfahrung könnten demnach keine isolierbare Basis der Erfahrung bilden. Denn im Ergebnis der kantischen Untersuchung ist die Eigenständigkeit der eingangs unterschiedenen Erkenntniselemente widerlegt. Gerade indem Kant der atomistischen Erfahrungsbasis einen holistischen Erfahrungsbegriff54 entgegensetzt, würde er sich von der empiristischen Tradition abheben. Handelt es sich also bei der Behauptung der ursprünglichen Zerstreutheit und Mannigfaltigkeit der Anschauung tatsächlich nur um eine rhetorische Figur, die ihrer logischen Widerlegung dient? Inwiefern lässt sich überhaupt vertreten, dass Kant Anschauungen als kategorial einzelne, das heißt auch als nicht-begriffliche auffasst? Ich plädiere, obwohl ich den Hinweis auf eine rhetorisch vorgehende und argumentativ fortschreitende Bestimmung der Erkenntniselemente durch Kant für richtig halte, dafür, den kritischen Blick auf die konstitutionsanalytische Elementarisierung nicht aufzugeben. Dafür muss deutlich werden, dass dieser Hinblick nicht in einer Verwechslung der konstitutionsanalytischen Elementarisierung mit der Annahme einer genealogischen Stufenfolge der Erkenntnis besteht. Der Ausgang von der Bestimmung der Anschauung als auf Einzelnes gerichtet stellt, so meine These, keine bloß rhetorische Figur, sondern eine grundlegende Voraussetzung für die transzendentale Argumentation dar. Kant geht von einzelnen sinnlichen Eindrücken ebenso wie von einem einzelnen, noch leeren Ich aus, um zu zeigen, dass beide nur in der Funktion der Synthesis und durch den gegenseitigen Bezug gehaltvolle Vorstellungen werden können. Die transzendentale Einheit der Apperzeption, als die höchste Einheitsfunktion des Verstandes, beruht daher selbst noch auf dieser Annahme von gegebenem Einzelnem. In der Anwendung der transzendentalen Einheit der Apperzeption auf flüchtige, empirische Vorstellungen konstituiert sich erst das Ich als ein vereinigendes Selbstbewusstsein dieser Vorstellungen. Weil Anschauung 54
Vgl. auch dazu Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, S. 396.
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ohne diesen Bezug auf die Einheit der Apperzeption bloß ein „Gewühle von Erscheinungen“ und „gedankenlose Anschauung“55 wäre, kann Kant für jede mögliche Erkenntnis die notwendige Kooperation von Sinnlichkeit und Verstand behaupten. Die ursprüngliche Vereinzeltheit und Beziehungslosigkeit von Vorstellungen bleibt so die Grundlage für den Beweisgang. Mit dieser Differenzierung des eigentlichen Beweiszieles der Transzendentalen Deduktion von ihrer grundlegenden Annahme möchte ich meine These in Bezug auf den Status der Einzelheit der Anschauung innerhalb der kantischen Lehre präzisieren und zugleich verteidigen: Die Gegebenheit von noch ungeordneten Sinnesdaten muss für die Behauptung der gegenstandskonstituierenden Funktion des Verstandes durch die Anwendung seiner Begriffe vorausgesetzt werden. Sie bildet den Ausgangspunkt der Transzendentalen Deduktion und der von Kant erhobenen Behauptung einer kopernikanischen Wende in Bezug auf die konstitutive Funktion des Verstandes für jede mögliche Erfahrung. Gleichzeitig macht Kant deutlich, dass ein einzelnes Sinnesdatum in seiner Verworrenheit und Beziehungslosigkeit für uns gar nicht wahrnehmbar, das heißt auch nicht unmittelbar erkennbar ist. Wie kann seine einführende Bestimmung von Anschauung dann jedoch überhaupt gerechtfertigt werden? Dass ein solches Mannigfaltiges bzw. Einzelnes gegeben ist, lässt sich durch keine Evidenz belegen. Sobald auf Einzelnes verwiesen wird, ist es bereits bewusst gemacht und zugleich begrifflich erfasst. Dadurch aber ist seine Unvermitteltheit und Einzelheit aufgehoben, denn der Verweis ist prinzipiell wiederholbar.56 Handelt es sich also bei der Behauptung, dieses Gegebene sei ein Mannigfaltiges, um ein bloßes Postulat, als welches Rorty es auffasst?57 Um diese 55 56
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A111. Diese Eigenschaft der sinnlichen Gewissheit wurde von Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie hervorgehoben, anhand ihrer Aufhebung im Moment des Ausgesagtwerdens. Vgl. Kapitel III.1. Auf diesen Punkt zielt auch Rortys Kritik ab. Vgl. Richard Rorty, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, S. 173.
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Frage weiterzuverfolgen und die zur Debatte stehende Auffassung eines in der Anschauung gegebenen Einzelnen bzw. Mannigfaltigen zu verdeutlichen, werde ich zwei weitere Einwände vorstellen und diskutieren. Einen dritten, von den ersten beiden nicht gänzlich verschiedenen Einwand bezeichne ich als den Unhintergehbarkeits-Einwand. Er besteht in dem Hinweis darauf, dass die eigentliche verbindende Tätigkeit des Verstandes sich stets auf solche Vorstellungen richtet, welche schon in einer Einheit gegeben sein müssen. Kant führt in der Transzendentalen Deduktion den Nachweis, dass jede erkenntnisrelevante Anschauung notwendig bereits der Synthesis des Verstandes unterliegt, das heißt als eine Einheit von Mannigfaltigem aufgefasst sein muss. Die Einheitsfunktion der Apperzeption muss auf sie schon angewendet worden sein. Die Frage lautet also, ob es sich bei der hier vorgeschlagenen Interpretation nicht um eine allzu mechanistische Auffassung der verbindenden Tätigkeit des Verstandes handelt. Gibt es tatsächlich zunächst nur Einzelnes, das in einem darauf folgenden Schritt dann erst zu einer synthetischen Einheit verbunden wird? Müsste nicht vielmehr eine Gleichursprünglichkeit von gegebener Einheit und vereinheitlichender Tätigkeit des Verstandes angenommen werden? Das bedeutet, dass die Vorstellungen, welche verbunden werden, immer schon in einer Einheit aufzufassen sind. Sicherlich unterliegt es der Tätigkeit des Verstandes, auch und vor allem dasjenige zu verbinden, was bereits ein bestimmtes ist und insofern schon unter den Kategorien steht. Diese Beschreibung betrifft die faktische Ebene der synthetischen Tätigkeit des Verstandes. Bei der Isolation von noch nicht begrifflich vermittelten Anschauungen handelt es sich jedoch im Unterschied dazu um eine Voraussetzung für die transzendentale Erklärung Kants – jener Erklärung, die auf die Objektivität von Erfahrungsurteilen und auf die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori zielt. Diese Erklärung betrifft nicht die bloß faktische und subjektive Assoziation von Vorstellungen, sondern vielmehr die notwendige und damit erst Objektivität ermöglichende Einheit derselben. Wenn al-
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so die transzendentale Einheit der Apperzeption zum Prinzip jedes möglichen empirischen Bewusstseins erhoben wird, wird mit der ursprünglichen synthetischen Leistung des Verstandes zugleich die Einzelheit flüchtiger Eindrücke und auch die Einzelheit eines zunächst leeren Ich-Begriffs zugrunde gelegt. In diesem transzendentalen Sinne ist dasjenige Material, dem der Verstand als Urheber möglicher Erfahrung gegenüber steht, selbst als ein noch nicht begrifflich strukturiertes aufgefasst. Die tatsächliche Immer-schon-Vermitteltheit von Anschauungen und Begriffen stellt demgegenüber eine Beschreibung faktischer Erfahrung dar, während als Voraussetzung für die Transzendentale Deduktion die unterschiedenen Erkenntniselemente bzw. Vermögen dualistisch charakterisiert sind. Die konstitutionsanalytische Elementarisierung zeichnet sich dadurch aus, dass Elemente als deutlich voneinander unterschieden und gleichzeitig als nicht voneinander isolierbar angenommen werden. Diese Behauptung ist entscheidend für die Erörterung des konstitutiven Beitrags des Verstandes zur Erfahrung und um diese Behauptung geht es. Der Gegeneinwand, dass solche Elemente nicht die eigentlichen Gegenstände der verbindenden Tätigkeit des Verstandes sein können, insofern sie zu gar keiner Erfahrung gelangen, kann nur für die faktische, nicht aber für die konstitutionsanalytische Ebene geltend gemacht werden. Der letzte Einwand, den ich hier diskutiere, betrifft die Möglichkeit, einzelne Anschauungen mit Kant zugleich schon als begrifflich vermittelte Anschauungen zu verstehen. In seinem Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft spricht Strawson von einem „grundlegenden Dualismus“, der „für jedes philosophische Nachdenken über Erfahrung und empirisches Wissen unvermeidlich ist“58. Dieser Dualismus betrifft die Unterscheidung zwischen dem rezeptiven Vermögen der Sinnlichkeit und dem aktiven Vermögen des Verstandes, Begriffe hervorzubringen und wird von Strawson folgendermaßen interpretiert: 58
Strawson, a. a. O., S. 19f. (Deutsche Übersetzung in Peter F. Strawson, Die Grenzen des Sinns, S. 15.)
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“This is the duality of general concepts, on the one hand, and particular instances of general concepts, encountered in experience, on the other.” 59
Damit ist eine mögliche Lesart Kants angesprochen, die das Einzelne nicht als Erfahrungsdatum, sondern im Sinne der Kooperation von Sinnlichkeit und Verstand als ein immer schon begriffliches Einzelnes, das heißt als eine Funktion allgemeiner Begriffe und in Angewiesenheit auf diese versteht. Diese Alternative lässt sich auch historisch markieren. Die zuerst genannte Auffassung entspricht dem empiristischen Prinzip, dass die Abstraktionstätigkeit des Verstandes an einfachen in der Erfahrung gegebenen Ideen ansetzt. Diese Konzeption wurde im Kapitel II auseinandergesetzt. Die dem entgegengesetzte Konzeption versteht das Einzelne stets schon als begrifflich vermitteltes, das heißt in Abhängigkeit von der Funktion allgemeiner Ausdrücke. Diese Position ist, zumindest wenn begriffliche Allgemeinheit auf die Verwendungsweise sprachlicher Ausdrücke zurückgeführt wird, eng mit dem sogenannten linguistic turn60 verbunden. Darauf gehe ich im Kapitel IV.3 näher ein. Die Auffassung einer sprachlich vermittelten Anschauung wird von Kant selbst, wie bereits dargestellt, nahegelegt. Die Frage ist nun, ob auch die von der Anschauung behauptete Einzelheit im Sinne der kantischen Tranzendentalen Deduktion als eine sprachlich vermittelte zu verstehen ist. Eine solche Lesart vertreten zum Beispiel Sellars und McDowell. Es scheint sich also die Alternative zu stellen, ob die Unterscheidung einzelner Anschauungen und allgemeiner Begriffe auf verschiedenen Satzfunktionen beruht, oder ob sie eine kategoriale ist, insofern Anschauungen zunächst unabhängig von begrifflicher Vermittlung gegeben sind. Anhand der Diskussion der Sellars-McDowell-Lesart Kants möchte ich auf diesen vierten möglichen Einwand, der die Ein-
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Ebd., S. 20. Vgl. zum linguistischen Paradigma in der Philosophie Herbert Schnädelbach, Philosophie, S. 68ff.
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zelheit von Anschauungen in Abhängigkeit von begrifflicher Allgemeinheit61 versteht, eingehen. Der Sellars-McDowellschen Lesart zufolge ist das Einzelne der Anschauung nach Art eines Demonstrativpronomens, als ein dieses oder jenes, zu verstehen.62 Zugleich handelte es sich um ein bereits als etwas verstandenes Einzelnes, mit Kant als ein Mannigfaltiges. Ein solches this-such muss bereits als ein begriffliches aufgefasst werden. McDowell zufolge werden in der Anschauung begriffliche Fähigkeiten aktualisiert. Diese werden zwar nicht aktiv ausgeübt, insofern handelt es sich bei der Wahrnehmung von etwas als etwas nicht um ein Urteil. Gleichwohl gibt es einen konstitutiven Zusammenhang zwischen einer solchen Wahrnehmung und der Fähigkeit, zu urteilen. In der Wahrnehmung von etwas als etwas ist das Verständnis eines Begriffes, das heißt der Umgang mit seiner Verwendung in möglichen Urteilen und damit auch das Verständnis anderer Begriffe vorausgesetzt. Dennoch wird in der Wahrnehmung selbst kein Urteil gefällt, was auch für die kantische Anschauung gilt. Die Unvermitteltheit der Anschauung liegt, dieser Lesart zufolge, gerade in der passiven Gegebenheit des Gegenstandes. Urteile hingegen sind spontane Akte. Das Urteilsvermögen wird daher von McDowell vielmehr als eine Ermöglichungsbedingung von Anschauungen betrachtet. Dass sowohl Anschauungen als auch Urteile einen begrifflichen Gehalt haben können, beruht auf der Behauptung eines umfassenden semantischen Holismus.63 Damit verändert sich auch die Konzeption der Einzelheit von Anschauungen. Nach der Sellars-McDowellschen Kant-Interpretation sind Anschauungen einzeln aufgrund einer gram61
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Diese Abhängigkeit ist keine Ableitungsbeziehung, sondern vielmehr eine Gleichursprünglichkeit, wie im Folgenden und im Kapitel V noch deutlicher wird. Vgl. Wilfrid Sellars, Science and Metaphysics. Variations on Kantian Themes, S. 3, sowie John McDowell, Having the World in View: Sellars, Kant, and Intentionality, S. 451–492. Die McDowellsche Konzeption von begrifflich strukturierten Wahrnehmungen behandele ich im Kapitel VIII eingehend. Hier soll es zunächst nur um seine Kant-Interpretation gehen.
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matischen Funktion, der des sprachlichen Verweisens. Die Einzelheit wird zugleich als logisches Gegenstück zur sprachlichen Allgemeinheit aufgefasst. Wenn ich also zum Beispiel auf „jenes Rot“ hinweise, handelt es sich dabei um die einzelne Instanziierung einer allgemeinen Eigenschaft, die mit „rot“ bezeichnet wird. Ich halte zumindest die Schlussfolgerung nicht für überzeugend, dass die von Kant eingeführte Einzelheit der Anschauungen als eine Funktion sprachlichen Verweisens und Bestimmens zu verstehen ist.64 Denn Kant bestimmt Anschauungen zusätzlich als sich unvermittelt auf einen Gegenstand beziehende Vorstellungen. Entscheidend ist, wie Unvermitteltheit hier definiert ist, nämlich in der Entgegensetzung zu einem begrifflichen Gegenstandsbezug: Während ein Begriff sich vermittelst eines Merkmals, das mehreren Vorstellungen gemeinsam ist, auf einen Gegenstand bezieht, ist der Gegenstand der Anschauung, so Kant, unmittelbar gegeben.65 Anschauungen als Vorstellungen von this-suches, das heißt als schon begrifflich vermittelte zu verstehen, steht in einem offenbaren Widerspruch dazu. Selbst wenn man nun die einführende Charakterisierung von Anschauungen als einzelne als einen didaktischen Eröffnungszug ansieht, der dazu dient, im Fortgang der Transzendentalen Deduktion aufgehoben zu werden, indem ihre notwendige begriffliche Vermitteltheit dargelegt wird, kann gerade ihre anfängliche Bestimmung als einzelne nicht schon als eine Funktion sprachlichen Verweisens interpretiert werden. Denn an der Stelle, an der sie als einzelne eingeführt werden, wird ihr Gegenstandsbezug zugleich als unvermittelt charakterisiert. Diese Unvermitteltheit kann meines Erachtens auch nicht auf das Moment der Passivität sinnlicher Eindrücke reduziert werden, wie McDowell das tut.66 Vielmehr setzt Kant die Unver64
65 66
Das gilt allerdings nur für die Anschauung auf der Stufe der konstitutionsanalytischen Unterscheidung. Auf der Ebene begrifflicher Vermitteltheit unterscheidet Kant durchaus zwischen allgemeinen und einzelnen Begriffen. A320, B377. McDowell, Having the World in View: Sellars, Kant, and Intentionality, Lecture II: “The Logical Form of an Intuition”, S. 451–470. Wenn McDowell von ei-
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mitteltheit ausdrücklich in einen Gegensatz zu begrifflicher Vermitteltheit. Daher halte ich Kants einführende Bestimmung für nicht vereinbar mit einer Lesart, die Anschauungen prinzipiell als begriffliche Relationen auf einzelne Gegenstände darstellt. Die Kennzeichnung von Anschauungen als einzelne ist eine grundlegendere. Mit dem Empirismus teilt Kant den Ansatz, dass Verknüpfung von Vorstellungen nicht schon in der Wahrnehmung liegen kann, zumindest nicht in erkenntnisrelevanter Form. Aus dieser Voraussetzung wird die Notwendigkeit eines Beitrags des Verstandes als eines Vermögens der Synthesis abgeleitet. Das heißt aber, dass die Einzelheit der Wahrnehmung so konzipiert ist, dass sie, im Gegensatz zu einer begrifflich vermittelten Einzelheit eines this-such, von sich aus keine Verbindungen aufzeigen kann. Sie ist nicht die Einzelheit eines Allgemeinen, sondern der Möglichkeit begrifflicher Allgemeinheit noch vorgelagert. Damit bin ich wieder zu meiner ursprünglichen These zurückgekehrt, die die Charakterisierung des Materials der Erkenntnis als Einzelnes bzw. Mannigfaltiges mit seiner Geeignetheit verbindet, einem Verstand als Formgeber und insofern als Urheber der Erfahrung gegenüberzustehen und seiner zu bedürfen.67 Die mit dem Einwand behauptete Alternative zwischen einer nichtbegrifflichen und einer begrifflich vermittelten Einzelheit von Anschauungen soll damit nicht zugunsten der zweiten Alternative entschieden sein; vielmehr halte ich beide Interpretationen der Einzelheit für berechtigt. Es handelt sich dabei nicht um widersprüchliche Bestimmungen, sondern um Bestimmungen auf verschiedenen Ebenen, was bereits in der Beantwortung des dritten Unhintergehbarkeitseinwandes gesagt wurde. Da die Unterscheidung zwi-
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ner “immediate presentness of an object to sense” (S. 460) spricht, meint er die Passivität, in der dieses Objekt gegenwärtig ist. Vgl. auch S. 465. Vgl. noch einmal die bereits zitierte Aussage Kants, dass die Erfahrung: „zwei sehr ungleichartige Elemente enthält, nämlich eine Materie zur Erkenntnis aus den Sinnen und eine gewisse Form , sie zu ordnen, aus dem inneren Quell des reinen Anschauens und Denkens, die bei Gelegenheit der ersteren zuerst in Ausübung gebracht werden, und Begriffe hervorbringen“. A86, B118.
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DISKUSSION VON MÖGLICHEN EINWÄNDEN
schen empirischen, das heißt einzelnen, und nicht empirischen, nämlich allgemeinen Begriffen von Kant auf einer anderen Ebene getroffen wird als die einführende und konstitutionsanalytische Bestimmung der Anschauung, bleibt die Feststellung bezüglich der zuletzt genannten Bestimmung unberührt. Nach der Behandlung dieser vier Einwände kann nun erneut die Frage beantwortet werden, worin sich Kant von Vorgängern wie Locke und Leibniz abhebt. Wie schon zu Beginn bemerkt, liegt der Unterschied nicht in dem originären Versuch, Erfahrungs- und Vernunfterkenntnis als miteinander vermittelte aufzufassen.68 Es ist deutlich geworden, dass die von Kant behauptete notwendige Vermitteltheit bzw. Immer-schon-Aufeinanderangewiesenheit von Anschauungen und Begriffen selbst noch auf der strengen Unterschiedenheit zwischen beiden, das heißt auch zwischen den ihnen entsprechenden unterschiedlichen „Quellen“ oder „Stämme(n)“69, beruht. Dies zeigt auch Kants Kritik an der Tradition: Es ist, so Kant, die undeutliche Unterschiedenheit beider Quellen, die Locke geneigt sein ließ, aus der Erfahrung selbst reine Begriffe des Verstandes abzuleiten. Reine Verstandesbegriffe könnten zwar durchaus in der Erfahrung gefunden werden, sie würden aber einer davon ganz verschiedenen Quelle entspringen, nämlich aus dem reinen Verstand.70 Leibniz hingegen hätte die Erscheinungen selbst noch für
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69 70
Engfer führt in seiner o.g. Untersuchung den Nachweis, dass es nicht das Ausmachen verschiedener Elemente ist, und auch nicht die Idee, dass diese Elemente miteinander vermittelt sein müssten, wodurch sich Kant von der rationalistischen und empiristischen Tradition unterscheidet, sondern eher durch die Radikalität in der Auffassung dieser Vermitteltheit. Vgl. Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, z.B. S. 357. A50, B74 bzw. A15, B30. „Der berühmte Locke hatte, aus Ermangelung dieser Betrachtung, und weil er reine Begriffe des Verstandes in der Erfahrung antraf, sie auch von der Erfahrung abgeleitet, und verfuhr doch so inkonsequent, daß er damit Versuche zu Erkenntnissen wagte, die weit über alle Erfahrungsgrenze hinausgehen.“ B127.
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
Dinge an sich gehalten und damit die ganze Erscheinungswelt „intellektuiert“.71 „Anstatt im Verstande und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objektiv gültig von Dingen urteilen könnten, hielt sich ein jeder dieser großen Männer nur an eine von beiden, die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf Dinge an sich selbst bezöge, indessen daß die andere nichts tat, als die Vorstellungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen.“72
Kants Absetzung von diesen Positionen lässt sich als eine zweischrittige darstellen: Zunächst werden Elemente der Erkenntnis deutlich und genau unterschieden, um dann in einem zweiten Schritt ihre ursprüngliche und notwendige Aufeinanderangewiesenheit und Kooperation darzulegen. Zusammenfassung des kantischen Wahrnehmungsbegriffs
III.2.2.5
Zusammenfassung des kantischen Wahrnehmungsbegriffs Ich fasse meine Analyse des kantischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsbegriffs zusammen, bevor ich zur damit verbundenen Urteilstheorie übergehe. Obwohl Kant den Vorstellungsatomismus der empiristischen Auffassung von Erfahrung kritisiert, indem er darstellt, dass Erfahrung erst möglich wird durch die Anwendung von Kategorien, letztlich durch eine begriffliche Struktur, setzt er auf der Ebene der konstitutionsanalytischen Unterscheidung einen Wahrnehmungsbegriff voraus, der Anschauungen als einzelne und sich unvermittelt auf den Gegenstand beziehende bestimmt. Dabei handelt es sich um jene sinnliche Anschauung, die zwar erkenntnistheoretisch nicht relevant ist, die
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„Die Bedingungen der sinnlichen Anschauung, die ihre eigenen Unterschiede bei sich führen, sah er nicht für ursprünglich an; denn die Sinnlichkeit war ihm nur eine verworrene Vorstellungsart, und kein besonderer Quell der Vorstellungen; Erscheinung war ihm die Vorstellung des Dinges an sich selbst, obgleich von der Erkenntnis durch der Verstand, der logischen Form nach, unterschieden … Leibniz verglich demnach die Gegenstände der Sinne als Dinge überhaupt bloß im Verstande untereinander.“ A270f., B326f. B327.
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ZUSAMMENFASSUNG DES KANTISCHEN WAHRNEHMUNGSBEGRIFFS
gleichzeitig aber als ein Element der Erfahrung für den Beweisgang der Transzendentalen Deduktion vorausgesetzt wird. Als Gegenstück zur Begrifflichkeit des Verstandes wird Anschauung von Kant zunächst als bloßes Aufnehmen sinnlicher Empfindungen verstanden. Erfahrung hingegen wird als ein Produkt von Urteilstätigkeit aufgefasst, da mögliche Objektivität von Erfahrung sich allein aus den Urteilsfunktionen des Verstandes ableiten lässt. Erfahrung ist Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen. Als ursprünglicher Beitrag der Anschauung wird die Gegebenheit von einzelnen Vorstellungen bestimmt, auch wenn diese Vorstellungen sich noch nicht auf Gegenstände beziehen können und insofern gar nicht als Erkenntnisse angesehen werden können. In dieser Rezeptivität der Anschauung und der Einzelheit ihres ursprünglichen Gegenstandsbezugs lässt sich Kants Nähe zum empiristischen Vorstellungsatomismus erkennen. Wichtig ist, zu erkennen, dass diese Bestimmung die konstitutionsanalytische Unterscheidung von Erkenntniselementen betrifft, mit der Kant seine Untersuchung beginnt und auf deren Grundlage er die transzendentale Deduktion reiner Verstandesbegriffe führt. Denn das Ergebnis seiner Untersuchung und die darin liegende Kritik richtet sich gerade gegen die Annahme, kategorial einzelne und insofern nicht begrifflich vermittelte Anschauungen könnten überhaupt eine intentionale Gegenstandsbeziehung besitzen. Kant führt den Nachweis, dass Gegenstände in der Anschauung nur gegeben sein können, wenn Synthesis von Mannigfaltigem als Voraussetzung für die transzendentale Einheit der Apperzeption hergestellt ist. Diese Synthesis steht selbst unter den Kategorien des Verstandes, als Funktionen möglicher Urteile.73 Erst durch Verbindung von Vorstellungen, die unter den Regeln von Begriffen steht, kann eine Anschauung erkenntnisrelevant sein und Gegenständliches wahrgenommen werden. Insofern fällt bei Kant nicht, wie teilweise im Empirismus, Erfahrung mit Wahrnehmung im Sinne einer reinen Aufnahme von etwas den Sinnen Gegebenem zusammen, 73
Vgl. A79, B104f.
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
sondern Erfahrung wird durch die urteilende Aktivität des Verstandes von bloßer, begriffloser Anschauung abgehoben. Die Betonung Kants liegt auf der notwendig begrifflichen Struktur der Erfahrung. Das gilt jedoch auch für die Wahrnehmung, wenn sie erkenntnisrelevant sein soll. Dadurch wird der Wahrnehmungsbegriff eher dem Erfahrungsbegriff angenähert, als dass Erfahrung nach dem empiristischen Konzept einer reinen Datenerfahrung mit Wahrnehmung gleichgesetzt würde.74 Kants Urteilstheorie
III.2.3
Kants Urteilstheorie Der herausgestellte Atomismus der Wahrnehmungsgegenstände steht in einem systematischen Zusammenhang mit der Synthesistheorie des Urteils und dem bewusstseinsphilosophischen Ansatz Kants. Diesen Zusammenhang möchte ich nun näher erläutern. Ich wende mich damit auch den Urteilstheorien zu, die ich für das Verständnis der Vermittelbarkeit von Wahrnehmungsgehalten in sprachlichen Gehalten für ebenso relevant halte wie die Wahrnehmungstheorie selbst. Im folgenden Kapitel geht es mir allgemein um die Rolle der Wahrnehmung bei der Erklärung der Bedeutung sprachlicher Begriffe, das heißt auch von Urteilen. Zunächst und vorbereitend dafür behandele ich im Anschluss an meine Untersuchung zu Kant den Zusammenhang zwischen der atomistisch aufgefassten Wahrnehmung und der Synthesistheorie des Urteils. Kant folgt der traditionellen Urteilstheorie, indem er das kategorische Urteil als eine Synthesis auffasst. Die Auffassung des Urteils als eine Synthesis betrifft zunächst seine formale Darstellung: Subjekt- und Prädikatausdruck sind durch die sogenannte Kopula, das Wörtchen „ist“, verbunden. So ist beispielsweise im Urteil: „Alle Körper sind teil-
74
Vgl. dazu Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und des Formalismus, S. 110f. Damit soll der Empirismus jedoch nicht im Sinne einer naiven Gleichsetzung von Erfahrung mit Wahrnehmung ohne jegliche Beteiligtheit von Verstandesleistungen verstanden werden. Auch Kambartel spricht von einem doppeldeutigen Erfahrungsbegriff bei Locke. Ebd., S. 50. Vgl. Kapitel II.2.2, S. 67ff.
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KANTS URTEILSTHEORIE
bar“ der Begriff des Körpers mit dem der Teilbarkeit zusammengesetzt. Die Kopula ist so in Urteilen „die Form, durch welche das Verhältnis (der Einstimmung oder des Widerstreites) zwischen Subjekt und Prädikat bestimmt und ausgedrückt wird“75. Die synthesistheoretische Bestimmung des Urteils betrifft je doch nicht allein die formale Verbindung von Subjekt- und Prädikatausdruck in einem Satz, sondern zugleich auch den Akt des Urteilens. „Etwas als ein Merkmal mit einem Dinge vergleichen heißt urtei len . Das Ding selbst ist das Subjekt, das Merkmal das Prädikat. Die Vergleichung wird durch das Verbindungszeichen ist oder sind ausgedrückt, welches, wenn es schechthin gebraucht wird, das Prädikat als ein Merkmal des Subjekts bezeichnet, ist es aber mit dem Zeichen der Verneinung behaftet, das Prädikat als ein dem Subjekt entgegengesetztes Merkmal zu erkennen gibt.“76
Die Unterscheidung zwischen dem Urteil im formalen Sinne, das heißt dem dabei gebildeten Satz, und dem Urteil(en) im psychologischen Sinne ist bei Kant nicht immer deutlich.77 Wenn er das Urteil als eine Synthesis, das heißt als eine Verbindung versteht, betrifft dies sowohl die formale Verbindung von Ausdrücken innerhalb eines Satzes, als auch die geistige Verbindung von Vorstellungen: „Ein Urteil ist die Vorstellung der Einheit des Bewußtseins verschiedener Vorstellungen.“78
Begriffe stehen nach Kant für Vorstellungen. Der Verbindung von Ausdrücken eines Satzes entspricht daher die Verbindung von Vorstellungen im Akt des Urteilens. Der Subjektausdruck bezieht sich zum Bei75 76 77
78
Kant, Logik. Ein Handbuch zu den Vorlesungen (im Folgenden nur: Logik), § 24. Kant, Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, § 1, S. 95. Vgl. Gabriel Nuchelmans, Judgement and Proposition, S. 246. Nach Nuchelmans unterscheidet Kant nicht genau zwischen dem Akt des Urteilens (Verbindung, Verknüpfung, Vereinigung) und dem Gehalt, dem Gegenstand dieses Urteilens (den ich auch „formales Urteil“ nenne). Kant, Logik, § 17.
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
spiel auf eine Anschauung, das heißt auf die Vorstellung eines sinnlich gegebenen Gegenstandes. Der Prädikatausdruck dagegen, als allgemeiner Begriff, steht für die Vorstellung eines Merkmales, das verschiedenen Gegenständen gemeinsam sein kann. Diese Vorstellungen werden in einem Urteil verbunden. Das Urteil, psychologisch als Akt des Urteilens aufgefasst, stellt folglich eine Einheit von Vorstellungen dar.79 Die Bestimmung des Urteils als Synthesis steht nun in einem systematischen Zusammenhang mit der konstitutionsanalytischen Unterscheidung der Vermögen von Sinnlichkeit und Verstand. Im Gegensatz zur Anschauung, die Einzelnes erfasst, wird der Verstand als Vermögen der Synthesis charakterisiert. Kant stimmt mit den Empiristen darin überein, dass Verbindung in der Anschauung, ohne Einwirkung des Verstandes, nicht gegeben sein kann. „Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreut und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können.“80 „Allein die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt, kann niemals durch Sinne in uns kommen, und kann also auch nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mit enthalten sein; denn sie ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und, da man diese, zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, Verstand nennen muß, so ist alle Verbindung … eine Verstandeshandlung, die wir mit der Benennung Synthesis belegen werden, um dadurch zugleich bemerklich zu 79
80
Überraschenderweise gilt auch für analytische (das heißt deduktive generelle) Urteile, die eine Ableitung aus einem allgemeinen Begriff darstellen, dass sie synthetisch sind. Überraschend deshalb, als es Kant ja gerade darum geht, die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori darzulegen und er dafür die prinzipielle Unterscheidbarkeit beider Urteilsarten voraussetzen muss. Dass er aber alle Urteile unterschiedslos als Synthesis auffasst, hängt mit der allgemeinen Bestimmung zusammen, derzufolge in einem Urteil Vorstellungen verbunden werden. Bevor ein Begriff, das heißt eine Einheit von Vorstellungen analysiert werden kann, muss diese Einheit vom Verstand zuerst hergestellt worden sein. Vgl. B130. A120.
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KANTS URTEILSTHEORIE
machen, daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann“.81
Die Anschauung wird in dieser konstitutionsanalytischen Unterscheidung also atomistisch bestimmt. Der Verstand dagegen stellt das Vermögen der Synthesis, der Herstellung einer Einheit von Vorstellungen, dar. Daher wird auch das Urteil, als Ergebnis der Tätigkeit des Verstandes, als eine Synthesis von Vorstellungen aufgefasst. Einheit in der Anschauung kann allein durch die Tätigkeit des Verstandes hergestellt werden. Der Verstand ist der Urheber von Begriffen, die für die Vorstellung eines gemeinsamen Merkmales stehen, als repraesentatio per notas communis82. Ein solches gemeinsames Merkmal kann zwar an einzelnen Gegenständen wahrgenommen werden, die Vorstellung des Merkmales selbst stellt jedoch keinen sinnlichen Gegenstand dar. Sie ist eine Allgemeinvorstellung, die verschiedene Vorstellungen von Gegenständen unter sich vereinigt. Denn der Begriff ist nach Kant dadurch charakterisiert, „dass unter ihm andere Vorstellungen enthalten sind, vermittelst deren er sich auf Gegenstände beziehen kann.“83 Die Allgemeinvorstellung, die Vorstellung eines gemeinsamen Merkmales, stellt also eine Art mentalen Gegenstand dar. Die Rede von einem „Gegenstand“ erklärt sich aus der Erklärung der Bedeutung des allgemeinen Ausdruckes. Der allgemeine Ausdruck bezieht sich zwar nicht über eine sinnliche Vorstellung direkt auf den Gegenstand. Seine Bedeutung wird aber analog, durch die Referenz auf eine Vorstellung erklärt, mit dem Unterschied, dass es sich dabei um eine Allgemeinvorstellung handelt.
81 82 83
B130. Vgl. auch B134f. Kant, Logik, § 1. A69, B94.
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
„Der Satz: Gott ist al lmäch tig, enthält zwei Begriffe, die ihre Objekte haben: Gott und Allmacht; das Wörtchen: ist, ist nicht noch ein Prädikat obenein, sondern nur das, was das Prädikat beziehungsweise aufs Subjekt setzt.“84
In dieser Erklärung wird die gegenstandstheoretische Auffassung der Bedeutung des Subjekt- und Prädikatausdruckes deutlich. Typischerweise wird das Prädikat, hier „allmächtig“, nominalisiert durch den Ausdruck „Allmacht“, was die gegenständliche Auffassung seiner Bedeutung noch unterstreicht. Diese Auffassung ist charakteristisch für eine Urteilstheorie, die die Bedeutung des Urteiles als eine Zusammensetzung der Bedeutungen seiner Teilausdrücke versteht, welche zugleich eine geistige Verbindung von Vorstellungen darstellt.85 Bei der Betrachtung der kantischen Urteilslehre stößt man damit auf einen Widerspruch. Einerseits bestimmt Kant Begriffe als Prädikate möglicher Urteile und als gleichursprünglich, also gegenüber der urteilenden Aktivität des Verstandes nicht vorgängig. Dennoch vertritt er im Zusammenhang mit der Synthesistheorie des Urteils eine mentalistisch geprägte Gegenstandstheorie der Bedeutung. Innerhalb dieses Ansatzes lässt sich die Fähigkeit zur Anwendung allgemeiner Begriffe allein durch den Rekurs auf Vorstellungen von allgemeinen Gegenständen, nicht aber durch die Struktur der Wahrnehmung selbst erklären. Diese Gegenstandstheorie der Bedeutung stellt eine Konsequenz aus der konstitutionsanalytischen Unterscheidung zwischen Anschauung und Begrifflichkeit dar, insofern die Anschauung atomistisch und der der Verstand als Vermögen der Synthesis, der Verbindung von Vorstellungen aufgefasst wird. Diesen Widerspruch zu diskutieren oder auch zu lösen, stellt die Aufgabe einer mehr exegetischen Kant-Lektüre dar und kann hier nicht weiter verfolgt werden. Mir geht es im Folgenden um den systematischen Zusammenhang zwischen der atomistischen Auffassung 84 85
A598f., B626f. Vgl. Hansgeorg Hoppe: Synthesis, S. 822: „Überhaupt findet der Ausdruck Synthesis außerhalb bewusstseinsphilosophischer Ansätze keine Anwendung mehr.“
152
FAZIT
von Wahrnehmung und einer Synthesistheorie des Urteils sowie einer Gegenstandstheorie der Bedeutung und um die Konsequenzen für die Erklärung der Vermittelbarkeit von sinnlichen und sprachlichen Gehalten. III.2.4
Fazit Fazit
Kants Betonung, dass Gegenstände der Erfahrung gar nicht anders als in einer durch den Verstand geschaffenen Einheit gegeben sein können, stellt eine Leistung dar, die nicht zu leugnen ist. Doch offenbart die Betonung des Gemachtseins der Begriffe durch den Verstand, zusammen mit dem Dualismus von Anschauung und Begrifflichkeit, ein Konzept, welches Kant noch mit dem Empirismus teilt: die Voraussetzung, dass in der Anschauung zunächst Einzelnes bzw. Mannigfaltiges gegeben ist, welches erst durch Begriffe strukturiert wird. Die Anwendung allgemeiner Begriffe auf Gegenstände der Anschauung kann in der Konsequenz dieser Konzeption nur als eine begriffliche Synthesis verstanden werden. Zum einen wird das Urteil selbst als Zusammensetzung von Vorstellungen verstanden, die jeweils für einen Gegenstand stehen. Während der Subjektausdruck für die Vorstellung eines sinnlich gegebenen Gegenstandes steht, bezieht sich der Prädikatausdruck auf einen mentalen Gegenstand, nämlich die vom Verstand gebildete Vorstellung eines allgemeinen Merkmales. Zum anderen scheint eine solche Erklärung, der Bezug auf ein Nichtsinnliches, eine Idee, notwendig zu sein, wenn die Einheit von Vorstellungen konstitutionstheoretisch nicht in der sinnlichen Anschauung, sondern im Verstand verortet wird. Urteilend konstituiert der Verstand die Einheit von Vorstellungen, das heißt auch die Einheit in der Anschauung selbst. Daher lautet mein Ergebnis, dass die Synthesistheorie des Urteils und die mentalistisch geprägte Gegenstandstheorie der Bedeutung in einem
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KANT ZU ANSCHAUUNGEN UND BEGRIFFEN
systematischen Zusammenhang steht mit der Auffassung, dass die Anschauung sich auf Einzelne richtet.86 Diesen Zusammenhang herauszustellen, ist der eigentliche Gegenstand meiner Ausführungen zu Kant. Vorbereitet wurde er durch das Kapitel II, das der Untersuchung galt, in welcher Weise durch Aristoteles und innerhalb der Tradition des klassischen Empirismus die These vertreten wurde, die Wahrnehmung richte sich auf Einzelnes. Kants Lehre bildet eine Art Angelpunkt, an der sich zugleich mit dieser im Zuge der konstitutionsanalytischen Elementarisierung vertretenen These auch eine Urteilstheorie findet, die das Urteil als eine Synthesis zwischen einzelnem und allgemeinem Gegenstand versteht. Ich nehme im folgenden Kapitel IV die Kritik dieses Synthesismodells und der damit zusammenhängenden Gegenstandstheorie der Bedeutung wieder auf und thematisiere den funktionalen Ansatz, der Bedeutung aus der Verwendungsweise allgemeiner Ausdrücke innerhalb von Sätzen erklärt. Die Synthesistheorie des Urteils wird nicht nur von der neukantianischen Tradition aufgenommen, sondern auch innerhalb der Phänomenologie und der Hermeneutik vertreten, wenn auch als eine weniger reflektierte Übernahme dieser Theorie.87
86
87
Diesen Zusammenhang, insbesondere den zwischen der Gegenstandstheorie der Bedeutung (die er als „Konzeptualismus“ bezeichnet) und dem Ansatz, dass Wahrnehmung auf Einzelnes geht, hat Tugendhat hervorgehoben. Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 203. Vgl. Rorty, a. a. O., zu „Kants Kontamination von Prädikation und Synthesis“, S. 167–174. Zur Kritik der Synthesistheorie des Urteils bei Husserl vgl. Tugendhat, a. a. O., S. 143–175, sowie, diese Kritiken auf Heidegger beziehend, Udo Tietz, Das Urteil. Heideggers Kontamination von Prädikation und Synthesis, sowie Ontologie und Dialektik. Heidegger und Adorno über das Sein, das Nichtidentische, die Synthesis und die Kopula, S. 15–82.
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IV DIE URTEILSTHEORIEN
155
Systematische Vorbemerkung
IV.1
In dieser Arbeit geht es um die Erklärung der Vermittelbarkeit von Wahrnehmungsgehalten und sprachlichen Gehalten. In den ersten Kapiteln habe ich historische Positionen in Bezug auf das Wechselverhältnis von Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil untersucht. Für dieses Wechselverhältnis sind jedoch nicht nur Aussagen über Wahrnehmung, Wahrnehmungsgegenstände und ihre Charakterisierung im Verhältnis zu Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen relevant, sondern insbesondere auch die Urteilstheorien selbst. Eine Urteilstheorie gibt Auskunft darüber, was ein sprachliches Urteil, das heißt ein einfacher prädikativer Satz ist und wie seine Bedeutung zu erklären ist. Bereits bei Kant wurde der systematische Zusammenhang zwischen Wahrnehmungs- und Urteilstheorie deutlich. In diesem Kapitel geht es nun allgemein um diesen Zusammenhang und um die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Urteile, verstanden als prädikative Sätze, stellen nur einen Ausschnitt aus den Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks dar. Doch die Erklärung der Bedeutung von Urteilen steht, wie wir sehen werden, sowohl historisch als auch systematisch in einem engen Zusammenhang mit der Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Die zentrale Rolle des prädikativen Satzes für diese Erklärung ist bedingt durch die sprachanalytische Einsicht, dass einzelne Ausdrücke erst in der Verwendung in einem ganzen Satz eine Bedeutung gewinnen. Zum anderen erklärt sich die Vorrangstellung gegenüber anderen Satzformen wie einer Frage oder einer Aufforderung aus dem in einem Urteil enthaltenen Behauptungsmoment, welches die Wahrheit von Sätzen zugleich an die Gegebenheit von Wahrheitsbedingungen knüpft.1 So betont Kant die in 1
Die Erklärung sprachlicher Bedeutung durch Wahrheitsbedingungen wird durch den frühen Wittgenstein, Carnap, Tarski und Davidson vertreten. Tugendhat schlägt eine Erklärung vor, die die Kenntnis von Wahrheitsbedingungen mit der Kenntnis richtiger Verwendung verknüpft. Vgl. Ernst Tu-
›
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DIE URTEILSTHEORIEN
Urteilen enthaltene und durch Urteile konstituierte Objektivität. Mit einem Urteil wird behauptet, dass es sich nicht nur möglicherweise, sondern tatsächlich so, wie ausgesagt, in der Welt verhält. Bevor eine Frage oder eine Aufforderung verstanden werden kann, muss schon verstanden sein, was behauptet wird, wenn die Frage bejahend oder verneinend beantwortet wird oder was es bedeutet, dieser oder jener Aufforderung zu folgen. Dieses Verständnis lässt sich seinerseits in assertorischen Sätzen angeben, so dass es berechtigt ist, anzunehmen, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke sich zumindest in gleichberechtigter Weise durch die Bedeutung von Aussagesätzen erklären lässt. Die Bedingungen, unter denen ein Urteil wahr ist, stellen im Falle von Wahrnehmungsurteilen zugleich auch Wahrnehmungssituationen dar. Das Wahrnehmungsurteil stellt für das zu untersuchende Wechselverhältnis also deshalb einen paradigmatischen Fall dar, weil die Erklärung der Bedeutung der darin verwendeten Ausdrücke mit der Bezugnahme auf Gegenstände der Wahrnehmung verbunden ist. Wenn jemand beispielsweise sagt: „Dieses Haus ist morbide“, scheint dies ein Wissen um die Bedeutung der Ausdrücke „Haus“ und „morbide“ vorauszusetzen. Gleichzeitig wird damit aber auch eine unmittelbare Wahrnehmung ausgedrückt.2 Man könnte also erwarten, dass sich die Bedeutung der in Wahrnehmungsurteilen verwendeten allgemeinen Aus-
2
gendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 135. Sprachliche Formen wie Frage, Aufforderung etc. stellen Formen der Verwendung von Ausdrücken dar, die die Bedeutung dieser Ausdrücke und damit das Verständnis elementarer Aussagesätze, in denen sie verwendet werden können, voraussetzen. Hinzu kommt, dass eine alternative Erklärung von Bedeutung ausgehend auch von nicht-assertorischen Satzformen ihrerseits auf der Kritik eines traditionellen Verständnisses beruht, welches von assertorischen Sätzen handelt. Vgl. Tugendhat, ebd., S. 135ff. Mit „unmittelbar“ soll hier keine Vorentscheidung in Bezug auf die Nichtsprachlichkeit sinnlicher Eindrücke getroffen werden. Damit soll nur gesagt sein, dass der ausgedrückte Wahrnehmungsgehalt nicht inferentiell aus anderen Überzeugungen abgeleitet wurde.
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DIE SYNTHESISTHEORIE DES URTEILS
drücke nicht allein dem Bezug auf eine abstrakt verstandene sprachliche Bedeutung, sondern in irgendeiner Weise auch dem Bezug auf Wahrnehmungsgehalte selbst verdanken sollte. Wie eine solche Erklärung möglich ist, untersuche ich im Folgenden. Wahrnehmungsurteile stellen eine Beziehung auf Gegenstände der Wahrnehmung dar. Denn durch ein Wahrnehmungsurteil wird ein allgemeiner Ausdruck auf einen Gegenstand der Wahrnehmung angewendet. Mit Aristoteles haben wir gesehen, dass in dieser Bestimmung von Wahrnehmungsgegenständen durch allgemeine Begriffe eine eigentümliche Dialektik liegt: Einerseits wird der Gegenstand durch einen allgemeinen Begriff charakterisiert. Das heißt, dass er durch den Begriff eine Bestimmung erfährt. Andererseits aber lässt sich ein solches Urteil auch als Definition oder Beispielgebung für den allgemeinen Begriff verstehen. Das bedeutet, dass der Begriff durch die Beispiele seiner Verwendung, durch die Gegenstände, auf die er angewendet wird, überhaupt erst eine Bedeutung erhält. Bei der Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke geht es meiner Ansicht nach darum, dieser eigentümlichen Dialektik oder Spannung gerecht zu werden, ohne sie nach einer der beiden Seiten – zu einer abstrakt-begrifflichen oder zu einer naiv-empiristischen Erklärung hin – aufzuheben. IV.2
Die Synthesistheorie des Urteils In einer bis zu Aristoteles zurückreichenden Tradition wurde das Urteil als eine Verknüpfung von sprachlichen Ausdrücken verstanden. In einem einfachen Aussagesatz sind der Subjekt- und der Prädikausdruck miteinander durch das Wörtchen „ist“, seit der Scholastik „Copula“ genannt, verbunden. Husserl bezeichnet diese Art unselbständiger Verbindungsworte, zu der auch das einfache prädikative „ist“ zählt, als „synkategorematische Ausdrücke“. Die klassische Urteilstheorie, die Synthesistheorie des Urteils, findet sich, wie wir gesehen haben, bei Kant, Hegel, in der gesamten neukantianischen Tradition und sie wurde insbesondere auch von Husserl und von Heidegger noch vertreten.
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DIE URTEILSTHEORIEN
Das Urteil wird dabei nicht nur als formale Verbindung verschiedener sprachlicher Ausdrücke, sondern zugleich als Verbindung von Vorstellungen aufgefasst. Kant spricht vom Urteil als einer „Synthesis von Vorstellungen“, Husserl von einem Akt der „kategorialen Synthesis“. Das Verständnis des Urteils beinhaltet also zweierlei: zum einen den psychologischen Urteilsakt, zum anderen das Ergebnis des Urteils, das gleichzeitig auch sein formaler Ausdruck ist: der sprachlich ausgedrückte Satz. Der Satz stellt eine Verbindung sprachlicher Ausdrücke dar, so wie das Urteil als psychologischer Akt eine Verbindung von Vorstellungen darstellt. Zwischen der Verbindung von sprachlichen Ausdrücken und der Verbindung von Vorstellungen wird ein Entsprechungsverhältnis angenommen. Gleichzeitig wird angenommen, dass sprachliche Ausdrücke jeweils für eine Vorstellung stehen, und dass diese Vorstellung ihre Bedeutung erklärt. Wenn in dem Urteil „Das Schloss ist rot“ der Begriff des Schlosses mit dem Begriff „rot“ verbunden ist, wird gleichzeitig, mit dem Akt des Urteilens, die Vorstellung des Schlosses mit der Vorstellung von „rot“ verbunden. Verbunden mit der Synthesistheorie des Urteils ist also die Auffassung, dass Begriffe für etwas stehen. Diese Auffassung ist solange selbstverständlich, als es sich um Namen oder Kennzeichnungen handelt, die einen einzelnen Gegenstand bezeichnen.3 Denn ein Name steht für genau den Gegenstand, den er bezeichnet, zum Beispiel für eine Person oder ein Lebewesen oder eine Stadt.4 Am Verständnis von Prädikaten, das heißt allgemeiner Begriffe, scheitert der gegenstandstheoretische 3
4
Doch auch Kennzeichnungen greifen bereits ein allgemeines Merkmal heraus, das erst in Verbindung mit einem Demonstrativpronomen, wie z.B. in „dieses Haus“, einen einzelnen Gegenstand zu bezeichnen vermag. Das Verständnis des allgemeinen Merkmals seinerseits kann allerdings nicht mehr gegenständlich erläutert werden, wie im Folgenden deutlich werden wird. Ich verwende „Gegenstand“, wie in der Philosophie weitgehend üblich, in einem weiteren Sinne, der z.B. auch Personen, Komplexe von Gegenständen, Situationen und auch nicht-physische Gegenstände, wie z.B. „das Jahr“, umfasst. Als Gegenstand verstehe ich also jedes Subjekt möglicher prädikativer Bestimmungen.
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DIE SYNTHESISTHEORIE DES URTEILS
Ansatz jedoch. Für welche Art Gegenstand steht hier der Begriff? Die Bedeutung eines Ausdrucks wird als Gegenstand einer Vorstellung aufgefasst: Ich stelle mir die Bedeutung als einen Gegenstand vor.5 Dieser Gegenstand ist offenbar nicht ontologisch, wie in der Platonischen Ideenlehre oder innerhalb einer universalienrealistischen Position, sondern psychologisch-erkenntnistheoretisch zu verstehen: als ein Attribut, ein abstrakter Gegenstand oder auch, mit Kant, als das Bewusstsein eines allgemeinen Merkmales. Bei Husserl wird die Bedeutung von Ausdrücken durch „intentionale Erlebnisse“ konstituiert, die Husserl auch als „bedeutungsverleihende Akte“ bezeichnet.6 Ein formales Indiz für eine gegenstandstheoretische Erklärung der Bedeutung ist die Nominalisierung von Prädikaten. Die Bedeutung von rot oder tolerant wird erklärt durch die Vorstellung von der Röte oder der Toleranz. Diese Vorstellung der Röte soll primär die Bedeutung von rot erklären und ihrerseits die Voraussetzung dafür darstellen, verschiedene Gegenstände als durch rot zu charakterisierende erkennen zu können. Die Bedeutung einzelner sprachlicher Ausdrücke wird also innerhalb der Synthesistheorie des Urteils referenztheoretisch und zugleich mentalistisch verstanden, nämlich als Referenz auf einen mentalen Gegenstand, eine Idee oder Allgemeinvorstellung. Diese Erklärung der Bedeutung von Ausdrücken durch den Bezug auf mentale Gegenstände wird auch als „Gegenstandstheorie der Bedeutung“ bezeichnet.7 Auf welche Evidenzen und Argumente kann der gegenstandstheoretische Ansatz sich berufen? Verfügen wir introspektiv über das Bewusstsein eines abstrakten Gegenstandes bzw. eines allgemeinen Merk-
5 6 7
Vgl. Tugendhat, a. a. O., S. 131. Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, I. Untersuchung, § 9. Es gibt auch Vertreter der Synthesistheorie des Urteils, die keine gegenständliche, sondern eine funktionale Erklärung der Bedeutung sprachlicher Begriffe anbieten, wie z.B. Frege. Ich verwende hier einen engeren Begriff von „Synthesistheorie“, insofern die im Urteil zusammengesetzten Bedeutungen der Teilausdrücke gegenständlich aufgefasst werden. Dieses Verständnis bezieht sich auf den eigentlichen Sinn der Rede von einer ‚Zusammensetzung‘.
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DIE URTEILSTHEORIEN
males in dem Sinne, in dem eine Eigenschaft verschiedenen Gegenständen gemeinsam sein kann? Tugendhat weist darauf hin, dass auch das Bewusstsein, das wir introspektiv vorfinden können, eher von der Art ist, dass wir uns Beispiele von so (und anders) gearteten Gegenständen in Erinnerung rufen, nicht aber ein Merkmal von gleicher Allgemeinheit wie die durch einen Begriff ausgedrückte.8 Die vielfachen Verwendungsmöglichkeiten eines allgemeinen Begriffes weisen eine Bandbreite auf, an die die introspektiv anzutreffende Vorstellung eines gemeinsamen Merkmales nicht heranreicht. Insbesondere dann nicht, wenn dieses Merkmal durch den Akt einer Vorstellung erfasst werden können soll. Geht man hingegen von den möglichen Verwendungen eines Begriffes aus, ist darin beliebige Erweiterung und Lernfähigkeit impliziert – im Gegensatz zu einer augenblicklich vorfindbaren Vorstellung, die alle möglichen Anwendungsfälle erklären soll. Wenn das vorgestellte Merkmal also ein sinnlich wahrnehmbares ist, wird es auch introspektiv stets an einem Gegenstand vorgestellt, mit dem Nachteil, dass diese Vorstellung nicht zugleich die Vorstellung aller möglichen Gegenstände, die dieses Merkmal besitzen, darstellen kann. Soll die Vorstellung dagegen eine nichtsinnliche sein, wie zum Beispiel „die Röte“, unabhängig von dem Gegenstand, an dem sie anzutreffen sein könnte, erhöht sich die Schwierigkeit noch, die Gegebenheit einer solchen Vorstellung nachzuweisen. Es scheint sich bei der Behauptung einer introspektiv vorzufindenden Vorstellung offenbar um ein Postulat zu handeln. Dass die Vorstellung eines allgemeinen Merkmales introspektiv gegeben sein müsste, wird allein negativ begründet, zum Beispiel durch eine Kritik an der Erklärung sprachlicher Bedeutung allein durch die Verwendung sprachlicher Ausdrücke bzw. mangels anderer Erklärungsmöglichkeiten. Die Annahme, dass Prädikate für mentale Gegenstände stehen, bezeichne ich mit Tugendhat als konzeptualistisch. Die traditionelle konzeptualistische Position zeichnet sich
8
Tugendhat, a.a.O., S. 189f. und 206.
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DIE SYNTHESISTHEORIE DES URTEILS
dadurch aus, dass sie Prädikate als für conceptus, für Begriffe des Verstandes stehend auffasst.9 Die Auffassung des Urteils als eine Synthesis betrifft nicht allein die Syntax, das heißt die Zusammengesetztheit verschiedener Ausdrücke in einem Urteil, sondern auch die Semantik. Das bedeutet, dass auch die Bedeutung des ganzen Satzes als eine Zusammensetzung der Bedeutungen der Teilausdrücke erklärt wird. Da die Bedeutung der Teilausdrücke gegenständlich aufgefasst wird, sind im Satz der Gegenstand, für den der Subjektausdruck steht, und der Gegenstand, für den der Prädikatausdruck steht, das Attribut, verbunden. Die traditionelle Auffassung des Urteils besagt also, „ … daß der singuläre prädikative Satz sich aus Subjekt, Kopula und Prädikat zusammensetzt, daß das Prädikat ebenso wie das Subjekt selbständige Einheiten sind, daß jede für einen Gegenstand steht und daß es zwischen den beiden Gegenständen, für die sie stehen, ein Verbindungselement geben müsse, das semantische Pendant der Kopula, eine Synthesis zwischen den beiden Gegenständen.“10
Zu beachten ist, dass die Synthesistheorie nicht auf der schlichten Feststellung beruht, dass in einem Urteil stets schon bestehende Bedeutungen von Teilausdrücken involviert sind, sondern dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke unabhängig von ihrer Verwendung in Urteilen 9
10
Üblicherweise wird der Konzeptualismus als eine gemäßigte Version des Nominalismus verstanden, welcher sich vor allem gegen den Begriffsrealismus richtet. Tugendhat erläutert aber sowohl den Realismus als auch den erkenntnistheoretisch-psychologisch gewendeten Konzeptualismus als Gegenpositionen des Nominalismus: „Die funktionale Erklärung fügt sich in die Tradition des sogenannten Nominalismus ein, demzufolge es keine allgemeinen Wesenheiten gibt, für die die Prädikate stehen, und das einzig Gegenständliche, was uns beim Verstehen dieser Zeichen gegeben ist, die Zeichen selbst sind, die nomina. Die entgegengesetzte Position ist teils als Realismus bezeichnet worden, sofern man sie mehr ontologisch verstanden hat, (die Prädikate stehen für wirkliche Gegenstände), teils als Konzeptualismus, sofern man sie mehr psychologisch-erkenntnistheoretisch verstanden hat (die Prädikate stehen für conceptus, Begriffe)“. Tugendhat, a. a. O., S. 184. Ebd., S. 192.
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DIE URTEILSTHEORIEN
erklärt wird. Nur auf dieser Grundlage kann die Bedeutung des Urteils ihrerseits als Zusammensetzung der Bedeutungen seiner Teilausdrücke aufgefasst werden. Dabei wird auch die Zusammensetzung in einem Urteil nicht als reale Zusammensetzung zweier physischer Gegenstände, sondern als ideale Zusammensetzung verstanden, die einer real-gegenständlichen Beziehung lediglich korrespondiert. Das wird insbesondere bei Husserl und seinem Begriff einer kategorialen Synthesis deutlich. Nach Husserl bezieht sich der Satz auf den durch das Bewusstsein erfassten Sachverhalt. Der so zusammengesetzte Sachverhalt stellt keine reale, sondern eine ideale Zusammensetzung dar, die allerdings eine reale Zusammensetzung zum Vorbild haben soll.11 Inwiefern kann nun die Synthesistheorie des Urteils die Bedeutung von Sätzen und der darin verwendeten Ausdrücke befriedigend erklären? Mit Wittgenstein verstehen wir die Bedeutung eines Satzes, wenn wir sagen können, wann er wahr ist, bzw. wenn wir die Bedingungen seiner richtigen Verwendung kennen.12 Wir müssen über bestimmte Kriterien verfügen, um erkennen zu können, ob diese Bedingungen erfüllt sind bzw. ob der Satz wahr ist oder nicht. Das Problem der Synthesistheorie der Bedeutung besteht nun darin, dass die gegenständliche Erklärung der Bedeutung des Prädikates kein Kriterium darstellt, anhand dessen entschieden werden könnte, ob der durch den singulären Ausdruck bezeichnete Gegenstand mit dem Attribut tatsächlich zusammengesetzt ist oder nicht.13 Wenn die Bedeutung als eine Zusammensetzung der Bedeutungen der Teilausdrücke erklärt wird, müsste in 11
12 13
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, VI. Untersuchung, § 48. Es ist hier nicht der Ort, um eine eingehendere Auseinandersetzung mit Husserl zu führen. Dies unternimmt Tugendhat, ebd., S. 143–175 (9. und 10. Vorlesung). „Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist.“ Ludwig Wittgenstein, Tractatus, 4.024. In dieser Kritik folge ich weitgehend Tugendhat. A. a. O., 10. Vorlesung, S. 161–175. Tugendhat führt die Kritik am Beispiel der Auffassung Husserls. Doch er beansprucht, „dass jeder Schritt in dieser Gedankenreihe eine notwendige Folge des gegenstandstheoretischen Ansatzes als solchem ist und nicht etwa eine spezielle Eigentümlichkeit von Husserls Philosophie.“ S. 169.
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DIE SYNTHESISTHEORIE DES URTEILS
einer bestimmten Situation oder in einem bestimmten Kontext feststellbar sein, ob der durch den singulären Ausdruck bezeichnete Gegenstand und der durch das Prädikat bezeichnete abstrakte Gegenstand, das Attribut, tatsächlich gegeben und miteinander zusammengesetzt sind. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich um ein Wahrnehmungsurteil handelt, müsste sich das Urteil auf wahrnehmbare Gegenstände beziehen. Hier stellt sich sofort das Problem ein, dass das durch das Prädikat ausgedrückte Attribut nicht unabhängig von dem Gegenstand, von dem es ausgesagt wird, wahrnehmbar ist, dass es also überhaupt nicht gegenständlich gegeben ist. Es ist nicht in der gleichen Weise wahrnehmbar, dass der Baum mit dem Belaubtsein oder das Schloss mit der Röte zusammengesetzt ist, wie wahrnehmbar ist, dass der Griff und die Schneide eines Messers zusammengesetzt sind. Worin liegt dann aber das Kriterium für die Wahrheit eines als Synthesis aufgefassten Urteils? Wann ist das Schloss tatsächlich mit der Röte zusammengesetzt? Die Antwort scheint einfach zu sein: „Wenn ich wahrnehme, dass das Schloss rot ist.“ Aber ist das noch das Gleiche, wie zu sagen: „Wenn das Schloss mit der Röte zusammengesetzt ist“? In der Antwort: „Wenn ich wahrnehme, dass das Schloss rot ist“ wird die prädikative Form des Satzes verwendet, deren Bedeutung durch die Synthesistheorie eigentlich erklärt werden sollte. Das Verständnis des ganzen Satzes scheint die Voraussetzung dafür zu sein, entscheiden zu können, ob eine Zusammengesetztheit der gegenständlich aufgefassten Bedeutungen tatsächlich gegeben ist oder nicht. Um die Frage zu beantworten, wann der Fall gegeben ist, dass beide Teile des Satzes tatsächlich zusammengesetzt sind, muss auf das Verständnis des ganzen prädikativen Satzes rekurriert werden – sei es in Form einer Vorstellung oder eines Gedankens. Ohne dieses Verständnis (zum Beispiel das Verständnis dessen, was es heißt, dass etwas rot ist) lässt sich gar nicht angeben, was es bedeutet, dass die durch Subjekt- und Prädikatausdruck bezeichneten Gegenstände zusammengesetzt sind. Die Bedeutung dieses Satzes aber sollte durch das Synthesismodell, das heißt durch die Zusammengesetztheit seiner Teilausdrücke gerade verständlich werden.
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DIE URTEILSTHEORIEN
Das Verständnis der gegenständlich aufgefassten Teilausdrücke kann also nicht erklären, was ihre Zusammengesetztheit ausmacht, sondern setzt seinerseits das Verständnis des Sachverhaltes voraus, den der gesamte prädikative Satz ausdrückt. „Denn wenn es so ist, daß wir die Relation zwischen Attribut und Gegenstand nur durch den ursprünglichen prädikativen Satz definieren können, so kann man nicht das Verstehen des prädikativen Satzes seinerseits durch jene Relation verständlich machen wollen.“14
Das heißt, dass nicht das Verständnis einzelner Satzteile, sondern das Verständnis des ganzen Satzes grundlegend für die Erklärung der Bedeutung von Begriffen ist. Für die Erklärung der Bedeutung des Prädikates selbst bedeutet das: Es ist durchaus möglich, Attribute auch durch Nominalisierungen von Prädikaten auszudrücken und sich darunter etwas vorzustellen, doch grundlegend für diese Möglichkeit ist das Verständnis, was es bedeutet, dass etwas rot oder tolerant ist.15 Die Synthesistheorie des Urteils ist verbunden mit einer mentalistisch geprägten Gegenstandstheorie sprachlicher Ausdrücke. Auch die Bedeutung allgemeiner Begriffe wird gegenständlich, das heißt durch die Vorstellung eines allgemeinen Merkmales erklärt. Die klassischen Positionen des Empirismus, aber auch Kant und Hegel gehen, wie wir gesehen haben, davon aus, dass Allgemeinheit nicht in der sinnlichen Wahrnehmung liegen kann, sondern nur begrifflich, durch den Verstand erfasst werden kann. Die Anwendung allgemeiner Begriffe auf Gegenstände der Wahrnehmung setzt in der gegenständlichen Erklärung sprachlicher Bedeutung das Verfügen über eine Allgemeinvorstellung voraus. Im sprachlichen Zugriff liegt also die Ordnung und Verarbeitung des sinnlich gegebenen Materials. Zugleich ist prädikative
14 15
Ebd., S. 172. „Daß das Prädikat für ein Attribut steht, wird von der neuen Auffassung nicht bestritten; es wird nur behauptet, daß die Existenz bzw. die Erkenntnis des Attributs das Verstehen des Prädikats nicht begründen kann, sondern ihrerseits auf diesem gründet.“ Ebd., S. 207.
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DIE GEBRAUCHSTHEORIE DER BEDEUTUNG
Bestimmung, das Aussagen, verbunden mit einer Abstraktion von der ursprünglich gegebenen sinnlichen Mannigfaltigkeit. Es wird abgesehen von dem, was nicht unter den Begriff fällt. Diese Auffassung zeigt sich insbesondere bei Hegel und in der französischen Hegelrezeption des 20. Jahrhunderts, innerhalb derer die Sprache, „das an sich Allgemeine“, der sinnlichen Gewissheit diametral gegenüber steht. Begriffliche Allgemeinheit ist damit eine der Wahrnehmung gegenüber äußere Instanz, die dem Verstand bzw. dem Urteilsvermögen zugeordnet wird. Die mit der Synthesistheorie verbundene konzeptualistische Position stellt so die Basis dar für eine Extremposition, die den sprachlichen Ausdruck als einen Verlust des ursprünglich-sinnlichen Gehaltes auffasst. Was daran problematisch ist, wird im Folgenden noch erörtert. IV.3
Die Gebrauchstheorie der Bedeutung Die Kritik an der Synthesistheorie und der Gegenstandstheorie der Bedeutung ist zuerst von Frege und Wittgenstein formuliert worden, die dem Synthesis-Modell eine funktionale Auffassung von Begriffen entgegensetzen.16 Der Sinn sprachlicher Ausdrücke, so Wittgenstein, lässt sich nicht gegenständlich erfassen, und der Sinn eines ganzen Satzes nicht als eine Zusammensetzung: „Zu sagen, ein roter Kreis bestehe aus Röte und Kreisförmigkeit, oder sei ein Komplex aus diesen Bestandteilen, ist ein Mißbrauch dieser Wörter und irreführend. (Frege wußte dies und sagte es mir.) … Man sagt freilich auch: ‚auf eine Tatsache hinweisen, daß …‘ … Auf eine Tatsache hinweisen, heißt, etwas behaupten, aussagen. ‚Auf eine Blume hinweisen‘ heißt das nicht.“17
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17
Es gibt natürlich Vorläufer einer solchen Position: „Abaelard scheint ein erster Autor vor Frege zu sein, der annimmt, dass Prädikation die Form „SV“, nicht „S ist P“ hat, wobei „V“ für ein Verb steht, d.h. für eine Kopula zusammen mit einem Prädikat. … Die Kopula bezeichnet keine Relation, und deswegen kann das Prädikat kein Name eines Gegenstandes sein.“ Elena Tatievskaia, Russels Universalientheorie, S. 18. Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, S. 301–303.
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DIE URTEILSTHEORIEN
Mit dem linguistic turn wurde die Gegenstandstheorie zugunsten einer Gebrauchstheorie der Bedeutung aufgegeben. Grundlegend für diese ist, dass nicht mehr einzelne Ausdrücke, sondern der Satz als kleinste Bedeutungseinheit der Sprache angesehen wird.18 Die Bedeutung eines Satzes erschließt sich dabei nicht aus der Bedeutung seiner Teile, sondern aus den Bedingungen seiner Verwendung.19 Sprachliche Ausdrücke gewinnen eine Bedeutung durch ihre Verwendung in ganzen Sätzen. Die Bedeutung der Teilausdrücke kann dabei nur mit Verweis auf die Funktion, die sie innerhalb des Satzes erfüllen, erklärt werden. Das bedeutet auch, dass singuläre und allgemeine Ausdrücke verschiedene und sich gegenseitig bedingende Funktionen erfüllen. Frege unterscheidet zwei Arten von Ausdrücken, vollständige und unvollständige. Vollständige Ausdrücke sind ganze assertorische Sätze oder Namen bzw. singuläre Ausdrücke, und nur vollständige Ausdrücke können für Gegenstände stehen. Prädikate hingegen sind unvollständige, ergänzungsbedürftige Ausdrücke. Das bedeutet, dass sie der Ergänzung durch den singulären Ausdruckes bedürfen, um ein vollständiger Ausdruck, nämlich ein Urteil, zu sein. Dies ist wiederum nicht bloß syntaktisch, sondern auch semantisch zu verstehen, das heißt dass auch die Bedeutung eines Prädikates der Ergänzung durch einen singulären Ausdruck bedarf, um vollständig zu sein. Prädikate sind nach Frege Ausdrücke „ungesättigter Funktionen“. Der allgemeine Ausdruck wird damit nicht mehr als eigenständige Bedeutungseinheit, sondern als ein für sich allein unvollständiger Funktionsausdruck verstanden, der erst in Verbindung mit einem Subjektausdruck überhaupt einen sinnvollen sprachlichen Ausdruck (einen Satz) ergibt. Obwohl Frege die Bedeutung von Prädikaten als Begriffe versteht, so dass ein Prädikat jeweils für einen Begriff steht, wird dieser Begriff nicht mehr gegenständlich auf-
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Vgl. Wittgenstein, Tractatus, 3.3: „Nur der Satz hat Sinn; nur im Zusammenhang eines Satzes hat ein Name Bedeutung.“ „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 43, S. 262.
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DIE GEBRAUCHSTHEORIE DER BEDEUTUNG
gefasst. Denn der Begriff wird von Frege nicht, wie in der neuzeitlichen Tradition, als Objekt einer Vorstellung, sondern eher funktional verstanden: Der Begriff stellt ein Kriterium dar, unter dem Gegenstände zusammengefasst und getrennt sind von solchen, die nicht unter diesen Begriff fallen.20 Das Kriterium wird dabei nicht als Gegenstand einer Vorstellung aufgefasst. Der allgemeine Ausdruck wird von Frege daher nicht als Bezeichnung für einen mentalen Gegenstand verstanden. Seine Bedeutung besteht allein in der Charakterisierungsfunktion innerhalb von Sätzen. Damit ist eine alternative Erklärung der Bedeutung von Begriffen angeboten. Frege leitet eine Tradition ein, die die gegenstandstheoretische Erlärung der Bedeutung ablöst durch eine funktionale Erklärung. Nach Wittgenstein ist die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks dasjenige, was erklärt wird, wenn wir die Verwendung dieses Ausdrucks erklären.21 Wie erklären wir aber die Verwendung von Ausdrücken? Normalerweise zeigen wir auf Beispiele seiner Verwendung; wir führen die Verwendung vor. Die Frage ist also, was wir normalerweise tun, wenn wir allgemeine Begriffe in Urteilen verwenden. Wir charakterisieren Gegenstände. Offenbar werden durch die Charakterisierung Gegenstände nach bestimmten Kriterien klassifiziert und von anderen Gegenständen unterschieden.22 Diese Auskunft ist zunächst sehr weit gefasst. Sie lässt offen, was diese Fähigkeit zur Klassifikation und Unterscheidung ausmacht und lässt auch eine gegenstandstheoretische
20
21 22
Tugendhat schlussfolgert dies aus der Äußerung Freges: „Begriffswörter …, die keine Bedeutung haben, … sind nicht etwa solche, die Widersprechendes vereinigen – denn ein Begriff kann recht wohl leer sein –, sondern solche, bei denen die Umgrenzung verschwommen ist. Es muß von jedem Gegenstand bestimmt sein, ob er unter den Begriff falle oder nicht; ein Begriffswort, welches dieser Anforderung an seine Bedeutung nicht genügt, ist bedeutungslos.“ Gottlob Frege, Nachgelassene Schriften, S. 133. Vgl. Tugendhat, a. a. O., S. 194. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 560, S. 449. „Kriterium“ verweist in seinem Ursprung auf krínein, griechisch: trennen. Vgl. Tugendhat, a. a. O., S. 182.
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DIE URTEILSTHEORIEN
Erklärung noch zu. Sie macht den Rekurs auf Bewusstseinsgegenstände allerdings nicht mehr notwendig. Stellt dieser Vorschlag nun tatsächlich eine Alternative zur gegenstandstheoretischen Erklärung dar? Inwiefern eröffnet er die Möglichkeit, die Bedeutung allgemeiner Begriffe ohne Rekurs auf mentale Gegenstände zu erklären? Dazu muss man sich noch einmal vor Augen führen, was der Gegenstand der Bedeutung, das Attribut bzw. die Vorstellung eines gemeinsamen Merkmales erklären sollte. Offenbar wird die Fähigkeit, Urteile zu fällen bzw. Prädikate auf Gegenstände anzuwenden, durch das Verfügen über einen solchen abstrakten Gegenstand, und zwar durch ein geistiges Verfügen, nämlich die Vorstellung einer allgemeinen Eigenschaft bzw. eines gemeinsamen Merkmales, erklärt. In der funktionalen Erklärung kommt ein solches Merkmal nicht vor, und es wird nicht durch einen anderen realen oder mentalen Gegenstand ersetzt. Zwar erfolgt das begriffliche Klassifizieren und Unterscheiden nach einem bestimmten Kriterium, aber dieses Kriterium muss nicht als Gegenstand des Bewusstseins oder als explizite Verwendungsregel gegeben sein. Die Bedeutung von Begriffen kann vielmehr durch ein implizites Regelfolgen oder schlicht anhand eines regelmäßigen Verhaltens dargestellt werden. Das Kriterium, nach dem Gegenstände klassifiziert und unterschieden werden, lässt sich als eine Verwendungsregel auffassen, die sowohl intensional als auch extensional gedeutet werden kann.23 Wenn ein Sprecher die Bedeutung eines Begriffes kennt, können wir das an seinem Umgang mit diesem Begriff erkennen. Er weiß ihn auf verschiedene Gegenstände, auch auf neue Beispiele, richtig anzuwenden. Dafür muss er weder eine Regel der Verwendung explizit angeben können noch die Vorstellung eines abstrakten Gegenstandes bzw. gemeinsamen Merkmales besitzen. Es kann zwar nicht prinzipiell ausgeschlos23
Intensional haben zwei verschiedene Begriffe die gleiche Bedeutung, wenn sie denselben Sinn haben bzw. nach derselben Verwendungsregel verwendet werden. Extensional haben sie die gleiche Bedeutung, wenn die Bereiche der Gegenstände, auf die ein Begriff zutrifft, mit dem Gegenstandsbereich des anderen Begriffes zusammenfällt.
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DIE GEBRAUCHSTHEORIE DER BEDEUTUNG
sen werden, dass eine solche Vorstellung seiner Fähigkeit zugrunde liegt, es gibt jedoch auch keinen zwingenden Grund, das Verfügen über eine Allgemeinvorstellung bzw. ein gemeinsames Merkmal für die Fähigkeit, einen allgemeinen Begriff anzuwenden, vorauszusetzen. Der alternative Vorschlag besteht also nicht in dem Ersetzen einer Erklärung durch eine andere, sondern eher in einem Unterlaufen des Anspruches dieser Erklärung.24 Ebenso wie die Synthesistheorie des Urteils soll nun auch die funktionale Erklärung daraufhin geprüft werden, ob sie die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke tatsächlich erklären kann. Da sprachliche Ausdrücke in Sätzen verwendet werden und Sätze die kleinste sprachliche Einheit darstellen, stellt sich die Frage als eine Frage nach der Bedeutung ganzer Sätze. Die Bedeutung eines Begriffes zu kennen, heißt, die Sätze zu verstehen, in denen er verwendet werden kann. Was heißt es aber, einen Satz zu verstehen? Mit Wittgenstein können wir davon ausgehen: Ich kenne die Bedeutung eines Satzes, wenn ich weiß, wann er wahr ist, bzw. wenn ich die Bedingungen seiner Verwendung kenne. Es stellt sich also auch hier die Frage, ob sich mit der funktionalen Erklärung ein Kriterium angeben lässt, anhand dessen entschieden wird, ob ein Satz P wahr ist oder nicht. Dieses Kriterium fehlte im synthesistheoretischen Ansatz, da die Zusammengesetztheit von Bedeutungsentitäten nicht unabhängig vom Verständnis ganzer Sätze, deren Bedeutung
24
Offenbar wird die Bedeutung von Begriffen also anhand des beobachtbaren Verhaltens von Sprechern und nicht mehr durch subjektive und introspektiv vorfindbare Bewusstseinsgegebenheiten erklärt. Von konzeptualistischer Seite könnte nun eingewendet werden, dass die Bedeutung eines Begriffes sich eben nicht in einer intersubjektiven Erklärung erschöpft. Doch erstens wird durch die Behauptung, dass die Bedeutung intersubjektiv angebbar ist, nicht ausgeschlossen, dass gewisse psychologische Grundlagen für die Fähigkeit, einen Begriff zu verwenden, vorausgesetzt werden müssen. Zweitens wird damit nicht ausgeschlossen, dass die Erklärung der Bedeutung auch subjektiv, in einer Art Selbstgespräch stattfinden könnte. Es ist immerhin möglich, sich selbst verschiedene Anwendungsfälle für einen Begriff vorzustellen. Vgl. Tugendhat, a. a. O., S. 200f.
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DIE URTEILSTHEORIEN
aber durch diese Zusammengesetztheit erklärt werden sollte, festgestellt werden kann. Die Bedeutung eines Urteils kann also nicht als Zusammengesetztheit seiner Teile aufgefasst werden. Was aber macht statt dessen die Bedeutung eines Urteiles oder, funktional gesprochen, die Fähigkeit, Urteile zu fällen und zu verstehen, aus? Was heißt es, die Wahrheitsbedingungen eines Urteiles zu kennen? Nehmen wir an, es handelt sich um ein Wahrnehmungsurteil P, und erinnern uns der bereits oben gegebenen Antwort auf die Frage: Woher weiß ich, dass der Satz P wahr ist? Die Auskunft lautete: Wenn ich wahrnehme, dass p.25 In der Kritik an der Synthesistheorie des Urteils offenbarte diese Antwort, dass für die Entscheidung, ob ein Satz unter gegebenen Bedingungen wahr ist oder nicht, das Verständnis des Satzes P bereits vorauszusetzen ist. Wenn wir die Gebrauchstheorie der Bedeutung ihrerseits kritisch prüfen wollen, ist es angebracht, erneut zu fragen, was dieses Verständnis ausmacht. Zum einen scheint mit dem Verständnis von P das Wissen um inferentielle Beziehungen impliziert zu sein. P zu verstehen bedeutet demnach, auch die möglichen Sätze zu kennen, die aus P geschlussfolgert und aus denen P selbst abgeleitet werden kann. Es setzt das Verfügen über ein ganzes Netz sprachlicher Bedeutungen und somit über eine bestimmte Breite sprachlicher Fähigkeiten voraus.26 In der Fähigkeit, wahrzunehmen, dass p, spielen jedoch noch andere als rein sprachliche Fähigkeiten eine Rolle. Auch die Fähigkeit zur Wahrnehmung, dass p, zum Beispiel zur Wahrnehmung, dass dort ein Baum ist oder dass im Schrank eine Violine liegt, spielt in der Antwort eine Rolle. Das Ver25
26
P steht hier für diejenige Form des Satzes, in der das Behauptungsmoment mit enthalten ist. Dass p steht für die nominalisierte Form, so dass auch gesagt werden kann: Ich behaupte, dass p. Oder: Ich nehme wahr, dass p. Die letzte Aussage: Ich nehme wahr, dass p, kommt dabei der Normalform P gleich. Vgl. dazu Frege: „In einem Behauptungssatz ist also zweierlei zu unterscheiden: der Inhalt, den er mit der entsprechenden Satzfrage gemein hat, und die Behauptung.“ Gottlob Frege, Der Gedanke. Eine logische Untersuchung, S. 35. Vgl. Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel III, § 19. Vgl. auch den inferentialistischen Ansatz Robert Brandoms in Making it explicit, insbesondere Kapitel 2.
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DIE GEBRAUCHSTHEORIE DER BEDEUTUNG
ständnis des Satzes „Dort ist ein Baum.“ hängt also auch von der Fähigkeit ab, wahrzunehmen, dass dort ein Baum ist. Diese Überlegung führt zu der Frage, was denn die Fähigkeit, wahrzunehmen, dass p, ihrerseits ausmacht. Aufgrund der eigentümlichen Verknüpftheit begrifflicher und perzeptiver Fähigkeiten stellt sich also die Frage, wie es möglich ist, dass wir Begriffe auf Gegenstände der Wahrnehmung, dass wir sie auch auf neue Beispiele der Verwendung beziehen können. Wie können wir einem Gegenstand das Gleiche zuschreiben wie zuvor einem anderen, zum Beispiel dass es sich um einen Baum, eine Geige oder um einen Schrank handelt? Diese Frage betrifft zugleich auch die Fähigkeit, Dinge als von dieser oder jener Art, als gleich- und verschiedenartige wahrnehmen zu können. Offenbar klassifizieren wir Gegenstände bereits in der Wahrnehmung, und auf der Basis oder in einem engen Zusammenhang mit dieser Klassifikation können wir sie auch begrifflich charakterisieren. Bei der Erklärung der Bedeutung sprachlicher Begriffe durch den Verweis auf ihre Verwendung sind wir daher mit der Frage konfrontiert: Was erklärt die Möglichkeit, Gegenstände als von einer bestimmten Art und insofern auch als gleichartige wahrnehmen zu können? Diese Frage könnte einer konzeptualistischen Position erneut Plausibilität verleihen: Ist für die Wahrnehmung von Gleichartigem nicht das Bewusstsein eines allgemeinen Merkmales vorauszusetzen, sodass die Verwendung allgemeiner Begriffe letztlich doch durch das Verfügen über ein solches Merkmal erklärt wird? Bevor dieser letzte Zweifel grundlegend ausgeräumt werden kann, gehe ich auf eine alternative Beantwortung dieser Frage ein. Diese Alternative basiert auf der Einsicht in die sprachliche Vermitteltheit unseres Weltbezugs und in die Unhintergehbarkeit der Sprache selbst. Aus dieser Einsicht heraus könnte erwidert werden, dass die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Gleichartigem offenbar selbst schon eine begriffliche Fähigkeit ist, die ihrerseits durch Rekurs auf den Umgang mit (sprachlichen) Urteilen zu erklären ist. Dies stellt gegenüber der konzeptualistischen Erklärung die nominalistische Variante dar: Nicht das Verfügen über mentale Vorstellungen, sondern die Weise der Verwen-
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DIE URTEILSTHEORIEN
dung sprachlicher Ausdrücke soll nun die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Gleichartigem oder Verschiedenem erklären. Was wir als gleichartig wahrnehmen können, ist bestimmt durch die Kriterien unserer begrifflichen Klassifikation. Diese Position bezeichne ich im Folgenden als „nominalistische Extremposition“27. Sie ist verbunden mit der Annahme, dass die Struktur sinnlicher Gehalte eine sprachliche Struktur ist. Damit ist das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten als ein einseitiges Bestimmungsverhältnis aufgefasst. Sinnliche Eindrücke stellen auch hier eine Art Material dar, das durch die Ausübung begrifflicher Fähigkeiten strukturiert wird.
27
Dieser Begriff wird im folgenden Kapitel genauer erläutert. Siehe die Fußnote 2 auf S. 179.
174
V
DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
175
V.1
Einleitung und Begriffsklärung
Wie im vorhergehenden Kapitel deutlich wurde, bietet die Synthesistheorie keine befriedigende Erklärung der Bedeutung von Urteilen, da diese nicht als eine Zusammengesetztheit von Bedeutungsentitäten aufgefasst werden kann. Mit der Kritik an der Gegenstandstheorie der Bedeutung wird von Frege und Wittgenstein eine funktionale Erklärung vorgeschlagen, die die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke aus ihrer jeweiligen Funktion in Urteilen versteht. Somit stellt der Satz die kleinste sprachliche Einheit dar, die auf ihren Sinn befragt werden kann. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wird allein durch ihren Gebrauch, das heißt durch die Art und Weise ihrer Verwendung erklärt. Wenn die Fähigkeit zur Verwendung sprachlicher Ausdrücke in Sätzen selbst nicht auf dem Verfügen über Bedeutungsentitäten beruhen soll, muss sie in einem breiteren Feld von Fähigkeiten, das heißt auch in Wahrnehmungsfähigkeiten verankert sein. Die Frage ist nun, wie diese Wahrnehmungsfähigkeiten verstanden werden. Wenn wir Begriffe auf Wahrnehmungsgegenstände anwenden, wenn wir beispielsweise Wahrnehmungsurteile fällen, scheinen diese Wahrnehmungsgegenstände bereits von einer Struktur zu sein, die eine Charakterisierung durch bestimmte Begriffe erlaubt oder ihr widerspricht. Begriffe werden also auf Wahrnehmungssituationen angewendet, die eine Wahrnehmung von Gleich- oder Verschiedenartigem darstellen. Doch was macht diese für den Gebrauch von Begriffen grundlegende oder mit ihr zumindest eng verbundene Fähigkeit, Gleichartiges wahrzunehmen, ihrerseits aus? Innerhalb eines empiristischen Ansatzes wird solche Gleichartigkeit und Verschiedenheit von Erfahrungsgegenständen schlicht als sinnliche Gegebenheit vorausgesetzt, die durch Begriffe nur herausgegriffen
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
und benannt werden soll.1 Eine andere, nämlich die konzeptualistische Art der Beantwortung dieser Frage besteht in der Erklärung der Bedeutung von Begriffen durch Rekurs auf mentale Bedeutungsentitäten. Solche Entitäten, also das Verfügen über Allgemeinbegriffe oder allgemeine Merkmale, ermöglichen es demnach erst, Einheit in der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung herzustellen. Doch selbst nach der Überwindung dieses gegenstands- und zugleich synthesistheoretischen Ansatzes durch eine Gebrauchstheorie der Bedeutung bleibt die Frage offen, was die Fähigkeit zur Anwendung von Begriffen auf Wahrnehmungsgegenstände ausmacht. Muss für die Fähigkeit, ein und dieselben Begriffe auf jeweils verschiedene Wahrnehmungssituationen anzunehmen, nicht doch das Bewusstsein von etwas Allgemeinem, von etwas den verschiedenen Gegenständen Gemeinsamem vorausgesetzt werden? Oder liegt in der Wahrnehmung selbst schon eine Fähigkeit zur Klassifizierung? Wie aber wird dann diese für die Fähigkeit zur Anwendung von Begriffen offenbar konstitutive Fähigkeit erklärt? Wenn das Gleichartige, das in der Charakterisierung durch ein bestimmtes Prädikat den dadurch klassifizierten Gegenständen zukommt, nicht an der Vorstellung eines gemeinsamen Merkmales festgemacht werden kann, wodurch ist es sonst begründet? Wenn die Wahrnehmung selbst schon eine Unterscheidungsfähigkeit darstellt, in welchem Verhältnis steht sie dann zu begrifflichen Unterscheidungen? Welchen Einfluss hat also die sprachliche Struktur auf die Wahrnehmungsfähigkeit? Hier entspringt die Tendenz, anzunehmen, dass auch sinnliche Unterscheidungen selbst immer schon sprachliche Unterscheidungen sind. Das Verfügen über Prädikate ermöglicht demnach erst die Wahrnehmung von
1
Gleichzeitig wird eine Vereinzeltheit sinnlicher Eindrücke angenommen, derart, dass vergleichende Beziehungen zwischen ihnen mit der Benennung durch den Verstand erst hergestellt werden. In diesem Widerspruch liegt das Vermittlungsproblem zwischen sinnlich-einzelnen und sprachlich-allgemeinen Ideen. Vgl. Kapitel II.2–II.5.
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EINLEITUNG UND BEGRIFFSKLÄRUNG
Gleichartigem. Diese Position bezeichne ich als die „nominalistische Extremposition“.2 Das für diese Position zunächst geltend gemachte Argument lautet, dass die sprachliche Vermitteltheit möglicher Erfahrung für uns unhintergehbar ist. Das bedeutet, dass die Identifikation eines „ursprünglichen sinnlichen Gehaltes“ unabhängig von sprachlichen Unterscheidungen gar nicht möglich ist. Diese Ansicht ist eng verbunden mit dem linguistic turn, das heißt mit Frege, Wittgenstein und der sprachanalytiEinleitung und Begriffsklärung
2
Ich verwende den Begriff „nominalistisch“ in Anlehnung an Sellars’ Charakterisierung des sogenannten „psychologischen Nominalismus“ als Ansatz zur Überwindung des Mythos des Gegebenen. Vgl. Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel VI, §29: “I f, however, the association [of words with classes of resembling particulars, Anm. d. V.] is not mediated by the awareness of facts either of the form x resembles y, or of the form x is φ, then we have a view of the general type which I will call psychological nominalism, according to which all awareness of sorts, resemblances, facts, etc., in short, all awareness of abstract entities – indeed, all awareness even of particulars – is a linguistic affair. According to it, not even the awareness of such sorts, resemblances, and facts as pertain to so-called immediate experience is presupposed by the process of acquiring the use of a language.” David Lauer ordnet dieser Konzeption neben Sellars auch Brandom, Davidson und Rorty zu: „Die nominalistische Konzeption von Erfahrung kennt daher den Begriff des Gehalts der Wahrnehmung im engen Sinne nicht. Eine Wahrnehmung ist für sie schlicht der nicht-inferentiell verursachte Erwerb einer Überzeugung, d.h. das implizite oder explizite Fällen eines Wahrnehmungsurteils. … Einen besonderen Gehalt der Erfahrung bzw. der Wahrnehmung als solcher, wie die empiristische Tradition ihn dem sinnlichen Erleben zugeschrieben hatte, gibt es der nominalistischen Konzeption zufolge nicht.“ David Lauer, Die Welt im Blick haben, S. 67f. Auf S. 69 fügt er zur Beschreibung dieser Konzeption hinzu: „Die sinnlichen Erlebnisse, von denen das Auftreten der Überzeugungen begleitet wird, sind epistemisch und semantisch steril.“ Der Begriff der nominalistischen Extremposition steht in einer systematischen Verbindung mit der im Kapitel II.1.2 als „logizistisch“ bezeichneten Auffassung der Wahrnehmungsgegenstände. So spricht z.B. Welsch in seiner Aristoteles-Interpretation (der ich mich nicht anschließe; vgl. S. 41ff. und 47) von einer Logomorphie des Aisthetischen. „Logizistisch“ bedeutet demnach, die strukturelle Entsprechung von Wahrnehmungsgehalten zum logos, das heißt die Aussagbarkeit sinnlicher Gehalte zu betonen.
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
schen Philosophie. Mit der Sprachlichkeit unseres Weltbezugs, das heißt nicht nur möglicher Überzeugungen, sondern auch möglicher erkenntnisrelevanter Erfahrungen, wird also auch die sprachliche Vermitteltheit der Wahrnehmungsgehalte betont. Kennzeichnend für die von mir als „extrem-nominalistisch“ bezeichnete Position ist aber noch ein weiterer Aspekt. Ohne diesen Aspekt handelte es sich lediglich um die Betonung einer sprachlichen Vermitteltheit der Wahrnehmung. Der Aspekt, welcher die nominalistische Extremposition jedoch zusätzlich kennzeichnet, besteht in der Einseitigkeit der Erklärung des Vermittlungsverhältnisses. Dies zeigt sich an der Erklärung der für die Fähigkeit zur Verwendung von Begriffen grundlegenden Fähigkeit, Gleichartiges zu erkennen. Denn auch wenn die Bedeutung von Begriffen nicht mehr gegenstandstheoretisch aufgefasst wird, nämlich dass sie für ein allgemeines Merkmal, als Gegenstand einer Vorstellung, steht, stellt sich nach wie vor die Frage, was die Fähigkeit ausmacht, ein verschiedenen Fällen Gemeinsames zu erkennen. Bei der Beantwortung dieser Frage handelt es sich um eine Art nervus probandi für die Bedeutungstheorie. An ihr scheiterte die Synthesistheorie des Urteils – da die Vorstellung eines allgemeinen Merkmales noch nicht die Fähigkeit erklärt, zu erkennen, dass dieses Merkmal auf diesen oder jenen Gegenstand tatsächlich auch zutrifft. Dafür ist vielmehr bereits das Verständnis des ganzen prädikativen Satzes vorauszusetzen.3 Doch auch die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch ihren Gebrauch in Urteilen lässt zunächst offen, ob der alleinige Verweis auf Beispiele der Anwendung genügt, um diese Fähigkeit zu erklären. Die funktionale Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke muss daher, wie es scheint, eine Alternative zur konzeptualistischen Erklärung dieser Fähigkeit liefern. Was macht also die Fähigkeit aus, Begriffe anzuwenden, wenn diese Anwendung – in Wahrnehmungsurteilen – gleichzeitig eine Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden darstellt? Die Antwort der nominalistischen 3
Vgl. Kapitel IV.2.
180
EINLEITUNG UND BEGRIFFSKLÄRUNG
Extremposition lautet nun, dass die Fähigkeit, Gleichartiges wahrzunehmen, selbst schon eine sprachliche Fähigkeit sei. Wenn der Wahrnehmung innerhalb der nominalistischen Extremposition eine eigene Struktur zugeschrieben wird, so handelt es sich dabei um eine für die Prädikation nicht relevante Struktur, sondern vielmehr um eine sinnliche Mannigfaltigkeit. Innerhalb dieser sinnlichen Mannigfaltigkeit gibt es zwar Wahrnehmung von Ähnlichem, das heißt auch bestimmte Kriterien, nach denen Wahrnehmbares hervorgehoben, zusammengefasst, erinnert oder auch nur marginal oder gar nicht mehr wahrgenommen wird. Diese Struktur bietet jedoch keinerlei Anknüpfungsmöglichkeit für begriffliche Klassifikation. Es handelt sich dabei nicht um Gleichartigkeit, da Wahrnehmung nach Gleichartigkeit nur an einem Identitätskriterium festgemacht werden kann, das bereits ein begriffliches Kriterium ist. Dieses Argument richtet sich insbesondere gegen die naiv-empiristische Auffassung, dass sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch die Eigenschaften der durch sie repräsentierten Wahrnehmungsgegenstände erklären lässt. Der empiristischen Auffassung zufolge hätten sprachliche Ausdrücke lediglich die sinnlich empfangenen Ideen zu repräsentieren. Dem lässt sich entgegengehalten, dass die repräsentierten Eigenschaften, das heißt auch ihre Identität und Verschiedenheit, schon das Ergebnis sprachlicher Strukturierung darstellen. Die nominalistische Extremposition greift auf diese Argumentation zurück und spricht zugleich der Wahrnehmung die Fähigkeit ab, Gleichartiges zu erfassen.4 Bei der der Wahrnehmung eigenen Struktur handelt es sich nicht um eine Gleichartigkeit, die dem sprachlichen Kriterium der Identität und Nichtidentität genügen könnte, sondern um eine flüchtige, von den jeweiligen Orientierungs- und Handlungszwe-
4
Das gilt nicht allein für die nominalistische Extremposition. Auch Locke, Hume, aber auch Kant vertreten, wie ich dargestellt habe, die Ansicht, dass die Verknüpfung von Ideen nicht in der Wahrnehmung liegt, sondern vom Verstand, das heißt mit dem sprachlichen Zugriff erst hergestellt wird.
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
cken geleitete Erfassung von Ähnlichkeiten. Der nominalistischen Extremposition liegt also die Annahme zugrunde, dass Wahrnehmung, unabhängig von sprachlichen Unterscheidungen, keine Gleichartigkeit erfassen kann. Auf der Grundlage dieser Annahme wird dann behauptet, dass die in der Wahrnehmung liegende Gleichartigkeit ebenso wie die darin liegende Unterscheidungsfähigkeit eine Leistung prädikativer Klassifizierung und Unterscheidung darstellt.
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Mittelstraß und die Wiederkehr des Gleichen
V.2
Eine solche Tendenz findet sich beispielsweise bei Mittelstraß. Mittelstraß stellt die erkenntnistheoretische Frage nach dem Verhältnis zwischen Welt und Sprache in einer sprach-pragmatistisch gewendeten Formulierung: Wie ist es möglich, dass unsere sprachlichen Unterscheidungen verlässlich sind?1 Dass unsere Unterscheidungen verlässlich sind, dass sich also eine aktuell getroffene Unterscheidung sowohl intersubjektiv teilen als auch wiederholen lässt, bedeutet, dass es eine „Wiederkehr des Gleichen“ in der Welt gibt. Mittelstraß stellt daher zugleich auch die Frage, wodurch diese Wiederkehr begründet ist. Hier schließt er vor allem die realistische Variante aus, dass die Welt selbst unabhängig von unserem sprachlichen Zugriff verlässlich sei. Diese Variante drückt sich in dem zum Beispiel im Empirismus vertretenen Anspruch aus, dass sprachliche Beschreibungen „Weltstücke“ adäquat wiederzugeben haben. Das Argument Mittelstraß’ besteht in der Unhintergehbarkeit der Prädikation. Wann immer wir über eine vom sprachlichen Zugriff unabhängige Welt, sei es in Form eines sinnlich Gegebenen, sei es von einer gänzlich ungegliederten Welt (die als solche auch nicht verlässlich sein kann) sprächen, würden wir schon unterscheiden, das heißt Prädikate verwenden. Mittelstraß’ kantianisch anmutende Schlussfolgerung besteht darin, dass die Angemessenheit und somit auch die Verlässlichkeit unserer Unterscheidungen sich lediglich als Funktion der Prädikation selbst begreifen lassen kann. Angemessenheit kann nur von Unterscheidungen ausgesagt werden; sie besteht nicht in einer wie auch immer gearteten
1
Diese Frage zieht sich durch verschiedene seiner Schriften. Ich beziehe mich im Folgenden auf: Jürgen Mittelstraß, Die Prädikation und die Wiederkehr des Gleichen.
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
Beziehung zwischen der Welt und einer sprachlichen Beschreibung dieser Welt. Nach Mittelstraß gibt es keine grundlegenderen Unterscheidungen als die fundamentalen sprachlichen Unterscheidungen, wie beispielsweise die Unterscheidung zwischen Ding und Eigenschaft, die selbst nur auf elementaren Absichten und Wünschen beruhen. Doch auch über diese elementaren Absichten und Wünsche müssten die Sprecher sich schon verständigt haben. Es gibt also keinen Punkt, an dem man hinter die sprachlichen Unterscheidungen zurückgehen könnte. Auch neue Unterscheidungen lassen sich lediglich als Fortsetzungen von schon bestehenden Unterscheidungen auffassen. Sie müssen sich auf solche beziehen und gegenüber möglichen anderen verteidigen lassen. Bei Mittelstraß findet sich also nicht nur die Überzeugung von der sprachlichen Vermitteltheit aller unserer Gedanken und Überzeugungen, sondern auch ein zweiter Zug, der für die nominalistische Extremposition charakteristisch ist: Unabhängig von sprachlichen Unterscheidungen, so Mittelstraß, kann es in der Welt eine „Wiederkehr des Gleichen“ nicht geben.2 Es sind also sprachliche Prädikate, die eine Gliederung der Wahrnehmung nach Gleichartigkeit erst ermöglichen. Wahrnehmung von Ähnlichkeit ist demzufolge als eine rein sprachliche Kompetenz einzuschätzen. Mittelstraß gesteht zwar an anderer Stelle zu, dass es für Wesen ohne Sprache durchaus möglich ist, sich operativ in dieser Welt zu orientieren.3 Gleichwohl sind diese Orientierungsleistungen nichts, was für die sprachlichen Unterscheidungen von Belang sein könnte. Zwischen beiden Bereichen kann eine Anschlussfähigkeit nicht gedacht werden, weil nach Mittelstraß ein Sprechen darüber dem Versuch der Erklärung eines Fundierungsverhältnisses gleichkäme, dessen Möglichkeit er gerade ausschließt. Mittelstrass und die Wiederkehr des Gleichen
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Ebd., S. 95. Mittelstraß, Ding als Erscheinung und Ding an sich. Zur Kritik einer spekulativen Unterscheidung, S. 111f.
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MITTELSTRASS UND DIE WIEDERKEHR DES GLEICHEN
So scheint es, dass das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten, von dem Mittelstraß ausgeht, in einer Weise aufgefasst wird, die allein durch immer schon bestehende sprachliche Unterscheidungen bestimmt ist. Wenn neue Unterscheidungen stets nur als Fortsetzung oder Verfeinerung von bestehenden Unterscheidungen getroffen werden können, scheint sprachliche Bedeutung sehr konservativ aufgefasst und die „Offenheit zur Erfahrung“ eine sehr eingeschränkte zu sein. Aber sind es allein die „sprachlichen Maßnahmen … zur Korrektur und präzisierenden Weiterführung gegebenen Sprachgebrauchs“4, welche zu tatsächlichen Korrekturen und Erweiterungen sprachlicher Unterscheidungen führen? Ist es wirklich nur die Kontrolle bestehenden Sprachgebrauchs und die damit zusammenhängenden Maßnahmen der Sprecher selbst, die Mittelstraß zufolge zur Korrektur und Angleichung unserer sprachlichen Unterscheidungen führen, oder stellt Erfahrung nicht eine Instanz dar, welche auf noch andere Weise in unsere bestehenden und als gerechtfertigt angenommenen Unterscheidungen einbrechen könnte? „Die Wirklichkeit … “ ist „ … nichts anderes als ein Bestand von Unterscheidungen, über die man schon verfügt und den man seinerseits für bereits gerechtfertigt ansieht.“5
Ist also Wirklichkeit tatsächlich derjenige Bestand von Überzeugungen, den man für bereits gerechtfertigt hält, oder nicht vielmehr das, was Rechtfertigungen auch in Frage stellen könnte? Gibt die Wirklichkeit nicht selbst die Anlässe zur Anwendung neuer Unterscheidungen bzw. der Korrektur bestehender Unterscheidungen? V.2.1
Überleitung zu Davidson Als weiteres Beispiel für die von mir umrisshaft und absichtlich auch karikativ eingeführte nominalistische Extremposition führe ich die Position Donald Davidsons an. Auch Davidson ist – im Zuge einer Kritik
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Mittelstraß, Die Prädikation und die Wiederkehr des Gleichen, S. 94f. Ebd.
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
der Inanspruchnahme von Wahrnehmungen als erkenntnistheoretische Vermittler zwischen Geist und Welt – der Ansicht, dass diese unabhängig von entsprechenden Urteilen keine erkenntnistheoretisch relevante Rolle spielen können. Interessant für diesen Kontext ist die Schlussfolgerung Davidsons, dass Wahrnehmungen keinen anderen als einen nur kausalen Beitrag zur Vermittlung zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten leisten können. Mit der kritischen Erörterung dieser Schlussfolgerung gebe ich zugleich eine Antwort auf die oben genannten Fragen.
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Die Rolle der Wahrnehmung bei Davidson
V.3
Die Rolle der Wahrnehmung bei Davidson
Nach Davidson spielt die Wahrnehmung für die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke eine nur kausale Rolle. Wahrnehmungen, als bloße Sinneseindrücke, können keine Gründe für Überzeugungen darstellen. Davidsons Kritik an einer Begründung von Überzeugungen durch sinnliche Erfahrungen richtet sich dabei in erster Linie gegen die korrespondenztheoretische Annahme, dass es eine Entsprechung zwischen Überzeugungen und einer unmittelbar erfahrenen Wirklichkeit geben könnte. Ein derartiges Entsprechungsverhältnis kann nach Davidson sinnvoller Weise nicht angenommen werden, da Wahrnehmungen, unabhängig von tatsächlich gefällten Wahrnehmungsurteilen, überhaupt keine relevanten Inhalte darstellen. Weder die Rechtfertigung von Überzeugungen, noch die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke lässt sich durch die repräsentationale Beziehung auf Erfahrungsgehalte erklären. Die Kritik richtet sich also gegen den empiristischen Versuch, ein System von Überzeugungen in einer Klasse elementarer Beobachtungssätze zu fundieren, von denen angenommen wird, dass sie durch die Erfahrung selbst beglaubigt sind.1 Im Folgenden werde ich Davidsons Argumentation nachvollziehen und die von ihm daraus gezogene Konsequenz, dass die Wahrnehmung eine rein kausale Rolle bei der Bildung von Überzeugungen spielt, kritisch betrachten. Zunächst stellt sich die Frage, weshalb die Wahrnehmung überhaupt eine so ausgezeichnete und zugleich kritische Stellung in der Er1
“Accordingly, I suggest we give up the idea that meaning or knowledge is grounded on something that counts as an ultimate source of evidence. No doubt meaning and knowledge depend on experience, and experience ultimately on sensation. But this is the ‘depend’ of causality, not of evidence or justification.” Donald Davidson, A Coherence Theory of Truth and Knowledge, S. 146.
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
kenntnistheorie und für die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke einnimmt. “Emphasis on sensation or perception in matters epistemological springs from the obvious thought: sensation are what connect the world and our beliefs, and they are candidates for justifiers because we often are aware of them.”2
Wahrnehmungen stellen eine mögliche Verbindung zwischen der Welt und unseren Überzeugungen dar, sie sind also eine Art erkenntnistheoretische Vermittler. Es ist die rezeptive Unmittelbarkeit oder Passivität der Wahrnehmung, die zu dieser Annahme verleitet. Zum einen scheinen Wahrnehmungen unabhängig von sprachlichen Strukturen Aufschluss über die Beschaffenheit der Welt zu geben. Doch das ist nicht der entscheidende Punkt: Auch wenn man den sprachlichen Zugriff, praktische Erfahrung und theoretische Bildung, Beobachtungsziele und spezifische Erwartungen an einer möglichen Erfahrung beteiligt denkt, ändert dies nichts am rezeptiven Charakter der Wahrnehmung, an der für sie spezifischen Passivität: Wenn ich einen bestimmten Standpunkt eingenommen und meine Aufmerksamkeit auf etwas gerichtet habe, hängt es nicht mehr von mir ab, was ich dann wahrnehme. Ich kann mich dessen, was ich dann wahrnehme, nicht erwehren. In diesem Sinne stellt die Wahrnehmung kein Produkt aktueller Urteilstätigkeit dar. Sie scheint in gewisser Weise auch nicht fallibel zu sein: daß mir etwas so und so erscheint, ist eine nicht bezweifelbare Tatsache.3 Dies verleiht der 2 3
Ebd., S. 142. Vgl. auch Davidson, Empirical Content, S. 163. Dieser Aspekt ist allerdings nicht spezifisch für die Wahrnehmung, denn auch das Haben einer Überzeugung lässt sich, im Gegensatz zu der Überzeugung selbst, nicht anzweifeln. Bezeichnenderweise ist hier die Rede von einer „Erscheinung“, nicht von einer „Wahrnehmung“, da „Wahrnehmung“ auch als Erfolgswort und somit als anfechtbar verstanden werden könnte. Vgl. die Kritik Sellars’ an der Rede vom Erscheinen: Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel III. Offenbar führt die spezifische Rezeptivität der Wahrnehmung zusammen mit der Nichtrevidierbarkeit von Wahrnehmungszuständen (die bereits als gehaltvoll aufgefasst werden) zu der Annahme, sinnliche Erfahrung könnte eine Quelle von gewissen, das heißt nicht anzwei-
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DIE ROLLE DER WAHRNEHMUNG BEI DAVIDSON
Wahrnehmung den Anschein einer Quelle von sich selbst beglaubigenden Inhalten. Davidson zeigt nun, dass der Anspruch, ein System von Überzeugungen auf solchen unmittelbar gewissen Erfahrungsgehalten zu fundieren, zu einem erkenntnistheoretischen Dilemma führt: Entweder sind sinnliche Erfahrungen privater Art, so dass ein Zugriff darauf gar nicht möglich oder zumindest nicht intersubjektiv nachvollziehbar wäre. Sie könnten also gar nicht sprachlich vermittelt werden; die Unanzweifelbarkeit von Erfahrungszuständen lässt sich nicht objektivieren. Das andere Horn des Dilemmas besteht darin, sinnliche Gehalte als begriffliche Gehalte aufzufassen, die zugleich auch Gehalte von Urteilen sein können. Auch diese Auffassung erweist sich als unhaltbar. Denn sobald wir die Propositionalität sinnlicher Erfahrungen zugestehen, müssen wir davon ausgehen, dass sie prinzipiell anzweifelbar sind, so dass sie ihren ausgezeichneten Charakter sich selbst beglaubigender Überzeugungen verlieren.4 Hier bedarf es einer begrifflichen Klärung: Was genau ist an einer Sinneserfahrung, im Unterschied zu ihrer erwähnten Nichtrevidierbarkeit, anzweifelbar? Wie bereits gesagt, ist es nicht möglich, anzuzweifeln, dass mir etwas so erscheint, wie es mir gerade erscheint. Es ist von einer unmittelbaren Evidenz, dass ich soeben einen Duft von Zitronen gespürt habe. Anzweifelbar ist jedoch, ob der Duft tatsächlich von Zitronen stammte, die sich in meiner Nähe befinden. Vielleicht handelte es sich auch um Limettenduft oder um einen Lufterfrischer. Es ist also prinzipiell anzweifelbar, ob ich berechtigt bin, diese oder jene Überzeugung aus einer Wahrnehmung abzuleiten oder nicht. Wenn ich zum Beispiel aufgrund einer lebhaften Erinnerung oder eines Bildes von Zitronen eine Duftempfindung habe, würde mich meine Wahrnehmung
4
felbaren Überzeugungen und damit ein Fundament für alle anderen Überzeugungen darstellen. Davidson, Empirical Content, S. 168. Vgl. auch A Coherence Theory of Truth and Knowledge, S. 143f.
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
nicht zu der Annahme berechtigen, dass sich in meiner unmittelbaren Umgebung Zitronen befinden. Was dabei angezweifelt wird, ist der Status der Wahrnehmung als ein möglicher Grund. Dass Wahrnehmungen verlässliche Gründe für Überzeugungen sein können, gehört aber zu denjenigen Eigenschaften, die sie als erkenntnistheoretische Vermittler auszeichnen. Daher wird mit der möglichen Anzweifelbarkeit von Wahrnehmungen als Gründen auch ihre Rolle als erkenntnistheoretische Vermittler fraglich. Zurück zur Davidsonschen Argumentation. Wenn Wahrnehmungen begrifflichen oder propositionalen Gehalt besitzen, heißt das nicht, dass sie automatisch in das System von Überzeugungen aufgenommen würden – und dadurch einen Kern von unmittelbar gewissen Überzeugungen bildeten. Die entscheidende Entgegnung Davidsons lautet: Eine Wahrnehmung muss als Grund anerkannt werden. Ein Wahrnehmungsgehalt ist nicht allein deshalb schon ein Grund, weil er erfahren wurde. Wir müssen ihm, so Davidson, in einem Urteil zustimmen. Dazu bedarf es jedoch weiterer Überzeugungen. Das könnten Überzeugungen sein, die die Wahrnehmungsbedingungen bzw. den Kontext einer solchen Wahrnehmung betreffen, also zum Beispiel ob ich wach bin, woher ein bestimmtes Geräusch oder eine bestimmte Brechung oder Reflexion des Lichtes stammen könnte.5 Wenn aber ein die Wahrnehmung betreffendes Urteil aktiv gefällt werden muss, kann die Passivität und Infallibilität, die mit dem ursprünglichen Sinneseindruck verbunden ist, für das Wahrnehmungsurteil selbst nicht in Anspruch genommen werden. Das Wahrnehmungsurteil ist abhängig von anderen Überzeugungen. Es ist also, wie jedes Urteil, prinzipiell fallibel. Dies widerspricht nach Davidson der Idee eines verlässlichen Bindegliedes zwischen der Welt und unseren Überzeugungen. Ein Bereich durch Erfahrung gewonnener unmittelbar gewisser Überzeugungen lässt sich also nicht auszeichnen. Wir bleiben, so Davidsons Schlussfolgerung, zurückgeworfen auf die Ge-
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Vgl. Davidson, Empirical Content, S. 164.
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samtheit unserer Überzeugungen und die inferentiellen Beziehungen zwischen ihnen. Zu den allgemeinen Voraussetzungen dafür, dass etwas als ein Grund gelten kann, gehört zum einen die Begrifflichkeit. Wahrnehmungen ohne begrifflichen Gehalt wären gar nicht vermittelbar und besäßen eine bloß subjektive Gewissheit. Die Begrifflichkeit ermöglicht es, dass wir uns in Urteilen überhaupt auf Wahrnehmungen beziehen können. Nach Davidson genügt das aber nicht, denn er fügt dieser Bedingung eine entscheidende weitere Bedingung hinzu: Mögliche Gründe müssen selbst schon den Charakter von Überzeugungen besitzen. Davidson rechtfertigt dies dadurch, dass wir nicht automatisch aus einer Wahrnehmung eine Überzeugung ableiten. Eine Wahrnehmungsüberzeugung rechtfertigt sich nicht allein aus dem Fakt heraus, dass wir diese Wahrnehmung hatten. Die Gewissheit der Wahrnehmung, genauer: die Gewissheit, dass wir uns in einem Wahrnehmungszustand dieser oder jener Art befinden, überträgt sich also nicht auf die Überzeugung, die wir daraus ableiten. Daher kann nicht von einem erkenntnistheoretischen Entsprechungsverhältnis die Rede sein. Eine Überzeugung begründet sich niemals aus einer Wahrnehmung allein, sondern zugleich auch aus anderen Überzeugungen. Als Wahrnehmungsurteil ist sie genauso fallibel wie andere Überzeugungen auch. Dies führt Davidson zu seiner prominenten These, dass nur Überzeugungen Gründe für Überzeugungen darstellen können.6 6
Davidson, A Coherence Theory of Truth and Knowledge, S. 141. Interessant für diesen Kontext ist die zweifache, nämlich die psychologische und die normative Dimension der Rede von Begründetheit: Einmal kann damit gemeint sein, was ein Subjekt tatsächlich für begründet hält. Dafür ist ein tatsächlich gefälltes Urteil bzw. eine aktive Einstellung notwendig. Zum anderen gibt es auch eine normative Dimension, das heißt ob jemand berechtigt ist, diese oder jene Überzeugung zu bilden. McDowell z.B. ist der Ansicht, dass die normative Rechtfertigung unabhängig von einem tatsächlichen Schlussfolgern – denn es muss nicht aktuell geurteilt werden – gegeben ist. „Begründen muss nicht aus einem Ableitungsschritt von einem Inhalt zu einem anderen bestehen.“ McDowell, MW, S. 73, FN6. Vgl. dazu die Fußnote 44 auf S. 330.
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
Ist diese These aber wirklich zwingend? Es ist aufschlussreich, Davidsons Überlegung hierzu nachzuvollziehen. In Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und Erkenntnis verweist er auf die Möglichkeit, dass ich wahrnehme, dass p, gleichzeitig aber der Überzeugung bin, dass nicht p. “Of course if someone has the sensation of seeing a green light flashing, it is likely, under certain circumstances, that a green light is flashing. We can say this, since we know of his sensation, but he can’t say it, since we are supposing he is justified without having to depend on believing he has the sensation. Suppose he believed he didn’t have the sensation. Would the sensation still justify him in the belief in an objective flashing green light?”7
Es könnte also der Fall sein, dass ich glaube, einer Wahrnehmungstäuschung zu unterliegen oder dass es widersprechende Überzeugungen gibt, die mich an einer Wahrnehmung zweifeln lassen. Zum Beispiel könnte ich wahrnehmen, dass auf dem Feld ein Schloss steht, gleichzeitig aber wissen, dass auf dem Feld kein Schloss steht. In diesem Fall führt mich die Wahrnehmung nicht zu der Überzeugung, dass auf dem Feld ein Schloss steht.8 Aus der Tatsache, dass es im Täuschungsfall von meinen begleitenden Überzeugungen abhängt, ob ich aufgrund meiner Wahrnehmung eine Überzeugung bilde, das heißt sie als Grund für diese Überzeugung annehme, folgert Davidson nun, dass es auch im Fall einer normalen Wahrnehmung, in der ich mir keiner Täuschung bewusst bin, erstens von meinem Urteil und zweitens von zusätzlichen Überzeugungen abhängt, ob überhaupt und wenn ja welche Überzeugung aus dieser Wahrnehmung abgeleitet wird.
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Davidson, A Coherence Theory of Truth and Knowledge, S. 142. Ein weiteres Beispiel für eine solche Situation ist die prominente Müller-LyerTäuschung: Die Täuschung betrifft die Wahrnehmung zweier paralleler Linien, an deren Enden P feilspitzen an der einen Linie nach innen und an der anderen nach außen zeigen. Dabei nehme ich wahr, dass die Linien verschieden lang sind, weiß aber gleichzeitig, dass sie gleich lang sind. Ich bin also trotz meiner Wahrnehmung nicht der Überzeugung, dass die beiden Linien unterschiedlich lang sind.
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DIE ROLLE DER WAHRNEHMUNG BEI DAVIDSON
Ist diese These aber wirklich zwingend? Es ist aufschlussreich, Davidsons Überlegung hierzu nachzuvollziehen Dieser Schluss lässt sich formal folgenderweise ausdrücken: Die Wahrnehmung, dass p, sei durch „W“ ausgedrückt. „P“ sei das Wahrnehmungsurteil bzw. die aus dieser Wahrnehmung geschlussfolgerte Überzeugung, „S“ sei die dieser Überzeugung widersprechende Überzeugung. Davidson folgert also: [W(p)∧ (S) → ¬p] → [p → W(p)∧ ¬(S)] Dies ist aber in der Verallgemeinerung einer notwendigen Bedingung für die Bildung von Wahrnehmungsüberzeugungen kein gültiger Schluss. Der Ausschluss einer Wahrnehmungsstäuschung bzw. das Bewusstsein gegebener Wahrnehmungsbedingungen ist keine notwendige Bedingung für die aus einer Wahrnehmung, dass p, sich ergebende Überzeugung P. Auch wenn die Erwägung widersprechender Bedingungen mich davon abhalten kann, die Wahrnehmung als das zu nehmen, als das ich sie normalerweise nehme, nämlich als Grund für die Überzeugung P, heißt das nicht, dass ich in den Fällen, in denen eine Wahrnehmung mich tatsächlich zur Überzeugung P führt, mich von der Gegebenheit entsprechender Wahrnehmungsbedingungen überzeugen oder weitere Umstände in Betracht ziehen muss, um zu der begründeten Überzeugung zu kommen, dass p. Es heißt noch nicht einmal, dass ich überhaupt urteilen muss. Davidson hält dagegen an der These fest, dass Wahrnehmungen, wenn sie als Gründe für Überzeugungen geltend gemacht werden, selbst schon Überzeugungen, das heißt Wahrnehmungsurteile sein müssen. Bloße Wahrnehmungen oder sinnliche Eindrücke können keine Gründe sein, unabhängig davon, ob man sie als begrifflich oder als nicht-begrifflich auffasst. Sie können nur kausale Ursachen, das heißt Anlässe, aber keine Gründe für bestimmte Urteile sein. Was in diesem Kontext eine kausale Ursache für eine Überzeugung sein soll, wird deutlich, wenn man Davidsons Bedeutungstheorie heranzieht. Um die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks zu erschließen, muss beim Sprecher nicht nur die Kohärenz der Verwendungsweise dieses und anderer
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
Ausdrücke vorausgesetzt werden, sondern auch der für Sprecher und Interpret gemeinsame Bezug auf öffentlich wahrnehmbare Gegenstände.9 Ohne diesen Bezug auf wahrnehmbare Gegenstände wäre die radikale Interpretation, die zugleich das Modell für die Konstitution sprachlicher Bedeutung darstellt, nicht möglich.10 Das bedeutet, dass die Wahrnehmung dieser Gegenstände durchaus konstitutiv ist für die Bedeutung einer bestimmten Klasse sprachlicher Ausdrücke. Davidson beschreibt dies so, dass sich in besonders grundlegenden Fällen die Bedeutung von Ausdrücken der Gegebenheit jener Gegenstände und Umstände herleitet, unter denen sie erlernt worden sind.11 Dies ist allerdings auch hier keinesfalls so zu verstehen, dass sich die Bedeutung auf die Gegebenheit solcher Wahrnehmungssituationen reduzieren ließe. Davidsons semantischer Holismus richtet sich schließlich genau gegen eine solche Korrespondenztheorie der Bedeutung: Die Beziehung zwischen einzelnen Erfahrungen und Überzeugungen kann den Inhalt dieser Überzeugungen weder erklären noch rechtfertigen. Daher kann die Wahrnehmung für den Sprecher nur ein kausaler Anlass sein, dies oder jenes zu urteilen, denn der Gehalt dieses Urteils verdankt sich nicht allein dem entsprechenden sinnlichen Gehalt. Wie einzelne Beobachtungen ausgedrückt werden, hängt in semantischem Sinne von einer Vielzahl sprachlicher Ausdrücke ab, das heißt von ihrer möglichen Verwendung in Urteilen und den Beziehungen zwischen solchen Urteilen. Es gibt, so lässt sich zusammenfassend festhalten, nach Davidson weder eine die Bedeutung erklärende noch eine erkenntnis9
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„Gegenstände“ können auch hier sowohl physische Gegenstände als auch Personen, Ereignisse oder Situationen sein. Der Begriff „Gegenstand“ ist also in einem sehr weiten Sinn zu verstehen. Vgl. Jasper Liptow, Minimaler Empirismus und perspektivischer Externalismus, S. 100, zu dem Davidsonschen Gedanken, „… dass jede sprachliche Interaktion ihrem Wesen nach ein Moment der Interpretation beinhaltet und dass an der Situation der radikalen Interpretation daher allgemeine Züge nicht nur der Zuschreibung, sondern auch der Konstitution begrifflichen Gehalts abgelesen werden können.“ Davidson, The Myth of the Subjective, S. 44f.
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theoretisch rechtfertigende Beziehung zwischen einem bestimmten Wahrnehmungsgehalt und dem Gehalt eines diese Wahrnehmung beschreibenden Urteils.12 Was rechtfertigt aber positiv die Rede von Wahrnehmungen als kausalen Ursachen? Wahrnehmungen können Ursachen für die Bildung von Überzeugungen bzw. für die Äußerung von Sätzen sein, weil sie Davidson zufolge ein notwendiges Element in der Konstitution sprachlicher Bedeutung darstellen. Wenn mehrere Sprecher bzw. Interpreten sich nicht verlässlich wahrnehmend auf ein- und dieselben Gegenstände beziehen könnten, könnten sie sich sprachlich nicht verständigen. Im Prozess der Interpretation (und des Spracherwerbs) werden wahrnehmbare Ereignisse als Ursachen für sprachliche Äußerungen identifziert. Diese Ursachen lassen sich aber nur unter der gleichzeitigen Perspektive auf eine Äußerung, nämlich als deren mögliche Ursache identifizieren. Diese Fähigkeit ist also bereits eine begriffliche Fähigkeit, nämlich die, „auf eine Ursache unter einer bestimmten Beschreibung dieser Ursache zu reagieren“13. Da der Bezug auf wahrnehmbare Gegenstände in den Prozess der Interpretation involviert ist und nicht davon isoliert werden kann, versteht Davidson die Wahrnehmung als bloß kausale Ursache für eine Äußerung. Sie spielt zwar eine zentrale Rolle bei der Konstitution sprachlicher Bedeutung, stellt gleichzeitig aber eine nur kausale Ursache dar, deren Gehalt erst durch die sprachliche Beschreibung spezifiziert wird. “… although sensation plays a crucial role in the causal process that connects beliefs with the world, it is a mistake to think it plays an epistemological role in determining the contents of those beliefs.”14
Gleichwohl bleibt die Rede von Wahrnehmungen als kausalen Ursachen rätselhaft, da der Begriff einer kausalen Ursache besagt, dass sie eine Folge oder Wirkung notwendig nach sich zieht. Übertragen auf das 12 13 14
Vgl. Davidson, A Coherence Theory of Truth and Knowledge, S. 146. Liptow, Minimaler Empirismus und perspektivischer Externalismus“, S. 103. Davidson, The Myth of the Subjective, S. 46.
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Verhältnis zwischen Wahrnehmungszuständen und Wahrnehmungsurteilen erweckt das den Anschein, als ob der Wahrnehmende gar nicht anders könnte als zu der entsprechenden Wahrnehmungsüberzeugung zu gelangen. Davidsons eigene Argumentation spricht jedoch dagegen. Ein kausales Ursachen-Wirkungsverhältnis scheint mir zwischen Elementen so verschiedener Art überhaupt nicht angebracht zu sein: Sinneseindrücke gehören zum logischen Raum der Natur, das heißt zu den Gegenständen von Naturgesetzen, während Überzeugungen Davidson zufolge zum logischen Raum der Gründe gehören und sprachlicher Art sind.15 Die Diskreditierung von Wahrnehmungen als möglichen Gründen für Überzeugungen erklärt sich aus Davidsons Kritik an einem empiristisch verstandenen Entsprechungsverhältnis zwischen Sätzen und einzelnen Wahrnehmungen. Ursachen sollen demnach nicht mit Rechtfertigungen verwechselt werden. Dass sie durchaus Gründe darstellen könnten, ohne dabei sprachunabhängig und als sich selbst beglaubigende Rechtfertigungen aufgefasst zu werden, zieht Davidson nicht in Betracht. Dass Wahrnehmungsgehalte selbst schon als sprachlich vermittelte Gehalte aufzufassen sind, könnte ihre mögliche Rolle als Gründe (und nicht nur kausale Ursachen) begründen, statt sie auszuschließen.16 In Davidsons Bild erscheint der Bezug auf Wahrnehmungsgehalte wie die sprachliche Reaktion auf einen zuerst nur kausal erklärbaren Wahrnehmungszustand. Er erscheint als ein zweischrittiges
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Versteht man den kausalen Charakter der Wahrnehmung statt dessen so, dass es zwischen der Wahrnehmung als einem Sinneseindruck und einer Wahrnehmungsüberzeugung noch ein Zwischenglied gibt, nämlich die Erscheinung, so stellt sich die Frage, welchen Status diese Erscheinung dann hat: Wenn sie selbst keine Wahrnehmung ist, ist sie dann eine Überzeugung, die noch einmal beurteilt wird? Wie wird diese Überzeugung gebildet, und warum kann sie als Überzeugung nicht auch einen Grund für weitere Überzeugungen darstellen? Diese Interpretation würde also weniger klären, als die Problematik nur zu verschieben oder zu vervielfachen. Eine solche Auffassung schlägt John McDowell vor. Vgl. Kapitel VIII.1.
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Verfahren, was die Kooperation sinnlicher und sprachlicher Fähigkeiten in der radikalen Interpretation eher in Frage stellt als sie zu erklären. Damit zieht Davidson eine deutliche Grenze zwischen Wahrnehmungen und Urteilen bzw. Überzeugungen. Das System von Überzeugungen, das von Sellars auch als „logischer Raum der Gründe“17 bezeichnet wird, besteht aus Überzeugungen und den zwischen ihnen bestehenden Begründungsrelationen. Wahrnehmungen fallen aus diesem Raum heraus. Sie stellen, wie Sellars und Brandom es nennen, bloße „Spracheingangszüge“ 18 dar. Da sie inhaltlich nicht bestimmend für die sie betreffenden Urteile sein können, sind sie bloß kausale Ursachen, das heißt eine Verbindung zur erfahrbaren Welt, die gleichwohl keine erkenntnistheoretische Relevanz besitzt. Wahrnehmungen unterscheiden sich von Urteilen bzw. Überzeugungen bereits in der jeweiligen Zuschreibung von Passivität und Aktivität. Sinneseindrücke werden passiv empfangen, während Urteile bzw. Überzeugungen aktiv gebildet werden. Diese an Kant erinnernde Unterscheidung zwischen sinnlicher Rezeptivität und aktiver Urteilstätigkeit findet sich wieder in Davidsons Betonung notwendiger Zustimmung oder Ablehnung von Wahrnehmungsgehalten, welche im Akt des Urteilens vollzogen wird: Erst nachdem wir uns urteilend zu den Wahrnehmungen verhalten, können sie für weitere Überzeugungen begründend sein. Die Kluft zwischen Sinnlichkeit und rationaler Urteilstätigkeit wird damit aufs Neue vertieft, denn die Erfahrung selbst kann keinen rationalen Einfluss auf den Ur17 18
Vgl. Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel VI, § 36. Vgl. Sellars, Some Reflections on Language Games, §§ 21f., sowie § 46. Spracheingangssätze (language entry transitions) werden von Sellars zunächst auf ein Reiz-Reaktions-Schema zurückgeführt, in dem durch sprachliche Reaktionen auf nichtsprachliche Eindrücke reagiert wird. Mir geht es hier insbesondere um eine Lesart Sellars’ wie die Brandoms. Vgl. Robert Brandoms „Study Guide“ zu Sellars’ Empiricism and the Philosophy of Mind, S. 120–131, sowie Brandom, Making it explicit, S. 234f. Wahrnehmungen könnten nach Brandom nur dann eine Rolle als Begründungen spielen, wenn sie unter Hinzuziehung der Wahrnehmungsbedingungen und anderem interpretiert worden sind, das heißt wenn sie bereits Gegenstand eines Urteiles geworden sind.
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teilenden ausüben. „Rationaler Einfluss“ soll hier so verstanden sein, dass das So-und-so-Sein der Dinge einen Grund darstellt, so und nicht anders zu urteilen. Davidsons Begründung zeigt, dass die Kluft nicht dadurch entsteht, dass sinnliche Gehalte durch sprachliche Gehalte nicht adäquat ausgedrückt werden könnten oder weil sie mit der sprachlichen Abstraktion eine Entfremdung erführen, wie innerhalb der phänomenologisch-empiristischen Position behauptet wird; sondern weil sie gar keine Inhalte darstellen, an die man überhaupt die Forderung stellen könnte, dass sie möglichst ohne Verluste in das sprachliche Begriffsschema zu übertragen wären. Die Kluft ist also keine Kluft zwischen zwei inkompatiblen Inhalten. Davidsons Kritik am Schema-Inhalt-Dualismus richtet sich ja gerade gegen die Behauptung einer solchen überwältigenden Unvergleichbarkeit.19 Daher ist auch der Vergleich zwischen einem Erfahrungsgehalt und seinem sprachlichen Ausdruck erkenntnistheoretisch nicht relevant: es kann weder von einem Entsprechungsverhältnis20 noch von einer Inkompatibilität zwischen beiden sinnvoll gesprochen werden. Die Kluft zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten entsteht vielmehr, weil Davidson Wahrnehmungsgehalte als für das Vermittlungsverhältnis nicht relevante Gehalte, sondern als bloß kausale Elemente versteht. Sie entsteht also zwischen dem logischen Raum der Gründe, als das System von Überzeugungen, und einem logischen Raum kausaler Ursachen, dem die Wahrnehmung zugeordnet wird.21
19 20 21
Vgl. Davidson, On the Very Idea of a Conceptual Scheme, S. 184: “… the existence of a common system belies the claim of dramatic incommensurability.” Was unsere Überzeugungen verifiziert, so Davidson, sind keine sinnlich erfahrbaren Dinge, sondern propositionale Gehalte. Ebd., S. 194. Vgl. John McDowell, Mind and World, Einleitung, XX. McDowell spricht von der Schlussfolgerung, welche Sellars und Davidson ziehen, „nämlich daß das Empfangen eines Eindrucks nicht in den logischen Raum gehört, in dem solche Begriffe wie der der Verantwortlichkeit ihren Platz haben.“ Geist und Welt, S. 20.
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Dass wir uns urteilend überhaupt auf Wahrnehmungen beziehen können, dass sie also – in einer nicht korrespondenztheoretisch verstandenen Weise – sprachlich vermittelbar sind, zweifelt Davidson nicht an. Die Tatsache, dass wir überhaupt über sprachliche Bedeutungen und über ein System von Überzeugungen verfügen, versichert uns unseres Bezugs auf eine gemeinsame Erfahrungswelt. “I f words and thoughts are, in the most basic cases, necessarily about the sorts of objects and events that commonly cause them, there is no room for Cartesian doubts about the independent existence of such objects and events.” 22 “What stands in the way of global skepticism of the senses is, in my view, the fact that we must, in the plainest and methodologically most basic cases, take the objects of a belief to be the causes of that belief. And what we, as interpreters, must take them to be is what they in fact are.”23
Damit stellt sich das weitere erkenntnistheoretische Problem eines gemeinsamen und objektiven Weltbezugs, das heißt des Bezugs auf eine Welt, die wir nicht selbst hergestellt haben, gar nicht erst. Die Gegebenheit sinnlicher Erfahrung stellt eine Art Minimalbedingung für die Objektivität unserer Überzeugungen dar, insofern wir Wahrnehmungsfähigkeit, mit Davidson: ähnliche Reaktionen auf ähnliche Reize, für den Erwerb einer Sprache und damit auch für den Begriff von Objektivität voraussetzen müssen.24 Doch der Gehalt der Wahrnehmung selbst hat keinen unmittelbaren Einfluss darauf, wie unsere Urteile im Einzelnen ausfallen und ob sie richtig sind. Wie unsere Urteile ausfallen, hängt, wie Davidson betont, von weiteren Überzeugungen und damit auch von der Gesamtheit unseres Überzeugungssystems ab. Die Gegebenheit sinnlicher Erfahrung verbürgt also nicht, dass wir uns in einzelnen Ur22 23 24
Davidson, The Myth of the Subjective, S. 45. Vgl. auch Davidson, Three Varieties of Knowledge, S. 213f. Davidson, A Coherence Theory of Truth and Knowledge, S. 151. “Before there can be learning there must be unlearned modes of generalisation. Before there can be language there must be shared modes of generalisation.” Davidson, Seeing through Language, S. 26.
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teilen auf tatsächliche Ereignisse in der Welt beziehen. Dass liegt nicht nur daran, dass wir uns in Einzelfällen immer irren können, sondern auch daran, dass die Beziehung zwischen sinnlicher Erfahrung und möglichen Überzeugungen überhaupt nicht relevant ist. Eine Erfahrung kann demnach nicht ausschlaggebend sein für die Entscheidung der Frage, welche Überzeugungen es sind, an denen wir festhalten können, und welche wir verwerfen sollten – wie Davidson selbst einräumt.25 Diese Frage betrifft eine engere erkenntnistheoretische Dimension, die McDowell auch als „minimalen Empirismus“ bezeichnet.26 So entsteht der Verdacht, dass das System von Überzeugungen ein zwar kohärentes, aber einer eigentlichen „Reibung“ mit der Erfahrungswelt entbehrendes System darstellt.27 Wenn es keine solche Reibung gibt, sind Wahrnehmungen nur beliebige Spracheingangszüge, die so oder auch anders interpretiert werden könnten. Davidson spricht zwar von einer Unfreiwilligkeit, wenn er sagt, man erfinde eine Kohärenztheorie nicht einfach, sondern es hänge durchaus von äußeren Umständen ab, welchen Überzeugungen wir zustimmen und welchen nicht.28 Doch betrifft diese Unfreiwillligkeit das System von Überzeugungen als ganzes, das nicht einfach so oder auch völlig anders hätte erfunden werden können. Möglicherweise meint Davidson damit auch jenes Mo25 26
27
28
Vgl. Davidson, Empirical Content, S. 174. McDowell, Mind and World, Einleitung, XVI. Mit der Überwindung des Dualismus von Schema und Inhalt würde Davidson explizit auch einen minimalen Empirismus unterlaufen. Der Schema-Inhalt-Dualismus ist nach Davidson das dritte Dogma des Empirismus: “It is itself a dogma of empiricism, the third dogma. The third, and perhaps the last, for if we give it up it is not clear that there is anything distinctive left to call empiricism.” Davidson, On the Very Idea of a Conceptual Scheme, S. 189. McDowell spricht in diesem Zusammenhang von einer „reibungslosen Rotation im luftleeren Raum“ („frictionless spinning in a void“). Geist und Welt, S. 42, Mind and World, S. 11. “It’s not clear what it means to say I could ‘arrive’ at various systems, since I do not invent my beliefs; most of them are not voluntary.” Davidson, Empirical Content, S. 173. Dieser Einwand wird von Davidson allerdings nicht näher erläutert.
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ment, das er als kausale Verursachung charakterisiert, und das lediglich die Minimalbedingung für Objektivität darstellt: Wahrnehmungen stellen Anlässe für Urteile dar. Anlässe für Handlungen beispielsweise lassen sich als Bedingungen erläutern, die wir so ausdrücken, dass wir ohne diesen oder jenen Anlass so nicht gehandelt hätten. Ein Anlass kann aber die Reaktion nicht erklären, das heißt er stellt kein Handlungsmotiv bzw. keine Begründung für eine Überzeugung dar. Eine mögliche Verteidigung Davidsons könnte lauten, dass die durch die Sinne kausal vermittelten Wirkungen der Ereignisse in der Welt genügen, um die Rezeptivität unserer Überzeugungen für die Erfahrung zu erklären.29 Diese Wirkung könnte so erklärt werden, dass Wahrnehmungszustände bestimmte Wahrnehmungsüberzeugungen hervorrufen, ohne sie aber zu erklären bzw. zu rechtfertigen. Die Frage ist aber, wie diese Rezeptivität mit Davidson verständlich gemacht werden kann. Wahrnehmungszustände selbst sollen weder erkenntnistheoretisch noch semantisch eine Rolle spielen; sie sind „theoretisch steril“30. Wahrnehmungsüberzeugungen dagegen stellen Urteile dar, die ebenso fallibel sind wie andere Überzeugungen auch. Wie solche Urteile ausfallen, lässt sich durch den sinnlichen Gehalt der Erfahrung nicht erklären. Wie sollen aber Wahrnehmungszustände Wahrnehmungsüberzeugungen hervorrufen, wenn ihre Gehalte keine strukturelle Gemeinsamkeit besitzen? Was sie hervorrufen können, ist eine Disposition, zu urteilen, doch dann bedarf es in jedem Fall noch eines jeweiligen aktiven Urteilens, was Davidson tatsächlich auch betont. Die Schwierigkeit liegt darin, die Tatsache zu erklären, dass bestimmte Wahrnehmungen die Disposition zu bestimmten Urteilen hervorrufen. Fehlt diese Erklärung, gerät das Urteil zu einem Akt, der in keiner inhaltlichen Beziehung zur Wahrnehmung steht. Dann verliert aber die Rede von einer Rezeptivität gegenüber der sinnlichen Erfahrung ihren guten kantischen Sinn, dass nämlich durch die Anschauung Inhalte gegeben werden. 29 30
Vgl. Liptow, Minimaler Empirismus und perspektivischer Externalismus, S. 97. Ebd., S. 92.
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
Davidson meint also mit der Unfreiwilligkeit der Wahl unserer Überzeugungen nicht, dass Erfahrungen selbst in uns bestimmte Überzeugungen hervorrufen könnten. Wahrnehmungsgehalte können inhaltlich nicht bestimmend für Wahrnehmungsurteile sein. Die konkrete Vermittlung zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten wird von Davidson zwar funktional vorausgesetzt, gleichzeitig aber nicht spezifiziert. An diesem Punkt setzt die Kritik McDowells an, wenn er sagt, dass innerhalb des Kohärentismus die Art und Weise, in der einzelne Erfahrungen in das System von Überzeugungen eingehen, beliebig ist und die Erfahrung selbst keinen rationalen Zwang ausüben kann.31 Die einzige Variante, in der sinnliche Erfahrung auch von erkenntnistheoretischer Relevanz sein könnte, ist für Davidson offenbar die korrespondenztheoretische Annahme eines Passungsverhältnisses, einer Entsprechung zwischen sinnlichen Erfahrungsgehalten und sprachlichen Ausdrücken oder Sätzen. Gegen eine solche naiv-empiristische Auffassung von Sprache und Erkenntnis richtet sich Davidsons Kritik. Mit der Aufgabe der analytisch-synthetisch-Unterscheidung ist eine Unterscheidung zwischen unmittelbaren Beobachtungssätzen und Sätzen, deren Wahrheit sich allein den inferentiellen Beziehungen zu anderen Sätzen verdankt, nicht mehr möglich.32 Nach der Aufgabe dieser prinzipiellen Unterscheidung und nach der Aufgabe des Dualismus zwischen Begriffsschema und sinnlich gegebenem Inhalt sieht Davidson keine andere Möglichkeit mehr für die Annahme, dass Erfahrung inhaltlich ausschlaggebend sein kann für den Gehalt von Überzeugungen. Sinnlich gegebener Inhalt kann nach Davidson nur ein nichtbegrifflicher Inhalt sein.
31 32
Zum Begriff des „rationalen Zwanges“ vgl. McDowell, Mind and World, S. 5, sowie S. 8, FN7; zu seiner Davidson-Kritik ebd., S. 13–18. Für die Notwendigkeit dieser Aufgabe argumentiert Quine in Two Dogmas of Empiricism. Davidson beruft sich auf Quines Kritik, und ergänzt sie durch die Kritik eines dritten Dogmas des Empirismus, des Dualismus von Schema und Inhalt. Vgl. Davidson, On the Very Idea of a Conceptual Scheme, S. 189.
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DIE ROLLE DER WAHRNEHMUNG BEI DAVIDSON
Müssen wir aber, wenn wir den Dualismus von Schema und Inhalt fallen lassen und keine sprachunabhängige Gegebenheit sinnlicher Gehalte mehr annehmen, für die Bildung von Überzeugungen, das heißt auch für ihre Inhalte, die Relevanz von Wahrnehmungsgehalten tatsächlich außer Acht lassen? Lässt sich die Offenheit des Systems von Überzeugungen zur Erfahrung plausibel machen, wenn sinnliche Erfahrungen nur kausale Vermittler darstellen? Davidsons These ist insofern nachvollziehbar, als es wohl begründet ist, sich von einer Korrespondenztheorie der Bedeutung und einer empiristischen Fundierung von Wissen zu verabschieden. Doch warum sollte es nicht möglich sein, einen semantischen und auch erkenntnistheoretischen Holismus zu vertreten und dennoch der Auffassung zu sein, dass Erfahrung einen rationalen Einfluss ausüben kann? Davidson scheint mit seiner Diskreditierung von Wahrnehmungen als mögliche Gründe, mit ihrer Festlegung auf bloß kausale Ursachen, den Schema-Inhalt-Dualismus, den er eigentlich überwinden will, selbst wieder zu provozieren. Denn wenn Wahrnehmungen keinen rationalen Zwang auf unsere Überzeugungen ausüben können, wenn sie inhaltlich nicht bestimmend sein können für unsere Beschreibungen, obliegt es dem Begriffsschema, das heißt den inferentiellen Beziehungen zwischen schon bestehenden Überzeugungen, welche Überzeugungen durch bestimmte Wahrnehmungen hervorgerufen werden. Ein anschauliches Bild dieser Rolle der Wahrnehmung gibt Rorty, der die kausale Interaktion des Menschen mit der Welt mit dem Input eines Computers vergleicht: „Computer sind so programmiert, daß sie auf bestimmte kausale Transaktionen mit Input-Vorrichtungen reagieren, indem sie in bestimmte Programm-Zustände eintreten. Wir Menschen programmieren uns selbst so, dass wir auf kausale Transaktionen zwischen den höheren Gehirnzen-
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
tren und den Sinnesorganen mit Dispositionen zur Aufstellung von Behauptungen reagieren.“33
Diesem Gleichnis nach ist es allein von der Programmierung des Computers abhängig, wie die Input-Signale interpretiert werden, und diese Programmierung lässt sich analog zu den sprachlichen Fähigkeiten verstehen. Meiner Ansicht nach lässt sich dieses Bild nicht durch den Hinweis verteidigen, dass jede alternative Auffassung eine Rückkehr zum „Mythos des Gegebenen“ 34 darstellt. Eine Alternative zu dieser Auffassung führt nicht notwendig zur empiristischen Vorstellung einer sprachunabhängigen Gegebenheit von Erfahrungsgehalten, die durch begriffliche Gehalte repräsentiert werden sollen. Vielmehr sollte es darum gehen, Davidsons grundlegende Einsicht in einer Weise weiterzuführen, dass die tatsächliche Vermittlung zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten erklärt werden kann. Um nicht erneut dem Schema-Inhalt-Dualismus zu verfallen, sollte sie als eine Vermittlung zwischen sprachlichen Gehalten erklärt werden, oder zumindest zwischen Gehalten, die eine strukturelle Gemeinsamkeit besitzen. Auf der Basis dieser Voraussetzung können Wahrnehmungen als Gründe aufgefasst werden, in einem Verständnis von „Grund“, demzufolge sie als Gründe immer auch anfechtbar sind.35 Sie stellen keine ausgezeichneten Überzeugungen dar, die sich als Erfahrungen von selbst rechtfertigen.
33 34 35
Richard Rorty, Die Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber der Welt. John McDowells Lesart des Empirismus, S. 206. Vgl. zur kritischen Verwendung dieses Begriffs Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel IV, § 26. Vgl. dazu § 7 in Sellars’ Empiricism and the philosophy of Mind. Sellars macht deutlich, dass Erfahrungen, wenn sie Gründe darstellen sollen, prinzipiell auch unzuverlässig sein können müssten. Sonst würde die Rede von zuverlässigen Erfahrungen keinen Sinn machen.
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DIE ROLLE DER WAHRNEHMUNG BEI DAVIDSON
V.3.1
Fazit Davidson betont die begriffliche Vermitteltheit der für unsere Urteile relevanten Wahrnehmungsgehalte – indem für ihn dafür nur Wahrnehmungsurteile in Frage kommen – vor allem ihre Abhängigkeit von weiteren Überzeugungen und inferentiellen Beziehungen. Er vertieft aber gleichzeitig die Kluft zwischen Wahrnehmungen und Wahrnehmungsurteilen, indem er betont, dass Wahrnehmungen nur kausale Ursachen darstellen, während erst Wahrnehmungsurteile Gründe sein können. Diese Kluft ist eine andere als die zwischen einem ursprünglichsinnlichen Gehalt und dem sprachlichen Gehalt von Urteilen, insofern Davidson nicht glaubt, dass sich ein solcher ursprünglich-sinnlicher Gehalt unabhängig von sprachlichen Begriffen überhaupt identifizieren lässt. Die von Davidson eingeführte Trennung betrifft vielmehr diejenigen Elemente, welche in den logischen Raum der Gründe gehört, nämlich die Überzeugungen, und diejenigen, welche in den logischen Raum der Natur gehören. Wahrnehmungen werden als mögliche Gründe verworfen, da sie selbst noch keine Überzeugungen darstellen und auch nicht automatisch bestimmte Überzeugungen hervorrufen. Obgleich Davidson durchaus zugesteht, dass sich die Bedeutung einer bestimmten Klasse von Sätzen elementaren Beobachtungen verdanken, führt ihn die Überlegung, dass das Fällen eines Wahrnehmungsurteiles stets weitere Überzeugungen voraussetzt, zu dem Schluss, dass sich der Gehalt von Wahrnehmungsurteilen nicht aus der jeweiligen Wahrnehmung oder Erfahrung erklären lässt.
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DIE NOMINALISTISCHE EXTREMPOSITION
V.4
Abschließende Charakterisierung und Kritik der nominalistischen Extremposition
Die nominalistische Extremposition besteht zum einen in der Kritik der Annahme eines ursprünglich-sinnlichen Gehaltes. Sie stellt also eine Reaktion auf die erste Extremposition dar. Diese Kritik wird mit dem Argument geführt, dass solche ursprünglich-sinnlichen Gehalte unabhängig von einer sprachlichen Bezugnahme gar nicht zugänglich sind. Jeder Verweis auf solche Gehalte setze selbst schon sprachliche Unterscheidungen voraus. Daher sei die Behauptung einer sprachfreien sinnlichen Gegebenheit und insbesondere auch die explizite oder konsequente Annahme einer Kluft, das heißt einer Nichtvermittelbarkeit zwischen ursprünglich sinnlichen Gehalten und sprachlichen Gehalten nicht berechtigt. Sie würde damit ihre eigenen Voraussetzungen überschreiten. Diese Kritik allein macht aber noch nicht die nominalistische Extremposition aus. Der Annahme einer Nichtvermittelbarkeit von Wahrnehmungsgehalten und sprachlichen Gehalten wird nun nicht die Annahme ihrer Vermittelbarkeit oder immer-schon-Vermitteltheit gegenüber gestellt. Es ist vielmehr ein spezifischer Zug der Auffassung der sprachlichen Vermitteltheit sinnlicher Gehalte, welcher die nominalistische Extremposition charakterisiert: Die Extremität dieser Position besteht darin, das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten als ein einseitig bestimmtes aufzufassen. Gemeint ist damit, dass die Struktur sinnlicher Gehalte einseitig bestimmt ist durch die Ausübung sprachlicher Fähigkeiten. Die Fähigkeit, Gleichartiges wahrnehmen zu können, wird allein durch das Verfügen über Begriffe, das heißt als sprachliche Fähigkeit erklärt. In diesem Sinne werden sinnliche Unterscheidungen stets als Instanziierungen oder Fortsetzungen sprachlicher Unterscheidungen aufgefasst. 206
ABSCHLIESSENDE CHA RAKTERISIERUNG UND KRITIK
Das Vermittlungsverhältnis nicht als ein einseitig bestimmtes aufzufassen, muss nicht zwangsläufig darauf hinauslaufen, den Beitrag der Wahrnehmung als einen von sprachlichen Strukturen unberührten Beitrag anzusehen und damit in der Weise des Mythos des Gegebenen zu interpretieren. Wahrnehmungsgehalte „sprechen“ nicht aus einer eigenen, nichtsprachlichen Struktur heraus. Das Vermittlungsverhältnis kann durchaus auch so gedeutet werden, dass sowohl sinnliche als auch sprachliche Fähigkeiten in einem Bedingungsverhältnis zueinander stehen, dass sie also einen Einfluss aufeinander haben. Sprachliche Gehalte spezifieren sinnliche Gehalte, sinnliche Gehalte sind ihrerseits eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass es überhaupt begriffliche Gehalte geben kann. Dennoch ist es nicht so, dass begriffliche Gehalte eine Struktur von Gleichartigkeit in der Wahrnehmung überhaupt erst ermöglichen und somit auch das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten bestimmen. Um diesen Punkt geht es in der Kritik an der nominalistischen Extremposition. Der grundlegenden Annahme dieser Position bzw. dieser Antwortstrategie kann der Einwand entgegen gehalten werden, dass wir sprachliche Zeichen zunächst als gleichartige Gebilde wahrnehmen können müssen, um Sprache überhaupt erlernen zu können, das heißt: noch bevor wir über Begriffe verfügen können. „Hören wir zum Beispiel den Laut ‚rot‘, so reagieren wir darauf, sofern er eine bestimmte Struktur aufweist; wir reagieren auf den einzelnen Laut, sofern er Repräsentant eines Lauttypus ist. Dasselbe gilt nun für alle, und nicht nur die menschliche Wahrnehmung.“36
Akustische oder optische Reize müssen als typische und sich wiederholende Reize erfasst werden können, um ihren Gebrauch als in irgendeiner Weise regelhaft, um sie also als sprachliche Zeichen überhaupt erkennen zu können. Die Voraussetzung für das Erlernen von Sprache ist folglich die ähnliche Reaktion von Sprechern auf eine bestimmte Band36
Dieser Einwand stammt von Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 202.
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breite ähnlicher Reize. Dieser Einwand gegen die Annahme einer rein sprachlich konstituierten Unterscheidungsfähigkeit ist schlagend. Offenbar verfügen wir über eine vorsprachliche Unterscheiungsfähigkeit, die die Annahme einer rein sprachlich konstitituierten Unterscheidungsfähigkeit ad absurdum führt. Dies folgt nicht nur aus dem genannten Einwand, sondern ist auch intuitiv einleuchtend. Was zu vielfachem Widerspruch und zu längst nicht abgeschlossenen Debatten über Begrifflichkeit oder Nichtbegrifflichkeit von Wahrnehmung führt, ist die Vorstellung, dass Wahrnehmungsgehalte in Begriffen vollständig aufgehoben sein sollen bzw. dass Gegenstand und Inhalt unserer Wahrnehmung selbst von sprachlichen Unterscheidungen bestimmt sein sollen. Anschauung ohne Begriffe ist nicht blind, um die kantische Formulierung aufzugreifen. Auch wenn sich eine begrifflich strukturierte Anschauung in vielem von einer nichtbegrifflichen Anschauung unterscheiden und auch insofern auch „sehender“ sein mag, ist jene an sich nicht blind. So steht die auf der Unhintergehbarkeit der Sprache beharrende nominalistische Position im Widerspruch zu der auf einer gewissen Evidenz gestützten Position sinnlicher Unmittelbarkeit – einer Position, die den spezifischen Gehalt der Wahrnehmung oder sinnlichen Erfahrung nicht vorgängig in der Sprache aufgehoben wissen will – als sei dieser Gehalt dem Subjekt der Wahrnehmung immer schon entzogen und in sprachlichen Formen veräußerlicht. Gegen diese zwei Alternativen sprechen einige grundlegende Überzeugungen. Mit der linguistischen Wende ist unser Zugang zur Welt als sprachlich vermittelter zu verstehen, so dass die Annahme einer Kluft zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Sprache nicht mehr annehmbar ist. Gleichwohl erscheint es problematisch, den Gehalt von Wahrnehmungsurteilen auf durch Prädikate immer schon getroffene Unterscheidungen zurückzuführen, weil damit ein zu enger Begriff von Wahrnehmung und zugleich die Sprache nicht genügend in ihrer Offenheit zur Erfahrung gefasst ist.
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VI
PROBLEMANALYSE UND KRITIK
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VI.1
Die Problematik zweier Extrempositionen Die Darstellung der aristotelischen und der klassisch-empiristischen Positionen im Kapitel II zeigte eine Problematik in der Erklärung des Vermittlungsverhältnisses zwischen Wahrnehmungsgehalten und begrifflichen Gehalten bzw. den auf diese Wahrnehmungen bezogenen Urteilen. Die Problematik stellte sich als eine Problematik der Vermittlung zwischen den als einzeln aufgefassten sinnlichen Erfahrungen und der Allgemeinheit sprachlicher Begriffe heraus. Auch Kants Erklärung der Vermitteltheit von Anschauungen und Begriffen weist, wie ich im Kapitel III.2 gezeigt habe, Züge eben dieser Charakterisierung auf, insofern mit der „kopernikanischen Wende“ dem urteilenden Verstand jene Verbindungs- und Strukturierungsleistung zugesprochen wird, die Anschauungen erst erkenntnisrelevant sein lässt. Nach einer Analyse der mit diesem Vermittlungsproblem verknüpften klassischen Synthesistheorie des Urteils habe ich im Kapitel IV dargelegt, dass auch innerhalb einer Gebrauchstheorie der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke das Problem bestehen bleibt, die Anwendung von Begriffen auf Wahrnehmungssituationen, zum Beispiel in Wahrnehmungsurteilen, zu erklären. Innerhalb einer funktionalen Erklärung stellt dieses Problem gleichzeitig auch ein Problem für die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, das heißt für die Erklärung des empirischen Gehaltes von Begriffen dar. Auf dieses Problem reagiert die von mir als „nominalistisch“ bezeichnete Position mit der Auffassung, dass die mit der Ausübung sprachlicher Fähigkeiten offenbar eng verbundene Wahrnehmung von Gleichartigem und Verschiedenem selbst eine sprachliche Fähigkeit darstellt, während bloße sinnliche Eindrücke keinerlei Erkenntnisrelevanz besitzen. Diese das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten betreffende Problematik spitze ich in diesem Kapitel auf zwei mögliche Extrempositionen zu und analysiere sie kritisch. Wenn ich diese Extrempositionen im Folgenden darstelle, beanspruche ich damit nicht, dass sich einzelne philosophische Positionen auf diese Dar-
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK
stellung reduzieren ließen und dass sich nicht gleichzeitig auch ein Problembewusstsein und auch Lösungsansätze innerhalb dieser Positionen finden ließen. Mir geht es vielmehr um eine Aufzeigung bestimmter problematischer Tendenzen in der Erklärung dieses Verhältnisses und um deren systematische Voraussetzungen. Da diese Aufzeigung verallgemeinernder Art ist, lässt sie sich nicht passgenau auf einzelne philosophische Positionen abbilden. Dass es diese Tendenzen, auch in Gestalt möglicher Lesarten philosophischer Positionen, tatsächlich gibt, ist eine Voraussetzung und zugleich Motivation meiner Darstellung und Kritik dieser Extrempositionen. Im zweiten Teil dieses Kapitels stelle ich eine Analyse der Problematik und eine Strategie zur Vermeidung der Extrempositionen vor. Es geht mir also weniger um die Ausarbeitung einer konkreten Alternative, als einer weiteren Erkärungsmöglichkeit, sondern vielmehr um einen therapeutischen Vorschlag. Auf der einen Seite steht eine Position, welche sich insbesondere innerhalb der empiristisch geprägten Phänomenologie findet, die von einer unmittelbaren und nichtbegrifflichen Gegebenheit sinnlicher Gehalte in der Wahrnehmung ausgeht. Gleichzeitig wird die sprachliche Vermittlung von Wahrnehmungsgehalten als ein Verlust bzw. eine Entfremdung dieser ursprünglich-sinnlichen Gehalte aufgefasst. Es ist also das programmatische Scheitern der sprachlichen Vermittlung sinnlicher Gehalte, welches die erste Extremposition ausmacht. Pointiert äußert Hegel diese Unvereinbarkeit sinnlicher Gewissheit und sprachlicher Allgemeinheit: „Wenn sie wirklich dieses Stück Papier, das sie meinen, sagen wollten, und sie wollten sagen, so ist dies unmöglich, weil das sinnliche Diese, das gemeint wird, der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen, angehört, unerreichbar ist. Unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, würde es daher vermodern …“ 1
1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 77. Zur Erläuterung von Hegels Position vgl. Kapitel III.1.
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DIE PROBLEMATIK ZWEIER EXTREMPOSITIONEN
Innerhalb der klassisch-empiristischen Ansätze ist das Scheitern der sprachlichen Vermittlung sinnlicher Erfahrungsgehalte zwar nicht programmatisch. Weder Locke, noch Hume oder Berkeley betonen die Nichtausdrückbarkeit des unmittelbaren Gehaltes sinnlicher Erfahrung. Sie gehen davon aus, dass sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch den repräsentativen Bezug auf Erfahrungsinhalte erklärt. Die Problematik entsteht vielmehr dadurch, dass die Begriffsbildung des Verstandes gegenüber der Rezeptivität sinnlicher Erfahrung autonom ist. Mit dem sprachlichen Zugriff wird von der Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke abstrahiert, werden Aspekte herausgegriffen und verallgemeinert. Dabei wird ein Schema angewendet, welches sich aus der passiven Aufnahme sinnlich-einfacher Ideen selbst nicht erklären lässt, sondern eine eigene Aktivität des Verstandes darstellt. Die sprachlich vollzogene Strukturierung sinnlicher Gehalte ist damit von der eigentlichen Erfahrung unabhängig. Diese Problematik ist auf die empiristische Voraussetzung zurückzuführen, dass sich ein unmittelbar Gegebenes vom Unterscheidungs- und Aussageapparat der natürlichen Sprache wie der Wissenschaftssprache prinzipiell ablösen lässt.2 Sie manifestiert sich darin, dass die Gegebenheitsbasis der Erfahrung unbestimmt und der unmittelbare Gehalt sinnlicher Erfahrung in seiner Komplexität unaussprechlich bleibt. Klare und einfache Ideen, die durch die Wahrnehmung ursprünglich gegebenen sein sollen, können unabhängig von der Reflexion und Abstraktion des Verstandes gar nicht identifiziert werden. Es entsteht also auch innerhalb der empiristischen Konzeption von Erfahrung, zumindest in der hergebracht-kritischen Lesart, schon ein Vermittlungsproblem zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Damit tut sich zwischen der sinnlichen Erfahrung und dem sprachlichen Ausdruck eine Kluft auf, die für die von mir hier fokussierte erste Extremposition charakteristisch ist. Die sinnlich gegebenen Gehalte lassen sich sprachlich nicht ausdrücken, da sie aufgrund ihrer ursprüngli2
Vgl. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und des Formalismus, S. 21.
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK
chen Vereinzeltheit und Mannigfaltigkeit keinen Anknüpfungspunkt für die Allgemeinheit sprachlicher Begriffe bieten. Die dem Verstand zugeordnete Abstraktionstätigkeit kann nur als eine äußere Instanz der Strukturierung und Verarbeitung des in der Erfahrung gegebenen Materials aufgefasst werden. Die zum anderen Extrem neigende Position reagiert auf die erste Extremposition, indem sie die Behauptung eines ursprünglichen und sprachlich nicht vermittelbaren sinnlichen Gehaltes kritisiert. Das für diese Position geltend gemachte Argument besteht darin, dass außerhalb sprachlicher Bezugnahme solche ursprünglich-sinnlichen Gehalte gar nicht individuiert werden können. Die Annahme einer Inkompatibilität beider Gehalte läuft demnach darauf hinaus, dass die Individuation sinnlicher Gehalte auf einem anderen Schema als dem sprachlichen beruht. Mit Davidson lässt sich argumentieren, dass die Behauptung einer vollständigen oder auch nur teilweisen Nichtübersetzbarkeit verschiedener Gehalte bereits ein gemeinsames Begriffsschema voraussetzt, so dass die Behauptung der Inkompatibilität verschiedener Gehalte auf einen Selbstwiderspruch hinausläuft.3 Das heißt, dass die Annahme einer prinzipiellen Nichtvermittelbarkeit sinnlicher und sprachlicher Gehalte nicht haltbar ist. Diese Einsicht stellt zugleich auch eine Einsicht in die grundlegende Sprachlichkeit unserer Gedanken und Überzeugungen, das heißt auch der erkenntnisrelevanten Wahrnehmungsgehalte dar. Sie ist insbesondere mit dem linguistic turn, das heißt mit dem Einfluss von Frege und Wittgenstein und der sprachanalytischen Philosophie, verbunden. Die zweite Extremposition, die ich als „nominalistische Extremposition“4 bezeichne, ist durch das Ausgehen von einer sprachlichen Vermittelbarkeit sinnlicher Gehalte jedoch noch nicht ausreichend charak3
4
Mit seiner Kritik am Schema-Inhalt-Dualismus widerlegt Davidson die These von einer „überwältigenden Unvergleichbarkeit“. Donald Davidson, On the Very Idea of a Conceptual Scheme, S. 184: “… the existence of a common system belies the claim of dramatic incommensurability.” Vgl. zur Begriffsklärung Kapitel V.1, insbesondere die Fußnote 2 auf S. 179.
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DIE PROBLEMATIK ZWEIER EXTREMPOSITIONEN
terisiert. Mit der Gegenüberstellung beider Extrempositionen geht es mir nicht um die Gegenüberstellung der Behauptung einer fehlenden Vermittelbarkeit auf der einen Seite und der Behauptung der Begrifflichkeit sinnlicher Gehalte auf der anderen. Es geht mir bei der Thematisierung der nominalistischen Extremposition vielmehr um ein spezifisches Verständnis dieser begrifflichen Vermitteltheit sinnlicher Gehalte. Kennzeichnend dafür ist die Einseitigkeit der Bestimmung dieses Verhältnisses. Die Vermittlung zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten wird als allein durch bereits konstituierte sprachliche Strukturen bestimmt aufgefasst. Dies lässt sich an der Beantwortung der Frage ausmachen, was die Fähigkeit ausmacht, Begriffe anzuwenden. Da diese Fähigkeit offenbar auch in Wahrnehmungssituationen ausgeübt wird, zum Beispiel wenn Wahrnehmungsurteile gefällt werden, lässt sich die Frage auch so formulieren, was die Fähigkeit ausmacht, Begriffe auf verschiedene Wahrnehmungsgegenstände anzuwenden. Offenbar beziehen wir uns auf Gegenstände, die wir als so-und-so seiend wahrnehmen, und auf dieser Grundlage können wir sie auch prädikativ bestimmen bzw. Urteile darüber fällen. Die Fähigkeit, etwas als so-und-so seiend wahrzunehmen, das heißt auch als etwas Gleichartiges oder Unterschiedenes wahrzunehmen, wird innerhalb der nominalistischen Extremposition als eine sprachliche Fähigkeit aufgefasst. Sinnliche Unterscheidungsfähigkeit wird als sprachliche Unterscheidungsfähigkeit verstanden. Die nominalistische Extremposition verdankt sich auch der Kritik an der empiristischen Vorstellung, dass in der Wahrnehmung Eigenschaften erfasst werden, auf die sich sprachliche Ausdrücke in einem davon unabhängigen Akt repräsentativ beziehen. Das bedeutet, dass dieser Bezug keinerlei Einfluss auf die Struktur des Wahrgenommenen besitzt. Dem wird entgegengesetzt, dass das Verfügen über Prädikate die Wahrnehmung von Gleichartigem überhaupt erst ermöglicht. Gleichartigkeit, so die Begründung, wird anhand von begrifflichen Identitätskriterien ausgemacht. Die nominalistische Extremposition gelangt also von der Einsicht in die sprachliche Vermitteltheit unserer Gedanken
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK
und Überzeugungen und von der Kritik an der naiv-empiristischen Annahme eines Abbildungsverhältnisses zwischen sinnlich gegebenen Ideen und sprachlichen Ausdrücken zu der These, dass in der Wahrnehmung selbst keine Anknüpfungsmöglichkeit für begriffliche Klassifikation liegt. Die nominalistische Extremposition geht zwar von der Vermitteltheit sinnlicher und sprachlicher Gehalte aus, versteht diese aber als ein einseitiges Bestimmungsverhältnis, indem Wahrnehmung nur als kausale Ursache, nicht aber als inhaltlich relevant für die Bildung von Überzeugungen aufgefasst wird.5 Beide Extrempositionen machen Argumente bzw. Intuitionen geltend, die die jeweils andere Position in Frage stellen. Gegen die nominalistische Extremposition, derzufolge Wahrnehmungsgehalte auf immer schon getroffene sprachliche Unterscheidungen zurückzuführen sind, spricht die Evidenz einer sinnlichen Gewissheit bzw. die Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrung. Diese scheint sich der Struktur sprachlicher Prädikation zu widersetzen und ihr gegenüber autonom zu sein. Dagegen argumentiert die nominalistische Position mit der Unhintergehbarkeit der Sprache. Sie beharrt auf der Unmöglichkeit, einen sinnlichen Gehalt unabhängig von der Struktur sprachlichen Zugriffs überhaupt zu identifizieren und ihm eine mehr als nur kausale Funktion für die Bildung von Überzeugungen und für die Konstitution sprachlicher Bedeutung zuzuschreiben. Beide Extrempositionen stellen eine problematische Auffassung des Vermittlungsverhältnisses zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten dar. Die für ein annehmbares Verständnis dieses Vermittlungsverhältnisses ausschlaggebende Frage ist also, welchen Einfluss die Struktur der Wahrnehmung auf die Sprache, das heißt auf die Konstitution begrifflicher Gehalte besitzt und wie sie sich im kreativen Moment der 5
“No doubt meaning and knowledge depend on experience, and experience ultimately on sensation. But this is the ‘depend’ of causality, not of evidence or justification.” Donald Davidson, A Coherence Theory of Truth and Knowledge, S. 146. Vgl. darin auch The Myth of the Subjective, S. 46. Im Kapitel V.3 wird Davidsons Position ausführlicher dargestellt.
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DIE PROBLEMATIK ZWEIER EXTREMPOSITIONEN
Verwendung von Sprache niederschlägt. Wie ich anhand der Problematik der verschiedenen Urteilstheorien gezeigt habe, spielt für die Erklärung sprachlicher Bedeutung der Bezug auf Wahrnehmungen eine entscheidende Rolle.6 Auch die von Davidson beschriebene Situation radikaler Interpretation, welche als Schlüsselsituation nicht nur für die Erschließung einer noch unbekannten, aber bereits konstituierten Sprache, sondern für die Konstitution begrifflicher Gehalte überhaupt gelten kann, ist ohne die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Gegenständen bzw. Ereignissen in der Umwelt nicht möglich. Wenn wir also die Konstitution begrifflicher Gehalte und gleichzeitig mit ihr die Offenheit der Sprache zur Erfahrung verstehen wollen, müsste in diesem Verständnis auch die Struktur der Wahrnehmung selbst eine Rolle spielen. Wahrnehmungsgehalte sollten dabei jedoch nicht als ursprünglich-sinnliche Gehalte in das Vermittlungsverhältnis eingehen. Das liefe auf einen Mythos des Gegebenen hinaus. Ebensowenig sollten sie als Gehalte aufgefasst werden, deren Bedeutung allein durch die Struktur sprachlicher Begriffe erklärt wird – indem zum Beispiel allein jene Wahrnehmungsgehalte für relevant erachtet werden, die zugleich Urteilsgehalte sind, oder aber indem den sinnlichen Gehalten selbst jegliche erkenntnisrelevante Struktur abgesprochen wird. Eine solche Erklärung wäre eine ungenügende Erklärung, da die Anwendung sprachlicher Begriffe ihrerseits ohne Rekurs auf Wahrnehmungsfähigkeiten gar nicht erklärt werden kann. Es handelt sich also vielmehr um ein kokonstitutives Verhältnis und um ein Ineinandergreifen gemeinsamer Strukturmerkmale. Mir geht es in diesem Kapitel jedoch nicht um einen Lösungsvorschlag, sondern vielmehr um eine Analyse der Problematik der beiden Extrempositionen. Diese Analyse ist der hauptsächliche Gegenstand dieser Arbeit und stellt auch den Leitfaden für die historische Untersuchung der Kapitel II bis III dar. Die Problematik der Extrempositionen ergibt sich aus der Beantwortung der Frage, was die Fähigkeit zur Anwendung von Begriffen ausmacht. Diese Frage hat sich als nervus 6
Vgl. Kapitel IV und die Einleitung zu Kapitel V.
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK
probandi der Bedeutungstheorie herausgestellt.7 Das Problem besteht dabei in der Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke und der damit verbundenen Konzeption des Vermittlungsverhältnisses zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Wenn wir Wahrnehmungsurteile fällen, werden Begriffe auf Gegenstände der Wahrnehmung angewendet. Was macht also die Fähigkeit aus, verschiedene Wahrnehmungssituationen unter je gemeinsame oder auch neue Begriffe zu bringen? Innerhalb konzeptualistischer Ansätze wurde die Frage durch den Rekurs auf mentale Gegenstände beantwortet. Diese mentalistisch geprägte Gegenstandstheorie der Bedeutung ist verbunden mit der Synthesistheorie des Urteils.8 Begriffe stehen für Vorstellungen, die die Bedeutung dieser Begriffe erklären, während ihre Zusammensetzung (Synthesis) die Bedeutung von Urteilen erklärt. Allgemeine Begriffe stehen für Allgemeinvorstellungen bzw. conceptus communis. Das Verfügen über die Vorstellung eines allgemeinen Merkmales ermöglicht also die Fähigkeit zur Anwendung des Begriffes auf verschiedene Gegenstände. Die Allgemeinvorstellung wird durch den Verstand gebildet. Urteilend verbindet der Verstand, als Vermögen der Synthesis, sinnliche Vorstellungen unter Begriffe. Dadurch wird Einheit in der Mannigfaltigkeit sinnlicher Wahrnehmung hergestellt, denn die Verbindung von Vorstellungen ist in der Wahrnehmung selbst nicht schon gegeben. In diesem Punkt stimmen Aristoteles, die Empiristen und auch Kant überein.9 Gleichzeitig wird die Flüchtigkeit und Verworrenheit sinnlicher Eindrücke betont. Die Abstraktionsleistung des Verstandes stellt also eine Ordnung und Verarbeitung des sinnlich gegebenen Materiales dar.10 Diese Auffassung führt zur möglichen Annahme einer Kluft zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Wenn das sinnlich Gegebene als 7 8 9 10
Vgl. S. 180. Vgl. die Kapitel III.2.3, III.2.4 und IV.2. Vgl. die Kapitel II und III.2. Es ist hier nicht von Bedeutung, ob das sinnliche Material eine eigene erkenntnisrelevante und begriffsunabhängige Struktur besitzt oder nicht; in diesem Punkt stimmen die genannten Positionen nicht überein.
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DIE PROBLEMATIK ZWEIER EXTREMPOSITIONEN
ein ungeordnetes Mannigfaltiges aufgefasst wird, stellt der sprachliche Zugriff des Verstandes eine äußere Instanz dar. Mit der Sprache wird vom sinnlich Gegebenen abstrahiert. Wenn also zusätzlich die Gegebenheit eines eigenen ursprünglich-sinnlichen Gehaltes angenommen wird, erfährt dieser durch die sprachliche Struktur eine Entfremdung. Dies wird insbesondere bei Hegel und in der Hegelrezeption des 20. Jahrhunderts deutlich.11 Der sprachliche Ausdruck stellt einen Verlust des ursprünglich-sinnlichen Gehaltes dar. Das Problem der Vermittlung sinnlicher und sprachlicher Gehalte bleibt jedoch auch nach der Überwindung der Gegenstandstheorie durch eine Gebrauchstheorie bzw. funktionale Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke bestehen. Auch wenn man nicht mehr davon ausgeht, dass der Bezug auf einen mentalen Gegenstand, wie die Vorstellung eines allgemeinen Merkmales, diese Fähigkeit erklärt, allgemeine Begriffe auf verschiedene Gegenstände anzuwenden, sondern statt dessen die Fähigkeit für die Erklärung der Bedeutung zugrunde legt, bleibt offen, wie die Fähigkeit zur Verwendung von Begriffen mit der Fähigkeit zur Wahrnehmung von Gleichartigem verknüpft ist. Es stellt sich also nach wie vor die Frage, was die Fähigkeit ausmacht, in jeweils verschiedenen Wahrnehmungssituationen diese oder jene Begriffe anzuwenden, diese oder jene Urteile zu fällen. Muss, so könnte der Konzeptualist fragen, dafür nicht doch das Bewusstsein von etwas Allgemeinem vorausgesetzt werden? Diese Frage wird nun von der nominalistischen Extremposition so beantwortet, dass auch die Fähigkeit, Gleichartiges wahrzunehmen, eine sprachliche Fähigkeit darstellt. Wie wir gesehen haben, beruht diese Antwort auf der mit dem linguistic turn verbundenen Einsicht in die grundlegende sprachliche Vermitteltheit unserer Gedanken und Überzeugungen. Sie beruht aber zusätzlich noch auf der Annahme, dass durch die Wahrnehmung selbst, unabhängig von sprachlichen Strukturen, keine Gleichartigkeit erfasst wird, die für das Vermittlungsverhältnis von Relevanz sein könnte. Obwohl also die no11
Vgl. Kapitel III.1.
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK
minalistische Extremposition von der Vermitteltheit sprachlicher und sinnlicher Strukturen ausgeht, gestaltet sich diese Vermittlung problematisch, insofern sinnliche Unterscheidungsfähigkeit zwar durch sprachliche Strukturen, sprachliche Unterscheidungsfähigkeit jedoch nicht durch sinnliche Unterscheidungsfähigkeit erklärt wird. Beide Momente vermögen strukturell nicht ineinander zu greifen. Das Vermittlungsverhältnis gestaltet sich so als ein einseitiges Bestimmungsverhältnis. Der These, dass es stets begriffliche Fähigkeiten sind, die die sinnliche Unterscheidungsfähigkeit bestimmen, muss entgegnet werden, dass sprachliche Zeichen zuerst als gleichartige und wiederholbare Eindrücke wahrgenommen werden können müssen, um Sprache überhaupt erlernen zu können. Damit Sprache erlernt werden kann, muss ein akustischer Laut erst als typischer Laut in seiner möglichen Wiederholbarkeit wahrgenommen werden können. Dies gilt auch für optische Reize, das heißt für die Erlernbarkeit von Schriftzeichen. Die grundlegende Voraussetzung für den Erwerb von Sprache ist also eine ähnliche oder gleichartige Reaktion auf eine bestimmte Bandbreite ähnlicher Reize.12 Dieser Einwand stellt ebenso wie der allgemeine Hinweis auf eine vorprädikative Unterscheidungsfähigkeit die Annahme einer rein sprachlich konstituierten Unterscheidungsfähigkeit in Frage.13 Da die Problematik der Vermittlung auch nach der Überwindung der Synthesistheorie des Urteils und der damit verbundenen Gegenstandstheorie der Bedeutung bestehen bleibt, scheint ihre Wurzel tiefer zu liegen. Sie betrifft beide Extrempositionen. Auch innerhalb der funktionalen Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch den Verweis auf ihre Verwendung in Urteilen gibt es offenbar eine Erklärungslücke. Es ist die nach wie vor offene Frage, was die Fähigkeit zur 12
13
Diese Einsicht muss durchaus auch Davidson zugeschrieben werden: “Before there can be learning there must be unlearned modes of generalisation. Before there can be language there must be shared modes of generalisation.” Davidson, Seeing through Language, S. 26. Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 202.
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DAS DOGMA: WAHRNEHMUNGSGEGENSTÄNDE SIND EINZELN
Anwendung sprachlicher Begriffe auf Wahrnehmungsgegenstände ausmacht. Die erste Extremposition erklärt diese Fähigkeit durch den Bezug auf einen mentalen Gegenstand, das heißt durch die Vorstellung eines gemeinsamen Merkmales. Mit der Behauptung einer strukturellen Verschiedenheit zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten vertieft sie die Kluft zwischen beiden. Die nominalistische Extremposition führt die der Fähigkeit zur Anwendung von Begriffen zugrunde liegende sinnliche Unterscheidungsfähigkeit selbst noch auf begriffliche Unterscheidungen zurück. Damit fasst sie das Vermittlungsverhältnis allzu eng auf. Entscheidend ist hier, dass innerhalb der nominalistischen Extremposition nicht das Fehlen der Möglichkeit, den Bezug auf einen mentalen Gegenstand vorauszusetzen, die Vermittlung des SinnlichEinzelnen mit dem Sprachlich-Allgemeinen zum Problem macht. Es ist vielmehr die Konzeption der Wahrnehmung selbst, welche die Erklärung des Vermittlungsverhältnisses für beide Extrempositionen problematisch werden lässt. VI.2
Das Dogma: Die Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände als einzelne Beiden Extrempositionen liegt eine gemeinsame Voraussetzung zugrunde, die zu einem Erklärungsnotstand führt. Beide stellen eine Reaktion auf diesen Erklärungsnotstand dar, das heißt dass sich ihre Plausibilität auch diesem Erklärungsnotstand verdankt. Die Voraussetzung besteht in der althergebrachten Annahme, dass die Wahrnehmung sich auf Einzelnes richtet. Die Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände bedeutet primär, dass das sinnlich Wahrgenommene jeglicher erkenntnisrelevanter Verbindungen entbehrt. Ihr gegenüber steht das durch die Sprache ausgedrückte Allgemeine. Die Festlegung der Wahrnehmungsgegenstände auf Einzelnes kann zunächst auch als ontologische Aussage über äußere Gegenstände verstanden werden, wenn sie mit der Annah-
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK
me eines direkten Realismus der Wahrnehmung einhergeht.14 Mir geht es jedoch um die erkenntnistheoretische Dimension der Einzelheit von Wahrnehmungsgegenständen, da sie entscheidend ist für die Auffassung der Vermittelbarkeit von sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Ausschlaggebend ist nicht, welcher Art die Gegenstände sind, die Wahrnehmungen verursachen, sondern der Wahrnehmungsgehalt selbst, das heißt, was an diesen Gegenständen wahrgenommen wird.15 Relevant für meine Fragestellung sind die Verbindungen zwischen den Wahrnehmungsgegenständen, das heißt, ob auch gemeinsame bzw. unterscheidende Merkmale wahrgenommen werden und ob diese Wahrnehmung eine sprachlich vermittelte ist. Besonders deutlich wird die erkenntnistheoretische Dimension innerhalb des Empirismus, aber auch innerhalb der Sinnesdatentheorien, die vom Haben einzelner, das heißt absolut individueller und noch nicht verallgemeinerter sinnlicher Eindrücke ausgehen, welche noch nicht vereinnahmt sind von irgendeiner sprachlichen Beschreibung. Diese Eindrücke werden dann selbst zum Gegenstand der Wahrnehmung, denn wahrgenommen werden aus empiristischer Sicht nicht äußere Gegenstände, sondern Repräsentationen derselben, Ideen oder Vorstellungen; aus Sicht der Sinnesdatentheorien sind Sinnesdaten die Gegenstände der Wahrnehmung. Tugendhat zufolge wird das Dogma der Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände durch Aristoteles begründet: „Man muß hier eine merkwürdige Verdrehtheit konstatieren, die die gesamte Nominalismusdisussion über Jahrhunderte hinweg belastet hat. Die traditionelle Philosophie schleppte seit Aristoteles ein Dogma mit
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Ich habe diese Möglichkeit im Kapitel II.1.1 zu Aristoteles erörtert. Vgl. auch S. 12. Wenn ich von „Wahrnehmungsgegenständen“ spreche, ist dieser Wahrnehmungsgehalt gemeint. Dabei soll prinzipiell offen bleiben, ob Wahrnehmungsgegenstände nicht gleichzeitig auch als reale Gegenstände, die diese Wahrnehmung jeweils verursachen, aufgefasst werden können.
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sich, wonach die Wahrnehmung – die ‚Sinnlichkeit‘ – sich auf Einzelnes bezieht.“16
Nach Aristoteles richtet sich die Wahrnehmung also auf Einzelnes.17 Diese aristotelische Bestimmung lässt sich meines Erachtens nicht auf die ontologische These reduzieren, dass es in der Welt raumzeitliche einzelne Dinge gibt. Diese These ist zwar tatsächlich ausschlaggebend für die Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände als einzelne, da Aristoteles zusätzlich eine natürliche Entsprechung zwischen Wahrnehmungsgegenständen und äußeren Gegenständen annimmt. Entscheidend ist jedoch, dass Aristoteles auch die Wahrnehmungsinhalte in dieser Weise charakterisiert. Dies lässt sich daran erkennen, dass er die damit verbundene erkenntnistheoretische Problematik selbst gesehen und teilweise revidiert hat. Wenn die Wahrnehmung Einzelnes erkennt, entsteht ein Problem der Vermittlung mit dem Allgemeinen, das in auf der Wahrnehmung beruhenden Erkenntnisformen erfasst wird. Auch für Aristoteles stellte sich die Frage, wie das durch die Wahrnehmung aufgenommene Einzelne als das Einzelne eines Allgemeinen erkannt werden kann, wie es also überhaupt zur Konzeption des Allgemeinen kommt. Um an einer Erkenntnis initiierenden Funktion der Wahrnehmung festhalten zu können, hat Aristoteles seiner ursprünglichen Bestimmung stellenweise widersprochen durch den Hinweis, dass in der Wahrnehmung bereits Allgemeines, wenn auch noch undeutlich, erkannt wird.18 Die Festlegung, dass Wahrnehmung Einzelnes erfasst, findet sich besonders deutlich in den Positionen des klassischen Empirismus. Locke zufolge werden durch die sinnliche Erfahrung einfache Ideen aufgenommen. Einfache Ideen werden als unteilbare Ideen sinnlicher Qualitäten verstanden (das heißt als klar und unterscheidbar), die unabhän16 17 18
Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 203. Vgl. dazu Kapitel II.1.1, S. 32. Aristoteles, Analytica posteriora II 19, 100 a 16ff.
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK
gig von der Verstandestätigkeit, das heißt auch unabhängig von einer begrifflichen Struktur gegeben sein sollen. Die durch Begriffe ausgedrückte Allgemeinheit wird dann durch Abstraktion und Zusammensetzung aus dem sinnlich gegebenen Material gewonnen. Die angesprochene Problematik der Vermittlung zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten hängt mit der atomistischen Konzeption der Wahrnehmungsgegenstände eng zusammen. Dies zeigt sich in der Ambiguität dieser Konzeption: Auf der einen Seite sind einfache Ideen, da sie stets als besondere, das heißt als Ideenkomplexe gegeben sind (Locke spricht von parcels, Hume von bounds of ideas), in ihrer Mannigfaltigkeit unaussprechlich.19 Auf der anderen Seite werden sie als isolierte Aspekte dieses Materials aufgefasst. Aufgrund ihrer Einfachheit müssen sie dann jedoch bereits als Produkte der Abstraktionstätigkeit des Verstandes gelten. Dabei stellt sich die Frage nach der Art des Enthaltenseins einfacher Ideen in besonderen Ideen, die komplex sind. Der Verstand müsste zum Beispiel über ein Muster (pattern) verfügen, um einfache Ideen als in besonderen Ideen enthalten wahrnehmen zu können. Er wäre dann aber an der sinnlichen Aufnahme dieser Ideen bereits strukturell beteiligt, was der der Voraussetzung des empiristischen Ansatzes, dass einfache Ideen durch sinnliche Erfahrung passiv gegeben sind, widerspricht. Daher bleibt auch die Verknüpfung einfacher Ideen durch den Verstand zu komplexen Ideen von ihrer ursprünglichen Gegebenheit unabhängig, so dass Adäquatheit zwischen ursprünglichsinnlicher Gegebenheit und sprachlicher Repräsentation derselben nicht festgestellt werden kann. Der Verarbeitung des sinnlich gegebenen Materials und der Begriffsbildung durch den Verstand würde damit eine zu große Freiheit zukommen.20 Auch bei Kant findet sich in der konstitutionsanalytischen Unterscheidung zweier Erkenntnisvermögen die gleiche Festlegung: Wäh19 20
“… names must be endless.” John Locke, An Essay on Human Understanding, II.11, § 9. Vgl. Kapitel II.2.2.
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rend Begriffe allgemein sind und sich vermittelst eines gemeinsamen Merkmals auf Gegenstände richten, beziehen sich Anschauungen unmittelbar auf einen Gegenstand und sind einzeln. Das durch die Sinne gegebene Material wird zugleich charakterisiert als ein Mannigfaltiges, dessen Einheit durch den Verstand hergestellt wird. Kant stimmt mit den Empiristen insofern überein, als er daran festhält, dass Verbindung in der sinnlichen Wahrnehmung nicht gegeben sein kann, sondern auf die Tätigkeit des Verstandes zurückzuführen ist. „Die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt, kann niemals durch Sinne in uns kommen, … denn sie ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und, da man diese, zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, Verstand nennen muß, so ist alle Verbindung … eine Verstandeshandlung.“21
Obwohl Kant im Ergebnis der Transzendentalen Deduktion die notwendige Begrifflichkeit der Wahrnehmung hervorhebt, liegt die einführende konstitutionsanalytische Bestimmung der Anschauung dem Beweisgang selbst noch zu Grunde. Denn da Verbindung nicht durch die Sinne gegeben sein kann, kommt dem Verstand allein jene verbindende und begrifflich-konstituierende Funktion in Bezug auf jede mögliche Erfahrung zu. Als Gegenstück zur strukturierenden Tätigkeit des Verstandes wird also auch durch Kant – auf der Ebene transzendentaler Erklärung, nicht auf der faktischen Ebene – ein unstrukturiert Gegebenes angenommen. Die ursprüngliche Vereinzeltheit und Beziehungslosigkeit von Vorstellungen stellt so die Grundlage des Nachweises einer notwendigen Aufeinanderangewiesenheit von Anschauungen und Begriffen dar. 22 Hegel zufolge weiß die sinnliche Gewissheit immer um ein Einzelnes. Es ist das zitierte „sinnliche Diese“, das als Einzelnes dem Bewusstsein eines Allgemeinen unerreichbar und somit auch unaussprechlich ist. Dieses Dogma findet sich wieder in der französischen Hegel21 22
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B130. Vgl. die Kapitel III.2.2.3. und III.2.2.5.
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Rezeption des 20. Jahrhunderts. Es betrifft die sinnliche Gewissheit und Unaussprechlichkeit des Sinnlich-Einzelnen. So konzipieren zum Beispiel die ästhetischen Theorien Batailles oder Blanchots eine Aufwertung des Sinnlich-Einzelnen gegenüber dem Sprachlich-Allgemeinen. Tietz zufolge teilt die gesamte romantische Tradition und auch Nietzsche die aus dem Empirismus überkommene Auffassung, „dass die Sprache es nicht vermag, das wirklich Individuelle auszudrücken.“ Sprachliche Prädikate sind demnach „operative Schemata, die, auf die Mannigfaltigkeit der Gegenstände der Erfahrung angewendet, das Inkommensurable an ihnen abschneiden und sie nur noch als Exemplare eines Allgemeinen übrig lassen.“23 Doch was berechtigt uns zu der Annahme, dass einzelne Sinneserfahrungen erst durch die Sprache nach Gesichtspunkten der Gemeinsamkeit strukturiert werden? Stellt die Sprache tatsächlich eine der Sinnlichkeit gegenüber äußere Instanz dar, die aufgrund ihrer Allgemeinheit einen Verlust des ursprünglich-sinnlichen Gehaltes bedeutet? Damit komme ich zur Kritik dieser Festlegung der Wahrnehmungsgegenstände auf Einzelnes und zur Darstellung der darin liegenden Problematik. VI.3
Problemanalyse und Kritik der dogmatischen Festlegung Es stellt sich nun die Frage, in welcher Weise die Problematik der zwei Extrempositionen mit der Festlegung der Wahrnehmungsgegenstände auf Einzelnes zusammenhängt. Meine These lautet, dass sowohl die Annahme einer Kluft zwischen Wahrnehmungsgehalten und sprachlichen Gehalten als auch die nominalistische Extremposition eine Folge der
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Udo Tietz, Ontologie und Dialektik. Heidegger und Adorno über das Sein, das Nichtidentische, die Synthesis und die Kopula, S. 52. Tietz spricht diese These auch Heidegger zu. Eine solche Heidegger-Interpretation teile ich allerdings nicht, da Heidegger, wie ich im VII.1 zeige, den Vorstellungsatomismus empiristischer Wahrnehmungstheorien deutlich kritisiert. Der Hinblick auf Allgemeines liegt Heidegger zufolge nicht in der Verwendung sprachlicher Ausdrücke, sondern bereits in der Wahrnehmung selbst.
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK DER DOGMATISCHEN FESTLEGUNG
atomistischen Charakterisierung der Wahrnehmungsgegenstände darstellt. Solange der Wahrnehmung die Kategorie der Einzelheit zugeschrieben wird, stellt sich das Problem, wie dieses Sinnlich-Einzelne mit dem Sprachlich-Allgemeinen vermittelt ist. Die Synthesistheorie des Urteils stellt eine Lösungstrategie dar, indem sie die Bedeutung allgemeiner Begriffe durch den Bezug auf mentale Gegenstände, zum Beispiel als Allgemeinvorstellungen, erklärt. Wahrnehmungsgehalte werden atomistisch aufgefasst, insofern eine erkenntnisrelevante Verbindung von Ideen bzw. Vorstellungen nicht in der Wahrnehmung gegeben sein kann. Daher stellt die Vorstellung eines allgemeinen Merkmales, genauso wie die Verbindung von Vorstellungen in Urteilen, eine Leistung des Verstandes dar. Aufgrund dieser konstitutionsanalytischen Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand kann der ursprünglich-sinnliche Wahrnehmungsgehalt – wenn die Gegebenheit eines solchen Gehaltes zusätzlich noch angenommen wird – durch sprachliche Begriffe nicht vermittelt werden. Er kann sprachlich nicht ausgedrückt werden. Das Vermittlungsproblem kann aber auch entstehen, wenn die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch den Bezug auf einfache Ideen der Wahrnehmung scheitert, da sie in entscheidendem Maße als Abstraktionsleistung des Verstandes aufgefasst werden muss. Dieses Problem stellt sich für die naiv-empiristische Annahme, der Gehalt sprachlicher Ausdrücke ließe sich erklären durch den Bezug auf Erfahrungsgegenstände, welche unabhängig von sprachlicher Struktur gegeben sind. Die zusätzliche Annahme einer sprachunabhängigen Gegebenheit sinnlicher Gehalte wird ebenfalls durch die Kategorie der Einzelheit ausgedrückt, nämlich als sinnliche Mannigfaltigkeit, die gleichzeitig noch die Verworrenheit des sinnlichen Gehaltes impliziert. Damit tut sich eine Kluft zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten auf, deren Überwindung problematisch wird. Ebenso stellt die nominalistische Extremposition eine Reaktion auf das Vermittlungsproblem zwischen dem Sinnlich-Einzelnen und dem Sprachlich-Allgemeinen dar. Sie geht zwar von einer sprachlichen Vermitteltheit der Wahrnehmungsgehalte aus, versteht dieses Vermittlungs-
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verhältnis aber als einseitig bestimmt durch schon bestehende sprachliche Unterscheidungen. Diese extreme Deutung ist nicht allein motiviert durch die Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Sprache, das heißt durch die Einsicht, dass auch die Wahrnehmung von Gleichartigem und Verschiedenem nicht unabhängig vom Verfügen über allgemeine Begriffe aufgefasst werden kann. Sie entspringt gleichzeitig einem Residuum derselben atomistischen Wahrnehmungstheorie. Da auch die nominalistische Extremposition davon ausgeht, dass in der Wahrnehmung keine erkenntnistheoretisch relevanten Verbindungen gegeben sein können, gelangt sie zu der Schlussfolgerung, dass die Wahrnehmung von Gleichartigkeit, die der Anwendung sprachlicher Ausdrücke gleichwohl zugrunde gelegt werden muss, selbst eine sprachliche Fähigkeit darstellt. Die Einzelheit der erkenntnistheoretisch relevanten Wahrnehmungsgegenstände wird nun auch als logische Kategorie gedeutet, indem einzelne Gegenstände als Instanziierungen allgemeiner Eigenschaften wahrgenommen werden.24 Denn die Reflexion auf die Satzform zeigt, dass der Bezug auf Einzelnes logisch abhängig ist von der Struktur sprachlicher Allgemeinheit. Beide werden auf die Tätigkeit des Urteilens zurückgeführt: In singulären Urteilen wird Allgemeines von Einzelnem ausgesagt. Das Einzelne wird also als bestimmt durch allgemeine Eigenschaften erkannt. Doch entscheidend ist, dass der Wahrnehmung selbst eine erkenntnisrelevante Struktur abgesprochen wird, in dem Sinne, wie auch Kant annimmt, dass die Verbindung von Vorstellungen nicht durch die Wahrnehmung gegeben sein kann. Der Atomismus der Wahrnehmungsgegenstände stellt also auch für die nominalistische Extremposition die Grundlage dar für die Annahme, dass die Fähigkeit, an verschiedenen Gegenständen Gleichartiges wahrzunehmen, sich durch die Struktur sprachlicher Allgemeinheit erklärt. Erst in einem zweiten Schritt wird auch die Einzelheit selbst so interpretiert, 24
Dies zeigt sich auch in der Kant-Interpretation durch Sellars und McDowell. Vgl. Kapitel III.2.2.4, S. 140ff. zur Sellars-McDowell-Lesart.
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dass der mögliche Bezug auf Einzelnes bereits eine sprachliche Funktion darstellt, in dem Sinne, dass Einzelnes als Gegenstand einer möglichen prädikativen Bestimmung erkannt wird.25 Gleichwohl wird die Einzelheit in erkenntnistheoretischem Sinne schon vorausgesetzt, wenn Wahrnehmung von Gleichartigem durch die Struktur sprachlicher Allgemeinheit erklärt und nicht als eigene Leistung der Wahrnehmung angesehen wird. Der Atomismus der Wahrnehmungsgegenstände führt also auch zur einseitigen Bestimmung des Vermittlungsverhältnisses zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Bei der gemeinsamen Voraussetzung beider Extrempositionen handelt es sich um die Projektion eines logischen Wechselverhältnisses auf ein kategoriales Wechselverhältnis. Diese Formulierung möchte ich näher erläutern: Bei der Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Sprache handelt es sich um ein kategoriales Wechselverhältnis deshalb, weil Wahrnehmung auch als unabhängig von sprachlichen Fähigkeiten verstanden werden kann und muss. Wie eng Wahrnehmungs- und sprachliche Fähigkeiten auch verschränkt sein mögen, ein Wesen bedarf nicht erst der Sprache, um sinnlich etwas unterscheiden zu können.26
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Den entscheidenden Unterschied zwischen diesen beiden Aussagen habe ich dargelegt anhand der Unterscheidung von Kants konstitutionsanalytischer Bestimmung der Anschauung (als einzelner) und seiner These, dass Anschauungen, in denen Gegenstände gegeben sind, notwendig begrifflich vermittelt sind. Vgl. die Kapitel III.2.2.3 und insbesondere III.2.2.4. Selbst wenn Wahrnehmung als begrifflich strukturiert aufgefasst wird, geht eine Wahrnehmung nicht notwendig mit einem Urteil einher. Gegenüber einer korrigierenden Überzeugung kann sie resistent sein, wie im Falle der Müller-Lyer-Täuschung. Im Gegenteil zu einer Überzeugung ist die sinnliche Wahrnehmung aufgrund widersprechender Einsichten nicht vollständig revidierbar, weil wir keine letzte Entscheidung darüber haben, was wir wahrnehmen. Und auch dort, wo ein Aspekt des Wahrnehmungsgehaltes zugleich der Gehalt eines Urteiles ist, erschöpft sich die Wahrnehmung nicht in dem für dieses Urteil relevanten propositionalen Gehalt. Häufig wird nach sprachlichen Ausdrücken noch gesucht oder gilt es, neue Eindrücke zu beurteilen. Diese Punkte, vielfach ausgeführt und von mir hier nur angedeutet, sprechen für eine kategoriale Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Wahrneh-
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Diese kategoriale Verschiedenheit ist aber nicht eine kategoriale Verschiedenheit zwischen dem Sinnlich-Einzelnen und dem SprachlichAllgemeinen. Das Wechselverhältnis zwischen Einzelnem und Allgemeinem ist im Gegensatz zu dem zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil logischer Natur. Einzelnes und Allgemeines können überhaupt nicht kategorial unterschieden werden, sondern sind funktional gleichursprünglich. Nur auf der Ebene des Urteils kann überhaupt zwischen Einzelnem und Allgemeinem unterschieden werden. Beide sind, wie die Reflexion auf die Form des Satzes zeigt, als sich ergänzende und korrelativ aufeinander bezogene Ausdrücke logische Phänomene, von denen keines sinnlicher und ursprünglicher ist als das andere.27 Die Aufstufung einer sinnlich-konkreten, von noch keinem Begriff beanspruchten Wahrnehmung und der auf sie zugreifenden begrifflichen Ordnung kann also nicht aufrechterhalten werden. Konkret kann nur ein Beispiel sein, das bereits unter dem Blickwinkel einer Allgemeinheit gesehen wird. Daraus wird deutlich, dass nicht zuerst beziehungslos nebeneinander stehende Einzelfälle oder ‚nackte‘ Beispiele gegeben sind, die in zweiter Instanz oder aber überhaupt erst durch Begriffe geordnet und eingeteilt werden. Das bedeutet aber auch, dass sich die erkenntnisrelevante Struktur der Wahrnehmung nicht allein als begriffliche Struktur erläutern lässt. Meine These lautet also, dass sich die Plausibilität und die Problematik beider Extrempositionen der Projizierung einer kategorialen Unterscheidung, derjenigen zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil, auf ein ursprünglich logisches Wechselverhältnis – zwischen Einzelnem und Allgemeinem – verdankt. Damit komme ich zum Lösungsvorschlag für diese Problemsituation.
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mungsurteil – unabhängig davon, ob Wahrnehmungen eine begriffliche Struktur zugeschrieben wird oder nicht. Vgl. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 203.
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK DER DOGMATISCHEN FESTLEGUNG
Es zeigt sich nun, dass die funktionale Erklärung, wenn sie die problematische Voraussetzung aufgibt, gar keine Alternative zur konzeptualistischen Erklärung anbieten muss. Die Frage lautete, was die Fähigkeit ausmacht, allgemeine Begriffe auf sinnliche Gegenstände anzuwenden. Der Konzeptualist verwies auf die Vorstellung eines allgemeinen Merkmales, als Erklärung für die Fähigkeit, etwas verschiedenen Gegenständen Gemeinsames wahrzunehmen. Für die funktionalistische Erklärung steht ein solcher mentaler Gegenstand nicht zur Verfügung. Sie kann allein auf die Fälle der Anwendung und die ihnen zugrunde liegende Fähigkeit, Gleichartiges wahrzunehmen, verweisen. Die nominalistische Extremposition erklärt diese Fähigkeit selbst als eine sprachliche Fähigkeit. Wird aber die problematische Voraussetzung aufgegeben, eröffnet sich eine andere Perspektive für die Erklärung der Fähigkeit zur Verwendung von Begriffen. Wenn die Wahrnehmung nicht Einzelnes, sondern stets schon Gleichartiges erfasst, stellt sich die Fähigkeit zur Anwendung von Begriffen auf sinnliche Gegenstände nicht mehr als ein Problem dar. Diese Fähigkeit muss nicht mehr erklärt werden. Zum einen würde es sich dabei lediglich um Kausalerklärungen handeln, die nichts mehr damit zu tun haben, wie wir normalerweise die Bedeutung von Begriffen erklären.28 Zum anderen erscheint die funktionale Erklärung weniger fragwürdig, wenn die Fähigkeit zur Wahrnehmung vom Gleichartigem, die eine funktionale Rolle innerhalb der Anwendung von Begriffen spielt, nicht als durch begriffliche Kriterien erst ermöglicht gedacht wird. Das damit verbundene Unbehagen lässt sich beseiti28
Tugendhat zufolge stellt das Beharren auf einer die funktionale Erklärung noch fundierenden Erklärung ein ungerechtfertigtes Beharren auf einer Kausalerklärung begrifflicher Fähigkeiten dar, auf einer „Erklärung-Warum“. Die Erklärung soll durch eine fragwürdige introspektive Gegebenheit gestützt werden. Diese Art kausaler Erklärung stellt aber, so Tugendhat, keine Erklärung mehr dar, die in den Rahmen einer Erklärung der Bedeutung von Begriffen gehört. Wir verwenden Begriffe in bestimmter Weise, und gefragt nach der Bedeutung dieser Begriffe, verweisen wir auf das Wie dieser Verwendung, nicht aber auf das, was diese Fähigkeit selbst noch begründet. Tugendhat, a. a. O., S. 206.
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PROBLEMANALYSE UND KRITIK
gen, indem die Fähigkeit zur Wahrnehmung vom Gleichartigem für das Vermittlungsverhältnis von sinnlichen und sprachlichen Gehalten bereits als grundlegend vorausgesetzt wird. Das heißt: Damit es überhaupt eine Vermittlung, somit auch ein Spracherlernen, geben kann, muss es bereits sinnliche Unterscheidungsfähigkeit bzw. Wahrnehmung von Ähnlichem geben. Sinnliche Unterscheidungen stellen nicht bloß Fortsetzungen prädikativer Unterscheidungen dar. Vielmehr handelt es sich um das strukturelle Ineinandergreifen von sinnlichen und sprachlichen Fähigkeiten. Die Vorstellung eines strukturellen Ineinandergreifens muss freilich präzisiert und gegen mögliche Missverständnisse abgegrenzt werden. Darum geht es in den Kapiteln VIII.1.4, VIII.2 und IX. VI.4
Fazit Solange der Wahrnehmung die Kategorie der Einzelheit zugeschrieben wird, stellt sich das Problem, wie dieses Sinnlich-Einzelne mit dem Sprachlich-Allgemeinen vermittelt ist. Die Synthesistheorie des Urteils stellt eine Antwortstrategie dar, indem sie die Allgemeinheit von Begriffen durch den Bezug auf mentale Gegenstände erklärt. Dies führt zur Annahme einer Kluft zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Auch die nominalistische Extremposition stellt eine Reaktion darauf dar, indem sie die Vermittlung selbst als Leistung sprachlicher Fähigkeiten erläutert. Das Problem besteht für beide darin, dass in der Wahrnehmung keine Entsprechung oder Anknüpfungsmöglichkeit zur Struktur sprachlicher Allgemeinheit angenommen werden kann, sondern diese ihr nur von außen auferlegt werden kann. Die Plausibilität und Problematik der Extrempositionen verdankt sich also, so meine These, der Projizierung einer kategorialen Unterscheidung, derjenigen zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil, auf ein ursprünglich logisches Wechselverhältnis – zwischen Einzelnem und Allgemeinem. Das Verhältnis zwischen Einzelnem und Allgemeinem besteht in einem logischen Wechselverhältnis, wie die Reflexion auf die Satzform des Urteils zeigt. Diese Einsicht ist Teil der nominalistischen Extremposition. Allerdings kann die Vermittlung zwischen sinnlicher Erfahrung
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FAZIT
und sprachlicher Allgemeinheit nicht allein als logisches Wechselverhältnis, das heißt nicht allein durch sprachliche Fähigkeiten erklärt werden. Die Vermittlung besteht nicht darin, dass wahrgenommene Unterscheidungen immer an sprachliche Unterscheidungen anknüpfen, um nur einen Aspekt zu nennen. Der Hintergrund für diese extremnominalistische Tendenz ist ebenfalls die genannte Projizierung: Die Projizierung einer kategorialen Unterscheidung auf ein logisches Wechselverhältnis. Was aufgegeben werden muss, ist die Annahme, dass die Wahrnehmung sich auf Einzelnes richtet. Die der Wahrnehmung zukommende Erkenntnisfunktion ist vielmehr, wie die Lösungsansätze der folgenden Kapitel VII und VIII zeigen, so zu verstehen, dass die Wahrnehmung selbst schon Ähnliches bzw. Allgemeines erfasst.
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VII HERMENEUTIK ALS VERMITTLUNGSPOSITION
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VII.1
Heideggers Kritik an der Ontologie der Vorhandenheit
VII.1.1
Vorbemerkung Martin Heidegger verändert die Sichtweise auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt des Erkennens, indem er es nicht erkenntnistheoretisch im Sinne eines methodisch abzusichernden Bezugs auf den Erkenntnisgegenstand betrachtet, sondern vielmehr die Einheit dieser Relation für ursprünglich und unvordenklich hält. Es geht ihm dabei nicht lediglich um Erkenntnisbedingungen, sondern um die existentiellen Bedingungen des Daseins als eines In-der-Welt-Seins, welches Gegenstände in dieser Welt erst begegnen lässt. Ebensowenig wie der metaphysische Bezug auf Nicht-Sichtbares kann die empiristische Auffassung eines reinen Gegebenen als letzte Begründung für Erkenntnis dienen. Ursprünglich ist die Erschlossenheit des Seienden für das Dasein, als praktische Bewandtnis dessen, was überhaupt in Erscheinung treten kann. Darin liegt Heideggers Kritik einer Ontologie der Vorhandenheit und sein Widerspruch gegen eine positivistische, isolationistische Datenbasis der Erfahrung. Ich beziehe mich im Folgenden hauptsächlich auf den frühen Heidegger, insbesondere auf Sein und Zeit.
VII.1.2
Die vorprädikative Erschlossenheit Das Verhältnis des Daseins zu den Dingen bezeichnet Heidegger als Besorgen, sein Verhältnis zu anderem Dasein als Fürsorge. Das heißt, dass die vorfindbaren Gegenstände zunächst in ihrer praktischen Bewandtnis für das Dasein erschlossen sind. Zuerst begegnet das Vorhandene in einem „Womit des Zutunhabens“1, das heißt in seiner Zuhandenheit für
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Martin Heidegger, Sein und Zeit (im Folgenden: SuZ), S. 158.
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HEIDEGGERS KRITIK AN DER ONTOLOGIE DER VORHANDENHEIT
das Dasein. In dieser Bedeutung ist es schon verstanden, wenn es als Vorhandenes theoretisch bestimmt wird. Die Zuhandenheit ist gegenüber der Bestimmung von etwas als ein unabhängig Gegebenes fundamental. Um dies verständlich zu machen, gilt es, Heideggers grundlegender Unterscheidung zwischen einem Verstehen als Gebrauchen und einem Verstehen als Bestimmen bzw. Prädizieren zu folgen.2 Heidegger bestimmt Verstehen als fundamentales Existential3 des Daseins. Es ist neben der Befindlichkeit eine der beiden „gleichursprünglichen konstitutiven Weisen des Daseins, das Da zu sein“4. Es stellt, mit Gadamers Worten, „die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins“ dar.5 Worauf richtet sich aber dieses ursprüngliche oder hermeneutische Verstehen? Das Dasein als In-der-Welt-Sein ist erschlossen im Worumwillen seiner Existenz. Dasjenige, worum es ihm geht, ist sein Sein selbst. Es geht dem Dasein darum, sein „Da“ zu sein; es geht ihm um die Erschlossenheit seines eigenen Seins.6 „Dasein ist je das, was es sein kann und wie es seine Möglichkeit ist.“ 7 Das ursprüngliche Verstehen richtet sich also auf die Möglichkeiten des Daseins selbst. Verstehen wird von Heidegger mit erschließendem Seinkönnen, mit einem Sich-Entwerfen auf Handlungsmöglichkeiten identifiziert. Es handelt sich daher um einen praktischen Verstehensbegriff. Das heißt zwar nicht, dass Verstehen mit einem zu-benutzen-Wissen gleichgesetzt wird, denn auch die Ziele praktischer Verwendung und der Zusammenhang dieser Ziele müssen verstanden sein. Dies drückt der Begriff der Bewandtnisganzheit aus, der 2
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Vgl. Alfred Hübner, Existenz und Sprache. Überlegungen zur hermeneutischen Sprachauffassung von Martin Heidegger und Hans Lipps, S. 56. Hübner erläutert die beiden Verstehensbegriffe anhand der Heideggerschen Unterscheidung zwischen dem hermeneutischen und dem apophantischen Als. „Existential“ ist eine kategoriale Bestimmung des Daseins und markiert die Differenz zur Bestimmung von bloß Vorhandenem. SuZ, S. 133. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. (im Folgenden: WuM), S. 264. SuZ, S. 133. SuZ, S. 143.
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DIE VORPRÄDIKATIVE ERSCHLOSSENHEIT
die verschiedenen Möglichkeiten des Sich-Entwerfens an das Selbstverstehen des Daseins zurückbindet. Die Bewandtnisganzheit geht auf ein letztes Wozu zurück: das Worumwillen eines Daseins, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.8 Innherhalb des in der Bewandtnisganzheit sich ausdrückenden Zusammenhangs von Handlungsmöglichkeiten sind die Gegenstände des alltäglichen Umgangs und unreflektierten Gebrauchs in ihrem jeweiligen Um-zu erschlossen. Wir verstehen, was eine Tür ist, weil wir sie zum Verschließen und Öffnen eines Raumes zu benutzen wissen. „Das Zuhandene ist als solches entdeckt in seiner Dienlichkeit, Verwendbarkeit, Abträglichkeit. Die Bewandtnisganzheit enthüllt sich als das kategoriale Ganze einer Möglichkeit des Zusammenhangs von Zuhandenem.“9
Was hier geschildert wird, ist kein Erfassen eines reinen Gegebenen, sondern die Dinge werden unter dem Aspekt ihrer Zuhandenheit, also schon als etwas verstanden. Heidegger nennt diese Erschlossenheit das „existential-hermeneutische ‚Als‘“10, das zugrunde liegende Verstehen „existential-hermeneutisches“ Verstehen. Die Rede von einer vorgängigen Erschlossenheit drückt die Fundamentalität der Zuhandenheit von begegnendem Seienden gegenüber der bloßen Vorhandenheit aus. Bevor die Dinge distanzierend in ihrer Vorhandenheit betrachtet werden können, sind sie bereits im „zuhandenen Womit des Zutunhabens“ vertraut. Erst in der Auslegung wird das Um-zu des Umgangs zu einem „Worüber der aufzeigenden Aussage“.11 Ursprünglicher als das theoretische ist das praktische Sehen-Als.
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11
SuZ, S. 84. SuZ, S. 144. „Das ursprüngliche ‚Als‘ der umsichtig verstehenden Auslegung (ερμηνεία) nennen wir das existenzial-hermeneutische ‚Als‘ im Unterschied vom apophantischen ‚Als‘ der Aussage.“ SuZ, S. 158. „Das zuhandene Womit des Zutunhabens, der Verrichtung, wird zum ‚Worüber‘ der aufzeigenden Aussage.“ SuZ, S. 158.
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HEIDEGGERS KRITIK AN DER ONTOLOGIE DER VORHANDENHEIT
In der Auslegung werden die Verweisungsbezüge von begegnendem Seienden offengelegt. Als was dieses Seiende verstanden wird, erschließt sich aus der Bewandtnisganzheit, das heißt aus dem Gesamtzusammenhang möglicher Bezüge, auf die hin das Dasein sich entwerfen kann. Die vorprädikative Erschlossenheit stellt also die Grundlage für das auslegende Verstehen und für eine mögliche prädikative Bestimmung dar: „Heidegger unterscheidet zwischen einem fundamentalen und vorgängigen Verstehen im Sinne des Sichentwerfens auf Möglichkeiten und einer nachfolgenden ausdrücklichen Aneignung des zuvor schon Verstandenen. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Verstehen und Auslegung kann differenziert werden zwischen einem verstehenden, in der Seinsverfassung des Daseins fundierten In-der-Welt-sein, das einen zwar erschlossenen, aber unthematischen Hintergrund bildet, und einem spezifischen intentionalen Verhalten zum innerweltlich Seienden, in dem dieses entweder in seiner Zuhandenheit ausgelegt oder als Vorhandenes thematisch wird.“12
In der Auslegung wird also ein zuvor schon Verstandenes ausdrücklich; es wird zum eigentlichen Gegenstand verstehender Auslegung. Das existential-hermeneutische Als konstituiert die Auslegung; „es wird also nicht im Vollzug ihrer Auslegung ein zuvor als-frei verstandenes Seiendes mit einer Deutung belegt“.13 Die Auslegung befindet sich noch im praktischen Kontext des Bewandtniszusammenhangs, beispielsweise wenn ein Gegenstand in seiner Undienlichkeit oder Abwesenheit auffällig geworden ist. Die ausdrückliche Auslegung ist noch nicht angewiesen auf Sprache. Erst in der Aussage wird das in der Auslegung thematisch Gemachte sprachlich ausdrücklich. Die Zuhandenheit des Seienden innerhalb einer Bewandtnisganzheit gerät zugunsten der prädikativen Bestimmung aus dem Blick. Dabei wird das existential-hermeneutische Als in die Ebene des nur Vorhandenen zurückgedrängt.14 12 13 14
Hübner, a. a. O., S. 51f. Ebd., S. 53. Vgl. SuZ, S. 158.
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FORMEN DER WAHRNEHMUNG
Sprachliche Ausdrücke erfüllen also die Funktion, das in der Auslegung ausdrücklich Gewordene zu repräsentieren. Das hermeneutische Verstehen ist ein vorprädikatives. „Prädikation“ identifiziert Heidegger mit der Aussage bzw. mit dem Urteil. Mit der vorprädikativen Erschlossenheit ist weniger die prinzipielle Nichtsprachlichkeit solchen Verstehens gemeint als vielmehr seine Nichtausdrücklichkeit. Dass das schon als etwas Verstandene noch nicht ausgedrückt ist, bedeutet nicht, dass es nicht ausdrückbar wäre. Heidegger behauptet den Vorrang des hermeneutischen Als vor dem apophantischen Als der Aussage. Mit der Fundamentalität des hermeneutischen Verstehens wendet er sich gegen die klassische Vorrangstellung des Aussagesatzes bei der Erklärung dessen, was sprachliche Bedeutung ausmacht. Das hermeutische Als lässt sich nicht aus der Form des Aussagesatzes ableiten. Konstitutiv für die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist nicht das Urteil bzw. der Aussagesatz, sondern umgekehrt bezieht sich jede prädikative Bestimmung auf ein vorgängig Verstandenes. Dieses Verhältnis der Aussage zum schon Erschlossenen wird insbesondere durch den Begriff des Aufzeigens deutlich gemacht: „Die Aussage … bedarf einer Vorhabe von überhaupt Erschlossenem, das sie in der Weise des Bestimmens aufzeigt.“15 Die Aussage selbst liegt innerhalb des Horizontes der Erschlossenheit und kann nur aufzeigen, was darin schon umsichtig entdeckt ist.16 VII.1.3
Formen der Wahrnehmung Auch in der Wahrnehmung sind die wahrgenommenen Gegenstände bereits in dem Womit ihres Zutunhabens erschlossen. Heidegger interpretiert den Akt schlichter Wahrnehmung schon als einen Verstehensakt. Daher lässt sich die Abstufung des Verstehens auch auf die Wahr-
15 16
SuZ, S. 157. Vgl. SuZ, S. 156.
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HEIDEGGERS KRITIK AN DER ONTOLOGIE DER VORHANDENHEIT
nehmung übertragen.17 Innerhalb der Wahrnehmung lassen sich drei entsprechende Stufen unterscheiden. Die erste Stufe stellt die in alltäglichen Handlungszusammenhängen orientierende Wahrnehmung dar. Diese ist bereits eine erfassende, insofern sie Gegenstände, wie das praktische Verstehen, in ihrer Zuhandenheit, das heißt schon als etwas, erfasst. Das Erfassen ist hier allerdings ein „unterschwelliges“.18 Das heißt nicht, dass es unbewusst sein muss. So ist es möglich, etwas bewusst und gleichwohl unterschwellig wahrzunehmen. Beispielsweise greife ich bewusst nach einer Tür, um sie zu öffnen, da es geklopft hat. Ebenso wie das Verstehen als Gebrauchen ist auch das unterschwellige Wahrnehmen ein alltäglich und störfrei ablaufendes. Die unterschwellig erfassende Wahrnehmung erfüllt eine Orientierungsfunktion.19 Auf dieser Stufe der Wahrnehmung wird das Zuhandene zwar wahrgenommen, zugleich aber auch übersehen, insofern es nicht ausdrücklich wahrgenommen wird. Ich erfasse zum Beispiel die Tür als Tür, nehme sie (als ein zu Öffnendes) wahr, allerdings nicht ausdrücklich, da ich bei ihr nicht verweile bzw. meinen Fokus nicht auf sie richte. Ich fälle auch kein Wahrnehmungsurteil der Art: „Dies ist eine Tür.“ Auf einer sich davon abhebenden Stufe ist die Wahrnehmung eine ausdrücklich erfassende. Diese Stufe entspricht der Auslegung des Verstandenen. Typischerweise kommt solche Wahrnehmung bei Irritationen oder Störungen, zum Beispiel durch die Fremdartigkeit eines Ge-
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Vgl. Hübner, a. a. O., S. 208ff. Heidegger selbst nimmt eine solche ausdrückliche Übertragung nicht vor. Ich entferne mich von Hübner, indem ich nicht ein „Wahrnehmen-Können“ als erste Stufe darstelle, sondern statt dessen zwischen erfassender und prädikativer Wahrnehmung, parallel zur Abstufung des Verstehens, die ausdrückliche, aber noch nicht prädikative Wahrnehmung stelle. Vgl. Hübner, a. a. O., S. 208ff. Dem Heideggerschen Begriff der „Unausdrücklichkeit“ stellt Hübner erläuternd den der „Unterschwelligkeit“ zur Seite. Er weist darauf hin, dass die Unterscheidung von ausdrücklich/unterschwellig nicht mit derjenigen zwischen bewusst/unbewusst zu verwechseln ist. Vgl. auch S. 48, Fußnote 98. Ebd., S. 213.
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genstandes ins Spiel.20 Was vorher nur unterschwellig erfasst wurde und eher der Orientierung in einer Umwelt diente, wird auf dieser Stufe zum Gegenstand der Betrachtung. Das kann zum Beispiel ein Ansehen, Anfühlen oder ein Hinhören sein. Aufgrund einer Störung wird die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand gerichtet bzw. hält sich bei ihm auf, um seine Eigenschaften zu erfassen, ihn einzuordnen oder ihn schlicht im Blick zu behalten. In die ausdrückliche Wahrnehmung spielt ein reflexives Moment hinein. Die Umgebung tritt dabei in den Hintergrund. Doch auch diese Heraushebung eines einzelnen Gegenstandes und das Erkennen dieses Gegenstandes als etwas ist geleitet von einer praktischen Bewandtnis. Ob als bedrohlich oder begehrenswert – dass er überhaupt auffällig geworden ist, lässt sich nur aus dem Bewandtniszusammenhang heraus erklären, der das Woraufhin des Entwurfs des Daseins ausmacht. Erst auf der dritten Stufe ist die Ausdrücklichkeit der Wahrnehmung eine sprachliche. Der Gehalt dieser Wahrnehmung entspricht dem prädikativen Gehalt eines Urteils; ich nenne sie daher prädikative Wahrnehmung. Damit soll der tatsächliche Ausdruck in einem Urteil und das Wahrnehmen eines prädikativen Gehaltes, der in einem Urteil ausgedrückt werden könnte, zusammengefasst werden. Diese Wahrnehmung ist wie die der zweiten Stufe ausdrücklich, aber nicht notwendig im Sinne des verlautbarten Urteils. Die prädikative Form dieser Wahrnehmung entspricht dem Verstehen als Bestimmen oder Prädizieren. Insofern ist sie von der ausdrücklichen Wahrnehmung unterschieden. Auch die prädikative Wahrnehmung reagiert auf besondere Umstände, also auch auf eine Irritation der störfrei ablaufenden orientierenden Wahrnehmung. Eine Frage, wie zum Beispiel: „Was ist das?“, kann die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand lenken und mit einem Wahrnehmungsurteil beantwortet werden: „Das ist ist ein Eukalyptusbaum.“ Oder: „Ich sehe, dass er da ist.“ 20
Ein solcher Gegenstand kann auch eine Situation, ein Prozess oder ein Vorkommnis sein.
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Die unterschwellig erfassende Wahrnehmung entspricht dem existential-hermeneutischen Verstehen, die ausdrückliche Wahrnehmung der Auslegung, und die prädikative Wahrnehmung dem an die Form der Aussage geknüpften Verstehen. Das existential-hermeneutische Verstehen enthält bereits Momente der Auslegung, und auch das schlichte vorprädikative Sehen ist bereits ein verstehend-auslegendes.21 Ebenso wie in der Auslegung ein schon Verstandenes explizit gemacht wird, hebt die ausdrückliche Wahrnehmung ein bereits unterschwellig Erkanntes vor einem (gleichwohl wahrgenommenen) Hintergrund hervor. Die Aussage, mit ihr auch das Wahrnehmungsurteil, wird von Heidegger als „abkünftiger Modus“ bzw. als „abgeleitete Vollzugsform der Auslegung“22 aufgefasst. Das durch die Aussage Offengelegte ist ein schon Verstandenes und Ausgelegtes, das sich von der vorprädikativen Erschlossenheit allein durch die sprachliche Form unterscheidet. Der sprachliche Ausdruck ist also gegenüber dem vorprädikativ Erschlossenen derivativ. Nicht jede Wahrnehmung, auch nicht jede prädikative Wahrnehmung wird durch ein Wahrnehmungsurteil ausgedrückt: Wir urteilen nicht immer, wenn wir wahrnehmen. Wenn aber die prädikative Form nach Heidegger eine erst in letzter Instanz hinzukommende und zugleich derivative Ausdrucksform darstellt, ist der Gehalt prädikativer Wahrnehmung maßgeblich durch den Gehalt orientierender und ausdrücklicher Wahrnehmung bestimmt. Das bedeutet, dass die Kategorisierungen, die die Wahrnehmung von etwas als etwas bestimmen, ursprünglich auf den pragmatischen Kontext orientierender Wahrnehmung und nicht auf sprachliche Kategorien zurückzuführen sind. Da schon die schlichte Wahrnehmung eine verstehend-auslegende ist, kann die Bestimmung von etwas als etwas, das heißt die Als-Struktur, nicht in der prädikativen Form möglicher Urteile, sondern im existential-herme-
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Vgl. SuZ, S. 149. SuZ, S. 153f.
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neutischen Verstehen ihren Ursprung finden. Das hermeneutische Als ist gegenüber dem apophantischen Als fundamental. Das in der unterschwelligen Wahrnehmung bereits als etwas Erfasste eröffnet die Möglichkeit prädikativer Bestimmung. Dass die Gegenstände der Wahrnehmung vorprädikativ erschlossen sind, besagt, dass sie nicht erst durch den sprachlichen Zugriff erschlossen werden. Die Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung sind nicht, wie bei Aristoteles, von einer Undifferenziertheit und Verworrenheit, der durch die Sprache erst geordnet würde.23 Die vorprädikative Erschlossenheit besitzt Heidegger zufolge schon die Deutlichkeit der artikulierenden Auslegung. Sie bildet zwar einen „unthematischen Hintergrund“24 für die prädikative Bestimmung; gleichwohl aber kann sie den Vorgriff der Auslegung bestimmen. Die Bestimmung findet nicht erst auf der sprachlichen Ebene statt. Begriffliche Allgemeinheit wird nicht erst in Urteilen konstituiert (wie die prädikative Allgemeinheit), sondern wird bereits auf der Ebene des existentiellen Verstehens verortet. Die Auslegung kann auf eine Begrifflichkeit zurückgreifen, die ursprünglicher ist als die prädikative, das heißt durch diese nicht schon vorweggenommen ist. Das vorprädikativ Erschlossene ist dann in seiner eigenen Begrifflichkeit erfasst. „Die Auslegung kann die dem auszulegenden Seienden zugehörige Begrifflichkeit aus diesem selbst schöpfen oder aber in Begriffe zwängen, denen sich das Seiende gemäß seiner Seinsart widersetzt. Wie immer – die Auslegung hat sich je schon endgültig oder vorbehaltlich für eine bestimmte Begrifflichkeit entschieden; sie gründet in einem Vorgriff.“25
Aufgrund der Eigenbedeutsamkeit des vorprädikativ Erschlossenen ist es auch möglich, dass sprachliche Begrifflichkeit die dem Seienden eigene und durch den Vorgriff aufgenommene Begrifflichkeit übergeht. Das 23 24 25
Vgl. Hübner, a. a. O., S. 56. Ebd., S. 51. SuZ, S. 150. Es ist hier zu beachten, dass der Vorgriff selbst bereits eine Entfremdung des vorprädikativ Erschlossenen darstellen kann. Entscheidend ist jedoch, dass er, wie das Zitat besagt, aus der „dem auszulegenden Seienden zugehörigen Begrifflichkeit“ zu schöpfen vermag.
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Entfremdungspotential der Sprache stammt aber nicht aus der Allgemeinheit ihrer Begriffe, die die Einzelheit der Erfahrungsgegenstände unter einen Begriff zwängt. Denn Allgemeinheit im Sinne vertrauter Zuhandenheit besitzt auch schon das in seiner Zuhandenheit Aufgefasste. Es ist vielmehr die der Sprache eigene Konventionalität, die den Vorgriff der Auslegung verbergen kann: „Der im Aussagen immer auch mitliegende Vorgriff bleibt meist unauffällig, weil die Sprache je schon eine ausgebildete Begrifflichkeit in sich birgt.“26
Die Frage, ob Heidegger der Sprache einen instrumentalistischen und damit auch einen die vorprädikativ erschlossenen Gehalte entfremdenden Charakter zuschreibt, wird im Kapitel VII.1.5 ausführlicher diskutiert. Im darauf folgenden Kapitel geht es um die Tatsache, dass Heidegger Einzelheit und Allgemeinheit nicht auf die Unterscheidung zwischen sinnlicher Erfahrung und sprachlichem Ausdruck projiziert und eine mögliche Kluft zwischen Letzteren sich also nicht aus einer solchen problematischen Projektion heraus erklärt. Hier geht es mir zunächst nur um die in der gemeinsamen Begrifflichkeit liegende strukturelle Gemeinsamkeit der verschiedenen Verstehens- und Wahrnehmungsformen. Ich möchte die Unterscheidung der Wahrnehmungsformen anhand eines Beispiels verdeutlichen: Eine Person, A., öffnet einen Schrank, um einen bestimmten Gegenstand herauszunehmen. Dabei fällt ihr ein Ding ins Auge, das dort nicht hingehört. Würde man A. später befragen, was sie noch in dem Schrank gesehen hat, könnte sie sich vielleicht an andere Gegenstände erinnern und diese einzeln benennen. Ansonsten aber stellt das Schrankinnere nichts als den gewohnten Anblick für A. dar. Inmitten dieses notwendig wahrgenommenen vertrauten Anblicks ist ein Gegenstand aufgefallen, der fremdartig erschien. Erst
26
SuZ, S. 157.
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bei näherer Betrachtung kann A. diesen Gegenstand erkennen, beispielsweise als eine Klarinette. Anhand dieses Beispiels lassen sich die die orientierend-erfassende, die ausdrückliche und die prädikative Wahrnehmung gut unterscheiden. Wenn A. etwas aus dem Schrank holen will, nimmt sie alle anderen Geräte lediglich unterschwellig wahr, um auf schnellstem Wege das von ihr Gesuchte erfassen und herausnehmen zu können. Diese erfassende Wahrnehmung stellt eine grundlegende Bedingung dafür dar, dass überhaupt etwas Gesuchtes vor einem Hintergrund sich abheben kann. Sie ist aber auch eine Voraussetzung dafür, dass Fremdartiges von Vertrautem sich abheben kann. Auch als ihr ein fremdartiges Ding auffällt, nimmt A. die anderen Dinge noch unterschwellig wahr. Die vertraute Umgebung wird also wahrgenommen und zugleich übersehen. Die ausdrückliche Wahrnehmung kommt typischerweise durch Irritationen ins Spiel. So lenkt die Fremdartigkeit des Gegenstandes A.’s Aufmerksamkeit auf ihn. Sie hält sich bei ihm auf. Möglicherweise werden jetzt auch die anderen Dinge im Schrank genauer angeschaut. Letztlich identifiziert A. den neuen Gegenstand und fällt ein Urteil über ihn: „Das ist eine Klarinette.“ Der Gehalt der ausdrücklichen Wahrnehmung kann in Form eines propositionalen, das heißt behauptbaren Gehaltes ausgedrückt werden: „Ich sehe, dass da eine Klarinette ist.“ Es handelt sich also auf der dritten Stufe (auch wenn dabei kein Urteil ausgesprochen wird) um eine prädikative Bestimmung der wahrgenommenen Gegenstände.27 Hier könnte geltend gemacht werden, dass eine gemeinsame und insofern fundamentale Voraussetzung für die anderen Formen von Wahrnehmung die Wahrnehmbarkeit bestimmter physikalischer Eigenschaf27
Gegenstand kann wie bereits bemerkt auch in einem weiteren Sinn verstanden werden und nicht nur für die von Heidegger bevorzugten handhabbaren Gegenstände, sondern auch für ein Erlebnis, eine Situation oder einen Prozess stehen. Es geht hier zwar um sinnlich wahrnehmbare Gegenstände, doch das können z.B. auch ein Klanggebilde, vorbeiziehende Wildgänse oder räumliche Beengung sein.
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ten ist.28 A. muss Umriss und Oberflächeneigenschaften der Klarinette und womöglich auch ihren Klang wahrgenommen haben, damit sie von ihr zunächst als fremdartiger Gegenstand und später als Klarinette erfasst werden konnte. Mit der fundamentalen Voraussetzung ist die sinnliche Wahrnehmbarkeit physikalischer Eigenschaften von etwas gemeint. Man könnte also fragen, ob zum Beispiel das bloße Aufblitzen von etwas oder das Vernehmen eines Umrisses oder Geräusches nicht grundlegender als das Erfassen von Gegenständlichem ist. Dieser Einwand läuft darauf hinaus, dass fundamental für beide Arten der Wahrnehmung die Wahrnehmbarkeit, das heißt das bloße Empfinden elementarer sinnlicher Eigenschaften ist. Es lässt sich zwar nicht leugnen, dass die Wahrnehmbarkeit sinnlicher Eigenschaften eine notwendige Bedingung für jede Art von Gegenstandswahrnehmung ist. Gleichwohl muss das angebliche Fundierungsverhältnis dabei genauer betrachtet werden. Während die unterschwellig erfassende und die auf ihr beruhende ausdrückliche Wahrnehmung von gemeinsamen Gegenständen handeln, insofern diese Gegenstände schon in der unterschwellig-erfassenden Wahrnehmung als zuhandene erschlossen sind, werden die demgegenüber elementaren wahrnehmbaren Eigenschaften nur in der ausdrücklichen Wahrnehmung, beispielsweise zur Identifizierung eines fremdartigen Gegenstandes, überhaupt gegenständlich. So könnte A. dann beispielsweise feststellen, dass es sich um ein bestimmtes Metall oder um eine Legierung handelt. Welche Eigenschaften zum Gegenstand werden, wird von der Fragestellung bestimmt, die die ausdrückliche Wahrnehmung oder die prädikative Bestimmung des Wahrgenommenen leitet. Dieser Fragehintergrund weist wiederum auf die vorprädikative Erschlossenheit des Gegenstandes zurück, mit dem der Wahrnehmende es zu tun hat. Welche Eigenschaften für das erfassende Wahrnehmen von etwas als etwas relevant sind, ist allein aus diesem Zusammenhang praktischer Zuhandenheit 28
Hübner nennt diese Form: „Sehen-Können“ und diskutiert sie als erste von drei möglichen Formen der Wahrnehmung. A. a. O., S. 208ff.
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abgeleitet. Es werden also nicht zunächst bloße Eigenschaften wahrgenommen und der Wahrnehmungsgegenstand nachträglich aus diesen Sinnesdaten zusammengesetzt. Vielmehr ist das Seiende ursprünglich aus einem Bewandtniszusammenhang heraus verstanden und insofern immer schon als ein gegenständliches begriffen. Es zeigt sich also, dass das Konstitutionsverhältnis ein umgekehrtes ist. Dass überhaupt etwas wahrgenommen werden kann, ist zwar eine notwendige Bedingung für die erfassende Wahrnehmung, ist aber keine zureichende Bedingung dafür, als was etwas wahrgenommen wird. Insofern hat es keine konstitutive Funktion. Es handelt sich mit der bloßen Erfülltheit dieser Bedingung überhaupt noch nicht um Wahrnehmung, sondern eher um bloße sensorische Rezeptivität.29 VII.1.4
Reine Wahrnehmung Die Auffassung bloßer sinnlicher Rezeptivität wird häufig mit dem Begriff einer ‚reinen Wahrnehmung‘ oder bloßen Anschauung bezeichnet.30 Damit ist nicht allein der Inhalt, sondern auch der Akt eines Vernehmens sinnlicher Eigenschaften gemeint, in dem das Gegenständliche in den Hintergrund tritt, der also kein Verstehensakt ist. In dieser reinen sinnlichen Gegenwärtigkeit wird noch nicht etwas als etwas, sondern vielmehr ein Ensemble sinnlicher Eigenschaften erfasst, ohne
29
30
Vgl. Hübner, a. a. O., S. 208: „Als Sehen-können wird hier eine Fähigkeit bezeichnet, die als solche noch kein Wahrnehmen ist, wenn Wahrnehmung immer die Wahrnehmung von etwas ist.“ In dieser Allgemeinheit verwendet, könnte der Begriff einer reinen Wahrnehmung oder Anschauuung in einen Widerspruch zu seiner Verwendung durch Kant geraten: Bei Kant sind reine Anschauungen zunächst nur Formen der Anschauung, das heißt Raum und Zeit. Doch auch Kant spricht von der Gegebenheit von Mannigfaltigem in der reinen Anschauung: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A78f., B104. Mit „reiner Wahrnehmung“ meine ich also jenen Begriff, den Heidegger als „als-freies-Erfassen“ oder auch als „pure Wahrnehmung“ bezeichnet. Ein solcher Begriff findet sich auch bei Husserl, der „schlichte Wahrnehmungsakte“ von „sachverhaltsbildenden Akten“ unterscheidet. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, II/2, §§ 40–58.
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jede Differenzierung. Auch hier stellt sich die Frage, ob solche Anschauung nicht die ursprüngliche und fundamentale Form von Wahrnehmung ist, aus der die anderen abzuleiten wären. Die reine Anschauung als primär und unabhängig von der verstehenden Auslegung zu betrachten, hieße Heidegger zufolge, in eine Ontologie der Vorhandenheit zurückzufallen. Heidegger macht deutlich, dass das reine Vernehmen eines sinnlich Gegebenen gerade nicht fundamental ist, sondern vielmehr eine abgeleitete Form des verstehenden Sehens darstellt. „Dadurch, daß gezeigt wird, wie alle Sicht primär im Verstehen gründet – die Umsicht des Besorgens ist das Verstehen als Verständigkeit –, ist dem puren Anschauen sein Vorrang genommen, der noëtisch dem traditionellen ontologischen Vorrang des Vorhandenen entspricht. ‚Anschauung‘ und ‚Denken‘ sind beide schon entfernte Derivate des Verstehens.“31
Heidegger argumentiert, dass der bloße Befund einer Abwesenheit ausdrücklicher (Wahrnehmungs-) Urteile nicht schon ein Indiz für reine und unstrukturierte Wahrnehmung darstellt. Dies lässt sich anhand des Verhältnisses der beiden Arten von Verstehen plausibel machen, demgemäß das erschließende Verstehen von etwas in seiner Zuhandenheit fundamental gegenüber dem Verstehen als Bestimmen bzw. Prädizieren von etwas in seiner Vorhandenheit ist.32 Da vor der prädikativen Bestimmung von etwas bereits sein tragendes Verständnis als etwas (als Zuhandenes) liegt, besagt die Abwesenheit ausdrücklicher bzw. prädikativer Form noch nicht, dass es sich um als-freies Erfassen handelt. „Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend. Aber macht nicht das Fehlen dieses ‚Als‘ die Schlichtheit eines puren Wahrnehmens von etwas aus? Das Sehen dieser Sicht ist je schon verstehend-auslegend. Es birgt in sich die Ausdrücklichkeit der Verweisungsbezüge (des Um-zu), die zur Bewandtnisganzheit gehören, aus der her das schlicht Begegnende verstanden ist. … Daß im schlichten Hinsehen die Ausdrücklichkeit eines Aussagens fehlen kann, 31 32
SuZ, S. 147. Vgl. SuZ, S. 158.
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berechtigt nicht dazu, diesem schlichten Sehen jede artikulierende Auslegung, mithin die Als-Struktur abzusprechen. Das schlichte Sehen der nächsten Dinge im Zutunhaben mit … trägt die Auslegungsstruktur so ursprünglich in sich, daß gerade ein gleichsam als-freies Erfassen von etwas einer gewissen Umstellung bedarf. Das Nur-noch-vor-sich-Haben von etwas liegt vor im reinen Anstarren als Nicht-mehr-verstehen. Dieses alsfreie Erfassen ist eine Privation des schlicht verstehenden Sehens, nicht ursprünglicher als dieses, sondern abgeleitet aus ihm.“33 „Dieses als-freie Erfassen zum Beispiel einer reinen Empfindung ist nur reduktiv von als-haftem Erfahren her vollziehbar und ist so wenig etwas Elementares, daß diese Erfassungsweise als eine künstlich präparierte bezeichnet werden muß, und was das Wichtigste ist, in sich selbst nur möglich ist als Privation des Als-haften – im Absehen davon und nur darin; womit zugestanden ist, daß das als-hafte Erfahren, wovon jeweils allererst abgesehen werden muß, das Primäre ist.“34
Das Vernehmen ist nicht ursprünglicher als das Verstehen, das auf das Vernommene „angewendet“ werden könnte. Vielmehr ist das Verstehen ursprünglich, und das Nicht-mehr-Verstehen wird zum bloßen Vernehmen. Damit fügt Heidegger ein logisch-semantisches Argument hinzu, das auch Gadamer anbringt: Der Bezug auf Nicht-Bedeutungshaftes setzt das Verständnis von Bedeutungshaftem immer schon voraus. Wenn dem Wahrnehmenden unterstellt wird, er nehme etwas als Nicht-Bedeutungshaftes wahr, wird ihm zugleich unterstellt, dass er normalerweise die Dinge als etwas wahrnimmt. Andernfalls könnte sich das Alsfreie Erfassen nicht abheben und als als-freies Erfassen gar nicht erst ins Blickfeld kommen. „Sogar dort, wo das Sprechen undeutlich oder gar die Sprache fremd ist, hören wir zunächst unverständliche Worte und nicht eine Mannigfaltigkeit von Tondaten.“35
33 34 35
SuZ, S. 149. Vgl. auch S. 164: „Das Nur-herum-hören ist eine Privation des hörenden Verstehens.“ Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, S. 145. SuZ, S. 164.
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HEIDEGGERS KRITIK AN DER ONTOLOGIE DER VORHANDENHEIT
Heideggers Argumentation ist aber in ihrem Kern phänomenologischer Art: „‚Zunächst‘ hören wir nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad. Man hört die Kolonne auf dem Marsch, den Nordwind, den klopfenden Specht, das knisternde Feuer. Es bedarf schon einer sehr künstlichen und komplizierten Einstellung, um ein ‚reines‘ Geräusch zu ‚hören‘. Daß wir aber zunächst Motorräder und Wagen hören, ist der phänomenale Beleg dafür, daß das Dasein als In-der-Welt-sein je schon beim innerweltlich Zuhandenen sich aufhält und zunächst gar nicht bei ‚Empfindungen‘, deren Gewühl zuerst geformt werden müsste, um das Sprungbrett abzugeben, von dem das Subjekt abspringt, um schließlich zu einer ‚Welt‘ zu gelangen. Das Dasein ist als wesenhaft verstehendes zunächst beim Verstandenen.“36
Unter dem kantischen Etikett eines „Gewühls von Empfindungen“ kritisiert Heidegger jede empiristische Auffassung eines unberührten Gegebenen, dessen Strukturierung durch ein Begriffsschema eine sekundäre Instanz darstellt. Es ist nicht der „rohe Stoff sinnlicher Eindrücke“, dem die begriffliche Ordnung ihren Stempel aufdrückt.37 VII.1.5
Instrumentalistisches oder konstitutives Sprachverständnis Heideggers Gegenstände werden nach Heidegger primär in ihrer Zuhandenheit erfahren und wahrgenommen. Das diese Gegenstände in ihrer Vorhandenheit aufzeigende Urteil ist demgegenüber derivativ. Da sinnliche Gehalte bereits die Struktur des hermeneutischen Als besitzen, kann in Urteilen sinnlich Erfahrenes überhaupt ausgedrückt, mit Heidegger: aufgezeigt werden. Die Als-Struktur ist gleichursprünglich mit der ersten Stufe des existential-hermeneutischen Verstehens und macht die Artikulierbarkeit und Gliederbarkeit des Verstandenen aus.38 Die vorprädikative Erschlossenheit stellt somit die Bedingung der Möglichkeit
36 37 38
SuZ, S. 163f. Kant spricht von einem „Gewühl der Erscheinungen“ und vom „rohen Stoff sinnlicher Eindrücke“. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A111. Diese Artikulierbarkeit und Gliederbarkeit ist durch Heideggers Sinn-Begriff ausgedrückt. Vgl. SuZ, S. 151 und 153.
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einer prädikativen Bestimmung dar. Es tut sich also keine Kluft auf zwischen sinnlichen und propositionalen Gehalten. Das heißt, dass das existential-hermeneutische Verstehen sowohl vorprädikativ ist und zugleich die Möglichkeit prädikativer Bestimmung in sich birgt. „Man kann mit Worten auf etwas Bezug nehmen, weil dieses etwas im vorhinein durch den umsichtigen Umgang verstanden ist. Das ‚Als‘ erweist sich damit als der Grundstein von Heideggers ‚prälinguistischer‘ Semantik.“39
Damit scheint sich ein instrumentalistisches Sprachverständnis Heideggers abzuzeichnen. Worten kommt die Funktion zu, ein vorprädikativ Erschlossenes abzubilden. „Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen.“40 „Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein je schon vertraut ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie Bedeutungen erschließen kann, die ihrerseits wieder das mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren.“41
Worte dienen demnach als Werkzeuge der Repräsentation. Sie stehen für bereits konstituierte Bedeutungseinheiten. Die Allgemeinheit der Prädikate kann auf die Vertrautheit des hermeneutischen Als zurückgeführt werden. Singuläre Ausdrücke bezeichnen zwar einzelne Gegenstände, die jedoch ebenfalls erst in ihrer Zuhandenheit, das heißt als solche oder jene in den Blick gekommen sind. Bereits in der Auslegung, auf der Stufe zwischen dem existential-hermeneutischen Verstehen und der prädikativen Bestimmung, wird ein vorgängig Verstandenes angeeignet, indem es ausdrücklich in seine Verweisungsbezüge gestellt wird. Auch das ausdrücklich-Machen von Bewandtnis kann nicht in sprachlicher
39 40 41
Hübner, a. a. O., S. 55. SuZ, S. 161. SuZ, S. 87.
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Kompetenz begründet werden. Zu den schon verstandenen und ausgelegten Inhalten steht die Sprache in einem Abbildungsverhältnis. Heidegger vertritt damit auch eine Gegenstandstheorie der Bedeutung. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht durch ihren Gebrauch, sondern als Referenz auf eine nichtsprachlich konstituierte Bedeutungsentität erklärt wird. Sprachliche Ausdrücke stehen demnach für Gegenstände. In der gleichen Weise, wie ein singulärer Ausdruck für einen Gegenstand steht, steht auch ein allgemeiner Begriff, wie zum Beispiel rot, für einen Gegenstand, das Rotsein oder die Röte. Dabei wird das Prädikat typischerweise nominalisiert. Der so gewonnene Gegenstand stellt eine Universalie dar, das heißt eine mehreren Gegenständen zukommende Eigenschaft, die entweder, wie im Universalienrealismus, als real, oder aber als eine Idee, als mentale Gegebenheit aufgefasst werden kann. Mit der Gegenstandstheorie der Bedeutung geht, wie im Kapitel IV.2 dargestellt, eine Synthesistheorie des Urteils einher, die Heidegger von der neukantianischen sowie der psychologistischen Tradition und von Husserl übernimmt. Die Bedeutung eines Satzes wird demnach als Zusammensetzung der Bedeutungen seiner Teilausdrücke aufgefasst. So analysiert Heidegger das Urteil: „Der Hammer ist schwer, die Schwere kommt dem Hammer zu, das Hammerding hat die Eigenschaft der Schwere.“42 Das „Urteil: ‚Der Einband ist gelb‘ hat den Sinn: Gelbsein des Einbandes gilt. Dieser Sinn läßt sich genauer so ausdrücken: Vom Einband gilt das Gelbsein.“43
42 43
SuZ, S. 157. In seiner Dissertation aus dem Jahre 1913 bezieht sich Heidegger insbesondere auf die Urteilslehre von Heinrich Rickert und Emil Lask. Heidegger, Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag Beitrag zur Logik, S. 175. Vgl. auch SuZ, S. 159.
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Bereits im Zuge seiner Kritik am Psychologismus fasst Heidegger das Urteil als eine Synthesis bzw. Relation auf, in dem Sinn, „dass etwas von einem Gegenstand gelte“44. „Das Urteil ist eine Relation, und zwar die des Geltens, zwischen Gegenstand und determinierendem Bedeutungsgehalt.“45
Eben dieses Gelten macht den Sinn, das heißt die Bedeutung eines Urteiles aus. Das heißt, dass nicht nur das, wofür Subjekt und Prädikat stehen, gegenständlich aufgefasst wird, sondern auch die Bedeutung des ganzen Satzes, nämlich als eine Geltungsrelation, welche „die Wirklichkeitsform des Sinns“ besitzen soll.46 Der Sinn selbst ist nach Heidegger „relationshaltig“, das heißt er wird als eine Zusammensetzung begriffen. „ … weil eine Relation, und das ist fraglos jedes Urteil, eben ihren Charakter empfängt von der Art der Gliederverknüpfung und hier die Kopula ‚gelten von‘ bedeutet, aus diesem Grund hat das Urteil die Wirklichkeitsform des Geltens, ist es Sinn, der gilt.“47
Die Bedeutung einer Aussage gründet sich also in der Partizipation an der Wirklichkeitsform des Sinnes, dem Gelten. Die Funktion der Synthesis, welche den formalen Ausdruck dieser Geltungsrelation darstellt, wird von Heidegger als das Fundament möglicher Wahrheit und Falschheit von Aussagen angesehen: „Wenn sie [die Aussage, das Beispiel lautet: ‚Die Tafel ist schwarz‘, Anm. d. V.] soll wahr–entdeckend sein können, muß sie aber nach dem Vorigen etwas von der Struktur Synthesis–Diairesis haben; sie ist in der Tat synthetisch. Denn schwarz–Schwarzsein ist in der Aussage mit der Tafel zu-
44 45 46
47
SuZ, S. 175. Heidegger, Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik, S. 182. Vgl. dazu S. 163. Zu einer Kritik der gegenständlichen Auffassung von Sachverhalten vgl. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 9. und 10. Vorlesung, insbesondere S. 150–175. Vgl. dazu S. 163. Heidegger, Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik, S. 178.
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sammengesetzt und ob dieser Zusammensetzung ist der Satz ja wahr; nur zusammensetzend riskiert die Rede Wahrheit bzw. Falschheit.“48
Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wird damit nicht durch ihren intersubjektiven Gebrauch in Sätzen erklärt. Sprachliche Ausdrücke referieren auf Gegenstände, insofern sie nicht funktional erklärt werden, sondern vielmehr ein vorgängig Erschlossenes abzubilden haben. Tietz’ Kritik an der auch von Heidegger noch vertretenen Synthesistheorie lautet: „Nun läßt sich aber nicht nur zeigen, daß die nominalisierte Form semantisch sekundär ist gegenüber der prädikativen Form, sondern auch, daß Heidegger dadurch, daß er die semantische Dimension überhaupt nicht wahrnimmt, die Bedeutung des Prädikates durch dessen Vergegenständlichung als einen selbständigen Gegenstand auffassen muß, auf den referierend Bezug genommen wird, so daß die Prädikation nach dem Modell der Referenz mißgedeutet werden muß.“49
Es ist jedoch nicht so, dass Heidegger die Problematik einer solchen Urteilstheorie verborgen geblieben wäre. Bereits in der Logikvorlesung von 1925/26 fragt er nach einer für Synthesis und Diairesis, das heißt für bejahende und verneinende Urteile grundlegenden Einheit, denn mit dem negativen Urteil wird ja gleichwohl etwas zusammengesehen und ausgesagt.50 Es ist die Als-Struktur des vorprädikativen Verstehens, welche nach Heidegger grundlegend für beide Urteilsarten ist. Bevor Seiendes prädizierend bestimmt werden kann, muss es schon in seiner Zuhandenheit, das heißt in seiner Bewandtnis für das Dasein, verstanden 48 49
50
Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, S. 137. Heidegger bezieht sich damit (S. 136ff.) auf die aristotelische Urteilslehre. Udo Tietz, Ontologie und Dialektik. Heidegger und Adorno über das Sein, das Nichtidentische, die Synthesis und die Kopula, S. 22. Vgl. zur Synthesistheorie des Urteils und seiner Kritik Kapitel IV.2. Schnädelbach spricht in diesem Zusammenhang von einer Vertauschung von Referenz und Kommunikation. Die Referenz tritt an die Stelle der Kommunikation, so dass nun das Sein selbst die Bedeutung stiftet. Herbert Schnädelbach, Philosophieren nach Heidegger und Adorno, S. 327. Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, S. 140ff.
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sein. Insofern liegt dem formalen Verbinden und Trennen in der Aussage eine Einheit zugrunde, die Heidegger als vorprädikative Erschlossenheit auffasst. Vor der Aussage ist Seiendes schon in eine Deutung gestellt, es ist „be-deutet“. Dies ist nach Heidegger nicht so zu verstehen, „als wäre zunächst ein bedeutungsfreies Etwas gegeben, dem eine Bedeutung angeklebt würde, sondern was zuerst – in einem noch zu bestimmenden Sinne – ‚gegeben‘ ist“, ist in seiner Zuhandenheit bereits verstanden.51 Heidegger reagiert auf die Problematik der Synthesistheorie, indem er den Aussagesatz aus seiner Schlüsselstellung für die Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke verdrängt und ihn zum Randphänomen, zum derivativen Modus des ursprünglich-hermeneutischen Verstehens herabsetzt. Heidegger gibt das satzsemantische Paradigma innerhalb des Konzeptes von Prädikation und Bedeutung auf und behauptet die Abgeleitetheit apophantischen Verstehens vom existentialhermeneutischen Verstehen. Das Urteil wird in der vorprädikativen Erschlossenheit fundiert. Es ist nicht das Urteil, sondern die Rede, als allgemein-sprachliche Artikulation von Befindlichkeit und Verstehen, welche in ihrer Funktion Seiendes offenbart. 52 Dass Offenbarmachen von Seiendem in der Aussage gründet demnach nicht in der prädikativen Bestimmung als einer Bestimmung von Vorhandenem, sondern in einer Bewandtnisganzheit, aus welcher heraus die Gegenstände bereits als etwas verstanden sind. Da Heidegger die Synthesistheorie des Urteils selbst aber nicht in Frage stellt, wird sie durch diese Strategie nur ontologisch fundiert. „Die auseinanderlegend-bestimmende Aussage will die gegliederte Mannigfaltigkeit des vorgegebenen Seienden in einer Einheit zugänglich ma51 52
Ebd., S. 144. Vgl. auch SuZ, S. 159f. Heidegger bestimmt die Vollzugsform der Sprache, die Rede, als ursprüngliches Existential des Daseins: „Die Rede ist mit Befindlichkeit und Verstehen existential gleichursprünglich … Die befindliche Verständlichkeit des In-derWelt-seins spricht sich als Rede aus. … Den Bedeutungen wachsen Worte zu.“ SuZ, S. 161.
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HEIDEGGERS KRITIK AN DER ONTOLOGIE DER VORHANDENHEIT
chen. So haben die Bestimmungen des Seienden selbst, das heißt dessen, worüber die Ausage gemacht wird, einen Charakter des Beisammen, äußerlich genommen des Verbundenen. … Es liegt, wie wir sehen werden, in der Idee des Seins so etwas wie Verbundenheit, ganz äußerlich genommen, und es ist kein Zufall, daß das ‚ist‘ den Charakter der Kopula erhält. Nur ist dann die Charakterisierung des ‚ist‘ als Kopula keine phonetische und keine wörtliche, sondern eine rein ontologische, verstanden aus dem, worüber die Aussage Aussage ist.“53 „Das Seiende selbst wird gefaßt als das Zusammenvorhandene, das Seiende wird vom als Synthesis definierten Aussagen her (logisch) gefasst.“54
Daraus lässt sich ein scheinbar instrumentalistisches Sprachverständnis Heideggers ableiten: Aufgrund der ihnen zugesprochenen repräsentativen Funktion besitzen Worte nicht nur entbergenden, zeigenden Charakter, sondern können für das Aufgegebene auch hinderlich, das heißt die eigentlichen Möglichkeiten des Seins verbergend sein.55 Saffer interpretiert den verbergenden Charakter der Sprache bei Heidegger als „gnoseologischen Makel“.56 Dass aber die Konventionalität sprachlicher Bedeutungen dem Auszudrückenden einen Widerstand entgegensetzt, gilt nicht nur für eine instrumentalistische, sondern auch für eine „konstitutive“57 Sprachauffassung. Der Unterschied zwischen beiden Sprachauffassungen liegt 53 54 55 56
57
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 302f. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, S. 161, FN10. Zur Kritik dieser ontologischen Fundierung sprachlicher Bedeutung auch Tietz, a. a. O., S. 69. Dies stellt Heidegger insbesondere im Kapitel zum Gerede dar: SuZ, § 35, S. 167ff. Das Gerede birgt die Uneigentlichkeit des Seinsbezugs. „Der Sprache kommt hier jedoch der gnoseologische Mangel zu, mit der ihr eigentümlichen Begrifflichkeit das ursprüngliche Verstehen zu stören.“ Stephan Saffer, Sprachindividualität. Untersuchungen zum Weltansichtstheorem bei Wilhelm von Humboldt und Martin Heidegger, S. 92. Ich übernehme hier die Gegenübersetzung einer „instrumentalistischen“ und „konstitutiven Sprachauffassung“ von Charles Guignon, Heidegger and the Problem of Knowledge. Während das konstitutive Sprachverständnis der Sprache eine Welterschließungsleistung zuspricht, weist das instrumentalistische ihr eine Repräsentationsfunktion zu. Wörter sind nach dem letzteren Verständnis bloße Namen für Bedeutungen oder Gegenstände.
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INSTRUMENTALISTISCHES ODER KONSTITUTIVES SPRACHVERSTÄNDNIS
eher darin, ob man den verbergenden Charakter als Uneigentlichkeit der Begriffe, das heißt als ein dem Auszudrückenden äußerliches Hindernis, oder ob man den scheinbar der Sprache eigenen Widerstand wie Gadamer als eine im Denken selbst zu überwindende Konventionalität interpretiert.58 Mit der ersten Deutung könnte man Heideggers Kritik an der „Uneigentlichkeit“ der Sprache als eine mit der Synthesistheorie des Urteils verknüpfte Orientierung an vorsprachlich gegebenen Einheiten von Sinn, das heißt an jenen Ausdrucksintentionen, die sich in der vorprädikativen Erschlossenheit eines Bewandtnisganzen konstituieren, interpretieren.59 Dieses instrumentalistische Sprachverständnis weicht zumindest beim späten Heidegger, nach der sogenannten „Kehre“, einem konstitutiven Sprachverständnis, insofern hier der Vollzug der Sprache, insbesondere in der Dichtung, die Möglichkeit birgt, Seiendes zu erschließen.60 Wenn man jedoch wie zum Beispiel Hübner und Guignon61 die der vorprädikativen Erschlossenheit und der aufzeigenden Aussage gemein58 59
60 61
Vgl. dazu S. 283 und Kapitel VII.2.5. Vgl. Tietz, a. a. O., S. 45, S. 78. Gethmann bezeichnet die Tendenz, Bedeutung nicht mehr intentionalistisch, sondern ontologisch im Sein der Sprache selbst zu fundieren, selbst als „extremen Intentionalismus“. Carl Friedrich Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext, S. 274. Paradigmatisch für Heideggers neue Betrachtung der Sprache ist: Der Ursprung des Kunstwerks von 1935/36. “But to say that the hermeneutic ‘as’ is prepredicative does not entail that it is prelinguistic: in fact, we will find that predication is a secondary and derivative mode of language.” Guignon, a. a. O., S. 131. Identisch Hübner: „Darüber hinaus ist ersichtlich, daß der Umgang mit dem Seienden zwar vorprädikativ im Sinne der Bestimmung sein kann, damit aber nicht zwangsläufig auch vorsprachlich sein muß.“ Hübner, a. a. O., S. 82. Auch Figal zufolge bedeutet die Tatsache, dass Heidegger von einem vorprädikativen Sehen-als spricht, nicht, dass er eine strukturelle Trennung zwischen dem etwas-als-etwas-Sehen und es-ausdrücklich-Machen vornimmt. Damit soll vielmehr nur die Fundierung der etwas-als-etwas-Struktur in der Prädikation aufgehoben werden. Vgl. Günter Figal, Selbstverstehen in instabiler Freiheit. Die hermeneutische Position Martin Heideggers, S. 98f.
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HEIDEGGERS KRITIK AN DER ONTOLOGIE DER VORHANDENHEIT
same Begrifflichkeit als eine umfassende Sprachlichkeit interpretiert, erübrigt sich solche dualistische Entgegensetzung zweier Sprachverständnisse. Es ist dann nicht notwendig, eine Art linguistic turn innerhalb von Heideggers Werk anzunehmen. Guignon zufolge lässt sich die Zweideutigkeit zwischen einer instrumentalistischen und konstitutiven Sicht der Sprache vermeiden, wenn man von verschiedenen Möglichkeiten der Sprache („deep and surface level“ 62) ausgeht. Gemeinsam ist ihnen dann eine begriffliche Struktur, welche nicht primär in der Prädikation, wohl aber in der Rede als mit Verständlichkeit und Befindlichkeit gleichursprünglichem Existential begründet ist. Diese Struktur ermöglicht es, die sprachliche Vermitteltheit von Wahrnehmungsgehalten, welche bereits eine existential-hermeneutische Als-Struktur aufweisen, zu denken. Entdecken und Verdecken von Seiendem können dann schlicht als verschiedene, gleichursprüngliche Möglichkeiten der Sprache interpretiert werden, ohne dass die prädikative Bestimmung notwendig eine Entstellung des vorprädikativ Erschlossenen darstellen würde. Bereits die Bestimmung der Rede als Vollzugsform der Sprache und als ursprüngliches Existential des Daseins spricht gegen eine instrumentalistische Interpretation des Heideggerschen Sprachverständnisses. Das Ausgesprochen-Werden des im Dasein Erschlossenen ist diesem nicht äußerlich und insofern nur möglicherweise zukommend, sondern im Wesen des verstehenden Daseins liegt schon das sichAussprechen durch Sprache. So erklärt sich auch Heideggers Aussage, dass den Bedeutungen Worte zuwachsen, nicht aber Wörterdinge mit Bedeutung versehen werden.63 Sprache ist nach Heidegger „kein innerweltlich zuhandenes Zeug“, sondern hat selbst „die Seinsart des Daseins“.64 62 63 64
Guignon, a. a. O., S. 132. SuZ, S. 161. Vgl. SuZ, S. 166. Insofern stimme ich auch Tietz’ Heidegger-Interpretation nicht zu, derzufolge Heidegger den Begriff „ganz nominalistisch als ein operatives Schema [begreift, Anm. d. V.], dessen Anwendung auf die Gegenstände das Inkommensurable abschneidet und sie nur noch als Exemplare eines All-
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WAHRNEHMUNG VON EINZELNEM
Heideggers Betonung einer vorprädikativen Erschlossenheit kann also so gedeutet werden, dass sich eine Kluft zwischen der vorprädikativ erschlossenen Bedeutung, somit auch den Wahrnehmungsgehalten, und der prädikativen Bestimmung auftut. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Heidegger formal an der problematischen Synthesistheorie des Urteils festhält und diese noch ontologisch fundiert. Sprache würde damit instrumentalistisch aufgefasst werden, denn sie hätte die Funktion, diese vorsprachlich konstituierten Bedeutungen zu repräsentieren. Betrachtet man jedoch Heideggers Auffassung der Rede als Existential des Daseins, muss vorprädikative Erschlossenheit nicht als nichtsprachliche Gegebenheit von Bedeutungsentitäten aufgefasst werden. Bedeutungen können dann als immer schon auf sprachlichen Ausdruck bezogene Verständnisse interpretiert werden. Wenn Sprache aus ihrer Vollzugsform, der Rede, und nicht aus der formalen Bestimmung von Urteilen heraus erklärt wird, kann sie mit Heidegger durchaus als konstitutiv für die in der Sprache ausgedrückten Bedeutungen gelten. VII.1.6
Wahrnehmung von Einzelnem Obwohl Heidegger eine Synthesistheorie des Urteils und insofern auch eine Gegenstandstheorie der Bedeutung vertritt, können Gehalte sinnlicher Erfahrung und die Allgemeinheit sprachlichen Ausdrucks als vermittelbare gedacht werden. Denn Heidegger geht von einer, wenn auch vorprädikativen, Begrifflichkeit der Wahrnehmung aus. Das bedeutet in erster Linie, dass Wahrnehmungsgegenstände nicht als einzelne, sondern als in erkenntnisheoretisch relevanten Verweisungsbezügen stehende aufgefasst werden. Begriffliche Allgemeinheit konstituiert sich Heidegger zufolge nicht erst in Urteilen, sondern bereits auf der Ebene existentiell-hermegemeinen übrig läßt. Denn der Begriff, so Heidegger, ermöglicht immer nur zu sagen, worunter etwas fällt, zu sagen, was etwas ist, verhindert er.“ Tietz, a. a. O., S. 52f. Heidegger nimmt jedoch keine individuellen inkommensurablen Gegebenheiten an, sondern stattdessen die grundlegende Als-Struktur von allem, das überhaupt Gegenstand werden kann.
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HEIDEGGERS KRITIK AN DER ONTOLOGIE DER VORHANDENHEIT
neutischen Verstehens. Wenn man mit Heidegger von einer die verschiedenen Stufen des Verstehens verbindenden Begrifflichkeit ausgeht, muss innerhalb der diese Begrifflichkeit ausmachenden Allgemeinheit gleichwohl zwischen vorprädikativer und prädikativer Allgemeinheit unterschieden werden. Die Aufstufung der Wahrnehmungsformen zeigt auch, dass die formale Struktur sprachlicher Urteile nicht auf die Gegenstände orientierend-erfassender und ausdrücklicher Wahrnehmung übertragen werden kann. Während in einem Urteil einzelne Gegenstände durch allgemeine Ausdrücke bestimmt werden, kann im existential-hermeneutischen Verstehen und auch in der orientierend-erfassenden Wahrnehmung von Einzelheit, prädikativer Allgemeinheit und von Wahrheit und Unwahrheit entsprechender Urteile noch keine Rede sein. Vorprädikative Allgemeinheit ist die aus einem Bewandtniszusammenhang entspringende Vertrautheit und kann nicht mit der Allgemeinheit sprachlicher Prädikate gleichgesetzt werden. In einem Urteil wird ein Gegenstand durch ein Prädikat charakterisiert, das ihm entweder zukommt oder nicht, und auch anderen Gegenständen in gleicher Weise zukommen kann. Heidegger verbindet die mögliche Wahrheit und Unwahrheit von Urteilen mit der Bestimmung von Gegenständen in ihrer Vorhandenheit, das heißt unabhängig von ihrer Gegebenheitsweise für das Dasein. Für die Auslegung bzw. für die ausdrückliche Wahrnehmung gilt zwar auch, dass sie einzelne Gegenstände oder Eigenschaften hervorhebt. Dennoch werden diese in ihrem Bewandtniszusammenhang belassen und nicht in ihrer bloßen Vorhandenheit bestimmt. Erst das prädikative Bestimmen der Gegenstände in ihrer Vorhandenheit isoliert sie und trennt sie aus dem ursprünglichen Bewandtniszusammenhang heraus. Aus dieser formalen und inhaltlichen Unterschiedenheit vorprädikativer und prädikativer Allgemeinheit folgt, dass sich insbesondere auch die Kategorie der Einzelheit auf Gegenstände ursprünglich-sinnlicher Erfahrung noch gar nicht anwenden lässt.
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WAHRNEHMUNG VON EINZELNEM
„Das verstehende Bedeuten richtet sich primär weder auf Einzeldinge noch auf allgemeine Begriffe, sondern lebt in der nächsten Umwelt und Welt im Ganzen.“65 „Der Umgang kennt demnach auch nicht die Unterscheidung zwischen Allgemeinem und Besonderem, denn nur als prädikativ bestimmtes kann das Seiende in seiner Besonderheit oder auch als Allgemeines hervortreten.“66
Die Deutlichkeit dieser Position unterscheidet Heidegger in entscheidender Weise von dem in der aristotelisch-scholastischen und der empiristischen Tradition fortgeführten und noch bei Kant und Hegel sich findenden Dogma. Eine wichtige Konsequenz aus der Unterscheidung zwischen dem Verstehen als Gebrauchen und dem Verstehen als Prädizieren sowie der dieser Unterscheidung entsprechenden Aufstufung von orientierender und ausdrücklich erfassender bzw. prädikativer Wahrnehmung besteht darin, dass erst die Auslegung bzw. die ausdrücklich erfassende und die prädikative Wahrnehmung einzelne Gegenstände hervorhebt und als solche bewusst macht. Auf der Stufe der vorgängigen Erschlossenheit oder des unausdrücklichen Verstehens sind die grundlegenden Relationen der Dinge bereits hergestellt. Sie sind aus einer Bewandtnisganzheit heraus verstanden. Auf der Ebene sinnlicher Wahrnehmung, die immer schon etwas als etwas erfährt, sind die Gegenstände niemals bloß einzelne, sondern in ihrer Zuhandenheit schon als vertraut-allgemeine verstanden. Hierbei kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob Heidegger vor der Prädikation bereits eine Art von Gegensatz zwischen Einzelnem und Allgemeinem annimmt, als vielmehr darauf, dass nicht zuerst bloß Einzelnes gegeben ist, das danach in Relationen gesetzt und als ein Allgemeines bestimmt wird. Primär ist nicht das Wahrnehmen einzelner Gegebenheiten bzw. Sinnesdaten, sondern auch das schlichte Sehen ist bereits ein in Relationen setzendes und insofern verstehendes Sehen.
65 66
Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, S. 150. Hübner, a. a. O., S. 72.
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HEIDEGGERS KRITIK AN DER ONTOLOGIE DER VORHANDENHEIT
Die von Husserl beschriebenen intentionalen Akte, in denen das Bewusstsein sich auf einzelne Gegenstände richtet67, sind nach Heidegger als eine derivative Form der immer schon auf Vertrautheit bzw. Zuhandenheit gerichteten verstehenden Wahrnehmung anzusehen. „Die Annahme von diskreten Akten, in denen das Bewußtsein intentional auf Gegenstände gerichtet ist, erweist sich damit als in der Möglichkeit der Auslegung fundiert, denn erst die Auslegung hebt ja einzelne ‚Gegenstände‘ hervor und macht diese ‚bewusst‘.“68
Heidegger deutet Husserls theoretischen Intentionalitätsbegriff als Sorge um das eigene Sein bzw. im engeren Sinn als Verhalten. Was das Seiende ist, ist abhängig vom Wie seines Intendiertseins. Wie ein Gegenstand zugänglich wird bzw. wie sich zu ihm verhalten wird, trägt zu seiner Konstitution bei. „Das aber bedeutet, daß nie zunächst ein einzelnes Seiendes entdeckt ist, sondern das Seiende und das entdeckende Verhalten von vornherein zusammengehören. Weder existiert das Dasein als ein unabhängiges Subjekt noch gibt es isoliert vorkommende Gegenstände. Primär ist demgegenüber immer der Zusammenhang des In-der-Welt-seins. Die Erkenntnisrelation setzt sich folglich nicht aus Subjekt und Objekt zusammen, sondern die Einheit dieser ‚Relation‘ liegt ihren Bestandteilen voraus. Etwas als einen einzelnen, isolierten Gegenstand zu betrachten, heißt dann, es aus dem Zusammenhang herauszunehmen, von der zugrunde liegenden Einheit zu abstrahieren.“69
Heidegger nimmt also nicht das Erfassen von Einzelnem als grundlegende Charakteristik von Wahrnehmung an; vielmehr stellt die Einzelheit der Wahrnehmungsgegenstände, welche selbst als abhängig von bzw. logisch gleichursprünglich mit prädikativer Allgemeinheit aufgefasst wird, eine gegenüber dem Wahrnehmen von etwas als etwas, im Sinne der vorprädikativen Erschlossenheit, derivative Form dar. Inso67 68 69
Vgl. zur Unterscheidung schlichter Wahrnehmungsakte und sachverhaltsbildender Akte: Husserl, Logische Untersuchungen, II/2, §§ 40–58. Hübner, a. a. O., S. 48, Fußnote 99. Ebd., S. 57.
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WAHRNEHMUNG VON EINZELNEM
fern bereits in der schlichten orientierenden Wahrnehmung ein Verstehen von etwas in seiner Bewandtnis für den Wahrnehmenden liegt, kann weder von einer Vereinzeltheit der Wahrnehmungsgegenstände in erkenntnistheoretischem Sinne noch von einer Wahrnehmung von etwas Gegebenem (das heißt von Einzeldingen) in ontologischem Sinne die Rede sein. Mit der Kritik einer Ontologie der Vorhandenheit behauptet Heidegger die Abkünftigkeit auch der bloßen sinnlichen Aufnahme von Vorhandenem von der bereits orientierend-erfassenden Wahrnehmung von Dingen in ihrer Zuhandenheit.
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VII.2
Gadamers Position der Vermittlung
VII.2.1
Vorbemerkung Deutlicher noch als Heidegger arbeitet Gadamer die in der Wahrnehmung liegende Erkenntnisfunktion, als grundlegende Fähigkeit, Allgemeines zu erkennen, heraus. Dies folgt zum einen aus Gadamers Kritik einer ‚reinen Wahrnehmung‘, die auf Heideggers Kritik einer Ontologie der Vorhandenheit basiert. Zum anderen führt Gadamers Einsicht in die sprachliche Vermitteltheit der Welt zu der Annahme, dass auch die in der Wahrnehmung liegende Erkenntnisfunktion sprachlicher Art ist, dass also das, was wir sinnlich erfahren, prinzipiell innerhalb des sprachlich Ausdrückbaren liegt. Gadamer geht also von einem Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen Wahrnehmungsgehalten und sprachlichen Gehalten aus.
VII.2.2
Systematische Voraussetzungen von Gadamers Wahrnehmungsbegriff Gadamer stellt zu Beginn von Wahrheit und Methode die Frage, ob der Wahrnehmung von Kunst Objektivität zuzugestehen ist, das heißt ob Kunsterfahrung ihrem Gegenstand überhaupt gerecht werden kann und nicht dem marginalen Feld bloßer Geschmacksurteile zu überlassen ist. Für Geschmacksurteile kann per definitionem kein Wahrheitsanspruch erhoben werden. Gadamer stellt damit die Frage nach der Wahrheit von Kunst. Die Entscheidung darüber hängt eng damit zusammen, ob und wie in der Wahrnehmung Bedeutungshaftes erfasst werden kann. Es ist also die Funktionsweise der Wahrnehmung, welche dafür ausschlaggebend ist. Grundlegend für Gadamers Betrachtungsweise ist seine Ablehnung eines naiven Realismus, der Wahrnehmung als Spiegelung, als passive Abbildung äußerer Gegenstände auffasst. Gadamer teilt Heideggers Kritik an einer sogenannten ‚reinen Wahrnehmung‘, die eine Ontologie
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SYSTEM. VORAUSSETZUNGEN VON GADAMERS WAHRNEHMUNGSBEGRIFF
der Vorhandenheit voraussetzt. Die Kritik richtet sich gegen jene empiristische oder naiv-realistische Auffassung, welche von der Erfahrung eines unstrukturierten Gegebenen ausgeht. Gegen das Postulat einer unbeurteilten Wahrnehmung setzt Gadamer die semantische Abhängigkeit zwischen dem Gehalt einer Wahrnehmung und dem (begrifflichen) Gehalt eines Wahrnehmungsurteiles. Der Gehalt einer reinen Wahrnehmung, unabhängig von möglichen Urteilen, ist dagegen weder erfassbar noch ausdrückbar; er ist epistemisch nicht relevant. „Unser Wahrnehmen ist … niemals eine einfache Abspiegelung dessen, was den Sinnen gegeben ist.“ „Das bloße Sehen, das bloße Hören sind dogmatische Abstraktionen, die die Phänomene künstlich reduzieren.“ 1
Gadamer setzt einer solchen Auffassung die bereits in der Wahrnehmung liegende Erkenntnisfunktion entgegen. Jede Wahrnehmung ist ein „Auffassen als etwas“. Das heißt, dass die Wahrnehmung selbst eine strukturierende Funktion ausübt. Diese Funktion besteht zunächst in der Reduktion der Fülle des Wahrnehmbaren. „Jedes Auffassen als … artikuliert das, was da ist, indem es wegsieht von …, hinsieht auf …, zusammensieht als … .“ Mit der Reduktion hebt sich das für den Wahrnehmenden Bedeutsame hervor. Das heißt, dass in der Wahrnehmung bereits allgemeine Eigenschaften erfasst werden. Die Wahrnehmung erfüllt eine gliedernde, das heißt zugleich auch eine reduzierende Funktion. „Sehen heißt aufgliedern.“2 Die Gliederung geschieht nach Maßstäben der Wiedererkennbarkeit und begründet damit mögliche Bezüge zum Bedeutungshaften. Das heißt, dass durch diese Gliederung Gestalthaftes, Gegenständliches und in allgemeinster Form Bedeutungs-
1
2
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. (im Folgenden: WuM), S. 96f. Da sich Gadamers Kritik im Abschnitt I.3.b „Kritik der Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins“ konzentriert, finden sich alle folgenden Zitate auf den Seiten 95–97. WuM, S. 97.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
haftes erkannt werden kann – so zum Beispiel auch musikalische Formen. Gadamers Korrektur des tradierten Dogmas lautet daher: „Aber die spezifische Wahrnehmung einer Sinnengegebenheit als solche ist eben eine Abstraktion. In Wahrheit sehen wir, was uns sinnlich im einzelnen gegeben ist, immer auf ein Allgemeines hin an.“3
Was aber heißt hier: „Allgemeinheit“? Zunächst ist damit „Wiedererkennbarkeit“ gemeint, das heißt die Erkennbarkeit von bedeutungshaften Elementen, welche sich in verschiedenen Kontexten wiederholen. Das Wahrnehmen dieser Elemente nennt Gadamer auch „artikulierendes Lesen“. „Wie kommt es zum Allgemeinen? In der Philosophie sagt man: zum Allgemeinbegriff; aber auch Worte sind in diesem Sinne offenkundig Allgemeines. Wie kommt es dazu, daß sie ‚Worte‘ sind, das heißt eine allgemeine Bedeutung haben? Da findet sich das sinnlich ausgestattete Wesen bei seinen ersten Apperzeptionen in einem flutenden Reizmehr, und es beginnt schließlich eines Tags etwas, wie wir sagen, zu erkennen. Offenbar wollen wir damit nicht sagen, daß es vorher blind war –, sondern wir meinen, wenn wir sagen ‚erkennen‘ –‚ ‚wiedererkennen‘, das heißt etwas als dasselbe herauserkennen aus dem Strom vorbeiflutender Bilder. Dieses so Herauserkannte wird offenbar festgehalten.“4
Die so gefasste Allgemeinheit liegt bereits in der Wahrnehmung, wenn ein Herausgreifen und Benennen überhaupt möglich sein soll. Gadamer schließt sich Heideggers pragmatischem Wahrnehmungsbegriff an, demzufolge die in der Wahrnehmung erfasste Bedeutung durch die Zuhandenheit bzw. durch eine „allgemeine Brauchbarkeit zu etwas“5 konstituiert ist. Die Darstellung der in der Wahrnehmung liegenden Erkenntnisfunktion ist nicht nur eine phänomenologische Beschreibung dessen, was wir in der Wahrnehmung erleben. Sie stellt zugleich eine notwendige Voraussetzung dafür dar, dass überhaupt bedeutungshafte Elemente 3 4 5
WuM, S. 95f. Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems, S. 228f. WuM, S. 96.
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SYSTEM. VORAUSSETZUNGEN VON GADAMERS WAHRNEHMUNGSBEGRIFF
erfasst werden können. Aus der Voraussetzungshaftigkeit der Wahrnehmung folgert Gadamer die Unüberschreitbarkeit dieser Bedingung: „Darüber kann es gar nicht hinausgehen, sofern unser Sehen ein Gegenstandssehen ist und bleibt.“6 Verweilendes Schauen oder bloßes Vernehmen können so nicht mehr als Beispiele für eine passiv aufgefasste Wahrnehmung geltend gemacht werden. Gadamer folgt also der Heideggerschen Betonung, dass die Gegenwärtigkeit eines bloßen Anblicks derivativ gegenüber der eigentlichen Erkenntnisfunktion in der Wahrnehmung ist.7 So beurteilt auch Gadamer solche Situationen, in denen jede deutende und antizipierende Aktivität des Wahrnehmenden ausgeschaltet zu sein scheint, dennoch als Verstehenssituationen, in denen etwas als etwas gesehen wird. Er bringt dafür mehrere Argumente. Die Tatsache, dass man in einem Anblick schwanken kann, dass man Zeit braucht, um etwas zu erkennen, gilt ihm als Indiz für die Prozesshaftigkeit des Verstehens bzw. Wahrnehmens von etwas und nicht für das Primat einer reinen, noch unbeurteilten Wahrnehmung. Auch im bloßen Anstarren ist das Wahrgenommene bereits in einer Strukturiertheit, zum Beispiel der Gegenständlichkeit eines Tisches oder auch einer Landschaft, gegenwärtig, die später unter Umständen (zum Beispiel assoziativ) erinnert werden kann. Dabei wird die Struktur nicht hinterher erst auf das Erinnerte angewendet; sie ist vielmehr Voraussetzung sowohl für die Wahrnehmbarkeit als auch für die Erinnerbarkeit. So stellen auch diese Situationen nicht ‚reine Wahrnehmungen‘ einer unberührten Gegebenheit dar. Dass Wahrnehmung immer Bedeutung erfasst, bleibt eine unüberschreitbare Voraussetzung. Ein weiteres Argument lautet, dass auch Ungegenständliches oder scheinbar leere oder abstrakte Anblicke nur auf der Basis des Gegen-
6 7
WuM, S. 97, Fußnote 174. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (im Folgenden: SuZ), S. 149. Zitiert auf S. 250, vgl. dazu Kapitel VII.1.4.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
ständlichen oder Formhaften, das wir an ihnen vermissen, als solche wahrgenommen werden können. „Es kann nur im Absehen von den Gewohnheiten des praktisch gerichteten Sehens von ‚Gegenständen‘ ein ästhetisches Sehen geben – und wovon man absieht, das muß man sehen, ja, im Auge behalten.“8
Die Abgeleitetheit nichtgegenständlicher Wahrnehmung folgt jedoch nicht allein aus der erkenntnistheoretischen Überlegung, dass die Wahrnehmung des Ungegenständlichen nur in bewusster Absetzung von Gegenständlichem möglich sein kann, sondern schon aus der Überlegung, dass Bedeutungshaftigkeit die Grundlage für Wahrnehmbarkeit überhaupt ist. Die Abwesenheit von Bedeutung kann also nicht als fundamental gegenüber der Erfassung von Bedeutung angenommen werden. Insofern können Beispiele scheinbar ‚reiner Wahrnehmungen‘ nicht als wirkliche Einwände gelten, sondern sind vielmehr als derivative Fälle zu bewerten, in denen die Erfassung von Bedeutung für den Wahrnehmenden ebenso wie für den Standpunkt, von dem aus hier argumentiert wird, immer schon vorauszusetzen ist. Da Gadamer Wahrnehmung nicht als passive Aufnahme von etwas den Sinnen Gegebenem versteht, sondern als aktive Erkenntnisleistung des wahrnehmenden Subjekts, wird der Begriff des Verstehens nicht nur für das Verstehen von Sprache verwendet, sondern charakterisiert in einem viel umfassenderen Sinne auch die Wahrnehmungs- und Erfahrungssituation. Mit dem Begriff des Verstehens verbindet Gadamer den Universalitätsanspruch des Hermeneutischen. Die im Folgenden kurz wiedergegebene Gadamersche Erläuterung der Bedingungen des Verstehens stellt daher zugleich eine Erläuterung der Bedingungen von Wahrnehmung und Erfahrung dar. Da bereits in der Wahrnehmung eine Erkenntnisfunktion liegt, die das Wahrgenommene strukuriert, unterscheidet sich die Erfahrung darin nicht von der Wahrnehmung. Weder Wahrnehmung noch Erfahrung sind auf eine pure Gegebenheit ge-
8
WuM, S. 97, Fußnote 174.
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DER VORGRIFF DES VERSTEHENS
richtet. Beide fallen insofern zusammen, als sie kein rein passives Begegnenlassen darstellen, sondern die Bedingungen für das, was erfahrbar oder wahrnehmbar ist, in ihrer Funktionsweise selbst liegt. Da immer Bedeutungshaftes erfasst wird, liegt in jeder Wahrnehmung und Erfahrung ein Akt des Verstehens. Das, was wahrnehmbar bzw. erfahrbar ist, ist bedingt durch eine Gemeinsamkeit zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen. Worin diese strukturelle Gemeinsamkeit zwischen Wahrnehmungsgegenständen und dem Wahrnehmenden bzw. zwischen zu Verstehendem und dem Verstehenden selbst besteht, wird im Folgenden zu klären sein. VII.2.3
Vorgriff des Verstehens: Vorurteil, Anwendung und Wirkungsgeschichte So wie Wahrnehmung notwendig durch den selektiven Hinblick des Wahrnehmenden bestimmt und damit auf seine Belange bezogen ist, kann auch Verstehen nur auf der Basis eines Vorgriffs der Vollkommenheit zustande kommen. Der Gegenstand des Verstehens wird mit diesem Vorgriff konfrontiert. Damit ist nicht allein formale Richtigkeit oder Sinnhaftigkeit gemeint, sondern ebenso ein inhaltlicher Vorgriff. 9 Erst dieses Vorwissen, das heißt der konkrete Vorgriff auf einen Inhalt ermöglicht das Erfahren von etwas. Erfahren wird also nicht einfach der Gegenstand in seiner sinnlichen Gegebenheit, sondern er erscheint im Lichte dessen, was man über ihn zu wissen glaubte. Beispielsweise gibt es immer schon bestimmte Überzeugungen bezüglich der ausgemachten Objekte: Wenn wir einen Tisch sehen, gehen wir davon aus, dass dieser nicht im nächsten Augenblick zusammenbricht, sondern geeignet ist, etwas zu tragen. Erst solche Vormeinungen ermöglichen die Wahrnehmung eines Tisches als Tisches, und auch seine Erfahrung als eines mehr oder weniger geeigneten Tisches. In der Konsequenz aus dieser Überle-
9
Vgl. WuM, S. 299. Mit dem Vorgriff der Vollkommenheit lässt sich das principle of charity identifizieren, welches Davidson für den Prozess radikaler Interpretation geltend macht. Vgl. Davidson, Radical Interpretation, Belief and the Basis of Meaning, Thought and Talk, On the very Idea of a Conceptual Scheme, The Method of Truth in Metaphysics.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
gung stellt Gadamer das Paradigma der Einzelheit des Erfahrungsgegenstandes in Frage: „Es kann also nicht ein beliebig aufgelesener Gegenstand sein, an dem man eine Erfahrung macht, sondern er muß so sein, daß man an ihm ein besseres Wissen nicht nur über ihn, sondern über das, was man vorher zu wissen meinte, also über ein Allgemeines gewinnt.“10
Auch hier bedeutet die angesprochene Allgemeinheit Vertrautheit des Gegenstandes, der überhaupt als Gegenstand, an dem eine Erfahrung gemacht werden kann, in Frage kommt. Nur aufgrund dieser Vertrautheit kann sich der Gegenstand in Konfrontation zu dem, was man erwartete oder zu kennen glaubte, in einer bedeutsamen Differenz zeigen. Jedes Verstehen, so Gadamer, ist ein anders Verstehen.11 Damit ist nicht gemeint, dass etwas dem Gegenstand nicht adäquates verstanden wird, sondern zunächst die Art des Verstehens beschrieben, seine Vorgehensweise. Anders Verstehen beschreibt kein Nichtverstehen oder Missverstehen, etwa aus der Perspektive einer dritten Person, sondern das Anstoßnehmen am Gegenstand und Korrigieren dessen, was man über ihn zu wissen glaubte. Es geht also eher um die Perspektive des Wahrnehmenden bzw. Erfahrenden selbst. Die eigentliche Grundlage des erfahrenen Anders-Seins zur eigenen Vormeinung ist die Vertrautheit mit dem Gegenstand. Diese verändert sich im Prozess des Verstehens. Das jeweils gewonnene Verständnis wird in den weiteren Verstehensprozess eingebracht und ist erneute Grundlage für ein Anstoß-Nehmen am Gegenstand. Gadamer erklärt also die notwendig wahrgenommene Differenz in Abhängigkeit von einer Vertrautheit bzw. Einheit des Wahrnehmenden oder Verstehenden mit dem Wahrgenommenen. Der Sinnvorgriff stellt eine korrigierbare, jedoch niemals überschreitbare Voraussetzung für Verstehen dar, so wie Erwartungen unabdingbar für mögliche Erfahrung sind und wie auch Wahrnehmung stets auf Vertrautes
10 11
WuM, S. 359. Vgl. WuM, S. 302.
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DER VORGRIFF DES VERSTEHENS
gerichtet ist. Nach Ähnlichkeiten vorzugehen, heißt auch, Fremdheit, Abwesenheit von Vertrautem auszumachen. „Erfahrung in diesem Sinne setzt vielmehr notwendig mannigfache Enttäuschung von Erwartungen voraus und nur dadurch wird Erfahrung erworben. … Nur durch negative Instanzen gelangt man zu neuer Erfahrung.“12
Anders Verstehen in kommunikativen Kontexten bedeutet zugleich auch, dass Verstehen nicht lediglich eine Adäquation an ein vom Sprecher bzw. Autor Gemeintes darstellt, sondern stets eine produktive Fortsetzung der Sinnlinie, die eine Verbindung zwischen dem Gemeinten und dem jeweils Verstandenen darstellt. Hier stellt sich die Frage, ob der Verstehensprozess nicht durch die willkürliche Herangehensweise des Verstehenden bestimmt ist, ob also für das Verstehen überhaupt Objektivität beansprucht werden kann. Sind es nicht bloß subjektive Vorurteile, welche den Verstehensprozess anleiten? Gadamer versteht Vorurteile jedoch nicht als beliebig-subjektivistische, sondern vielmehr als durch Tradition und Geschichte geprägte. Es geht ihm dabei um eine Rehabilitierung des in der Aufklärung negativ geprägten Vorurteilsbegriffs.13 Traditionen entstehen nicht durch unreflektiertes Festhalten an etwas Vorgeschriebenem, sondern dieses Festhalten ist ein aktives und begründetes. Mit der Aufwertung dieser weit weniger subjektiven Voraussetzungshaftigkeit kann Gadamer die Objektivität auch solcher Erfahrungen, die nicht durch naturwissenschaftliche Methodik abgesichert 12
13
WuM, S. 362. Hier lässt sich einwenden, dass dieser Erfahrungsbegriff sich nicht deckt mit dem gleichsam automatischen und orientierenden Verstehen von etwas. Beispielsweise verstehe ich ohne Probleme, was die Kassiererin meint, wenn sie mir die zu zahlende Summe nennt. Beiden Arten von Verstehen gemeinsam ist allerdings, dass ein Vorwissen die Voraussetzung für das Wahrnehmen und im weiteren Sinne das Verstehen von etwas ist. Nicht immer muss sich dieses Verstehen in einer Korrektur der Vormeinung erweisen. Das gilt eher für das Erfahren als Anstoß-Nehmen, das heißt für neue Erfahrungen und z.B. auch für eine Gruppe von experimentellen wissenschftlichen Erkenntnissen. WuM, S. 270ff.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
sind, behaupten. So ist zum Beispiel ein Geschichtsverständnis deshalb, weil es durch eine bestimmte Tradition und die aktuelle Situation des Verstehenden geprägt ist, nicht als willkürlich oder unzulänglich, sondern als objektiv zu bewerten. Objektivität ist dadurch gegeben, dass der zu verstehende Gegenstand in einer Kontinuität mit der Herangehensweise des Verstehenden steht. Als ein solches verbindendes Medium bezeichnet Gadamer die Wirkungsgeschichte, welche sowohl den historischen Gegenstand als auch das aktuelle Verständnis dieses Gegenstandes umfängt. Es kann kein aus dieser Wirkungsgeschichte herausgelöstes und gänzlich unabhängiges, zum Beispiel auch kein rein historisches, Verständnis geben. Das verbindende Element bzw. die strukturelle Gemeinsamkeit zwischen dem zu Verstehendem und dem Verstehenden stellt also die Wirkungsgeschichte dar, ein Begriff, der mehr umfasst als Tradition, Autorität oder das Klassische, insofern er auch über sie hinauszureichen vermag und Autorität selbst hier nicht mehr „Hörigkeit“ bedeutet.14 Der Verstehende ist durch die Wirkungsgeschichte in einer Einheit mit den Gegenständen des Verstehens begriffen. Er steht immer schon in einer bestimmten Tradition. Dass der Verstehende in seiner Bestimmtheit durch Tradition und Geschichte nicht befangen bleibt, drückt Gadamer mit dem Begriff der Horizontverschmelzung aus. Der Horizont des Verstehenden ist sein jeweiliger lebensweltlicher und geschichtlicher Hintergrund. Dieser wird im Akt des Verstehens nicht einfach verlassen, um sich beispielsweise in einen fremden, geschichtlich fernen Horizont hineinzuversetzen. Vielmehr ist er durch die Möglichkeit der Horizontverschmelzung in seiner grundsätzlichen Offenheit, das heißt Erweiterbarkeit gedacht. Die jeweiligen Kontexte des Verstehenden bedeuten keine Abgeschlossenheit, sondern können grundsätzlich transzendiert werden. Im Prozess des Verstehens können Vorverständnisse erfahren und auch distanziert werden.
14
Vgl. Georg Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, S. 52.
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DER VORGRIFF DES VERSTEHENS
„Horizont gewinnen meint immer, daß man über das Nahe und Allzunahe hinaussehen lernt, nicht um von ihm wegzusehen, sondern um es in einem größeren Ganzen und in richtigeren Maßen besser zu sehen.“15
In der Horizontverschmelzung wird sowohl die Partikularität des eigenen als auch die des historischen Horizontes überschritten auf ein Allgemeines hin, das beide Horizonte verbindet. Nicht der historische Horizont für sich, sondern jener, in dem beide Horizonte aufgehen, ist das Ziel des Verstehens. Deswegen spricht Gadamer von einem umfangenden Horizont. „Wenn sich unser historisches Bewußtsein in historische Horizonte versetzt, so bedeutet das nicht eine Entrückung in fremde Welten, die nichts mit unserer eigenen verbindet, sondern sie insgesamt bilden den einen großen, von innen her beweglichen Horizont, der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die Geschichtstiefe unseres Selbstbewußtseins umfaßt. In Wahrheit ist es also ein einziger Horizont, der all das umschließt, was das geschichtliche Bewußtsein in sich enthält.“16
Das heißt auch, dass für die Möglichkeit der Erweiterung und Verschmelzung von Horizonten der Entwurf auf einen gemeinsamen oder verbindenden unerlässliche Bedingung bleibt. Verstehen verlangt nach Teilhabe, nach dem Einbringen einer Erfahrung, in Form eines SinnVorgriffs. Die Abhängigkeit des Verstehens von einem inhaltlichen Vorgriff auf das zu Verstehende beschreibt Gadamer anhand der Dialektik von Frage und Antwort. Diese am Modell des Gesprächs gewonnene „analytische Grundfigur“ 17 beschreibt den semantischen Zusammenhang des Verstehbaren und des Vorverständnisses. Verstanden werden kann nur, was eine Antwort auf die durch den Verstehenden aufgeworfene und damit schon verständliche Frage darstellt. Umgekehrt bestimmt das Verstandene wieder den Sinnvorgriff des Verstehenden. Es muss also ein 15 16 17
WuM, S. 310. WuM, S. 309. Wolfgang Schneider, Objektives Verstehen: Rekonstruktion eines Paradigmas: Gadamer, Popper, Toulmin, Luhmann, S. 61f.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
gemeinsamer Sinnhorizont vorausgesetzt werden. Die Dialektik ist nicht nur dazu geeignet, eine allgemeine Voraussetzung für Verstehen zu kennzeichnen, sondern auch den Prozess des Verstehens selbst zu beschreiben. Das heißt für ein Fortschreiten dieses Prozesses, dass ein Verständnis dann erzielt ist, wenn verstanden worden ist, auf welche Fragen das zu Verstehende antwortet.18 Das Verstandene gibt Anlass zu neuen Fragen, die an den Gegenstand gerichtet werden. Jedes Verständnis ist wieder Stein möglichen Anstoßes und bestimmt den Fortgang des Verstehens. Das Modell von Frage und Antwort beschreibt das Verstehen als einen von einer Aktivität und inhaltlichen Teilhabe des Verstehenden getragenen Prozess. Der Vorgriff des Verstehens dient also nicht allein der Initiation eines Verstehensprozesses, um sich möglichst nah dem Gegenstand des Verstehens anzunähern. Eine solche Annäherung an einen objektiv gegebenen Gegenstand ist auch mit dem Begriff der Horizontverschmelzung nicht gemeint. Das Verstehen wird durch die vorgreifende Bewegung nicht nur angestoßen, sondern vielmehr dauerhaft bestimmt. Gadamer betont, dass jedes Verstehen notwendig eine Anwendung (Applikation) des zu Verstehenden auf die Situation des Verstehenden darstellt.19 Die Anwendung ist dabei kein Nebeneffekt, sondern stellt einen inneren Zug des Verstehens dar, der sich im notwendigen Neu- und Anders-Verstehen ausdrückt. Der Begriff der Anwendung erläutert also den produktiven Aspekt des Verstehens. Das zu Verstehende ist nicht unabhängig gegeben und erfährt im Verstehen lediglich eine Anwendung wie die eines vorgegebenen Allgemeinen auf eine konkrete Situation; vielmehr liegt seine Allgemeinheit in der möglichen Anwendung auf die jeweilige Situation.
18
19
„Das ist in der Tat das hermeneutische Urphänomen, daß es keine mögliche Aussage gibt, die nicht als Antwort auf eine Frage verstanden werden kann, und daß sie nur so verstanden werden kann.“ Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Phänomens, S. 226. WuM, S. 312ff.
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DIE SPRACHLICHE VERMITTELTHEIT DER ERFAHRUNG
„Applikation ist keine nachträgliche Anwendung von etwas gegebenem Allgemeinen, das zunächst in sich verstanden würde, auf einen konkreten Fall, sondern ist erst das wirkliche Verständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für uns ist.“ 20
Die Allgemeinheit des zu Verstehenden existiert also nicht außerhalb der Anwendung auf eine konkrete Verstehenssituation, sondern allein in dieser Anwendung selbst. Das heißt, dass sich der Gegenstand des Verstehens, da er anders gar nicht zu fassen ist, in einer Geschichte von Verständnissen, nämlich in einer Wirkungsgeschichte überhaupt erst konstituiert. Diese Verständnisse sind gleichwohl keine subjektiv-beliebigen, sondern stehen in einer wirkungsgeschichtlichen Kontinuität und sind insofern nicht als unabhängig voneinander zu begreifen. VII.2.4
Die sprachliche Vermitteltheit der Erfahrung Im Folgenden geht es um die Übertragung dieser allgemeinen Erkenntnisse über die Struktur des Verstehens auf die Wahrnehmung. In der Wahrnehmung handelt es sich nicht um das Verstehen von etwas sprachlich zu verstehen Gegebenem, sondern vielmehr um die Aufnahme sinnlicher Gehalte, das heißt auch um eine Situation, in der der wahrgenommene Gegenstand gleichgültig dagegen zu sein scheint, ob er verstanden wird oder nicht. Der Wahrnehmung die Struktur eines Verstehens zuzuschreiben, bedeutet also, eine ursprünglich kommunikative Situation auf die Wahrnehmungssituation zu übertragen. Diese Übertragung erklärt sich nicht allein durch die in der Wahrnehmung liegende Erkenntnisfunktion, welche eine aktive Beziehung des Wahrgenommenen auf die Belange des Wahrnehmenden, also auch eine Art Frage-Antwort-Struktur nahelegt.
20
WuM, S. 346. Gadamer erläutert anhand der Beispiele von Theologie und Jurisprudenz, dass der Gegenstand des Verstehens (die Verkündigung oder der Gesetzestext) seine normative Bedeutung in der Anwendung erst entfaltet. Vgl. WuM, S. 314 und 330ff. Diese Auslegung ist gleichwohl keine beliebige, sondern normativ insofern, als „das auslegende Tun sich vollständig an den Sinn des Textes gebunden hält“. WuM, S. 338.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
Gadamer vertritt vielmehr die grundsätzliche These, dass jede Erfahrung ursprünglich sprachlich vermittelt ist. Er erläutert die Sprachlichkeit jeden möglichen Verstehens zunächst anhand der Wirkungsgeschichte eines überlieferten Gegenstandes. Die Konkretion des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins, so Gadamer, ist die Sprache.21 Das Verstehen der sprachlich überlieferten Gegenstände ist selbst von der Sprachlichkeit des Verstehenden abhängig, von dem, was für ihn verstehbar oder schon verstanden ist. Ein selbst sprachlich verfasstes Verständnis richtet sich so auf einen ebenfalls sprachlich vermittelten Gegenstand. Umgekehrt kann auch der Gegenstand nicht anders gegeben sein als in den Verständnissen, die sich in seiner Rezeption bzw. in der Wirkungsgeschichte niederschlagen. Im Medium der Sprache verbinden sich also im eigentlichen Sinne die Darstellungsweise und das Verständnis eines Gegenstandes. Der sprachliche Ausdruck ist die Verkörperung der Kontinuität des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins. Nach Gadamer umgreift die Sprache die zu verschmelzenden Horizonte des Verstehens.22 Dass sprachlich verfasste Gegenstände nur im Medium der Sprache verstanden werden können, ist selbstverständlich. Nach Gadamer ist mit der Sprache jedoch alles, was erfahrbar und verstehbar ist, das heißt in einem umfassenden Sinne Welt erschlossen. Diese konstitutive Beziehung zwischen Sprache und Welt ist eine gegenseitige: Sprache kann es nur dort geben, wo es eine Erfahrungswelt sich verständigender Individuen gibt. „Nicht nur ist die Welt nur Welt, sofern sie zur Sprache kommt – die Sprache hat ihr eigentliches Dasein nur darin, dass sich in ihr die Welt darstellt.“23
21 22
23
WuM, S. 393. Gadamer zufolge wird mit dem Erschließen eines gemeinsamen Horizontes im Verstehen eine gemeinsame Sprache erarbeitet. WuM, S. 391. Gadamer spricht auch von einem „Welthorizont der Sprache“. WuM, S. 454. WuM, S. 447.
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DIE SPRACHLICHE VERMITTELTHEIT DER ERFAHRUNG
Es geht nun also nicht mehr nur um Texte oder die Rede eines anderen, sondern auch um wahrnehmbare Gegenstände im Allgemeinen. Gadamers bevorzugte Beispiele sind Kunstgegenstände; seine These gilt jedoch für alle möglichen wahrnehmbaren Gegenstände.24 Mit der Übertragung zentraler Züge des Verstehens sprachlich verfasster Überlieferung auch auf ästhetische Erfahrung beansprucht Gadamer eine universal-ontologische Struktur des Hermeneutischen: Nicht nur Texte, nicht nur gesprochene Worte sprechen zu uns, vielmehr ist die Sprache als universales Medium des Verstehens nach Gadamer zugleich auch die Sprache der Natur, die Sprache der Dinge.25 Das bedeutet, dass der Gegenstand und seine sprachliche Gegebenheitsweise sich nicht in dem Sinne voneinander trennen lassen, dass eines ohne das andere erkennbar wäre. Mit Emphase widerspricht Gadamer einem instrumentalistischen Sprachverständnis. Die Sprache ist seiner Ansicht nach nicht dazu geeignet, einen nichtsprachlichen Inhalt, so auch kein rein sinnlich Gegebenes, abzubilden oder wiederzugeben. Sie ist vielmehr das Medium, in 24
25
Hier lässt sich einwenden, dass die Rede von der Wahrnehmung von Kunstgegenständen genau das schon voraussetzt, was begründet werden soll: Dass nämlich die Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung bereits eine sprachliche Struktur besitzen. Es überrascht nicht, dass Kunstgegenstände innerhalb eines Diskussionskontextes, auch einer Rechtfertigungspraxis stehen, so dass sie als sprachlich vermittelte verstanden werden können. Diese scheinbare Einschränkung des Gegenstandsbereichs erklärt sich durch Gadamers Anliegen, eine Kritik der des ästhetischen Bewusstseins zu formulieren, welches historisch auf das Erleben von Kunst bezogen wurde. Gleichwohl lassen sich Gadamers Äußerungen über ästhetische Wahrnehmung verallgemeinern und auch auf die Wahrnehmung anderer Gegenstände übertragen: Wenn Gadamers Argumentation in Verbindung mit seinen allgemeinen wahrnehmungstheoretischen Überlegungen gesehen wird, gilt sie auch für die Wahrnehmung natürlich gegebener, das heißt nicht von vornherein sprachlich verfasster Gegenstände. Jede Wahrnehmung, nicht nur die Wahrnehmung von Kunst, beinhaltet ein Verstehen, ein Auffassen von etwas als etwas. Dieses Bedeutungshafte muss mit Gadamer im Kontext eines – nicht mehr subjektivistisch verstandenen – Selbstverständnisses des wahrnehmenden Subjektes verortet werden. Vgl. WuM, S. 478.
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dem sich ein Inhalt oder ein Gegenstand überhaupt erst als solcher konstituieren kann. So wie die Überlieferung ihre Wirkung ausspielt, insofern wir immer schon in ein Überlieferungsgeschehen involviert sind, spielen auch Gegenstände der Wahrnehmung ihre Wirkung aus, ohne dass sich der Wahrnehmende dieser Wirkung entziehen könnte. In der Wahrnehmung liegt also ein Moment der Passivität, das nicht als bloße sinnliche Rezeptivität gedacht ist, auf welche sich das Urteilsvermögen dann bezieht. Gegenstände sprechen den Wahrnehmenden an, da sie eine Bedeutung für ihn besitzen, noch bevor er sich aktiv urteilend zu ihnen verhält.26 Sie befinden sich bereits im Horizont einer Erschlossenheit, die nicht nur, in Heideggers Sinne, als Zuhandenheit, sondern mit Gadamer schon als eine sprachliche Erschlossenheit zu deuten ist. Wie lässt sich die starke und kontroverse Behauptung einer sprachlichen Vermitteltheit von Wahrnehmungsgehalten auch anhand von Gadamers Wahrnehmungsbegriffs plausibel machen? Ist es tatsächlich nachvollziehbar, dass sinnliche Gehalte selbst schon als sprachliche Gehalte aufzufassen sind? Ein Argument dafür liegt in der an den Anfang gestellten Aussage Gadamers, dass die Wahrnehmung wesenhaft auf Allgemeines geht. Diese Allgemeinheit erläutert Gadamer im Ausgang von der Wahrnehmung von Ähnlichem. Wenn in der Wahrnehmung eine Auswahl getroffen wird in Bezug auf das, was sie sieht oder was sie „zusammen sieht“ und wovon sie absieht, geht sie bereits nach Ähnlichkeit vor. Ähnlich erscheint uns zunächst, was eine Bedeutsamkeit für uns besitzt bzw. was uns vertraut ist. Auf einer höheren Stufe kann auch die Ähnlichkeit einer „Sacherscheinung“ erfahren oder wahrgenommen werden – beispielsweise beim Lesen von Texten. Da aber auch eine Sacherscheinung keine vom Verstehenden unabhängige ist, sondern sich erst durch die Bedeutsamkeit für den Verstehenden konstituiert, bleibt wahrgenommene Ähnlichkeit immer auf die Belange des Wahrnehmen-
26
Gadamer spricht von den „uns ansprechenden Inhalten der Welterfahrung“. WuM, S. 494.
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den bezogen. Diese Ähnlichkeit begründet die Allgemeinheit, welche in der Sprache ausgedrückt werden kann. „Wenn jemand eine Übertragung eines Ausdrucks vom Einen auf das Andere vollzieht, blickt er zwar auf etwas Gemeinsames hin, aber das muß keineswegs eine Gattungsallgemeinheit sein. Er folgt vielmehr seiner sich ausbreitenden Erfahrung, die Ähnlichkeiten – sei es solche der Sacherscheinung, sei es solche ihrer Bedeutsamkeit für uns – gewahrt.“27 „Können wir überhaupt sagen, dass das ein einmaliges Ereignis ist, in dem ein erstes Erkennen das Kind aus dem Dunkel des Unwissens herausreißt? Es scheint mir offenkundig, daß es so nicht ist.“28
Die Erkenntnisfunktion, welche die Wahrnehmung von Vertrautem ausmacht, ist immer schon wirksam, wenn etwas wiedererkannt oder benennend herausgegriffen wird. Sie wird nicht im Moment der Erinnerung oder sprachlichen Beschreibung erst aktiviert. Mit dem Erfassen von Allgemeinem ist also zumindest eine strukturelle Gemeinsamkeit zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten festgestellt. Ein weiteres Indiz für die sprachliche Struktur von Erfahrungsgehalten liegt in der Betonung Gadamers, dass die Erfahrung von selbst zum Ausdruck drängt. „Die Erfahrung ist nicht zunächst wortlos und wird dann durch die Benennung zum Reflexionsgegenstand gemacht, etwa in der Weise der Subsumtion unter die Allgemeinheit des Wortes. Vielmehr gehört es zur Erfahrung selbst, daß sie die Worte sucht und findet, die sie ausdrücken.“29
Nach Gadamers Sprachverständnis besteht kein einseitiges Abbildverhältnis zwischen der Sprache und dem in ihr Ausgedrückten. Gadamer führt diese These zu der Konsequenz, dass die sprachliche Struktur bereits zum Wesen des auszudrückenden Gegenstandes hinzugehört. Dies betrifft jeden möglichen Gegenstand der Erfahrung, so dass die 27
28 29
WuM, S. 433. Dieses Zitat behandelt zwar die Metaphorizität der Sprache, erläutert aber auch in weiterem Sinne die Begründung sprachlicher Allgemeinheit aus der Erfahrung. Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems, S. 229. WuM, S. 421.
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Sprache einen Einfluss auf das Erfahrbare selbst besitzen muss. Die Erfahrung ist dem sprachlichen Ausdruck nicht verschlossen, sondern ihm aufgrund dieser Struktur vertraut und dadurch zugänglich. Sinnliche Gehalte sind nicht als nichtsprachliche oder vorsprachliche Gehalte zu verstehen, so dass ihr sprachlicher Ausdruck gleich einem Zugriff von außen erfolgen müsste. Gadamer widerlegt damit auch explizit die naivempiristische Vorstellung, Begrifflich-Allgemeines würde durch Abstraktion aus besonderen Erfahrungsgehalten gewonnen werden.30 Gadamers Behauptung einer sprachlichen Struktur von Wahrnehmungsgehalten stellt gleichzeitig die Voraussetzung dar für die These, dass auch ästhetische Erfahrung Objektivität besitzt. Die Kritik des ästhetischen Bewusstseins und die Frage nach der Wahrheit von Kunst macht einen bedeutsamen Teil von Wahrheit und Methode aus. Gegen die scheinbare Unmittelbarkeit und Punktualität ästhetischer Erlebnisse setzt Gadamer die Kontinuität menschlichen Selbstverständnisses, dessen Einheit das Wahrnehmen als Erfassen von Bedeutungshaftem mitumfasst.31 Objektivität steht hier also für Vermittelbarkeit, die die Subjektivität und Diskontinuität ästhetischen Erlebens in Frage stellt. Gadamer zufolge lernt der Mensch im Erleben eines Kunstwerkes zugleich sich selbst und die ihn bestimmenden geschichtlichen Bedingungen zu verstehen. Damit sind auch ästhetische Urteile keine bloßen Geschmacksurteile, sondern innerhalb eines durch die Wirkungsgeschichte bestimmten gemeinsamen Sinnhorizontes zu verorten, der zugleich ein sprachlicher Horizont ist. Jeder Inhalt, so Gadamer, ist angewiesen auf Darstellung. Sowohl das künstlerisch Ausgedrückte als auch die diametral entgegengesetzte Methode der Wissenschaft bedarf eines Kontextes der Verständlichkeit und Rechtfertigung, welcher sprachlich vermittelt ist. Sprachliche Vermittlung ist hier nicht als Instrument eines
30
31
„Es ist selbstverständlich, daß die Besonderheit einer Erfahrung in solcher Übertragung ihren Ausdruck findet und keineswegs die Frucht einer Begriffsbildung durch Abstraktion ist.“ WuM, S. 433. Vgl. WuM, S. 101f.
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beliebigen Ausdruckswillens, sondern als mögliche Verständlichkeit innerhalb des gemeinsamen Sinnhorizontes gemeint. Umgekehrt rückt die Objektivität ästhetischer Erfahrung, als Vermittelbarkeit verstanden, in die Nähe der Objektivität der Wissenschaft. Dies begründet sich zum einen durch die an den Anfang gestellten Überlegungen zur Erkenntnisrelevanz der Wahrnehmung, zum anderen aber durch den Befund, dass jeder verstehbare Inhalt auf Darstellung und damit auf eine sprachliche Vermittelbarkeit angewiesen ist. Auf diese Weise kann der Gehalt sinnlicher Erfahrung von einer rein subjektiven Bestimmung gelöst werden. Die Behauptung einer ursprünglichen sprachlichen Vermitteltheit jeder Erfahrung scheint nun durch den Eindruck in Frage gestellt zu werden, dass die Sprache das Denken gleichsam beengt und seinem Ausdruck wie ein Fremdkörper im Wege steht. Diesem Einwand entgegnet Gadamer, dass Konventionen der Sprache stets zugleich Konventionen des Denkens sind.32 Wo sprachliche Konventionen zu überwinden sind, geht es darum, eingefahrene Denkweisen zu überwinden. Die Vernunft kann nicht von oben auf die Sprache herabschauen und von einem unabhängigen Standpunkt aus über ihre Eignung, ‚etwas‘ auszudrücken, urteilen. Daher kann die Sprache auch nicht als ein ihr äußeres Hindernis angeschaut werden, sondern vielmehr wie ein Spiegel der Vernunft selbst. Die Vernunft kann selbst nicht sprachlos urteilen. Daher sagt Gadamer über die Sprache: „Ihre Universalität hält mit der Universalität der Vernunft Schritt. … Die Sprache ist die Sprache der Vernunft selbst.“33 „Die eigene Sprachwelt, in der einer lebt, ist nicht eine Schranke, die die Erkenntnis eines ‚Ansichseins‘ verhinderte, sondern umfaßt grundsätzlich alles, wohinein sich unsere Einsicht zu erweitern und zu erheben vermag.“34
32 33 34
WuM, S. 405. WuM, S. 102ff. WuM, S. 450f.
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Sprache ist also nach Gadamer nicht starrer Ausdruck schon fertiger Gedanken, sondern vielmehr der Unvollkommenheit des Ausgedrückten selbst. In der Sprache findet erst die Vergegenwärtigung des Gedankens statt. „Weil unser Verstand das, was er weiß, nicht in einem denkenden Blick umfaßt, muß er jeweils das, was er denkt, erst aus sich herausführen und wie in einer inneren Selbstaussprache vor sich selbst hinstellen. In diesem Sinne ist alles Denken ein Sichsagen.“35
Da Gadamer also die Sprache als das allgemeine Medium des Erkennens herausstellt und in der Wahrnehmung notwendig eine Erkenntnisfunktion liegt, versteht er auch die Gehalte sinnlicher Wahrnehmung bereits als sprachlich vermittelte Gehalte. Gadamer vertritt damit eine Position der Vermittlung zwischen Wahrnehmung und Sprache. Dadurch, dass bereits die Wahrnehmung auf ein Allgemeines oder zumindest Ähnliches geht, muss sprachliche Allgemeinheit nicht auf einen mentalen Gegenstand jenseits der sinnlichen Erfahrung zurückgeführt werden, sondern kann sich auf die Wahrnehmungs- und Erfahrungsgehalte direkt beziehen. Zwischen Wahrnehmungsgehalten und sprachlichen Beschreibungen tut sich keine Kluft auf, sondern beide befinden sich innerhalb eines gemeinsamen Horizontes. Dieser Horizont ist bestimmt durch die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Verstehen. Was erfahrbar ist, ist sprachlich ausdrückbar, und sprachliche Bedeutung umgreift ihrerseits jede mögliche Erfahrung. Die Welt, in der wir leben und die wir wahrnehmen, ist eine sprachlich erschlossene Welt. Im Folgenden wird es darum gehen, ob Gadamer die sprachliche Vermitteltheit als ein einseitiges Bestimmungsverhältnis darstellt und somit zu einer nominalistischen Extremposition tendiert. Diese Frage fokussiere ich darauf, in welchem Maße Gadamer sprachliche Bedeutungen als konventionelle, das heißt aus einem Übereingekommensein heraus versteht.
35
WuM, S. 426.
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LEBENDIGER VOLLZUG UND KONVENTIONALITÄT DER SPRACHE
VII.2.5
Lebendiger Vollzug und Konventionalität der Sprache Mit der Betonung einer funktionalen Einheit von Erfahrung und Begriffsbildung wird die Annahme einer Kluft zwischen sinnlicher Erfahrung und sprachlicher Bezugnahme obsolet. Es stellt sich aber die Frage, ob Gadamer dabei nicht zu einem gegenteiligen – nominalistischen – Extrem tendiert, demzufolge Erfahrungsgehalte als propositionale und damit als immer schon sprachlich ausgedrückte Gehalte gelten müssen. Wenn sinnliche Erfahrung und Sprache derart nah beieinander liegen, scheinen auch Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil zusammen zu fallen. Nach Gadamer erfahren wir immer etwas als etwas. Dies lässt sich auch so verstehen, dass es sich dabei stets um ein Urteil darüber handelt, dass etwas so und so ist. Es ist allerdings nicht klar, ob der „als …“- Gehalt der Wahrnehmung tatsächlich immer schon ein Urteilsgehalt ist, oder ob damit eine „vorprädikative Zuhandenheit“ im Heideggerschen Sinne gemeint ist. Eine dritte Möglichkeit wäre, Gadamer lediglich in dem schwächeren, oben dargelegten Sinne zu interpretieren, dass sich Erfahrungsinhalte zu sprachlichem Ausdruck eignen und dazu drängen, ausgedrückt zu werden. Selbst wenn sie als prädikative Gehalte aufgefasst werden, könnte ihre Prädikativität auch als eine demonstrative wie beispielsweise „dieses Blau“ aufgefasst werden.36 Solche möglichen Auslegungen Gadamers legen nicht darauf fest, dass in der Erfahrung bereits ein propositionaler Gehalt gegeben sein müsste. Zunächst stelle ich jene Thesen Gadamers dar, die eine konventionalistische Erklärung sprachlicher Bedeutung und möglicherweise auch nominalistische Erklärung von Wahrnehmungsgehalten nahelegen. Sprachliche Bedeutung beschreibt Gadamer mit Aristoteles als ein
36
Wenn Erfahrungsgehalte als sprachliche Gehalte behauptet werden, kann diese These zweierlei beinhalten: Erfahrungsgehalte müssen nicht als propositionale Gehalte, sie können auch schlicht als begriffliche (prädikative) Gehalte aufgefasst werden, was mehr Spielraum für den urteilenden Bezug auf Erfahrungsgehalte offenlässt. Siehe zur McDowell- und Sellars-Lesart Kants S. 140ff. und zu McDowells Erklärung der Begrifflichkeit der Wahrnehmung S. 312f.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
„Übereingekommensein“ der menschlichen Gemeinschaft. Diese Übereinkunft ist „nicht eine Verabredung über ein Verständigungsmittel“37, denn eine solche Verabredung würde wieder der Sprache bedürfen, so dass ein unendlicher Regress entstünde. Vielmehr ist sie etwas, das über den Horizont dessen, worüber eine Verständigung möglich ist, noch hinausgeht. Gadamers Betonung auf der Unhintergehbarkeit der Sprache lässt Zweifel aufkommen, inwiefern ein Subjekt überhaupt noch Einfluss nehmen kann auf das, was es sprachlich auszudrücken gedenkt. Neben der Metapher stellt das Spiel eine Grundfigur dar, anhand derer Gadamer das Wesen der Sprache bestimmt. Was im Spiel zur Durchführung und Darstellung kommt, sind die Regeln des Spiels. Diese werden von den Spielern nicht zu einem dem Spiel äußeren Zweck erfunden, sondern stellen das Wesen des Spiels selbst dar. „Denn das Spiel hat ein eigenes Wesen, unabhängig von dem Bewußtsein derer, die spielen. Spiel ist auch dort, ja eigentlich dort, wo kein Fürsichsein der Subjektivität den thematischen Horizont begrenzt und wo es keine Subjekte gibt, die sich spielend verhalten. Das Subjekt des Spieles sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung. … Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt – es ist kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt.“38 „Der Spielende erfährt das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit.“39
Diese Perspektive Gadamers macht deutlich, dass die ausführenden Subjekte nicht das Spiel bestimmen, sondern vielmehr nur die Ausführenden einer übersubjektiven Wirklichkeit – der Regelhaftigkeit des Spieles – sind. Gadamer spricht von einem „Primat des Spieles gegenüber dem Bewußtsein des Spielenden“.40 Was ein Spiel als solches ausmacht, ist seine Regelhaftigkeit:
37 38 39 40
WuM, S. 435. WuM, S. 108f. WuM, S. 115. WuM, S. 110.
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LEBENDIGER VOLLZUG UND KONVENTIONALITÄT DER SPRACHE
„Die Regeln und Ordnungen, die die Ausfüllung des Spielraums vorschreiben, machen das Wesen eines Spieles aus.“41
Am Spiel erklärt Gadamer, dass eigentlich der Zuschauer es ist, der das Spiel so erfährt, wie es gemeint ist. Das heißt, dass die Regelhaftigkeit sich wesentlich aus dem Draufblick bestimmt.42 Damit ist die Negierung einer konstitutiven Rolle aktiver Subjekte für das Spiel pointiert. Diese Bestimmung des Spiels überträgt Gadamer auf die Sprache. Sprachliche Kommunikation wird nach dem Modell eines Gesprächs erklärt. Verstehen ist ein Ins-Gespräch- Kommen mit dem zu Verstehenden oder auch mit einem Text. Fragend wird der vom Verstehenden vorweggenommene Gegenstand hin- und her bewegt, verglichen und wieder konfrontiert. Das Gespräch, so Gadamer, führt über das Meinen der Gesprächsteilnehmer hinaus. In seinem Verlauf entfaltet sich der Gegenstand des Verstehens in einer Konsequenz, die die Konzeptionen sowohl des Verstehenden als auch die des Autors zu übertreffen vermag. Der Begriff der Wirkungsgeschichte fasst die Entfaltung solcher Konsequenzen zusammen. „Eine unserer geschichtlichen Existenz angemessene Hermeneutik würde die Aufgabe haben, diese Sinnbezüge von Sprache und Gespräch zu entfalten, die über uns hinwegspielen.“43
Die Sprache des Gesprächs birgt, wie der Verlauf des Spiels, ein Ordnungsgefüge, das, Gadamers Spielbegriff folgend, sich selbst und nicht das von den Sprechern bzw. Interpreten Gemeinte darstellt. Daher spricht Gadamer von einem Geschehenscharakter des Verstehens. Der 41 42
43
WuM, S. 112. Hier lässt sich einwenden, dass auch die Regelhaftigkeit des Spieles bzw. der Sprache nicht in der von Gadamer selbst kritisierten Vorhandenheit gesehen werden dürfte. Es müsste zum einen die erkennende Leistung der Zuschauer, zum anderen die aktive Leistung der Mitspieler erwähnt werden, die sich den Regeln nicht passiv ergeben, sondern diese anerkennen und anwenden. Vgl. Katrin Nolte, Verstehen und Interpretieren aus konstruktivistischer und hermeneutischer Sicht, S. 58. Gadamer: Was ist Wahrheit?, S. 56.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
Verstehende wird zugleich auch in ein Gespräch verwickelt. Er kann sich der sich ausspielenden Wirkung, wie in der sinnlichen Erfahrung, nicht entziehen. Die sich ausspielende Wirkung des Gegenstandes ist also von Voraussetzungen (welche durch die Teilhabe an einer Wirkungsgeschichte erläutert wurden) bestimmt, die eine mögliche Einflussnahme des Verstehenden noch übertreffen und somit auch sein Verständnis bestimmen. Der Verstehende kann sich aus dieser Situation nicht herausreflektieren und isoliert davon einen Inhalt, ein Gesagtes erfassen. Gadamers Kritik an einer subjektivistischen Auffassung des Verstehens führt nun dazu, dass die Autorität der ersten Person für die Konstitution sprachlicher Bedeutung außer Acht gelassen wird. So wie Gadamer das Wesen des Spiels vom Zuschauer her bestimmt, erklärt er auch Sprache und Verstehen anhand der konstitutiven Rolle des Interpreten und der allgemeinen Voraussetzungen des Verstehensprozesses. Auch wenn Gadamers Kritik an einer instrumentalistischen Sprachauffassung und insofern auch an einer subjektivistischen Auffassung von Verstehen und Meinen einleuchtend ist, scheint seine Darstellung auf eine stark konventionalistische Erklärung sprachlicher Bedeutung hinauszulaufen. Die Beachtung der Tatsache, dass wir die Sprache nicht distanzierend betrachten können, sondern immer schon involviert in Sprachlichkeit sind, lässt Gadamer völlig davon absehen, dass die Sprache von aktiven Sprechersubjekten gesprochen und dadurch geprägt wird. Gadamer geht es nicht nur darum, den lebensweltlichen Hintergrund und die Sprachlichkeit als notwendige Bedingungen jedes Verstehens herauszustellen, sondern seine Betonung liegt auf dem Immerschon-Gegeben-Sein dieser Bedingungen. Mit diesem Gewicht auf der Konventionalität ist aber zugleich Gadamers Behauptung einer mit der Horizontverschmelzung verbundenen Transzendierung der je eigenen Kontexte in Frage gestellt: Es scheint, als blieben die Subjekte auf die Bedingungen zurückgeworfen und könnten selbst kaum auf den Verstehensprozess Einfluss nehmen. Oder, bildlich gesprochen, als würde
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die Verschmelzung der Horizonte automatisch ablaufen und die zu verschmelzenden Standpunkte in dieser Bewegung gefangen sein. Um einer Subjektivität und Willkür des Verstehens zu widersprechen, scheint Gadamer auf allzu radikale Weise die Involviertheit in Sprache als ein passives Geschehnis zu deuten. Zwar ist das Einbringen eines Vorverständnisses notwendige Voraussetzung für das In-GangKommen eines Verstehensprozess, doch der sich dabei „ausspielende“ Sinn wird vorrangig aus einer übersubjektiven Wirksamkeit und aus einer Sprachlichkeit heraus erklärt, die die Horizonte des Autors und des Verstehenden noch umfängt. Es stellt sich also die Frage, ob das Vorverständnis nicht weniger passiv und vielmehr aktiv eingebracht werden müsste, damit Verstehen in Gang kommen und eine Horizontverschmelzung stattfinden kann. Wird dieser Einsatz nicht zugleich für nichtig erklärt? Die von Gadamer genannten Bedingungen des Verstehens scheinen nicht mehr die eines lebendigen Vollzugs zu sein, sondern immer schon festgesetzte. Aufgrund seiner nichtinstrumentalistischen Sprachauffassung hat Gadamer insbesondere die Sedimentierung der Art und Weise sprachlicher Verständigung im Auge. Wie aber kann es dazu kommen, dass Konventionen des Meinens sich festsetzen, wenn das Meinen selbst so weit aus dem Mittelpunkt der sprachlichen Verständigung gerückt ist? Angesichts des sedimentierten Anteils spachlicher Bedeutungen scheint Gadamer die Leistung sprachlicher Welterschließung nicht als eine aktive Leistung einzelner Sprecher deuten zu können. So kommt er zu der Aussage, dass „die Sprache uns spricht“. 44 In dieser Aussage klingt unmittelbar Heideggers zur Sprache gewendete Seinsphilosophie und sein: „Die Sprache spricht“ an. „Entsprechend ist auch hier nicht von einem Spielen mit der Sprache oder mit den uns ansprechenden Inhalten der Welterfahrung oder Überlieferung die Rede, sondern von dem Spiel der Sprache selbst, die uns an-
44
WuM, S. 467.
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spricht, vorschlägt und zurückzieht, fragt und in der Antwort sich selbst erfüllt.“45
Die Kompetenz der Sprecher rückt damit aus dem Blickfeld der Gadamerschen Betrachtung und wird geradezu negiert, weil ihre Benutzung von Sprache passivisch gedeutet wird. Diese passivische Deutung folgt offenbar aus der Kritik an einem instrumentalistischen Sprachverständnis und der damit verbundenen Subjektivität des Meinens. Die Vorgehensweise der Sprache kann nicht distanziert und zum Gegenstand gemacht werden. Dies begründet Gadamer mit der Unhintergehbarkeit, die er der Sprache aufgrund ihrer Universalität zuspricht. Demnach gibt es keine nichtsprachliche Perspektive. Das, was den Verstehenden zwingt, eine Überlieferung bzw. einen Text in seiner Geltung anzuerkennen, ist die tragende Gemeinsamkeit einer schon geteilten Sprache und einer bereits erschlossenen Welt. „Es [das Sinnvolle, Anm. d. V.] bringt sich zur Geltung und hat immer schon von sich eingenommen, bevor einer sozusagen zu sich kommt und den Sinnanspruch, der an ihn ergeht, zu prüfen vermag. … Wir sind als Verstehende in ein Wahrheitsgeschehen einbezogen und kommen gleichsam zu spät, wenn wir wissen wollen, was wir glauben sollen.“46
45 46
WuM, S. 494. WuM, S. 494. Es ist hier nicht der Ort, eine Kritik an diesem Gedankengang weiter auszuarbeiten. Pointiert geäußert wurde sie z.B. von Geert Keil: „‚Unhintergehbar‘ ist die natürliche Sprache nur als ganze, nicht aber jedes einzelne ihrer Sprachspiele.“ Sonst wäre, so die Argumentation Keils, auch die Forderung nach einer grundsätzlichen Erläuterbarkeit sprachlichen Sinns nicht möglich. Die Erläuterbarkeit aber ist in einer natürlichen Sprache, ohne einer Metasprache zu bedürfen, schon eingebaut. „Wir können Teile der Sprache benutzen, um über andere Teile zu reden.“ Keil, Sprache, S. 559. „Man darf den Sprachtranszendentalismus nicht im Sinne des Sprachdeterminismus mißverstehen. ‚Unhintergehbar‘ mag die Sprache als ganze sein, partiell bleiben ihre Kategorisierungen stets revidierbar. Die Grenzen unserer Sprache mögen die Grenzen unserer Welt sein, unverrückbar sind sie nicht. Ebd., S. 563. Vgl. auch Hans Ineichen, Philosophische Hermeneutik, S. 196: „Es ist zwar richtig, daß wir im Sprechen üblicherweise auf das gerichtet sind, worüber wir sprechen, und nicht auf das Sprechen selbst. Aber wir können un-
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Das eigentlich Verbindliche im Verstehen ist Gadamer zufolge nicht der von den Sprechern vertretene und im Gespräch mitgeteilte Sinnanspruch, sondern es ist das Vorgängige und Unbewusste, das im besten Fall noch bewusst gemacht werden kann, als das deutlich-Werden und die Distanzierung von Vorurteilen. Es sind nicht mehr die Sprecher, welche einen Anspruch auf Gültigkeit vertreten, sondern der Sinn des Ausgesagten macht sich beim Verstehenden geltend. Was den Maßstab für das Verstehen darstellt und letztlich für seine Objektivität bürgt, liegt nach Gadamer außerhalb des Meinens der Sprecher. Weder umfasst der Autor mit seinem Bewusstsein den vollen Sinn des von ihm Gesagten, noch kann der Rezipient oder Verstehende sich vorgängig der Bedingungen bewusst werden, die sein Verstehen eigentlich bestimmen. Zwar kommt es nach Gadamer zu einer Begegnung der Vormeinung mit dem zu Verstehenden, die eine Annäherung bzw. Verschmelzung der Horizonte bewirkt; doch scheint die Teilhabe des Verstehenden am Sinn des Ausgesagten, ja selbst dessen Anwendung auf den Kontext des Verstehenden, letztlich eine passive zu bleiben. Sinn und Sprache werden von Gadamer wie etwas Vorfindliches dargestellt. Der Sinn wird gar zu einer über Endlichkeit und Vergänglichkeit erhabenen Sphäre erklärt.47 Die Sinnbezüge liegen „offenbar“48. Nicht nur, dass die Welt eine immer schon sprachlich erschlossene ist – so lässt sich Gadamers konventionalistische Position zuspitzen – der Prozess der Erschließung hat sich gleichsam hinter dem Rücken der Sprecher abgespielt.49
47
48 49
sere Aufmerksamkeit auf die Wörter, die Sätze bzw. ihren Sinn selbst richten, etwa, wenn wir nachfragen, was jemand gesagt hat, oder wenn wir nach dem Sinn seiner Ausdrücke selbst fragen.“ WuM, S. 394: „Schriftliche Überlieferung ist nicht ein Teilstück einer vergangenen Welt, sondern hat sich immer schon über dieselbe erhoben in die Sphäre des Sinnes, den sie aussagt.“ Vgl. WuM, S. 491. An diesem Punkt setzen zahlreiche Kritiken an. „Die sprachpragmatische Philosophie von Peirce bis Apel hat überzeugend dafür argumentiert, daß wir uns den Prozeß der sprachlichen Welterschließung als eine aktive, von Sprechern erbrachte Leistung vorzustellen haben – vielleicht nicht des einzelnen
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
Was bedeutet diese konventionalistische Deutung sprachlicher Bedeutung für die Auffassung sinnlicher Gehalte? Ebensowenig wie Sprecher einen aktiven Einfluss auf das von ihnen Ausgedrückte zu nehmen vermögen, kann auch der Gehalt sinnlicher Wahrnehmung die in der Sprache festgesetzten „Konventionen des Meinens“ nicht durchbrechen. Damit soll nicht die von Gadamer kritisierte Subjektivität und Nichtvermittelbarkeit sinnlicher Gehalte behauptet werden. Doch die Sprecher von Sprache sind zugleich auch die Subjekte von Erfahrungen, folglich müssen sie auch jene potentiellen Sprecher sein, die diese Erfahrungen zur Sprache bringen können. Sie stellen also denjenigen Ort dar, an dem jenes von Gadamer beschriebene Drängen der Erfahrung zum sprachlichen Ausdruck stattfindet, an der also auch sinnliche Erfahrung bestimmend für sprachliche Bedeutung sein kann. In den Kapiteln I.1 und V.1 habe ich dargelegt, dass mit der Überwindung einer Gegenstandstheorie der Bedeutung der Gebrauch von Sprache, mithin auch der Gebrauch in Wahrnehmungssituationen, als konstitutiv für sprachliche Bedeutung aufzufassen ist. Wenn dieser Gebrauch aber hauptsächlich bestimmt wird durch die in sprachlichen Ausdrücken sedimentierten „Konventionen des Meinens“, gibt es keinen Raum mehr für Verwendungsweisen, in denen Erfahrungen im Sinne von etwas Neuem, Unvorhergesehenem, ausgedrückt werden. Es findet sich kein Ort für den Anstoß oder Impuls zu einer kreativen Verwendung oder Sprachschöpfung. Ebensowenig wie dem aktiven Gebrauch durch Sprechersubjekte kann auch der sinnlichen Wahrnehmung ein Potential an Kreativität innerhalb der Sprachverwendung zugestanden werden, wenn sprachlicher Vollzug die bereits etablierten Bedeutungszusammenhänge prinzipiell nicht zu durchbrechen vermag. Wahrnehmungsgehalte, die mit Gadamer als bereits sprachlich erschlossene aufzufassen sind, stellen sich dadurch als immer schon ausgedrückte Gehalte dar. Jeder WahrSprechers, auch nicht allein der aktuellen Sprechergemeinschaft, aber doch einer Folge von historischen Sprechergemeinschaften, die niemals abgeschlossen ist.“ Vgl. Keil, a. a. O., S. 563.
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LEBENDIGER VOLLZUG UND KONVENTIONALITÄT DER SPRACHE
nehmungsgehalt lässt sich dann auf ein entsprechendes Urteil, dass p, zurückführen. Aus dieser Sicht werden Wahrnehmungsgehalte mit Gehalten möglicher Urteile identifiziert.50 Die konventionalistische Interpretation lässt Gadamer also in die Nähe der im Kapitel V umrissenen nominalistischen Extremposition rücken. Gleichwohl sprechen Gadamers eigene Aussagen explizit gegen eine solche nominalistische Interpretation. Der nominalistischen Extremposition zufolge würden einzelne sinnliche Eindrücke als Instanziierungen allgemeiner Eigenschaften, das heißt in Abhängigkeit von Prädikation aufgefasst werden. Gadamer zufolge besteht jedoch der Gebrauch allgemeiner Ausdrücke gerade nicht in einer Subsumtion von Einzelfällen unter ein Allgemeines: „Aber der Gebrauch der gewohnten Worte entspringt nicht dem Akte einer logischen Subsumtion, durch den ein Einzelnes unter das Allgemeine des Begriffs gebracht würde.“51 „Daß Sprechen, auch wenn es eine Unterordnung des jeweils Gemeinten unter die Allgemeinheit einer vorgegebenen Wortbedeutung enthält, nicht als die Kombination solcher subsumierenden Akte zu denken ist, durch die jeweils ein Besonderes einem allgemeinen Begriff untergeordnet wurde, liegt auf der Hand. … Das bedeutet aber umgekehrt, daß sich der allgemeine Begriff, der durch die Wortbildung gemeint wird, selber
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51
Ich entferne mich hier von Gadamers Begrifflichkeit. Für Gadamer spielen das Urteil und die in ihm behaupteten propositionalen Gehalte keine zentrale Rolle in der Theorie sprachlicher Bedeutung. Für die Verifizierbarkeit eines Aussagesatzes als isolierter Bedeutungseinheit ist zum einen die von ihm kritisierte Ontologie der Vorhandenheit, zum anderen methodische Nachvollziehbarkeit grundlegend. Aufgrund des Zusammenhangs der Rolle des Aussagesatzes mit dem Methodenideal der Wissenschaften, dessen Vormachtstellung Gadamer angreift, behauptet er im Gegenzug das Primat der Frage vor dem Aussagesatz. Vgl. Gadamer, Was ist Wahrheit?, S. 52. Die propositionalen Gehalte sind jedoch auch mit der Frage schon erschlossen, sonst wäre die Antwort der Aussage nicht verständlich. Ich verstehe Gadamers Einwände gegen die zentrale Stellung des Aussagesatzes als Betonung eines semantischen Holismus von behauptbaren Gehalten. WuM, S. 407.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
durch die jeweilige Sachanschauung bereichert, so daß am Ende mitunter eine neue, spezifische Wortbildung entsteht, die dem Besonderen der Sachanschauung besser gerecht wird.“52
Damit spricht Gadamer selbst der Anwendung von Begriffen ein sprachschöpferisches und begriffsbildendes Potential zu. Die Konstitution von Allgemeinem in der Anwendung sprachlicher Begriffe nennt Gadamer die wesenhafte Metaphorizität der Sprache.53 Metaphorische Ausdrücke sind seiner Ansicht nach keine Randphänomene, sondern das darin liegende Potential an Sprachschöpfungen widerspiegelt die grundsätzliche Funktionsweise der Sprache mehr als der sogenannte „eigentliche“ Sinn der Worte. Der Hinblick auf das Gemeinsame ist in allgemeinen Ausdrücken nicht schon festgelegt, sondern liegt im Gebrauch, wie beispielsweise in der „uneigentlichen“ Verwendungsweise einer innersprachlichen Übertragung, die zu beschreibende Gemeinsamkeiten allererst aufdeckt. Diese Charakterisierung bedeutet, dass auch das Zusammensehen in der Erfahrung nicht das Ergebnis, sondern vielmehr der Anlass für die Anwendung eines Begriffes ist. Aufgrund dieser Offenheit der Sprache können auch sinnliche Erfahrungen auf eine Art in die Sprache eingehen, die nicht als Subsumtion unter einen allgemeinen Begriff verstanden werden soll. Das Suchen nach Gemeinsamkeiten, in der Form sprachlicher Übertragung oder als Ausmachen von Ähnlichkeiten, ist eine strukturelle Gemeinsamkeit von Sprache und Erfahrung, jene Gemeinsamkeit, die ein in der Erfahrung liegendes
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WuM, S. 432. WuM, S. 433f. Hier klingt unmittelbar auch Nietzsches Sprachkritik an. Gegen eine universalienrealistisch verstandene Referenztheorie der Bedeutung betont Nietzsche die Metaphorizität und Konventionalität sprachlicher Begriffe. Allerdings fasst Nietzsche im Gegensatz zu Gadamer die Sprache nicht als unmittelbaren Ausdruck von Erfahrung, sondern vielmehr als notwendig verfremdende Übertragung individueller Begriffsschöpfungen „in eine ganz andere Sphäre“ auf. Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, S. 878f.
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LEBENDIGER VOLLZUG UND KONVENTIONALITÄT DER SPRACHE
Suchen nach sprachlichem Ausdruck ermöglicht.54 Die wesenhafte Metaphorizität der Sprache stellt also nicht nur ein Argument für die sprachliche Vermittelbarkeit sinnlicher Gehalte, sondern gleichzeitig auch gegen eine nominalistische Deutung dieses Vermittlungsverhältnisses dar. Auch Gadamers Bestimmung der Erfahrung spricht gegen eine nominalistische Interpretation: Die Erkenntnisleistung, das heißt das Erfassen von Allgemeinem, wird durch die Erfahrung selbst erbracht und liegt nicht in den bereits konstituierten sprachlichen Bedeutungen. Mit dem sprachlichen Zugriff auf Erfahrung, so Gadamers Betonung, werden nicht Einzelfälle unter allgemeine Begriffe gebracht, deren Bedeutung bereits feststehend wäre. Die Besonderheit einer Erfahrung wird also von Gadamer nicht darauf reduziert, exemplarischer Einzelfall eines Allgemeinen zu sein. „Es ist selbstverständlich, daß die Besonderheit einer Erfahrung in solcher Übertragung ihren Ausdruck findet und keineswegs die Frucht einer Begriffsbildung durch Abstraktion ist. Es ist aber ebenso selbstverständlich, daß auf diese Weise Erkenntnis des Gemeinsamen gleichsam eingebracht wird.“55
Vielmehr stellt die Erfahrung selbst bereits ein Suchen nach sprachlichem Ausdruck dar.56 Der sinnliche Gehalt einer Erfahrung kann also nicht als sprachlich in dem Sinne gelten, dass er ein bereits ausgedrückter wäre und bestehenden Allgemeinbegriffen nur unterzuordnen wäre. Die Erkenntnisfunktion der Erfahrung drückt sich gerade im Erfassen
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Vgl. zur Argumentation Gadamers für die sprachliche Vermitteltheit der Erfahrung S. 281f. WuM, S. 433. Wie bereits oben zitiert: „Die Erfahrung ist nicht zunächst wortlos und wird dann durch die Benennung zum Reflexionsgegenstand gemacht, etwa in der Weise der Subsumtion unter die Allgemeinheit des Wortes. Vielmehr gehört es zur Erfahrung selbst, daß sie die Worte sucht und findet, die sie ausdrücken.“ WuM, S. 421.
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GADAMERS POSITION DER VERMITTLUNG
von Allgemeinem und im Suchen und Setzen sprachlicher Bedeutungen aus. Es findet sich also innerhalb von Gadamers Position ein Widerspruch: Auf der einen Seite erklärt Gadamer sprachliche Bedeutung aus der Konventionalität solcher Vollzüge heraus, die jeglicher aktiven Einflussnahme von Subjekten entzogen zu sein scheint, die Erfahrungen machen und diese ausdrücken. Es sind keine aktiven Sprechersubjekte, die an der Konstitution und Veränderung sprachlicher Bedeutung beteiligt sind, sondern ihre Subjektivität wird von der Konventionalität instituierter Bedeutungen prinzipiell übertroffen. Auf der anderen Seite betont Gadamer gerade den aktivischen Charakter sprachlicher Vollzüge und die Offenheit der Sprache zur Erfahrung.57 Die Frage bleibt aber, wer das Subjekt solcher Erfahrung und ihres sprachlichen Ausdrucks ist, oder ob die Erfahrung im sprachlichen Ausdruck selbst eine Art Subjekt wird. Obwohl also Gadamer von einer zur Sprache drängenden Erfahrung spricht, die nicht als Subsumtion unter allgemeine Begriffe aufgefasst werden soll, scheint seine antiinstrumentalistische und gleichzeitig stark konventionalistische Erklärung sprachlicher Bedeutung in der Konsequenz seiner eigentlichen These im Wege zu stehen. Dieser Widerspruch ist meines Erachtens im Gadamerschen Ansatz selbst zu verorten und innerhalb desselben nicht zu lösen. Gadamers Philosophie stellt einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der Vermitteltheit sinnlicher und sprachlicher Gehalte und insofern eine deutliche Gegenposition zur Behauptung einer Kluft zwischen Wahrnehmung und Sprache dar. Dennoch findet sich bei Gadamer auch eine Tendenz zur nominalistischen Extremposition, welche sich durch eine konventionalistische Erklärung und die fehlende Möglichkeit eines Einflusses sinnlicher Gehalte auf die Konstitution sprachlicher Bedeutung auszeichnet.
57
Vgl. WuM, Abschnitt III.2.c „Sprache und Begriffsbildung“, S. 432ff.
296
VII.3
Fazit: Der Wahrnehmungsbegriff Heideggers und Gadamers
Mit der Betonung der Erkenntnisfunktion der Wahrnehmung überwinden Gadamer und Heidegger den Vorstellungsatomismus klassischer Wahrnehmungstheorien. Wahrnehmung erfasst immer schon Allgemeines, indem sie das Wahrgenommene aufgliedert, Vertrautes hervorhebt und von etwas absieht. Im Anschluss an die Kritik einer Ontologie der Vorhandenheit lehnen beide einen Wahrnehmungsbegriff ab, welcher von einem bloßen sinnlichen Aufnehmen von Gegebenem, das heißt von der Abwesenheit erkenntnisrelevanter Bezüge in einer ‚reinen Wahrnehmung‘ ausgeht. Wahrnehmungsgehalte werden auch nicht als zunächst verworren und undifferenziert beschrieben, wie von Aristoteles oder innerhalb des klassischen Empirismus. Ebensowenig stellt das Wahrgenommene eine Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke dar, welche der begrifflichen Synthesis des Verstandes bedarf, um eine Erkenntnis von Gegenständlichem zu sein, sondern die Wahrnehmung weist von sich aus bereits eine erkenntnisrelevante Struktur auf. Der Wahrnehmungsbegriff Heideggers und Gadamers markiert damit einen Paradigmenwechsel.1 Sehen ist immer schon ein Gegen-
1
Die Rede von einem Paradigmenwechsel ist insofern anfechtbar, als wir z.B. auch bereits bei Kant und insbesondere auch bei Husserl die Betonung finden, dass in der Wahrnehmung bereits die Verbindung einer Vielheit möglicher Perspektiven und dadurch erst ein Gegenstandsbezug hergestellt wird. Dennoch markiert gerade die Hermeneutik eine Wende, insofern sie durch die Untersuchung der Wahrnehmungsstrukturen selbst und nicht in erster Linie aus einem erkenntnistheoretischen Interesse heraus zu diesen Erkenntnissen kommt. Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode setzt bei der Untersuchung der Funktionsweise ästhetischer Wahrnehmung an, um den Verstehenscharakter der Wahrnehmung als hermeneutisches Phänomen zu universali-
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HERMENEUTIK ALS VERMITTLUNGSPOSITION
stands-Sehen. Es kann demnach nicht auf der Basis eines bloßen Aufnehmens von Umwelteigenschaften und unabhängig von seiner Erkenntnisfunktion erklärt werden. In der Kritik an der Ontologie der Vorhandenheit liegt zugleich der Widerspruch gegen die Annahme einer positivistischen, isolationistischen Datenbasis der Erfahrung. Nach Heidegger ist nicht Vorhandenheit, sondern die Zuhandenheit wahrgenommener Gegenstände, das heißt die ursprüngliche Bezogenheit von Wahrnehmungsgegenständen auf eine Bewandtnisganzheit fundamental. Heidegger versteht diese Bezogenheit als vorprädikative Erschlossenheit. Daher ist Heidegger zufolge auch die orientierende Wahrnehmung bereits eine erkennende Wahrnehmung, ein Auffassen als etwas. Was ausgelegt und in einem Urteil ausgesagt werden kann, muss notwendig aus dieser ursprünglichen Erschlossenheit schöpfen. Das heißt, dass nach Heidegger auch die prädikative Bestimmung eine abgeleitete Form existentialhermeneutischen Verstehens darstellt. Im Unterschied zu Heidegger deutet Gadamer unter dem Titel einer „philosophischen Hermeneutik“ die ursprüngliche Erschlossenheit von Seiendem selbst bereits als eine sprachliche Erschlossenheit. Dabei sieren und damit auch den Methodencharakter wissenschaftlichen Vorgehens noch einzuholen. Auch die Gestaltpsychologie der 30er Jahre und die Symboltheorie, wie sie z.B. Susanne K. Langer in den 40er Jahren entwickelt, betonen die Abstraktion, das notwendige Erkennen von Formen im Sehen. Die symbolische Repräsentation verbindet das Feld des Sinnlichen mit der Sprache, insofern hier bereits ein vorsprachlich-Begriffliches konstituiert wird. Gleichwohl stellt das Symbolische wieder eine Instanz dar, die sich zwischen sinnliche und sprachliche Gehalte stellt, insofern sie sich als simultane Repräsentation von der diskursiven Repräsentation (der Sprache) unterscheidet und ihrem Ausdruck auch verschließt. Ganz im Sinne des tradierten Dogmas betont Langer, dass diskursive Symbole „in erster Linie den Charakter der Allgemeinheit“ besitzen, während der nichtdiskursive Symbolmodus „zuerst und hauptsächlich eine unmittelbare Präsentation eines Einzeldinges ist“. Vgl. Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, S. 102.
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FAZIT: DER WAHRNEHMUNGSBEGRIFF HEIDEGGERS UND GADAMERS
wird Sprache von Gadamer als eine dem Zugriff des Subjekts immer schon entzogene und gleichzeitig den möglichen Gebrauch von sich aus bestimmende Instanz interpretiert. Diese stark konventionalistische Deutung von Sprache deutet auf einen extrem-nominalistischen Zug hin, das heißt auf ein als rein sprachlich bestimmt aufgefasstes Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Es stellt sich die Frage, an welchem Ort, wenn nicht im aktiven Gebrauch von Sprache durch kompetente Sprecher, das von Gadamer betonte Suchen der Erfahrung nach sprachlichem Ausdruck stattfinden und in die Konstitution sprachlicher Bedeutung einfließen kann. Die aus der konventionalistischen Erklärung sprachlicher Bedeutung resultierende extrem-nominalistische Tendenz bei der Erklärung der Vermittlung sinnlicher und sprachlicher Gehalte widerspricht Gadamers Betonung auf der Offenheit der Sprache zur Erfahrung. Diesen Widerspruch habe ich innerhalb von Gadamers Ansatz verortet und insofern ungelöst gelassen. Hervorzuheben ist die sowohl von Heidegger als auch Gadamer betonte Erkenntnisleistung sinnlicher Erfahrung für das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten: Auch Gadamer zufolge ist es nicht prädikative Allgemeinheit, welche die Einzelheit von Erfahrungsgegenständen unter einen Begriff zwängt – denn Allgemeinheit besitzt auch schon das als vertraut und in seiner jeweiligen Bewandtnis Erfasste. Ausschlaggebend dafür ist, dass Erfahrungsgehalte nicht als einzelne, sondern bereits als allgemeine, das heißt als ähnliche, wiedererkennbare, aufgefasst werden. Gadamer betont, dass Wahrnehmung ein Verstehen darstellt, ein Erkennen von Bedeutsamem und insofern auch ein Hervorheben und Wiedererkennen allgemeiner Eigenschaften. Aufgrund dieser Struktur drängt das Erfahrene von sich aus zum sprachlichen Ausdruck.2 Da der sprachliche Zugriff keine der sinnlichen Erfahrung gegenüber äußere
2
Vgl. die bereits auf S. 281 und S. 293 angeführten Zitate aus WuM, S. 407, 421, und 432f.
299
HERMENEUTIK ALS VERMITTLUNGSPOSITION
Instanz darstellt, kann er auch nicht mit einer Entfremdung sinnlicher Gehalte verbunden sein. Das Individuelle einer sinnlichen Erfahrung ist nach Heidegger und Gadamer der Allgemeinheit sprachlichen Ausdrucks nicht kategorial vorgeordnet; vielmehr werden Einzelheit und Allgemeinheit als sich ergänzende sprachliche Funktionen aufgefasst, während die Wahrnehmung selbst immer schon Gleichartigkeit erfasst. Diese Gleichartigkeit kann sprachlich ausgedrückt, das heißt prädikativ bestimmt werden, ohne dass diese Bestimmung einseitig auf bereits konstituierte sprachliche Bedeutung zurückgeführt werden müsste. Es handelt sich vielmehr um eine strukturelle Entsprechung, so dass sprachliche Allgemeinheit gleichzeitig auch als wahrgenommene Gleichartigkeit verstanden werden kann. Gadamer fasst diese Gleichartigkeit von Wahrnehmungsgegenständen selbst bereits als eine sprachlich erschlossene auf. Heidegger unterscheidet zwar die Allgemeinheit vorprädikativer Erschlossenheit von sprachlicher Allgemeinheit, insofern letztere die Gegenstände in ihrer prädikativen Bestimmung isoliert und aus dem ursprünglichen Verweisungszusammenhang herauslöst, gleichwohl erlaubt gerade Heideggers Zuschreibung einer begrifflichen Struktur der Wahrnehmung, dass diese Struktur sprachlich ausgedrückt werden kann. Obwohl weder Heidegger noch Gadamer die klassische Urteilstheorie und die damit verbundene Gegenstandstheorie der Bedeutung als solche kritisch überwinden, sondern stattdessen die Aussage selbst als nur untergeordnetes Phänomen aus der Erklärung sprachlicher Bedeutung verdrängen3, wenden sie sich gegen den Atomismus jener Wahrnehmungstheorien, die systematisch mit einer Synthesistheorie des Urteils verknüft sind. Wahrnehmung wird von beiden in einer Weise verstanden, die es erlaubt, die Konstitution sprachlicher Allgemeinheit nicht mentalistisch oder universalienrealistisch, sondern aus dem Gebrauch von Begriffen, das heißt auch aus der Art und Weise unserer 3
„Die Sprache vollzieht sich nicht in Aussagen, sondern als Gespräch.“ Gadamer, Grenzen der Sprache, S. 98. Vgl. auch WuM, S. 457.
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FAZIT: DER WAHRNEHMUNGSBEGRIFF HEIDEGGERS UND GADAMERS
Wahrnehmung heraus zu erklären. Problematisch für das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten bleibt eine allzu konventionalistische Deutung dieses Gebrauchs, wie sie sich bei Gadamer findet.
301
302
VIII
LÖSUNGSANSATZ: MCDOWELL
303
VIII.1
Wahrnehmung und empirischer Gehalt
VIII.1.1
Einleitung Nachdem im Kapitel VI die Problematik der beiden Extrempositionen analysiert wurde und ihre gemeinsame Voraussetzung bestimmt wurde, geht es darum, einen Wahrnehmungsbegriff zu formulieren, der diese problematische Voraussetzung vermeidet. Auch die im letzten Kapitel dargestellten Positionen Heideggers und Gadamers stellen Positionen der Vermittlung zwischen sinnlichen und sprachlichen Fähigkeiten und somit Lösungsansätze dar. Beide gehen von einer begrifflichen bzw. sprachlichen Vermitteltheit und gleichzeitig von einer eigenen Erkenntnisleistung der Wahrnehmung aus. Die problematische Voraussetzung, welche diese Positionen vermeiden, besteht in der atomistischen Auffassung der Wahrnehmungsgegenstände: Nach Heidegger und Gadamer richtet sich die Wahrnehmung bereits auf Allgemeines. In der Wahrnehmung nehmen wir immer etwas als etwas wahr. Allerdings wird dieses Allgemeine insbesondere bei Gadamer als ein sprachlichAllgemeines gedeutet, welches in erster Linie durch sprachliche Konventionen erklärt wird. Wahrnehmung spielt nicht die Rolle eines gegenüber bestehenden Überzeugungen äußeren Einflusses.1 In diesem Kapitel wird nun ein Lösungsansatz formuliert, welcher insbesondere die sinnliche Rezeptivität und die gleichzeitige begriffliche Vermitteltheit der Wahrnehmung betont. Die Art des Vermittlungsverhältnisses wird dabei so spezifiziert, dass nicht mehr von einer Anwendung begrifflicher Fähigkeiten auf das Feld sinnlicher Erfahrung, sondern von einem Ineinandergreifen sinnlicher und sprachlicher Fähigkeiten die Rede ist. Einen solchen Vorschlag hat in neuerer Zeit John
1
Dies einzulösen muss nicht bedeuten, dass Wahrnehmungsgehalte nichtbegrifflich seien, wie im Folgenden deutlich werden wird.
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LÖSUNGSANSATZ: M C DOWELL
McDowell ausgearbeitet.2 McDowells Betonung liegt auf der Möglichkeit, dass Wahrnehmungsgehalte eine normative Rolle für unser System von Überzeugungen spielen können. Das heißt, dass sie nicht nur kausale Anlässe, sondern tatsächlich Gründe für unsere Überzeugungen darstellen können. Sie tun dies nicht nur, wenn wir uns entschließen, uns begründend auf Erfahrungen zu beziehen. Im Normalfall sind es die Dinge selbst, welche durch sinnliche Erfahrung bestimmte Überzeugungen im wahrnehmenden Subjekt hervorrufen, so dass diese Überzeugungen als begründet gelten können. Das Subjekt nimmt das So-Sein der Dinge als Tatsachen wahr und im Normalfall handelt es sich dabei um Tatsachen. Dieser so simpel erscheinende Umstand bedarf einiger Erläuterung, was in diesem Kapitel unternommen wird. Im Ergebnis lässt sich mit McDowell sagen, dass Wahrnehmung nicht nur sprachlich vermittelt ist, sondern dass sinnliche Fähigkeiten gleichzeitig sprachliche Fähigkeiten darstellen, welche in der Wahrnehmung aktualisiert werden. Das Problem, dem McDowell sich widmet, ist kein im eigentlichen Sinne erkenntnistheoretisches Problem. Es handelt sich dabei nicht um eine Frage der Art, wie wir begründetes Wissen haben können, wie sich also die Gewissheit oder auch Objektivität unserer Überzeugungen verbürgen lässt. Vielmehr handelt es sich um die Beantwortung der dafür grundlegenderen Frage: Wie können wir uns durch unser Denken überhaupt auf Gegenstände in der Welt beziehen? Wenn es sich also um eine erkenntnistheoretische Fragestellung handelt, dann in einem sehr viel weiteren Sinne, insofern sie gleichzeitig die Voraussetzungen für die Möglichkeit des Habens von Wissen betrifft. Worum es McDowell eigentlich geht, ist der empirische bzw. der repräsentationale Gehalt von Urteilen. Dass die Möglichkeit empirischen Gehaltes von Begriffen überhaupt in Frage steht, stellt für McDowell das Indiz für eine tiefer liegende Problematik dar. Sein Vorschlag ist daher ein therapeutischer 2
John McDowell, Mind and World. Im Folgenden: MW. Deutsche Zitate beziehen sich auf die Übersetzung: John McDowell, Geist und Welt.
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ZWEI LOGISCHE RÄUME
Vorschlag, der auf die Lösung dieser Problematik zielt, damit eine rationale Verbindung von Urteils- und Erfahrungsgehalten angenommen werden kann. Damit, und das ist das Ziel McDowells, würde sich auch die Frage nach der Möglichkeit empirischen Gehaltes von Begriffen erübrigen. In der Frage, wie sich sprachliche Ausdrücke überhaupt auf Gegenstände in der Welt beziehen können, spielt die Wahrnehmung offenbar eine zentrale Rolle. Sie stellt für McDowell eine Art object lesson, eine Probe aufs Exempel für die Erklärung des repräsentationalen Gehaltes von Ausdrücken dar. Gleichwohl soll das, was McDowell als mögliches Verständnis von Wahrnehmung vorschlägt, für Erkenntnis in einem allgemeinen Sinne gelten, das heißt auch für nichtsinnlich gegebene Inhalte.3 Die grundlegende Fragestellung McDowells betrifft nicht allein sinnliche Wahrnehmung, sondern vielmehr die Offenheit der Sprache zur Erfahrung: Wie kann die Verantwortbarkeit von Überzeugungen gegenüber einer Instanz, welche nicht das Produkt von Urteilstätigkeit darstellt, erklärt werden? Wenn im Folgenden von „Erfahrung“ gesprochen wird, ist in einem engeren Sinne sinnliche Erfahrung bzw. Wahrnehmung gemeint, obgleich das von ihr Gesagte auf Erfahrung in weiterem Sinne anwendbar sein soll. VIII.1.2
Zwei logische Räume Mit der Erklärung des empirischen Gehaltes sprachlicher Ausdrücke geht es McDowell offenbar um das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten. Für das Verständnis dieses Vermittlungsverhältnisses greift er zunächst auf die kantische Unterscheidung zwischen Anschauungen und Begriffen zurück. Er deutet diese
3
“It should be clear that reflection about perceptual experience has served in this Introduction, as it does in this book, as just one example of a type. Parallel puzzlements will be prone to arise wherever we want to speak of responsiveness to reasons.” MW, S. 23. Parallelen zieht McDowell unter anderem zu einem Handlungsbegriff, der ebenfalls mit der Spontaneität der Ausübung begrifflicher Fähigkeiten zu vereinbaren ist. Vgl. ebd. S. 89 und 91.
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LÖSUNGSANSATZ: M C DOWELL
konstitutionstheoretische Unterscheidung zweier Erkenntnisvermögen mit Sellars und Davidson gleichzeitig als die Unterscheidung zweier verschiedener logischer Räume: Anschauung steht für die Rezeptivität oder Passivität sinnlicher Erfahrung, während das begriffliche Vermögen dem Raum der Freiheit oder Spontaneität zugeordnet wird.4 Diese Freiheit erläutert McDowell mit Kant als die Freiheit, Urteile zu bilden. Zugleich ist sie jedoch mit einer spezifischen Normativität dieser Urteile verbunden, denn in Urteilen beanspruchen wir, Dinge so zu beschreiben, wie sie tatsächlich sind, also Tatsachen auszudrücken. Das bedeutet, dass wir gleichzeitig einem „rationalen Zwang“ ausgesetzt sind: dem Zwang, dass das So-und-so-Sein der Dinge für unsere Urteile eine Instanz darstellt, nach der sie sich zu richten haben. Sind die Dinge zum Beispiel anders als gedacht, sehen wir uns gezwungen, unser Urteil zu revidieren oder anzupassen. Spontaneität definiert McDowell als das Vermögen, „welches in aktiver, selbstkritischer Kontrolle dessen ausgeübt wird, was man angesichts des Materials der Erfahrung denkt“5 Das Sound-so-Sein der Dinge muss also einen Grund darstellen können, so und nicht anders zu urteilen. Mit Kant deutet McDowell rationalen Zwang nicht als einen Freiheit ausschließenden Faktor, sondern als konstitutiv für die recht verstandene Freiheit oder Spontaneität unseres begrifflichen Vermögens. Beide Momente gehören untrennbar zusammen.6 Dieser Aspekt der Normativität ist ein zentraler Zug des repräsentativen Gehaltes sprachlicher Ausdrücke, um dessen Erklärung es McDowell geht.
4
5 6
Davidson spricht zwar nicht von einem „logischen Raum der Gründe“, jedoch von einem „konstitutiven Ideal der Rationalität“, das von McDowell im gleichen Sinne der Entgegensetzung zweier logischer Räume interpretiert wird. Davidson erwähnt dieses Ideal in Mental Events, S. 221ff. Vgl. MW, Einleitung, XVIII: “… what figures in Sellars as the sui generis character of the logical space of reasons figures in Davidson as the sui generis character of what he calls ‘the constitutive ideal of rationality’.” MW, deutsche Übersetzung (Geist und Welt), S. 74. Vgl. MW, S. 5.
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ZWEI LOGISCHE RÄUME
“To understand empirical content in general, we need to see it in its dynamic place in a self-critical activity, the activity by which we aim to comprehend the world as it impinges on our senses. ”7 “It is essential to conceptual capacities …, that they can be exploited in active thinking, thinking that is open to reflection about its own rational credentials.”8
McDowell identifiziert also das begriffliche Vermögen mit der Spontaneität des Verstandes, zu urteilen. Da Urteile sich dadurch auszeichen, dass sie anfechtbar sind, dass sie also in Begründungsrelationen stehen, ist der logische Raum der Begriffe gleichzeitig der Raum der Gründe.9 Das heißt, dass auch der empirische Gehalt von Begriffen durch inferentielle Relationen erklärt wird, in denen diese Begriffe stehen: Es muss möglich sein, dass wir uns begründend auf die Erfahrung selbst beziehen können, und diese Möglichkeit soll den empirischen Gehalt erklären. “The idea is that empirical substance is transmitted from the ground level to empirical concepts that are further removed from immediate experience, with the transmission running along channels constituted by the inferential linkages that hold a system of concepts together.”10
Der logische Raum der Gründe ist gekennzeichnet durch die auf die Verwendung von Begriffen in Urteilen zurückzuführende Normativität. Er wird daher auch als sui generis charakterisiert, das heißt als ein logischer Raum, dessen Eigenschaften sich nicht durch kausale Beziehungen, sondern durch die inferentiellen Beziehungen zwischen Überzeugungen erklären.11 Die sinnliche Fähigkeit, Eindrücke von Objekten zu empfangen, wird dagegen dem logischen Raum der Natur zugeordnet.
7 8 9 10 11
MW, S. 34. MW, S. 47. Der Begriff „logischer Raum der Gründe“ wurde durch Sellars geprägt. Vgl. Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel VI, § 36. MW, S. 7. McDowell definiert den sui-generis-Charakter von Begriffen in einem weiteren Sinn durch ihre Nichtreduzierbarkeit auf Erklärungen, die dem Bereich der Naturgesetze entstammen.Vgl. MW, S. 75f.
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Dieser Raum ist nach McDowell geprägt durch eine Art der Verständlichkeit, die mit den in der Neuzeit erstarkenden modernen Naturwissenschaften verbunden ist. Das heißt, dass wir die Empfänglichkeit für Einwirkungen auf die Sinne gewöhnlicherweise ebenso erklären wie natürliche Phänomene, die durch Naturgesetze beschrieben werden. McDowell geht es nun nicht primär um die konstruktive Beschreibung eines Vermittlungsverhältnisses zwischen sinnlichen und sprachlichen Fähigkeiten, sondern um eine Therapie jener Auffassungen, innerhalb derer das Vermittlungsverhältnis zu einem Problem wird. Solche Auffassungen führen erst zu der von ihm als problematisch betrachteten Frage: „Wie ist der Bezug auf sinnliche Gegenstände der Erfahrung überhaupt möglich?“ Wären wir dagegen von den falschen Voraussetzungen geheilt, würden sich solche Fragen gar nicht mehr stellen. Wir könnten vielmehr davon ausgehen, dass wir uns in unseren Urteilen immer schon auf Erfahrungsinhalte beziehen und dass diese einen rationalen Einfluss auf die Bildung von Überzeugungen besitzen. Das Vermittlungsverhältnis bzw. der rationale Bezug auf die Erfahrung gerät zu einem Problem, wenn das sinnlich Gegebene im Sinne des Mythos des Gegebenen12 gedeutet wird. Diese Position entspricht in etwa der naiv-empiristischen Position, die das sinnlich Gegebene als ein nichtbegrifflich Gegebenes auffasst. Gleichwohl sollen sich die Gehalte von Begriffen dem Bezug auf ein solches Gegebenes verdanken. Die Basis des Systems von Überzeugungen sollen Beobachtungssätze darstellen, das heißt Sätze, die ihre Wahrheit der unmittelbaren Erfahrung verdanken. Die Problematik dieser Position besteht nach McDowell darin, dass mit ihr der Raum der Gründe über den Bereich des Begrifflichen, das heißt über den Bereich der Ausübung der Spontaneität hinaus erweitert wird. Die Kritik dieses Versuches richtet sich gegen die Annahme, dass etwas, das nichtbegrifflich ist, gleichzeitig Gründe gebend sein soll. Im 12
Auch diesen – kritisch verwendeten – Begriff prägte Sellars. Vgl. Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel IV, § 26.
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ZWEI LOGISCHE RÄUME
Zuge einer solchen Kritik argumentiert Davidson, dass es erst die urteilende Einstellung, nicht der Wahrnehmungsgehalt selbst ist, welcher einen Grund darstellen kann. So führt die Kritik zu der Auffassung, dass nur Überzeugungen Gründe für Überzeugungen darstellen können. McDowell bezeichnet diese am Beispiel Davidsons dargestellte Position als „Kohärentismus“. Das bedeutet aber, dass der Raum der Gründe, der Raum der Ausübung begrifflicher Spontaneität, gar keiner äußeren Kontrolle mehr unterliegt. McDowell beschreibt diese Situation durch das Bild eines „reibungslosen Rotierens im luftleeren Raum“. Dabei geht ein wichtiger Aspekt des repräsentationalen Gehalts verloren, nämlich dass das tatsächliche So-und-so-Sein der Dinge einen Einfluss darauf haben kann, welche Urteile gefällt werden und ob sie begründet und aufrecht erhalten werden können. Erst wenn die Problematik dieser kohärentistischen Position deutlich geworden ist, lässt sich ersehen, dass die erste Position, der Mythos des Gegebenen, ihrerseits eine Reaktion auf den (drohenden) Kohärentismus darstellt: Da es nicht befriedigend sein kann, dem System von Überzeugungen, das gleichzeitig den Raum der Freiheit darstellt, jegliche äußere Kontrolle, im Sinne einer rationalen Kontrolle, zu entziehen, wird auf das Gegebene verwiesen, als auf etwas, das noch nicht eingenommen durch die begriffliche Struktur ist. Es muss Gründe geben, die selbst noch nicht das Ergebnis von Urteilen darstellen, die also unabhängig von der Urteilstätigkeit gegeben sind. Diese Gründe scheinen daher jenseits des Begrifflichen zu liegen. McDowell analysiert nun die gemeinsame problematische Grundlage beider Positionen. In der Reaktion aufeinander stellen sie ein „Oszillieren“ dar, das heißt eine Sorgen bereitende Betrachtung dessen, was sprachlicher Bedeutung und möglicher Erkenntnis zugrunde gelegt werden sollte: des empirischen Gehaltes unserer Begriffe. Der Mythos des Gegebenen ruft die Kritik des Kohärentismus hervor; auf den Kohärentismus reagiert das Verlangen nach etwas unmittelbar Gegebenem, als Grund für unsere Überzeugungen. McDowell zufolge teilen beide Positionen, sowohl der Mythos des Gegebenen als auch der Kohären-
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LÖSUNGSANSATZ: M C DOWELL
tismus, eine Voraussetzung: Nämlich die Voraussetzung, dass sinnliche Erfahrung nichtbegrifflich sei. Dementsprechend lautet McDowells Lösungsvorschlag, den Erfahrungsgehalt selbst als begrifflich aufzufassen.
VIII.1.3
Die Begrifflichkeit der Erfahrung Die Begrifflichkeit der Erfahrung erklärt McDowell zunächst als Propositionalität, das heißt als einen Gehalt, dem man in einem Urteil zustimmen oder auch nicht zustimmen kann. “In a particular experience …, what one takes in is that things are thus and so. That things are thus and so is the content of the experience, and it can also be the content of a judgement: it becomes the content of a judgement if the subject decides to take the experience at face value.”13
Doch die Propositionalitätsthese ist nicht die einzige Weise der Beschreibung begrifflichen Wahrnehmungsgehaltes. In der Erwiderung auf den Einwand von Evans, dass unsere sinnliche Unterscheidungsfähigkeit prinzipiell feinkörniger sei als die begriffliche, charakterisiert McDowell Wahrnehmungsgehalte auch in der Form von „dieses Rot“ oder: „diese Tönung“, das heißt als die bloße Verbindung eines Begriffes mit einem Demonstrativpronomen.14 In dieser Beschreibung geht es schlicht um begriffliche Gehalte, die nicht unbedingt bereits die vollständige Form eines propositionalen Gehaltes besitzen müssen. Entscheidend für McDowells Vorschlag ist nicht die konkrete Form des begrifflichen Gehaltes, sondern die grundsätzliche Geeignetheit der sinnlichen Erfahrung, in Urteilen aufgenommen zu werden, das heißt direkt relevant für Urteile zu sein. Ich muss nicht wahrnehmen, dass dort ein 13 14
MW, S. 26. Vgl. auch S. 9. Vgl. MW, S. 56ff. Der Einwand lautet, dass der Gehalt sinnlicher Erfahrung so differenziert sei, dass er durch eine begriffliche Beschreibung in seiner differenzierten Qualität nicht getroffen werden könnte. Begriffe würde ein vergleichsweise dazu grobes Raster darstellen. McDowells Erwiderung besagt also, dass ein hinweisendes Benennen jedes wahrnehmbaren Farbtones prinzipiell möglich ist.
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grünes Licht ist; ich kann auch sagen: Ich sehe ein grünes Licht, damit ich mich auf diese Wahrnehmung als auf einen Grund für meine Überzeugung, dass dort ein grünes Licht ist, berufen kann. Dass wir uns durch Urteile auf Wahrnehmungsgehalte beziehen können, ist nach McDowell dadurch möglich, dass diese Gehalte begrifflich sind, dass also keine Interpretation eines nichtbegrifflichen Gehaltes durch einen begrifflichen Gehalt stattfindet. Umgekehrt macht die Möglichkeit, sich auf Erfahrungsgehalte beziehen zu können, zugleich den begrifflichen Gehalt aus. Mit seiner Betonung der Begrifflichkeit von Erfahrungsgehalten löst McDowell meines Erachtens das Problem eines drohenden unendlichen Regresses in der Erklärung des Vermittlungsverhältnisses zwischen der Erfahrung und unseren Überzeugungen: Werden Erfahrungsgehalte als nichtbegriffliche Gehalte angenommen, so stellt sich für die Übertragungsleistung die Frage, ob sie selbst durch begriffliche oder nicht begriffliche Fähigkeiten zu erklären ist. Wird sie beispielsweise durch begriffliche Fähigkeiten erklärt, stellt sich wieder die Frage, wie diese sich auf nichtbegriffliche Gehalte der Erfahrung beziehen können. Wird der Bezug auf sinnliche Erfahrung dagegen als eine nichtbegriffliche Fähigkeit, also beispielsweise als eine bloße kausale Reaktionsdisposition erklärt, ist zweifelhaft, ob damit überhaupt ein rationaler Bezug auf Erfahrungsgehalte beschrieben werden kann. Letztlich läuft auch dieser Zweifel auf die Frage nach der Art von Beziehung zwischen unseren Überzeugungen und den kausalen Reaktionen hinaus. Das Vermittlungsproblem tritt also an der Nahtstelle zwischen begrifflichen und nichtbegrifflichen Gehalten immer wieder auf und kann nur dadurch vermieden werden, dass man die Vermittlung als eine Vermittlung zwischen begrifflichen Gehalten auffasst.15 Damit Urteile sich an der Erfahrung messen können, damit es also eine „Reibung“ des Überzeugungssystems an der Erfahrung geben 15
McDowell selbst argumentiert nicht mit einem drohenden unendlichen Regress. Er argumentiert schlicht damit, dass anderenfalls die rationale Verbindung zwischen Erfahrungs- und Urteilsgehalten verloren zu gehen droht.
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kann, so McDowell, muss die Erfahrung selbst begrifflichen Gehalt besitzen. Mit diesem Vorschlag eröffnet sich ein Ausweg aus dem Dilemma zwischen dem von McDowell sogenannten „unverblümten Naturalismus“ und dem „zügellosen Platonismus“.16 Diese beiden Positionen stellen Arten der Erklärung der Spontaneität begrifflicher Fähigkeiten dar. Die erste Position erklärt diese naturalistisch. Wenn aber Natur nach Maßgabe der Naturwissenschaften, das heißt als Gegenstandsbereich der Naturgesetze verstanden wird, muss eine naturalistische Erklärung des begrifflichen Vermögens des Menschen notwendig reduktionistisch geraten. Der zügellose Platonismus auf der anderen Seite besteht darin, die Rationalität des Menschen gänzlich unabhängig von seiner Animalität zu erklären. Er betont also den sui-generis-Charakter der Rationalität und damit auch den genuinen Unterschied des logischen Raumes der Gründe und des logischen Raumes der Natur. McDowell plädiert nun für einen Mittelweg, für ein Verständnis von Natur, das auch begriffliche Fähigkeiten in sich einschließt. Wird der Begriff der Natur um einen aristotelisch verstandenen Begriff einer zweiten Natur erweitert, kann er den Raum der Gründe und somit die Rationalität des Menschen in sich begreifen, ohne dabei ihren suigeneris-Charakter in Frage zu stellen.17 Während Aristoteles unter einer zweiten Natur in erster Linie die sittliche Einsicht des Menschen verstanden hat, welche gleichzeitig eine Empfänglichkeit für Normen und Gründe darstellt, versteht McDowell unter diesem Begriff die Empfänglichkeit für Forderungen der Vernunft in einem allgemeinen Sinne. Die Natur des Menschen, so McDowell, ist von Rationalität durchsetzt.18 16 17
18
Vgl. MW, S. 77f. und 79f. MW, Einleitung, XIX f. und S. 78. Den sui-generis-Charakter in Frage zu stellen, bedeutet nach McDowell, Begrifflichkeit naturalistisch, das heißt nach Maßgabe der Verständlichkeit von Naturgesetzen zu erklären. Vgl. MW, S. 75f. und 83. MW, S. 85.
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Der Begriff der zweiten Natur kann den sui-generis-Charakter insofern auffangen, als er die Innenperspektive der Normativität begrifflicher Beziehungen beschreibt. Die menschliche Natur, so McDowell, verdankt sich nicht nur den angeborenen Fähigkeiten, sondern ebenso der Bildung und Erziehung, die der Mensch im Laufe seines Lebens in der menschlichen Gemeinschaft erfährt.19 Durch Bildung wird er eingeführt in normative Praktiken, die sich nicht durch eine äußere Perspektive, sondern allein vom Standpunkt des schon rational bzw. ethisch Denkenden rechtfertigen lassen. Nur wer bereits einen rationalen Standpunkt eingenommen hat, kann eine Einsicht in rationale Forderungen haben, das heißt in die spezifischen Verpflichtungen, die sich aus diesem oder jenem Umstand ergeben. Das gilt, so McDowell, nicht nur für ethische Verpflichtungen, sondern allgemein für propositionale Inhalte und die zwischen ihnen bestehenden inferentiellen Beziehungen, das heißt auch für mögliche Begründungsrelationen. Zwischen Erfahrungsgehalten und Überzeugungen bestehen Begründungsrelationen. Das heißt, dass der als normativ verstandene Bezug auf Gehalte sinnlicher Erfahrung ebenfalls durch die zweite Natur geprägt ist. Die Fähigkeit, Sinneseindrücke zu empfangen, und die begriffliche Fähigkeit, diese Eindrücke in einen rationalen Kontext zu stellen, müssen nicht mehr unabhängig voneinander erklärt werden. Bei der Ausübung begrifflicher Fähigkeiten handelt es sich gleichwohl um eine Tätigkeit, die zur Verwirklichung des Menschen als eines lebendigen Wesens gehört.20 McDowell erläutert die begriffliche Vermitteltheit der Wahrnehmung als eine „Inanspruchnahme“ begrifflicher Fähigkeiten in der Sinnlichkeit. Das heißt, dass es sich nicht um eine Anwendung von Begriffen auf ein Feld des Nichtbegrifflichen handelt, sondern vielmehr um eine „Aktualisierung“ begrifflicher Fähigkeiten in der Rezeptivität 19 20
MW, S. 87. McDowell bezieht sich zur Erläuterung des Begriffs der zweiten Natur auch auf Wittgenstein: „Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen.“ Aus: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 25. Vgl. MW, S. 95.
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sinnlicher Erfahrung. Wird Wahrnehmung als eine passive Aktualisierung begrifflicher Gehalte aufgefasst, kann sie, so McDowell, die Ausübung begrifflicher Fähigkeiten begrenzen, ohne dabei eine Begrenzung von außerhalb des Begrifflichen selbst darzustellen. Eine solche Erweiterung des Raumes der Gründe liefe wieder auf einen Mythos des Gegebenen hinaus. Die Metapher der Grenze wird von McDowell mehrfach verwendet. Das Bedürfnis nach einer Grenze entsteht in der Reaktion auf den Kohärentismus. Zwar nimmt der Kohärentismus eine Grenze des Raumes der Gründe an, jedoch als eine Grenze zum Bereich sinnlicher Eindrücke, die nur kausale Ursachen, nicht aber Gründe für Urteile darstellen können. Die Grenze, welche McDowell sucht, ist vielmehr eine Grenze im Sinne eines rationalen Zwanges. Dabei trennt sie nicht Begriffliches von Nichtbegrifflichem, zum Beispiel Überzeugungen von bloßen sinnlichen Eindrücken. Sie verläuft vielmehr zwischen Überzeugungen und einer überzeugungsunabhängigen Realität. Um den Begriff dieser Überzeugungsunabhängigkeit im McDowellschen Sinne zu erläutern, muss meines Erachtens der semantische und der epistemische Aspekt einer möglichen Überzeugungsunabhängigkeit unterschieden werden: In semantischem Sinne ist die erfahrbare Realität nicht überzeugungsunabhängig, da sie einen begrifflichen Gehalt besitzen soll und dieser ein Ergebnis der Ausübung begrifflicher Fähigkeiten, das heißt auch von Urteilen darstellt. In der aktuellen Erfahrung jedoch hängt das, was erfahren wird, nicht oder nicht gänzlich von den jeweiligen Einstellungen ab, die man zur Erfahrung einnehmen kann.21 In epistemischem Sinne kann also von einer Überzeugungsunabhängigkeit gesprochen werden. Um diese Unterscheidung auf den Punkt zu bringen, lässt sich sagen, dass es sich bei den Gehalten sinnlicher Erfahrung um 21
McDowell betont die rezeptive Unmittelbarkeit der Erfahrung. Vgl. das Zitat auf S. 319. Mit der Trennung des semantischen und erkenntnistheoretischen Aspektes von Überzeugungsunabhängigkeit lässt sich auch McDowells Aussage erläutern, dass das Tribunal der Erfahrung zwar außerhalb des Denkens, nicht aber außerhalb des Denkbaren zu verorten ist. Vgl. MW, S. 28.
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belief-dependent kinds of non-belief handelt.22 Die Grenze, welche McDowell im Sinn hat, stellt zugleich eine Möglichkeit der Reaktion urteilender Aktivität auf die Erfahrung selbst dar. Sie scheint also eine Grenze im kantischen Sinn zu sein: Unser Denken ist durch das empirisch Erfahrbare begrenzt, derart, dass Erkenntnis über das Erfahrbare selbst nicht hinausreichen kann, sondern sich an ihm zu messen hat. Die von McDowell benutzte Metapher der Grenze sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm eigentlich um ein Bild geht, in dem es nichts gibt, was über den Raum der Begriffe hinausreicht, in dem begriffliche Spontaneität also überall hinreicht – „all the way out“23. Die Analyse McDowells ergibt also, dass das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten dann zu einem Problem gerät, wenn der Raum der Gründe, in dem Begriffe verwendet werden, und der Raum der Ursachen, dem sinnliche Erfahrungen zuzuordnen sind, sich dualistisch gegenüberstehen. Mit McDowells Vorschlag kann ein erweitertes Verständnis von Natur den Raum der Gründe mitumfassen. Wenn wir unsere begrifflichen Fähigkeiten als eine zweite Natur und sie damit gleichzeitig in unsere natürliche Interaktion mit der Umwelt involviert auffassen, so umfasst der Raum der Gründe einerseits auch den Raum der Begriffe, andererseits kann die Spontaneität gleichzeitig als begrenzt durch die Rezeptivität der Erfahrung gedacht werden. Die Begrenzung durch eine überzeugungsunabhängige Realität kann gegeben sein, ohne dass diese Realität als nichtbegriffliche Gegebenheit angenommen werden muss. McDowell zufolge kann allein die grundlegende begriffliche Struktur der Erfah22
23
Mit dieser Formulierung wende ich mich gegen Kathrin Glüers Aussage, McDowell würde Wahrnehmungen als „belief-independent kinds of belief“ darstellen. Vgl. Kathrin Glüer, Perception and Justification, S. 7. Wahrnehmungen rufen nach McDowell zwar Überzeugungen hervor, doch nicht, indem geurteilt wird. Wahrnehmungen selbst sind weder Urteile noch Überzeugungen. Im Falle von bewussten Wahrnehmungstäuschungen gibt es nicht zwei einander widersprechende Überzeugungen im Geist des Wahrnehmenden. MW, S. 8, FN7.
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rung die Offenheit eines Systems von Überzeugungen zur Erfahrung erklären. Nur wenn Wahrnehmung eingebettet in die begriffliche Struktur ist, kann sie einen rationalen Einfluss auf das System von Überzeugungen ausüben. Würden in der Wahrnehmung nichtbegriffliche Gehalte aufgenommen werden, so erforderte es einer eigenen Erklärung, in welcher Weise sich begriffliche Gehalte bzw. mögliche Urteile auf nichtbegriffliche Gehalte beziehen. Diese Erklärung könnte keine Erklärung einer rationalen Verbindung darstellen. Wahrnehmungen könnten in einem solchen Bild keine Gründe darstellen. VIII.1.4
Präzisierung und Verteidigung von McDowells Wahrnehmungsbegriff McDowells kritische Betrachtung skeptizistischer Fragestellungen, zu denen auch die Frage nach der Möglichkeit eines empirischen Gehaltes von Begriffen gehört, führt ihn zu einer Begründung der These, dass Erfahrungen Gründe für unsere Urteile darstellen können. Diese These begründet McDowell dadurch, dass Gehalte sinnlicher Erfahrung als begriffliche Gehalte verstanden werden, die gleichzeitig auch Gehalte von Urteilen und Begründungen bilden können. McDowells Projekt erhebt den Anspruch, den Bezug von Begriffen auf die Erfahrung, also den Weltbezug von Überzeugungen als unhinterfragbar annehmen zu können. In diesem großflächigen Entwurf bleibt sein Verständnis der tatsächlichen Rolle von Wahrnehmung innerhalb begrifflicher Aktivitäten allerdings ein nur umrisshaftes. Ich nenne nun die Bedingungen, denen ein solcher Wahrnehmungsbegriff zu genügen hat, um im Folgenden der Frage nachzugehen, ob diese Kriterien überhaupt durch ein Verständnis von Wahrnehmung erfüllt werden können und wie sie dies tun. Ich bilde McDowells Wahrnehmungsbegriff auf drei Kriterien ab, denen er zu genügen hat, damit das Projekt gelingen kann. Dabei sollen ein allgemeines Verständnis von Wahrnehmung und die eigentümlichen Züge von McDowells Wahrnehmungs- und Begründungskonzeption miteinander konfrontiert werden:
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1) Wahrnehmungsgehalte sind dem wahrnehmenden Subjekt unmittelbar gegeben. Sie bedürfen keiner aktiven Interpretation. 2) Der sinnliche Gehalt einer Wahrnehmung ist zugleich ein begrifflicher Gehalt und kann in einem Urteil bejaht oder verneint werden. Er ist intersubjektiv vermittelbar. 3) Die Wahrnehmung selbst kann als rationaler Grund dafür gelten, wie betreffende Urteile ausfallen. Es soll nun nicht darum gehen, zu überprüfen, ob diese Kriterien hinreichend sind, um einen allgemeinen Begriff von Wahrnehmung vollständig charakterisieren zu können. Es geht in erster Linie um ihre Vereinbarkeit, die unter anderem den Maßstab für das Gelingen von McDowells Projekt ausmacht. Die angenommene Unvereinbarkeit dieser Kriterien stellt zum Beispiel für Davidson einen Grund dar, von der Nichtbegrifflichkeit sinnlicher Eindrücke bzw. von ihrer fehlenden Eignung, Gründe für Überzeugungen darzustellen, auszugehen. Wenn McDowells Vorschlag angenommen werden soll, muss plausibel werden, dass die drei Kriterien im Wahrnehmungsbegriff vereinbar sein können. Zunächst möchte ich die drei Bedingungen näher erläutern. In der ersten Bedingung geht es um eine spezifische Eigenschaft der Wahrnehmung, die sie McDowell zufolge dafür geeignet sein lässt, einen äußeren Einfluss, eine Begrenzung im oben erläuterten Sinne für das System von Überzeugungen darzustellen. Es geht um die von McDowell betonte rezeptive Unmittelbarkeit der Wahrnehmung. Obwohl McDowell auch der Aktivität eine Rolle in der Wahrnehmung zugesteht, hält er gleichzeitig an ihrer spezifischen Rezeptivität bzw. Passivität fest: “But one’s control over what happens in experience has limits: one can decide where to place oneself, at what pitch to tune one’s attention, and
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so forth, but it is not up to one what, having done all that, one will experience.”24
Was tatsächlich wahrgenommen wird, ist in letzter Instanz unabhängig von der jeweils eingenommenen Perspektive. Wahrnehmungsgehalte stellen nicht das Ergebnis aktiven Urteilens dar; sie sind vielmehr sinnlich gegeben. So könnte man dem Begriff der Gegebenheit eine ebenso plausible wie unschuldige Erklärung geben.25 Dass etwas passiv gegeben ist, bedeutet, dass es sich in dieser Weise der Gegebenheit unterscheidet von beliebigen begrifflichen oder propositionalen Gehalten, die jemandem in den Sinn kommen könnten und die sich in Bezug auf ihre Implikationen erwägen und urteilend bestätigen oder ablehnen lassen. Zwar gilt auch für den Wahrnehmungsgehalt, dass ich ihm in einem Urteil zustimmen oder ihn ablehnen könnte, doch ich tue es nicht aufgrund einer bloßen Erwägung möglicher Konsequenzen und inferentieller Beziehungen zwischen weiteren propositionalen Gehalten, sondern ich tue es in erster Linie, weil ich es so erfahren habe.26 Die zweite Bedingung stellt die von McDowell eingeführte Bedingung dar, dass Erfahrungen überhaupt einen rationalen Einfluss auf Urteile besitzen können. Dass Wahrnehmung begrifflich sei, macht es möglich, dass sie überhaupt etwas über die Beschaffenheit der Welt sagen kann. McDowells Lösung der dilemmatischen Situation zwischen dem Mythos des Gegebenen und dem Kohärentismus besteht darin, die gemeinsame Voraussetzung beider Positionen zu kritisieren: Die Annahme der Nichtbegrifflichkeit sinnlicher Erfahrung. Mit der Annahme 24 25 26
MW, S. 10, FN8. Von „Gegebenheit“ zu sprechen, bedeutet nicht automatisch, in den Mythos des Gegebenen zu verfallen. Vgl. S. 204. Vgl. Glüer, Perception and Justification, S. 9f. Im Gegensatz zu Glüers Annahme gibt es sehr wohl einen Unterschied zwischen dem bloßen Erwägen möglicher Konsequenzen beliebiger propositionaler Gehalte und der Erfahrung eines solchen Gehaltes: Die Erfahrung selbst stellt einen Grund (psychologisch gesprochen: eine Aufforderung) dar, eine entsprechende Überzeugung zu bilden. Das heißt nicht, dass dieser Grund nicht anfechtbar sein könnte. Dazu unten mehr.
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PRÄZISIERUNG UND VERTEIDIGUNG: M C DOWELLS WAHRNEHMUNGSBEGRIFF
der Begrifflichkeit der Wahrnehmung soll die konzeptionelle Kluft zwischen der Sinnlichkeit und dem begrifflichen Vermögen, Urteile zu fällen, gar nicht erst entstehen. Die dritte Bedingung ist die für die mögliche Annahme eines empirischen Gehaltes von Begriffen geforderte Bedingung: dass Erfahrungen Gründe für Überzeugungen darstellen können. Von dieser Bedingung geht der empiristische Ansatz aus, welcher letztlich in den Mythos des Gegebenen verfällt, indem er begriffsunabhängig gegebene Gehalte als Fundament des Systems von Überzeugungen annimmt. Von Davidson wird diese Bedingung schließlich fallen gelassen, da ihm zufolge nur Überzeugungen Gründe für andere Überzeugungen darstellen können. Sinnliche Erfahrungen ohne zusätzliche Urteile sind demnach überhaupt nicht geeignet, Gründe für Überzeugungen darzustellen. Nach McDowell droht in dieser Konzeption der Kontakt zur Welt verloren zu gehen. Wenn sinnliche Eindrücke nicht mehr sein können als bloße Veranlassungen, zu urteilen, gerät das System von Überzeugungen zu einem selbstgenügsamen Gebilde. Zur Auffassung eines empirischen Gehaltes von Begriffen gehört die Bedingung, dass Erfahrungen Gründe für Überzeugungen darstellen können, dass es in diesem Sinne also eine tatsächliche Reibung zwischen dem System von Überzeugungen und der Erfahrung selbst geben kann. Soweit der Anspruch McDowells. Im Folgenden soll es nun um die Einlösbarkeit dieser Bedingungen gehen. Diese Einlösbarkeit diskutiere ich anhand ihrer Vereinbarkeit, das heißt mit Blick auf die Frage, ob ein solcher Wahrnehmungsbegriff überhaupt plausibel gemacht werden kann. Zur Vereinbarkeit von 1.) und 2.). Die Passivität der Wahrnehmung geht einher mit der unmittelbaren Gegebenheit eines Eindrucks für das wahrnehmende Subjekt. Es stellt sich also sowohl die Frage, wie die subjektive Gegebenheit mit der intersubjektiven Vermittelbarkeit vereinbar ist, als auch die Frage, wie die Passivität sinnlicher Eindrücke aktiver Urteilstätigkeit zugänglich sein kann. Die rezeptive Unmittelbarkeit der Wahrnehmung wird von McDowell auch angesichts der intersubjek321
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tiven Vermittelbarkeit nicht geleugnet. Vielmehr erfüllt gerade diese Rezeptivität oder Passivität der Wahrnehmung die Funktion eines Einflusses von außerhalb des Systems von Überzeugungen. Die überzeugungsunabhängige Gegebenheit sinnlicher Gehalte soll also in begriffliche Kontexte eingebettet und insofern aktiver Urteilstätigkeit zugänglich sein. Wie ist das möglich? Hier kommt der bereits erwähnte Begriff der zweiten Natur als Erläuterung der begrifflichen Vermitteltheit der Wahrnehmung zum Zuge. Dieser Begriff eröffnet in einem ganz hermeneutischen Sinne den Hintergrund dafür, dass wir etwas als etwas wahrnehmen, und nicht bloße Informationen, die erst noch einer begrifflichen nachträglichen Interpretation bedürfen. Die Vermittlung subjektiver Wahrnehmungsgehalte in Begriffen wird nicht im einzelnen Akt des Urteilens, sondern im Verlauf eines Lebens, also eines individuellen Bildungsweges hergestellt. Dabei lernt das Subjekt, auf Reize einer selbst schon sprachlich verfassten Umwelt zu reagieren. Dieses Lernen ist zwar ein natürlicher Vorgang, stellt aber zugleich, da er sich auf Gegenstände einer menschlich-kulturellen Umgebung bezieht, eine, wie es bei McDowell heißt, Einweihung oder Initiation in die Selbstbezüglichkeit begrifflicher Werte und Normen dar. Gegenstände können als für Begründungen relevant wahrgenommen werden, da sie bereits in die Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen – um die Formulierung Brandoms aufzugreifen27 – einbezogen und insofern sprachlich erschlossen sind. Diese Relevanz bestimmt die Art der Wahrnehmung und auch die Objekte, welche überhaupt wahrgenommen werden. Das subjektive Moment ist nunmehr ein biographisches Element, zurückverlagert in die Bildungsgeschichte des Einzelnen. Es ist Teil einer intersubjektiven sprachlichen Praxis geworden. Subjekte Eindrücke sind also nicht als punktuelle sinnliche Erlebnisse zu verstehen, die als solche sprachliche Bedeutung fundieren sollen. Die Rückverlagerung in die Bildungsgeschichte des einzelnen Menschen stellt jenen strategischen 27
Robert Brandom, Making it explicit, S. 159 und S. 183.
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Zug in McDowells Philosophie dar, wodurch das, was vorher nur als kausaler Vorgang begriffen werden konnte, nun ein Moment darstellt, in dem sich zugleich die begrifflichen Fähigkeiten begründen. Begriffliche Gehalte können dann so aufgefasst werden, dass ihre Verbindung zu möglichen Erfahrungen nicht mit jedem aktuellen Eindruck erst hergestellt werden muss. Die möglichen Relationen zu verschiedenen Urteilen und deren weitere Beziehungen untereinander sind schon konstituiert. Wo sich vorher eine Kluft aufgetan hat, stellen sinnliche und begriffliche Fähigkeiten nun eine funktionale Einheit dar. Wenn Wahrnehmungen eine Rolle in rationalen Begründungen spielen, sind sie bereits begrifflich strukturiert, das heißt auch intersubjektiv vermittelbar. Sie prallen nicht mit der Unwucht des Sinnlichen an die unnachgiebige Schale der Begriffe. Die Tatsache, dass Wahrnehmungsgehalte begrifflich vermittelt sind, bedeutet nicht, dass sie jeweils der Gegenstand eines Urteils wären, dass sie durch ein Urteil bereits vorweggenommen wären. Nach McDowell wird nicht geurteilt, wenn eine bestimmte Wahrnehmung eine Überzeugung hervorruft. Diese Tatsache bedeutet nur, dass Wahrnehmungsgehalte mögliche Gehalte von Urteilen sind. Es soll auch nicht heißen, dass dieser Gehalt in einer begrifflichen Bestimmung vollständig aufgehen muss. Dem Wahrnehmungsurteil obliegt ein Moment von Freiheit oder Spontaneität, da es immer eine Auswahl aus der Reichhaltigkeit des Wahrnehmungsgehaltes darstellt28 und die tatsächliche Einbettung in einen Begründungszusammenhang vornimmt. Die Reichhaltigkeit des Erfahrungsinhaltes liegt zwar innerhalb des Denkbaren, des sprachlich Ausdrückbaren, muss sich aber nicht in dem Gehalt eines Urteiles und auch nicht im Gehalt der unmittelbar hervorgerufenen Wahrnehmungsüberzeugung erschöpfen. Mit der Begrifflichkeit der 28
“This does not obliterate the characteristic richness of experience … A typical judgement of experience selects from the content of the experience on which it is based; the experience that grounds the judgement that things are thus and so need not be exhausted by its affording the appearance that things are thus and so.” MW, S. 49, FN6.
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Wahrnehmung ist also lediglich gesagt, dass der Gehalt einer Wahrnehmung zugleich der begriffliche Gehalt von Überzeugungen und Urteilen sein kann. Die Kontrolle, so McDowell, stammt zwar von außerhalb des Denkens, nicht aber von außerhalb des Denkbaren.29 Das heißt, dass wahrnehmbare Gehalte Denkbares, nicht aber schon Gedachtes darstellen. In diesem Sinne gibt es keine konzeptuelle Kluft mehr zwischen dem Denkbaren und dem Erfahrbaren. Nun könnte, mit einem Seitenblick auf die Vereinbarkeit mit dem dritten Kriterium, folgender Einwand gemacht werden: Wird der Begründungsbegriff verwässert, indem eine eigentlich subjektive Wahrnehmung in das Begründungsgeschehen integriert wird? Wie ist diese begriffliche und intersubjektive Vermittlung von Wahrnehmung zu verstehen? Ist dies noch eine Art von Begrifflichkeit, die in Wittgensteins Sinne als ein Regel-Folgen im Gegensatz zum bloßen einer-Regel-zufolgen-Glauben gelten kann? Doch stellt, so die Erwiderung, die Möglichkeit des Bewusstseins einer Täuschung nicht ein Indiz für die Objektivität der Wahrnehmung dar und ist die begriffliche Vermitteltheit nicht eine Voraussetzung dafür? Hier gilt es wie oben zu unterscheiden, was an einer Wahrnehmung infallibel zu sein scheint, und was angezweifelt werden kann.30 Es wird nicht angezweifelt, dass ich etwas so wahrgenommen habe, wie ich es wahrzunehmen glaubte. Die Wahrnehmung wird lediglich als eine irrtümliche angesehen, was ihre Rolle als mögliche Begründung betrifft.31 Was sich dabei ändert, bezeichne ich als verifikativen Status. Es ist also möglich, dass die/der Wahrnehmende sich dafür entscheidet, einen Wahrnehmungsgehalt nicht für bare Münze zu nehmen, sondern für eine Täuschung zu halten. Wenn ein wahrnehmendes Subjekt sich zum Beispiel darüber klar wird, dass be29 30 31
MW, S. 28. Vgl. dazu auch S. 189. Als Disjunktivist spricht McDowell im Falle einer Täuschung nicht mehr von einer Wahrnehmung. Ich wähle dafür jedoch eine andere Ausdrucksweise und nenne eine Täuschung eine Wahrnehmung mit verändertem verifikativem Status.
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stimmte Wahrnehmungsbedingungen nicht gegeben sind (Lichtverhältnisse, Wachheit, Aufmerksamkeit usw.), könnte dies den verifikativen Status der Wahrnehmung ändern. Dort aber, wo die Rede von verlässlichen und nicht verlässlichen Wahrnehmungsbedingungen ist, ist der begriffliche Rahmen bereits ein intersubjektiv vermittelter. Umgekehrt könnte auch eingewendet werden, dass die Behauptung der Begrifflichkeit dem Charakter der Wahrnehmung nicht gerecht wird. Schließlich nehmen auch Tiere und kleine Kinder etwas wahr, können sich wahrnehmend orientieren und verständigen, ohne über Sprache zu verfügen. Dies scheint ein Argument für die Annahme der Nichtbegrifflichkeit von Wahrnehmungsgehalten dar. Liegt es also nicht nahe, davon auszugehen, dass Wahrnehmungsgehalte für sich genommen nicht-begrifflich sind, selbst wenn sie eine Relevanz für unsere Urteile und Überzeugungen besitzen? McDowell bestreitet nicht, dass wir Wahrnehmungsfähigkeit mit solchen Wesen teilen, die nicht über Begriffe verfügen. Doch, so seine Entgegnung, zwingt uns das nicht dazu, anzunehmen, dass das gemeinsame Element isoliert von denjenigen Fähigkeiten, die wir als eine Art zweite Natur erworben haben, nämlich den begrifflichen Fähigkeiten, vorkommen muss. Das gemeinsame Element muss also, so McDowell, nicht getrennt von dem Unterscheidenden sein. “So comparing ourselves with dumb animals cannot require us to separate sensibility from understanding, to exclude intuitions from the scope of spontaneity.”32
Vielmehr sei das Wahrnehmungsvermögen selbst in unsere begrifflichen Fähigkeiten aufgenommen. Die begrifflichen Fähigkeiten werden den sinnlichen Fähigkeiten nicht aufgepfropft, sie werden nicht unabhängig von diesen ausgeübt oder irgendwie auf sie angewendet. Die Rede von einer zweiten Natur bedeutet, dass sich aus der ersten Natur durch die Fähigkeiten des Menschen und seine Lebensbedingungen eine zweite 32
MW, S. 69.
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Natur gebildet hat. Begriffliche Fähigkeiten sind nicht nur ein hinzugekommenes Element, dessen Verbindung zur Wahrnehmung nun einer Erklärung bedarf; sie stellen vielmehr selbst eine Veränderung der sinnlichen Fähigkeiten dar.33 Selbst in der Erfahrung lassen sich nicht Elemente voneinander isolieren, die zum einen der Sinnlichkeit und zum anderen dem Urteilsvermögen zugeordnet werden. “We must not suppose that receptivity makes an even notionally separable contribution to its co-operation with spontaneity.”34
Dies führt zu der These, dass es zweierlei Arten von Wahrnehmung gibt: eine durchdrungen von Begriffen, und eine andere ohne sie.35 Im ersten Fall wird die Wahrnehmungsfähigkeit gleichzeitig auch durch begriffliche Fähigkeiten konstituiert. Die Vereinbarkeit des 2.) und 3.) Kriteriums betrifft die allgemeine Voraussetzung, dass das, was als eine Begründung zu gelten hat, auch konzeptionell, das heißt begrifflich, dafür gerüstet zu sein hat. Nur wenn Wahrnehmungsgehalte als mögliche Aussagen über tatsächliche Eigenschaften der Welt aufgefasst werden können, können sie gleichzeitig als mögliche Gründe für Überzeugungen gelten. Ich halte diese Voraussetzung für unbestreitbar, auch wenn es Auffassungen gibt, denen zufolge nichtbegriffliche wahrnehmungsgebundene Zustände als Gründe gelten können.36 Den Raum der Gründe über den Raum der Begriffe hinaus zu erweitern, läuft auf den Mythos des Gegebenen und die damit verbundenen Probleme hinaus. Sellars führt seine Kritik am Mythos des 33
34 35 36
McDowells Position wendet sich nicht nur gegen eine Position wie die von Evans, sondern gleichzeitig auch gegen solche Positionen, die behaupten, Wahrnehmungsgehalte besäßen sowohl nichtbegriffliche als auch begriffliche Elemente, das heißt gegen sogenannte „Mischpositionen“. Vgl. die Argumentation McDowells in MW, S. 63ff. Vgl. ebd. auch S. 69f. Vertreter einer solchen Mischposition sind McDowell zufolge z.B. Christopher Peacocke. MW, S. 51. Vgl. zu dieser Argumentation auch ebd., S. 63f. MW, S. 69. So z.B. Christopher Peacocke, A Study of Concepts, S. 7., 66 u. 80, sowie Gareth Evans, The Varieties of Reference, S. 227. Vgl. dazu McDowell, MW, S. 46-63 und 162-170.
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Gegebenen mit der These, dass nur das, was propositional gehaltvoll ist, einen Grund darstellen kann. “Nothing can count as a reason for endorsing a believable except another believable.” 37
Die Bedingung der begrifflichen Strukturiertheit eines möglichen Grundes für die Wahrnehmung wird durch McDowells hermeneutische Position erläutert. Sie macht die Vereinbarkeit des ersten und zweiten Kriteriums aus. Muss aber etwas, das als ein Grund gelten kann, nicht einem noch weiter gehenden Anspruch genügen – nämlich dass es sich dabei nicht nur um einen Überzeugungsgehalt, sondern um eine tatsächliche Überzeugung handelt? Damit geht es um die Vereinbarkeit von 1.) und 3.). Die eben genannte Annahme legt zumindest Davidson nahe: Als Grund einer Überzeugung kann nur etwas gelten, das selbst eine Überzeugung ist. Diese Erklärung provoziert mit Blick auf McDowells Projekt folgenden Einwand: Wenn Wahrnehmungen in das Begründungsgeschehen einbezogen sein sollen, und mit Davidson nur Überzeugungen Gründe für andere Überzeugungen darstellen können, treten dann sinnliche Eindrücke immer schon als (revidierbare) Überzeugungen auf – und wenn ja, sind sie dann überhaupt noch echte Wahrnehmungen und Empfindungen? Um hier Klarheit zu gewinnen, ist es wichtig, sich noch einmal den schon erwähnten Fall vor Augen zu führen: Es ist möglich, eine Wahrnehmung und zugleich das Bewusstsein einer Täuschung zu haben. Das heißt, ich kann wahrnehmen, dass p, und zugleich der Überzeugung sein, dass nicht p. Der korrigierenden Überzeugung gegenüber ist die Wahrnehmung resistent. Diese Überzeugungsresistenz zeigt beispielsweise die bekannte Müller-Lyer-Täuschung: Obwohl ich weiß, dass die beiden Linien gleich lang sind, nehme ich sie weiterhin als verschieden
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So lautet Brandoms Reformulierung des Sellarsschen Gedanken. Study Guide, S. 122f. (zu Sellars’ Kapitel I).
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lang wahr. Wie mir die Dinge erscheinen, scheint also unrevidierbar zu sein, was insbesondere an denjenigen Fällen deutlich wird, die als Täuschungen bewusst werden. Dies legt nahe, zwischen der Wahrnehmung und der sie begleitenden Überzeugung zu unterscheiden. Wahrnehmungen sind selbst noch keine Urteile. Nur durch diese Unterscheidung lässt sich an dem Charakter sinnlicher Evidenz, das heißt an der spezifischen Passivität festhalten, die den Kontakt zu einer überzeugungsunabhängigen Realität herstellt. Es kommt also darauf an, zwei Aussagen nicht miteinander zu verwechseln: Man muss nicht sagen, dass Wahrnehmungen selbst schon mit den Überzeugungen identisch sind, die jederzeit widerlegbar sind. Eine Wahrnehmungsüberzeugung stellt nicht, wie andere Überzeugungen, das Ergebnis eines Urteiles dar. Sie wird also in letzter Instanz unabhängig von jeweiligen Überzeugungen gewonnen.38 Gleichwohl lässt sich sagen, dass ihr Gehalt nicht unabhängig von möglichen ihnen entsprechenden Überzeugungen ist. Ihr Gehalt ist ein begrifflicher Gehalt, insofern er möglicher Gegenstand eines Urteils ist. Wie ich bereits dargelegt habe, kommt es darauf an, die epistemische Überzeugungsunabhängigkeit von der semantischen Überzeugungsabhängigkeit zu unterscheiden.39 Die gleichzeitige Gegebenheit von epistemischer Überzeugungsunabhängigkeit und semantischer Überzeugungsabhängigkeit erklärt auch die Vereinbarkeit passiver und aktiver Momente, welche durch 1) und 2) ausgesagt sind. In der Wahrnehmung, so McDowell, vermittelt sich passiv ein Gehalt, der eigentlich dem Bereich begrifflicher Aktivität
38 39
Vgl. McDowell, MW, S. 10, FN8 (zitiert auf S. 319) und MW, S. 28. Vgl. S. 316. Dort wurde die McDowellsche Auffassung von Wahrnehmungsgehalten als belief-dependent kinds of non-beliefs gekennzeichnet.
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entstammt.40 Es sind dort begriffliche Fähigkeiten am Werk, „noch ehe man dabei eine Wahl hatte“.41 Der entscheidende Unterschied zu Auffassungen wie denen von Davidson und Sellars ist der, dass Wahrnehmungen, die zwar als begrifflich strukturiert aufgefasst, jedoch nicht mit Überzeugungen identifiziert werden, dennoch begründungsrelevant sein sollen. Die Korrektur McDowells lautet: “Nothing can count as a reason for holding a belief except something else that is also in the space of concepts.”42
Damit werden Wahrnehmungen gegenüber ihrer Auffassung als bloß kausale Veranlassungen, zu urteilen, rehabilitiert und können nun als Gründe gelten, so und nicht anders zu urteilen. Diese konzeptuelle Änderung eines möglichen Grundes ist die Voraussetzung für die Kompatibilität der ersten zwei Kriterien mit dem dritten Kriterium. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Begrifflichkeit der Wahrnehmung genügt, um ihren Einfluss auf das System von Überzeugungen zu begründen. Wenn der Gehalt der Wahrnehmung nur möglicher Gehalt eines Urteiles ist, bedarf es jeweils eines zusätzlichen Urteiles, um durch eine Wahrnehmung tatsächlich zu einer Überzeugung zu gelangen und die Wahrnehmung somit als Grund für die entsprechende Überzeugung anzusehen. Man könnte sich also fragen, was in der Entgegensetzung zu Davidson damit gewonnen ist, den Wahrnehmungsgehalt als begrifflich aufzufassen, um sinnliche Erfahrungen als Gründe ansehen zu kön-
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“The view I am recommending is that even though experience is passive, it draws into operation capacities that genuinely belong to spontaneity.” MW, S. 13. “In experience one finds oneself saddled with content. One’s conceptual capacities have already been brought into play, in the content’s being available to one, before one has any choice in the matter.” MW, S. 10. MW, S. 140 und 143.
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nen.43 Wie kann damit ein rationaler Zwang, der durch die Erfahrung ausgeübt werden soll, erklärt werden? McDowell zufolge wird im Normalfall, wenn eine Wahrnehmung eine Überzeugung auslöst, nicht geurteilt. Was bedeutet diese Rede von einem Normalfall? Während wir in den überwiegenden Fällen davon ausgehen, dass die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen, sind es eher Störfälle, in denen Wahrnehmungen explizit als Gründe für Überzeugungen thematisiert werden. Wenn mir etwas befremdlich oder nicht stimmig vorkommt, könnte ich Überlegungen über die Umstände der Wahrnehmung anstellen. Wenn mich jemand fragt, wie ich zu dieser oder jener Überzeugung gekommen bin, kann ich sagen: weil ich es gesehen habe. Wir können uns in solchen Begründungen also rekursiv von einer Überzeugung und den sie begleitenden Überzeugungen auf die Wahrnehmung selbst beziehen. Wie ich bereits in der Kritik an Davidson dargestellt habe, kann daraus jedoch nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass im Normalfall eine Inferenz von der Wahrnehmung zur entsprechenden Überzeugung vollzogen wird. Wahrnehmungsüberzeugungen werden nicht unter Hinzuziehung weiterer Überzeugungen aus Wahrnehmungen abgeleitet.44 Davidsons eigene anti43
44
So fragt auch Kathrin Glüer in: On Perceiving That S. 8f. Glüer kommt zu dem Schluss, dass es bezüglich der durch Wahrnehmung gegebenen Gründe keinen entscheidenden Unterschied zwischen Davidsons und McDowells Position gibt. Beide könnten letztlich nur behaupten, dass Wahrnehmungen starke, aber anfechtbare Gründe darstellen. Denn es sei, wie auch McDowell zugibt, stets möglich, dass widersprechende Überzeugungen dazu führten, eine Wahrnehmung nicht als Grund für eine entsprechende Überzeugung anzunehmen. Hilfreich ist auch hier ein Blick auf die Unterscheidung der normativen und der psychologischen Dimension der Rede von Begründung: Wenn von einer Überzeugung gesagt wird, dass sie begründet ist, kann das zum einen heißen, dass der Urteilende sie für begründet hält bzw. eine Begründung für sie gegeben hat. Zum anderen kann die Rede von Begründetheit auch bedeuten, dass eine Überzeugung objektiv, möglicherweise auch ohne dass der Urteilende eine Begründung nachvollzogen hätte, begründet ist. Beispielsweise kann jemand der Überzeugung sein, dass die Erde um die Sonne kreist, ohne nur ansatzweise eine Begründung dafür geben zu können. Im Falle von Wahrneh-
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skeptizistische These lässt sich meines Erachtens auch auf den verifikativen Status von Wahrnehmungen, das heißt auf ihren Status als möglicher Grund, anwenden: Die Tatsache, dass jede einzelne Wahrnehmung in Bezug auf ihren verifikativen Status anzweifelbar ist, bedeutet nicht, dass alle auf einmal anzweifelbar sind und weiterer Urteile bedürfen.45 Es wäre kontraintuitiv, anzunehmen, dass jede Erfahrung einen solchen Urteilsvorgang impliziert. Der verifikative Status der Wahrnehmung wird nicht in jedem einzelnen Fall in Frage gestellt. Er bedarf auch nicht in jedem einzelnen Fall einer Versicherung. Nicht jede Überzeugung, so McDowell, ist das Resultat eines aktiven Meinungsbildungsprozesses.46 Eine Wahrnehmung führt daher im Normalfall direkt zu einer entsprechenden Überzeugung, ohne dass dabei eine Inferenz vollzogen bzw. ein Urteil gefällt würde.47 McDowell beschreibt die Art und Weise, in der eine Wahrnehmung eine Überzeugung hervorruft, daher als eine „Einladung“, die Dinge so zu sehen, wie sie zu sein scheinen: “A seen object as it were invites one to take it to be as it visibly is. It speaks to one; if it speaks to one’s understanding, that is just what its
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mungsüberzeugungen scheint McDowell die normative Dimension im Blick zu haben, die nicht unbedingt mit dem Akt einer Begründung einhergeht. Eine Begründung kann auch hier prinzipiell immer gegeben werden. Sie muss aber nicht aktuell gegeben sein, damit die aus der Wahrnehmung gewonnene Überzeugung selbst begründet ist. Ich verdanke diesen Hinweis Olaf Melchior. Vgl. McDowell: „Begründen muss nicht aus einem Ableitungsschritt von einem Inhalt zu einem anderen bestehen.“ MW, S. 73, FN6. Vgl. dazu auch Sellars: “For empirical knowledge, like its sophisticated extension, science, is rational, not because it has a foundation but because it is a selfcorrecting enterprise which can put any claim in jeopardy, though not all at once.” Empiricism and the philosophy of Mind, Kapitel 8, § 38. MW, S. 60. Eine Wahrnehmung kann auch zu mehrenen Überzeugungen führen, wie beispielsweise dass das Haus dort erleuchtet ist und dass sich hinter den Fenstern Menschen bewegen.
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speaking to one comes to. ‘See me as I am’ it (so to speak) says to one; ‘namely, as characterized by these properties’ – and it displays them.”48
Dass Wahrnehmungsgegenstände sprechen können, ist offenbar metaphorisch zu verstehen. Sie sprechen zu uns, indem sie die Überzeugung provozieren, dass die Dinge tatsächlich so sind, wie sie in der Wahrnehmung erscheinen. Diese Redeweise wird von McDowell noch ein Stück weiter getrieben: Im Normalfall übt, so McDowell, die Tatsache selbst einen Eindruck auf das Subjekt aus. Die von ihm vorgeschlagene Formulierung lautet: “… that the belief that an object has an observable property can be grounded in an impression itself: the fact’s impressing itself on the subject.”49
Diese Formulierung ist irritierend: Soll nun die Welt aus Tatsachen, das heißt aus wahren Behauptungen bestehen? Sind es nicht vielmehr raumzeitliche Gegenstände und ihre Eigenschaften, die wir wahrnehmen?50 Wie erklärt sich also diese Rede einer Wahrnehmung von Tatsachen? Ich denke, dass diese Rede von einer Wahrnehmung von Tatsachen zum einen als eine Aussage über den semantischen Gehalt von Wahrnehmungen zu verstehen ist. Allerdings kann dieses Verständnis auch ein Missverständnis hervorrufen, wenn die Rede von Tatsachen nicht gleichzeitig auch als eine ontologische Aussage über Wahrnehmungsgegenstände verstanden wird. Der semantische Aspekt äußert sich in der Erklärung, dass Erfahrungsgehalte, als begriffliche Gehalte, prinzipiell innerhalb des Denkbaren liegen. Sie sind in ihrer semantischen Abhängigkeit von möglichen 48 49 50
John McDowell, Having the world in view: Sellars, Kant, and Intentionality, S. 468. MW, S. 145. Vgl. z.B. Ernst Tugendhat, Wahrheit, S. 241, FN7: „Die Vorstellung eines Vergleichs eines behaupteten Sachverhalts mit der entsprechenden Tatsache macht außerdem die unzulässige Voraussetzung, daß sich Tatsachen in der Welt vorfinden. Die Welt (unsere raumzeitliche Welt) besteht aber nicht aus Tatsachen, sondern aus konkreten Gegenständen.“
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Urteilen zu verstehen. Der Gehalt der Wahrnehmung entspricht dem Gehalt möglicher Urteile oder leitet sich daraus ab. Gleichzeitig stellt er eine Wirkung von Eigenschaften der Umgebung auf die Sinnesorgane des Wahrnehmenden dar. Diese wechselseitige semantische Abhängigkeit besagt, dass weder der durch Überzeugungen geprägte noch der durch sinnliche Erfahrung gegebene Gehalt fundamental ist.51 Der erfahrbare Gehalt und der denkbare Gehalt können nicht unabhängig voneinander gefasst werden. Der erfahrbare Gehalt stellt ein Kriterium für die Wahrheit entsprechender Urteile dar, kann aber nicht unabhängig von dem Verständnis solcher Urteile gegeben sein. Das Kriterium wird schon als Ausdruck für ihre Erfülltheit aufgefasst.52 Das bedeutet, dass der sinnliche Gehalt nicht als bloßer sinnlicher Gehalt, sondern als diese oder jene tatsächliche Eigenschaft von Gegenständen wahrgenommen wird. So erklärt sich, dass Wahrnehmungen Überzeugungen hervorrufen können, ohne dass es dafür eines Urteilsaktes bedarf. Was erfahren wird, ist immer schon Element möglicher inferentieller Beziehungen zwischen Überzeugungen. Es wird dabei in seiner Bedeutsamkeit für das wahrnehmende Objekt, das heißt als Element seiner Weltsicht, erfahren.53 Erfahrungsgehalte müssen nicht erst in die Sprache des wahrnehmenden Subjektes übersetzt, nicht erst in seine Weltsicht integriert werden. Die jeweilige Vermittlung muss mit nicht mit jeder einzelnen Erfahrung (durch Urteile) hergestellt werden, sondern 51
52 53
McDowell erklärt diese wechselseitige semantische Abhängigkeit beispielsweise anhand eines hermeneutischen Zirkels zwischen dem Rot-Aussehen und dem Rot-Sein eines Dinges. Wir können nur verstehen, dass etwas rot ist, wenn wir zugleich wissen, was es heißt, dass etwas rot aussieht. Doch dass etwas rot aussieht, ist seinerseits nicht fundamental, sondern nur möglich, wenn man auch versteht, was es heißt, dass etwas rot ist. Vgl. MW, S. 30f. McDowell verweist dabei auf Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, §§ 18–20. Vgl. Andrea Kern, Einsicht ohne Täuschung. McDowells hermeneutische Konzeption von Erkenntnis, S. 924. Vgl. McDowell, “The integration [of sensual capacities in the network of conceptual capacities, Anm. d. V.] serves to place even the most immediate judgements of experience as possible elements in a world-view.” MW, S. 29.
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kann als hermeneutische Erschlossenheit, das heißt als schon vollzogene Eingebundenheit in die Ausübung sprachlicher Fähigkeiten aufgefasst werden.54 Diese Beschreibung des semantischen Gehaltes von Wahrnehmungen als die Wahrnehmung tatsächlicher Eigenschaften von Gegenständen, die gleichzeitig begriffliche Eigenschaften sind, ist aber nicht so zu verstehen, dass wir die jeweilige Beschaffenheit der Dinge als eine Tatsache wahrnehmen. Wahrnehmungsgehalte sind keine propositionalen Gehalte mit der zusätzlichen Überzeugung, dass es sich dabei um Tatsachen handelt. Eine solche Überzeugung würde ein Urteil über das Wahrgenommene bzw. eine vollzogene Begründung darstellen, beispielsweise nach eingehender Prüfung aller begleitenden Umstände der Wahrnehmung. So könnte ich zum Beispiel zu der Überzeugung kommen, dass ich mich tatsächlich in einem Zitronenhain befinde, nachdem ich zuerst daran gezweifelt habe. Es handelt sich bei der Rede von einer Wahrnehmung von Tatsachen hingegen nicht um eine Aussage über den eigentlichen Gehalt der Wahrnehmung, das heißt über das, was dem wahrnehmenden Subjekt durch die Wahrnehmung unmittelbar bewusst wird. Zwar wird das Wahrgenommene im Normalfall gleichzeitig als eine tatsächliche Eigenschaft der Umgebung wahrgenommen, jedoch nicht als eine Tatsache. Bei der Rede von einer Wahrnehmung von Tatsachen handelt sich vielmehr um eine ontologische Bemerkung über den Charakter des Wahrgenommenen. Damit ist gemeint, dass die wahrgenommene Beschaffenheit der Dinge gleichzeitig eine tatsächliche Beschaffenheit der
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Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Art starrer Verbindung zwischen Wahrnehmungen und Überzeugungen besteht und dass diese Überzeugungen dadurch automatisch gerechtfertigt seien. Diese Verbindung ist durchaus lösbar, wie jene Fälle demonstrieren, in denen die Wahrnehmung, oder genauer: der verifikative Status der Wahrnehmung angezweifelt werden. Gerade die Tatsache, dass sie normalerweise bestimmte Überzeugungen hervorrufen, lässt Wahrnehmungen in Bezug auf ihren verifikativen Status, das heißt als mögliche Gründe, anfechtbar sein.
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Dinge ist. Diese Unterscheidung wird deutlich anhand solcher Fälle, in denen ich meiner eigenen richtigen Wahrnehmung nicht traue. Ich nehme dann wahr, dass p, bin jedoch der Überzeugung, dass nicht-p, und es ist wirklich der Fall, dass p. Um einen solchen Fall beschreiben zu können, muss von der Wahrnehmung einer Tatsache gesprochen werden, die nicht von der begleitenden Überzeugung abhängig ist, dass es sich um eine Tatsache handelt. Ich muss also das, was sich mir in der Wahrnehmung vermittelt, nicht als Tatsache auffassen. Ich nehme wahr, dass p. Ich nehme nicht wahr, dass p eine Tatsache ist. Im grundlegenden Fall der Wahrnehmungserfahrung, das heißt in jenem Fall, in dem es sich nicht um eine Täuschung handelt, gibt es jedoch einen direkten Zusammenhang zwischen dem So-und-so-Sein der Dinge und der Wahrnehmung, dass die Dinge so-und-so sind. “That things are thus and so is the conceptual content of an experience, but if the subject of the experience is not misled, that very same thing, that things are thus and so, is also a perceptible fact, an aspect of the perceptible world.”55
Dieser grundlegende Fall erklärt McDowell zufolge zugleich den empirischen Gehalt unserer Begriffe und Überzeugungen. Da das So-und-soSein der Dinge begrifflicher Art ist und als solches erfahren wer den kann, sind es in diesem Fall die Tatsachen selbst, die einen Eindruck auf das Subjekt ausüben. Dabei ist es entscheidend, dass keine erkenntnistheoretischen Vermittler wie das bloße Aussehen-als-ob oder bloße sinnliche Eindrücke zwischen der Wahrnehmung und den sie verursachenden Dingen angenommen werden. Würde das, was wahrgenommen wird, mit dem gleichgesetzt werden, was auch der Gehalt von Wahrnehmungstäuschungen ist, nämlich ein bestimmter sinnlicher Eindruck oder eine Erscheinung, dann müsste die Art der Gerichtetheit der Wahrnehmung auf die Dinge jeweils als ein Urteil über den Gehalt eines sinnlichen Eindruckes aufgefasst werden. Gegen diese Ansicht ver-
55
MW, S. 26.
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tritt McDowell die These, dass der Wahrnehmungsgehalt in Bezug auf die tatsächlichen Eigenschaften der Dinge transparent ist. “In my picture impressions are, so to speak, transparent. … I f we cannot conceive impressions as transparent, we distance the world too far from our perceptual lives to be able to keep mystery out of the idea that our conceptual lives, including appearings, involve empirical content.”56
Transparenz heißt hier dem Wortsinne nach, dass ‚der Schleier der Erscheinungen‘ von den Dingen genommen ist. Wir nehmen also nicht wahr, dass etwas so-und-so auszusehen scheint oder nur so-und-so aussieht, sondern wir nehmen nach McDowell wahr, dass etwas beispielsweise rot ist, oder dass dort ein rotes Giebeldach ist.57 Die Rede von einer Wahrnehmung von Erscheinungen beschwört einen Skeptizismus in Bezug auf die tatsächliche Gegebenheit von Wahrnehmungsgegenständen und ihrer Eigenschaften und in Bezug auf den empirischen Gehalt von Begriffen herauf. Wenn Erfahrungen bloße Dispositionen zu Urteilen darstellen, lässt das einen erkenntnistheoretischen Abstand zwischen sinnlichen Erfahrungen und Urteilen entstehen, welcher erneut ein Oszillieren zwischen einem Mythos des Gegebenen und einer Kohärenztheorie provozieren würde. Eine Wahrnehmung geht daher McDowell zufolge im Normalfall direkt mit der Überzeugung, dass sich etwas (tatsächlich) so oder so verhält, einher. Es gibt einen unmittelbaren58 Zusammenhang zwischen Einwirkungen der Welt, der Wahr56 57
58
MW, S. 145. Das heißt, ein bloßes Aussehen-wie bzw. ein bloßes Aussehen-als-ob stellt durchaus einen möglichen Wahrnehmungsgehalt dar. Zum Beispiel wenn wir wissen, dass etwas tatsächlich nicht so ist, wie es aussieht, also im Fall einer widersprechenden Überzeugung. Nach McDowell stellt die Wahrnehmung von Erscheinungen (von einem Aussehen-als-ob) jedoch nicht den grundlegenden Fall einer Wahrnehmung dar. Er spricht von einem hermeneutischen Zirkel zwischen dem Rot-Aussehen und dem Rot-Sein. Demnach sind beide Aspekte kokonstitutiv. Vgl. MW, S. 30f. Mit „unmittelbar“ ist lediglich die epistemische, nicht die semantische Unabhängigkeit von Urteilen gemeint. Vgl. zur Unterscheidung von epistemischer und semantischer Überzeugungsabhängigkeit S. 316.
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nehmung und den entsprechenden Überzeugungen. Diese Beziehung ist nicht erst das Produkt einer bestimmten Interpretation oder eines die jeweilige Wahrnehmung betreffenden Urteiles. Die Rede von einer Wahrnehmung von Tatsachen kann also nur verstanden werden, wenn sie gleichzeitig als eine semantische Aussage über den Gehalt der Wahrnehmung und als eine ontologische Aussage über die diese Wahrnehmung verursachenden Gegenstände aufgefasst wird. Ansonsten liefe diese Rede auf die absurde These hinaus, dass Wahrnehmungsgehalte immer schon Urteile über die Gerechtfertigtheit von wahrgenommenen propositionalen Gehalten darstellen. Eine solche These wird von McDowell nicht vertreten. Anhand der Vereinbarkeit der drei genannten Kriterien lassen sich die Bedingungen für ein mögliches Grund-Sein von Erfahrungen folgendermaßen zusammenfassen: Wahrnehmungen können Gründe sein, weil sie über eine begriffliche Struktur verfügen. Eine weitere von Sellars für mögliche Gründe geltend gemachte Bedingung lautet, dass Gründe fallibel, das heißt anfechtbar sein müssen. 59 Diese Kritik richtet sich insbesondere gegen die empiristische Annahme selbstverifizierender Erfahrungssätze, das heißt gegen die Rechtfertigung solcher Sätze durch die Gegenwärtigkeit bestimmter sinnlicher Erfahrungen. Nach McDowell sind Wahrnehmungen durchaus anfechtbare Gründe für Überzeugungen, insofern ihr verifikativer Status prinzipiell angezweifelt werden kann.60 Sie stellen gleichwohl gewichtige Gründe dar, insofern Erfahrungsgehalte keine Produkte von Urteilen, sondern passiv gegeben sind. So charakterisiert, erfüllt sinnliche Erfahrung nach McDowell die Funktion, eine Reibung zwischen der Welt und unserem 59
60
Vgl. Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Kapitel I, § 7. Nach Sellars ist es nur dann sinnvoll, von zuverlässigen Erfahrungen zu sprechen, wenn man auch von unzuverlässigen sprechen kann. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass McDowell nicht von einem verifikativen Status spricht, sondern Täuschungen gar nicht mehr als Wahrnehmungen begreift. Mit McDowell sollte man also eher formulieren, dass Wahrnehmungen selbst prinzipiell angezweifelt werden können.
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LÖSUNGSANSATZ: M C DOWELL
System von Überzeugungen herzustellen. Das begriffliche Operieren ist nicht mehr das von McDowell gefürchtete reibungslose Rotieren im luftleeren Raum. VIII.1.5
Was leistet der Lösungsansatz McDowells? Was leistet McDowells therapeutischer Lösungsansatz für das in dieser Arbeit thematisierte Vermittlungsproblem zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten? Zunächst ist festzuhalten, dass McDowell ein sehr enges Vermittlungsverhältnis zwischen beiden konzipiert, ohne dabei in eine nominalistische Extremposition zu fallen, das heißt ohne den Gehalt von Wahrnehmungen auf immer schon getroffene sprachliche Unterscheidungen zurückzuführen. Das äußert sich darin, dass McDowell der Wahrnehmung innerhalb dieses Vermittlungsverhältnisses eine erkenntnistheoretische Relevanz zuspricht. So besagt der von McDowell verteidigte „minimale Empirismus“, dass sinnliche Erfahrungen grundsätzlich in der Lage sind, bestimmte Überzeugungen hervorzurufen oder auch in Frage zu stellen. Sinnliche Erfahrung hat also einen konkreten Einfluss auf unsere Überzeugungen, oder anders ausgedrückt: einen rationalen Einfluss darauf, wie unsere sprachlichen Beschreibungen der Welt ausfallen. Die fehlende Erklärung dieser Möglichkeit machte den kritischen Punkt der nominalistischen Extremposition aus. McDowell erläutert die Vermittlung zwischen sinnlichen und sprachlichen Fähigkeiten nicht als eine bloße Aufeinander-Bezogenheit, sondern seine Aussage lautet: Mit der Ausübung sprachlicher Fähigkeiten werden gleichzeitig sinnliche Fähigkeiten ausgeübt. Sprachliche Fähigkeiten begreifen sinnliche Fähigkeiten in sich ein. Es geht also um ein gegenseitiges Konstitutionsverhältnis, um ein Ineinandergreifen sinnlicher und sprachlicher Fähigkeiten. Dieses Ineinandergreifen wird von McDowell nur umrisshaft erklärt, das heißt eher durch die Klärung begrifflicher Grundlagen und durch ein Ausschließen möglicher Missverständnisse als durch eine konkrete Ausführung der Art und Weise der Vermittlung. McDowell trifft keine Aussagen über die Struktur einer von Sprache unberührten Wahrnehmung und inwiefern diese geeig-
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WAS LEISTET DER LÖSUNGSANSATZ M C DOWELLS?
net ist, sprachliche Strukturen in sich aufzunehmen. Da McDowell die Vermittlung sinnlicher und sprachlicher Fähigkeiten innerhalb des Bildungsweges eines Individuums verortet, wird die Frage nach der konkreten Vermittlung sinnlicher, für diese Vermittlung vorauszusetzender und sprachlicher, das heißt erst zu gewinnender Fähigkeiten zu einer genetischen Frage, die in erster Linie biologisch oder entwicklungspsychologisch zu beantworten ist. Die Leistung eines solchen Ansatzes besteht darin, dass sprachliche Fähigkeiten nicht mehr auf Gehalte sinnlicher Erfahrung angewendet werden müssten, sondern in ihnen selbst wirksam sind. Mit der Annahme der Begrifflichkeit von Wahrnehmungen stellt sich nicht mehr das Problem, die Vermittlung zweier kategorial verschiedener Gehalte zu erklären. Es ist nicht der einzelne Urteilsakt, durch den sprachliche Begriffe auf sinnliche Gehalte bezogen werden. Vielmehr besitzt die Wahrnehmung selbst schon einen begrifflichen Gehalt, der einer Interpretation zugänglich ist. Gleichzeitig kann an dem ursprünglich-sinnlichen Charakter der Wahrnehmung, das heißt an ihrer spezifischen Rezeptivität und an der epistemischen Urteilsunabhängigkeit von Wahrnehmungen festgehalten werden.61 Wenn Wahrnehmungsgehalte durch eine wechselseitigen Konstitution sinnlicher und sprachlicher Fähigkeiten erläutert werden, erscheint der Bezug auf diese Gehalte nicht als Interpretation eines nichtbegrifflichen Gehaltes durch begriffliche Fähigkeiten. Für eine solche Übertragungsleistung würde sich die Frage stellen, ob sie selbst durch begriffliche oder nicht-begriffliche Fähigkeiten zu erklären ist. Diese Frage führt zu keiner befriedigenden Antwort; sie kann je nach der Art ihrer Beantwortung nur verschoben werden. An der Nahtstelle zwischen begrifflichen und nichtbegrifflichen Gehalten wird sie sich erneut stellen, oder aber eine Unzufriedenheit darüber auftreten, dass die Vermittlung durch rein kausale Reaktionen der Sinnesorgane auf physikalische Vor61
Zur Unterscheidung von semantischer Urteilsabhängigkeit und epistemischer Urteilsunabhängigkeit vgl. S. 316.
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gänge der Umwelt erklärt werden soll. Eine rein kausale Erklärung kann, so McDowells Betonung, keine zufriedenstellende Erklärung dafür sein, inwiefern Wahrnehmungen einen rationalen Einfluss auf unsere Überzeugungen besitzen können. Diese Unzufriedenheit bzw. der von mir dargestellte drohende Regress kann nur vermieden werden, indem das Vermittlungsverhältnis als eine Beziehung zwischen begrifflichen Gehalten aufgefasst wird. Damit wird gleichzeitig auch ein Rückfall in den von Davidson kritisierten Schema-Inhalt-Dualismus ausgeschlossen: sinnliche Gehalte sprechen nicht aus einer eigenen, nichtsprachlichen Struktur heraus. McDowell kritisiert also die Annahme, dass Wahrnehmung an sich keine Erkenntnisfunktion besitze bzw. dass sie keinen rationalen Einfluss auf Überzeugungen ausüben könnte. Exemplarisch dafür ist die von Davidson vertretene und von McDowell als „kohärentistisch“ bezeichnete Position, derzufolge Wahrnehmung für die Bildung von Überzeugungen eine nur kausale Rolle spielt. Ebenso unhaltbar ist nach McDowell eine Position, derzufolge Wahrnehmungen oder Wahrnehmungsüberzeugungen immer schon Gegenstände von Urteilen sind, denn als solche könnten sie kein Tribunal, keine Begrenzung für das System von Überzeugungen darstellen. Wahrnehmungsgehalte sind McDowell zufolge mögliche Gehalte von Urteilen, nicht jedoch durch Urteile schon vorweggenommen. Wahrnehmungen sind zugleich als Ausübungen sinnlicher und als Ausübungen begrifflicher Fähigkeiten anzusehen. Das heißt nicht, dass sie in gleicher Weise Ergebnisse von Urteilen darstellen wie andere Überzeugungen. Wahrnehmungsüberzeugungen werden typischerweise passiv gewonnen – auch wenn daran Fähigkeiten beteiligt sind, die zum Bereich aktiver Urteilstätigkeit gehören. Obwohl McDowell keine Aussagen über die Struktur nichtsprachlicher Wahrnehmung trifft, wendet er sich gegen die von ihm „orthodox“ genannte Vorstellung, dass der begriffliche Bereich eine Außenseite hat, welche von einzelnen Objekten bevölkert sei. Das Reich des Begrifflichen soll vielmehr im Fregeschen Sinne als ein (unbegrenztes)
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WAS LEISTET DER LÖSUNGSANSATZ M C DOWELLS?
Reich des Sinns aufgefasst werden, das sowohl Einzelnes als auch Allgemeines in sich begreift. Insofern wendet sich McDowell gegen die Identifikation von Begrifflichkeit mit prädikativer Allgemeinheit. 62 Die Zuordnung der Kategorie der Einzelheit zur sinnlichen Wahrnehmung und der Kategorie der Allgemeinheit zur prädikativen Funktion der Sprache stellt also auch für McDowell eine unannehmbare Position dar. McDowell soll hier jedoch nicht lediglich als Überwinder jenes zu kritisierenden und alten Dogmas vorgestellt werden, sondern als ein Denker, dem es um die Betonung der erkenntnistheoretischen Relevanz der Wahrnehmung innerhalb ihrer sprachlichen Vermitteltheit geht. Die Begrifflichkeit von Wahrnehmungsgehalten darf also nicht so verstanden werden, dass es sich dabei um Instanziierungen prädikativer Allgemeinheit handelt, wie beispielsweise in der Beschreibung „dieses Karmesin-Rot“. Vielmehr macht die Begrifflichkeit der Wahrnehmung selbst jene Offenheit der Sprache zur Welt aus, in dem auch von McDowell betonten Sinne, dass sinnlich Wahrgenommenes zwar als sprachlich Ausdrückbares, nicht aber als schon Ausgedrücktes aufzufassen ist. McDowells These in Bezug auf das Vermittlungsverhältnis zwischen sinnlichen und sprachlichen Gehalten geht jedoch noch weiter: Wenn wir nicht von einem rationalen Einfluss der Erfahrung auf unsere Überzeugungen ausgehen können, wird McDowell zufolge der empirische Gehalt, das heißt die Bedeutung unserer Begriffe, in Frage gestellt. Unabhängig von der Verpflichtetheit unserer Überzeugungen gegenüber möglicher Erfahrung lässt sich begrifflicher Gehalt überhaupt nicht verstehen. Mit Kant betont McDowell damit ein kokonstitutives Verhältnis sinnlicher und sprachlicher Fähigkeiten. In der Wahrnehmung von über Sprache verfügenden Menschen lassen sich sinnliche und begriffliche Elemente nicht voneinander trennen. Diese These ermöglicht es McDowell, zu erklären, wie Wahrnehmungen gleichzeitig einen begriff62
Vgl. MW, S. 105ff. “I f we want to identify the conceptual realm with the realm of thought, the right gloss on ‘conceptual’ is not ‘predicative’ but ‘belonging to the realm of Fregean Sense’.” S. 107.
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LÖSUNGSANSATZ: M C DOWELL
lichen Gehalt besitzen und dennoch rezeptiv, das heißt nicht das Produkt von Urteilstätigkeit sind. So kann Erfahrung als jenes Tribunal verstanden werden, demgegenüber wir in unseren Überzeugungen verpflichtet sind, auf das wir uns also rechtfertigend und diese Überzeugungen revidierend beziehen können. Wie Gadamer legt auch McDowell ein größeres Gewicht auf die Schon-Gegebenheit von Begriffen als auf die Frage, wie wir zu diesen Begriffen überhaupt kommen. So spricht er von einer Initiation in begriffliche Fähigkeiten durch Bildung, was eine konventionalistische Auffassung des Gebrauchs von Begriffen durch eine Gemeinschaft von Sprechern nahelegt. Dass die begriffliche Vermitteltheit und Vermittelbarkeit von Erfahrung nicht nur den empirischen Gehalt von Begriffen und damit begrifflichen Gehalt überhaupt, sondern auch das Moment von Kreativität in der Verwendung von Begriffen ausmacht, ist ein von McDowell weniger beachteter Aspekt.
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VIII.2
Zusammenfassung des Lösungsvorschlages
Der Vermittlungsvorschlag der Hermeneutik und die Position McDowells stellen alternative Auffassungen dar, die das zu kritisierende Dogma der Einzelheit von Wahrnehmungsgegenständen überwinden. Mit dieser Überwindung, das wird bei McDowell ebenso wie schon bei Heidegger und Gadamer deutlich, entfällt das Problem, zu erklären, was die Fähigkeit ausmacht, Begriffe auf sinnliche Gehalte der Wahrnehmung anzuwenden. Sinnliche Unterscheidungsfähigkeit muss für das Vermittlungsverhältnis von sinnlichen und sprachlichen Gehalten als grundlegend vorausgesetzt werden. Diese Unterscheidungsfähigkeit lässt sich insbesondere mit Heidegger und Gadamer so verstehen, dass das Hinsehen auf ein Allgemeines, als auf ein Vertrautes bzw. für die eigenen Belange je Relevantes eine zentrale Funktion der Wahrnehmung darstellt. Die Anwendung von Begriffen auf Wahrnehmungssituationen erscheint weniger rätselhaft, insofern sich nicht mehr die Frage stellt, ob die Fähigkeit zu solcher Anwendung selbst eine sprachliche Fähigkeit darstellt oder ob nicht doch ein Rekurs auf mentale Gegenstände diese Fähigkeit erklärt. Gleichwohl kann die in der Wahrnehmung liegende Erkenntnis von Gleichartigem nicht mit sprachlicher Begrifflichkeit gleichgesetzt werden. Dass es sich bei diesem Lösungsvorschlag nicht um eine Erklärung sprachlicher Allgemeinheit durch sinnliche Gleichartigkeit handelt, lässt sich nun mit McDowell plausibilisieren. Sprachliche Fähigkeiten werden auf eine Weise erworben, die McDowell als eine Einbettung in sinnliche Fähigkeiten beschreibt.1 Beide Fähigkeiten sind nicht mehr voneinander zu trennen. Das bedeutet, dass Wahrnehmungsfähigkeit nicht mehr die gleiche ist, wenn Sprachfähigkeit erworben wurde. Es ist 1
Vgl. MW, Einleitung, XX sowie S. 10, 77f., 87f.
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ZUSAMMENFASSUNG DES LÖSUNGSVORSCHLAGES
nicht so, dass die wahrgenommene Gleichartigkeit nur sprachlich beschrieben und damit eingeordnet würde in ein System von Begriffen. Die Wahrnehmung selbst wird modifiziert. Das, was als gleichartig erkannt wird, ist nun ein begrifflich Allgemeines und damit ein Element innerhalb unserer Denkens und Handelns, d.h. auch in unserer Praxis des Rechtfertigens von Überzeugungen. Es gibt keine rein sinnlichen Elemente in der Ausübung dieser eng miteinander verknüpften Fähigkeiten. Eine solche Annahme würde geradewegs zurück zu der Annahme führen, dass Wahrnehmung sich auf Einzelnes richte, und damit erneut ein Vermittlungsproblem heraufbeschwören. Die von McDowell betonte Tatsache, dass es sich nicht mehr um dieselbe Wahrnehmungsfähigkeit handelt, wie wir sie bei nicht über Sprache verfügenden Wesen finden, macht deutlich, dass es sich um kein Fundierungsverhältnis zwischen sinnlicher und begrifflicher Allgemeinheit handeln kann: Die Fähigkeit, Begriffe zu verwenden, lässt sich nicht durch die Fähigkeit, Gleichartiges wahrzunehmen, erklären. Es handelt sich um eine davon unterschiedene und weiter gehende Fähigkeit. Sie kann zwar nur verstanden werden, wenn die für sie konstitutive Rolle der Wahrnehmung berücksichtigt wird, sie lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Die konstitutive Rolle der Wahrnehmung kann jedoch nur dann berücksichtigt werden, ohne dass sich ein Vermittlungsproblem einstellt, wenn sie als eine Fähigkeit, Gleichartiges zu erkennen, aufgefasst wird. Offenbar kann begriffliche Fähigkeit überhaupt nicht getrennt von Wahrnehmungsfähigkeit vorkommen. Im Zuge des Lösungsvorschlages dieser Arbeit lässt sich sagen, dass sie zumindest teilweise aus der Fähigkeit, etwas als etwas wahrzunehmen, besteht. Sie lässt sich darauf nicht reduzieren, da sie weitere Fähigkeiten impliziert, wie kognitive und operative Fähigkeiten. Eine Explikation des Zusammenwirkens dieser Fähigkeiten und eine daraus resultierende Erklärung dessen, was das Verfügen über Begriffe ausmacht, würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
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IX
SCHLUSSBEMERKUNG
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SCHLUSSBEMERKUNG
Ich habe in dieser Arbeit ein Vermittlungsproblem behandelt: das Problem der Vermittlung sinnlicher und sprachlicher Fähigkeiten in philosophischen Theorien. Dieses Problem äußert sich zugespitzt in zwei Extrempositionen: Einerseits in der Annahme, sinnliche Gehalte seien inkommensurabel, sie könnten also prinzipiell nicht durch sprachliche Beschreibungen ausgedrückt werden. Auf der anderen Seite findet sich das Problem in der Auffassung eines allein durch sprachliche Fähigkeiten erklärten Vermittlungsverhältnisses. Diese Auffassung äußert sich in der Annahme, sinnliche Gehalte würden durch Wahrnehmungsurteile eine Bestimmung oder Interpretation erhalten, innerhalb dieser Bestimmung jedoch keinerlei erkenntnistheoretische Relevanz besitzen. Zunächst bin ich dem Zusammenhang zwischen der Auffassung des besagten Vermittlungsverhältnisses und der Urteilstheorie, das heißt der Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, gefolgt. Dabei zeigte sich, dass die klassische Urteilstheorie, die Synthesistheorie des Urteils, eng verbunden ist mit einer Auffassung, derzufolge der sprachliche Zugriff auf sinnliche Gehalte ein äußerer Zugriff ist, der das jeweils Einzelne sinnlicher Eindrücke unter allgemeine Begriffe subsumiert. Sie steht also in einem systematischen Zusammenhang mit der ersten Extremposition, welche den sprachlichen Zugriff als einen notwendigen Verlust des ursprünglich-sinnlichen Gehaltes beschreibt. Die Synthesistheorie des Urteils geht einher mit einer Gegenstandstheorie der Bedeutung. Das bedeutet, dass auch die Bedeutung eines allgemeinen Ausdruckes nicht durch seine Verwendung im Satz, sondern durch den Bezug auf eine Bedeutungsentität, wie zum Beispiel die Idee oder Vorstellung eines allgemeinen Merkmales, erklärt wird. Die prädikative Bestimmung von Wahrnehmungsgegenständen wird damit als ein äußerer Zugriff sprachlicher Fähigkeiten auf das sinnlich Gegebene verstanden, welches durch diesen Zugriff strukturiert wird. Mit dem Erfassen eines gemeinsamen Merkmales, welches prädikative Allgemeinheit ausmacht, wird zugleich von dem sinnlichen Gehalt abstrahiert. Dieses Merkmal wird durch den Verstand erfasst und im Urteil mit dem Gegenstand verbunden, für den der Subjektausdruck steht.
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SCHLUSSBEMERKUNG
Mit dem linguistic turn wird die Synthesistheorie durch eine Gebrauchstheorie der Bedeutung bzw. durch eine funktionale Erklärung abgelöst. Demnach erklärt sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke durch ihre Verwendung in Sätzen. Das heißt, dass nicht einzelne Ausdrücke, sondern ganze Sätze die grundlegenden Bedeutungseinheiten der Sprache sind. Die Bedeutung allgemeiner Ausdrücke wird nicht erklärt durch mentale Gegenstände, für die sie stehen, sondern vielmehr durch ihre Charakterisierungsfunktion in Sätzen. Dennoch stellt sich auch hier noch die Frage, was die Fähigkeit, diese Ausdrücke auf sinnlich gegebene Gegenstände anzuwenden, ausmacht: Wie können wir entscheiden, ob diesem oder jenem sinnlich gegebenen Gegenstand ein Prädikat zukommt oder nicht, vor allem, wenn es sich um einen Gegenstand handelt, der in noch keiner Erklärung zum Beispiel genommen wurde? Muss für diese Fähigkeit nicht doch so etwas wie eine Allgemeinvorstellung, das heißt die Kenntnis dessen, was die den verschiedenen Einzeldingen gemeinsame Eigenschaft ausmacht, vorausgesetzt werden? Auf diese Frage antwortet die zweite Extremposition: Die Fähigkeit, etwas verschiedenen Dingen Gemeinsames, also Gleichartiges, zu erkennen, ist selbst schon eine sprachliche Fähigkeit. So stellen sinnliche Unterscheidungen stets Fortsetzungen sprachlicher Unterscheidungen dar, ‚rein sinnliche‘ Unterscheidungen dagegen entbehren jeglicher erkenntnistheoretischer Relevanz. Das Problem, das beiden Extrempositionen zugrunde liegt, scheint also nicht allein in einer Synthesistheorie bzw. Gegenstandstheorie der Bedeutung zu liegen, denn diese wird durch die Gebrauchstheorie der Bedeutung abgelöst. Es liegt vielmehr in einer bestimmten Auffassung der Wahrnehmung selbst. Diese Auffassung besteht in einem althergebrachten Dogma, welches sich bereits bei Aristoteles findet: das Dogma, demzufolge die Wahrnehmung sich auf Einzelnes richte. Diese Bestimmung ist für den von mir analysierten Problemzusammenhang als eine erkenntnistheoretische Bestimmung relevant: Dass die Wahrnehmung Einzelnes erfasst, bedeutet, dass das Wahrgenommene jeglicher erkennt348
SCHLUSSBEMERKUNG
nisrelevanter Verbindungen entbehrt, dass es also lediglich als ein Mannigfaltiges, Verworrenes, Flüchtiges gelten kann. Wenn Wahrnehmungsgegenstände in dieser Weise aufgefasst werden, muss die Herstellung einer Verbindung zwischen ihnen, das heißt einer Synthesis, notwendig beim Verstand liegen. Allgemeinheit wird erst durch die verbindende Tätigkeit des Verstandes konstituiert. Diese verbindende Tätigkeit ist jedoch in erster Linie eine Verbindung von Vorstellungen. Dies lässt sich anhand der klassischen Synthesistheorie des Urteils und besonders auch bei Kant zeigen. Doch auch eine sich an Frege und Wittgenstein anschließende funktionale Erklärung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wird an diesem Punkt vor einer Entscheidung stehen: Denn die Frage, was die Fähigkeit ausmacht, Begriffe auf je neue Wahrnehmungssituationen anzuwenden, wird erst dann problematisch, wenn Wahrnehmung in der zu kritisierenden Weise, das heißt im Sinne des genannten Dogmas aufgefasst wird: Wenn Wahrnehmung Einzelnes erkennt, das heißt lediglich als kausale Ursache für sprachliche Äußerungen gelten kann, muss die für unsere Urteile relevante sinnliche Unterscheidungsfähigkeit als eine rein sprachliche Fähigkeit verstanden werden. Meine These lautet also, dass sich die Plausibilität und die Problematik beider Extrempositionen der Projizierung einer kategorialen Unterscheidung (derjenigen zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil) auf ein ursprünglich logisches Wechselverhältnis (zwischen Einzelnem und Allgemeinem) verdankt. Wenn der Wahrnehmung die Kategorie der Einzelheit zugeschrieben wird, gerät die Vermittlung des Sinnlich-Einzelnen mit dem Sprachlich-Allgemeinen zu einem Rätsel. Die in der Wahrnehmung vorauszusetzende Gleichartigkeit muss dann entweder auf sprachliche Allgemeinheit zurückgeführt bzw. mit dieser gleichgesetzt werden, oder aber zwischen der Struktur sinnlicher Erfahrung und sprachlicher Allgemeinheit kann in letzter Konsequenz keine Entsprechung angenommen werden. Wird die genannte Projektion eines logischen Wechselverhältnisses auf das kategoriale Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmung und Sprache aufge-
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SCHLUSSBEMERKUNG
geben, entfällt das Problem, auf das die extremen Positionen zu antworten versuchen. Im Anschluss an Tugendhat habe ich einen Lösungsansatz formuliert, der einen Ausweg aus dem Dilemma der beiden Extrempositionen darstellt: Die Struktur der Wahrnehmung bietet eine weniger rätselhafte Grundlage für die Anwendung von Begriffen auf Gegenstände der Wahrnehmung, wenn diese nicht als Einzelnes, sondern als Gleichartiges erfassend verstanden wird. Gelöst wird damit das Problem, dass zur Allgemeinheit sprachlicher Begriffe keine Entsprechung in der Struktur der Wahrnehmung gefunden werden kann, dass die Sprache also notwendig von außen, entweder aus einer Position der Entfremdung, oder aber in einem einseitig aufgefassten Bestimmungsverhältnis auf Wahrnehmungsgehalte Bezug nimmt. Das Allgemeine, wie es durch ein Prädikat ausgedrückt wird, stellt zwar eine andere Qualität der Bestimmung von als gleichartig Wahrgenommenem dar. Dennoch lässt sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nun allein dadurch erklären, dass auf die jeweilige Verwendung und insofern auch auf die jeweilige Wahrnehmungssituation verwiesen wird. Die Gleichartigkeit verschiedener Wahrnehmungsgegenstände muss dabei nicht als ein mentaler Gegenstand, als das Bewusstsein einer gemeinsamen Eigenschaft bzw. eines gemeinsamen Merkmales gegeben sein. Begriffe – als Funktionen von Sätzen verstanden – zwingen uns, in einem noch unbestimmten Feld von Ähnlichkeiten Trennlinien zu ziehen, Gemeinsames von Einzelnem auszusagen, Identisches von Nichtidentischem zu trennen1; sie geben uns aber nicht erst die Fähigkeit, etwas überhaupt als gleichartig wahrnehmen zu können. Darin liegt eine Gemeinsamkeit zwischen 1
Dieser Zwang ist als ein rationaler Zwang zu verstehen, als jener z.B. von McDowell betonter Aspekt der Normativität, welcher den repräsentativen Gehalt von Begriffen ausmacht: Dass sie die Dinge so beschreiben, wie sie tatsächlich sind. Vgl. S. 307. Damit ist verbunden, dass wir mit dem Besitz von Begriffen über Kriterien verfügen, zu entscheiden, ob unsere Beschreibungen der Welt zutreffend sind oder nicht. Der rationale Zwang besteht darin, diese Kriterien auch anzuwenden.
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SCHLUSSBEMERKUNG
sinnlicher Erfahrung und sprachlicher Begrifflichkeit, die eine Anknüpfungsmöglichkeit herstellt, ohne die Souveränität beider Bereiche in Frage zu stellen.
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LITERATURVERZEICHNIS
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Primärliteratur
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