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German Pages 62 [64] Year 1981
Michael Theunissen Selbstverwirklichung und Allgemeinheit
w DE
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Michael Theunissen
Selbstverwirklichung und Allgemeinheit Zur Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1982
CI Ρ- Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Theunissen, Michael: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit : zur Kritik d. gegenwärtigen Bewusstseins / Michael Theunissen. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1981. ISBN 3-11-008781-2
© 1981 by Walter de G r u y t e r & Co., v o r m a l s G . J. G ö s c h e n ' s c h e V e r l a g s h a n d l u n g * J . G u t t e n t a g , V e r l a g s b u c h h a n d lung · G e o r g Reimer · Karl J. T r ü b n e r · Veit 6t C o m p . , Berlin 30, G e n t h i n e r Straße 13. Alle Rechte, insbesondere das der Ü b e r s e t z u n g in f r e m d e Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses B u c h o d e r Teile daraus auf p h o t o m e c h a n i s c h e m W e g e ( P h o t o k o p i e , M i k r o k o p i e , X e r o k o p i e ) zu vervielfältigen. Printed in G e r m a n y Satz: H . H a g e d o r n , Berlin - D r u c k : Hass &. Co, Berlin · B u c h b i n d e r a r b e i t e n : F u h r m a n n , Berlin
Vorwort Den nachfolgenden Ausführungen liegen Vorträge zugrunde, die ich im Juni/Juli 1981 vor dem Philosophischen Forum in Kopenhagen und im Rahmen der Hochschultage an der Freien Universität Berlin gehalten habe. Sie folgen dem Aufriß des Berliner Vortrags, der einen Beitrag zu dem Generalthema „Selbstverantwortung und arbeitsteilige Gesellschaft" zu leisten hatte. Der Text wurde für den Druck erweitert, stellenweise verändert und mit Anmerkungen versehen. Eine eigene Fassung war Vorlage für eine Diskussion in dem von Ernst Tugendhat und mir geleiteten Colloquium „Geschichte und philosophische Wahrheit" vom Sommersemester 1981. Hier und da habe ich versucht, Einwänden, die in dieser Diskussion vorgebracht wurden, Rechnung zu tragen. Berlin, im September 1981
M. T.
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Inhalt Seite I. Versuch, einen vollen Begriff von Selbstverwirklichung wiederzugewinnen 1. Das modernistische Verständnis von Selbstverwirklichung und seine Alternativen 2. Das Programm einer Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins II. Versuch, unsere Zeit mit Hegel zu begreifen 1. Hegels Forderung nach einem allgemeinen Leben und sein Begriff von Allgemeinheit 2. Ein zeitdiagnostisches Schema 3. Applikation des Schemas auf unsere Zeit 3.1. Die Selbstwidersprüchlichkeit der Leben anbietenden Instanz 3.2. Der Widerspruch zwischen angebotenem und gesuchtem Leben 3.3. Die Selbstwidersprüchlichkeit des gesuchten Lebens Anmerkungen
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VII
I.
Versuch, einen vollen Begriff von Selbstverwirklichung wiederzugewinnen 1. Der amerikanische Soziologe und Kulturkritiker Daniel Bell rückt den heutigen Lebensstil breiter Massen vor den Hintergrund kultureller Prozesse, die in vereinzelten Ansätzen um 1800 begonnen und um 1850 eine neue Bewußtseinslage herbeigeführt haben 1 . Er und andere bezeichnen die in dieser Zeit sich entwickelnde Kultur als Modernismus. Der Modernismus tritt beispielsweise in der deutschen Romantik zutage und bei den französischen Symbolisten voll in Erscheinung; aber er wurzelt in der Moderne, als welche die beginnende Neuzeit sich verstand und als die sich uns insbesondere die neuzeitliche Aufklärung darstellt. Geht man bis auf seine expliziten Anfänge in der Aufklärung zurück, so kann man im Sinne Beils sagen, daß in der europäischen Kultur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Wende zum Modernismus sich abzeichnet 2 . Was es mit dem Modernismus auf sich hat, zeigt sich am deutlichsten an dem eigentümlichen Wert, als den wir unsere „Selbstverwirklichung" zu schätzen pflegen. Der Modernismus
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ist im Ganzen und im Grunde die Ideologie der Selbstverwirklichung. Man kann sich fragen, ob nicht mit dem Wort auch die Sache erst in seinem Gefolge aufgekommen ist. Auf jeden Fall aber bekommt die Sache, sollte sie es denn vorher überhaupt gegeben haben, im abgesteckten Zeitraum eine die modernistische Kultur spezifisch kennzeichnende Bedeutung. Schauen wir uns insbesondere an, wie die neuere Philosophie Selbstverwirklichung begreift, so sehen wir die Diagnose Beils grundsätzlich bestätigt: Die These, nach welcher das gegenwärtige Bewußtsein durch einen vor 130 oder 150 oder 200 Jahren eingetretenen Wandel geprägt ist, wird durch den Umstand erhärtet, daß das philosophische Verständnis von Selbstverwirklichung in der Zeit nach Kant und noch deutlicher in der Zeit nach Hegel eine bestimmte Färbung annimmt, in der es uns noch heute begegnet. In Deutschland verknüpft sich mit dem Gedanken der Selbstverwirklichung spätestens seit Schillers Umdeutung des Kantischen Autonomiebegriffs die Vorstellung einer Entfaltung der je eigenen Individualität. Eine solche Individualisierung wurde zunächst noch teleologisch als Entwicklung aufgefaßt, als fortschreitende Realisierung eines vorgegebenen Zwecks, und sodann immer mehr als ein Mit-sich-Experimentieren, als ein eigentlich zielloser Weg, auf dem das Individuum erst erfahrt, was es ist. Vor allem aber setzt sich im nachhegelschen Denken mehr und mehr die Meinung fest, der Mensch könne seine Individualität nur entfalten, wenn er sich aus gesellschaftlichen Verhältnissen löst oder sich gar von allen zwischenmenschlichen Beziehungen zurückzieht. Am entschiedensten vertreten diese Auffassung die Hauptrepräsentanten der Existenzphilosophie. Kierkegaard, der Vater der Existenz2
philosophie, hatte zwar noch religiöse Motive, die ihn hinderten, Selbstverwirklichung auf eine Entfaltung der je eigenen Individualität zu reduzieren. Aber die Selbstverwirklichung oder, wie er sagt, das Selbstwerden des „Einzelnen", um den allein es ihm ging, geriet doch am Ende schon ihm zur Vereinzelung in dem Sinne, in welchem Heidegger diesen Terminus verwendet 3 , d. h. zur Befreiung von den anderen4. Der Diagnose Beils ist noch in einer weiteren Hinsicht zuzustimmen. Der liberalkonservative Gesellschaftstheoretiker erblickt im Autismus der modernistischen Kultur eine polemische Reaktion auf die techno-ökonomische Struktur westlicher Gesellschaften, die in diesem wirtschaftlichen Bereich zweckrational eingerichtet und auf Zweckrationalität ausgerichtet sind. Das in der Zeit nach Hegel sich verfestigende Verständnis von Selbstverwirklichung liefert auch für die Reaktionsthese einen Beleg. Es findet seinen angemessensten Ausdruck im existenzphilosophischen Begriff des Selbstr«'»x. Der Selbstseinsbegriff verbalisiert aber als solcher schon das Moment, auf das Beils Reaktionsthese abhebt. Daß ich ich selbst sein will, heißt auch und nicht zuletzt: Ich will mehr und anderes sein als das, was ich in meiner sozialen Funktion bin. Ich bin ich selbst, sofern ich nicht aufgehe in den Rollen, die ich als Mann, als Vater, als Hochschullehrer spiele. Der Begriff des Selbstseins entwirft geradezu eine Alternative zu diesem rollenhaften Ais-Sein, zu dem Sein, das mir als Glied von Gemeinschaften zukommt 5 . Er löst, in einen anderen Begriff übersetzt, der nicht zufällig ebenfalls Hochkonjunktur hat, die persönliche von der sozialen Identität ab. Seine polemische Spitze richtet sich damit letztlich gegen Arbeitsteilung. Die Existenzphilosophie ist in dieser Hinsicht nur ein später Nach-
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hall Rousseaus und des deutschen Rousseauismus. Machen doch schon Rousseau und unter seinem Einfluß Schiller die harmonische Entfaltung der je eigenen Individualität, im Emile zum Erziehungsprogramm erhoben, gegen eine entfremdende Arbeitsteilung geltend. Die Existenzphilosophie bezeugt diese Opposition gerade auch in der Version, die, wie die von Jaspers, Selbstsein aus einem Miteinandersein von Individuen herleitet. Denn das Miteinandersein schränkt sie da nicht zufällig auf den privaten Bereich ein, auf die Rollen, die das Individuum im persönlichen Umgang mit bestimmten Partnern spielt. Ausgeschlossen ist also aus der gesamten Philosophie des Selbstseins, aus der positiv sozialphilosophischen ebenso wie aus der negativ sozialphilosophischen Heideggers oder Sartres, das funktionale oder Ais-Sein, das sich aus der Arbeitsteilung ergibt, aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und aus der arbeitsteiligen Organisation der Produktionsstätten. Hier wie dort will sie dem Individuum einen Freiraum sichern, in welchem es nicht nach den Effizienzkriterien der techno-ökonomischen Gesellschaftssphären beurteilt wird. Freimachen müssen wir uns nun allerdings von Beils Bild einer Kultur, deren Schöpfer gleichsam jenseits der normalen Lebenswelt tätig sind und denen deshalb Tendenzen, die später auf die Massen ausgreifen, als unmittelbar von ihnen ausgehende Wirkungen zugerechnet werden können. Die nachkantische, im nachhegelschen Denken zur Herrschaft gelangende Idee der Selbstverwirklichung ist keine Ausgeburt von Intellektuellen. Mit gesellschaftlicher Realität hängt sie nicht nur zusammen, sofern sie ein Reflex von Strukturen moderner westlicher Gesellschaften ist, genauer und vorsichtiger gesagt: sofern sie auch solche Strukturen reflektiert. Als Reflex be4
trachtet, spiegelt sie zunächst ein reales Bewußtsein wider, ein Bewußtsein, zu dem im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert offenbar nicht nur die Intellektuellen erwachen, wenn es sich auch vorzugsweise in diesen über sich selbst klar wird. Sicherlich bildet das lebensweltliche Bewußtsein in gewissem Maße seinerseits die gesellschaftlichen Strukturen ab, auf welche die Intellektuellen antworten. Indessen schlägt sich in ihm noch anderes nieder. Es entsteht aus einem geschichtlichen Wandel, der vermutlich auch jene Strukturen aus sich hervörtreibt. Damit ist der Blickwinkel umrissen, aus dem die modernistische Idee der Selbstverwirklichung unabhängig vom Modernismuskonzept Beils zu betrachten ist. Zum einen ist die philosophische Theorie als Ausdruck eines lebensweltlichen Bewußtseins zu lesen, und zum andern soll dieses Bewußtsein wiederum als Zeuge einer Geschichte vernommen werden, die in sozialen Veränderungen nicht aufgeht. Das lebensweltliche Bewußtsein, das den Nährboden des Modernismus bildet, lernen wir besser kennen, wenn wir uns die Möglichkeiten von Selbstverwirklichung vergegenwärtigen, die deren modernistisches Verständnis tendenziell ausschließt. Im modernistischen Verständnis von Selbstverwirklichung, das hier zunächst als Faktum hingenommen und kritisch nur hinsichtlich seiner Reduktionstendenzen betrachtet werden soll, können wir das Positive, die Individualisierung selber, zum Zwecke einer genaueren Analyse abheben gegen das als Voraussetzung dafür angenommene Negative, die Loslösung aus gesellschaftlichen Verhältnissen oder gar aus zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt. Die Alternative zur Individualisierung als solcher, zur Entfaltung der je eigenen Individualität ist, daß der Mensch sich als Mensch oder in sei5
nem Menschsein verwirklicht. In dem Grade, wie das modernistische Verständnis von Selbstverwirklichung sich auf sich fixiert, eliminiert es, was Selbstverwirklichung auch sein könnte: Verwirklichung des Menschen als Menschen. Die Alternative zur Vereinzelung ist, daß der Mensch sich zusammen mit seinen Mitmenschen verwirklicht. Indem der Modernismus sich von der Möglichkeit distanziert, Selbstverwirklichung als Menschwerdung aufzufassen, entfernt er sich zugleich von der Idee eines solch kommunikativen Selbstwerdens. Und auch wo er den Gedanken aufnimmt, daß das ego nur in eins mit dem alter ego, der eine nur in eins mit dem anderen zu sich kommt, abstrahiert er doch von den alii, den anderen anderen. Er schließt also die Möglichkeit aus, daß ich nur zusammen mit allen anderen ich selbst werde. Die in dieser Hinsicht eigentlich ausgeschlossene Alternative ist eine Selbstverwirklichung, die als subjektive Realisierung von Allgemeinheit zu begreifen wäre. Der Ausschluß der Möglichkeit, unter Selbstverwirklichung eine Verallgemeinerung des Individuums zu verstehen, deutet auf einen Bewußtseinswandel, den man einen Verlust realer Allgemeinheit nennen könnte, einen Verlust eben der subjektiv realisierten Allgemeinheit. Der Ausschluß der Möglichkeit, unter Selbstverwirklichung eine Humanisierung des Individuums zu verstehen, deutet auf einen Bewußtseinswandel, der mit einem nicht von ungefähr altmodisch gewordenen Wort als Verlust der Bestimmung des Menschen bezeichnet sei. Wir wissen seit langem, spätestens seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, nicht mehr, wer wir als Menschen sind und was wir als Menschen zu sein haben 6 . Die Reduktion der Selbstverwirklichung auf eine Verwirklichung der je eigenen Individualität 6
scheint dieser Bewußtlosigkeit des Menschen über sich als Menschen zu entspringen. Was in beiden Beziehungen verlorengegangen ist, läßt sich an Kants Autonomiebegriff ablesen. Kant adressierte seine Rede von Autonomie noch an ein Bewußtsein, für dasAllgemeinheit eine Idee war, deren Realitätsgehalt durch die Bestimmung des Menschen verbürgt ist. Die durchaus gegensätzlichen, in einem gespannten Verhältnis zueinander stehenden Elemente des Kantischen Autonomiebegriffs - das Selbst und das Gesetz, autos und nomos - bildeten ursprünglich gleichwohl eine Einheit, weil Kant an die von ihm so genannte „Menschheit in uns" glaubte appellieren zu dürfen. Vermöge der „Menschheit in uns" kann das Gesetz, das wir uns selbst geben, zugleich ein allgemeines Gesetz sein. Heute hingegen fallen die Bestandteile des Begriffs auseinander, weil einerseits dieses Gesetz den Verdacht erregt, die Institution eines ÜberIchs zu sein, das in Wirklichkeit Heteronomie internalisiert, und weil wir andererseits echte Autonomie nur noch davon erwarten, daß wir tun, was wir wollen, und zwar wir als Individuen, die sich dem normativen Druck der Allgemeinheit entziehen. Gemäß der Zugehörigkeit des Modernismus zur Moderne, des nachhegelschen Denkens zur Neuzeit und neuzeitlichen Aufklärung, markiert freilich der Kantische Autonomiebegriff selbst schon eine Station auf dem Wege, der zum modernistischen Verständnis von Selbstverwirklichung führt. Den eigentlichen Gegensatz zu diesem Verständnis bildet die antike Idee des guten Lebens, der es sich auch historisch - vor Kant und durch Kant hindurch - entgegengesetzt hat. In dem ethischen Sinne, den die Antike und auch noch das Mittelalter meinten, 7
ist das gute Leben gut auf Grund seiner Ausrichtung am Guten selbst. Das Gute selbst ist also nach dieser Idee dem guten Leben vorgegeben. Lange vor Kant, am Anfang der Neuzeit und am Ursprungsort neuzeitlicher Aufklärung, war es Hobbes, der dem heute herrschenden Verständnis von Selbstverwirklichung zur Macht verhalf, indem er das Gute - in ausdrücklicher Destruktion der klassischen Moralphilosophie - auflöste in den Prozeß der Selbsterhaltung und Selbststeigerung des sich asozial verhaltenden Individuums. 2. Mit allem, was bisher gesagt wurde, sollten lediglich einige Hinweise auf die geschichtlichen Prämissen gegenwärtigen Bewußtseins gegeben werden. Es geht in der vorliegendeñ Untersuchung aber nicht um die Genealogie, sondern um eine Kritik dieses Bewußtseins und darum, durch die Kritik hindurch einen neuen, zeitgemäßen Zugang zu dem Gedanken zu gewinnen, daß wir in unserer Selbstverwirklichung Allgemeinheit zu realisieren haben. Infolgedessen ist jetzt das Programm einer am Zusammenhang von Selbstverwirklichung und Allgemeinheit orientierten Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins zu erläutern. Zuallererst wird da ein Mißverständnis abzuwehren sein, dem die angezielte Kritik sich im Lichte des bisher Gesagten aussetzt, das Mißverständnis nämlich, als sei sie eine traditionalistische Kritik der Moderne. Um einem solchen Eindruck entgegenzutreten, sei zunächst betont: Was Verlust genannt wurde, ist, von einer anderen Seite gesehen, auch Gewinn. Der Zerfall aller bestimmten Menschenbilder hat die Möglichkeit zu einer unendlichen Diversifikation der Lebensentwürfe freigesetzt. Schillers Umdeutung der Kantischen Autonomie in Richtung auf Spontaneität, auf „reine Selbstbestimmung" 7 , ließ dies bereits ahnen. So8
dann sei dahingestellt, ob Menschen je wirklich wußten, worin die Bestimmung ihres Menschseins liegt, oder ob sie dies nur zu wissen meinten. Vor allem aber: Wir haben dies, daß wir nicht mehr wissen, wer wir als Menschen sind, als ein Geschick hinzunehmen, das zwar in einem universalen Schuldzusammenhang gründen mag, aber niemandem moralisch angelastet werden kann. Offensichtlich ist der Verlust der Bestimmung des Menschen ein Aspekt des Sinnverlustes, den seit dem Ende des 18. und verstärkt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Nihilismus registriert. Dieser Sinnverlust steht in der Menschheitsgeschichte einzig da. Sinnstiftende Weltbilder sind zwar auch in früheren Zeiten immer wieder zerbrochen. Aber an ihre Stelle traten doch stets neue. Das christliche Weltbild hingegen, das vor 150 oder 200 Jahren endgültig seine Kraft zu einer allgemein verbindlichen Sinnstiftung verlor, hat eine Leerstelle zurückgelassen. Erschüttert wurde damit die Gewißheit, daß alles einzelne, mag es auch für sich sinnlos erscheinen, seinen Sinn im Ganzen habe. Es verdunkelte sich die Idee der Ganzheit selber. Verloren ging so auch und vor allem der Glaube an den „Sinn des Lebens", d. h. das selbstverständliche Vertrauen darauf, daß unsere einzelnen Handlungen und Widerfahrnisse sich trotz mannigfacher Kontingenzen zu einer in sich sinnvollen Lebensganzheit zusammenschließen8. Die Vorstellung von einer Bestimmung des Menschen meint aber nichts anderes als den Auftrag, den der Mensch im Ganzen seines Lebens zu erfüllen hat. Ihr Zerfall macht also die anthropologische Seite des Sinnverlustes aus. Ist aber dieser niemandem zurechenbar, so darf auch niemand mehr dazu verpflichtet werden, sich in seinem Leben von so etwas wie einer Bestimmung des Menschen leiten zu lassen. 9
Dies anerkennen bedeutet zugleich: anerkennen, daß das experimentelle Verständnis von Selbstverwirklichung, das vom teleologischen zu unterscheiden war, unserer geschichtlichen Lage am angemessensten ist, ja vielleicht das ihr allein angemessene. Alle Entwicklungsbegriffe, welche die individuelle Lebensgeschichte als Realisierung eines Vorgegebenen auslegen, und sei es auch nur als Aktualisierung einer vorgegebenen Potenz, zehren noch von der Substanz, die mit dem Verlust der Bestimmung des Menschen verlorenging. Wenn dagegen Kierkegaard und in seinem Gefolge Sartre geltend machen, daß Selbstverwirklichung in gewissem Sinne eine Verwirklichung von nichts ist, nämlich von nichts Vorgegebenem', so denken sie nicht nur moderner, sondern eben damit auch adäquater. Übrigens gibt die Unterscheidung zwischen einem experimentellen und einem teleologischen Verständnis von Selbstverwirklichung nicht nur ein Kriterium zur Beurteilung moderner Philosophie an die Hand. Sie enthält auch einen Maßstab für die Prüfung der Modernität moderner Kunst. Denn alle wirklich moderne Kunst inszeniert das Experiment, das der sich unbekannte Mensch mit sich selbst macht. Sie stellt den Menschen ins Offene von Erfahrungen, die ihm allererst enthüllen, was er ist und sein könnte9. Schließlich wird auch eine Reflexion auf die religiöse und speziell die christliche Existenz nur dann der Moderne entsprechen, wenn sie berücksichtigt, daß wir mit uns experimentieren müssen. Sie kann dann nicht den metaphysischen Gott beanspruchen, der uns vermeintlich in unserem eigenen Grunde gegeben ist; vielmehr muß sie Gott als den denken, durch den wir auf unserem Wege letztlich gesagt bekommen, wer wir sind. Den Sinnverlust setze ich hier bloß voraus, ohne daß ich 10
mit den Bemerkungen über ihn und den Sinn des Sinnes, der da verlorengegangen ist, die Prätention verknüpfte, ihn aufzeigen zu wollen. Mein primäres Interesse richtet sich ja nicht auf den Verlust der Bestimmung des Menschen, in welchem der Sinnverlust sich anthropologisch ausdrückt, sondern auf die Allgemeinheit und damit auf deren Verlust. Allerdings ist die These über den Verlust realer Allgemeinheit gleichermaßen interpretationsbedürftig. Denn zum einen kann man auch sie leicht als traditionalistische Kritik der Moderne mißverstehen; und zum andern ist noch ganz unklar, wie der behauptete Allgemeinheitsverlust sich zu dem der Bestimmung des Menschen verhält. Der Verdacht des Traditionalismus trifft mich nicht, weil ich unter der verlorengegangenen Allgemeinheit nicht die angeblich vorgegebene verstehe, auf welche traditionale Gesellschaften ihre Mitglieder auf der Basis metaphysisch begründeter Normen einschwören. Eine solch traditionale Allgemeinheit ist in Gesellschaften vom Typ der unsrigen offenbar ebenfalls unwiederbringlich dahin. Die Erschütterung aller metaphysischen Gewißheiten hat ihr Fundament untergraben. Dann kann sie aber nicht nur nicht, dann soll sie auch nicht restauriert werden. Denn der Mangel an Einsicht in ihre Normen würde sie zur Zwangsanstalt machen. Von der traditionalen Allgemeinheit unterscheidet sich aber die, welche zur Idee der bürgerlichen Gesellschaft gehört, sofern diese die allumfassende Menschengesellschaft sein wollte. Mit einem derartigen Anspruch war die Selbstverpflichtung der je bestimmten Gesellschaften verbunden, auch nach innen alles in sich aufzunehmen, was Menschenantlitz trägt. Wenn ich von einem Verlust realer Allgemeinheit spreche, so meine ich nicht den selbstverständ11
lichen Verlust der traditionalen Allgemeinheit, sondern den keineswegs selbstverständlichen dieser bürgerlichen. In der Verbindung, die ich zwischen der gemeinten Allgemeinheit und der bürgerlichen Gesellschaft herstelle, liegt auch schon eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis dieser Allgemeinheit zur Bestimmung des Menschen. Wenn die gemeinte Allgemeinheit zur Idee der bürgerlichen Gesellschaft gehört, dann steht sie dem Bewußtsein, obwohl auch sie darin keine unmittelbare Realität mehr hat, gleichwohl näher als die Bestimmung des Menschen. Zur Bestimmung des Menschen setzt die bürgerliche Gesellschaft sich erst gar nicht mehr in Beziehung. Der Allgemeinheit hingegen bleibt das Bürgertum, sofern es auf sie aus war, selbst dann noch verpflichtet, wenn es sie in der Realität preisgibt. Anders als die Forderung an das Individuum, sich in seinem Menschsein zu verwirklichen, ist deshalb das Postulat einer Realisierung von Allgemeinheit ein nach wie vor realitätsgerechter Anspruch. Die Erfüllung dieses Anspruchs einklagen heißt natürlich nicht: das Faktum der bürgerlichen Gesellschaft zur Norm erheben. Normative Kraft besitzt nicht die bürgerliche Gesellschaft selber, sondern die Idee, die ihr zugrunde liegt. Und es könnte sein, daß diese Idee über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist und erst in einer anderen Gesellschaftsform ihren angemessenen Ausdruck zu finden vermag. Hiermit ist die Reichweite der praktischen Verbindlichkeit einer Kritik abgesteckt, welche das gegenwärtige Bewußtsein an die vergessenen Potentiale von Selbstverwirklichung erinnert. Während man an dieses Bewußtsein vernünftigerweise nicht mehr appellieren kann, die Bestimmung des Menschen zur Geltung zu bringen, ist es trotz des Allgemeinheitsverlustes 12
zur Realisierung von Allgemeinheit aufgerufen. Wir sind insofern berechtigt zu sagen: Unter dem Anspruch, Allgemeinheit zu realisieren, steht Selbstverwirklichung auch hier und heute. Die weiteren Überlegungen werden an einen Punkt führen, der sogar eine Radikalisierung dieser Aussage erlaubt: Selbstverwirklichung steht gerade hier und heute unter einem solchen Anspruch. Freilich ist die getroffene Feststellung auch einzuschränken. Nicht Selbstverwirklichung als solche läßt sich an die Bedingung von Allgemeinheit binden, sondern nur ihre ethische Verfassung. Während wir in der Tat, wie dies die Existenzphilosophie gemeinhin annimmt, nicht wir selbst werden können, ohne uns von den anderen abzustoßen und unsere je eigene Individualität zu entfalten, bedarf es hierzu einer Realisierung von Allgemeinheit genausowenig wie einer Verwirklichung des Menschenwesens. Schon die oberflächlichste Analyse der Art, wie wir das Wörtchen „selbst" verwenden, zeigt: „Ich selbst" bedeutet mehr oder weniger ausdrücklich immer ein „ich aber", ein „aber", mit dem ich mich den anderen entgegensetze. Auch im Kunstausdruck „Selbstsein" liegt deshalb eine gewisse Distanzierung von den anderen notwendig. Hingegen meint er keineswegs notwendig eine Orientierung an der Allgemeinheit oder gar eine existentielle Darstellung des Menschseins. Insofern ist anzuerkennen, daß die Existenzphilosophie mit der Übersetzung von „Selbstverwirklichung" in „Selbstsein" eine Reduktion aufs Unbeliebige vornimmt. Meine Behauptung ist aber, daß die Forderung, uns selbst zu verwirklichen, allein als Postulat einer Realisierung von Allgemeinheit ethische Verbindlichkeit hat. Mit dieser Behauptung verknüpft sich die andere, daß eine Philosophie vom Typ der Existenzphilosophie, die das sprachlich ganz 13
richtig als vereinzelnde Individualisierung aufgefaßte Selbstwerden zum ethischen Postulat erhebt, eine schlechte, unverbindliche Ethik ist. Kann man von Selbstverwirklichung oder Selbstsein auch in einer ethisch irrelevanten Bedeutung sprechen, so ist darüber hinaus zu fragen, ob wir nicht das ethische Verständnis unseres Lebens in einer anderen Sprache als der einer existentialistisch verdünnten Autonomieethik zu formulieren haben. Es ist hier nicht der Ort, diese Frage zu beantworten. Denn der ethische Bezug der Selbstverwirklichung zur Allgemeinheit braucht hier nur insoweit aufgehellt zu werden, als dies für die unmittelbar anstehende Aufgabe, die von ihm angeleitete Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins, unerläßlich ist. Auch dieses Geschäft erleichtere ich mir, indem ich zunächst Hegel zu Hilfe nehme. Hegel nämlich gibt der Kritik den Maßstab vor, und zwar mit seiner in § 258 der Rechtsphilosophie von 1820 ausgesprochenen Einsicht, daß es „die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen". Mit Hegel möchte ich meinen Weg so gehen, daß ich drei Schritte tue, mit denen ich mich von ihm gleichzeitig immer weiter entferne. Im ersten Schritt sollen die in dem angeführten Satz gemeinte Allgemeinheit und ihr Zusammenhang mit Selbstverwirklichung expliziert werden. Im zweiten Schritt werde ich ein zeitdiagnostisches Schema Hegels erläutern, das als Mittel dienen kann, auch unsere Zeit am Maßstab des „allgemeinen Lebens" zu prüfen. Mit dem dritten Schritt schließlich nehme ich, mit Hegel nur noch operierend, die Zeitdiagnose selber in Angriff. Erst damit gelangen wir ans Ziel einer Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins, die dieses am Ideal einer Selbstverwirklichung als Realisierung von Allgemeinheit mißt. Die von dem Hegeischen Schema angelei14
tete Zeitdiagnose wird auf die einführenden Bemerkungen zum Modernismus nicht einfach zurückführen, sondern sie in einer neuen Richtung weiterführen. Nachdem wir einen orientierenden Blick auf die zweihundertjährige Herkunftsgeschichte des gegenwärtigen Bewußtseins geworfen haben, werden wir näher an die Gegenwart herantreten und zugleich ihren Zukunftshorizont ausleuchten. Damit gehen wir auch über die Feststellung dessen, was ist, hinaus. Einerseits haben wir die Krankheit zu diagnostizieren, an der unsere Zeit leidet; andererseits werden im Schöße der Gegenwart selber die Heilkräfte aufzusuchen sein, die auf eine Überwindung der Krankheit hoffen lassen.
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II. Versuch, unsere Zeit mit Hegel zu begreifen 1. Die Explikation der Allgemeinheit des allgemeinen Lebens, das Hegel von den Individuen fordert, dient dem sachlichen Zweck einer Rechenschaft über den Allgemeinheitsbegriff, den ich als Titel für das in der Selbstverwirklichung zu Verwirklichende in Anspruch genommen habe. Bisher wurde ja über die nicht-traditionale Allgemeinheit nur gesagt, daß sie zur Idee der bürgerlichen Gesellschaft gehöre. Eine inhaltliche Bestimmung wurde noch nicht gegeben. Wenn die jetzt mit Hilfe einer Verständigung über den Allgemeinheitsbegriff Hegels versucht wird, so liegt darin eine starke Identifikation mit Hegel. Ich bin allerdings der Auffassung, daß eine verbindliche Definition von Allgemeinheit nur dann im Rückgriff auf Hegel zu gewinnen ist, wenn man dessen Konzept zugleich wesentlich berichtigt. Natürlich ist eine systematisch vollständige und hermeneutisch abgesicherte Auseinandersetzung mit dem Hegeischen Konzept im Rahmen dieser Studie nicht zu leisten. Stellt doch Allgemeinheit für Hegel gewissermaßen das umfassende Thema der Philosophie dar. Seine Fundamentalphilosophie, die Wissenschaft der Logik, vollendet sich 16
ja als Begriffslogik in einer Theorie des Zusammenhangs von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, und zwar so, daß in diesem Ende, jedenfalls der leitenden Absicht nach, das Ganze zu seiner angemessenen Darstellung kommt. Ich beschränke mich deshalb darauf, an Hegels Allgemeinheitsbegriff einerseits die Momente zu beleuchten, an die ich anknüpfe, und andererseits die Korrekturen anzudeuten, die man an diesem Begriff m. E. vornehmen muß, wenn man philosophierend mit ihm arbeiten will. Beides versuche ich, im Verzicht auf Textauslegung, auf dem Wege einer freien Entfaltung des Hegelschen Gedankens 10 . An Hegel anzuknüpfen, ist trotz der Korrekturbedürftigkeit seines Ansatzes strikt notwendig. Dies nicht nur, weil er es als die Bestimmung der Individuen betrachtet, ein allgemeines Leben zu führen. Dies auch nicht nur, weil er weit und breit der einzige zu sein scheint, der den Stellenwert einer solchen Forderung deutlich vor Augen hat. Er weiß nämlich, daß jene Bestimmung gleichsam nur ein Vorletztes ist, d. h. : daß sie nur die Stelle vertritt, die durch den Verlust der Bestimmung des Menschen zu einer Leerstelle geworden ist. Wenn Hegel die Bestimmung der Individuen ins Auge faßt, so blickt er gleichsam durch sie hindurch auf die entschwundene „Bestimmung des Menschen", die für Fichte noch ein selbstverständlicher Titel war; und wenn er ein allgemeines Leben propagiert, so in Erinnerung an das gute Leben, das keine unmittelbare Gegenwart mehr hat. Eine Alternative zur Anknüpfung an Hegel gibt es in unserer Sache vornehmlich aber aus dem Grunde nicht, dem wir es überhaupt verdanken, daß uns das Postulat eines allgemeinen Lebens überliefert ist. Das Postulat formuliert ja Allgemeinheit als notwendige Bedingung einer ethisch legiti17
mierbaren Selbstverwirklichung. Wer sich ein solches Postulat zueigen macht, muß sich an Hegel wenden, weil Hegel und im Anschluß an ihn der junge Marx, der im übrigen auch an der metaphysischen Vorstellung eines vorgegebenen „Gattungswesens" festhält, die letzten Denker waren, die Selbstverwirklichung als Verallgemeinerung gefaßt haben. Hegel und Marx stimmen darin überein, daß Selbstverwirklichung im ethischen Sinne eine gewisse Verwandlung der Einzelheit bedeutet, in der wir uns vorfinden. Wir finden uns als einzelne in dem substanzhaften Sinne vor, in dem jede Substanz in der Welt etwas einzelnes ist. Die althergebrachte Forderung, uns in unserem Menschsein zu verwirklichen, hat für uns insofern noch eine Erfahrungsgrundlage, als wir an dieser Einzelheit ein Ungenügen empfinden. Wir anerkennen damit die Verbindlichkeit des Anspruchs, die substanzhafte Einzelheit in eine spezifisch menschliche, also sutye£/hafte zu überführen. Die These von Hegel und Marx lautet nun: Eine solche Veränderung ist nur als subjektive Realisierung von Allgemeinheit möglich11. Es scheint mir bemerkenswert, daß Kierkegaards „Einzelner" anfangs gleichfalls noch diesen Sinn hatte. Nach der Ethik von Entweder ¡Oder, der Erstlingsschrift Kierkegaards, vermag das Individuum nur dann es selbst zu werden, wenn es sich zu einem „allgemeinen Individuum" oder „sozialen Selbst" bildet12. Erst im Laufe der Entwicklung Kierkegaards nimmt sein Gedanke des Selbstwerdens die Bedeutung jener Vereinzelung an, von der aus Heidegger Öffentlichkeit als die Welt des Geredes denunziert. Den anfangs also auch noch von Kierkegaard akzeptierten Vorschlag von Hegel und Marx, Selbstverwirklichung als ver : allgemeinernde Verwandlung der substanzhaften in subjekt18
hafte Einzelheit zu definieren, kann man sicherlich nicht mitsamt allen seinen Implikationen übernehmen. Aber einleuchtend finde ich an ihm den Gedanken, daß die Einzelheit, durch die das menschliche Individuum sich von Dingen unterscheidet, selber erst ein Resultat der Realisierung von Allgemeinheit sei. Die These, eine ethisch qualifizierte Selbstverwirklichung sei nur als Realisierung von Allgemeinheit möglich, läßt sich hieraus begründen. Hegel begründet seinen Gedanken seinerseits vornehmlich mit dem Hinweis auf die Dialektik des Ich-Sagens. Sage ich „ich", so meine ich mich als diesen einzelnen und zugleich die schwer faßbare Sache, die alle meinen, wenn sie „ich" sagen 13 . Diese Struktur zeichnet formal vor, was in der Bildung subjekthafter Einzelheit oder in ethisch qualifizierter Selbstverwirklichung eigentlich zu verwirklichen ist. Zu verwirklichen ist da die formal schon im Ich-Sagen mit der Einzelheit vermittelte Allgemeinheit. Indessen hat sich damit keineswegs schon aufgeklärt, wie wir die Allgemeinheit selber zu verstehen haben. Ja, man wird zugestehen müssen, daß Hegel den Allgemeinheitsbegriff, so grundlegend dieser für ihn auch war, nie vollständig aufzuklären vermochte. Dunkel ist, näher besehen, das Verhältnis von Allgemeinheit und Intersubjektivität geblieben. In dieser Dunkelzone liegt einerseits ein weiterer Punkt, an den wir positiv anknüpfen können, andererseits aber auch alles, was um der Brauchbarkeit des Ansatzes willen destruiert werden muß. Um das Verhältnis von Allgemeinheit und Intersubjektivität aufzulichten, ist von einem Unterschied auszugehen, den Hegel innerhalb der Allgemeinheit selber macht: von dem zwischen „abstrakter" und „konkreter", „formeller" und „an und für sich seiender" Allgemeinheit. Der Unterschied liegt im 19
Bezug zur Besonderheit. Bloß abstrakt oder formell ist das Allgemeine überall da, wo das Besondere von ihm getrennt und infolgedessen auch auf sich fixiert bleibt. Demgegenüber besteht die Konkretion des Allgemeinen in der Durchdringung des Besonderen mit ihm. Unter dem Besonderen versteht Hegel dabei sowohl die partikularen Inhalte, deren subjekthafte Individuen sich bewußt sind, wie auch die menschlichen und nichtmenschlichen Individuen selber, nämlich in ihrer substanzhaften Einzelheit. Dementsprechend verwendet er den Begriff der abstrakten oder formellen Allgemeinheit einmal im subjektivitätstheoretischen Kontext, als Titel für einen Wesenszug jedes Subjekts, zum andern in universalontologischen und auch /»/¿rsubjektivitätstheoretischen Zusammenhängen, zur Bezeichnung einer bestimmten Art und Weise, wie die vielen Individuen zu einer Gesamtheit zusammengefaßt werden. Im letzteren Fall meint der Begriff die Allheit, welche die Individuen als Exemplare unter sich als Gattung subsumiert, ohne daß diese sich an ihnen selbst veränderten; die formelle Allgemeinheit gehört also zusammen mit bloß substanzhafter Einzelheit. Nun sollte man erwarten, daß Hegel auch vom an und für sich oder konkret Allgemeinen im intersubjektivitätstheoretischen Sinne spricht. Konkrete Allgemeinheit wäre dann eine, in der die einzelnen sich allererst als solche finden und damit aufgehoben und bewahrt sind. Hegel enttäuscht die Erwartung jedoch. Er läßt faktisch alle intersubjektive Allgemeinheit in bloß formeller aufgehen. Erst diese Tatsache führt uns auf seine Definition von Allgemeinheit. Auch jetzt wissen wir ja noch nicht, was für ihn Allgemeinheit bedeutet; wir wissen nur, inwiefern das abstrakte Allgemeine abstrakt und das konkrete konkret sein soll, 20
nicht aber, inwiefern es das Allgemeine ist. Das Allgemeine selber besteht nach Hegel in der Unendlichkeit der Selbstbeziehung, einer Unendlichkeit, welche die Selbstbeziehung als Bewegung der Rückkehr an sich hat. Die Allgemeinheit, in der sich danach bereits das einsame Subjekt vorfindet, bleibt abstrakt, solange dessen Selbstbeziehung von der Beziehung auf besondere Inhalte abgehoben ist; und sie wird konkret, sobald das Subjekt sich auf seine Inhalte so bezieht, daß es sich darin zugleich auf sich selbst bezieht. Die konkrete Allgemeinheit bestimmt Hegel aber allein aus einem gewandelten Verhältnis zur Besonderheit, ohne sie in sich neu zu bestimmen. Die Folge ist, daß er sie nicht spezifisch intersubjektivitätstheoretisch zu denken vermag. Die Herleitung des Allgemeinheitsbegriffs aus der Selbstbeziehung des einzelnen verhindert seine Anwendung auf die Beziehungen der einzelnen zueinander. Hegel kann zwar die Relation der vielen Subjekte, sofern diese bloß Substanzen sind, zur N o t noch nach Analogie der einzelsubjektiven Relation von Besonderheit und abstrakter Allgemeinheit konstruieren, aber die intersubjektive Allgemeinheit wird ihm nicht als konkrete begreiflich, weil die Assoziation der Individuen keine Integration in eine Selbstbeziehung ist. In Anbetracht dieses Mangels sieht man zunächst gar nicht mehr, warum wir uns überhaupt an Hegel wenden. Indessen ist es Hegel selber, der uns verbietet, den Mangel auf sich beruhen zu lassen. War doch die Allgemeinheit, die im IchSagen mit Einzelheit immer schon zusammenfällt, durchaus die intersubjektive, die Gesamtheit derer, die ebenfalls „ich" zu sich sagen. Wenn die das Ich kennzeichnende Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit den Weg der Selbstverwirklichung formal vorzeichnet, dann muß Selbstverwirklichung 21
Realisierung intersubjektiver Allgemeinheit sein, und dann geht diese in die konkrete ein, die konkret als subjekthafte Einzelheit ist. Allgemeinheit meint da erstens Allheit. Zum Verständnis meiner selbst als eines Ichs gehört offenbar wesentlich, daß ich im Ich-Sagen zu mir sage, was alle Subjekte als solche zu sich sagen, nicht nur viele. Allgemeinheit impliziert da zweitens Gleichheit. Mit der Einzelheit vermittelt ist im Ich-Sagen eine Allheit von Subjekten, die darin gleich sind, daß sie Subjekte sind. Danach würde eine ethisch qualifizierte Selbstverwirklichung bedeuten: sein Leben an der Allheit gleicher Subjekte ausrichten. Ein derartiger Gedanke kann einem Denker nicht fremd sein, der das Selbstbewußtsein jedes einzelnen in der Anerkennung durch andere begründet. Die intersubjektive Konstitution des Selbstbewußtseins und damit des Selbstseins ist zwar nicht für sich schon eine Konstitution durch intersubjektive Allgemeinheit. Aber an der Stelle, der wir den Maßstab für die vorzubereitende Kritik entnehmen, fundiert Hegel das Leben, zu dem die Individuen bestimmt sind, sehr wohl in intersubjektiver Allgemeinheit. Die Stelle lautet vollständig: „Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen. . ." Den zweiten Teil des Satzes darf man vom ersten nicht trennen. Hegel vertritt hier die Auffassung, daß die Individuen ein allgemeines Leben allein in ihrer Vereinigung führen können. Er begreift also die Allgemeinheit des allgemeinen Lebens als eine soziale. Sicherlich gibt es bei Hegel nicht viele Stellen, an denen diese Auffassung so klar zur Sprache kommt. Doch geht es uns ja auch nicht um eine vollständige Darstellung seiner Lehre, sondern einzig um eine Aufhellung der Allgemeinheit, die Hegel dem allgemeinen Leben zuspricht. 22
Die Frage ist nun, ob die Kluft zwischen dieser intersubjektiven und der am einzelnen Subjekt abgelesenen Allgemeinheit wenn nicht sich überbrücken, so doch verringern läßt. Das ist in der Tat der Fall. Fürs erste verringert sich die Kluft bereits, sobald man die Grenze, die dem Allgemeinheitsbegriff Hegels nach der intersubjektivitätstheoretischen Seite gesetzt ist, genauer nachzieht. Durch die Rückführung der Allgemeinheit auf die Unendlichkeit der Selbstbeziehung begibt Hegel sich der Möglichkeit, die aus Subjekten gebildete Allheit selber als eine von der formellen Gattungsallgemeinheit qualitativ verschiedene wahrzunehmen. In seiner Reichweite hingegen liegt durchaus noch diejenige Allgemeinheit, die das einzelne Subjekt in seiner Orientierung an der Allheit der Subjekte in sich realisiert. Es ist dies die Allgemeinheit dessen, was er „